Das freie Ermessen: Von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre [1 ed.] 9783428486434, 9783428086436

Die heutige Lehre vom Verwaltungsermessen schreibt Begriffe und Aussagen fort, die im Streit um die Bindung der monarchi

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German Pages 288 Year 1996

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Das freie Ermessen: Von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre [1 ed.]
 9783428486434, 9783428086436

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Ulla Held'Daab

· Das freie Ermessen

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 706

Das freie Ermessen Von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre

Von

Ulla Held-Daab

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Held-Daab, Ulla: Das freie Ermessen : von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre / von Ulla HeldDaab. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 706) Zugl.: Berlin, Humboldt-Uni v., Diss., 1995 ISBN 3-428-08643-0 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08643-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde i m Sommersemester 1995 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Herrn Professor Dr. Bernhard Schlink danke ich herzlich für die Betreuung der Arbeit und für die Förderung während des Studiums und der Zeit am Lehrstuhl in Bonn. Für Kritik und wertvolle Hinweise danke ich Herrn Professor Dr. Michael Stolleis. Mein Dank gilt weiter Herrn Professor Dr. Hasso Hofmann für seine Anregungen i m Zweitgutachten und Herrn Professor Dr. Bodo Pieroth für seine Hinweise zur Rechtsstaatslehre Otto Bährs. Herrn Professor Dr. Walter Pauly, Herrn Dr. habil. Stefan Korioth und Ralf Poscher danke ich für anregende Gespräche über Problemstellung und Lösungsansätze. Meinem Mann danke ich herzlich für geduldiges Zuhören, kritische Rückfragen und dafür, daß er mir i n schwierigen Zeiten immer wieder M u t gemacht hat. Danken möchte ich außerdem allen, die bei den Korrekturen geholfen haben, besonders Anke und Martin Daab und Lieselotte Möchel. M e i n Dank gilt schließlich der Studienstiftung des deutschen Volkes für die großzügige Förderung i m Studium und während der Promotionszeit. Aachen, i m Februar 1996 Ulla

Held-Daab

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

13

Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

20

I. Der Ermessensbegriff in der Reichspublizistik und der Territorialstaatsrechtslehre

21

1. Bedeutungsmerkmale des Ermessensbegriffs im allgemeinen und im juristischen Sprachgebrauch

21

2. Das Ermessen des Landesherrn in der Ausübung seiner Hoheitsgewalt

23

a) Voraussetzungen aa) Abgrenzung zu ständischen Mitwirkungsrechten bb) Abgrenzung zur Entscheidungszuständigkeit der Gerichte aaa) Die Zuständigkeit der Reichsgerichte bbb) Die Zuständigkeit der Territorialgerichte

23 24 25 25 30

(1) Die Zuständigkeit der Justizkollegien

30

(2) Die Kammeijustiz

34

cc) Materiellrechtliche Bezüge des Ermessensbegriffs

36

aaa) Ermessen als Gegensatz zur Rechtsbindung

37

bbb) Ermessen als Charakteristikum polizeilichen Handelns

39

b) Leitlinien und Grenzen der Ermessensausübung

41

aa) Klugheitsregeln und Kriterien der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit als Leitlinien der Ermessensausübung

42

bb) Positives Recht und Mißbrauch der Hoheitsgewalt als Grenzen des landesherrlichen Ermessens

43

aaa) Positivrechtliche Grenzen

43

bbb) Der Mißbrauch der Landeshoheit

44

3. Das richterliche Ermessen

47

8

Inhaltsverzeichnis II. Die Begriffsverschiebung zu Beginn des 19. Jahrhunderts 1. Ermessen als Kompetenz zur justizfreien politischen Entscheidung

53 53

a) Die Reduzierung des Privatrechtsbegriffs und die Argumentation mit der landesherrlichen Souveränität

54

b) Das Gewaltenteilungsargument

57

2. Ermessen als Gegensatz zur positivrechtlichen Bindung der Hoheitsgewalt .

61

III. Die Kontinuität des Ermessensbegriffs im Frühkonstitutionalismus und unter der Paulskirchenverfassung

65

IV. Zusammenfassung

68

B. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

I. Die Ansatzpunkte: Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze 1. Rechtsstaatlich begründete Ansätze zu einer Revision der Ermessenslehre ..

70

70 71

a) Lorenz v. Stein oder Das verfassungsmäßige Verwaltungsrecht

71

b) Otto Bähr oder Die Auslegungslehre im Dienst der Verwaltung

74

c) Friedrich Franz Mayer oder Ermessensgrenzen à la Française

79

d) Rudolf v. Gneist oder Die willkürfreie Maßbestimmung

84

e) Die gemeinsamen Perspektiven

88

aa) Das Rechtsstaatsargument als Surrogat verfassungsrechtlicher Forderungen

88

bb) Die Neubestimmung des Verhältnisses von Rechtsbindung und Ermessen

92

aaa) Das positive Recht als Ermessensgrenze

93

bbb) Die Reduzierung der Rechtsanwendungsfehler auf die Wortlautverfehlung

94

cc) Die Renaissance der Mißbrauchslehre 2. Das freie Ermessen als Grund für die Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte

96

99

a) Der Ausschluß verwaltungsgerichtlicher Ermessenskontrolle

102

b) Die Sonderstellung der Tatsachenkontrolle

110

Inhaltsverzeichnis II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre 1. Die konventionelle Verkürzung der Fragestellung

113 114

a) Die Identifikation von Rechts- und Gesetzesbindung

114

b) Die Konzentration auf das Verwaltungsermessen und die Rechtsschutzperspektive

116

c) Das Gesetz „nur" als Schranke des Verwaltungsermessens

117

aa) Die Identifikation von Gesetzesbindung und Gesetzesvorrang

118

bb) Die Verkürzung des Vorrangproblems durch die Kontinuität der Gewaltenteilungsargumentation 121 aaa) Das Gewaltenteilungsargument in der konservativen Lehre .. 122 bbb) Die Relativierung des Gewaltenteilungsarguments in der positivistischen Staatsrechtslehre 125 ccc) Der Dualismus von richterlichem und freiem Ermessen in der Lehre vom Verwaltungsakt 132 2. Schauplätze und Fortschritte der Diskussion a) Vom Ermessenstatbestand zum unbestimmten Rechtsbegriff

139 140

aa) Unbestimmte Begriffe als Ermessenseinräumung

141

aaa) Das Argument der gesetzlichen Lücke

141

bbb) Das Argument impliziter gesetzlicher Delegation

146

ccc) Das „technische" Ermessen sachverständiger Tatsachenfeststellung und -Würdigung

149

ddd) Zusammenfassung

156

bb) Die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff

157

aaa) Unbestimmte Begriffe als Tatbestandsvoraussetzung bei der Regelung subjektiver Rechte 157 bbb) Die Konkretisierung unbestimmter Begriffe als Auslegungsproblem 160 ccc) An den Grenzen der Auslegung

165

ddd) Zusammenfassung

167

cc) Kompromisse und Kasuistik - Die Überbrückung des Auslegungsspielraums 167 aaa) Das Brüchigwerden des Dogmas vom eindeutigen Auslegungsergebnis 168

10

Inhaltsverzeichnis bbb) Walter Jellineks Drei-Sphären-Modell der Anwendung unbestimmter Tatbestandsmerkmale 170 ccc) Die Ausweichstrategien (1) Die Verweislehren

172 172

(2) Die Begrenzung des Ermessens auf die Ermächtigung zur Zweckkonkretisierung oder Wertung 178 ddd) Zusammenfassung

181

dd) Zwischenergebnis: Die Tendenz zur Reduzierung des Ermessens auf die Rechtsfolgenwahl 183 b) Einschränkungen des Rechtsfolgenermessens

186

aa) Die Emanzipation des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus der Ermessensfehlerlehre 186 aaa) Der Ausgangskonsens: Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit als reine Ermessensfragen 186 bbb) Die Ungeeignetheit als Indiz der Ermessensüberschreitung durch Willkür - Die „Motivkontrolle" des Preußischen Oberverwaltungsgerichts

189

ccc) Eignung und Erforderlichkeit als Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Polizei Verfügung

193

(1) Die Stagnation der Rechtsprechung

193

(2) Die Lehre vom Übermaßverbot oder vom Grundsatz der verhältnismäßigen Abwehr 194 ddd) Zusammenfassung bb) Entwicklung und Funktion der spätkonstitutionellen Ermessensfehlerlehre aaa) Konkretisierungen und Rechtfertigungsversuche

199 201 202

(1) Die Ermessensüberschreitung als bösgläubige Dienstpflichtverletzung 203 (2) Die Ermessensüberschreitung als Verstoß gegen rechtliche Zweckbindungen 207 (a) Das Vorbild des excès de pouvoir

207

(b) Die Zweckbindung als „innere" Ermessensgrenze .. 208 (c) Die Zweckbindung als Grenze zur Zuständigkeitsoder Befugnisüberschreitung 210 (3) Die Ermessensüberschreitung als Fehler im Entscheidungsverfahren 212 bbb) Die Kompensationsfunktion der Ermessensfehlerlehre

220

ccc) Zusammenfassung

222

Inhaltsverzeichnis 3. Die Bilanz der herrschenden spätkonstitutionellen Ermessenslehre a) Die Dualismen

223 223

aa) Die Kontinuität der Gegenüberstellung von gebundenem richterlichen und freiem Verwaltungsermessen 224 aaa) Der Dualismus gebundener und freier Staatstätigkeit

224

bbb) Die Zuordnung zu den Staatsfunktionen

225

bb) Ermessen als Gegenstand rechtlicher Beschränkung oder als Restbereich legalen Entscheidungsspielraums 228 cc) Die Doppelbödigkeit der Fehlerlehre b) Methodische Grundlagen und staatstheoretischer Hintergrund

230 232

aa) Die Entfaltung positivrechtlicher Bindungen auf dem Boden des dualistischen Rechtsanwendungsmodells 232 bb) Die Lehre von den zwei Seiten des Staates III. Der positivistische Gegenentwurf

234 236

1. Das einheitliche Rechtsanwendungsmodell: Ermessen als notwendiger Konkretisierungsspielraum im Stufenbau der Rechtsordnung 237 2. Die Auflösung der Dualismen

241

a) Die Relativierung der Gegenüberstellung gebundener und freier Akte ... 241 b) Die Überwindung des Dualismus von gebundenem richterlichen und freiem Verwaltungsermessen 242 c) Die einheitliche Fehlerlehre

244

3. Die Identität von Staat und Rechtsordnung

246

4. Zusammenfassung

250

IV. Die versäumte Auseinandersetzung

250

C. Zusammenfassung und Ausblick

259

Literaturverzeichnis

264

Einleitung Die heute im Verwaltungsrecht noch herrschende Ermessenslehre1 verdankt ihre zentralen Begriffe und Aussagen der spätkonstitutionellen Verwaltungsrechtsdogmatik. Damals wurde die Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Ermessensausübung als Gegensatz von rechtlich gebundener Entscheidung und rechtlich nur beschränkter Verfügung konkretisiert. 2 Die spätkonstitutionelle Lehre hat die vagen Tatbestandsmerkmale3 zu unbestimmten Rechtsbegriffen ernannt, die vollständige gerichtliche Überprüfbarkeit ihrer Auslegung und Anwendung begründet und damit das Ermessen auf die Freiheit der Rechtsfolgenwahl reduziert. 4 Schließlich geht auch die Lehre von den Ermessensfehlern als eigenständiger Fehlerkategorie auf die spätkonstitutionelle Verwaltungsrechtsprechung und -rechtslehre zurück. 5 Die Ermessenslehre nach 1945 hat an die spätkonstitutionellen Lehren angeknüpft 6 und ihre Substanz, trotz immer wiederkehrender Angriffe und Erneuerungsversuche, bis heute bewahrt. Geringfügige Korrekturen und Modifikationen der herrschenden Lehre reagieren hauptsächlich auf die Kritik an der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff und dessen Ausgrenzung aus dem Ermessensbereich. 7 ι Vgl. Achterberg, 1. Aufl., S. 268 ff., 274 ff.; ders., 2. Aufl., S. 84 ff.; Bull, 4. Aufl., Rn. 435 ff., 470 ff.; Erichsen in: Erichsen/Martens, 9. Aufl., S. 180 ff.; Forsthoff, 1. Bd., 10. Aufl., S. 81 ff.; Götz, 3. Aufl., S. 77 ff.; Huber, S. 96 ff., 102 ff.; Keppeler, S. 7; Maurer, 9. Aufl., § ( 7 , S. 111 ff.; Mayer/Kopp, 5. Aufl., S. 183; Schmalz/Hofmann, 1. Teil, 5. Aufl., S. 130 ff.; Vogel, in: Drews/Wacke/Vogel/Martens, 1. Bd., 9. Aufl., S. 457 ff.; Wolff/Bachof, 1. Bd., 9. Aufl., § 31, S. 185 ff. 2 Dazu s.u. Β. II. 1. c) bb) ccc). 3 Der aus der Sprachwissenschaft entlehnte Begriff der Vagheit wird hier und im folgenden zur Bezeichnung der „Unbestimmtheit" von Begriffen gebraucht, deren Definition so unpräzise ist, daß die dadurch beschriebene Begriffsbedeutung (Intension) den Anwendungsbereich des Begriffs (Extension) nicht für alle Fälle eindeutig abgrenzt (vgl. Stegmüller, 2. Bd., 1. Halbbd., S. 20; Schaff, S. 65 ff., 75 f.; Koch, Rechtsbegriffe, S. 33 m.w.N.). 4 Dazu s.u. Β. II. 5 Dazu s.u. Β. II. 2. b) bb).

6 Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 415; vgl. Reuß, DVB1. 1953, 585 ff., 649 ff.; Bachof, SJZ 1948, Sp. 742 ff.; ders., JZ 1955, 97 ff.; Bettermann, GS W. Jellinek, S. 361 ff., 365 ff.; Bühler, GS W. Jellinek, S. 269 ff., 275 ff.; Engisch, 7. Aufl., S. 106 ff., 117; Forsthoff, 1. Bd., 1. Aufl., S. 64 ff.; H. Loening, DVB1. 1952, 196 ff., 235 ff.; Rupp, Grundfragen, 1. Aufl., S. 177 ff.; Ule, GS W. Jellinek, S. 309 ff., w.N. S. 311, Fn. 15 ff.; dazu s.u. Β. IV. bei Fn. 38. 7 Vgl. ζ. B. Bullinger, S. 146 ff., 156 f.; Brohm, DVB1. 1986, 321 ff., 329 ff.; ders., DÖV 1987, 269 ff.; Franßen, FS Zeidler, 1. Bd., S. 443 f.; Gerhardt, NJW 1989, 2233 f.; Obermayer, 3. Aufl., S. 85 ff.; Sellner, NVwZ 1986, 618; Sendler, NJW 1986, 1086; ders., FS Ule, S. 342 ff.

14

Einleitung

Sie bleiben aber im konstruktiven Rahmen der überkommenen Dogmatik. So hat sich in der Nachkriegsdiskussion der Grundsatz vollständiger Nachprüfbarkeit der Auslegung „unbestimmter" Tatbestandsmerkmale gegen die wiederentdeckte Lehre vom Vertretbarkeitsspielraum 8 behauptet. Beurteilungsspielräume bei der Tatbestandskonkretisierung 9 konzediert die herrschende Rechtsprechung und Lehre nur in Ausnahmefällen besonderer, nicht wiederholbarer Entscheidungssituationen,10 bei Prognoseentscheidungen11 oder bei einer Entscheidungszuständigkeit repräsentativ besetzter Gremien. 12 Ebensowenig wie in der Behandlung einiger technischer Verwaltungsvorschriften als „antizipierter Sachverständigengutachten"13 liegt darin eine Abkehr von der prinzipiellen Unterscheidung von unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen. Deutlicher noch ist die Kontinuität bei der Behandlung des Rechtsfolgenermessens. Zwar sieht die heutige Lehre die Ermessensfehler als Rechtsfehler bei Gelegenheit der Ermessensausübung.14 Das hindert sie aber nicht, Rechtsschranken wie die Grundrechtsgarantien und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erst im Nachhinein an ein angeblich schon durch die Tatbestandserfüllung eröffnetes Ermessen heranzutragen und den traditionellen Kanon der Ermessensfehler als besondere Fehlerkategorie beizubehalten15, oder sogar weiter aufgefächerte, neue Typologien von Ermessensfehlern zu entwerfen. 16 Allerdings darf die Kontinuität der herrschenden Ermessenslehre nicht über die latente Unzufriedenheit mit ihren Begründungen und Ergebnissen hinwegtäuschen.17 Die Unzufriedenheit zeigt sich in der Literatur in immer neuen Versuchen,

» Ule, GS W. Jellinek, S. 309 ff. Ule greift mit dieser Lehre W. Jellineks Drei-SphärenModell zur Anwendung vager Tatbestandsmerkmale auf, dessen differenzierende Lösung sich seinerzeit aber gegen die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff nicht durchsetzen konnte (dazu s.u. Fn. 32 a.E.). 9 Zuerst Bachof, JZ 1955, S. 97 ff.; Jesch, AöR 82 (1957), S. 163 f. 10

Der Beurteilungsspielraum bezieht sich aber nur auf die Entscheidungselemente, die durch die Sondersituation geprägt sind.So fallen nach BVerfG JZ 1991, 1077 ff. und 1081 ff. nur prüfungsspezifische Wertungen in den Beurteilungsspielraum des Prüfers; fachlich vertretbare und folgerichtig begründete Stellungnahmen des Prüflings dürfen nicht als falsch beurteilt werden, auch wenn der Prüfer eine andere Auffassung für richtig hält (vgl. dazu Pietzcker, JZ 1991, 1084 f.; BVerwG, DVB1. 1993, 848). n Z.B. BVerwGE 61, 176, 185 f.; 62, 86, 107 f.; 62, 330, 338 ff.; 72, 195, 200 f. 12 BVerwGE 39, 197, 203 ff.; zur Rechtsprechung zum Beurteilungsspielraum vgl. außerdem den Überblick und die weiteren Nachweise bei Maurer, 9. Aufl., § 7, Rn. 31 ff. und 37 ff. 13 BVerwGE 55, 250, 256; dazu Franßen, FS Zeidler, 1. Bd., S. 452. 14 Vgl. nur Erichsen in: Erichsen/Martens, 9. Aufl., S. 187 f., Rn. 16 f.; Maurer, 9. Aufl., § 7, Rn. 18; Alexy, JZ 1986, 705. 15 Erichsen, ebd.; Maurer, ebd.; Götz, 3. Aufl., S. 81; Achterberg (1982), S. 275 f. 16 Keppeler, S. 18 ff.; Alexy, JZ 1986, 707 ff.; zu weiteren Typologien ebd., S. 701 ff. m.w.N. 17 Mengers Urteil, die Ermessenslehre sei eines der „verworrensten Kapitel der Verwaltungsrechtswissenschaft" (Menger in: Nipperdey/Scheuner, 3. Bd., 2. Halbbd., S. 753) scheint immer noch Gültigkeit zu haben (vgl. Rupp, FS Zeidler, 1. Bd., S. 455, 466 f.; Alexy,

Einleitung

die Unterscheidung von unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen aufzubrechen, um entweder der Exekutive einen Bereich gerichtlich nicht kontrollierbarer Letztentscheidungsbefugnis zu sichern oder die Ermessensausübung als Befugnis zur Tatbestandsergänzung weiter rechtlich zu strukturieren. In die erste Richtung gehen die Versuche der funktionellrechtlichen Ansätze, aus der grundgesetzlichen Gewaltenteilung das Postulat eines originären gerichtsfreien Handlungsspielraums der Exekutive herzuleiten, 18 und die normative Ermächtigungslehre oder Lehre von den normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften, die aus der Auslegung und dem Kontext unbestimmter Normen eine Verwaltungsbefugnis zur authentischen Interpretation von Ermächtigungstatbeständen begründen will. 1 9 In die zweite Richtung geht die Arbeit Kochs, die den Anspruch einer sprach- und normtheoretisch begründeten Präzisierung administrativer Vollzugsspielräume erhebt. Sie will den Konkretisierungsspielraum bei der Anwendung vager Tatbestandsmerkmale, ebenso wie die Ausübung des Rechtsfolgenermessens, als Tatbestandsergänzung unter dem Gleichheitsgebot rechtlich strukturieren. 20 Keine dieser Richtungen hat sich bisher durchgesetzt. Die überwiegende Lehrmeinung sperrt sich im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes nach wie vor, der Exekutive eine Befugnis zur letztverbindlichen Konkretisierung vager Tatbestandsmerkmale zuzuerkennen. 21 Die Rechtsprechung hütet sich, mit der hergebrachten Dogmatik die Grundlage ihres prinzipiell umfassenden Kontrollanspruchs aufzugeben. So steht zu ver-

JZ 1986, 701: Die aufwendige, fast hundertjährige Diskussion habe kaum zu Übereinstimmungen geführt; die Ermessensfehlerlehre sei immer noch „in Dunkel gehüllt".). is Breuer, NVwZ 1988, 104 ff.; Brohm, DVB1. 1986, 321 ff., 329 ff.; ders., DÖV 1987, 269 ff.; Franßen, FS Zeidler, 1. Bd., S. 442 f., 451; Krebs, S. 72 f.; Ossenbühl, FS Menger, S. 736 f., 746 f.; im Ergebnis auch Kopp, in: Götz/Klein/Starck (Hrsg.), S. 156 ff., 160. Sellner, NVwZ 1986, 618 f., und Salzwedel, NVwZ 1987, 276, gehen ebenfalls von funktionellrechtlichen Überlegungen aus, wollen damit aber auch eine Befugnis der Verwaltung zur authentischen Interpretation von Ermächtigungsnormen begründen und nähern sich damit der normativen Ermächtigungslehre (s.u. bei Fn. 19); zum früheren Meinungsstand vgl. Kloepfer, VerwArch. 76 (1985), 371 f.; kritisch zur funktionellrechtlichen Ansatz W. Schmidt, NVwZ 1984, 548, 550; Beckmann, UPR 1987, 324 ff. 19 Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 19 IV GG, Rn. 180 ff., bes. Rn. 185; Hill, NVwZ 1989, 401 ff., 407; Kind, DÖV 1988, 679 ff., 682 ff.; im Ergebnis auch Herdegen, AöR 114 (1989), 632 f., 635 ff., und Papier, DÖV 1986, 626 f.; zurückhaltend Wahl, NVwZ 1991, 409 ff. (die Reduzierung der gerichtlichen Kontrolldichte müsse durch das Verwaltungsverfahren verdient werden). Gerhardt, NJW 1989, 2234 ff., 2237, stützt die Annahme verbindlicher Konkretisierungsbefugnis der Verwaltung auch auf funktionellrechtliche Argumente; w.N. zur normativen Ermächtigungslehre bei Hill, NVwZ 1989, 681, Fn. 15 u. 21; Gerhardt, NJW 1989, 2233 f.; Wahl, NVwZ 1991, 410 f. 20 Koch, Rechtsbegriffe, S. 75 ff., 126 ff.; zum Rechtsfolgenermessen zuvor schon ähnlich Schmidt-Eichstaedt, AöR 98 (1973), S. 179 ff., 185. 21 Kritisch zur Tendenz, die verwaltungsgerichtliche Kontrolle zu beschränken, Maurer, 9. Aufl, § 7, Rn. 55 ff.; Gern, DVB1. 1987, 1194; Beckmann, Rechtsschutz, S. 100 f. und UPR 1987, 324 f. m.w.N.; Redeker, NVwZ 1992, 308.; gegen Vorschläge, Art. 19 IV GG einzuschränken, auch Sendler NJW 1986, 1085; Bachof, FS Dürig, S. 339 ff.

16

Einleitung

muten, daß auch die „neue Runde" 22 der Ermessensdiskussion mit dem prinzipiellen Beharren auf den alten Lösungen enden wird. Daß die Ermessensdiskussion in absehbarer Zeit einen befriedigenden Abschluß finden wird, ist um so weniger wahrscheinlich, als auch hinsichtlich der Methoden, mit denen eine Problemlösung erarbeitet werden könnte, Uneinigkeit besteht. Der Versuch, die Präzisierung vager Tatbestandsmerkmale sprachwissenschaftlich zu begründen und die Ermessensausübung als konkretisierende Tatbestandsergänzung zu präzisieren, 23 steht neben Kompetenzpostulaten, die einerseits - zugunsten der Verwaltung - auf den Grundsatz der Gewaltenteilung und der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Exekutive, 24 andererseits - zugunsten der Verwaltungsgerichte - auf Art. 19 IV GG und das daraus abgeleitete Gebot effektiven Rechtsschutzes25 gestützt werden. Appelle an den „judicial self-restraint" 26 stehen der Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip27 gegenüber. Angesichts der widerstreitenden Ansätze ist schließlich die Forderung laut geworden, nach bereichsspezifischen, kasuistischen Lösungen zu suchen28 oder sogar den gordischen Knoten juristischer Methodik mit dem Schwert des Pragmatismus zu durchtrennen. 29 So setzt die Diskussion immer wieder neu an, ohne die überlieferte Dogmatik gültig rechtfertigen oder durchbrechen zu können. Die Ermessensdiskussion scheint sich im Kreis, oder allenfalls in einer engen Spirale zu bewegen. Dieser Befund legt die Vermutung nahe, daß der immer wieder aufflackernde Streit um unbestimmten Rechtsbegriff und Ermessen nicht zuletzt deshalb so unbefriedigend verläuft, weil die heutige Lehre die spätkonstitutionelle Ermessensdogmatik unter demokratischen Vorzeichen übernommen hat, ohne die verfassungswid methodengeschichtliche Bedingtheit dieser Lehre zu reflektieren. 30 Soweit die 22 Wahl, VB1BW 1988, 387 m. Fn. 4; gemeint ist die Diskussion im Anschluß an das Wyhl-Urteil (BVerwGE 72, 300), in dem das Bundesverwaltungsgericht - ohne nähere Auseinandersetzung mit der Dogmatik zum unbestimmten Rechtsbegriff und Beurteilungsspielraum - eine Befugnis der Verwaltung zur verbindlichen Konkretisierung atomrechtlicher Sicherheitsstandards gem. § 3 AtAnlV annahm. Trotz aller Anregungen der daraufhin in der Literatur entwickelten normativen Ermächtigungslehre (dazu s.o. bei Fn. 19) hat das Bundesverwaltungsgericht die Figur aber bisher nicht weiter ausgebaut oder gar ihren Anwendungsbereich ausgeweitet (dazu vgl. Breuer, NVwZ 1988, 104 ff.; Franßen, FS Zeidler, 1. Bd., S. 452; Wahl, NVwZ 1991,409,412 ff.). 23 Koch, Rechtsbegriffe, S. 33 ff., 75 ff., 126 ff. 24

S.o. die Nachweise in Fn. 18. 5 Maurer, 9. Aufl, § 7, Rn. 56; Bachof, FS Dürig, S. 339 ff.; Erichsen, in: Erichsen/Martens, 9. Aufl., S. 207; zur Argumentation mit Art. 19 IV GG und dem Rechtsstaatsprinzip in der Nachkriegsdiskussion vgl. Bullinger, S. 131, 136 ff. 2

2

* Sendler, FS Ule, S. 356; Ossenbühl, FS Menger, S. 736 f.; vgl. Franßen, FS Zeidler, 1. Bd., S. 435 (die Gewaltenteilung sei durch übermäßige gerichtliche Kontrolle „ins Rutschen geraten"), 442 ff. 2 ? Maurer, 9. Aufl., § 7, Rn. 56; Bachof, FS Dürig, S. 339 ff.; Bullinger, S. 131, 136 ff. 2 « Wahl, NVwZ 1991,409 f. 2 9 Franßen, FS Zeidler, 1. Bd., S. 447; Ossenbühl, FS Menger,S. 736 f.; ähnlich Rupp, FS Zeidler, 1. Bd., S. 466 f.

Einleitung

heutigen Stellungnahmen überhaupt auf die spätkonstitutionelle Lehre Bezug nehmen, geschieht dies regelmäßig nur, um sie als Urheber der Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Ermessensausübung zu benennen,31 oder auf einzelne Autoren als Gewährsleute für heute noch gängige Definitionen und Abgrenzungen zu verweisen. 32 Allenfalls werden die bekanntesten spätkonstitutionellen Beiträge, wie die Arbeiten Bernatziks, Tezners, O. Mayers und W. Jellineks, in die Abrechnung mit gegenwärtigen Stellungnahmen vergleichbarer Richtung einbezogen.33 Die Rezeption bleibt aber selektiv. Sie beschränkt sich auf Lehren, die das Verwaltungsermessen aus der Perspektive des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes betrachten, es als Bereich wesensimmanenter Handlungs- und Zwecksetzungsbefugnis der Exekutive gelten lassen und die gesetzlich nur beschränkte Verwaltungstätigkeit der gesetzlich gebundenen, quasirichterlichen Rechtsanwendung gegenüberstellen. Diese Lehren bilden den verfassungspolitischen Dualismus von monarchischer Exekutive und konstitutioneller Gesetzgebung in der Verkürzung der Rechts- auf die Gesetzesbindung und in der Bezeichnung des Gesetzes (nur) als Schranke der Verwaltung ab; ihre Methodik ist weitgehend vom konstitutionellen Staatsdenken bestimmt. Übergangen werden in der Rezeption die Ansätze, die in der Fortführung und Radikalisierung des staatsrechtlichen Positivismus das Ermessen als Problem der Normkonkretisierung begreifen. So werden Kelsens rechtstheoretische Untersuchungen zum Ermessen in den „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre" und die daran anschließenden Arbeiten von Merkl und v. Verdroß weder von den dort kritisierten Vertretern der traditionellen Ermessenslehre beachtet, noch von denen gewürdigt, die eine rechtstheoretisch begründete Neufassung der Lehre für sich in Anspruch nehmen.34

30 Soell, S. 66 ff., und Rupp, FS Zeidler, 1. Bd., S. 460 f., beleuchten zwar kurz den verfassungsgeschichtlichen Hintergrund der spätkonstitutionellen Ermessenslehre, ziehen daraus aber keine Konsequenzen für die heutige Diskussion. 31 Soell, S. 67 ff.; unterschätzt wird hier die prägende Funktion der vorkonstitutionellen Wurzeln (dazu s.u. A.) 32 Z.B. Frisch, S. 118 (v. Laun als Urheber der Unterscheidung von unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen), Weigel, S. 71 ff. (der diese Unterscheidung zu Recht schon Tezner zuschreibt und auch noch weiter auf Gluth hätte zurückgreifen können (dazu s.u. Β. II. 2. a) bb) bbb)); Ehmke, S. 19 f. (W Jellinek und v. Laun als Begründer der Ermessensfehlerlehre) und Lohmann, S. 77 f. (W Jellinek als Erfinder des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes). W. Jellineks Drei-Sphären-Modell zur Anwendung vager Tatbestandsmerkmale (dazu s.u. B. II. 2. a) cc) bbb)) wird zunächst nur bei Ule (GS W. Jellinek, S. 309 ff.) wieder aufgegriffen; die übrige Literatur rezipiert statt dessen das viel ungenauere Bild von Begriffskern und -hof (nach Heck, Gesetzesauslegung, S. 107; vorher schon Wurzel, S. 40 ff., 83, der einen „klaren Begriffskern" von einer „diffusen Übergangszone" umgeben sah; zur Rezeption des Bildes vgl. Koch, Rechtsbegriffe, S. 40 f. m.N. in Fn. 112 sowie unten Β. II. 2. a) cc) bbb) bei Fn. 309). Erst Soell, S. 164, greift das Drei-Sphären-Modell wieder auf, nutzt es aber nicht für seine Problemlösung. 33 Vgl. Koch, Rechtsbegriffe, S. 33 ff., 75 ff.; Soell, S. 90 ff. 34 Bei Koch, Rechtsbegriffe, erscheint Kelsen weder im Register noch im Literaturverzeichnis. Auch Alexy, JZ 1986, 701, Fn. 1 klammert die positivistische Ermessenslehre völ2 Held-Daab

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Einleitung

Die Beschäftigung mit den dogmengeschichtlichen Wurzeln der Ermessenslehre soll nicht nur die weitgehend verschüttete Tradition positivistischer Ermessenslehre wieder freilegen, sondern mit der Einseitigkeit der Rezeption auch den Einfluß des konstitutionellen Staatsdenkens und der davon beeinflußten Methode auf die heutige Lehre bewußt machen. Indem die Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Grundlagen der herrschenden Lehre die Zusammenhänge zwischen dogmatischer Aussage, methodischem Ansatz und staatstheoretischem Hintergrund beleuchtet, kann sie die Bedingtheit der überkommenen Dogmatik zeigen und deutlich werden lassen, inwieweit deren Kontinuität heute noch gerechtfertigt ist. Im Nachzeichnen der dogmengeschichtlichen Grundlagen der Ermessenslehre vergewissert sich die Arbeit zunächst der vor- und frühkonstitutionellen Prägungen, die die spätkonstitutionelle Ermessenslehre aus der Reichspublizistik, der Territorialstaatsrechtslehre und der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzung zwischen Justizstaatlern und Verfechtern der Verwaltungsjustiz übernommen hat. Vor allem die zweigleisige Behandlung von richterlichem und Verwaltungsermessen und die Abkopplung der verwaltungsrechtlichen Ermessensdiskussion von der Entwicklung der Auslegungslehre haben hier ihren Ursprung. Die Arbeit wendet sich dann den Rechtsstaatslehren der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu, die im Bemühen um eine gerichtliche Verwaltungskontrolle das Ermessen als Gegensatz zur positivrechtlichen Bindung der Staatsgewalt neu bestimmen und, zur Kompensation der restriktiven Konkretisierung dieser Rechtsbindung, aus den vorkonstitutionellen Mißbrauchslehren erste Ansätze zu einer Ermessensfehlerlehre entwickeln. Nach einem kurzen Überblick über die Zuständigkeitsregelungen der seit den siebziger Jahren verabschiedeten Verwaltungsgerichtsgesetze wird anschließend die Entfaltung der Auseinandersetzung um das Ermessen als Grund für die Unzulässigkeit verwaltungsgerichtlicher Kontrolle verfolgt. Auffällig sind die Problemverkürzungen und perspektivischen Verengungen der Diskussion: die Identifikation von Rechts- und Gesetzesbindung, das Verständnis des Gesetzes „nur" als Schranke des als Attribut einer vorrechtlich begründeten Staatsgewalt gedachten Ermessens, und schließlich die Konzentration auf die Rechtsschutzperspektive. Diese Problemverkürzungen prägen zwar besonders deutlich die im Verwaltungsrecht herrschende, noch von der staatstheoretischen Methode beeinflußte Richtung.

lig aus. Soell zitiert in seiner breit angelegten Untersuchung zwar einmal aus der Reinen Rechtslehre (Soell, S. 147 m. Fn. 52), setzt sich aber nicht mit Kelsens Aussagen zum Ermessen auseinander. Nur Rupp, FS Zeidler, 1. Bd., S. 459 f., gibt Kelsens Auffassung des Ermessens als Spielraum bei der Normkonkretisierung wieder. Obwohl Rupp dies für konsequenter hält als die Rechtsanwendungslehre W. Jellineks, läßt er sich auf keine nähere inhaltliche Auseinandersetzung ein. Der Grund dürfte darin liegen, daß er ^ich von dogmatischen Untersuchungen keine praktikablen Lösungen verspricht (a. a. O., S. 455, 465 f.) und die spätkonstitutionelle Lehre als verfassungsgeschichtlich bedingte Sonderform versteht, die die heutigen Schwierigkeiten verursacht hat, aber nichts zu ihrer Lösung beitragen kann (vgl. Rupp, a. a. O., S. 460 f., 466).

Einleitung

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Sie werden aber auch in den vom staatsrechtlichen Positivismus Labands geprägten Ansätzen nur unvollständig überwunden. So bestimmen sie die Lösungsansätze und Ergebnisse der weiteren Diskussion. Sie prägen die stufenweise Durchsetzung der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff und die Beschränkung des Ermessens auf die Rechtsfolgenwahl, deren Begrenzung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der aus der Tradition der Mißbrauchslehre entwickelt wird, und die Ausarbeitung der Ermessensfehlerlehre als Auffangbecken einer noch unzureichenden oder auch nur unzureichend begriffenen Rechtsbindung staatlichen Handelns. Die Bilanz der herrschenden spätkonstitutionellen Lehre zeigt nicht nur einen in mehrfacher Hinsicht doppeldeutigen Ermessensbegriff und eine doppelbödige Fehlerlehre, sondern auch die methodischen Grundlagen und den staatstheoretischen Hintergrund der damals begründeten und bis heute tradierten Dualismen. Die herrschende Lehre hat die Entwicklung eines umfassenden, rechtsstaatlichen Verwaltungsrechtsschutzes mit dogmatischen Brüchen erkauft, die erst im positivistischen Gegenentwurf der Ermessenslehre der Wiener Schule überwunden werden können. Immer deutlicher wird im Verlauf der Untersuchung, daß es die Beeinflussung der Methode durch die konstitutionelle Staatstheorie ist, die den Aufbau einer in sich widerspruchsfreien Ermessenslehre behindert und verzögert. Der Vergleich der herrschenden Lehre mit dem positivistischen Gegenentwurf zeigt auch, daß die Auflösung der Widersprüche nicht schon gelingt, wenn das Subjekt der als vorrechtlich begründet und rechtlich nur beschränkt gedachten Staatsgewalt nicht mehr monarchisch-konstitutionell, sondern demokratisch-rechtsstaatlich gedeutet wird. Sie setzt vielmehr voraus, von der Rechtsordnung als Grundlage allen staatlichen Handelns auszugehen und die Ermessensausübung als Rechtsanwendung zu strukturieren. Die im Spätkonstitutionalismus herrschende Lehre war dazu nicht bereit. Sie ist die Auseinandersetzung mit dem positivistischen Gegenentwurf schuldig geblieben. Ohne sich auf methodische Grundsatzfragen einzulassen, Schloß sie ihre Reihen sowohl gegen die Radikalisierung des zunehmend angegriffenen staatsrechtlichen Positivismus, als auch gegen die Opposition der Freirechtsbewegung, um die mühsam erkämpften, verwaltungsjustizstaatlichen Errungenschaften nicht zu gefährden. Am Ende der Arbeit steht die Frage, warum die versäumte Auseinandersetzung bis heute nicht stattgefunden hat, und ob die heutige Lehre nicht gute Gründe hätte, sie nachzuholen. Die Perspektiven, die sich aus einem Aufarbeiten der Geschichte für die heutige Ermessenslehre ergeben könnten, werden im Ausblick kurz skizziert.

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln In den Beiträgen zur spätkonstitutionellen Ermessesnslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts wird der Ermessensbegriff meist nicht definiert, sondern als Inbegriff rechtlich nicht beschränkter, „freier" Staatstätigkeit vorausgesetzt.1 Gestritten wird um seine Konkretisierung in rechtlichen Voraussetzungen und Grenzen. So werden das Fehlen gesetzlicher Bestimmungen, bloße Aufgabenzuweisungen, unbestimmte Ermächtigungsnormen und alternative Rechtsfolgenanordnungen als Ansatzpunkte des freien Ermessens, überpositive Willkür- und Mißbrauchsverbote und der später daraus entwickelte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als seine Grenzen diskutiert. 2 Das jeweils zugrundeliegende Vorverständnis des Ermessens als Domäne rechtlich nicht beschränkter, justizexemter Staatsgewalt und deren Gleichsetzung mit der monarchischen Exekutive werden dagegen nicht in Frage gestellt.3 Dieses Vorverständnis verweist auf eine Prägung der Ermessensdogmatik durch die konstitutionelle Staatslehre, die mit den Ansprüchen der aufstrebenden „juristischen Methode" nicht zu vereinbaren ist. Es verweist darüber hinaus aber auch auf eine Tradition vor- und frühkonstitutioneller Verwendung des Ermessensbegriffs. Hier wurden wesentliche Begriffsmerkmale entwickelt, die, auf dem Umweg über die Rezeption der Staatslehre, die spätkonstitutionelle Begriffsbildung beeinflußt haben. So gehen die Fixierung auf Rechtsschutz- und Kompetenzfragen und die zweigleisige Behandlung von „gebundenem" oder richterlichem und „freiem" Verwaltungsermessen auf das deutsche Reichs- und Territorialstaatsrecht zurück. Der

ι So ζ. B. bei Bahr, Rechtsstaat, S. 58 ff.; Bernatzik, Rechtsprechung, S. 41 ff.; Gluth, AöR 3 (1888), 569 ff.; v. Gneist, Verh. 12. DJT, S. 234 f.; ders., Rechtsstaat, S. 47 f.; ders., Verwaltungsreform, S. 19 ff.; G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 131 f., 202; Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 178 ff.; v. Lemayer, GrünhutsZ 8 (1881), 748 ff.; F.F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 460 f.; G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Band, 1. Aufl., S. 65; 2. Aufl., S. 47 m. Fn. 3; Pözl, KritVjschr. 10 (1868), 124 ff.; Regelsberger, KritVjschr. 4 (1862), 52 ff.; Reger/Dyroff, 4. Aufl., S. 377 f.; Roesler, GrünhutsZ 1 (1874), 181 ff.; Rosin, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 289; v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 524 f., 406 ff., 419 ff., 576; v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 576, 590 f., 3. Bd., 2. Aufl., S. 412 ff.; v. Stengel, Hirths Ann. 1875, 1313 ff.; ders., SchmollersJB 7 (1883), 423 ff.; Tezner, Lehre, S. 45 ff.; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 75 ff. Definitionen werden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich, als versucht wird, den in Rechtsprechung und Literatur erreichten Stand systematisch zu erfassen und abzurunden (vgl. Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 445 ff.; v. Laun, Ermessen, S. 18 ff., 47 ff.; W. Jellinek, Gesetz, S. 36 f., 89, 188 ff.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 21 f., 25 f., 32 f.; Friedrichs, in: Stier-Somlo/Elster, 2. Band, S. 336 f.; vor der Jahrhundertwende schon Definitionsansätze bei O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Band, 1. Aufl., S. 84 f., 164 f.). 2 Dazu s.u. Β. II. 2. 3 Dazu s.u. Β. II. 3. a) bb).

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre

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Sonderweg des Verwaltungsermessens wird weiter bestimmt durch die justizfeindliche Gewaltenteilungsvorstellung und die Argumentation mit dem Souveränitätsbegriff, die in der spätabsolutistischen Staatsrechtslehre wurzeln und im Frühkonstitutionalismus übernommen werden. Diese vor- und frühkonstitutionellen Prägungen fließen, ebenso wie vorkonstitutionelle Ansätze einer Ermessensfehlerlehre, in die spätkonstitutionelle Ermessensdogmatik ein, ohne daß ihrer verfassungsrechtlichen und methodischen Bedingtheit ausreichend Rechnung getragen würde. Ironischerweise verstellt gerade das Überlegenheitsbewußtsein der spätkonstitutionellen Lehre gegenüber der bis 1866 prägenden, staatswissenschaftlichen Publizistik den kritischen Blick auf die eigenen methodisch fragwürdig gewordenen, staatswissenschaftlichen Grundlagen. Wer die Ermessenslehre auf den Beginn des Konstitutionalismus datiert, 4 weil er nur das konstitutionelle Gesetz als Rechtsschranke der Herrschaftsgewalt begreift, muß patrimonialstaatliche, wohlerworbene Rechte wie reichsstaatsrechtliche Bindungen der Herrschaftsgewalt übersehen,5 vernunftrechtliche Bindungen als irrelevant beiseiteschieben6 und damit die vorkonstitutionelle rechtswissenschaftliche Erörterung des Ermessens ignorieren. 7 Diese geht damit sowohl als Gegenstand bewußter Rezeption wie auch als Gegenstand kritischer Auseinandersetzung verloren, wirkt aber unterschwellig im unreflektierten Vorverständnis um so stärker fort. Die dogmengeschichtliche Untersuchung vergewissert sich daher zunächst der mit dem Ermessensbegriff tradierten Bedeutungsmerkmale, auf denen die spätkonstitutionelle Staats- und Verwaltungsrechtslehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufbaut.

I. Der Ermessensbegriff in der Reichspublizistik und der Territorialstaatsrechtslehre 1. Bedeutungsmerkmale des Ermessensbegriffs im allgemeinen und im juristischen Sprachgebrauch Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wird der Begriff des Ermessens meist in der Verbform gebraucht. Wörtlich genommen, bedeutet er ab- oder ausmessen, im übertragenen Sinn erwägen, schätzen, dafürhalten, schließen, begreifen, beurteilen.8 In dieser übertragenen Bedeutung wird der Infinitiv substantiviert9 und von 4

v. Laun, Ermessen, S. 20 f. v. Laun, Ermessen, S. 1 ff. 6 v. Laun, Ermessen, S. 4 f., 20 f. 7 v. Laun, Ermessen, S. 10: „Dem freien Ermessen ... wird kaum seit einem halben Jahrhundert in der publizistischen Literatur einige Aufmerksamkeit zugewendet." s Adelung, Sp. 1920; J. u. W Grimm, Sp. 914 f.; Heyne, Sp. 806; Weigand, Sp. 465. 9 Adelung, Sp. 1920, unter 2. 1); J. u. W Grimm, Sp. 915; Heyne, Sp. 806. 5

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

der juristischen Literatur aufgenommen. 10 Sie verwendet Ermessen synonym mit Urteil nach Gutbefinden, Gutdünken oder Dafürhalten, und mit abwägender Entscheidung. 11 Allerdings wird der Begriff noch nicht konsequent anstelle dieser Umschreibungen gebraucht; 12 er hat sich noch nicht als Fachterminus durchgesetzt. 1 3 Als erstes Bedeutungsmerkmal des Ermessensbegriffs zeigt sich schon in der Verbform der Urteils- oder Entscheidungsprozeß, das auf einen Sachverhalt bezogene Ermitteln und Erwägen der Urteilsgrundlagen. Die Substantivierung nimmt diese Bedeutung auf, stellt aber die Beurteilung selbst als Resultat des Prozesses in den Vordergrund, und weist damit ein zweites Bedeutungsmerkmal auf. In beiden Formen wird schließlich als drittes Element die Subjektivität der Entscheidung deutlich, die durch den Verweis auf individuelles Gutdünken und Dafürhalten als maßgebliche Kriterien vermittelt wird. Sie wird - oft mit kritischem Akzent - besonders betont, wo die Begriffe „ W i l l k ü h r " oder „arbitrium" neben oder anstelle von Gutbefinden und Gutdünken zur Umschreibung von Ermessensentscheidungen verwendet werden. 1 4 Die Subjektivität der Entscheidung als wesentliches Bedeutungsmerkmal zeigt sich auch darin, daß der Begriff Ermessen regelmäßig mit einem Genetivattribut verwendet wird, das den Entscheidungsträger bezeichnet. Es ist also nicht, wie später i m 19. Jahrhundert, von Ermessen als einem Abstraktum

io Deutsches Rechtswörterbuch, Sp. 251 f.; Paul, S. 178; Trübners Deutsches Wörterbuch, S. 231. Der dortige Verweis auf Art. 25 der Constitutio Criminalis Carolina geht allerdings fehl. In diesem Artikel ist nicht von Ermessen die Rede. Es werden nur Regelbeispiele für hinreichende Verdachtsmomente gegeben (vgl. Constitutio Criminalis Carolina, S. 40 f.). Zur Aufnahme des Ermessensbegriffs in die juristische Literatur außerdem Erichsen, Grundlagen, S. 157 ff. h Flörcke, S. 8 f. und 16; Heyne, Sp. 806. ι 2 So verwendet ζ. B. Flörcke auf S. 8 und 16 den Begriff Ermessen, auf S. 7 stattdessen „nach Gefallen und Gutbefinden der Umstände" sowie, mit negativem Akzent, „Gutdünken und Willkühr". Moser, Regierungssachen, S. 89 spricht von „Gefallen"; v. Cramer, Nebenstunden, 104. Bd., S. 604 und Strube, Unterricht, S. 29 f. und S. 90 Anm. b verwenden den Begriff „arbitrium". ι 3 Erichsen, Grundlagen, S. 157. In rechts- und staatswissenschaftlichen Handwörterbüchern und Enzyklopädien tauchen Artikel zum Ermessen erst auf, als die Diskussion schon fast beendet ist. Kein entsprechendes Stichwort findet sich bei v. Rotteck/Welcker (2. Aufl. 1846); Bluntschli/Brater (1858) und der Fortführung dieses Wörterbuchs durch E. Loening (1869); Conrad/Elster/Lexis/Loening (3. Aufl. 1909) und Holtzendorff (5. Aufl. 1890). In der von Josef Kohler herausgegebenen, 7. Auflage von Holtzendorffs Enzyklopädie (1914) erscheint das Stichwort „Ermessen" im Register des 4. Bandes, wird an der angegebenen Textstelle S. 297 f. aber nicht erklärt, sondern als Gegensatz zur rechtlich gebundenen Entscheidung vorausgesetzt. Friedrichs, in: Stier-Somlo/Elster, 2. Bd. (1926), S. 336 f., stellt Ermessensausübung schon als Mittelwahl zum Erreichen eines bestimmten, gesetzlich festgelegten oder sonstigen Staatszwecks dar, ohne auf die Begriffsgeschichte einzugehen. 14 Die Begriffe sind negativ besetzt bei Flörcke, S. 7 und bei Strube, Unterricht, S. 29, wo von „arbiträre(r) Gewalt" im Zusammenhang mit Verletzungen wohlerworbener Rechte die Rede ist. Sie werden neutral gebraucht bei Strube, Unterricht, S. 30 und S. 90 Anm. b sowie bei v. Cramer, Nebenstunden, 104. Bd., S. 605.

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre

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die Rede, sondern jeweils nur vom Ermessen des Landesherrn, eines Richters, einer Behörde, etc. 15 Damit wird gleichzeitig eine Ausdehnung der Begriffsbedeutung vorbereitet, die bei der Begriffsverschiebung zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt. 16 Unter Ermessen kann nicht nur das Urteil nach subjektivem Gutdünken und Dafürhalten, sondern auch die Befugnis zur Entscheidung nach diesen Kriterien verstanden werden. Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang einem Entscheidungsträger eine solche Befugnis zusteht, wird bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht systematisch erörtert. Allerdings lassen sich aus der Darstellung der landesherrlichen Hoheitsgewalt und der Rechtsprechung einige Rückschlüsse ziehen. Dabei zeichnet sich bereits eine unterschiedliche Behandlung von richterlichem und Verwaltungsermessen ab.

2. Das Ermessen des Landesherrn in der Ausübung seiner Hoheitsgewalt a) Voraussetzungen

In der Publizistik des 18. Jahrhunderts wird vom Ermessen des Landesherrn gesprochen, wo dieser nach eigenem Gutdünken Maßnahmen treffen kann, weil weder ständische Mitwirkungsrechte bestehen, noch gerichtliche Entscheidungszuständigkeiten begründet sind. 17 Ermessen kennzeichnet also einen negativ besetzten Restbereich alleiniger Regelungs- und Entscheidungsbefugnis, der sich bestimmen läßt, indem ständische Mitwirkungsrechte und gerichtliche Zuständigkeiten als Ausnahmetatbestände umrissen werden. 18

15 Strube, Unterricht, S. 30 und S. 90 Anm. b; Flörcke, S. 8, 16; Adelung, Sp. 1920 („Meinem Ermessen nach, ... Nach des Richters Ermessen"); vgl. v. Cramer, Nebenstunden, 104. Bd., S. 604 f. („Arbitrio" und „Gutbefinden" des Landesherrn). 16 S.u. A. II. 1. 17 So unterscheidet v. Cramer (Nebenstunden, 104. Bd., S. 604 f., vgl. S. 607 f.) Regierungsgeschäfte, die „von dem Arbitrio des Landesherrn lediglich ab(hängen)", von denen, die eine „ausdrückliche Bewilligung derer Interessenten", nämlich der in wohlerworbenen Rechten betroffenen Stände und Untertanen, voraussetzen. Mit Blick auf die Justiz spricht Strube (Unterricht, S. 23) von „Geschäfte(n), so keine gerichtliche Untersuchung und richterlichen Spruch erfordern, sondern durch Gesetze, Verordnungen und Schlüsse, mehrenteils pro prudenti imperantium arbitrio, abgethan werden können". Dabei bezieht sich der im „mehrenteils" zum Ausdruck kommende Vorbehalt ebenfalls auf die Wahrung wohlerworbener Rechte und etwa daraus abgeleitete ständische Mitwirkungsbefugnisse (vgl. Strube, Unterricht, S. 29 f., ähnlich v. Cramer, Nebenstunden, 104. Bd., S. 604 ff., 608). Er behält zwar dem Fürsten generell die „potestas legislatoria" vor, stellt ihr aber entgegen das als Veto aufgefaßte, ständische Jus consentiendi vel dissentiendi circa ordinationes, quae iura quaesita spectant". is Vgl. Strubes Feststellung (Nebenstunden, 3. Teil, S. 59), die Definition des landesherrlichen Ermessens sei in Abgrenzung zur Gerichtszuständigkeit „negativQ".

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln aa) Abgrenzung zu ständischen Mitwirkungsrechten

Mitwirkungsrechte der Landstände waren als Grenze des landesherrlichen Ermessens im 18. Jahrhundert nur noch von geringer Bedeutung. Im Zuge der Zentralisierung und Bündelung der einzelnen Herrschaftsrechte zur Landeshoheit hatten die meisten Territorialfürsten sich ständischer Mitwirkung an der Herrschaftsausübung weitgehend entledigt und insbesondere die Rechtsetzung monopolisiert. 19 Eine selbständige, nicht an ständische Zustimmung gebundene Normsetzungsbefugnis des Fürsten war ursprünglich nur als Notrecht zur Wiederherstellung und Gewährleistung der guten, ständischen Ordnung unmittelbar aus dem Fürstenamt begründet worden. Unter dem Eindruck des Zerfalls der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung und angesichts des wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs infolge des Dreißigjährigen Krieges wurde sie seit dem 17. Jahrhundert jedoch zunehmend als Rechtsetzungsbefugnis auch für den Normalfall anerkannt und aus dem ius politiae, der Polizeigewalt des Landesherrn, legitimiert. Rechtfertigten die Fürsten ihren Gebrauch zunächst noch als Krisenmanagement zur Wiederherstellung hergebrachter ständischer Ordnung, nutzten sie die autokratische Rechtsetzung bald unverhohlen als Mittel politscher Gestaltung, zum Abbau feudaler Strukturen zugunsten merkantilistischer Wirtschaftsweise und zur Verfolgung weiterer wohlfahrtsstaatlicher Zwecke. 20 Die Monopolisierung und Instrumentalisierung der Rechtsetzung in der Hand des Fürsten wurde begleitet von einer Verschiebung des Rechtsbegriffs von der hergebrachten Ordnung zur Gesamtheit gesetzter Ordnung, und von einer Staatszwecklehre, die die traditionellen Aufgaben der Rechts- und Friedenswahrung einem immer weiter gefaßten, dem Fürsten zur Konkretisierung überlassenen Wohlfahrtszweck unterordnete. 21 Die wohlerworbenen Rechte der Stände und Untertanen wurden als Abwehrpositionen gegen fürstliche Macht in diesem Prozeß in zweifacher Hinsicht entwertet: Sie vermittelten keine Mitwirkungsbefugnis bei potentiell eingreifender Rechtsetzung mehr und wurden auch materiellrechtlich zunehmend durch Gemeinwohlvorbehalte relativiert. In dem Maß, in dem die Stände außerdem in der Verwaltung durch den Aufbau einer zentralisierten, allein dem Fürsten verantwortlichen Bürokratie zurückgedrängt wurden, gewann die gerichtliche Kontrolle als Begrenzung landesherrlicher Entscheidungsgewalt an Bedeutung.

19 Willoweit, Territorialgewalt, S. 173 ff., 185 ff.; Preu, S. 37 ff. 20 Maier, S. 105 ff.; Ogorek, Richterkönig, S. 18 ff.; Stolleis, Geschichte, 1. Bd., S. 345 f., 348; Wessel, S. 95 f., 118 ff. Strube, Nebenstunden, 3. Teil, S. 47 f. bezeichnet den Westfälischen Frieden als Zäsur, seit der die Fürsten die Polizei „verbessert" und die Landstände „eine(r) gewisse(n) Art der Vormundschafft" unterworfen hätten. 21 Maier, S. 157 ff.; Preu, S. 39 ff., 69; Wessel, S. 20 f., 45, 121, 135 ff.

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre bb) Abgrenzung zur Entscheidungszuständigkeit

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der Gerichte

Die Ausübung territorialer Hoheitsgewalt konnte sowohl von den Reichsgerichten als auch, sofern nicht Majestätsakte des Landesherrn selbst Streitgegenstand waren, von den Landesgerichten kontrolliert werden.

aaa) Die Zuständigkeit der Reichsgerichte Aufgrund der Lehnshoheit des Kaisers unterstanden bis zum Ende des Reiches 1806 grundsätzlich alle Territorialfürsten der Reichsgerichtsbarkeit, die vom Reichskammergericht und dem Reichshofrat ausgeübt wurde. 22 In der Regel hatten die beiden Gerichte konkurrierende Zuständigkeit.23 Sie umfaßte auch Klagen gegen die Ausübung der Landeshoheit durch den Landesfürsten und seine Behörden. 24 Die Reichsgerichte urteilten dabei entweder als Rechtsmittelgerichte über Appellationen gegen Entscheidungen der Landesgerichte, oder in erster Instanz über Klagen unmittelbar gegen den Landesherrn selbst.25 Der Rechtsweg zu ihnen war eröffnet, wenn die Verletzung eines wohlerworbenen Privatrechts geltend gemacht werden konnte, gleich ob sie durch den Landesherrn oder seine Behörden verursacht war, und gleich ob sie auf einem Einzelakt oder allgemeinen Anordnungen beruhte. 26 Der Privatrechtsbegriff umfaßte damals nicht nur nach heutigem Verständnis als privatrechtlich zu qualifizierende Ansprüche, sondern darüber hinausgehend alle Rechte, die einem Privaten zustehen konnten. Damit Schloß er auch ständische Privilegien und übertragbare oder verleihbare Herrschaftsrechte ein. 27 Die sachliche Zuständigkeit der Reichsgerichte erstreckte sich so auf den Schutz aller den Ständen und Untertanen zustehenden wohlerworbenen Rechte. Unter dem Einfluß der Aufklärung gab es gegen Ende des 18. Jahrhunderts sogar Versuche, die natürliche Freiheit der Untertanen den wohlerworbenen Rechten gleichzustellen und damit ebenfalls als rechtsschutzfähig zu behandeln.28 22 Eisenhardt, S. 8 ff.; Preu, S. 59 ff.; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 23 ff.; E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 9 ff. 23 Gönner, Staatsrecht, S. 517 f.; Conrad, S. 164 f., 166 f.; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 23 m. Fn. 4; zu den Einzelheiten Sellert, S. 15 ff. Eine ausschließliche Zuständigkeit des Reichshofrats bestand für Reichslehnssachen (dazu Gönner, a. a. O., S. 519). Schon seit dem 17. Jahrhundert, jedenfalls aber seit dem Stillstand des Reichskammergerichts 1704 scheinen Klagen in „politischen", d. h. Polizeiangelegenheiten, meist vor den Reichshofrat gebracht worden zu sein (dazu Smend, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 20. Bd., 2. Halbbd. (1907), S. 488, 499 f.; Eisenhardt, S. 53). 24 2. Teil, 9. und 28. Titel der Reichskammergerichtsordnung von 1555, Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede, 3. Bd., S. 43 ff., 93 f. und 103 ff. 25 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 23; vgl. E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 10, 12; Eisenhardt, S. 13. 26 Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl, S. 36 ff.; bes. S. 38 f., 43; ders., Staatsrecht, S. 480 ff.; Flörcke, S. 10, Anm. m; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 27 f., 31; Preu, S. 62 f. 27 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 27 f., 30; Preu, S. 71 mit Beispielen.

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

Die umfassende Zuständigkeit der Reichsgerichte war den u m Ausbau der Territorialhoheit bemühten Fürsten ein Dorn i m Auge, zumal sie sich nach dem Grundsatz, daß jede Polizeisache bei Geltendmachung einer Rechtsverletzung zur Justizsache werde, 2 9 auch auf die Ausübung der landesherrlichen Polizeigewalt erstrekkte. Wie schon gezeigt, 3 0 war die Polizeihoheit als Ermächtigung nicht nur zu Einzelakten, sondern auch zur Normsetzung, und infolge der Unterordnung wohlerworbener Rechte unter einen immer weiter verstandenen Gemeinwohlzweck zum zentralen Instrument absolutistischer fürstlicher Machtpolitik geworden. Die Exemtion der Polizeigewalt von reichsgerichtlicher Kontrolle war deshalb unabdingbare Voraussetzung nicht nur der Erlangung territorialer Souveränität gegenüber dem Reich, sondern auch der Überwindung etwa noch bestehender ständischer Privilegien. 3 1 Dennoch blieb die Unantastbarkeit wohlerworbener Rechte auch durch landesherrliche Polizeimaßnahmen dem Grundsatz nach bis zum Ende des 18. Jahrhunderts anerkannt. 32 Nur unter Berufung auf das ius oder dominium eminens und gegen die damit verbundene Gewährung einer Entschädigung konnte sich der Landesherr in Einzelfällen der Kollision von Privatrechten und Gemeinwohl über erstere hinwegsetzen. 33 Allerdings ergab sich eine Möglichkeit auch zu abstrakt-

28 Z.B. bei v. Berg, 1. Bd. 2. Aufl., S. 147, 157 ff. und Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 43. Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 32 ff., 42 und, sich ihm anschließend, Weitzel, S. 314, stellen sogar eine Tendenz zur Einbeziehung der natürlichen Freiheit in den Kreis geschützter Rechte fest; skeptisch dazu Erichsen, Grundlagen, S. 79; ablehnend Preu, S. 71, Fn. 87, der klarstellt, daß diese Einschätzung teils auf ungenügender Unterscheidung vernunftrechtlicher Postulate und positivrechtlicher Argumentation beruht, und teils darauf zurückzuführen ist, daß Uminterpretationen ständischer Rechte in Erscheinungsformen der natürlichen Freiheit für bare Münze genommen werden. 29 Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 38 f., 43; v. Cramer, Nebenstunden, 1. Bd., S. 88; Strube, Unterricht, S. 91 f. m. Anm. b; ausführlich dazu s.u. bei Fn. 39, Fn. 49 ff., auch zur Rechtslage in den Territorien. 30 S.o. Α. I. 2. a) aa). 31 Die Reichsgerichtsbarkeit als Hindernis der Ausbildung territorialer Souveränität wird hervorgehoben bei Moser, Justizverfassung, 1. Teil, S. 12; Pütter, 1. Teil, S. 300 ff. und Gönner, Staatsrecht, S. 337. 32 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 28 f; Preu, S. 47. Pütter, 1. Teil, 20. Titel, S. 351 spricht „Von der Bestimmung, welche die Landeshoheit mit jeder andern höchsten Gewalt auch darin gemein hat, daß einem jeden sein wohlerworbenes, eigenthümliches Recht zu lassen ist."; Strube, Unterricht, S. 29 führt aus, daß „die höchste Obrigkeit ... mittels keiner Landes-Constitution etwas verordnen (mag), welches die durch verbindliche Privilegia, Landesverträge, und sonst erhaltene Gerechtsame der Stände und Untertanen schmälert, denn sonst wäre es ein leichtes, diese um alles zu bringen, und eine ganz arbitraire Gewalt einzuführen"; vgl. ders., Nebenstunden, 3. Teil, S. 83 ff. zum Polizeivorbehalt bei der Gesetz- und Verordnungsgebung durch den Landesherrn. 33 Pütter, 1. Teil, S. 357 ff.; Leist, S. 264 f.; Link, Herrschaftsordnung, S. 167 ff., 175 f., vgl. ebd., S. 163 ff. m.w.N.; Pirson, in: HRG, 2. Bd., Sp. 473 f.. In der Regel erscheint ius eminens als der Oberbegriff, während das dominium eminens speziell den Zugriff auf Sachen betrifft (vgl. Link, a. a. O., S. 173 m. Fn. 98; Preu, S. 48 m. Fn. 69 und 71).

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre

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genereller und überdies entschädigungsloser Verkürzung wohlerworbener Rechte aus der Mißbrauchsaufsicht, die dem Fürsten als Ausprägung seiner Polizeihoheit zustand, und deren Ausübung als bloße Aktualisierung einer immanenten Schranke der Gemeinwohlverträglichkeit der Rechtsausübung verstanden wurde. 34 Indem der Gemeinwohlbegriff ausgedehnt und die Mißbrauchstatbestände ausgeweitet wurden, gelang es den Fürsten oft, wohlerworbene Rechte auch de lege lata unter Polizeivorbehalt zu stellen.35 Doch selbst in diesen Fällen blieb das polizeiliche Handeln, wie die Ausübung des ius oder dominium eminens, jedenfalls unter dem Aspekt schweren Mißbrauchs der Landeshoheit justiziabel. 36 Weitergehende Bestrebungen fürstenfreundlicher Autoren, die gerichtliche Unangreifbarkeit von Polizeisachen schlechthin zu begründen und durchzusetzen,37 blieben ohne Erfolg. 38 Die herrschende Auffassung gestand zwar zu, daß in Polizeisachen „als solchen" kein gerichtliches Verfahren stattfinden könne, hielt es in der Konkretisierung dieses Satzes aber mit dem Kammergerichtsassessor v. Cramer, der anschaulich feststellte: „(M)elieren sich aber iura privatorum, so hört es auf, eine wahre Polizeisache zu sein, wenn auch gleich dieser oder jener Artikel aus der Polizei causam liti gegeben hätte. Genug, es wird ein ius privatorum vorgeschützt, darüber muß der Contradicent gehöret, und ihm die Justiz administrieret werden." 39 Mit Ausnahme der „reinen" Polizeisachen, die wohlerworbene Rechte überhaupt nicht berührten und deswegen nicht „kontentiös" und zur Justizsache werden konnten,40 gab es daher kein hoheitliches Handeln, das aufgrund seiner Rechtsnatur der reichsgerichtli-

34 v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 67, 79; Strube, Unterricht, S. 24, 82; ders., Nebenstunden, 3. Teil, S. 61 f., 66 f.; Pütter, 1. Teil, S. 360 f.; Preu, S. 47 f.,74 ff. 35 Preu, S. 50, 64 ff. 36 v. Berg, 1. Bd, 2. Aufl., S. 159 ff.; v. Cramer, Nebenstunden, 1. Bd., S. 96 f.; 2. Bd., S. 174 f., 177; Strube, Nebenstunden, 3. Teil, S. 88; ausführlich dazu s.u. Α. I. 2. b) bb) bbb). An die Ausübung des ius eminens wurden schärfere Anforderungen gestellt. Pütter, 1. Teil, S. 352 und Leist, S. 263 ff. beschränken die Ausübung des ius eminens auf Fälle des Staatsnotstandes, Pütter will dabei die Eingriffsvoraussetzungen im konkreten Fall nach der Eingriffsintensität abstufen (a. a. O., S. 355 ff.). Nach v. Berg, a. a. O., S. 159 rechtfertigt nur die Notwendigkeit zum „Erhalt des Ganzen" dieses Mittel; nach Neurath, S. 39 muß der Landesherr die Maßnahme begründen und außer dem „defectum abusus manifesti superioritatis territorialis" eine „urgentem necessitatem publicam" dartun. Eine Beschränkung der Eingriffsbefugnis auf das zur Gefahrabwendung erforderliche Maß vertritt v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 85. 37 G.L. Böhmer, S. 89 f.; Brunnemann, S. 283; Grolmann, S. 31 ff. 38 Preu, S. 64 ff.; scharfe Kritik am Rechtswegausschluß übt Strube, Unterricht, S. 60 f. 39 v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 84, vgl. ebd., S. 86 - das Wort „Policey" sei „allein nicht hinlänglich . . . , dergleichen Sachen von der Cognition der Justiz Collegiorum in totum zu eximieren" - und ders., Nebenstunden, 1. Bd., S. 88 f., 94 f. Ebenso Neurath, S. 13; Pütter, 1. Teil, S. 361; Strube, Unterricht, S. 90. 40 Bei Betroffensein eines wohlerworbenen Rechts wird statt von „wahren" oder ,/einen" von „vermischten" oder , justizmäßigen" Polizeisachen gesprochen, die als Untergruppe der Justizsachen eingeordnet werden (v. Cramer, Nebenstunden, 1. Bd., S. 95; ders., Nebenstunden, 7. Bd., S. 79; v. Berg, 1. Bd., 2. Aufl., S. 170 f.; vgl. Preu, S. 68 f. m.w.N.).

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

chen Kontrolle von vornherein entzogen und dem Ermessen des Landesherrn vorbehalten gewesen wäre. Allerdings war die Aufsichtsfunktion der Reichsgerichtsbarkeit und damit ihre Funktion als Grenze landesherrlichen Ermessens in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. 41 Rechtliche Beschränkungen ergaben sich zunächst daraus, daß das preußische Stammland und die ehemals polnischen Gebiete Preußens nicht zum Reich gehörten und für andere Territorien, darunter Österreich, Schlesien, Böhmen, die Schweiz, Burgund, Lothringen und die Niederlande, umfassende Exemtionsprivilegien bestanden.42 Darüber hinaus hatten bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts fast alle Territorialherren privilegia de non appellando vel evocando erwirkt, die die Reichsgerichte als Rechtsmittelinstanz ausschlossen, so daß nur noch Justizverweigerungsklagen und erstinstanzliche Klagen gegen Maßnahmen des Landesherrn selbst zulässig waren. 43 Bei den gegen sie selbst gerichteten Klagen erwarben die meisten Fürsten außerdem das Recht, zunächst vor schiedsgerichtliche Austräge gebracht zu werden, deren Verfahren so gestaltet war, daß es kaum noch zu einer rechtzeitigen Entscheidung durch die Reichsgerichte kommen konnte. 44 Faktische Beeinträchtigungen der reichsgerichtlichen Kontrolle ergaben sich zum einen aus der langen Verfahrensdauer, zum anderen und hauptsächlich aber daraus, daß die Landesherren der größeren Territorien so mächtig geworden waren, daß sie ungestraft Landstände und Untertanen durch Repressalien von der Appellation abhalten konnten45 und, wenn es doch einmal zum Prozeß kam, eine Reichs-

41 Effektivität und Bedeutung der reichsgerichtlichen Kontrolle werden in der Literatur unterschiedlich beurteilt; überwiegend negativ ist die Einschätzung Weitzels, S. 11 m. Fn. 30, S. 353 f., positiv die von Hertz, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichte 69 (1961), S. 334 ff., 339, 343, 356 ff. und Eisenhardt, S. 53 f.; eine vermittelnde Ansicht vertreten Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 24 ff. und v. Unruh, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1. Bd., S. 275 f. Die Unterschiedlichkeit der Beurteilungen dürfte weniger auf Divergenzen in der Tatsachenfeststellung als auf unterschiedlichen Beurteilungsmaßstäben beruhen. Die negativen Einschätzungen sind vor allem darauf zurückzuführen, daß die Reichsgerichte effektiven Rechtsschutz nur gegen Fürsten kleinerer Territorien geben konnten. Die positiven Stellungnahmen betonen stärker, daß es der Reichsgerichtsbarkeit trotzdem gelang, der Gerichtsbarkeit in den Territorien Maßstäbe zu setzen und der Rechtswissenschaft Argumentationsstandards und -figuren vorzugeben. 42 Eisenhardt, S. 9 f.; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 24, 60; zu Österreich ausführlich Weitzel, S. 59 ff. 43 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 23; Preu, S. 60; Aufzählung der Privilegien bei Moser, Justizverfassung, 1. Teil, S. 179 ff. und ausführliche Darstellung bei Weitzel, S. 36 ff., 67 ff. 44 E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 10; kritisch zu den Austrägen Strube, Unterricht, S. 44 ff. 45 Smend in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 20. Bd., 2. Halbbd. (1907), S. 469, 500 f.; Weitzel, S. 268, zu den sonstigen Appellationsbehinderungen ebd., S. 253 ff.

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exekution nicht mehr fürchten mußten. Eine Durchsetzung reichsgerichtlicher Urteile war unter solchen Umständen illusorisch. 4 6 Für die Bestimmung des Bereichs landesherrlichen Ermessens sind die aufgezählten Einschränkungen reichsgerichtlicher Kontrolle jedoch nur teilweise von Bedeutung. Da nach der Reichspublizistik Ermessen nicht nur ausgeschlossen war, wo gerichtliche Kontrolle tatsächlich und wirksam stattfand, sondern schon dort, wo ein Geschäft richterlichen Spruch erforderte, 47 konnte ein faktisches Unterlaufen reichsgerichtlicher Kontrollkompetenz wohl den politischen Handlungsspielraum, nicht aber den Ermessensbereich des Landesherrn erweitern. Für dessen Umschreibung war allein der Umfang gerichtlicher Zuständigkeit entscheidend. Aus der Lehre ergibt sich kein eindeutiges Bild, inwieweit positivrechtliche Beschränkungen des Grundsatzes der Allzuständigkeit in Justizsachen, etwa durch Gebietsexemtionen oder Appellationsprivilegien, als Erweiterung des Ermessensbereichs gesehen wurden. 4 8 Überwiegend scheint aber das Erfordernis des richter46 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 24 m. Fn. 7 und 8; zur faktischen Unwirksamkeit reichsgerichtlicher Kontrolle gegenüber Preußen im 18. Jahrhundert E. Loening, Gerichteund Verwaltungsbehörden, S. 14 ff., besonders das Beispiel des Lehnpferdgeldfalls mit dem vergeblichen Versuch einer Reichsexekution 1725 und der Verzichtserklärung des Kaisers 1728. Vgl. die selbstbewußte Mitteilung des damaligen preußischen Hofrats und Kanzlers Weimann: „Vom Kaiser haben wir nichts zu fürchten,... wenn es hoch liefe, so wäre es (die Einmischung) mit einem Briefe, welchen man mit einem Brief beantworten wird und kann" (zitiert nach E. Loening, a. a. O., S. 15.). Dennoch darf die Bedeutung der Reichsgerichtsbarkeit als Gegengewicht zur territorialen Hoheitsgewalt nicht unterschätzt werden. Entsprechend den Bedingungen der Vergabe von Appellationsprivilegien war die Justizverweigerungsklage unmittelbar zu den Reichsgerichten statthaft, soweit die Landesherren in ihren Territorien keinen dem reichsgerichtlichen gleichwertigen Rechtsschutz vor den Landesgerichten gewährten. Diese Klage war den Fürsten, wenn nicht gefährlich, so doch äußerst mißliebig (Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 46; Flörcke, S. 16; vgl. Smend, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 20. Bd., 2. Halbbd. (1907), S. 487, 489 zur Klage der Essener und Werdener gegen Abgaben und die rechtswidrige Inanspruchnahme der Oberhoheit durch Preußen 1804). Außerdem konnten die Austrägalinstanzen umgangen werden, indem der Klageantrag beim Reichsgericht auf ein mandatum sine clausula, eine unbedingte Verurteilung des Fürsten gerichtet wurde (Loening, a. a. O., S. 11; Rüfner, a. a. Ο., S. 25). Schließlich blieb, wenn auch umstritten, die Nichtigkeitsbeschwerde gegen Urteile der Territorialgerichte (Weitzel, a. a. O., S. 46 ff.) und die Extrajudizialappellation, mit der justizähnliche Verfügungen des Landesherrn unmittelbar vor den Reichsgerichten angegriffen werden konnten (Weitzel, a. a. O., S. 314 f.; Rüfner, a. a. O., S. 25; v. Cramer, Nebenstunden, 7. Teil, S. 86 ff.; kritisch zur Extrajudizialappellation Gönner, Handbuch, 3. Bd., 2. Aufl., S. 539 ff.). Die Reichsgerichte waren hier, wie auch in den Mandatsprozessen, so großzügig mit der Annahme zur Entscheidung, daß die Reichsstände in mehreren Reichsabschieden eine restriktivere Praxis durchzusetzen versuchten (vgl. §§ 105 f., 121 f. des Jüngsten Reichsabschieds v. 1654, Neue Sammlung, 3.Bd., S. 640 ff., 660; Loening, a. a. O., S. 11; Weitzel, a. a. O., S. 49). 47 48

S.o. Α. I. 2. a), Fn. 17, und Α. I. 2. a) bb) bei Fn. 29.

Auf das positive Recht verweist Leyser, S. 166. Weil man verzweifeln müsse, „causarum politicarum definitione, quam a priore vocant" zu finden, sei darauf abzustellen, „quae legislator in classem causarum politicarum retulit". Gegen ihn, unter Verweis auf die herrschende Negativdefinition in Abgrenzung zur Justizsache, v. Cramer, Nebenstunden, 1. Bd.,

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

liehen Spruchs nicht nach der Gesamtheit positiver Zuständigkeitsregeln, sondern allein nach dem Vorliegen einer Justizsache beurteilt worden zu sein, für deren Bejahen wiederum das Betroffensein wohlerworbener Rechte notwendige, aber auch hinreichende Bedingung war. 49

bbb) Die Zuständigkeit der Tenitorialgerichte Vermittelt durch die Voraussetzungen der Erteilung von Appellationsprivilegien wird die reichsrechtliche Umschreibung der sachlichen Gerichtszuständigkeit durch den Begriff der Justizsache und damit die Abgrenzung zum landesherrlichen Ermessen auch für die Justizkollegien in den Territorien übernommen. 50 Reichsrechtlich war die Privilegienerteilung nämlich daran geknüpft, daß der Landesherr vor den Territoralgerichten einen reichsgerichtlichen Standards vergleichbaren Rechtsschutz gewährte. 51 Kam er dieser Pflicht nicht nach, war dem Betroffenen die Justizverweigerungsklage zu den Reichsgerichten eröffnet. 52 (1) Die. Zuständigkeit der Justizkollegien

In den deutschen Territorien blieb die Justiz in den unteren Instanzen bis ins 19. Jahrhundert von den Ständen dominiert. Sie lag bei - in der Regel nicht rechtsgelehrten - Magistraten, Gutsherren, Domänenämtern und Vogteien und war bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts organisatorisch noch nicht von den unteren Verwaltungsfunktionen, vor allem der Ortspolizei, geschieden.53 Ihre Ausübung diente in aller Regel weniger der Durchsetzung fürstlicher Gesetze und Anordnungen, als vielmehr der Wahrung ständischer und lokaler Interessen.54 Deshalb waren S. 88, und Gönner, Staatsrecht, S. 488 f.. Strube, Nebenstunden, 3. Teil, S. 107 hält positivrechtliche Abwandlungen der Zuständigkeitsordnung grundsätzlich für zulässig, allerdings nur in engen Grenzen, denn S. 113 f. qualifiziert er anläßlich einer „ausserordentlichen Einschrenkung" der Justizzuständigkeit die davon begünstigte Kammer „auf gewisse Maße" als „Justiz-Collegium", das deshalb justizförmig verfahren müsse. Der Begriff der Justizsache und das Erfordernis gerichtlicher Entscheidung stehen also nicht zur beliebigen Disposition des gesetzgebenden Fürsten. 49 Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 38 f., 43; v. Cramer, Nebenstunden, 1. Bd., S. 88 f., 94 f.; 7. Bd., S. 84, vgl. S. 86; Strube, Unterricht, S. 90 ff. m. Anm. b; Neurath, S. 13; Pütter, 1. Teil, S. 361; vgl. Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 27 f., 31; Preu, S. 62 f. 50 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 45,47; Eisenhardt, S. 45 f., 59 f.; Magerl, S. 12 ff. 51 Reichsdeputationsabschied v. 1600, Neue Sammlung, 3. Bd., S. 471 ff., 476; §§ 108 und 137 des Jüngsten Reichsabschieds v. 1654, ebd., S. 640 ff., 660, 665. 52 Dazu s.o. Α. I. 2. a) bb) aaa), Fn. 46. 53 Ogorek, Richterkönig, S. 23 f., 26; Preu, S. 84 f. m. Fn. 163; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 65 m. Fn. 18; E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 32; Hintze, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 32 (1920), S. 398 ff.; Springer, S. 46. 54 Ogorek, Richterkönig, S. 24 f.; Preu, S. 85. Unsachgemäße Amtsführung beruhte nicht nur auf dem Befangensein in ständischen Interessen, sondern auch darauf, daß die Richter

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die Landesherren bemüht, mit der Verwaltung auch die Rechtsprechung als Garantie der Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruchs zu zentralisieren und ständischem Einfluß zu entziehen. Das gelang, jedenfalls in den absolutistisch regierten Territorien, durch die Einrichtung landesherrlicher Justizkollegien in der Ober- und Mittelinstanz, wie Hofgerichten oder Hofräten, Kanzleien und Regierungen. 55 In der Unterinstanz blieb die Patrimonial- bzw. Stadtgerichtsbarkeit erhalten. Waren die Justizkollegien ursprünglich sowohl mit Verwaltungs- als auch mit Rechtsprechungsaufgaben betraut, setzte sich im Lauf des 18. Jahrhunderts mit der Ausdifferenzierung von Rechtspflege einerseits und Polizei- und Kameralverwaltung andererseits und mit der Professionalisierung des Justizdienstes eine Beschränkung der Justizkollegien auf die Rechtsprechung durch, während die Verwaltungsaufgaben den fürstlichen Kammern und Kabinetten zur ausschließlichen Wahrnehmung zugewiesen wurden. 56 Den nunmehr organisatorisch verselbständigten Gerichten war auch die Entscheidung über Klagen von Ständen und Untertanen gegen Hoheitsakte zugewiesen. Soweit die Territorialherren noch der Reichsgerichtsbarkeit unterlagen, entschied in der Regel das oberste Landesgericht als Schiedsinstanz. Bei Erwerb eines Appellationsprivilegs durch den Landesherrn fungierten die Justizkollegien als reichsrechtlich vorgeschriebener Rechtswegersatz für die unterbundene Appellation zu den Reichsgerichten. 57 Die reichsrechtlichen Voraussetzungen der Appellationsbefreiung garantierten dabei nicht nur der Reichskammergerichtsordnung nachgebildete Organisations- und Verfahrensregelungen, sondern auch eine entsprechende Umschreibung der sachlichen Zuständigkeit. Da immer, wenn in nach Reichsrecht justiziablen Angelegenheiten kein Rechtsweg eröffnet wurde, die Juunbesoldet arbeiteten und deshalb in der Regel auf Gebühren und sonstige Einnahmen aus den Prozessen angewiesen waren (Springer, S. 1, 32,41 f.). 55 Eine Behördentypologie findet sich bei Willoweit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1. Bd., S. 307 ff., 330 ff.; zur Entwicklung in Preußen Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 64 f.; Hintze, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 32 (1920), 389,401 f., 405; Springer, S. 32 f., 35 ff.; Vogel, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1. Bd., S. 858 ff.; zu Österreich Kocher, S. 14 ff.; Link, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1. Bd. S. 492 ff.; Meisner, S. 209 ff.; zu den übrigen Staaten Poppitz, AöR N.F. 33 (1943), 180 ff.; Magerl, S. 5 f., 20 ff.; Press, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1. Bd., S. 564 ff., 577 ff.; Endres, in : Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1. Bd., S. 604 ff.; Wunder, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1. Bd., S. 618 ff.; vgl. Erichsen, Grundlagen, S. 95 m. Fn. 191.Vor allem in den kleineren Territorien, aber auch in den süddeutschen Staaten und in Sachsen blieb der Einfluß der Stände bis in die Oberinstanz erhalten (Moser, Regierungssachen, S. 81, 115 ff.; Magerl, S. 5, 78 ff.; Wunder, a. a. O., S. 620, 630; E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 86). Besetzungsvorrechte des Adels überdauerten sogar in Preußen (Hintze, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 32 (1920), 400 f., zu den preußischen Regierungen und dem Berliner Kammergericht). 56

Ogorek, Richterkönig, S. 29 f.; Hintze, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 32 (1920), 401 f. 57 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 49 f., 53, 55; E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 18 ff.; zur Entwicklung der Territorialgerichtsbarkeit allgemein Eisenhardt, S. 57 ff.

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stizverweigerungsklage drohte, setzte sich auch in den Territorien der Grundsatz der Gerichtszuständigkeit in Justizsachen und deren reichsrechtliche Definition durch. Sie wurden, wie ζ. B. in Preußen oder Sachsen, sogar dort übernommen, wo eine Gerichtsbarkeit des Reichs nicht oder nicht für alle Gebiete gegeben war und insofern kein reichsrechtlicher Konformitätszwang bestand.58 Entsprechend dem politischen Schwerpunkt der Fragestellung wurde die Justizsache auch in den Territorien in Abgrenzung zur Polizeisache bestimmt. Beispielhaft für die Ende des 18. Jahrhunderts herrschende Anschauung sind die Ausführungen Flörckes. Den Konventionen gemäß definiert er zunächst Polizei- und Justizsachen jeweils nach dem Gegenstand und Zweck der Maßnahme. „Die Natur und Eigenschaft der Policey-Sachen bestehet eigentlich darinne, daß solche das gemeine Wesen entweder des ganzen Landes oder einer Stadt, oder auch nur eines Reckens oder Dorfes, oder sonst einer Gemeinde, oder Zunft im Ganzen betreffen, und dahin gerichtet sind, daß durch vernünftige und kluge Anstalten, auch durch Gesetze und Verordnungen, nach Beschaffenheit der vorkommenden jetzigen oder künftigen Umstände, der Nutzen und die Wohlfahrt entweder des ganzen Landes, oder einer besondern Stadt, Gemeinde etc. befördert werde: In welchem Fall der Vortheil eines oder des andern Unterthans ... dem Nutzen vieler ... billig nachzusetzen ist ... . Dahingegen die Justiz oder Gerichts-Sachen, welche auf Handhabung der Gerechtigkeit in Privat-Angelegenheiten oder Parthey-Sachen beruhen, nur den Nutzen oder Schaden einzelner Personen, oder das Mein und das Dein betreffen, zum Gegenstand und Endzweck haben ... " . 5 9 Die Gretchenfrage nach der Abgrenzung in Überschneidungsfällen, in denen eine polizeiliche Maßnahme Privatrechte beeinträchtigt, wird als Frage nach der Justiziabilität von Polizeimaßnahmen gestellt und ganz im Sinne der Reichspublizistik dahingehend beantwortet, „(d)aß in Policey-Sachen, wo es auf die allgemeine Wohlfarth eines Landes, Stadt oder Gemeinde, oder auf die authentische Erklärung der Gesetze und Statuten beruhet, die Justiz-Collegia keine gerichtliche Untersuchung noch richterlichen Spruch sich anmassen können, ... sondern solche durch Gesetze, Verordnungen und Schlüsse eines Landesherrn, in Absicht auf des gemeinen Landes, oder Orts Nutzen und Wohlfarth, abgethan werden müssen; ... dahingegen, wenn es in Policey-Sachen auf einzelner Personen Rechte und Gerechtsame, oder auf eine vernünftige und gesetzmässige Erklärung (interpretationem doctrinalem) der Gesetze und Statuten ankommet, deren rechtliche Untersuch- und Entscheidung denen Justiz-Collegiis nicht zu entziehen ist, damit nicht unter dem Vorwand und Rahmen einer Policey-Sache einem oder dem andern zu wehe geschehe, oder derselbe dadurch veranlasset werde, bey den höchsten Reichs-Gerichten über Verweigerung der Justiz sich zu beschweren". Hier liege keine wirkliche Polizeisache, sondern eine Privatsache vor, die sich „bey Gelegenheit des Policey-Wesens" ereignet habe. 60 Auch danach gibt es also keine wegen ihres Charakters als Polizeisache der 58 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 46 ff.; Preu, S. 81, 86 ff. 59 Flörcke, S. 4 ff., 7. 60 Flörcke, S. 16.

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richterlichen Überprüfung schlechthin entzogene Angelegenheit. Ein Ermessen des Landesherrn erscheint denkbar nur, wo mangels Betroffenseins wohlerworbener Rechte eine gerichtliche Entscheidung nicht erforderlich ist. Eine Modifikation gegenüber der reichsgerichtlichen Kompetenz ergab sich allerdings daraus, daß die Territorialgerichte in der Regel nicht über die Ausübung der Landeshoheitsrechte urteilen durften. Begründet wurde dies mit dem Argument, daß die Souveränität, sobald ihre Ausübung für justiziabel erklärt würde, nicht mehr dem Landesherrn, sondern den zum Urteil befugten Gerichten zukäme.61 Nicht ausgeschlossen war nach dieser Logik eine Klage gegen den Landesherrn in sogenannten Privatsachen, d. h. in Streitigkeiten um die Zuordnung von Privatrechten. 62 Justiziabel war auch die Ausführung landesherrlicher Gesetze und Anordnungen durch die untergeordneten Behörden sowie die Magistrate und Patrimonialherren. 63 Hier fiel das Rechtsschutzinteresse der Untertanen mit dem Interesse des Fürsten an einer Disziplinierung der Funktionsträger zusammen, zumal die untere Verwaltungsinstanz meist noch ständisch dominiert und nur unvollkommen in die Behördenhierachie eingegliedert war. 64 Entgegen einer Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten Auffassung 65 war die Gerichtsbarkeit über Hoheitsakte auch nicht auf Entschädigungsfragen beschränkt. Wo statt des ausführenden Beamten oder der Behörde der Fiskus als Beklagter erschien, war damit schlicht der Staat als Prozeßpartei, nicht aber lediglich der Staat als Zuordnungssubjekt von Vermögensrechten gemeint.66 Von der Exemtion der Ausübung von Hoheitsrechten durch den Landesherrn selbst abgesehen, entsprach deshalb der Umfang territorialgerichtlicher Zuständigkeit, vermittelt durch den Begriff der Justizsache, dem der Reichsgerichte. Der Ermessensbereich des Landesherrn war hier nicht größer als dort. 61 Gönner, Staatsrecht, S. 480; Strube, Unterricht, S. 40; ders., Nebenstunden, 3. Bd., S. 63; Neurath, S. 74; v. Bülow/Hagemann, 4. Bd., S. 139 ff., vgl. ebd., S. 136 zum Begriff der Polizeisache. Die Exemtion betraf ursprünglich nur die „wirklichen Majestäts- und Hoheitsrechte" (vgl. § 9 des preußischen Ressort-Reglements v. 1797, abgedruckt bei Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 122) und die Maßnahmen der sogenannten „hohen Polizei", die aber im Lauf der Zeit, fürstlichen Machtinteressen entsprechend, weitgehend auf Kosten der „niederen" ausgedehnt wurde (dazu Preu, S. 88). 62 v. Bülow/Hagemann, 4. Bd., S. 139; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 48 f. 63 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 51 ff.; Preu, S. 88. Allerdings wurde für Polizeisachen häufig - reichsrechtlich problematisch - ein summarisches Verfahren vorgesehen (Preu, S. 78 ff.). 64 Rüfner. Verwaltungsrechtsschutz, S. 55; s.o. bei Fn. 53. 65 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 47 ff.; Fleiner, Institutionen, 2. Aufl., S. 34 ff., 39 f.; vgl. Bornhaks sprichwörtlich gewordene, die preußische Rechtsprechung kritisch zusammenfassende Bezeichnung des Fiskus als „Prügeljungen" des Staates (Bornhak, Staatsrecht, 2. Bd., 2. Aufl., S. 501). 66 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 63 f.; Magerl, S. 19 f., 26; vgl. die preußische Allgemeine Ordnung die Verbesserung des Justizwesens betreffend vom 21. 6. 1713, abgedruckt bei Mylius, 2.Teil, 1. Abteilung, Sp. 517 f. 3 Held-Daab

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

In der Praxis gelang es allerdings vielen Landesherren, durch die Einrichtung der Kammerjustiz ihren Entscheidungsspielraum unter dem Mantel reichsrechtskonformer dogmatischer Kontinuität auf Kosten der Justizkollegien auszuweiten. (2) Die Kammerjustiz

Schon im 17. Jahrhundert kam es zwischen den Justizkollegien und den neu eingerichteten Behörden der Polizei- und Kammergutsverwaltung immer wieder zu Kompetenzkonflikten. Begünstigt vom Ausbau einer zentralisierten, nur vom Fürsten abhängigen Verwaltungshierarchie und von der Durchsetzung des Primats der Polizei gegenüber hergebrachten ständischen Rechten entwickelte sich vor allem in den absolutistischen Staaten eine Praxis der Verwaltungsbehörden, alle mit ihren Kompetenzen zusammenhängenden Rechtsstreitigkeiten an sich zu ziehen.67 Der Sache nach lief diese Praxis auf eine Umkehrung der Abgrenzung von Justiz- und Verwaltungssachen hinaus. War bis dahin für die Zuordnung der Fälle im Überschneidungsbereich das Betroffensein wohlerworbener Rechte maßgeblich gewesen, war es nun die polizeiliche Zweckbestimmung der Maßnahme. Legalisiert wurde das Vorgehen der Verwaltung durch die Einrichtung der Kammer- oder Kabinettsjustiz, in dem durch immer wieder reformierte landesrechtliche Ressortregelungen den fürstlichen Verwaltungsbehörden auf Kosten der Justizkollegien eine wachsende Zahl von Streitigkeiten zugewiesen wurden. Dazu gehörten nicht nur Klagen in Verwaltungssachen, sondern auch Streitigkeiten von Untertanen, soweit die Domänenverwaltung betroffen war. 68 Das widersprach geltendem Reichsrecht, nach dem alle Rechtsprechung durch nach dem Vorbild der Reichskammergerichtsordnung errichtete, ordentliche Gerichte ausgeübt werden mußte 69 und es insbesondere verboten war, „daß die Reichsstände die Justiz aus dem Kabinett administrierten". 7 0 Es ermöglichte aber die Durchsetzung fürstlicher Interessen in politisch oder fiskalisch wichtigen Angelegenheiten. Ohne die Abgrenzung von Polizei· und Justizsachen dem Begriff nach in Frage zu stellen, und ohne andere Gründe als die Staatsraison und das - nicht zur dogmatischen Kategorie erhobene - interesse publicum anzuführen, 71 wurden damit den Justizkollegien alle Angele67 Ogorek, Richterkönig, S. 30 ff.; Preu, S. 84; zu Preußen E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 59 ff.; Hintze, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 32 (1920), S. 389 ff., 406 ff.; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 65. In den Kleinstaaten, wie ζ. B. in Oldenburg und Kurhessen, blieb es dagegen bei der Allzuständigkeit der ordentlichen Gerichte (Rüfner, a. a. Ο., S. 59 m. Fn. 124). 68

Strube, Unterricht, S. 85 ff.; E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S." 30 ff.; Ogorek, Richterkönig, S. 33 ff.; Poppitz, AöR N.F. 33 (1943), 164 ff.; Preu, S. 89 ff.; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 56 ff.; Weitzel, S. 306 m. Fn. 41, S. 313. 69 Moser, Justizsachen, S. 21 ff.; Leist, S. 439 ff.; Gönner, Staatsrecht, S. 486 f.; ders, Handbuch, 1. Band, 2. Aufl., S. 23 70 Moser, Justizsachen, S. 25. Teilweise wurde die Kammerjustiz aber auch für zulässig gehalten, sofern eine justizförmige Entscheidung gewährleistet war (vgl. Strube, Unterricht, S. 87 f. und Moser, Regierungssachen, S. 66).

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre

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genheiten entzogen, in denen den Fürsten an justizfreien Entscheidungsspielräumen lag. Dennoch kann die Zuweisung von Verwaltungsstreitsachen an die Kammerjustiz nicht einfach mit genereller Rechtsverweigerung und Willkür gleichgesetzt werden. 72 Gerade in Preußen wurden organisatorisch verselbständigte Justizdeputationen bei den Kammern eingerichtet und die Verfahrensvorschriften zunehmend justizförmig ausgestaltet.73 Von einem gegenüber dem ordentlichen Rechtsweg kraß abfallenden Rechtsschutzstandard kann ebenfalls nicht von vornherein ausgegangen werden, da die Unabhängigkeit der Richter auch dort noch nicht gewährleistet war, und weil wegen Sportein 74 und Standesrücksichten bei den Justizkollegien ebenfalls mit außerrechtlichen Entscheidungsfaktoren gerechnet werden mußte.75 Defizite gegenüber dem ordentlichen Rechtsweg blieben aber auch bei justizförmiger Ausgestaltung der Kammerjustiz das summarische Verfahren und die Besetzung mit von der Verwaltungsarbeit geprägten und in die Verwaltungshierarchie eingebundenen Beamten.76 Außerdem waren in der Regel Interventionsmöglichkeiten der obersten Verwaltungsbehörde vorgesehen.77 Daraus ergibt sich, daß die Gewährung von Rechtsschutz durch die Kammern zwar durchaus gerichtlichem Rechtsschutz vergleichbar geübt werden konnte, die Gewährung im Einzelfall aber vom entsprechenden, nicht durch die Betroffenen erzwingbaren Wohlverhalten der Verwaltung abhängig war.

71

Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 56, 73 mit Verweis auf die preußische Allgemeine Gerichtsordnung v. 1713 und das Ressortreglement v. 1749. 72 So aber E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. IX f. Gegen ihn Hintze, der betont, die ordentlichen Gerichte hätten weniger die Wahrung von Freiheitsrechten der Untertanen als die Wahrung ständischer Privilegien auch und gerade gegenüber reformorientierter Polizeigesetzgebung betrieben (vgl. Hintze, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 32 (1920), 348 ff.). Wie bei Loening, ist aber auch bei Hintze die Würdigung der Kammerjustiz Spiegel der eigenen Einstellung zur Rechtsstaatsentwicklung im 19. Jahrhundert. In der liberal motivierten Betonung von universeller Rechtsbindung und umfassendem Rechtsschutz gegen die Staatsgewalt vernachlässigt Loening den Unterschied von ständischen Privilegien und konstitutionellen Freiheitsrechten. Hintze beschränkt sich nicht auf die differenzierende Korrektur, sondern beharrt darüber hinaus auf einer Eigengesetzlichkeit der Verwaltung, die zwar rechtlich durchnormiert werden, dabei aber durchaus vom übrigen Recht getrennt und nach verschiedenen Standards gehandhabt werden könne (vgl. die Ausführungen zur Harmonisierung von Rechts-, Macht- und Wohlfahrtszweck bei Hintze, a. a. O., S. 394 f.). 73

Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 76; E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 87 ff.; Hintze, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 32 (1920), 412 ff. 74 von „sportala" = Speisekörbchen: Entgelt, das den Gerichtspersonen von den Parteien für Amtshandlungen gezahlt wurde. 75 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 56 ff., 74 ff. ™ Preu, S. 86, 90; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 79 f. 77

*

Preu, S. 90.

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln·

Das legt nahe, die Funktion der Kammerjustiz vor allem darin zu sehen, daß Rechtsschutz nur insoweit gewährt werden sollte, als er die fürstlich-absolutistische Politik nicht konterkarierte. Wo der Einfluß der Stände auf die Justizkollegien noch nicht ausgeschaltet war, konnte die Kammeijustiz dazu dienen, die Entscheidung politisch relevanter Streitigkeiten der fürstentreuen, weisungsabhängigen Bürokratie vorzubehalten. Darüber hinaus bot sie die Möglichkeit, sich im Bedarfsfall auch contra legem über ständische Rechte hinwegzusetzen, ohne sich wegen „unzulässiger Neuerung" verantworten zu müssen. Schließlich eröffnete sie einen Ausweg für die Landesherren, die unter dem Legitimationsdruck aufklärerischer Postulate die Unabhängigkeit der Richter einführen und die Machtspruchpraxis aufgeben, 78 dabei aber nicht riskieren wollten, ihre antiständische Politik durch einen Justiz-Staat im Staate sabotiert zu sehen. Diese politische Funktion der Kammerjustiz wird auch dadurch bestätigt, daß die Durchsetzung der Reformen in Preußen nach 1807 mit einer weiteren Beschränkung der Justizzuständigkeiten einherging. 79 Mit der Einrichtung der Kammeijustiz war es den Landesherren gelungen, den reichsrechtlich begründeten Vorbehalt des Schutzes wohlerworbener Rechte zu unterlaufen und, neben sonst politisch wichtigen Angelegenheiten, die gesamte Ausübung der Polizeigewalt de facto ihrem Ermessensbereich einzuverleiben. Die am Reichsrecht orientierte, kompetenzrechtliche Bestimmung des Ermessens in der Abgrenzung von Polizei- und Justizsachen hatte nur mehr die Bedeutung eines Lippenbekenntnisses und Deckmantels für eine Praxis, zu deren Legalisierung lediglich der endgültige Zusammenbruch des Reiches abgewartet werden mußte.

cc) Materiellrechtliche

Bezüge des Ermessensbegriffs

Wie an den vorangegangenen Abgrenzungen deutlich geworden ist, wurde das Ermessen des Landesherrn in der Publizistik des 18. Jahrhunderts vorrangig im Kontext und als Folge von Kompetenzbestimmungen erörtert und definiert. Das lag an der Konzentration auf die Verhältnisbestimmung von Polizeigewalt und Justiz, die durch Vermittlung territorialer Souveränitätsansprüche mit reichsgerichtlichen Zuständigkeiten gefunden werden mußte und die politische Auseinandersetzung um die Macht im Reich juristisch reflektierte. In der Literatur lassen sich aber auch materiellrechtliche Bezüge des Ermessensbegriffs ausmachen. Sie betreffen einerseits die Gegenüberstellung von Ermessen und Rechtsbindung der Hoheitsgewalt, andererseits die Verknüpfung von Ermessen und Polizei.

78 Dazu Weitzel, S. 315 m. Fn. 87; Springer, S. 8; Ogorek, Richterkönig, S. 105 f.; dies., Rechtshistorisches Journal 3 (1984), S. 82 ff. 79 Koselleck, S. 157 f.; eine antiständische Stoßrichtung der Kammerjustiz sehen auch Hintze, S. 403 f. und Preu, S. 85 f.; zur politischen Funktion der Kammeijustiz ausführlich Ogorek, Richterkönig, S. 31 ff. m.w.N.

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre

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aaa) Ermessen als Gegensatz zur Rechtsbindung Die Abgrenzung landesherrlichen Ermessens von ständischen Mitwirkungsbefugnissen und gerichtlichen Entscheidungszuständigkeiten nahm indirekt Bezug auf eine materiellrechtliche Bindung der Hoheitsgewalt. Denn sowohl die aus dem Begriff der Justizsache abgeleitete Gerichtszuständigkeit als auch etwaige ständische Mitwirkungsrechte waren mit dem Betroffensein wohlerworbener, der freien Disposition des Landesherren entzogener Rechte begründet. 80 Daß diese Rechte trotz häufiger Mißachtung als Schranke der Territorialhoheit anerkannt blieben, zeigt sich darin, daß die Rechtslehre die strikten Eingriffsvoraussetzungen der ius eminens-Dogmatik dem Grundsatz nach beibehielt81 und deshalb genötigt war, die tatsächlich durchgeführten Rechtsverkürzungen unter dem Deckmantel fürstlicher Mißbrauchsaufsicht als bloß umschreibende Konkretisierungen des Rechtsumfangs auszugeben. Von wohlerworbenen Rechten als materiellrechtlicher Bindung der Landeshoheit zu sprechen, könnte allerdings problematisch erscheinen, weil ein Teil dieser Rechte, wie ζ. B. Zoll- und Münzgerechtigkeiten, Befugnisse zur Herrschaftsausübung beinhalteten und damit selbst - formellrechtliche - Kompetenztitel darstellten. Insofern liefe die Bezugnahme auf diese Rechte bloß wieder auf eine kompetenzrechtliche Abgrenzung des Ermessensbereichs hinaus und ermöglichte nicht die Deutung von Ermessen als Gegensatz zur Rechtsbindung der Hoheitsgewalt schlechthin. Doch der Kreis der wohlerworbenen Rechte war weiter und umfaßte auch benannte Freiheits- und Vermögensrechte, die keine Kompetenzzuweisung enthielten, wie ζ. B. persönliches Eigentum, Handelserlaubnisse und Fährgerechtigkeiten. 82 Insofern kann die Bindung fürstlicher Hoheitsgewalt als materiellrechtliche Bindung gesehen, und Ermessen als Gegensatz zur Rechtsbindung aufgefaßt werden. Eine solche Ermessenskonzeption klingt ausdrücklich an, wo über die Grenzen der Landeshoheit reflektiert wird. Moser führt aus, die Reichsstände seien befugt, so S.o. Α. I. 2. si v. Berg, 1. Bd., 2. Aufl., S. 159, 168 ff.; v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 67, 69, 85; Neurath, S. 39; Pütter, 1. Teil, S. 352, 355 ff.; Erichsen, Grundlagen, S. 46 ff.; Link, Herrschaftsordnung, S. 170 ff., 174 f.; Preu, S. 48 ff. Soweit auch die Verfolgung bloßer Gemeinwohlzwecke als hinreichende Eingriffsvoraussetzung angesehen wurde, wurde gleichzeitig der Charakter des ius eminens als Ausnahmerecht für den Einzelfall betont (ζ. B. bei Pütter, a. a. O., S. 358, 362). 82 Link, Herrschaftsordnung, S. 161 f.; Pirson, in: HRG, 2. Bd., Sp. 471 ff.; Erichsen, Grundlagen, S. 42. Wertet man die Zuweisung von Rechtspositionen ausnahmslos als Kompetenzverleihung, kann die Bindung durch wohlerworbene Rechte in keinem Fall als materiellrechtliche Bindung verstanden werden. Unter dieser Prämisse scheint es aber auch problematisch, überhaupt die Unterscheidung von formellem und materiellem Recht aufrechtzuerhalten. Die konventionelle Unterscheidung wird hier beibehalten, weil sie ermöglicht, die materiellrechtliche Begrenzung von Befugnissen getrennt von der kompetenzrechtlichen Bestimmung der Befugnisträger zu untersuchen und darzustellen.

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

in ihren Territorien „alles dasjenige zu gebieten, zu verbieten, anzuordnen, zu thun und zu lassen, was einem jeden Regenten nach denen Göttlichen, Natur- und Völcker-Rechten zukommt, in so ferne ihnen nicht durch die Reichs-Gesetze, das Reichs-Herkommen, die Verträge mit ihren Land-Ständen und Unterthanen, dieser alt und wohlhergebrachten Freyheiten und Herkommen u.d.g. die Hände gebunden seynd."83 Nach v. Cramer kommt es bei Polizeimaßnahmen darauf an, ob diese „also beschaffen sind, daß dadurch die Unterthanen ihre iura quaesita nicht verliehren, noch an ihren Privilegiis und Freyheiten gekräncket werden? Geschiehet dieses nicht, so hat der Landes-Herr freye Hände, circa Statum publicum zu ordinieren, was und wie er will, weil er nämlich liberissimus arbiter causarum Politicarum, qua talium ist, und wovon er keine Red noch Antwort, an wen es auch sey, zu geben hat". 84 Der letzte Halbsatz und die anschließende Feststellung, bei Betroffensein von wohlerworbenen Rechten oder Privilegien „degenerire" aber „die angebliche Policey-Sache in eine Justiz-Sache", die vor die Justizkollegien gehöre, binden die materiell-rechtlichen Erwägungen allerdings sofort wieder in die kompetenzrechtliche Fragestellung ein. Was die materiellrechtlichen Grenzen selbst betrifft, zeigt ihre Formulierung, daß das Verständnis der Rechtsbindung im 18. Jahrhundert sich vom heutigen in mehrfacher Hinsicht unterschied. Zunächst waren Rechtsgrenzen nicht notwendig positivrechtliche Regeln oder auch nur ein System von einem Geltungsgrund abhängiger Normen. Göttliches und Naturrecht, bzw. später das Vernunftrecht, standen neben Reichsabschieden, Verleihungen und Verträgen mit den Landständen, und diese neben wohlerworbenen Einzelrechten, die ihre Grundlage in einer oder mehreren der vorgenannten Rechtsquellen haben konnten.85 Schließlich taucht das die polizeistaatliche Praxis bestimmende, vom Herrscher autokratisch gesetzte Recht im Kanon nicht auf. Es wurde nur als Ausübung, nicht aber als Grenze des landesherrlichen Ermessens gesehen.86 Die zur Legitimation herangezogene Befugnis zur Dispensation und Reformierung der Rechtsregeln sowie das Recht zur authentischen Interpretation hätten zwar ein Verbot der rückwirkenden Änderung und der Durchbrechung im Einzelfall nicht ausgeschlossen, wurden aber von den meisten Publizisten wohl nicht so strikt ausgelegt.87 Das führte im Ergebnis dazu,

83

Moser, Compendium, S. 458 f. 84 v. Cramer, Nebenstunden, 7. Teil, S. 84 f. 85 Vgl. die Aufzählung bei Neurath, S. 14 f. 86 Flörcke, S. 8, 16; Gönner, Staatsrecht, S. 457; Link, Herrschaftsordnung, S. 100 f.; Klippel, S. 66; Erichsen, Grundlagen, S. 30 f. 87 Eine Ausnahme bildet Strube, Unterricht, S. 92 f. Er erklärt die authentische Interpretation für unzulässig, wo der Wille des Gesetzgebers mit anderen Mitteln zu erforschen sei und deutet an, daß eine der doktrinalen widersprechende authentische Interpretation ein Willkürakt sei, der von der Gesetzgebungsbefugnis nicht mehr gedeckt werde. Ihm folgend faßt Leist, S. 271 f. die authentische Interpretation unter die Gesetzgebung und warnt vor ihrem Mißbrauch zur Verletzung wohlerworbener Rechte und zum Eingriff in vergangene oder noch nicht abgeschlossene Verfahren.

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre

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daß als positive Rechtsgrenzen der Hoheitsgewalt kaum objektive Rechtsnormen, sondern vor allem subjektive, wohlerworbene Rechte relevant wurden. Nur mit diesen Einschränkungen kann Ermessen schon für das 18. Jahrhundert als Gegensatz zur Rechtsbindung der Hoheitsgewalt beschrieben werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß in der Abgrenzung von Justiz- und Polizeisachen zwar auf materiellrechtliche Bindungen Bezug genommen wurde, entsprechende Ansätze zu einer Ermessensbestimmung aber vom herrschenden kompetenzrechtlichen Verständnis überlagert blieben. Während Ermessen als Gegensatz zur Rechtsbindung hätte bejaht werden können, solange keine Rechtsverletzung vorlag, wurde es von der Lehre wegen Vorliegens einer Justizsache schon bei bloßen Rechtsbeeinträchtigungen verneint, unabhängig von einer möglichen Eingriffsrechtfertigung. 88 Damit ist zwar die Beschreibung von Ermessen als Gegensatz zur Rechtsbindung für das 18. Jahrhundert nicht unmöglich geworden. Ermessen läßt sich darstellen als eine Entscheidungsfreiheit, die zunächst kompetenzrechtlich - bei bloßem Betroffensein bestimmter materiellrechtlicher Positionen - , darüber hinaus aber auch materiellrechtlich - durch das Verbot der Verletzung der übrigen Grenzen der Hoheitsgewalt - ausgeschlossen sein konnte. Doch diese Darstellung geht über die in der zeitgenössischen Lehre ausgewiesenen Differenzierungen und Systematisierungen hinaus und kann damit nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, bloß Rekonstruktion zu sein.

bbb) Ermessen als Charakteristikum polizeilichen Handelns Als Prototyp landesherrlicher Ermessensentscheidung erscheint immer wieder die Ausübung der Polizeigewalt.89 Die Verknüpfung lag nahe, weil ja nach der herrschenden Auffassung Polizeisachen und landesherrlicher Ermessensbereich kongruent waren, soweit nicht das Betroffensein wohlerworbener Rechte die Polizeisache zur Justizsache oder zur Angelegenheit ständischer Mitwirkung qualifizierte. An einigen Stellen scheint die Befugnis zur Ermessensentscheidung aber nicht nur als regelmäßige, sondern sogar als notwendige Folge des Vorliegens einer Polizeisache gesehen worden zu sein. So schließt Flörcke daraus, daß Polizeisa88 S.o. Α. I. 2. a) bb). Weil die rechtswissenschaftliche Literatur bis ins ausgehende 18. Jahrhundert die Zulässigkeit einer Klage nicht von der Begründetheit unterschied (die Unterscheidung wird erst bei Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 20 f. herausgearbeitet), wird an einigen Stellen die Verletzung wohlerworbener Rechte als Bedingung des Vorliegens einer Justizsache genannt (ζ. B. bei v. Berg, 1. Bd., 2. Aufl., S. 158 f., 165 f.; v. Cramer, Nebenstunden, 1. Bd., S. 93 f.; 7. Bd., S. 84). Da an diesen Stellen aber jeweils die gerichtliche Nachprüfung des Ob einer Rechtsverletzung für zulässig gehalten wird, ist Verletzung dort nur im Sinne von Beeinträchtigung zu verstehen. 89 v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 84 f.; Flörcke, S. 8, 16; Strube, Unterricht, S. 23, 91.

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

chen das „gemeine Wesen eines Landes oder Orts betreffen, und zum Endzweck die Beförderung desselben Heils und Wohlfahrt haben", daß diese „auch daher in dem Ermessen eines Landesherrn bestehen, solche nach den Regeln der Klugheit und Beschaffenheit der darbey vorkommenden Umstände nach Gutbefinden einzurichten und zu ändern". 90 Hiernach folgt Ermessen aus der mit der Polizeigewalt vorausgesetzten Befugnis des Landesherrn, den Wohlfahrtszweck für die jeweilige Situation verbindlich zu konkretisieren und über die Eignung und Erforderlichkeit von Maßnahmen zur Zweckverwirklichung zu entscheiden. Das Ermessen umfaßte also neben der Zwecksetzung auch die Wahl der Mittel, sowohl was die Rechtsform, 91 als auch was den Inhalt der Regelung betraf. Entgegen dem Anschein ging Flörcke jedoch, wie oben bereits gezeigt,92 nicht so weit, die polizeiliche Zielrichtung einer Maßnahme als hinreichende Bedingung für die Befugnis zur Ermessensentscheidung zu behaupten. Sobald die Polizeisache wegen Betroffenseins wohlerworbener Rechte „kontentiös" wurde, war bei ihm für landesherrliches Ermessen kein Raum mehr. 93 Doch wenn man zur Herleitung des Ermessens aus der Polizeihoheit noch die Feststellung hinzunahm, daß in Polizeiangelegenheiten „der Vortheil eines oder des anderen Unterthans ... dem Nutzen vieler ... billig nachzusetzen (sei), weil dieses sich in der allgemeinen Regel gründe():,Salus publica suprema lex esto' " , 9 4 war es zum Polizei vorbehält gegenüber wohlerworbenen Rechten und damit zur vollen Kongruenz von Polizei- und Ermessensmaßnahmen nur ein kleiner Schritt. Die diesen Schritt gingen, konnten sich in der Reichspublizistik noch nicht durchsetzen.95 Sie hatten aber territorialrechtliche Bedeutung als Apologeten der Kammerjustiz und waren Wegbereiter einer nachfolgenden, nicht mehr an das Reichsrecht gebundenen Ermessenskonzeption. Unabhängig davon, ob das Ermessen des Landesherrn in einem Gegensatz zur Rechtsbindung gesehen, und ob es allein aus der Kompetenzordnung begründet oder auch aus der Polizeihoheit abgeleitet wurde, bestand in der Rechtslehre des 18. Jahrhunderts Einigkeit darüber, daß es jedenfalls keine schrankenlose Entscheidungsfreiheit eröffne. In den Abhandlungen zur Polizeigewalt und den Ausführungen zum ius eminens wurden Leitlinien für Maßnahmen des Fürsten im Ermessensbereich erörtert und immer wieder Grenzen aufgezeigt, die der Ermessensfeh90

Flörcke, S. 8. Vgl. § 106 des Jüngsten Reichsabschieds von 1654 (Neue Sammlung, 3. Bd., S. 660), der davon ausgeht, „des Orts Obrigkeit (habe) ohne das den Gewalt..., dergleichen (sc. Polizei-)Statuta nach Gelegenheit der Läuft und Zeiten zu widerrufen und zu ändern." Die Polizei Verordnung war der Prototyp der Polizeimaßnahme, aber keineswegs die einzig zulässige Handlungsform. Flörcke nennt auf S. 4 zusammenfassend „vernünftige und kluge Anstalten, auch ... Gesetze und Verordnungen". Einzelakte deckte die der Polizeigewalt immanente Befugnis, Rechtsmißbräuche abzustellen (dazu s.o. bei Fn. 34). 92 S.o. Α. I. 2. a) bb) bbb) (1) nach Fn. 58. 93 Flörcke, S. 16. 94 Flörcke, S. 5 f. 95 S.o. Α. I. 2. a) bb) aaa) bei Fn. 38 f.

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre

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lerlehre des 19. Jahrhunderts als Ausgangspunkt dienten und ihre Struktur mitprägten. b) Leitlinien und Grenzen der Ermessensausübung

Stereotype Verweise auf den Zweck der Wohlfahrtsförderung mit Rücksicht auf die „vorkommenden jetzigen und künftigen Umstände",96 die „Gelegenheit der Läuft und Zeiten" 97 und die Klugheit und Vernünftigkeit des Vorgehens98 stellten klar, daß das landesherrliche Ermessen nicht zu beliebiger Disposition ermächtigte, sondern durch zielgerichtetes Handeln nach rational nachvollziehbaren Kriterien ausgefüllt werden sollte. Mit „Willkühr" oder „arbitrium" und „Mißbrauch" der Landeshoheit wurden deshalb die Maßnahmen gescholten, die „unter dem Mantel des gemeinen Besten und der Polizei" 99 ausschließlich fürstliche Privatinteressen verfolgten, wohlerworbene Rechte mißachteten oder die Hoheitsgewalt sonst rechts- oder zweckwidrig einsetzten.100 Der Begriff des Mißbrauchs diente dabei in einem weiteren Sinn als Oberbegriff für alle Arten der Machtausübung, mit der die Grenzen der Hoheitsgewalt überschritten wurden, unabhängig davon, ob diese Grenzen rechtlicher oder staatstheoretischer Natur waren. Er deckte sowohl den Verstoß gegen die den Landesherrn verpflichtenden Teile des positiven Rechts als auch die Mißachtung der Staatszweckbindung hoheitlichen Handelns. Unter dem Stichwort des Mißbrauchs in einem engeren Sinn wurde dagegen diskutiert, inwieweit den Rahmen des positiven Rechts wahrende, aber sonstige Bindungen der Hoheitsgewalt mißachtende Maßnahmen als justiziable Rechtsverletzungen begriffen werden konnten. Während der Mißbrauch in diesem engeren Sinn als Rechtsgrenze behandelt und den positivrechtlichen Bindungen des Landesherrn an die Seite gestellt wurde, galten die Kriterien der Klugheit oder Vernünftigkeit und der Notwendigkeit, Angemessenheit und Zweckmäßigkeit von Maßnahmen lediglich als aus der Staatszwecklehre abgeleitete Richtlinien für die Ermessensausübung. Sie wurden grundsätzlich nicht als Rechtsgrenzen betrachtet und jedenfalls nicht als justiziabel angesehen.101 Allerdings konnten bestimmte, qualifizierte Verstöße gegen

96 97 98 99

Flörcke, S. 5, 8. § 106 des Jüngsten Reichsabschieds von 1654, Neue Sammlung, 3. Bd., S. 660. Flörcke, S. 5, 8, 10; Strube, Unterricht, S. 89. Neurath, S. 39.

100 v. Cramer, Nebenstunden, 1. Bd., S. 96 f.; 7. Bd., S. 85; Moser, Regierungssachen, S. 8; ders., Compendium, S. 459; Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 86 ff.; Pütter, 1. Teil, S. 321 f.; Preu, S. 46, 120 f.; Klippel, S. 67 ff. ιοί Flörcke, S. 8; Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 57; Pütter, 1. Teil, S. 317 ff., 324 f., 336; Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 51 f., 72, 92 f.; ebenso v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 83, der auf S. 85 für die Ausübung des ius eminens eine Beschränkung der Eingriffsbefugnis auf das Erforderliche behauptet. Unzutreffend deshalb Erichsen, Grundlagen, S. 159, soweit generell die Geltung des Ubermaß Verbots festgestellt wird, und Wulffen, S. 27 m. Fn. 44.

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

diese Richtlinien den Tatbestand des Mißbrauchs der Landeshoheit im engeren Sinn erfüllen und die Konkretisierung der Zweckbindung in eine justiziable Rechtsbindung umschlagen lassen. Deshalb sollen hier zunächst die aus der Staatszwecklehre begründeten Leitlinien der Entscheidungen im Ermessensbereich dargestellt werden, um anschließend die Grenzen der Hoheitsgewalt und die Frage nach dem Verhältnis von Ermessensbindung und Rechtsgrenzen zu klären.

aa) Klugheitsregeln und Kriterien der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit als Leitlinien der Ermessensausübung

Nachdem die Ausübung der Polizeigewalt den Prototyp der Ermessensentscheidung darstellte, galten als Leitlinien der Ermessensausübung im wesentlichen die der guten Polizei. Die aus dem Natur- oder Vernunftrecht abgeleitete und in der Staatszwecklehre ausformulierte Verpflichtung des Landesherrn auf den Wohlfahrtszweck stand im Mittelpunkt; alle weiteren Leitlinien wurden aus dieser Zweckbindung entwickelt. Auch die Kriterien der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer Maßnahme waren auf die Zielvorgabe der Wohlfahrtsförderung bezogen. Sie wurden mit Hilfe der Lehren zur Staatsklugheit konkretisiert, waren also nicht rechtliche, sondern politische Größen. Beide Begriffe wurden in der Regel synonym gebraucht. Notwendigkeit meinte damit nicht die Erforderlichkeit einer Maßnahme, sondern, ebenso wie Zweckmäßigkeit, nur ihre Eignung oder eine nicht näher ausgewiesene Wünschbarkeit des Tätigwerdens. 102 Angemessenheit konnte ebenfalls diese Bedeutung haben, wurde aber auch im Sinne von Billigkeit und vereinzelt sogar als Kriterium der Nutzen-Schaden-Relation bei Einsatz eines bestimmten Mittels verwandt. 103 Wie die Konkretisierung des Wohlfahrtszwecks selbst, war es kraft der Polizeihoheit und des Fürstenamts grundsätzlich dem Landesherrn selbst vorbehalten, über die Zweckmäßigkeit, Notwendigkeit und Angemessenheit von Maßnahmen zu entscheiden.104 Fiskalische und kameralwissenschaftliche Grundsätze sollten Orientierungshilfen geben, ohne daß ihre Beachtung zur Bedingung der Rechtferti102 Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 63, vgl. S. 87 f., 94 f. (das Dartun eines „bequemere(n) Mittel(s)" reicht zur Widerlegung der Notwendigkeit nicht aus); Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 57; v. Berg, 1. Bd., 2. Aufl., S. 153. Im Sinne von Erforderlichkeit könnte Notwendigkeit dagegen bei v. Berg, a. a. Ο., S. 165 gebraucht sein. Doch die Ergänzung, damit sei kein Urteil über die „politische Güte" der Maßnahme gemeint, und die Beschränkung des Mißbrauchs auf Fälle offensichtlicher Zweckverfehlung (S. 153) sprechen eher dafür, auch hier eine Verwendung des Notwendigkeitsbegriffs im Sinne der Eignung anzunehmen. 103 ζ. B. bei Flörcke, S. 11, Anm. m. 104 γ. Berg, 1. Bd., S. 153, 165 (dazu vgl. o. Fn. 95 a.E.); v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 84; Flörcke, S. 8, 16; Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 57; Erichsen, Grundlagen, S. 88 f.; Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 86 ff., 94 f.

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gung der Maßnahme erhoben worden wäre. Die Einschätzungsprärogative des Fürsten erstreckte sich aber nicht nur auf die Beurteilung der beabsichtigten Maßnahmen angesichts eines feststehenden Sachverhalts, sondern darüber hinaus auf die Beurteilung des den Anlaß des Eingreifens bildenden Sachverhalts selbst. 105 Der alleinigen, nicht überprüfbaren Entscheidung des Fürsten vorbehalten waren damit die Bestimmung des konkreten Zwecks, die Einschätzung der vorgefundenen Situation und schließlich die Auswahl des zweckentsprechenden, situationsangemessenen Mittels. Die rechts- und staatswissenschaftliche Begründung der so umfassenden fürstlichen Beurteilungs- und Entscheidungsprärogative hat ihren Ursprung im 16. und 17. Jahrhundert. Sie erfüllte damals die Funktion, den Fürsten gegen Reichsgewalt und Stände abzuschirmen, um mit territorialstaatlicher Politik den wirtschaftlichen und sozialen Umbruch zu Beginn der Neuzeit bewältigen zu können. 106 Mit der Konsolidierung der Territorialhoheit und dem Ausbau der Polizeigewalt nicht nur zu Lasten hergebrachter Rechte, sondern auch auf Kosten der natürlichen Freiheit der Untertanen wurden die Nachteile dieser Lehre stärker spürbar. Nicht mehr nur die um ihre Privilegien besorgte ständisch-konservative Opposition, sondern auch liberale Vertreter der Aufklärung und eines kritisch gegen den Absolutismus gewendeten Vernunftrechts betonten deshalb in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Gefahr des Mißbrauchs der Hoheitsgewalt und versuchten, durch Einengung des Polizeibegriffs und die Konstruktion von Mißbrauchstatbeständen den unzulänglichen Kanon positivrechtlicher Bindungen der Herrschaftsgewalt zu ergänzen.107

bb) Positives Recht und Mißbrauch der Hoheitsgewalt als Grenzen des landesherrlichen Ermessens

aaa) Positivrechtliche Grenzen Bei den Überlegungen zum Ermessen als Gegensatz zur Rechtsbindung108 ist bereits deutlich geworden, daß nicht alles positive Recht den Landesherrn in der Ausübung der Hoheitsgewalt verpflichtete. Unbestritten war die Bindung an die Reichsgrundgesetze, die mit den Landständen paktierten Landesgrundgesetze und sonstige mit den Ständen abgeschlossenen Verträge sowie die Bindung an die wohlerworbenen Rechte der Stände und Untertanen. 109 Mehrheitlich bejaht wurde 105 Flörcke, S. 7 („Gutbefinden der Umstände"); Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 86 ff. 106 Link, Herrschaftsordnung, S. 145 f.; vgl. Stintzing/Landsberg, 2. Abt., S. 38 ff., s.o. Α. I. 2. a) aa) und bb) bbb) (1). 107 Preu, S. 117, 119 f., 193 ff.; Link, Herrschaftsordnung, S. 147 ff.; Willoweit, Territorialgewalt, S. 364.; zum Aufstieg und zur Funktion des Naturrechts vgl. Stolleis, Geschichte, 1. Bd., S. 27 I f f . io« S.o. Α. I. 2. a) cc) aaa).

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aufgrund der Lehnsherrschaft des Kaisers außerdem die Verpflichtung durch einfaches Reichsrecht, 110 während eine Bindung des Landesherrn an das von ihm selbst gesetzte, einfache Landesrecht für hoheitliche Handlungen allgemein abgelehnt wurde. 111 Justiziabel waren diese positivrechtlichen Bindungen allerdings nur, soweit mit ihrer Verletzung gleichzeitig die Beeinträchtigung wohlerworbener Rechte verbunden war. 112 Effektiv geschützt waren danach nur subjektive, wohlerworbene Rechtspositionen, und auch diese nur gegen Eingriffe aufgrund des ius oder dominium eminens. Wegen der fürstlichen Entscheidungsprärogative in Polizeiangelegenheiten waren sie gegenüber Verkürzungen im Wege polizeilicher Mißbrauchsaufsicht dagegen ebensowenig geschützt wie die als allgemeine Handlungsfreiheit verstandene natürliche Freiheit, die keinen besonderen Rechtstitel vorweisen konnte. Dieses Defizit zu beseitigen, war das Ziel der Überlegungen zum Mißbrauch der Landeshoheit als Grenze landesherrlichen Ermessens.

bbb) Der Mißbrauch der Landeshoheit Kennzeichnend für den Mißbrauch der Landeshoheit im nun zu klärenden, engeren Sinn ist, daß die Maßnahme sich zwar im Rahmen des positiven Rechts hielt, aber nicht positivierte Bindungen mißachtete.113 Da die Einschätzungsprärogative des Landesherrn und ihre Ableitung aus der Polizeigewalt nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurden, konnten nur offensichtliche und schwere Verfehlungen des Staatszwecks als Mißbrauch bezeichnet werden. Die ausschließliche Verfolgung von Fürsteninteressen unter dem Mantel des gemeinen Besten 114 und die ausschließlich auf Schädigung der Untertanen abzielende Polizeimaßnahme115 sind

"» v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 84 f.; Moser, Compendium, S. 458 f.; Strube, Unterricht, S. 29; Erichsen, Grundlagen, S. 29 ff. no v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 83; Pütter, 1. Teil, S. 324 f.; Erichsen, Grundlagen, S. 29. m Flörcke, S. 8, 16; Gönner, Staatsrecht, S. 457; vgl. Klippel, S. 66; Link, Herrschaftsordnung, S. 100 f.; Erichsen, S. 30 f., je m.w.N. Die Rechtsbindung des Fürsten im privatrechtlichen Bereich wurde durch seine Behandlung nicht als summus imperans, sondern als einfache Person erreicht (Link, a. a. O., S. 106 f.) und stellt deshalb keine Grenze der Hoheitsgewalt dar. 112 Der Zusammenhang wird ausdrücklich hervorgehoben von v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 83: Der Landesherr habe volle Freiheit, Polizeimaßnahmen zu treffen, „so bald nur die allgemeinen Reichsabschiede dadurch nicht violiret werden und der Untertan auf diese sich zu beruffen, keine Ursache erhält." h 3 Flörcke, S. 13, 16, und v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 85 sprechen deshalb von Rechtsverletzung unter dem Vorwand oder Schein rechtmäßiger Ausübung der Polizeigewalt. 114 v. Berg, 1. Bd., S. 156, 167; v. Cramer, Nebenstunden, 1. Bd., S. 96 f.; 7. Bd., S. 85; Flörcke, S. 13, 16; Leist, S. 550 ff., 564; Moser, Regierungssachen, S. 8; Neurath, S. 40 ff.; Pütter, 1. Teil, S. 336; Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 88; vgl. Preu, S. 121 m. Fn. 207.

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre

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die prominentesten Beispiele mißbräuchlicher Hoheitsausübung. Der Nachweis war um so schwieriger, als in der ersten Fallgruppe bis zur strikten Trennung von Fürsten- und Kammergut 116 die zulässige Verfolgung fiskalischer Zwecke kaum von der fürstlichen Selbstbereicherung zu unterscheiden war, 117 und in der zweiten Fallgruppe eine Schädigungsabsicht des Fürsten oder zumindest sein Bewußtsein der Zweckverfehlung dargetan werden mußte. Denn aus der Einschätzungsprärogative des Fürsten wurde gefolgert, daß ein bloßer Irrtum, also nur fahrlässige Zweckverfehlung, ihm nicht vorgehalten werden könne. 118 Aus demselben Grund wurde auch das Übermaßverbot, das immerhin Vorläufer in der ius eminens-Dogmatik aufzuweisen hatte, 119 nur von wenigen Autoren vertreten. 120 Nur die offensichtliche Ungeeignetheit einer Maßnahme zur Erreichung des angeblich verfolgten, konkreten Wohlfahrtszwecks wurde als Mißbrauch qualifiziert. Er sollte ζ. B. vorliegen, wenn der Landesherr dem Wohlfahrtszweck „geradezu entgegenhandelte". 121 „Der Nachweis bequemere(r), bessere(r) und wirksamere(r) Mittel" sollte dagegen zur Begründung des Mißbrauchs nicht ausreichen. 122 Unerörtert blieb das Problem der Sachverhaltseinschätzung. Das dürfte damit zu erklären sein, daß einerseits im noch diffusen Begriff der Notwendigkeit die Frage des Einschreitenmüssens und das Problem geeigneter Mittel ineinander verwischt wurden, und andererseits bei einer noch nicht auf den Sicherheitszweck reduzierten, sondern auf umfassende Wohlfahrtförderung angelegten Polizei ein Sachverhalt keine besondere Qualität aufweisen mußte, um zum Einschreiten zu berechtigen. Keine Klarheit bestand darüber, wie die Mißbrauchsgrenze als Rechtsgrenze zu begründen sei. Der entsprechende Nachweis war am einfachsten für natur- oder vernunftrechtlich argumentierende Autoren. Sie konnten die Mißbrauchsgrenze us Pütter, 1. Teil, S. 336; Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 88; vgl. v. Berg, 1. Bd., S. 153,

160.

116

Zur wirtschaftspolitischen Instrumentalisierung des Kammerguts Willoweit, Territorialgewalt, S. 333 f. 117 Zur Differenzierung Preu, S. 119 m. Fn. 93. us Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 87. 119 S.o. Α. I. 2. a) bb) aaa) bei Fn. 33. 120 Z.B. von Scheidemantel, 3. Teil, S. 202 und von v. Cramer, Nebenstunden, 7. Bd., S. 85; Ansätze auch bei Flörcke, S. 13, der in der Interpretation des § 106 des Jüngsten Reichsabschieds v. 1654 (dazu s.o. Α. I. 2. a) bb) aaa), Fn. 46 a. E.) feststellt, der Rechtsweg sei zulässig, „daferne ... unter dem Schein einer anzuordnenden Policey, eine neue und größere Beschwerde denen Bürgern von der Obrigkeit aufgebürdet wird, als es der gemeine Nutzen erfordert,... oder einer mehr als der andere belästiget wird". Bei anderen Autoren finden sich staatstheoretische oder vernunftrechtliche Ansätze zur Begründung eines Übermaßverbots, die aber nicht in die - positivrechtlich orientierte - Bestimmung der Rechtsgrenzen der Hoheitsgewalt aufgenommen werden (ζ. B. bei Pütter, 1. Teil, S. 324 f., 336; v. Berg, 1. Bd., S. 153 f., 165 ff.). 121 v.Berg, 1. Bd., S. 153. 122 Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 87 f., vgl. ebd., S. 63, 94.

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aus dem Fürstenamt, dem naturrechtlichen Vorbehalt guter, gerechter Eingriffsgründe oder aus dem Gesellschaftsvertrag herleiten. 123 Positivrechtlich argumentierenden Juristen blieb nur die Möglichkeit, den Mißbrauch als immanente Grenze der Hoheitsgewalt zu behaupten, indem sie die eklatanten oder absichtlichen Zweckverfehlungen aus dem wohlverstandenen Begriff der Polizei ausgrenzten und damit von der Rechtfertigung durch die Polizeihoheit ausnahmen.124 In beiden Fällen war die Mißbrauchskonstruktion Ausdruck eines im Umbruch begriffenen Verständnisses rechtlicher Begründung und Begrenzung von Hoheitsgewalt. Schon das Reden vom „Vorwand" oder „Anschein" rechtmäßiger Herrschaftsausübung, das die Unterscheidung positivrechtlicher Rechtmäßigkeit und sonstiger rechtlich relevanter Fehlerhaftigkeit anschaulich und plausibel machen sollte, zeigt die Unsicherheit der Rechtslehre. Zwischen positivem und überpositivem Recht stehend, mußte sie auf die Verschiebung des Rechtsbegriffs hin zur Positivität bei gleichzeitig empfundenem Ungenügen der dort festgelegten Herrschaftsgrenzen reagieren. Der in der Mißbrauchskonstruktion gelungene Brückenschlag zwischen politischstaatstheoretischen und positivrechtlichen Kategorien löste das Problem in einer Situation, die auf positivrechtliche Selbstbeschränkung des Herrschers jedenfalls im politischen Bereich wenig hoffen ließ. Er verdeckte aber auch die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Verhältnisses von Staatstheorie und Rechtslehre und erwies sich damit als Hypothek für die Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. An der primär reichs- und kompetenzrechtlichen Ausrichtung der Bestimmung landesherrlichen Ermessens änderte die Mißbrauchsdiskussion nichts. Wegen ihrer Einbindung in die Lehre von den Hoheitsrechten und mit ihrer Verflechtung staatstheoretischer und rechtlicher Kategorien konnte sie insbesondere nicht zu einem Verständnis des Ermessens als Gegensatz zur objektivrechtlichen Bindung fürstlicher Macht führen. Immer erschien der Mißbrauch nur als Ergänzung der positivrechtlichen Grenzen der Hoheitsgewalt und war, wie diese, gerichtlicher Kontrolle nur zugänglich, soweit gleichzeitig die Beeinträchtigung wohlerworbener Rechte geltend gemacht wurde. So blieb der Bereich landesherrlichen Ermessens negativ über den Begriff der Justizsache definiert, für den die wohlerworbenen Rechte nach wie vor maßgeblicher Anknüpfungspunkt waren. Indem mit dem Mißbrauch auch polizeiliche Aufsichtsmaßnahmen einer gerichtlichen Kontrolle unterstellt wurden, erhielt der Begriff der Justizsache einen weiteren Anwendungsbereich; die Bestimmung des landesherrlichen Ermessens wurde dadurch jedoch nicht umstrukturiert. Blieb danach der kompetenzrechtliche, nur implizit und in zweiter Linie auf materiellrechtliche Schranken zurückgreifende Ansatz charakteristisch für die Be123 v. Cramer, Nebenstunden, 1. Bd., S. 96 f.; J.H. Boehmer,*2. Aufl., S. 267 f., 414; Leist, S. 550 ff., 564; Wolff, 1. Teil, S. 443; Link, Herrschaftsordnung, S. 102 ff., 105 m.w.N. 124 Flörcke, S. 13, 16; Moser, Regierungssachen, S. 8; Strube, Nebenstunden, 3. Teil, S. 87 f.; im Ergebnis ebenso v. Berg, 1. Bd., S. 153 f., 165 ff.; Pütter, 1. Teil, S. 324 f., 336.

I. Reichspublizistik und Territorialstaatsrechtslehre

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handlung des landesherrlichen Ermessens, wurde bei der Erörterung des richterlichen Ermessens viel stärker auf das positive materielle Recht und dessen Auslegung und Anwendung Bezug genommen.

3. Das richterliche Ermessen Während das Ermessen des Landesherrn seinen Ursprung in der Hoheitsrechtslehre der neuzeitlichen Reichspublizistik hat, reichen die Wurzeln des richterlichen Ermessens weiter zurück. Sie liegen in der freien Rechtsfindung rechtserfahrener Urteiler in der Ständegesellschaft des ausgehenden Mittelalters. Durch die Positivierung der Rechtsordnung seit dem 16. Jahrhundert und durch die damit verbundene Zentralisierung der Justizgewalt125 wurde das richterliche Ermessen dann zum positivrechtlich bedingten und begrenzten Entscheidungsspielraum bei der Normanwendung umgeformt. In der spätmittelalterlichen Ständegesellschaft war Recht der Inbegriff stabiler, hergebrachter, friedenswahrender gesellschaftlicher Ordnung. Rechtspflege war dabei weder aus dem politischen Handeln ausdifferenziert, noch von der Durchsetzung von Sozialnormen abgegrenzt. Die Ausübung der Gerichtsbarkeit war zentrales politisches Herrschaftsmittel, und der durch Sitte und Herkommen geprägte, stetige Rechtsgebrauch die wichtigste Rechtsquelle.126 Schriftliche Rechtsquellen spielten allenfalls eine untergeordnete Rolle und galten lediglich als Fixierung des Rechtsgebrauchs, nicht aber als Ausdruck und Mittel rechtspolitischer Gestaltung. Eine Unterscheidung von konkreter Rechtsfindung und Rechtsetzung war in diesem System nicht möglich; beides fiel in den Aufzeichnungen lokaler Rechtsübung und im Spruch der rechtserfahrenen Urteilsfinder in eins. 127 Kriterium der Legitimität richterlicher Entscheidungen war die Billigkeit oder aequitas im Sinne einer Angemessenheit, die darin bestand, jeder Seite im konkreten Konflikt das ihre zukommen zu lassen.128 Die Billigkeit legitimierte so den richterlichen Entscheidungsspielraum und leitete gleichzeitig seine Ausfüllung. Wegen ihrer Einbindung in die tradierte Rechtsübung war sie kein Freibrief für richterliche Willkür oder Freiheit gegenüber dem Recht, sondern setzte vielmehr eine durch Rechtserfahrung gewährleistete Kontinuität der Urteilsfindung voraus. Der richterliche Spielraum scheint sich daher, idealtypisch gesehen, nicht so sehr auf das Herausdestillieren der Rechtssätze aus der überkommenen Ordnung als auf ihre Konkretisierung für die konkrete Konfliktsituation bezogen zu haben. 125 Dazu s.o. Α. I. 2. a) aa) und bb) bbb) (1). 126 Ogorek, Richterkönig, S. 14 ff.; Landwehr, in: SZ G 96 (1979), 1 ff. 127 Ogorek, Richterkönig, S. 15 f. 128 Zum Begriff der aequitas und seiner Funktion vgl. Hübner, S. 15 f., 20 ff.; Kocher, S. 220 ff. m. Fn. 164; Schott, Rechtsgrundsätze, S. 59 f., 63; Wieacker, 2. Aufl., S. 52 m. Fn. 26, S. 77.

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

Einen ersten Bruch erfuhr dieses System richterlicher Rechtsfindung mit der Rezeption des römischen Rechts. In ihrer Folge traten zunehmend geschriebene, römischrechtlich geprägte Quellen neben den lokalen Rechtsgebrauch. Das „strenge", geschriebene Recht und die durch überkommenes Rechtsverständnis geprägte Billigkeit wurden zu Gegensatzpaaren in der Auseinandersetzung um die Rangordnung der beiden Rechtsquellen.129 Hier beginnt die Kontroverse zwischen Verfechtern des geschriebenen Rechts, die den richterlichen Entscheidungsspielraum möglichst gering halten wollen, 130 und denen der alten, gewohnheitsrechtlich geprägten Rechtsprechung, denen das Ermessen des Richters als unerläßliche Voraussetzung angemessener, richtiger Entscheidung gilt. 1 3 1 Die kodifizierten Rechtsquellen erscheinen in diesem Streit als Garantie der Rechtssicherheit und als Schutz gegen die Willkür und den Eigennutz lokaler Obrigkeiten. 132 Dabei verbergen sich hinter der den Rechtsschutz betonenden Attitüde nicht selten antiständische, zentralistische Bestrebungen. Doch auch wo diese politische Tendenz den rechts wissenschaftlichen Stellungnahmen nicht unterstellt werden kann, spielt die Befürwortung des Primats der geschriebenen Rechtsquellen nolens volens die Rolle des Steigbügelhalters zum Aufstieg der fürstlichen Territorialherrschaft. 133 Richterliche Entscheidung nach Billigkeitsgesichtspunkten wurde von den Anhängern des geschriebenen Rechts für zulässig gehalten nur bei Gesetzeslücken oder „in ... feilen, so die recht in ermessung des richters stellen", 134 also bei ausdrücklicher Ermächtigung im Normtext, und mit der Maßgabe, daß die Richter dabei „nach irem besten verstände" und „mit rechter masentscheidung"135 urteilen. Diese Formulie129 Stintzing/Landsberg, 1. Abt., S. 37 ff., 47 ff.; Hübner, S. 22; Schott, Rechtsgrundsätze, S. 20 ff., 64; Wessel, S. 98 ff. 130 Ferrarius, S. VII; Lauterbeck, 2. Aufl., S. 88.; Osse, S. 269 ff., 287 f.; zu Osses „Politischem Testament" vgl. Maier, S. 114 ff. 131 Schott, Rechtsgrundsätze, S. 64 f.; Oldendorp, S. 31, fordert: „Dat wy yn allen handelen uth thofelliger gelegenheyt der personen , saken, stede und tydt bewegen unde ermethen schölen wat byllick ys." (zit. n. E. Wolf, 4. Aufl., S. 153). Weitere Billigkeitskriterien sind für Oldendorp die Übereinstimmung mit Gottes Wort und Willen, die Förderlichkeit für das Gemeinwohl und das Verbot, anderen zu schaden (a. a. O., S. 19 f., 26 f., 38, zit. n. Wolf, a. a. O., S. 153 f.). Zu Oldendorp vgl. Stintzing/Landsberg, 1. Abt., S. 311 ff.; Maier, S. 105 ff. 132 So wendet sich Ferrarius, S. VII, gegen die Auffassung, „man bedürff des geschriebenen rechten gar nit, sondern möge eine jede gemein on das durch eygene gewonheit und wolgefallen der oberkeit regirt und erhalten werden", weil er meint, die Vertreter dieser Ansicht irrten „gröblich", und wenn sie nicht „auß unverstant" so sprächen, verträten sie diese Auffassung nur, „damit sie den gewalt zu üben desto mehr platz hetten". Weil jeder irren könne und kaum einer „nit sein eigen Sachen und nutz mit unter laß laufen", sei geschriebenes Recht nötig, damit nicht den Schwachen unter falscher Berufung auf Ortssitten und Richtergewalt ihr Recht genommen würde. Ähnlich Osse, S. 287 f., gegen die, die wollen, „daß man ... ein willkürlich recht, ius arbitrarium, annemen soll, dormit ein itzliche obrigkeit... die Untertan entscheide nach irem besten vorstendnus und wi si solchs gleich und billig dunkt" - die Folgen seien nur Willkür, Gewaltherrschaft und Rechtlosigkeit oder Rechtsunsicherheit. 133 Dazu Wessel, S. 114 ff.; Ogorek, Richterkönig, S. 22, 26. 134 Osse, S. 286 f. 135 Osse, S. 287.

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rungen erinnern an die Leitlinien der Ausübung des landesherrlichen Ermessens. Wie dort aus der Staatszwecklehre und dem Fürstenamt, versucht man hier aus dem Gerechtigkeitspostulat und dem Gebot gewissenhafter Amtsführung Entscheidungsmaßstäbe zu entwickeln, die die positivrechtlichen Grenzen ergänzen. Allerdings ist die Stoßrichtung verschieden. Ging es bei den Grenzen des landesherrlichen Ermessens um die Verhinderung von Machtmißbrauch und den Schutz der Rechte der Stände und Untertanen, geht es hier bei den Grenzen richterlicher Ermessensausübung vor allem um den Schutz der Autorität des Gesetzgebers, also genau des Fürsten, gegen den sich die Mißbrauchsgrenze richtete. Entsprechend enthielten die Kodifikationen selbst in der Regel neben der Anordnung vorrangiger Anwendbarkeit geschriebenen Rechts Interpretationsverbote und Vorlagepflichten. Damit nicht unter dem Deckmantel fallbezogener Konkretisierung eine Normdurchbrechung geschehe, wurde den Richtern schlicht jede Auslegung untersagt. Bei Unklarheiten trat eine Pflicht zur Vorlage an den Gesetzgeber ein. 1 3 6 Der Bruch mit dem Modell richterlicher Rechtsfindung, den die Kodifikationsbewegung eingeleitet hatte, wurde endgültig mit der polizeilichen Durchnormierung des gesellschaftlichen Lebens aufgrund der inzwischen beim Fürsten monopolisierten, territorialen Rechtsetzungsgewalt. Die polizeistaatliche Entwicklung förderte die Verschiebung des Rechtsbegriffs vom Inbegriff tradierter, statischständischer Ordnung zum Inbegriff rechtspolitisch gestaltender, vom Herrscher gesetzter Normen. 137 Mit der Zentralisierung der Justizgewalt und der Durchführung strikter Gesetzesbindung der Richter reduzierte sie gleichzeitig das Problem richterlicher Entscheidungsfreiheit auf das des Umgangs mit dem gesetzten Recht. 138 Während zuvor die richterliche Ermessensentscheidung nach Billigkeit und die Anwendung geschriebener Normen als Gegensatz erschienen waren, bezeichnete Ermessen nun den Spielraum bei der Anwendung des gesetzten Rechts und wurde im Bestreben, die fürstliche Gesetzgebungsautorität auch mittels juristischer Methodenlehre abzusichern, als Problem regelgerechter Gesetzesinterpretation aufgefaßt. So wurde das richterliche Ermessen zum Auslegungsproblem. In ihren Lösungsansätzen überwand die Diskussion des 18. Jahrhunderts die absoluten Interpretationsverbote ebenso wie die radikale Entgegensetzung von Billigkeit und Recht. 139 Interpretationsverböte galten nur noch für „klare" Bestimmungen mit eindeutigem Wortlaut 140 - richtiger wohl für Normen, die in der Anwen136 Hübner, S. 21 f., 24 f. mit Beispielen. 1 37 Dazu s.o. Α. I. 2. a) aa). Reste des statischen Ordnungsmodells wurden durch Beibehalten des Herkommens als dem positiven Recht gleichrangige Rechtsquelle bewahrt. Auch die Identifikation des Rechts mit den vom Fürsten gesetzten Rechtsnormen gelang nicht vollständig, da überpositives Recht, positives Reichsrecht und ständische Verträge weiterhin zur Rechtsordnung gehörten. 138 Ogorek, Richterkönig, S. 39 f. 139 Dazu und zum folgenden Hübner, S. 29 ff.; Wieacker, 2. Aufl., S. 330. 1 40 Z.B. Cap. I, § 9 des Codex Maximilianeus Bavaricus von 1756, Ausgabe München 1759. 4 Held-Daab

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

dung auf den zu entscheidenden Fall klar und unmißverständlich schienen. Bei Unklarheiten, die bisher grundsätzlich dem Fürsten vorgelegt werden mußten, ermöglichte die Unterscheidung der dem Rechtsgelehrten überlassenen, lege artis durchgeführten interpretatio doctrinalis von der dem Gesetzgeber, d. h. dem Fürsten vorbehaltenen interpretatio authentica oder legalis die Anerkennung der Notwendigkeit konkretisierender richterlicher Gesetzesauslegung. Um die fürstliche Gesetzgebungsautorität zu wahren, blieb der Rahmen der interpretatio doctrinalis allerdings auf die grammatische Auslegung, die Analogie und die restriktive Auslegung allgemeiner Begriffe nach der ratio legis begrenzt. 141 Wo dieses Instrumentarium nicht ausreichte, blieb die Vorlagepflicht bestehen.142 In der interpretatio doctrinalis hatte das richterliche Ermessen seinen neuen systematischen Ort. Während die das Ermessen legitimierende und ausfüllende Billigkeit „keiner Obrigkeit zum Vorwand dienen (durfte), vom trockenen, klaren Buchstaben des Gesetzes abzuweichen", selbst wenn die ratio legis zweifelhaft oder ungewiß erschien, 143 durfte sie bei der Auslegung „unklarer" Norminhalte durchaus berücksichtigt werden und wurde hier als Auslegungstopos in die Interpretation eingebunden.144 Damit ging ein gewandeltes, natmv oder vernunftrechtlich ausgerichtetes Verständnis der Billigkeit Hand in Hand. 145 Es ermöglichte, die überkommenen Inhalte individuell gerechter, traditionskonformer Entscheidung durch den Maßstab des zeitgenössischen, aufgeklärten Rechtsdenkens zu filtern und alles, was damit unvereinbar war, als aequitas cerebrina, d. h. subjektive Richterwillkür, negativ zu besetzen und auszuklammern. 146 Billigkeitserwägungen konnten so als Konkretisierung des Vorrangs überpositiver Normen in die Auslegung des positiven Rechts eingebracht werden und in Bereichen, in denen Kodifikationen lückenhaft oder veraltet waren, zur vorsichtigen Korrektur genutzt werden, ohne ausdrücklich mit der Gesetzesbindung zu brechen. 147 Das richterliche Ermessen, das unter Berufung auf Billigkeitsgesichtspunkte entschied, stellt sich hier dar als durch Regeln der interpretatio doctrinalis gerechtfertigte Ausschöpfung des vom Wortsinn gezogenen Auslegungsrahmens, in Extremfällen auch als Abweichung vom Wortlaut, etwa in Form einer Analogie. Doch selbst, soweit es ein Einfallstor für überpositive, vernunftrechtlich begründete Gerechtigkeitsvorstellungen bildet, ist es doch positivrechtlich bedingt, weil es immer 141 Hübner, S. 29 m. Fn. 118. 142 Dazu Strube, Nebenstunden, 3. Bd., S. 60 ff. 143 Cap. I, § 11 des Codex Maximilianeus Bavaricus; ebenso Cap. I, Nr. 82 des Codex Theresianus, zit. n. Harrasowsky, 1. Bd., S. 50; vgl. ebd. Nr. 81, 83 und die Anm. 29 f., 31 a.E. sowie S. 49 ff. 144 Schott, Rechtsgrundsätze, S. 64 f., 69, 71 f. 145 Dazu Schott, Rechtsgrundsätze, S. 69. 146 Schott, Rechtsgrundsätze, S. 65; ders., FS Thieme, S. 132 ff. 147 Ogorek, Richterkönig, S. 42 f., 100 f.; Hübner, S. 22; Schott, Rechtsgrundsätze, S. 71 f. spricht deshalb von einer affirmativen Funktion durch sinnvolle Ausdeutung der bestehenden Ordnung.

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einer Unklarheit der Norm als Ansatzpunkt bedarf, und positivrechtlich begrenzt, weil der Rahmen doktrineller Norminterpretation die Grenze legitimer Entscheidungsvarianten bildet. 148 Erst recht ist es vom positiven Recht abhängig, wo der Gesetzgeber den Richter audrücklich zur Billigkeitsentscheidung anweist. 149 Eine noch weitergehende Beschränkung richerlicher Entscheidungsspielräume brachte die Tendenz zum Gesetzespositivismus im Straf- und Zivilrecht gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Im Strafrecht war die Gesetzesbindung bis dahin weniger streng durchgeführt als in den übrigen Rechtsgebieten. Unter dem Fortgelten der Lehre von den „natürlichen Verbrechen" und crimina extraordinaria, die den Zeitgenossen unabhängig von gesetzlicher Pönalisierung strafwürdig schienen,150 und wegen der Zulässigkeit von poenas arbitrarias 151 waren weder Straftatbestände noch Strafmaße gesetzlich zwingend festgelegt. Die Übergangslösung billiger Interpretation der vorhandenen, oft martialischen Bestimmungen, die zunächst aufklärerischen Reformpostulaten Rechnung getragen hatte, wurde zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit verworfen. 152 Statt dessen versuchte man nun, mit Appellen an den Gesetzgeber und dem Ausschluß vop Analogien und gewohnheitsrechtlichen Argumenten richterliche Ermessensspielräume möglichst auszuschalten.153 Die zivilrechtliche Wende zum Gesetzespositivismus hatte ihren Grund vor allem darin, daß die Anerkennung richterlichen Ermessens, und sei es nur in der Form des Interpretationselements, der ständischen Opposition Möglichkeiten bot, ihre Interessen zu wahren, soweit ihr Einfluß in der Justiz noch reichte. 154 Diejeni148 Entscheidungen, die den methodischen Mindeststandards nicht genügten, wurden ebenso als Produkte der aequitas cerebrina diskreditiert wie Urteile aufgrund nachgewiesener persönlicher Voreingenommenheit und Willkür (Schott, Rechtsgrundsätze, S. 64 f.).

M Teil I, Nr. 85 des Codex Theresianus, zit. n. Harrasowsky, 1. Bd., S. 52; Kocher, S. 221; Ogorek, Richterkönig, S. 45 m. Fn. 29. 150 Schreiber, S. 97, 101; Krey, Rn. 86. 151 Krey, Rn. 86; Ogorek, Richterkönig, S. 41 f. 152 Ogorek, Richterkönig, S. 43 f. 153 Ogorek, Richterkönig, S. 43 f., 46; Krey, Rn. 87, 91. ι 5 4 Ogorek, Richterkönig, S. 47 f., 67 ff.; entsprechend wurde die Berücksichtigung von Billigkeitsgesichtspunkten auch außerhalb der lege artis durchgeführten Interpretation unklarer Stellen vor allem von konservativen Vertretern ständischer Positionen gefordert (z. B. von Moser, 2. Teil, S. 21; Runde, 2. Bd., S. 421, 457; A.H. Müller, S. 76 ff., 82, 86, 88 ff.; zu ihnen Ogorek, Richterkönig, S. 67 ff.). Dagegen dürfte bei Schlosser, S. 46 ff., 161, 198 ff., der sich aus Mißtrauen gegen den Gesetzgeber für weite richterliche Interpretationsspielräume ausspricht, nicht die Verteidigung ständischer Vorrechte, sondern das Streben nach einer der Disposition des absoluten Gesetzgebers entzogenen, bürgerlichen Gesellschaftsordnung im Hintergrund gestanden haben (vgl. D. Grimm, Trennung, S. 85, 89 f.; a.A. Ogorek, Richterkönig, S. 71 ff.). Dafür sprechen Schlossers Forderung nach einer verfassungsrechtlichen Beschränkung der Gesetzgebungsgewalt in Verbindung mit seiner Auffassung, die Gewährleistung einer gerechten Privatrechtsordnung sei der eigentliche Zweck des Staates (Schlosser, a. a. O., S. 70 u. 113 ff.), sein Beharren auf genauer Beachtung der Interpretationsregeln bei der Privatrechtsanwendung (ebd., S. 161) sowie schließlich seine Verbindung 4*

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

gen Juristen, die in Erwartung konstitutioneller Rechtsgewährleistung den Fortschritt einstweilen in der gleichmäßigen und berechenbaren Anwendung der obrigkeitlichen Anordnungen sahen, hoben deshalb die grammatikalische Auslegung hervor und lehnten natur- oder vernunftrechtliche Argumente und Billigkeitserwägungen ebenso ab wie die extensive oder restriktive Interpretation nach der ratio legis. 155 Ihr einfaches Gesetzesanwendungsschema, das richterliches Ermessen nur noch aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung anerkannte, wurde allerdings mit Hinweisen auf die Unvollständigkeit und Konkretisierungsbedürftigkeit abstrakter Normen und die Manipulationsanfälligkeit der Sachverhaltsfeststellung kritisiert. 156 Die herrschende Meinung verschloß jedoch einstweilen 157 vor dieser Kritik die Augen und zog es vor, den Preis einer naiven Verkürzung der Rechtsanwendungslehre zu zahlen, um jeder Rechtfertigung ständischer Billigkeitsjustiz den Boden zu entziehen. Sie vertraute darauf, daß der Erlaß detaillierter Normen und eine kluge Personalpolitik im Justizdienst schon das übrige tun würden. Das richterliche Ermessen wird so am Ende des 18. Jahrhunderts zwar nicht mehr, wie noch in den absoluten Interpretationsverboten, geleugnet, aber im Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit des Gesetzes nach Kräften marginalisiert. Nicht nur in dieser, der mühselig begrenzten Ausweitung des landesherrlichen Ermessens gegenläufigen Tendenz, sondern auch in seiner Struktur steht es im Gegensatz zum Ermessen des Fürsten. Unter der Folie reichsrechtlich orientierter Kompetenzabgrenzung zeigt sich dort immer deutlicher die Landeshoheit und insbesondere die Polizeigewalt als Grundlage des Ermessens; positivrechtliche Grenzen spielen eine untergeordnete Rolle und müssen durch die Mißbrauchskonstruktion systematisch unbefriedigend, aber einigermaßen effektiv ergänzt werden. Das richterliche Ermessen ist dagegen endgültig zum positivrechtlich begründeten und auslegungsmethodisch begrenzten Konkretisierungsspielraum bei der Normanwendung diszipliniert. Gerade damit ist es aber dem landesherrlichen Ermessen in der Schlüssigkeit und Stimmigkeit der Konzeption überlegen. 158

zum süddeutschen Liberalismus (Jung, ADB 31, S. 544; vgl. Stintzing / Landsberg, 3. Abt., 1. Halbbd., S. 466; zu Schlossers Biographie ebd., S. 297). 155 Vor allem Schoemann, 1. Bd., S. 3 der Vorrede, S. 78 ff., 86 ff., 106 ff.; dazu Ogorek, Richterkönig, S. 49 ff. A.D. Weber, S. 7, spricht von der „Blendlatern seines (sc.: des Richters) unberufenen Gutdünkens". 156 Zirkler, 1. Teil, S. 42 ff., 49; 2. Teil, 2. Abt., S. 20 ff.; dazu Ogorek, Richterkönig, S. 76 ff., 80 ff.; vgl. Hugo, 1. Bd., S. 117: Die Aussage, der Richter könne bei Unklarheiten des Normtextes subjektivistisch und willkürlich entscheiden, könne nur heißen, es sei ihm ein Leichtes, aber nicht, daß er dies dürfe. Leicht sei eine subjektivistische Entscheidung aber bei jeder Auslegung und bei der Tatsachenfeststellung, ohne daß man dem Richter dabei den Gebrauch der Vernunft verbieten dürfe. 157 Zur Abkehr vom naiven Gesetzespositivismus Anfang des 19. Jahrhunderts vgl. Ogorek, Richterkönig, S. 89 ff., 102 ff., 144 ff. m.w.N.; zur weiteren Entwicklung s.u. Β. II. 2. a) cc) aaa), Fn. 298. 158 Trotz ihrer Gegenläufigkeit widersprechen sich die beiden Ermessenskonzeptionen nicht, sondern ergänzen einander. Das landesherrliche Ermessen konnte so umfassend nur

II. Die Begriffsverschiebung zu Beginn des 19. Jahrhunderts

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II. Die Begriffsverschiebung zu Beginn des 19. Jahrhunderts In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Ermessen zum gängigen juristischen Begriff, 159 der die im 18. Jahrhundert noch gebräuchlichen Synonyme verdrängt. Er ist nicht nur in der juristischen Literatur verbreitet, 160 sondern wird auch in die Formulierung von Normen übernommen. 161 Ausgelöst durch den Zusammenbruch des Reichs und das damit verbundene Ende der Reichsgerichtsbarkeit läßt sich gleichzeitig eine Verschiebung in der Bestimmung des landesherrlichen Ermessens feststellen. Zwar wird der kompetenzrechtliche Ansatz beibehalten, aber die Abgrenzung von Justiz- und Polizeisachen zu Lasten der Justiz umgekehrt. Vom durch die Gerichtskompetenzen negativ definierten Restbereich fürstlicher Alleinentscheidungsbefugnis avanciert das landesherrliche Ermessen zum Kompetenztitel der justizfreien Herrschaftsausübung.

1. Ermessen als Kompetenz zur just^zfreien politischen Entscheidung Mit dem endgültigen Zusammenbruch des Reiches 1806 162 entfielen sowohl die reichsrechtlichen Bindungen der Territorialherren als auch ihre Unterwerfung unter die reichsgerichtliche Kontrolle und der dadurch vermittelte Konformitätszwang in Rechtswegangelegenheiten. Versuche, die vakant gewordenen reichsgerichtlichen Kontrollzuständigkeiten den obersten Landesgerichten zu vindizieren, 163 scheitergedacht werden, weil ihm das Ermessen aller übrigen Entscheidungsträger untergeordnet wurde. Bei den untergebenen Verwaltungsbehörden konnte diese Unterordnung noch in der einfachen Vorstellung gestuften Ermessens, als Ermessenseinräumung unter dem Vorbehalt abweichender höherer oder allerhöchster fürstlicher Ermessensausübung plausibel gemacht werden (Strube, Unterricht, S. 90 Anm. b; Flörcke, S. 16). Bei den Gerichten, die nicht mehr in die Verwaltungshierarchie eingegliedert waren, ließ sie sich nur als auslegungsmethodisch abgesicherte Bindung an das vom Fürsten erlassene Gesetz konstruieren. 159 Erichsen, Grundlagen, S. 158. 160 Vgl. Friese, Begründung zum Entwurf eines Ressortreglements für Westpreußen v. 9. 9. 1808, Geheimes Staatsarchiv R77 CXCIX A, fol. 62-78, zit. η. E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 129 ff., 132 f.; Mittermaier, AcP 4 (1821), 333; Pfeiffer, 5. Bd., S. 231; Funke, S. 61, 125, 130 f., 144; Jordan, in: Weiske, Rechtslexikon, 1. Bd., S. 151; Kuhn, S. 78, 124 f., 237; v. Rotteck, Staatswissenschaften, 2. Bd., 2. Aufl., S. 213, 232, 305 f.; 3. Bd., S. 173. 161 Vgl. § 39 der preußischen Verordnung v. 26. 12. 1808, GS 1808, S. 464 f.; §§ 5, 16 Nr. 5, 17 des preußischen Ressortreglements für die Rheinprovinzen v. 20. 7. 1818 (zit. n. Kuhn, S. 181). 162 Zum Zerfallsprozeß und dessen Stationen (Frieden von Luné ville, Reichsdeputationshauptschluß, Gründung des Rheinbundes, Thronverzicht Franz II.) vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1. Bd., 2. Aufl., S. 19 ff. 163 Klüber, 1. Aufl., S. 470, 493 f., und 3. Aufl., S. 536 f. bestimmt den Begriff der Justizsache und damit die Rechtswegeröffnung in Anlehnung an die Reichspublizistik. Etwas zu-

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ten fast überall. 1 6 4 Die Fürsten sahen sich deshalb in der Folgezeit rechtlich nicht mehr gehindert, den eigenen Ermessensspielraum auszudehnen, indem sie den Rechtsweg gegen hoheitliche Maßnahmen immer weitergehend ausschlossen 165 und die Praxis der Kammerjustiz, soweit dies noch nicht geschehen war, de lege lata zum Regelfall machten. 1 6 6 Zur Begründung der Rechtswegbeschränkungen wurde zunächst auf einen neu und enger gefaßten Privatrechtsbegriff verwiesen, der in der Definition der Justizsache den weiten Begriff der wohlerworbenen Rechte ablöste, und dem ein neues Verständnis der Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht zugrunde lag.

a) Die Reduzierung des Privatrechtsbegriffs und die Argumentation mit der landesherrlichen Souveränität Die Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht hatte als systematische Einteilung des Lehrstoffs schon eine lange Tradition. 1 6 7 Sie beschränkte sich aber noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts darauf, den unterschiedlichen Gegenstand und Zweck der Rechtsanordnungen - hier Schutz der subjektiven oder Privatrechte, dort Verwirklichung des Gemeinwohls - hervorzuheben, ohne daraus weitere Folgerungen zu ziehen. 1 6 8 Denn der die Reichspublizistik prägenden, patrimonialrückhaltender spricht Pfeiffer, 1. Bd., S. 215 ff., 238 ff. und 3. Bd., S. 197, 279 ff. den Landesgerichten die Kompetenz zur inhaltlichen Überprüfung fürstlicher Gesetze ab, behält aber im übrigen mit der traditionellen Definition der Justizsache die umfassende Rechtswegeröffnung bei. Ebenso H.A. Zachariae, 2. Bd., 1. Aufl., S. 177 und 3. Aufl., S. 92 f., 255 f. 164 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 144. Eine Ausnahme bildeten Kleinstaaten wie ζ. B. Kurhessen. Hier hatte der Fürst schon die Kammeijustiz nicht durchsetzen können (s.o. Α. I. 2. a) bb) bbb) (2), Fn. 67 a.E.). Nach 1806 führte das Oberappellationsgericht Kassel die justizstaatliche Praxis fort (vgl. Pfeiffer, 1. Bd., S. 254,258; 3. Bd., S. 441 ff.; O. Mayer, S. 52 m. Fn. 23). Bei der umfassenden Zuständigkeit der Gerichte für alle Rechtsverletzungen blieb es auch in Oldenburg (vgl. Sellmann, S. 9 ff., 14). 165 Zur Rechtsentwicklung Poppitz, AöR 33 (1943), 186 ff.; Erichsen, Grundlagen, S. 207 ff. und Feist, S. 81 ff., je m.w.N. Besonders zu Preußen E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 149 ff., 162 ff., 183 ff.; zu Württemberg Magerl, S. 94 f. und v. Sarwey, S. 257 f. Rüfners Feststellung, der Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt sei in Preußen um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf einem Tiefpunkt angelangt (Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 116), trifft danach auf die meisten deutschen Staaten zu. 166 Teilweise wurden die Errungenschaften der justizförmigen Behandlung von Verwaltungsstreitsachen vor besonderen Verwaltungsgremien sogar wieder aufgegeben und die Bürger, wie in Frankreich seit der Revolution, zurück auf den Weg der Gegenvorstellung oder der formlosen Verwaltungsbeschwerde verwiesen (Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 130 m. Fn. 25 u. 27; zum Einfluß des französischen Systems auf die deutsche Ausgestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes vgl. auch u. Α. II. 1. b), Fn. 180 a.E.; Β. I. 1. c) bei Fn. 94). 167 Bullinger, Öffentliches Recht, S. 13 ff.; Wieacker, 2. Aufl., S. 322 ff.; D. Grimm, Trennung, S. 84 f. 168

Bullinger, Öffentliches Recht, S. 30 ff.; vgl. die Ausführungen Flörckes, zit. o. bei Fn. 59. In Schlossers Kritik am Entwurf des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten

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staatlichen Lehre waren Herrschaftsrechte und sonstige Rechte noch als strukturell gleichartig und daher in gleicher Weise gewährleistet und schutzwürdig erschienen. Dagegen lag es in der Konsequenz der sich i m frühen 19. Jahrhundert durchsetzenden Lehre von der landesherrlichen Souveränität, 1 6 9 das Herrschaftsverhältnis subordinationsrechtlich zu konstruieren und die daraus fließenden Rechtsbeziehungen unter dem Begriff des öffentlichen Rechts zusammenzufassen und vom Privatrecht als dem Inbegriff horizontal gerichteter, gleichgeordneter Rechte und Gegenrechte der Untertanen abzusetzen. 170 Indem diese Lehre das Subjektionsverhältnis zum Kennzeichen des öffentlichen Rechts ernannte, führte sie ein Abgrenzungskriterium ein, das es erlaubte, der Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht Folgen auch für die Ausgestaltung des Rechtswegs zuzuschreiben. Rechtsschutzfähige Privatrechte i m subjektiven Sinn waren für diese Lehre nicht mehr alle Rechte, die einem Privaten zustehen konnten, sondern nur noch solche, die i m Zivil- oder Privatrecht i m eben definierten, objektiven Sinn ihre Grundlage hatt e n . 1 7 1 Nur diese subjektiven Privatrechte i m Gleichordnungsverhältnis sollten

scheint erstmals eine strukturelle Verschiedenheit öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Regelungen behauptet zu werden: Nur das Privatrecht verwirkliche die Gerechtigkeit, dem öffentlichen Recht dagegen eigne als Mittel politischer Gestaltung immer ein Moment der Willkür. Dessen Vorschriften seien daher keine Gesetze im strengen Sinne (Schlosser, S. 113 ff., 120). Die Argumentation Schlossers läuft darauf hinaus, die Rechtsetzungsbefugnis des Fürsten im Privatrechtsbereich auf die bloße Deklaration einer vorgegebenen, gerechten Ordnung zu beschränken. Indem dem Privatrecht - im Unterschied zum öffentlichen die Unwandelbarkeit und Unverfügbarkeit des Inhalts zugeschrieben wird, geht Schlossers Differenzierung aber nicht über die Unterscheidung nach Inhalt und Zweck der Regelungsbereiche hinaus, sie radikalisiert sie nur. 169

Zum Wandel der Lehre von der Hoheitsgewalt als Voraussetzung der neuen Lehre von öffentlichem und Privatrecht Böckenförde, Gesetz, 2. Aufl., S. 53 ff. 170 Der Gedanke wird erstmals bei Gönner, Entwurf, 2. Bd., S. 48, 54, durchgeführt. Schon 1804 hatte Gönner, nach zutreffender Darstellung der Rechtswegregelung nach geltendem Reichsrecht, dessen Lösung als nach dem allgemeinen Staatsrecht nicht zu rechtfertigen kritisiert (Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 22 f., 38 f.). Nur in „Privatverhältnissen" seien Justizsachen denkbar, da „verletzte Rechte aus der Staatsverfassung ... den Herrscher zum Gegner haben, ihn also den Gerichten unterwerfen (würden), was dem Begriffe der Staatsgewalt widerspreche)." (Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 23). Die abweichende reichsrechtliche Regelung beruhe nur darauf, daß man „in Deutschland ... subordinierte Staaten" habe (Gönner, Handbuch, 2. Bd., 2. Aufl., S. 31). Im „Entwurf" stellt Gönner fest, diese Subordination sei aufgrund der verfassungsrechtlichen Veränderungen weggefallen, weshalb der Begriff der Justizsache nach allgemeinem Staatsrecht neu bestimmt werden müsse (Gönner, Entwurf, 2. Bd., S. 47 f.). Neben die Argumentation mit der Souveränität des Monarchen tritt die mit der Unterscheidung von öffentlichem und Zivilrecht, wobei ersteres die Herrschaftsausübung, letzteres die Fragen des Mein und Dein unter Bürgern regelt (Gönner, Entwurf, 2. Bd., S. 54 f.). Den Privatrechtsbegriff faßt Gönner weiter als das Zivilrecht. Er umfaßt alle Rechte und Pflichten begründenden Normen (Gönner, Entwurf, 2. Bd., S. 50 f.). Gerichtlicher Kontrolle sind aber nur rein zivilrechtliche Verhältnisse zugänglich; Entscheidungen über „gemischte", auch die Verwaltung berührende Sachen sollen justizförmig organisierten Verwaltungsstellen vorbehalten bleiben (Gönner, Entwurf, 2. Bd., S. 54 f., 59, 104). Das Subjektionsverhältnis als Kennzeichen des öffentlichen Rechts wird weiter herausgearbeitet von v. Weiler, S. 4, 8, 12 f. und v. Pfizer, S. 14 ff., 31 ff.

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künftig vor den ordentlichen Gerichten eingeklagt werden können. Dagegen wurden hoheitliche Maßnahmen der gerichtlichen Überprüfung grundsätzlich entzog e n , 1 7 2 gleich, welche Rechtsverletzung behauptet w u r d e . 1 7 3 Die das Subjektionsverhältnis begründende Souveränität des Landesherrn verbiete, ihn und die ihm untergebene Verwaltung in Fragen der Herrschaftsausübung dem Spruch der Landesgerichte zu unterwerfen, da sonst in Wahrheit diesen die Souveränität z u k ä m e . 1 7 4 Auffällig ist, daß damit Justizfreiheit für alle Akte der hoheitlichen Verwaltung gefordert wird, und nicht mehr nur, wie noch mit dem Souveränitätsargument des 18. Jahrhunderts, für die Majestätsakte des Monarchen selbst oder die Maßnahmen 171 Gönner, Entwurf, 2, Bd., S. 54 f., 59, 104; v. Weiler, S. 3 f., 10 ff.; v. Pfizer, S. 29 f.; Kuhn, S. 26, 36 f., 45, 199; Funke, S. 58 f., 65, 77. Dagegen vertreten neben Pfeiffer und H.A. Zachariä (Nachweise s.o. Α. II. 1., Fn. 163) auch Jordan, S. 145 ff.; Mittermaier, AcP 4 (1821), 328, vgl. ebd., S. 310 f., 315 f.; Minigerode, S. 32 ff., 39, und Schmitthenner, S. 494 ff., weiterhin den alten Begriff des Privatrechts im subjektiven Sinn (vgl. auch die weiteren Nachweise bei Erichsen, Grundlagen, S. 224 und Ogorek, Richterkönig, S. 287 f.). Sie rechnen dazu alle Rechtspositionen, die dem einzelnen zustehen können, unabhängig von deren objektivrechtlicher Grundlage. Als rechtsschutzfähig werden dabei neben den wohlerworbenen Rechten zunehmend auch die natürliche Freiheit und ein Anspruch auf gesetzmäßige Behandlung aufgeführt (vgl. dazu Pfeiffer, 6. Bd., S. 26, 29 f.; Mittermaier, a. a. O., S. 316 f.; Minigerode, S. 39 f.). 172 Gönner, Entwurf, 2. Bd., S. 54 f., 59, 104; v. Weiler, S. 12 f., 18; v. Pfizer, S. 15 ff., 21, 30; Funke, S. 52 f., 66, 80; Kuhn, S. 26, 39, 43 f., 69 f., 101 f., 104. v. Pfizer lehnt zwar a. a. O., S. 34 die Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht als Kriterium für die Rechtswegeröffnung ab, bezieht sich dabei aber nur auf die Unterscheidung nach der Subjektstheorie, die er durch die Subjektionstheorie ersetzt sehen möchte (v. Pfizer, a. a. Ο., S. 30 ff., 36). 173 Diese Verkürzung des rechtsschutzfähigen Privatrechtsbegriffs und die entsprechende Beschränkung des Rechtswegs war nicht schlicht individualrechtsfeindlich, sondern durchaus janusköpfig. Da die Beschränkung der Justiz auf den Privatrechtsschutz im neu definierten Sinne in der Regel mit dem endgültigen Verzicht auf Machtsprüche und der Gewährung voller richterlicher Unabhängigkeit einherging, wurden mit ihr schon im Absolutismus die bürgerliche Autonomie und umfassender Rechtsschutz im Privatrechtsbereich gewährt. Der Preis dafür war der Verlust gerichtlichen Schutzes im öffentlichen Recht und die Reduzierung subjektiver Rechte auf subjektive Privatrechte (vgl. Ogorek, Richterkönig, S. 35 f.). Das öffentliche Recht erschien nicht nur als Recht minderer Verbindlichkeit und Schärfe, sondern darüber hinaus zumindest tendenziell als bloß objektivrechtliches System (vgl. die Extremposition Kuhns, S. 21, 44, 56, der konsequenterweise S. 37 und 106 f. dem einzelnen im öffentlichen Recht die Personstellung abspricht.) Nur vereinzelt werden von den Vertretern des neuen Privatrechtsbegriffs auch subjektive öffentliche Rechte anerkannt (ζ. B. von Funke, S. 61, 66 und von v. Pfizer, S. 18, aufgrund einer Subjektionsvertragskonstruktion), und nur v. Pfizer fordert - vergeblich - eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit zu ihrem Schutz (a. a. O., S. 186, 203 ff., 212). Vor jeder Entscheidung über bürgerliche Teilhabe am politischen Leben war damit die Abwehrrechtsstellung gegenüber der öffentlichen Gewalt verloren gegangen. Während der Reformära traf dieser Verlust jedoch weniger das Bürgertum als die Inhaber verbliebener feudaler Rechte. Erst in der Restaurationszeit wurde die antiliberale Tendenz der Rechtswegregelung dêutlich (D. Grimm, Trennung, S. 93). 174 v. Weiler, S. 10 ff.; v. Pfizer, S. 21 ff., 32 ff., 41 ff.; Funke, S. 51 f., 63 f.; Stahl, 2. Bd., 2. Abt., 5. Aufl., S. 607 meint deshalb, ein Staat, der sich zur Parteirolle herabließe, höre auf, „wirklich Staat... zu seyn".

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der (hohen) Polizei. 175 Das Ersetzen der Polizei- durch den weiteren Begriff der Verwaltungssachen dürfte darauf zurückzuführen sein, daß der Landesherr nach dem Ende der reichsrechtlichen Bindung seine Herrschaft unmittelbar auf die Territorialhoheit stützen konnte und nicht mehr darauf angewiesen war, die Maßnahmen jeweils aus dem Hoheitsrecht der Polizei zu legitimieren. Der Grund für die Ausdehnung der Gerichtsexemtion auf alle hoheitlichen Akte der Verwaltung liegt in Veränderungen der Stellung von Justiz und Verwaltung zum Monarchen. Hatte im 18. Jahrhundert die noch vom Fürsten abhängige Justiz oft die Möglichkeit geboten, ständische Verwaltungsstellen zur Befolgung fürstlicher Anordnungen zu zwingen, konnte es im 19. Jahrhundert, nach dem Abschluß bürokratischer Professionalisierung und Zentralisierung durch die spätabsolutistischen Verwaltungsreformen, 176 nur vorteilhaft erscheinen, die fürstlichen Amtsträger von der unabhängig gewordenen gerichtlichen Kontrolle freizustellen und statt dessen, wenn nötig, verwaltungsintern mit Disziplinarmaßnahmen zu belangen.177 Das Mißtrauen der Verwaltung gegenüber der Justiz, das sich in den Rechtswegregelungen niederschlägt und zunächst den Schutz der Reformpolitik vor ständischen Gegenbestrebungen zum Hintergrund hatte, wurde - unter umgekehrten politischen Vorzeichen - im Vormärz verstärkt durch die soziale Polarisierung der beiden Institutionen. Während die höhere Verwaltung infolge restaurativer Personalpolitik mehr und mehr zur Domäne des Adels wurde, der dort allenfalls „feudalisierte", monarchistische Bürger duldete, 178 sammelte sich in der Justiz das liberal oder demokratisch orientierte Bürgertum, dem die Verwaltungskarriere aus politischen Gründen verschlossen blieb. 1 7 9 Ihren dogmatischen Niederschlag fand diese Polarisierung von Justiz und Verwaltung im zweiten Argument, mit dem der Rechtswegausschluß in Verwaltungsangelegenheiten gestützt wurde. Es spielte auf die Gewaltenteilung an und war besonders in den ehemals napoleonisch besetzten und vom französischen Recht beeinflußten Gebieten geläufig.

b) Das Gewaltenteilungsargument

Die Argumentation mit der Gewaltenteilung, die im revolutionären französischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht die Unabhängigkeit der revolutionären Exekutive von ständisch dominierten Gerichten gewährleistet hatte, 180 gewann im 175 Dazu s.o. Α. I. 2. a) bb) bbb) (1) bei Fn. 61. 1 76 Dazu Feist, S. 52; Koselleck, S. 245 f.; Knemeyer, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 2. Bd., S. 122 ff. m.w.N. auf S. 120 f. 177 Jordan, S. 140; Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz, S. 137. 178 Koselleck, S. 245 f., 434 ff. 1™ Koselleck, S. 436, 689; Stump, S. 22 m.w.N. Im revolutionären französischen Verfassungsrecht wird mit der „séparation des pouvoirs" die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Gewalten bezeichnet. Der Satz wird zuge180

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spätabsolutistischen und frühkonstitutionellen Deutschland eine monarchistische Pointe. 181 Aus der Trennung und jeweiligen Selbständigkeit von Justiz und Verwaltung wurde gefolgert, daß beider Zuständigkeitsbereiche klar voneinander abgegrenzt bleiben müßten. Da in Verwaltungsangelegenheiten allein oder jedenfalls vorrangig nach Kriterien der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit für die Gemeinwohlverwirklichung entschieden werden müsse, die Justiz aber auf die Wahrung der (Privat-)Rechtsgrundsätze beschränkt sei, dürfe ihr keine Kompetenz in Verwaltungssachen übertragen werden. 182 Außerdem verbiete die Selbständigkeit beider Funktionen, durch Einräumen gerichtlicher Kontrollzuständigkeiten die Verwaltung der Justiz unterzuordnen. 183 Dreh- und Angelpunkt des Gewaltenteilungsarguments ist die Behauptung überschneidungsfreier, gegensätzlicher Funktionsbereiche von Justiz und Verwaltung. Die Justiz wird auf die Verwirklichung des Rechtszwecks beschränkt, der unter dem neuen Privatrechtsbegriff auf die Wahrung der Privatrechtsordnung im Gleichordnungsverhältnis reduziert ist, während der Verwaltung die Verwirklichung weitergehender Staatszwecke zugeschrieben wird. Kriterien der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit, auf die Staatszweckverwirklichung bezogen, werden als Gegensatz zu justiziablen Rechtsgrundsätzen dargestellt, um letztere als Domäne der Rechtsprechung, erstere aber als Vorbehaltsbereich der Verwaltung zu behaupspitzt im Verbot an die Gerichte, sich, in welcher Weise auch immer, in die Verwaltungsangelegenheiten zu mischen - worunter auch die Beurteilung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten verstanden wurde. Die Doktrin geht zurück auf das Gesetz vom 16./24. 8. 1790, das in Art. 13 bestimmt: „Les fonctions judiciaires sont distinctes et demeureront toujours séparées des fonctions administratives. Les juges ne pourront, a peine de forfaiture, troubler de quelque manière que ce soit, les opérations des corps administratifs, ni citer devant eux les administrateurs pour raison de leur fonctions." (Dareste, 2. Aufl., S. 203 ff.). Die Bestimmung wurde, weniger scharf formuliert, in Titel ΠΙ, Kapitel V, Art. 3 der Verfassung vom 3. 9. 1791 übernommen und blieb auch in der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts Grundlage der französischen Gerichtsverfassung und Verwaltungsjustiz (Dareste, ebd.; M.F. Laferrière, 1. Bd., 5. Aufl., S. 374; Aucoc, 1. Bd., 2. Aufl., S. 47 ff., 79 f.; zur politischen Funktion der Trennung von Justiz und Verwaltung in Frankreich Berthélémy, 11. Aufl., S. 23; Jèze, S. 169 ff.). Die Vorbildfunktion des französischen Rechts auf die deutsche Neugestaltung der Rechtswegregelung im Vormärz betont Pfeiffer, 3. Bd., S. 227 f. 181 In der deutschen Staatsrechtslehre des frühen 19. Jahrhunderts wurde die Gewaltenteilungslehre als revolutionär besetztes Gedankengut und in der Befürchtung, sie könne die mühsam erreichte Einheit der Staatsgewalt gefährden, meist skeptisch bis ablehnend aufgenommen oder nur im Sinne einer Freistellung der Verwaltung von gerichtlicher Kontrolle verstanden; erst im Spätkonstitutionalismus avancierte sie zur Grundlage der Lehre von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (vgl. Anschütz, Theorien, S. 10 m. Fn. 8; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 68 ff.). 182 γ. Weiler, S. 4, 12 f., 29; v. Pfizer, S. 41, 55; Funke, S. 42 f., 48.ff., 121 ff., 130 f.; Kuhn, S. 6 f., 86 f., 197; v. Rotteck, Staatswissenschaften, 2. Bd., 2. Aufl., S. 214 ff., 298 f., 305; 3. Bd., 1. Aufl., S. 170 ff. (zu v. Rottecks Position vgl. u. Α. II. 2. bei Fn. 204 f.).

183 Funke, S. 52 f., 75 ff., 120; vgl. v. Mohl, Polizeiwissenschaft 1. Bd., S. 42 f. und v. Pfizer, S. 27, der meint, es sei der „gesetzgebenden Klugheit gemäß", die verschiedenen Funktionen „unter verschiedene Stellen zu vertheilen, damit nicht eine einzelne Stelle vor allen übrigen prädominirend werde."

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ten. 1 8 4 In der Konsequenz erscheint die gerichtliche Zuständigkeit immer schon dann ausgeschlossen, wenn Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen ins Spiel kommen. Nur scheinbar stehen diese Überlegungen in der Kontinuität der aus dem 18. Jahrhundert überkommenen Abgrenzung von Justiz und Verwaltung, auf die v. Pfizer sich im historischen Teil seiner Arbeit beruft. 185 Denn dort war die Maßgeblichkeit von Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen bloße Folge landesherrlichen Ermessens, das seinerseits durch das Nichtbestehen gerichtlicher Entscheidungszuständigkeiten definiert und bedingt war. Nun sollte umgekehrt die Relevanz von Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen, als Gegensatz zu justiziablen Rechtsregeln gedacht, hinreichen, die gerichtliche Überprüfung auszuschließen und Ermessen zu begründen. In dieser Konstruktion erscheint das Verwaltungsermessen nicht mehr als delegierbare Restkompetenz des Landesherrn, sondern als originäres Attribut jeder Verwaltungsentscheidung und als unmittelbarer Ausfluß der landesherrlichen Souveränität. Es ist nicht mehr Produkt einer rechtlich vorgegebenen Kompetenzordnung, sondern begründet, dem Recht gegenübergestellt, selbst die Kompetenz zur justizfreien politischen Entscheidung. Die der reichsrechtlichen Lehre noch geläufige Erkenntnis, daß ein Sachverhalt sowohl nach rechtlichen als auch nach politischen Gesichtspunkten zu würdigen sein könne, wird von der neuen Lehre verdrängt oder schlicht geleugnet. Soweit sie nicht stillschweigend Recht und Privatrecht im neuen, engeren Sinn identifiziert 1 8 6 und so Kollisionsfälle rechtlicher und politischer Entscheidung von vornherein ausschließt, verficht sie mit dem Programm der Verwaltungsjustiz, d. h. der Monopolisierung der Rechtmäßigkeitskontrolle des Verwaltungshandelns durch die Verwaltung selbst, 187 das Primat des Politischen. So gehen v. Pfizer 188 und Funke 189 zwar von der Möglichkeit rechtlicher Determinierung einer Verwaltungsentscheidung aus, wollen aber auch in diesen Fällen die Verwaltung justizfrei stellen. 1 9 0 An einigen Stellen wird die Auffassung deutlich, daß Rechtsbindung im Verwaltungsbereich angesichts übergeordneter Gemeinwohlzwecke immer nur cum grano salis zu nehmen sei, 191 und daß die zweckgerichteten, flexiblen Verwaltungsgesetze mit Rücksicht auf diese Gesichtspunkte anders interpretiert werden müßten als die auf langfristige Geltung angelegten, strengen Zivilrechtsnormen. 192 Zu dieser Interpretation fehle dem Richter die nötige Sachnähe und -kenntnis. 193 184 y. Pfizer, S. 123; Funke, S. 78, 120 f.; Kuhn, S. 276. iss v. Pfizer, S. 58 ff. 186 Kuhn, S. 107 f. 187 Dazu s.o. A. II. 1. iss v. Pfizer, S. 25, 50. 189 Funke, S. 42 f., 48 ff., 143 f. 190 v. Pfizer, S. 186, 189 ff.; Funke, S. 130 f. 191 So vor allem bei Stahl, 2. Bd., 2. Abt., S. 607 f., vgl. S. 182 ff., 628, 639. 192 v. Pfizer, S. 27; vgl. Funke, S. 49, der von einem „ungleich größeren Spielraum" bei der Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften spricht, v. Rotteck, Staatswissenschaften,

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Die Argumente der Verwaltungsjustizler wirken schwach angesichts der Tatsache, daß die Lehre in anderen besonderen Sachverstand voraussetzenden Angelegenheiten, wie ζ. B. technischen Fragen, keine Bedenken trug, den Richter auf Sachverständige oder seinen Alltagsverstand zu verweisen, 194 und daß selbst bei den Befürwortern einer gerichtlichen Überprüfung nur von einer Kontrolle an Rechtssätzen die Rede war, während die Nachprüfung von verwaltungstypischen Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen ausdrücklich ausgeklammert wurde. 195 Sicherlich wird man in Rechnung stellen müssen, daß die Konkretisierung der Rechtskontrolle angesichts des Nebeneinanders positivierter objektivrechtlicher Normen, vernunftrechtlicher Postulate und tradierter subjektiver Rechte schwierig war, und gerade die letzteren eine politisch brisante Handhabe zur Durchbrechung objektivrechtlicher Normen bieten mochten. Außerdem mag die justizstaatliche Theorie sich unpolitischer und legalistischer gegeben haben, als ihre Praxis es tatsächlich war. Doch daß eine theoretische Grenzziehung von Rechtskontrolle und politischer Zweckmäßigkeitsentscheidung unmöglich wäre, wird allenfalls behauptet, aber nicht bewiesen. Grenzüberschreitungen in der Praxis genügen nicht, das Grenzziehungskonzept zu widerlegen. Übrig bleibt die Gleichung landesherrlicher Souveränität und gerichtlicher Exemtion. In ihr werden Fragen der Rechtsbindung und der Auslegungslehre der Monopolisierung politisch relevanter Entscheidungszuständigkeiten geopfert. Rechtswissenschaftliche Argumente werden durch ein bildhaftes Institutionendenken überlagert, das trotz seiner Etikettierung als Gewaltenteilungsgrundsatz kaum noch als staatstheoretische Begründung zu bezeichnen ist. Immerhin verlief die eben nachgezeichnete Entwicklung und die daraus resultierende Erhebung des Ermessens zur Kompetenz justizfreier Herrschaftsausübung nicht ohne Gegenwehr. An den Argumentationsdefiziten der Verwaltungsjustizler setzte eine Gegenbewegung an, die versuchte, durch Auslegung öffentlich-rechtlicher Normen justiziable Grenzen der Herrschaftsausübung zu entwickeln und so die Rechtsgrenzen des Ermessens aufzuzeigen, ohne sich dem Vorwurf der Usurpation von Verwaltungsfunktionen auszusetzen.

3. Bd., S. 176, 194, will der Verwaltung sogar die Würdigung des „Tatbestands" (d. h. Lebenssachverhalts) vorbehalten. (Zur Rolle der Sachverhaltswürdigung in der spätkonstitutionellen Ermessensdiskussion s.u. Β. I. 1. b) und Β. II. 2. a) aa) ccc)). 193 γ. Pfizer, S. 189 ff., bes. S. 193 f., 196 unter Berufung auf französische Quellen. 194 Dazu schon Klein, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preußischen Staaten, 2 (1788), 17 ff. 195 Klüber, Öffentliches Recht, 2. Aufl., § 309; Mittermaier, AcP 4 (1821), 312 f., 356 ff.; Minigerode, S. 22 ff., 35 f., 41, 62, 85, 112; Pfeiffer, 3. Bd., S. 199, 216 f., 223, 306 f. und 5. Bd., S. 222 f., 227 f.

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2. Ermessen als Gegensatz zur positivrechtlichen Bindung der Hoheitsgewalt Vor dem Hintergrund zunehmender und immer dichterer Kodifikation staatlichen Handelns wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts Ermessen nicht mehr nur kompetenzrechtlich definiert, sondern ausdrücklich auch als Gegensatz zur positivierten, objektiv- und materiellrechtlichen Bindung der Hoheitsgewalt verstanden. So wird vom Ermessen der Verwaltung gesprochen, wo eine positivrechtliche Regelung fehlt 1 9 6 oder lückenhaft bzw. unbestimmt erscheint. 197 Ermessen existiert danach nur innerhalb der vom positiven Recht gezogenen Grenzen, eröffnet dort aber Raum zur Entscheidung nach Gesichtspunkten politischer Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit und nach subjektivem Dafürhalten. 198 Dabei versinnbildlicht die Rede vom „freien Ermessen" 199 die „Freiheit" der Verwaltung von justiziablen, positivrechtlichen Bindungen und gerichtlicher Kontrolle, während Formulierungen wie „vernünftiges" 200 oder „amtliches" 201 Ermessen die vernunftrechtlichen oder dienstrechtlichen Bindungen der subjektiven Entscheidung hervorheben und damit die Ermessensausübung von der bloßen Willkür abgrenzen. 202 Die Auffassung des Ermessens als Gegensatz positivrechtlicher Bindung der Hoheitsgewalt wurde nicht nur von den Justizstaatlern vertreten, sondern fand sich auch bei einigen Verfechtern der Verwaltungsjustiz, am ausgeprägtesten bei Funke und v. Rotteck. 203 Bei ihnen blieb aber das rechtsstaatliche Potential der Konzep196 Funke, S. 61, 125, 144; Kuhn, S. 78, 237; v. Rotteck, Staatswissenschaften, 2. Bd., 2. Aufl., S. 213, 305 f. Schon Friese (s.o. S. 56 Fn. 160), S. 132 f., stellte fest, das Verwaltungshandeln sei nicht immer durch Gesetze bestimmt und bestimmbar. Vielfach müßten die Behörden oft „ganz nach ihrem eigenen Ermessen handeln oder gar auf der Stelle selbst Vorschriften geben." 197 Funke, S. 48 f. und, zum richterlichen Ermessen, S. 131; Mittermaier, AcP 4 (1821), 333; Pfeiffer, 3. Bd., S. 306 ff. spricht von „allgemeinen Ermächtigungsnormen", die einen „Spielraum" lassen; v. Rotteck, Staatswissenschaften, 2. Bd., 2. Aufl., S. 213, 232. Eine kompetenzrechtliche Definition des Ermessens findet sich a. a. O. im 3. Bd., 1. Aufl., S. 173, wo v. Rotteck feststellt, die Verwaltung übe, indem sie über öffentlich-rechtliche, „politische" Rechte verfüge, „eigenes Recht" aus, „nach dem sich selbst vorbehaltenen, freien Ermessen, ohne Controlirung der Justiz". 198 Funke, S. 49, 125; Mittermaier, AcP 4 (1821), 333; Pfeiffer, 5. Bd., S. 231; Jordan, S. 151; v. Rotteck, Staatswissenschaften, 2. Bd., 2. Aufl., S. 213, 320, 330 und 3. Bd., 1. Aufl., S. 174. 199 Kuhn, S. 78, 237; v. Rotteck, Staatswissenschaften, 2. Bd., 2. Aufl., S. 232, 3. Bd., 1. Aufl.,S. 173 f. 200 γ. Rotteck, Staatswissenschaften, 2. Bd., 2. Aufl., S. 330 f. 201 Pfeiffer, 3. Bd., S. 228. 202 Vgl. Funke, S. 42, der über die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen hinaus fordert, „die gehörige Gleichmäßigkeit (müsse) beobachtet werden; ... daher (müsse) eine solche (sc.: Verwaltungs-)Entscheidung gerecht sein" oder dürfe „mindestens ... nicht ungerecht sein . . . , nie aber (dürfe) Willkühr die Richtschnur abgeben". 203 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 196.

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

tion, gesetzliche Machtbeschränkung durch Ausdifferenzierung rechtlicher und politischer Entscheidungsfaktoren zu realisieren, ungenutzt. Denn solange die Kontrolle allfälliger Rechtsschranken der Verwaltungstätigkeit der Verwaltung selbst überlassen wurde und nicht von der Überprüfung nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten getrennt werden mußte, blieben Fragen der Abgrenzung im einzelnen ohne Interesse. Weshalb Funke der Justiz so sehr mißtraute, daß er sogar gebundene, rechtlich eindeutig determinierte Verwaltungsentscheidungen nicht für justiziabel hielt, und warum er nicht wenigstens für diese Fälle eine justizförmige Verwaltungsrechtsprechung forderte, geht aus seiner Abhandlung nicht hervor. Bei v. Rotteck ist die Ablehnung gerichtlicher Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen Resultat der rechtspolitischen Resignation.204 Er sieht die Unabhängigkeit der Gerichte und die Justizförmigkeit des Verfahrens nur so lange garantiert, als die Gerichte sich nicht mit politischen Gegenständen zu befassen haben. Erweitere man die Justizzuständigkeit auf diesen Bereich, müsse mit indirekter staatlicher Einflußnahme auf Gerichtsverfassung und -verfahren gerechnet werden, die die Justiz auf lange Sicht korrumpieren und unfähig machen könne, weiterhin die Autonomie und Stabilität der bürgerlichen Privatrechtsordnung zu gewährleisten. 205 So blieb es den Justizstaatlern vorbehalten, den postivrechtlichen Ansatz der Ermessenskonzeption weiter zu verfolgen und in der Auslegung von Ermächtigungsnormen Rechts- und Ermessenselemente voneinander abzugrenzen. Im Dreischritt von Vernunft- 206 oder positivrechtlich 207 begründetem, subjektivem Recht, hoheitlichem Eingriff und justiziabler, gesetzlicher Eingriffsschranke entwarfen sie ein Gegenmodell zur Souveränitätslehre der Verwaltungsjustizler samt den daraus abgeleiteten Kompetenzvorbehalten. Dabei blieb die Souveränität des Monarchen unangetastet.208 Allerdings wurde ihre Ausübung in der gesetzgebenden Gewalt, teils unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot, 209 als Selbstbindung des Monarchen auch mit Wirkung für die Rechtsadressaten gedeutet und daraus ein Verbot gesetzwidriger Belastung abgeleitet.210 Einige Autoren forderten mit der Feststellung, niemand dürfe ohne gesetzliche Grundlage in seinen Rechten beeinträchtigt werden, sogar den Vorbehalt des Gesetzes für Einzeleingriffe. 211 204 Dazu ausführlich Ogorek, Richterkönig, S. 306 ff. 205 v. Rotteck, Staatswissenschaften, 3. Bd., 1. Aufl., S. 176, 178, 185; ders., Artikel J u stiz", in: v. Rotteck/Welcker, Staatslexikon, 8. Bd., 2. Aufl., S. 3 ff., 13 f. Dort findet sich auf S. 16 auch das resignierende Resümee: „Mit der vollständigen Rechtsgarantie im Staate ist es also Nichts, man muß sich mit der unvollständigen begnügen." 206 Pfeiffer, 5. Bd., S. 218; Minigerode, S. 39 f.; Mittermaier, AcP 4 (1821), 316 ff., 328; Jordan, Staatsrecht, S. 409 f. 207 Pfeiffer, 3. Bd., S. 306 f., 6. Bd., S. 26, 28 f.; Minigerode, S. 39 f.; Jordan, Staatsrecht, S. 409 f.; Schmitthenner, S. 8, 384, 529 f., 557 f. 208 Dazu Jordan, S. 154 und H.A. Zachariae, 2. Bd., 3. Aufl., S. 242. 209 Pfeiffer, 3. Bd., S. 298 f. 210 Pfeiffer, 3. Bd., S. 301, 306 f.; Mittermaier, AcP 4 (1821), 328, 333; Jordan, Staatsrecht, S. 409 f.; Minigerode, S. 39 f.

II. Die Begriffsverschiebung zu Beginn des 19. Jahrhunderts

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Einhellig wurde jedenfalls, auch unabhängig von konstitutionellen Gewährleistungen, 212 der Vorrang des Gesetzes behauptet. Danach konnten Eingriffe zwar auch ohne gesetzliche Ermächtigung vorgenommen werden. Doch war bei Vorliegen einer gesetzlichen Regelung die Beachtung ihrer Eingriffsvoraussetzungen Bedingung der Rechtmäßigkeit und Rechtsbeständigkeit der hoheitlichen Maßnahme. Aufzuheben war daher eine Verfügung, wenn die im Gesetz „bestimmt ausgesprochenen, die sonst freie Beurtheilung und Erschliessung der Verwaltungsbehörde bedingenden Grundlagen und factischen Voraussetzungen" verkannt oder mißachtet wurden. 213 Je nach Bestimmtheitsgrad der Ermächtigungsnorm wurde die Abgrenzung von Rechts- und Ermessenselementen genauer ausdifferenziert. So führt Pfeiffer aus, daß bei einer Ermächtigung, Bauern zum Landfolgedienst heranzuziehen, die Auswahl der zu Verpflichtenden ganz im Ermessen der Behörde stehe. Eine Rechtsverletzung liege nur vor, wenn jemand herangezogen würde, der nicht Bauer sei. Werde dagegen die Leistung von Abgaben von der Größe des Grundbesitzes abhängig gemacht, sei die Beitragsbemessung im einzelnen zwar ebenfalls der Verwaltung überlassen. Doch liege eine Rechtsverletzung schon vor, wenn Beitrag und Besitz im umgekehrten Verhältnis stünden, da „aus der sonst unbestimmten Verordnung über den Maaßstab der Concurrenz doch so viel als feste Grundlage sich erg(ebe), daß nach dem unzweifelhaften Willen des Gesetzgebers der mit einem größeren (sc.: Gut) versehene mehr beitrage als der minder begüterte". 2 1 4 Schließlich wird auch gesehen, daß die Rechtsschranken eines Eingriffs sich aus dem Zusammenspiel mehrerer Normen ergeben können. Selbst wenn die Voraussetzungen der Eingriffsermächtigung erfüllt seien, könne der Eingriff wegen sonstiger Rechtsverstöße rechtswidrig sein. Ebenso könne der Auslegungsspielraum bei allgemeinen Vorschriften durch einen „besonderen Rechtszustand", der mit dem Regelungsgegenstand „in naher Berührung" stehe, eingschränkt werden gemeint sind damit spezialgesetzliche Vorschriften und Gesichtspunkte systematischer Auslegung. 215 Aus den Beispielen wird deutlich, daß die justizstaatliche Lehre sich nicht auf einen Verwaltungsvorbehalt in allen Angelegenheiten einließ, in denen Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte eine Rolle spielten. 216 Getreu der Erkenntnis, daß ein Sachverhalt sowohl nach rechtlichen als auch nach politischen Kriterien zu beurteilen sein könne, 217 behielten sie der Justiz die rechtliche Würdi-

211 Mittermaier, AcP 4 (1821), 316 f.; Minigerode, S. 22, 110; H.A. Zachariae, 2. Bd., 3. Aufl., S. 116 f., 122 f., 201, 287; Pfeiffer, 3. Bd., S. 305 f.; der Grundsatz wird allerdings ebd., S. 551 f. und im 6. Bd., S. 82 nicht durchgehalten. 212 Dazu s.u. Α. ΙΠ. 213 Pfeiffer, 3. Bd., S. 306. 214 Pfeiffer, 3. Bd., S. 306 f. 215 Pfeiffer, 3. Bd., S. 307. 216 Ausdrücklich gegen diese herrschende Tendenz Klüber, Richteramt, S. 17; Pfeiffer, 5. Bd., S. 204 f.

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

gung vor und erklärten für justizexemt nur solche Angelegenheiten, in denen mangels rechtlicher Regelung ausschließlich nach Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit für die Staatszweckverwirklichung zu entscheiden war. 218 Doch damit waren die Differenzen zur Lehre der Verwaltungsjustizler auch schon erschöpft. Im Bestreben, die politische Neutralität des Richters und damit die Unbedenklichkeit gerichtlicher Verwaltungskontrolle darzutun, präsentierten die Justizstaatler, ebenso wie ihre Gegner, 219 ein Richterbild, das in seinen mechanistischen Subsumtionsvorstellungen 220 weit naiver war als das der zeitgenössischen Auslegungslehre. 221 Sie wurden darüber hinaus nicht müde, im Einklang mit den Verwaltungsjustizlern zu betonen, daß die Beurteilung von Notwendigkeitsund Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten naturgemäß Domäne der Verwaltung und der Justiziabilität selbstverständlich entzogen sei. 2 2 2 Zu den nicht justiziablen Fragen der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit gehörte nach justizstaatlicher Lehre, vorbehaltlich gesetzlicher Präzisierungen, auch die Bestimmung des Eingriffsmittels. Die Verwaltung sei befugt, das nach ihrer Ansicht zweckmäßigste Mittel zu wählen, auch wenn das Ziel „auf andere Art mit weit mehr Schonung des gesetzmäßigen Privat-Rechtszustandes zu bewirken stände". 2 2 3 Entsprechend vorsichtig wurden sogar die Kriterien der Rechtmäßigkeit der Ausübung des ius eminens formuliert. Mit dem Vorliegen einer „wirklichen Collision" von Privatrechten und Gemeinwohlinteressen sollte nur der Gemeinwohlbezug nachgeprüft werden. 224 Darüber hinaus wurden, soweit es sich um Eingriffe nicht im Staatsnotstand, sondern zur Wohlfahrtsförderung handelte, „allertriftigsteQ Gründe" gefordert. Doch sollte weder die Eignung noch die Erforder-

217 Pfeiffer, 3. Bd., S. 200 f. 218 Mittermaier, AcP 4 (1821), 330, 334; Puchta, in: ders., Beiträge, 1. Bd., S. 202 ff., 237 ff., 281; Pfeiffer, 3. Bd., S. 189 f., 196. Dazu zählte nach Pfeiffer (a. a. O., S. 305) auch die inhaltliche Überprüfung von Gesetzen, da dort die Frage der materiellen Rechtmäßigkeit „bey der allgemeinen Befugniß des Gesetzgebers, Alles, was er dem Staatswohl für angemessen holt, zu verordnen, mit dem, jeder gerichtlichen Cognition entzogenen, Puncte der Zweckmäßigkeit zusammenfällt." 219 Funke, S. 48 f.; v. Pfizer, S. 123; Kuhn, S. 276. Sie verwandten das Bild des auf Rechtserwägungen beschränkten, politikblinden Richters als Beweis für seine Ungeeignetheit zur Rechtsprechung in Verwaltungsangelegenheiten. 220 Beispielhaft Mittermaier, AcP 4 (1821), 313, 357. 221 Dazu ausführlich Ogorek, Richterkönig, S. 292 ff. Die zeitgenössische Auslegungslehre hatte mit der Anerkennung der Interpretatio logica und der Savignyschen Auslegungstopoi die um die Jahrhundertwende noch favorisierte, gesetzespositivistisch begründete Marginalisierung richterlicher Auslegungsspielräume längst verabschiedet (vgl. Ogorek, a. a. O., S. 102 ff., 144 ff.). 222 Mittermaier, AcP 4 (1821), 313; Pfeiffer, 3. Bd., S. 199, 305; ebenfalls noch Zoepfl, 2. Teil, 5. Aufl., S. 576. 223 Pfeiffer, 3. Bd., S. 190. 224 Pfeiffer, 3. Bd., S. 289 ff.

III. Die Kontinuität im Frühkonstitutionalismus

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lichkeit des Eingriffsmittels zum Gegenstand rechtlicher Überprüfung gemacht werden können. 225 Auch die justizstaatliche Lehre identifiziert demnach Ermessen mit der Befugnis, nach eigenem Urteil über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Maßnahmen zu entscheiden, und akzeptiert diese Befugnis als Attribut souveräner Staatsgewalt. Recht wird nur als Grenze der freien politischen Entscheidung entwickelt, aber noch nicht als unverzichtbare Grundlage hoheitlichen Handelns gedacht. Die Gegenüberstellung von Ermessen und Rechtsbindung bildet den mit der Gewaltenteilung begründeten Dualismus von Verwaltung und Justiz ebenso ab wie der Gegensatz von Subjektionsrechtsverhältnis und Privatrechtsordnung. Nur die Kompetenzabgrenzung zwischen beiden Gewalten wird durch die positivrechtlich orientierte Ermessenskonzeption der Justizstaatler verschoben. Daß sie sich mit dieser Grenzkorrektur und der zugrundeliegenden Ermessensdefinition nicht durchsetzen konnten, dürfte zunächst auf die rechtspolitische Entwicklung in der Reaktionszeit zurückzuführen sein. Sie duldete keine unabhängige Kontrolle hoheitlichen Handelns und ließ, von wenigen Ausnahmen kleinstaatlichständischen Beharrungsvermögens abgesehen, mit der Rechtswegbeschränkung in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten keine Praxis zu, in der sich eine differenzierte Ermessenslehre hätte entfalten und bewähren können. Auch dogmatisch hatte die Ermessenskonzeption der justizstaatlichen Lehre einen schweren Stand. Denn die gängige, vom Souveränitätspostulat getragene und in Institutionenbildern befangene Abgrenzung nach Gegenstandsbereichen verstellte den Blick dafür, daß der Gegensatz von Recht und Ermessen nicht als Gegensatz von Privatrechtsordnung und Gemeinwohl zu bestimmen war, sondern als Gegensatz rechtlich determinierter und rechtlich nicht festgelegter Entscheidungselemente bestimmt werden konnte.

III. Die Kontinuität des Ermessensbegriffs im Frühkonstitutionalismus und unter der Paulskirchenverfassung Die frühkonstitutionellen Positivierungen des Gesetzmäßigkeitsprinzips beeinflußten die herrschende Ermessenskonzeption kaum. Das wirkt paradox, weil es, unabhängig vom Verständnis der Gewaltenteilung, angesichts der verfassungsrechtlichen Bindung des Fürsten und des daraus abzuleitenden Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nahegelegen hätte, das Ermessen in Anlehnung an die justizstaatliche Lehre als Gegensatz zur objektivrechtlichen Bindung der Hoheitsgewalt zu reformulieren. Daß es dazu nicht kam, hat Gründe, die über die der justizstaatlichen Niederlage hinausreichen.

225 Pfeiffer, 3. Bd., S. 295 ff. 5 Held-Daab

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

Zum einen wurde aus Art. 57 der Wiener Schlußakte226 eine Garantie des monarchischen Prinzips gelesen,227 auf die gestützt die meisten frühkonstitutionellen Verfassungen noch einmal klarstellten, die gesamte, ungeteilte Staatsgewalt bleibe in den Händen des Monarchen. 228 Darin wiederum wurde eine positivrechtliche Untermauerung des Souveränitätsarguments gesehen, mit dem der Rechtswegausschluß in Verwaltungsangelegenheiten schon vorkonstitutionell begründet worden war, und mit dem er in den Großstaaten, die erst nach 1848 eine Verfassung erhielten, weiter begründet wurde. Zum andern konnte sich der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, in den Verfassungstexten nur lückenhaft und nicht einheitlich formuliert, im Frühkonstitutionalismus nur eingeschränkt durchsetzen. 229 Der Vorbehalt des Gesetzes, der dazu gezwungen hätte, die positivrechtliche Bedingtheit und Begrenzung auch der administrativen Gewalt wenigstens in Teilbereichen anzuerkennen, war nur für neue Rechtsbeschränkungen durch Legalakte, 230 aber noch nicht als Vorbehalt für administrative Einzeleingriffe anerkannt. 231 Überdies wurde die Freiheits- und Eigentumsklausel, die in einigen Verfassungen das Gebiet der Gesetzgebung umschrieb, 232 zunächst noch restriktiv interpretiert und sollte nur für die Zivil- und Strafgesetzgebung einschließlich der Gerichtsverfassung gelten. 233 Da außerdem von der Fortgeltung vorkonstitutioneller und gewohnheitsrechtlicher Ermächtigungen ausgegangen wurde und im Polizeirecht der traditionelle Schluß von der Aufgabe auf die Befugnis fortlebte, 234 beschränkte sich die Wirkung des Vorbehalts des Gesetzes darauf, daß einmal erlassene Eingriffsregelungen vom Monarchen 226 Huber, Dokumente, 1. Bd., 3. Aufl., S. 91 ff., 99. 227 Dazu Boldt, S. 15 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte, 3. Bd., S. 7. 228 z.B. Titel II, § 1 der bayerischen Verfassung vom 26. 05. 1818 (Huber, Dokumente, 1. Bd., 3. Aufl., S. 156); § 5 der badischen Verfassung vom 22. 08. 1818 (a. a. O., S. 172); § 4 der württembergischen Verfassung vom 25. 09. 1819 (a. a. O., S. 188); Art. 4 der hessischen Verfassung vom 17. 12. 1820 (a. a. O., S. 222); § 10 der kurhessischen Verfassung vom 05. 01. 1831 (a. a. O., S. 239); §§ 3 f. der sächsischen Verfassung vom 04. 09. 1831 (a. a. O., S. 263); § 5 der hannoverschen Verfassung vom 06. 08. 1840 (a. a. O., S. 305). 229 Jesch, Gesetz, 2. Aufl., S. 156 f. 230 So ausdrücklich § 65 der badischen Verfassung v. 22. 8. 1818 (Huber, Dokumente, 1. Bd., 3. Aufl., S. 181); vgl. außerdem v. Aretin, 1. Bd., S. 229; D. Grimm, Grundrechtstheorien, S. 240 f., 244 m.w.N. 231 Jesch, Gesetz, 2. Aufl., S. 156. 232 Ohne diese Konkretisierungen ζ. B. § 88 der württembergischen Verfassung (Huber, Dokumente, 1. Bd., 3. Aufl., S. 198), § 95 der kurhessischen Verfassung (a. a. O., S. 253), Art. 72 der hessischen Verfassung (a. a. O., S. 230) sowie § 86 der sächsischen Verfassung (a. a. O., S. 278). Um ein Unterlaufen des Gesetzesvorbehalts für Neuregelungen im Wege der Auslegung auszuschließen, behalten die beiden zuletzt genannten Vorschriften den Ständen auch die authentische Interpretation bestehender Vorschriften vor. Zur Parallele des im Spätabsolutismus geltenden Vorbehalts authentischer Interpretation zugunsten des Landesherrn s.o. Α. I. 3. bei Fn. 139 ff. 233 Böckenförde, Gesetz, 2. Aufl., S. 76 f. 234 Jesch, Gesetz, 2. Aufl., S. 157 f.

III. Die Kontinuität im Frühkonstitutionalismus

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nicht mehr einseitig verschärft werden konnten und von der Verwaltung wegen des Vorrangs des Gesetzes beachtet werden mußten. Der Vorrang des Gesetzes galt zwar auch für Einzeleingriffe, 235 war aber angesichts der zunächst geringen Regelungsdichte und des „Abwanderns" freiheitsbeschränkender Regelungen in das Gebiet der vom Monarchen selbständig zu erlassenen Verordnungen 236 von nur begrenztem Wert. Daraus erklärt sich, daß auf das Gesetzmäßigkeitsprinzip allenfalls zur Reformulierung justizstaatlicher Postulate zurückgegriffen wurde, 237 eine darüber hinausgehende Rekonstruktion des Ermessensbegriffs aber nicht stattfand. Verständlich wird auch, daß anstelle der Argumentation mit dem Verfassungsrecht gerade bei denen, die der justizstaatlichen Argumentation aus politischen Gründen nicht folgen wollten, die Berufung auf den Rechtsstaatsgedanken trat. 238 Aus der Perspektive der Ermessenslehre scheint es deshalb, als sei die formelle Seite der Rechtsstaatsforderung, das Postulat gesetzlicher Abgrenzung von Freiheitssphären durch abschließende Festlegung von Eingriffsbefugnissen, nicht erst spätkonstitutionelles Surrogat enttäuschter Teilhabeerwartungen, sondern schon im Frühkonstitutionalismus unverzichtbare Ergänzung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtspositionen. Mit der Paulskirchenverfassung 239 wird ein letzter Versuch unternommen, justizstaatliche Doktrin zum geltenden Recht zu erheben. Ihr § 182 bestimmte, daß die „Verwaltungsrechtspflege", d. h. die Verwaltungsjustiz nach französischem Vorbild, in der die Rechtskontrolle der aktiven Verwaltung vorbehalten war, aufhören und über „alle Rechtsverletzungen" die ordentlichen Gerichte entscheiden sollten. 2 4 0 Die Regelung blieb wirkungslos. Der justizstaatliche Ansatz, der mit der Revolution endgültig gescheitert war, wurde auch in den späteren Auseinandersetzungen um die Rechtsschutzfrage so kompromißlos nicht mehr vertreten. 241 Die Exemtion hoheitlicher Verwaltungsmaßnahmen von gerichtlicher Kontrolle wurde während der Reaktionszeit beibehalten. Mit der sie rechtfertigenden Lehre 235 Jesch, Gesetz, 2. Aufl., S. 156. 236 So behielt z. B. § 66 der badischen Verfassung (Huber, Dokumente, 1. Bd., 3. Aufl., S. 181) dem Fürsten das Recht vor, alle für die Sicherheit des Staates nötigen Verfügungen, Verordnungen und allgemeinen Reglements zu erlassen. Solche Ermächtigungen wurden nicht auf die Staatssicherheit im engen Sinn begrenzt verstanden, sondern weit ausgelegt (vgl. zur Reichweite des sog. selbständigen Verordnungsrechts im Frühkonstitutionalismus Böckenförde, Gesetz, 2. Aufl., S. 72 ff.; zur spätkonstitutionellen Diskussion vgl. Anschütz, Theorien, S. 132 ff., u. a. gegen Arndt, Verordnungsrecht, und gegen Zorn, Staatsrecht, 1. Bd., S. 481 ff.). 237 238 239 240

Pfeiffer, 5. Bd., S. 523; vgl. S. 524 f., 536 ff. γ. Mohl, Polizeiwissenschaft, S. 24 ff.; ders., Staatsrecht, 2., Aufl., S. 185 f. Huber, Dokumente, 1. Bd., 3. Aufl., S. 375 ff. Huber, Dokumente, 1. Bd., 3. Aufl., S. 394.

241 Dazu s.u. Β. I. 1. a) und b). 5*

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Α. Die vor- und frühkonstitutionellen Wurzeln

blieb auch der aus der Souveränitätslehre und einer justizfeindlichen Gewaltenteilungsvorstellung abgeleitete Ermessensbegriff der Verwaltungsjustizlehre herrschend. Erst nach der Liberalisierung in den sechziger und siebziger Jahren konnte die Frage der Abgrenzung von Justiz und Verwaltung in der Diskussion um eine unabhängige Verwaltungsjustiz wieder aufgeworfen und der Ermessensbegriff zum ersten Mal auf breiter Basis problematisiert werden.

IV. Zusammenfassung Die spätkonstitutionelle Staats- und Verwaltungsrechtslehre findet einen Ermessensbegriff vor, der in der Auseinandersetzung um den Rechtsschutz gegen hoheitliche Maßnahmen entwickelt wurde und in wesentlichen Merkmalen noch durch vorkonstitutionelles Rechts- und Staatsdenken geprägt ist. Konstant geblieben sind die Begriffsmerkmale der Abwägung im Entscheidungsprozeß und des daraus folgenden Urteils nach subjektivem Dafürhalten sowie Ansätze einer Abgrenzung zur Willkürentscheidung. Allerdings wird der Ermessensbegriff je nach Entscheidungsträger unterschiedlich konkretisiert, und das richterliche Ermessen anders aufgefaßt als das des Landesherrn und seiner Verwaltung. Während das richterliche Ermessen seit der Wende zum 19. Jahrhundert endgültig zum positivrechtlich begründeten und begrenzten Spielraum bei der Normanwendung diszipliniert ist, wird das Ermessen des Landesherrn und seiner Verwaltung zum Kompetenztitel der justizfreien Herrschaftsausübung stilisiert. In der die Diskussion des 19. Jahrhunderts prägenden Lehre ist der Ermessensbegriff ganz auf die Abgrenzung von Justiz und Verwaltung zugeschnitten. Ermessen erscheint als selbstverständliches Attribut vorrechtlicher und rechtlich nicht vollständig zu disziplinierender, monarchischer Souveränität und als daraus fließende Kompetenz zur justizexemten, politischen Entscheidung. Die zugrundeliegende Behauptung ausschließender Gegensätzlichkeit von Rechts- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen verstellt die Möglichkeit differenzierter Analyse der Rechtsbindung und der daraus abzuleitenden Ermessensgrenzen. Justizstaatlich motivierte Analysen positiver Eingriffsermächtigungen, in denen versucht wird, Rechts- und Ermessenselemente der Normanwendung abzugrenzen, finden keine Resonanz. Auch die im 18. Jahrhundert entwickelte Lehre vom Herrschaftsmißbrauch als Ermessensgrenze wird nicht weiter verfolgt. Das muß nicht daran liegen, daß die vernunftrechtlichen Postulate, aus denen sie begründet wurde, ihre Überzeugungskraft in der rechtswissenschaftlichen Diskussion eingebüßt hätten. Sowohl den Justizstaatlern als auch den Liberalen, die wie v. Rotteck auf das Rechtsstaatsargument setzten, waren vernunftrechtliche Begründungen von Rechtspositionen und Rechtsgrenzen geläufig. Doch während die letzteren aus ihrer Befürwortung der Verwaltungsjustiz heraus darauf verzichteten, die Rechtsbindung der Hoheitsgewalt weiter auszudifferenzieren, beschränkten sich

IV. Zusammenfassung

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die Justizstaatler in der Defensive gegen die herrschende Lehre und Praxis auf die Darstellung leicht nachvollziehbarer, positivierter Selbstbindungen des monarchischen Willens und riskierten keine Konstruktion, die ihnen den Vorwurf der Mißachtung landesherrlicher Souveränität durch Anmaßung von Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitsurteilen hätte eintragen können. Das Postulat der Gegensätzlichkeit von Rechts- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen zementiert auch die Zweigleisigkeit der Behandlung von richterlichem und Verwaltungsermessen. Sie konnte bis ins 19. Jahrhundert noch durch die verschiedenen Bezugspunkte der Entscheidung - hier die fürstlichen Normen, dort die eigenverantwortliche Konkretisierung überpositiver Staatszwecke - gerechtfertigt erscheinen. Daß sie um so fragwürdiger wurde, je mehr die Staatszwecke positivrechtlich konkretisiert und die Herrschaftsausübung nach dem Ende des Reichs wieder objektivrechtlichen Bindungen unterworfen wurde, mußte der in gegenständlichen Kompetenzabgrenzungen befangenen herrschenden Lehre verborgen bleiben. Doch auch die justizstaatliche Lehre nutzte das richterliche Ermessen nicht als Modell, die herrschende Ermessenskonzeption zu kritisieren. Das Thema war für beide Kontrahenten tabu. Beide waren darauf angewiesen, die Rechtsprechung als unpolitische, gebundene und streng logische Tätigkeit zu behaupten, sei es, um die Justiz dem Verdacht politischer Sabotageabsichten zu entziehen, sei es, um die richterliche Unfähigkeit zur Beurteilung politischer Sachverhalte darzutun. Die Lehre vom Verwaltungsermessen, auf die sich die Diskussion auch in der Folgezeit konzentriert, verliert damit nicht nur ein Reformmodell, sondern auch den Anschluß an die zeitgenössische Interpretationslehre. Der spätkonstitutionellen Publizistik bleibt die Aufgabe, das in der frühkonstitutionellen Diskussion Versäumte nachzuholen und eine Ermessenslehre zu erarbeiten, die in kritischer Reflexion der vorkonstitutionellen Prägungen sowohl der verfassungsrechtlichen Begründung der Hoheitsgewalt als auch dem Stand der zeitgenössischen Methodenlehre Rechnung trägt.

Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre I. Die Ansatzpunkte: Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze Auch in der spätkonstitutionellen Staats- und Verwaltungsrechtslehre bleibt die Untersuchung des Ermessensproblems, dem rechtspolitischen Erkenntnisinteresse entsprechend, auf das Verwaltungsermessen und die Rechtsschutzperspektive konzentriert. Die Ermessenslehre entwickelt sich in der Auseinandersetzung um eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit und, seit deren Einführung i m letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in kritischer Begleitung der verwaltungsgerichtlichen Praxis. Die Umrisse des damals verwirklichten Verwaltungsrechtsschutzes waren in der Literatur der sechziger Jahre schon vorgezeichnet. Zunächst wurde die Diskussion um die Zulässigkeit und die Reichweite gerichtlicher Verwaltungskontrolle noch weitgehend aus dem Fundus frühkonstitutioneller Argumentation bestritten. 1 Doch neben und schließlich vor die Begründung mit der Kompetenzabgrenzung von Justiz und Verwaltung schob sich zunehmend die Argumentation mit dem Rechts1 Pöhlmann, S. 19 f., 27 ff.; Brater, Studien, S. 13 f., 17, 20 ff., 35 ff.; Gessler, ZStW 18 (1862), 754; Regelsberger, KritVjschr. 4 (1862), 53 ff., 57 ff., 62 f.; Pözl, KritVjschr. 10 (1868), 125 f., 135 ff.; E. v. Meier in: Holtzendorff, Sp. 1156 ff.; in der späteren Literatur noch Roesler, GrünhutsZ 1 (1874), 195 ff. und v. Stengel, Hirths Ann. 1875, Sp. 1363 ff., der dazu neigt, die jeweils herrschende Lehre mit einiger Verspätung und ohne Rücksicht auf Brüche oder Unstimmigkeiten zu reproduzieren (vgl. die oberflächliche Rezeption Bährs ebd., Sp 1317, 1348 ff., das Einschwenken auf die Linie der Verwaltungsjustiz-Befürworter in SchmollersJB 7 (1883), 423 ff. und VerwArch 3 (1895), 205 ff., sowie Labands Kritik an v. Stengeis Lehrbuch in AöR 2 (1887), 162-164). - Sogar Gerber, der in den „Öffentlichen Rechten" 1852 (S. 35 f. m. Fn. 1) noch erklärt hatte, rechtswissenschaftlich sei die Exemtion subjektiv-öffentlicher Rechte von der gerichtlichen Kontrolle nicht zu begründen, kehrt in den „Grundzügen" 1869 (S. 73, 184 ff., 204 ff.) zum Souveränitätsargument der Verwaltungsjustizler zurück: Der Staat könne nicht auf die Stellung einer Prozeßpartei „herabgedrückt" werden, ohne die „naturgemäßen" Verhältnisse umzukehren. Die Rückkehr zum Souveränitätsargument beruht einerseits auf einer Identifikation von Exekutive und Staat, die Gerber mit der Ersetzung der Organismusvorstellung durch die Konstruktion des Staates als juristische Person verbindet. Der Monarch wird als alleiniger Träger der Staatsgewalt und „obersteis) Willensorgan des Staates" vorgestellt, sein Wille wird als allgemeiner Wille des Volkes fingiert (Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 73; dazu v. Oertzen, S. 186 ff.). Andererseits trägt Gerbers Abkehr vom justizstaatlichen Denken dem Umstand Rechnung, daß er bei der Entscheidung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten neben der Rechtsbindung auch Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte berücksichtigt wissen will. Insofern hält er eine Streitentscheidung durch ordentliche Gerichte für systemwidrig (Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 184 ff., 204 ff.).

I. Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze

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staatsbegriff. Sie erlaubte eine Synthese von obrigkeitsstaatlichem Herrschaftsanspruch und justizstaatlicher Rechtsgewährleistung, bereitete den Kompromiß verwaltungsgerichtlicher Verwaltungskontrolle vor und stellte mit ihrer Neubestimmung des Verhältnisses von Rechtsbindung und Verwaltungsermessen die Weichen für die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessensdogmatik.

1. Rechtsstaatlich begründete Ansätze zu einer Revision der Ermessenslehre Von der liberalen Staatsrechtslehre des Vormärz als Inbegriff des konstitutionellen, die staatsbürgerliche Freiheit garantierenden Staats geschaffen, war der Rechtsstaatsbegriff von Stahl auf das formale Element der Gesetzesbindung reduziert und um die Elemente der politischen Teilhabe und des Verwaltungsrechtsschutzes verkürzt worden. 2 Lorenz v. Stein nahm ihn wieder auf und nutzte ihn als Ausgangspunkt einer Verhältnisbestimmung von Gesetzgebung und Vollziehung, aus der sich eine justizstaatlich garantierte Rechtsgrenze des Verwaltungshandelns gegenüber dem einzelnen ableiten ließ. Die bei v. Stein nur skizzierte Rechtsbindung der Verwaltung wurde von Otto Bähr bis in die Interpretationslehre konkretisiert; gleichzeitig modifizierte Bähr justizstaatliche Forderungen zu einem Rechtsschutzmodell, das auch für die Verfechter der Verwaltungsjustiz akzeptabel war. Von deren Seite bemühte man sich nach den Erfahrungen der Reaktionszeit ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit, der Verwaltungswillkür Grenzen zu ziehen. F. F. Mayer gab als erster das simple Modell des Verwaltungsvorbehalts zugunsten einer differenzierten Untersuchung der Rechtsbindungen auf. Rudolf v. Gneist bemühte sich, jenseits der Rechtsschranken die korrekte Ermessensausübung von unzulässiger Willkür abzugrenzen, und kam Bährs Kompromißvorschlag durch den Entwurf einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit entgegen.

a) Lorenz v. Stein oder Das verfassungsmäßige Verwaltungsrecht

In seiner „Verwaltungslehre" begründet Lorenz v. Stein die Verrechtlichung der Verwaltung nicht nur als Forderung der Zeit, sondern auch als Konsequenz der verfassungsrechtlichen Entwicklung: „Europa ist sich über das Wesen der freien Verfassung in allen Punkten einig; die große Frage der nächsten Zukunft ist das Wesen und der Inhalt der freien Verwaltung. Der Grundstein dieser Frage ist aber nicht der Begriff und das Verständniß der verfassungsmäßigen Gesetzgebung, sondern 2 Stahl, Rechtsphilosophie, 2. Bd., 2. Abt., S. 137 f., 143, 632 ff.; dazu Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 66 f.; Maus, S. 30 ff.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

des Verhältnisses der Verordnung zum Gesetz, oder der verfassungsmäßigen Vollziehung zur Gesetzgebung, das ist, des verfassungsmäßigen Verwaltungsrechts." 3 Mit der Ersetzung der frühkonstitutionellen Ständeversammlungen durch frei gewählte Volksvertretungen und deren Mitwirkung an der konstitutionellen Gesetzgebung ist die verfassungsrechtliche Entwicklung für Stein zu einem befriedigenden Abschluß gekommen. Ihm kommt es jetzt darauf an, den Vorrang des konstitutionellen Gesetzes vor den Akten der Exekutive zu begründen und für den einzelnen einklagbar zu machen. Seine Zielvorstellung faßt er im Begriff des Rechtsstaats zusammen. Dieser beinhaltet die „verfassungsmäßige Gesetzgebung" unter Mitwirkung der frei gewählten Volksvertretung, die „verfassungsmäßige", d. h. an das verfassungsmäßige Gesetz gebundene Regierung und Verwaltung, 4 sowie gerichtlichen Rechtsschutz bei Gesetzesverletzungen durch die Exekutive. Die zentrale Rolle des verfassungsmäßigen Gesetzes zeigt, daß es v. Stein, wie seinen Vorgängern in der frühkonstitutionellen Rechtsstaatslehre,5 nicht nur um den Schutz der Individualrechte geht, sondern auch und vor allem um die Gewährleistung bürgerlicher Freiheit durch Teilhabe an der Rechtsetzung. Weil das konstitutionelle Gesetz in der Mitwirkung der gewählten Volksvertretung „das Moment der freien individuellen Selbstbestimmung ... enthält",6 sind ihm alle Exekutivmaßnahmen untergeordnet, 7 und besteht „die höchste Entwicklung des Staats" für v. Stein darin, „daß alle seine Willensbestimmungen Gesetze s(ind)."8 Die programmatische Formulierung deutet an, daß die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sich auch bei v. Stein noch im Vorrang des Gesetzes erschöpft. 9 „Wo das Gesetz aufhört", kann die Verwaltung „die Verpflichtung des Einzelnen ... ganz nach ihrem Ermessen bestimmen";10 auch ohne gesetzliche Ermächtigung sollen ihr die Zwangsbefugnisse zustehen, die sie zur Aufgabenverwirklichung braucht. 11 Entsprechend kennt v. Stein neben den „Vollzugsverordnungen" auch „eigentliche Verordnungen", die mangels gesetzlicher Regelung diese vorläufig ersetzen, und 3 v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 82. Im Unterschied zur konservativen Staatsrechtslehre, die die Regierung mit einem „selbständigen" Verordnungsrecht ausstattet und als autonome Rechtsetzungsgewalt neben die Gesetzgebung stellt (Stahl, Rechtsphilosophie, 2. Bd., 2. Abt., S. 194 f.; 386 ff.), bezeichnet v. Stein als „Regierung" die gesamte Verwaltungsorganisation (Ministerien und Behörden), wobei die Exekutivspitze ebenso unter dem Gesetz steht wie die subalterne Verwaltung (Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 122 f., 294 ff., 340 ff.). 5 v. Aretin, 1. Bd., S. 163, 165 ff.; v. Mohl, Staatsrecht, 1. Bd., S. 8 f., 451 ff. 6 v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 86. 7 v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 83. 4

« v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 86. Einen Gesetzesvorbehalt für bestimmte Regelungsbereiche hält v. Stein wegen des unbestreitbaren Rechts der Regierung auf gesetzesergänzende Verordnungen für „eben so verkehrt an sich, als in der Ausführung unpraktisch" (Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 305). 10 v. Stein, GrünhutsZ 6 (1879), 67. n v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 65, ebenso 4. Teil, S. 32 zum Polizeirecht. 9

I. Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze

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sogar „Notverordnungen", die im Staatsnotstand Gesetze derogieren können.12 Spielräume für die Verwaltung ergeben sich aber auch in der Rechtsanwendung, die v. Stein als eine stufenweise Konkretisierung des Gesetzes in Verordnungen und Verfügungen darstellt. 13 Indem die beiden letzteren zur Erreichung des Gesetzeszwecks je nach den sich ändernden, tatsächlichen Verhältnissen verschiedene Mittel vorsehen müssen,14 liegt in ihnen ein Moment eigenständiger Gestaltung. Entsprechend restriktiv bestimmt v. Stein daher den Umfang gerichtlichen Rechtsschutzes. Mit der „administrativen Klage" vor den ordentlichen Gerichten 15 angreifbar sind nur Rechtsverletzungen durch Gesetzesverstöße, die in einer Verletzung des Wortlauts bestehen.16 Dabei sollen Unklarheiten zu Lasten des Gesetzgebers bzw. des durch die Maßnahme beschwerten Bürgers gehen. Denn die Befugnis zur Interpretation unklarer Vorschriften wird, als „Bedingung" des Vollzugs, dem Verordnungsgeber zugeschrieben.17 Maßnahmen, die gegen den Zweck oder „Geist" eines Gesetzes verstoßen, sollen nicht schon deshalb vor Gericht erfolgreich angegriffen werden können.18 Zwar meint v. Stein, die Verwaltung sei „über den Zweck" des Gesetzes ebensowenig „souverän" wie über den Wortlaut. 19 Er will aber verhindern, daß die Befugnis der Verwaltung zur eigenständigen Zweckkonkretisierung und Mittelwahl durch eine richterliche Bestimmung des Gesetzeszwecks unterlaufen wird. Mißachtungen des Gesetzeszwecks sollen deshalb, ebenso wie allgemeine Zweckmäßigkeitsrügen, ausschließlich im Beschwerdeweg geltend gemacht werden. 20 Wie schon die Justizstaatler zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 21 ordnet v. Stein auch die Eignung und die Erforderlichkeit einer Maßnahme als Zweckmäßigkeitsfrage ein. 22 Die vorsichtige Begrenzung der Rechtskontrolle bringt v. Stein selbst zu dem Eingeständnis, daß der gerichtliche Rechtsschutz gegen Gesetzesverletzungen durch Wortlautmißachtung „praktisch kaum relevant" werden würde. 23 Von seinen Grundsätzen, die der liberalen Staatslehre und den alten justizstaatlichen Forderun12 v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 301 ff. 13 v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 74 ff., 316. 14 v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 75. 15

v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 403 ff. verteidigt polemisch den justizstaatlichen Standpunkt der Allzuständigkeit der ordentlichen Gerichte gegen die Befürworter der Verwaltungsjustiz. 16 v. Stein, GrünhutsZ 6 (1879), 64 f. 17 v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 306. ι» v. Stein, GrünhutsZ 6 (1879), 69 f.; vgl. ders., Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S 383. 19 v. Stein, GrünhutsZ 6 (1879), 68. 20 v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 371 f., 382 ff.; ders., GrünhutsZ 6 (1879), 69 f; v. Stein befürwortet aber dabei einen aus der aktiven Verwaltung verselbständigten Instanzenzug (GrünhutsZ 6 (1879), 303 f.). 21 S.o. Α. II. 2. bei Fn. 206 ff. 22 y. Stein, GrünhutsZ 6 (1879), 70. 23 v.Stein, GrünhutsZ 6 (1879), 71.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

gen verpflichtet sind, bleibt in der Durchführung nur ein Minimum, das die justiziablen Rechtsgrenzen uninteressant erscheinen läßt, ohne das Modell für die Gegenseite akzeptabel zu machen.24 Die Bedeutung v. Steins für die weitere Entwicklung der Ermessenslehre liegt deshalb vor allem darin, mit dem Rechtsstaatsbegriff den Dreh- und Angelpunkt der weiteren Diskussion hervorgehoben und die Verknüpfung von Verfassungs- und Verwaltungsrecht bewußt gemacht zu haben. Die Formulierung eines konsensfähigen justizstaatlichen Ansatzes blieb, ebenso wie die Bearbeitung des bei v. Stein nur knapp gestreiften Problems der Interpretation verwaltungsrechtlicher Generalklauseln, Otto Bähr vorbehalten.

b) Otto Bähr oder Die Auslegungslehre im Dienst der Verwaltung

Auch Otto Bährs Schrift „Der Rechtsstaat" steht in der justizstaatlichen und liberalen Tradition des Vormärz. 25 Sie entwickelt „das Bedürfnis einer das freie Ermessen der Regierungsgewalt beschränkenden Rechtsgrenze" und fordert „entsprechenden",26 umfassenden gerichtlichen Rechtsschutz auch auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Bähr modifiziert aber, vielleicht bedingt durch seine Erfahrungen im kurhessischen Verfassungsstreit, 27 die justizstaatliche Lehre in wichtigen Punkten. Abweichend von den frühkonstitutionellen Justizstaatlern, begründet Bähr seine Rechtsschutzforderung nicht aus dem Blickwinkel der Individualrechte, sondern, wie v. Stein und die liberalen Verwaltungsjustizler, aus dem Postulat rechtsstaatlicher Verfaßtheit des Gemeinwesens.28 Der Staat soll das Recht „zur Grundbedingung seines Daseins erheben"; das Recht soll „nicht der Willkür des zeitigen höchsten Trägers der Staatsgewalt überlassen" werden, sondern „eine selbst ihn überragende",29 „über dem gesammten Staatsorganismus stehende, geistige Macht sein". 30 Es soll nicht nur das Verhältnis der Untertanen zueinander, sondern auch 24 v. Gneist, Rechtsstaat, S. 267, kritisiert, v. Steins Konzeption des Verwaltungsrechtsschutzes entspreche weder dem positiven Recht noch praktischen Bedürfnissen. 25 In seinen Erinnerungen, S. 39, hebt Bähr unter seinen Lehrern den „alten (d. h. Karl Salomo) Zachariae" im konstitutionellen Staatsrecht hervor (zu Bährs Studiengang vgl. Binder, S. 21 ff.). Bähr stand auch B.W. Pfeiffer nahe (vgl. Bähr, Erinnerungen, S. 50; zu Pfeiffers Lehre s.o. Α. Π. 2. bei Fn. 206 ff.). 2 * Bähr, Rechtsstaat, S. 161. 27 Dazu ausführlich unten bei Fn. 42. Noch 1860 fürchtete Bähr, er werde nach der Veröffentlichung in Kurhessen „verfehmt sein" (Brief an Ihering vom 18. 04. 1860, zit. nach Binder, S. 96). Erst 1864, mehr als zwei Jahre nach der Fertigstellung, gab Bähr die Schrift in Druck (Binder, S. 97). 28 Bähr, Rechtsstaat, S. 16, vgl. ebd., S. 57; Ogorek, Richterkönig, S. 329. 2 9 Bähr, Rechtsstaat, S. 16. 30 Bähr, Rechtsstaat, S. 57.

I. Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze

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das zwischen Untertanen und Obrigkeit als Verhältnis gegenseitiger Rechte und Pflichten bestimmen.31 Die Erwartung, aus diesen Grundsätzen eine Bindung der Obrigkeit an vorstaatlich begründete Individualrechte entwickelt zu sehen, wird allerdings enttäuscht. Auch die Feststellung, das Recht sei dem Staat vorgeordnet und finde „in dem Bewußtsein der ganzen Nation, d. h. des Fürsten und des Volkes in ihrer Vereinigung, seine Entstehung",32 mündet nicht, wie bei v. Stein, in die Forderung einer Teilhabe des Volkes an der Staatsgewalt.33 Aus den vernunftrechtlich anmutenden Prämissen konstruiert Bähr die Rechtsbindung des Staats nur formal als Bindung an das positive, obrigkeitlich gesetzte Recht. Der Inhalt der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten wird erst im Gesetzgebungsverfahren, der „Feststellung" des Rechts „in abstracto", 34 näher bestimmt. An diesem Prozeß ist die Volksvertretung lediglich als Korrektiv beteiligt, das die Übereinstimmung des positiven Rechts mit der dem Staat vorausliegenden Rechtsordnung garantieren und fürstliche Willkür ausschließen soll. 35 Erst aus den positiven Rechtssätzen und nur als deren Reflex ergibt sich das Recht der Untertanen, keine rechtswidrigen Eingriffe dulden zu müssen.36 Zur Realisierung dieser Rechtsbindung ist eine Kontrolle durch unabhängige Gerichte erforderlich: „Sollen Recht und Gesetz eine objective Schranke für die Regierungsgewalt sein, so ist die Consequenz nicht zu vermeiden, daß bei jeder Handlung derselben von dem dadurch Berührten die Rechtsfrage müsse erhoben werden ... können." 37 Wiederum abweichend von der traditionellen, justizstaatlichen Lehre und ihrem letzten Vertreter, Lorenz v. Stein, reklamiert Bähr die Kontrollzuständigkeit aber nicht mehr unbedingt für die ordentlichen Gerichte, sondern schlägt als Ausweichlösung unter ausdrücklicher Berufung auf v. Gneists Darstellung des englischen Rechts,38 der er „Anregung und Förderung" verdanke, 39 die 31 Die Wechselseitigkeit der Rechte- und Pflichtenbeziehung ergibt sich aus Bährs genossenschaftsrechtlicher Konstruktion des Staatsrecht; dazu vgl. v. Oertzen, S. 110 ff.; Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 73 f. 32 Bähr, Rechtsstaat, S. 13. 33 Vgl. Bähr, Rechtsstaat, S. 169: „Denn die wahre Volksfreiheit besteht nicht etwa darin, daß ein relativ großer Theil des Volks an der Herrschaft Theil nehme - wobei eine nicht geringere Tyrannei geübt werden kann, wie bei der absolutesten Herrschaft eines Einzelnen, sondern darin, daß dem Individuum zur Entwicklung seiner Individualität der nöthige Raum verbleibt; und die politischen Rechte eines Volkes haben nur Werth, insofern sie als Mittel dienen, die individuelle Freiheit zu erhalten und zu sichern."

34 Bähr, Rechtsstaat, S. 8. 35 Bähr, Rechtsstaat, S. 16 f., vgl. ebd., S. 13 m. Fn. 6 das Bekenntnis zum konstitutionellen System. 36 Bähr, Rechtsstaat, S. 35 ff. Dem entspricht, daß Bähr an anderer Stelle (Rechtsstaat, S. 50) bemerkt, die wohlerworbenen Rechte bildeten keine gegenüber den positiven Gesetzen höherrangige Rechtsquelle. 37 Bähr, Rechtsstaat, S. 104. 38 v. Gneist, Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 1. u. 2. Bd., Berlin 1860.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Errichtung von besonderen „Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts" vor. 40 Das Erfordernis richterlicher Qualifikation ihrer Mitglieder, deren sachliche und persönliche Unabhängigkeit gegenüber der Verwaltung sowie die Mitwirkung der Volksvertretung bei der Besetzung sollen die Unparteilichkeit und Selbständigkeit der Urteilsfindung garantieren. 41 Diese Konzession an die Befürworter der Verwaltungsjustiz könnte darauf zurückzuführen sein, daß Bähr nach dem Ausgang des kurhessischen Verfassungsstreits 42 nicht mehr glaubte, die ordentlichen Gerichte könnten bei politischen Konflikten noch effektiven Rechtsschutz gegen die Staatsgewalt gewährleisten. Bähr hatte selbst am Urteil mitgewirkt, mit dem die verfassungswidrigen Steuererhöhungen durch die „Septemberverordnungen" der kurhessischen Regierung für unwirksam erklärt worden waren. Er war mit der Einquartierung von „Straf-" oder „Freßbayern" aus den Bundestruppen bestraft worden und wurde außerdem degradiert und nach Fulda zwangsversetzt. Ähnliche und schlimmere Sanktionen, wie die Suspendierung oder Entlassung ohne Bezüge, trafen andere Kollegen. Mit Hilfe der Bundestruppen und durch Verhängung des Kriegsrechts gelang es der kurhessischen Regierung schließlich, die Opposition der verfassungstreuen Staatsbediensteten zu brechen. Wie früher schon v. Rotteck,43 mag Bähr danach geglaubt haben, angesichts der gegenwärtigen politischen Lage könne eine Allzuständigkeit der ordentlichen Gerichte nur zu deren Knebelung oder Korruption führen, aber nicht dem Aufbau des Rechtsstaats dienen. Bei der Konkretisierung der Kontrollzuständigkeit und des Prüfungsumfangs bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten wiederholt Bähr zunächst die justizstaatlichen Floskeln der Gegenüberstellung von Recht- und Zweckmäßigkeit und der Beschränkung der Gerichte auf die Rechtskontrolle. In der Abgrenzung von Rechtsbindung und Ermessen wird die Doppeldeutigkeit des Rechtsbegriffs, der bis dahin sowohl die vorpositive, dem Staat vorgegebene Rechtsordnung, als auch den Inbegriff der positiven Rechtssätze bezeichnet, aufgegeben und im Ergebnis Rechtsbindung mit Gesetzesbindung gleichgesetzt.44 Die Frage der Bindung an Verfassungs39 Bähr, Rechtsstaat, S. 71 m. Fn. 17. 40

Bähr, Rechtsstaat, S. 68 f., 71. Die oberste Instanz der ordentlichen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit will Bähr aber aus Zweckmäßigkeitsgründen zusammenfassen (ebd., S. 72). In den Erinnerungen, S. 56, schreibt er, die Frage, welche Organe die Rechtsprechung im öffentlichen Recht ausübten, sei „keine Frage des Princips, sondern eine solche der Opportunität." Daß die Errichtung einer gegenüber den ordentlichen Gerichten verselbständigten Verwaltungsgerichtsbarkeit konsensfähig war, zeigen die positive Resonanz in der anonymen Rezension im Literarischen Centraiblatt für Deutschland 33 (1864), Sp. 777 ff., und Gerbers Zustimmung im Brief an Ihering vom 28. 08. 1864 (zit. n. Losano, 1. Bd., S. 560 f.). 41 Bähr, Rechtsstaat, S. 71 f. 42 Dazu und zum folgenden vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Bd., 3. Aufl., S. 908 ff. und 3. Bd., 3. Aufl., S. 436 ff.; Bähr, Erinnerungen, S. 57 ff.; Ogorek, Richterkönig, S. 329; Binder, S. 99; Traub, Württembergische Geschichte, S. 43. 4 3 S.o. Α. II. 2. bei Fn. 204 f. 44 Eine Ausnahme bildet die Bindung an subsidiäre Rechtsquellen des Gewohnheits- und allgemeinen Staatsrechts, die zur Lückenfüllung herangezogen werden können, aber nach

I. Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze

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recht und insbesondere an die Grundrechte gerät damit aus dem Blickfeld und bleibt unbeantwortet. 45 Auch dem Problem des Verhältnisses von subjektivem und objektivem Recht widmet Bähr keine Aufmerksamkeit. Die Frage, ob objektivrechtliche Normen nur unter einschränkenden Voraussetzungen klagbare Individualrechte begründen, interessiert in seiner auf umfassenden Rechtsschutz angelegten Kampfschrift nicht. Dafür setzt Bähr sich intensiv mit Fragen der Interpretation von Ermächtigungsnormen auseinander. Seine Abgrenzung von Rechts- und Ermessensfragen zeigt, daß Bähr zu redlich ist, die Problematik unbestimmter Begriffe und Generalklauseln zu unterschlagen, und zu vorsichtig, die mit der Distanzierung von justizstaatlichen Extrempositionen angestrebte Konsensfähigkeit seines Modells zu gefährden, indem er den Verwaltungsgerichten die Befugnis zur Konkretisierung politisch brisanter Generalklauseln zuschreibt. Ausgangspunkt Bährs ist die Feststellung, die Regierungsgewalt finde in der Formulierung der Gesetze ihre bestimmte Grenze, und die Frage nach dem Inhalt der Gesetze sei immer Rechts- und nie Zweckmäßigkeitsfrage, wie unbestimmt der Wortlaut auch sein möge. 46 Mit einem doppelten Kunstgriff gelingt es Bähr aber, der Verwaltung die Ausfüllung politisch brisanter Klauseln vorzubehalten, ohne sich ausdrücklich von seinem Prinzip distanzieren zu müssen. Zunächst führt er die Unterscheidung der Auslegung von der Subsumtion der Tatsachen ein. Während erstere immer Rechtsfrage sei, sei letztere Verwaltungsfrage, wenn „das Gesetz seine Bestimmungen an Begriffe knüpft, in deren Natur es liegt, daß die Subsumtion der Thatsachen unter dieselben nur nach Verwaltungsprincipien bemessen werden kann". 47 Als Beispiele nennt Bähr die „Notwendigkeit zu Zwecken des öffentlichen Wohls" und die „Gefahr für die Sittlichkeit". 48 Bei diesen Begriffen kommt die Rechtskontrolle nur ausnahmsweise zum Zug: Die Grenze der Verwaltungs- zur Rechtsfrage liegt dort, wo die ,,äußerste() Grenze" der Begriffe überschritten wird, d. h. „absolut die Voraussetzungen jener Begriffe zu verneinen wären". 49 Wie Bähr gleich im Anschluß feststellt, ist dies „ein Fall, der freilich praktisch nicht leicht vorkommen wird", und für den er auch kein Beispiel bildet. Für grundsätzlich justiziabel erklärt Bähr dagegen technische Begriffe, wie den Begriff Bährs eigenem Eingeständnis mangels allgemeinverbindlicher Feststellbarkeit keine praktische Bedeutung haben (Bähr, Rechtsstaat, S. 63 f.). 45 Sie wird gestreift an einer Stelle, die die Justiziabilität von Gesetzgebungsakten verneint, weil keine übergeordnete Macht die verfassungsrechtlichen Bindungen durchsetzen könne. Justiz könne nur im Einzelstaat gewährt werden; der ohnmächtige Bundestag komme als Rechtswahrer nicht in Betracht (Bähr, Rechtsstaat, S. 49 f.). Zur Justiziabilität von Verfassungsverletzungen durch die Verwaltung nimmt Bähr keine Stellung. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, daß er die Verfassungsnormen als im Begriff des Gesetzes enthalten ansieht. 46 Bähr, Rechtsstaat, S. 58 f. 4

? Bähr, Rechtsstaat, S. 60. « Ebd. 49 Ebd.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

des „Vorbrenners" einer Feuerungsanlage, oder normgeprägte Begriffe, wie den der „Strafbarkeit". 50 Auch dabei gibt es aber eine Ausnahme, die mit einem zweiten Kunstgriff gerechtfertigt wird. Sobald den Verwaltungsbehörden „technische Behörden eigens für den Zweck der Beantwortung solcher Fragen beigeordnet sind", 51 wird die Subsumtion auch hier zur Verwaltungsfrage. Als Beispiele führt Bähr die Feuergefährlichkeit von Anlagen, die Diensttauglichkeit von Militärpflichtigen und die Tüchtigkeit zur Berufsausübung auf, vorausgesetzt, die zuständige Behörde wird zur Entscheidung auf die Mitwirkung sachverständiger Verwaltungsstellen verwiesen. 52 Den Einschränkungen der Justiziabilität unbestimmter Begriffe liegt eine Delegationsfiktion zugrunde, die mit einer Wendung von der grammatischen zur teleologischen Auslegung begründet wird. Besonders deutlich ist das im Fall der sachverständigen Behörden. Als „Sinn des Gesetzes" wird unterstellt, daß mit dem Urteil der sachverständigen Behörden „die Frage über die Erfüllung jener Begriffe endgültig entschieden sein soll." 53 Bähr empfindet diese Delegation als Systembruch, da das Erfordernis sachverständiger Beurteilung am logischen Charakter der Subsumtion und Entscheidung nichts ändere. 54 Dagegen hält er die Exemtion aller auf das öffentliche Wohl verweisenden Begriffe für notwendig, da „in deren Inneres eine lediglich vom Rechtsstandpunkt aus geübte Beurtheilung nicht einzudringen verm(öge)." 55 Hier müsse „als Wille des Gesetzgebers unterstellt werden, daß durch Verweisung auf diese" (nicht justiziablen) „Begriffe die Thätigkeit der Verwaltung nur habe bestimmt, nicht beschränkt werden sollen". 56 Auch darin liegt aber eine Delegationsfiktion und ein Systembruch. Indem der Gesetzgeber durch Verwendung bestimmter Begriffe der Verwaltung ein Subsumtionsmonopol einräumt, überträgt er ihr gleichzeitig die ausschließliche Befugnis zur verbindlichen Interpretation. Dieser Bruch mit Bährs Grundsatz der Auslegungszuständigkeit der Gerichte wird durch die unterschiedliche Behandlung von Auslegung und Subsumtion nur verdeckt. Die Differenzierung wird nicht begründet und ist mit Bährs Interpretationslehre auch nicht begründbar. In seinem aus Normauslegung, Tatsachenfeststellung und Subsumtion zusammengesetzten Rechtsanwendungsmodell bildet die Subsumtion nur das logische Schlußurteil, in dem festgestellt wird, ob die festgestellten Tatsachen der konkretisierten Norm entsprechen. Die Konkretisierung der 50

Bähr, Rechtsstaat, S. 61. si Bähr, Rechtsstaat, S. 61 f. 52 Bähr, Rechtsstaat, S. 62. 53 Ebd. 54 Bähr, Rechtsstaat, S. 62, stellt fest, es handele sich „mehr scheinbar als wirklich" um Verwaltungsfragen, „der Sache nach" müsse die Entscheidung jener Behörden „eine richterliche" sein. 55 Bähr, Rechtsstaat, S. 60. 56 Ebd.

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abstrakt-generellen Vorschrift bis zur Vergleichbarkeit mit dem individuell-konkreten Vorfall ist danach nicht Subsumtions-, sondern Auslegungsfrage. Die Subsumtion zieht nur das Fazit der Abgrenzungen, die schon im Rahmen der Auslegung getroffen wurden. Sie kommt der Auslegung nicht etwa durch Generalisierung oder (verwaltungs)"technische" Weitung von Tatsachen auf halbem Wege entgegen. 57 Bährs systemwidrige Aufwertung der Subsumtion bei unbestimmten Begriffen dient der dogmatischen Rechtfertigung politischer Zurückhaltung. Sie ist nichts anderes als die Übersetzung des von den Verwaltungsjustizlern begründeten Kompetenzvorbehalts in die für die Justizstaatler akzeptable Terminologie der Auslegungslehre. Bährs „Rechtsstaat" ist der letzte justizstaatliche Entwurf einer rechtlichen Disziplinierung der Verwaltung. Der später mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit verwirklichte Kompromiß der Rechtskontrolle durch verselbständigte Verwaltungsbehörden ist in ihm schon angelegt. Entsprechende, ebenfalls rechtsstaatlich begründete Überlegungen finden sich bei den Befürwortern der Verwaltungsjustiz, die nach der Ära der Polizeiwillkür in der Reaktionszeit bestrebt sind, den im Vormärz noch umfassend reklamierten Ermessensbereich einzuschränken.

c) Friedrich Franz Mayer oder Ermessensgrenzen à la Française

Auf der Seite der Verwaltungsjustiz stehend,58 leistet der württembergische Oberamtmann Friedrich Franz Mayer 59 wichtige Vorarbeiten zum Kompromiß mit der justizstaatlichen Lehre. F. F. Mayer konkretisiert den Rechtsstaatsgedanken in der Verrechtlichung der Verwaltungstätigkeit und dem Aufbau einer zumindest sachlich unabhängigen60 Verwaltungsrechtsprechung. 61 Bei ihm zeigt sich die Ver57

Vgl. Bähr, Rechtsstaat, S. 64: „bloß gesetzlich festgestellte Verwaltungsnorm". F. F. Mayer argumentiert dabei erstmals nicht vom Prinzip der Gewaltenteilung her, sondern historisch. Indem er die Justizstaatsforderung mit der Bewahrung „partikularistischer", feudaler Rechtsauffassung assoziiert, die sich dem Wandel zur bürgerlichen Gesellschaft entgegenstellt, bezeichnet er die Errichtung einer Verwaltungsrechtsprechung als „nothwendige Entwicklungsstufe"; es komme nur darauf an, die als staatliche Reaktion auf das ständische Beharrungsvermögen „sehr erklärlichen Ausschreitungen und Auswüchse zu entfernen." (F. F. Mayer, Grundzüge, S. 75 f.); aus ähnlicher Perspektive kritisiert später Gerber die Berufung der Justizstaatler auf das Reichs- und Territorialstaatsrecht des 18. Jahrhunderts (Gerber, System, S. 178, Fn. 3 a.E.). 58

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Zu F. F. Mayers Lebenslauf vgl. Ishikawa, S. 31 ff., zu seiner Ermessenslehre a. a. O., S. 78 f., 133. 60 F. F. Mayer, Grundzüge, S. VI, 7, 66 ff.; ders., Verwaltungsrecht, S. 40 f. m. Fn. 5. Die in Württemberg heftig umstrittene Vereinbarkeit der sachlichen Unabhängigkeit der Verwaltungsjustiz mit der Ministerverantwortlichkeit wird damit begründet, daß es sich bei der Rechtskontrolle um eine „wesentlich logische Function" handele (F. F. Mayer, Grundzüge, S. 84, Fn. 1 a.E.) 61 F. F. Mayer, Grundzüge, S. 7,9 f., ders., Verwaltungsrecht, S. 14, 28,453.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

waltungsperspektive darin, daß Individualrechte, vor allem die Freiheit von Person und Eigentum, weniger um des einzelnen als um der Entwicklung der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft willen geschützt werden sollen, und die Verwaltungsrechtsprechung mit der Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns gleichzeitig die Autorität und Akzeptanz der Verwaltung fördern soll. 62 Um Rechtsanwendung als echte Verwaltungsfunktion ausweisen zu können, wendet sich F. F. Mayer gegen die Gegenüberstellung gerichtlicher Rechtsanwendung und verwaltungsbehördlicher Zweckmäßigkeitsentscheidung63 und vermeidet die im Vormärz übliche Kompetenzbestimmung nach Gegenstandsbereichen.64 Statt dessen dekliniert er die öffentlich-rechtlichen Bindungen der Verwaltung durch, kommt, wie vor ihm zuletzt Pfeiffer auf justizstaatlicher Seite,65 zu differenzierten Abgrenzungen von Rechts- und Ermessensfragen und erklärt schließlich, in Anlehnung an die französische Verwaltungsrechtslehre, die Ermessensüberschreitung zur eigenständigen Fehlerkategorie. F. F. Mayer unterscheidet, je nach dem Grad der Rechtsbindung, drei Gebiete der Verwaltungstätigkeit: erstens das der gesetzlich vollständig determinierten Maßnahmen, in dem für eine Entscheidung nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten kein Raum mehr bleibt, zweitens das der reinen Verwaltung, in dem die Behörde sich nach „freiem Ermessen", 66 d. h. nach „freiem Urtheile über die Angemessenheit, Nützlichkeit, Billigkeit und Zulässigkeit",67 zu bestimmten Maßnahmen entschließt, und drittens, dazwischen, das Gebiet der durch Rechtsvorschriften nur begrenzten, aber nicht vollständig determinierten Verwaltungstätigkeit: das Gebiet der Ermessensausübung in den Schranken des Rechts.68 Da F. F. Mayer als Rechtsquellen und potentielle Rechtsschranken der Verwaltung alle Normen von der Verfassung über die Gesetze und Verordnungen 69 bis hin zu den Körperschaftsstatuten und zum Gewohnheitsrecht 70 anerkennt, 71 bleibt für 62 F. F. Mayer, Grundzüge, S. VI: „Mißgriffe" schadeten „der Verwaltung selbst am meisten", indem sie als „verletzend" erscheine und bei erfolgreicher Anrufung der Gerichte „an der Autorität ihrer Acte einbüß(e)." 63 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 43, Fn. 2. 64 F. F. Mayer, Gründzüge, S. IV. 65 S.o. Α. II. 2. bei Fn. 206 ff. 66

F. F. Mayer, Grundzüge, S. 49; in: Verwaltungsrecht, S. 459, gebraucht F. F. Mayer synonym den der französischen Verwaltungsrechtslehre entlehnten Begriff des „pouvoir discrétionnaire". 67 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 460. 68 F. F. Mayer, Grundzüge, S. 69 ff.; ders., Verwaltungsrecht, S. 453 ff.; zu dieser Einteilung vgl. Ishikawa, S. 78 f., 133. 69 Dies soll sowohl gesetzesausführende Verordnungen als auch für solche „mit Gesetzeskraft" gelten; F. F. Mayer erkennt also noch eine originäre Rechtsetzungsgewalt der Regierung an (vgl. F. F. Mayer, Grundzüge, S. 77; ders., Verwaltungsrecht, S. 463 ff.; zum Problem der „selbständigen" Verordnung s.o. A. III. bei Fn. 236). 70 F. F. Mayer stellt die Gewohnheitsrechtsgeltung zunächst unter den Vorbehalt der Vereinbarkeit mit den „gegenwärtigen öffentlichen Rechtsverhältnissen" (Grundzüge, S. 81) und

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die nach freiem Ermessen handelnde, reine Verwaltung nur wenig Raum. 72 Interessanter ist deshalb die Abgrenzung der gesetzlich determinierten von der rechtlich nur beschränkten Verwaltungstätigkeit. F. F. Mayer trifft die Unterscheidung danach, ob das als Rechtsschranke in Frage kommende Gesetz „ausdrücklich", 73 nach seinem „durch die allgemeinen Regeln der Auslegung ermittelten Sinne", 74 oder nach seinem Zusammenhang mit den übrigen Gesetzen75 eine abschließende Regelung trifft. Die Bestimmtheit und Detailliertheit der Vorschrift kann dafür ein Indiz sein. 76 Bei solchen Gesetzen ist die Rechtsanwendung „ganz dieselbe, wie die der Privatrechtsgesetze, ... mit Ausschluß von Erwägungen der Nützlichkeit, Billigkeit etc." sei dabei „lediglich auf den Sinn des Gesetzes zu sehen."77 Belastungen und Ansprüche dürften nur im gesetzlich festgelegten Umfang auferlegt bzw. gewährt werden, gesetzlich vorgesehene Ausnahmen seien restriktiv zu interpretieren. Einen „weitere(n) Spielraum für die Anwendung" geben nach F. F. Mayers Auffassung dagegen die nicht als abschließende Regelung formulierten Gesetze, die „es nicht unternehmen konnten oder wollten, die Bedingungen und Regeln der staatlichen Einwirkung auf die so mannchfaltigen Lebenserscheinungen und Zustände im Einzelnen festzusetzen", 78 und die sich deshalb damit begnügen, die Verwaltungstätigkeit „im Allgemeinen zu bestimmen, und ihr etwa gewisse Grenzen und Schranken zu setzen."79 Als Beispiel nennt F. F. Mayer die Polizeigesetze, die eine weite oder eine analoge Anwendung von Eingriffsermächtigungen zuließen und, im Interesse der öffentlichen Sicherheit, oft sogar forderten. 80 Mit dem Problem der Konkretisierung der durch Generalklauseln und unbestimmte Begriffe gezogenen Schranken beschäftigt sich F. F. Mayer nicht. Er stellt nur fest, daß bei der Auslegung dieser Gesetze, die ihren „materiellen Gehalt und Werth ... nicht sowohl in der Aufstellung einer festen Norm, als in der Sicherung polizeilicher, fordert später sogar eine „wenigstens stillschweigende" gesetzliche Zulassung (Verwaltungsrecht, S. 468), damit die politische Umstrukturierung nicht durch feudale Relikte gefährdet werde. 71 F. F. Mayer, Grundzüge, S. 77 ff.; ders., Verwaltungsrecht, S. 46,463 ff. 72 Ihr unterfallen nur die allein von staatlicher Gewährung abhängigen „Concessionen" und „Dispense", auf die der einzelne weder aus vorangegangenen Verwaltungsmaßnahmen noch aus Rechtsvorschriften ein Recht herleiten kann (F. F. Mayer, Grundzüge, S. 49). 73

F. F. Mayer, Grundzüge, S. 69. F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 464. 75 F. F. Mayer, Grundzüge, S. 69, Verwaltungsrecht, S. 464. 76 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 464 f.; vgl. ders., Grundzüge, S. 70. 77 F. F. Mayer, Grundzüge; S-.-69. 78 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 464. _ 79 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 460, 464 f.; vgl. ders., Grundzüge, S. 70. 80 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 465. Ausnahmsweise nicht analogiefähig sollen spezielle und im einzelnen bestimmte Eingriffsermächtigungen sein, sowie, wegen der Eingriffsintensität, die Begründung von Genehmigungsvorbehalten (Verwaltungsrecht, S. 465 f. m. Fn. 5). 74

6 Held-Daab

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staatswirtschaftlicher etc. Zwecke der Gesamtheit" hätten, „besonders auf die zu Grund liegenden Zwecke gesehen werden" müsse81 - ein Seitenhieb gegen Pfeiffer, der auch im Polizeirecht die Beschränkung auf die grammatische Auslegung befürwortete. 82 Erst innerhalb der etwas ungewissen Grenzen, die die weit und teleologisch auszulegenden Schrankengesetze in Verbindung mit den übrigen Rechtsnormen ziehen, gibt F. F. Mayer dem Verwaltungsermessen Raum. 83 Seine Ausübung richtet sich nach der aequitas,84 d. h. nach Gerechtigkeit und Billigkeit. Sie wird von F. F. Mayer, geradezu modern, in Verfahrenserfordernisse aufgelöst: Er verlangt eine schleunige, zutreffende Sachverhaltsermittlung und eine Abwägung aller in Frage stehenden Interessen und der möglichen Folgen.85 Die Unterscheidung der Rechtsgrenzen des Verwaltungshandelns von der aequitas könnte F. F. Mayers Unterscheidung von Rechts- und Ermessensfehlern tragen. F. F. Mayer trifft sie jedoch anders. Auffällig ist, daß er im Gebiet der gesetzlich nur beschränkten Verwaltungstätigkeit auch die Rechtsnormen als Ermessensgrenzen beschreibt. Darin kommt das auf die herrschende Subordinations- und Gewaltenteilungslehre gestützte Staats- und Rechtsverständnis zum Vorschein, in dem das Ermessen der monarchischen Regierung als der Trägerin der Staatsgewalt zusteht und jeder Rechtsetzung vorausliegt. Trotz des scheinbar gleichen Ansatzes der Darstellung der Rechtsbindungen stimmt F. F. Mayer daher mit Pfeiffer nur im Ergebnis, aber nicht in der Denkrichtung, überein. Für F. F. Mayer wird Ermessen nicht erst durch Rechtsnormen eröffnet, sondern von diesen vorgefunden und nur begrenzt oder ausgeschlossen. Auch innerhalb der „Ermessensgrenzen" differenziert F. F. Mayer Rechts- und Ermessensfehler nicht so, wie man es nach seinen Ausführungen zur Gesetzesanwendung und zur aequitas erwarten könnte. Nach seinen Aufzählungen liegen Rechtsverstöße vor, wenn eine Verwaltungsmaßnahme materielles Recht einschließlich des Verfassungsrechts, 86 oder gesetzliche Form- und Verfahrensvorschriften 87 verletzt. Dagegen soll eine Ermessensüberschreitung vorliegen, wenn offenbare oder erwiesene, entscheidungsrelevante Tatsachen nicht berücksichtigt werden, wenn die Behörde ihre Entscheidung „auf fremdartige, nicht zur Sache gehörige Motive" stützt, oder wenn ein „offenbares Mißverhältnis" zwischen Zweck 81

F. F. Mayer, Grundzüge, S. 71. F. F. Mayer, Grundzüge, S. 71 m. Fn. 1 und Verweis auf Pfeiffer, „Rechtliche" (richtig: Practische) Ausführungen, 6. Bd., S. 30. 83 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 460. 84 F. F. Mayer, Grundzüge, S. VI. 85 F. F. Mayer, Grundzüge, S. VI, ders., Verwaltungsrecht, S. 461. 86 Dazu gehört auch der Gleichheitssatz, den F. F. Mayer zunächst als allgemeinen Rechtsgrundsatz einführt (Grundzüge, S. 62, 65), später aber verfassungsrechtlich begründet (Verwaltungsrecht, S. 7). 87 F. F. Mayer, Grundzüge, S. 73; ders., Verwaltungsrecht, S. 462. 82

I. Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze

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und Mittel besteht.88 Während die unvollständige SachVerhaltsermittlung und -Würdigung nach F. F. Mayers bisheriger Einteilung als Verletzung der aequitas zutreffend eingeordnet ist, erscheint die Klassifizierung der beiden anderen Fallgruppen erklärungsbedürftig. Nach F. F. Mayers Hervorhebung der teleologischen Auslegung hätte es näher gelegen, die unsachliche Begründung als Rechtsanwendungsfehler zu qualifizieren. In Betracht käme entweder ein Verkennen der gesetzlichen Voraussetzungen oder ein Verstoß gegen den Sinn des Gesetzes. Vielleicht geht F. F. Mayer aber davon aus, daß die Behörde sich bei willkürlichem Vorgehen überhaupt nicht mit der Gesetzesauslegung beschäftigt hat und, mangels Gesetzesanwendung, auch keine Anwendungsfehler machen konnte. Keine solche Erklärung findet sich für die Einordnung des offenbaren Mißverhältnisses von Eingriffsziel und -maßnahme als Ermessensfehler. Auch sie entspricht F. F. Mayers bisherigen Abgrenzungen nicht. Er begründet die Fehlerhaftigkeit offensichtlich unverhältnismäßiger Maßnahmen damit, daß es „als die allgemeine rechtliche Forderung und als die Absicht des Gesetzes vorausgesetzt werden (sc.: müsse), daß Zwecke und Mittel im Allgemeinen zu einander in einem vernünftigen Verhältnis stehen."89 Das würde nach seinen eigenen Anforderungen an die Gesetzesauslegung aber schon den Vorwurf einer Gesetzesverletzung begründen, und nicht nur den eines Ermessensfehlers. Daß auch die Ermessensfehler dem Betroffenen die Stellung eines „rechtlich Betheiligten" 90 geben und damit die rechtliche Anfechtbarkeit der Maßnahme begründen sollen, 91 nimmt der Inkonsequenz die praktische Bedeutung. Es verwischt aber gleichzeitig die Grenze zwischen Rechts- und Ermessensfehlern und läßt fragwürdig erscheinen, ob die Differenzierung überhaupt getroffen werden mußte. Eine Erklärung der Einteilung ist in F. F. Mayers Anlehnung an das französische Verwaltungsrecht zu finden. In einer Fußnote erläutert er, die als Ermessensfehler aufgezählten Fallgruppen seien die des „excès de pouvoir", also der Befugnisüberschreitung, die in Frankreich den Verwaltungsrechtsweg auch in Sachen eröffne, die eigentlich nicht anfechtbar seien.92 F. F. Mayer, der schon bei der Darlegung seiner Methode erklärt hat, „Belehrung" aus der französischen Verwaltungsrechtswissenschaft nutzen zu wollen, 93 88

Jeweils F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 461 f. F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 462. 90 F. F. Mayer, Grundzüge, S. 62, beschreibt die rechtliche Beteiligung als „Mitte" zwischen Individualrecht und bloßem Interesse. Als Klagerecht soll sie nur ein Verfahrensrecht, kein subjektiv-öffentliches Recht im materiellen Sinne geben. Bei der Durchsetzung von Präventivverboten soll die rechtliche Beteiligung darüber hinaus den Bestandsschutz gewährleisten, der aus der eingeschränkten Aufhebbarkeit einmal erteilter Erlaubnisse folgt (Grundzüge, S. 22 ff.). Als „öffentliche Rechte" oder „subjective öffentliche Rechte" bezeichnet F. F. Mayer nur staatsbürgerliche Teilhaberechte (vgl. Grundzüge, S. 62 f.; Verwaltungsrecht, S. 24 m. Fn. 2). 89

91

F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 461 f. 92 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 462, Fn. 4. 6*

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

hat die vom Conseil d'État entwickelte Rechtsfigur 9 4 ohne weitere Anpassungen zur Abrundung des eigenen Systems übernommen. Er legt damit den Grundstein für die Differenzierung von Rechts- und Ermessensfehlern, die auch bei v. Gneist allerdings ohne Berufung auf F. F. M a y e r 9 5 - entwickelt wird.

d) Rudolf v. Gneist oder Die willkürfreie Maßbestimmung Entschiedener noch als F. F. Mayer argumentiert v. Gneist nicht vom Individualrechtsschutz, sondern vom Rechtsstaatsgedanken her. 9 6 Der Staat soll die Ausübung öffentlicher Gewalt gesetzlich regeln und die Einhaltung der Gesetze durch die Institutionalisierung unabhängiger Kontrolle gewährleisten. 97 Der Rechtsschutz für den einzelnen ist dabei bestenfalls gleichrangiges Nebenprodukt der Sicherung der objektiven Rechtsordnung. Der von rechtswidrigen Maßnahmen be-

93 F. F. Mayer, Grundzüge, S. V. 94 Der Conseil d'État (zu seiner Geschichte und Bedeutung vgl. W. Müller, AöR 117 (1992), 338 ff.) nutzte die Figur des „excès de pouvoir" seit dem Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts zum systematischen Ausbau der verwaltungsrechtlichen Anfechtungsklage (Ducrocq, 1. Bd., 6. Aufl., S. 236 ff.; Berthélémy, 11. Aufl., S. 1122 ff.; Hauriou, Précis, 3. Aufl., S. 257; Legendre, S. 281, 484). Neben die Aufhebungsgründe der Kompetenzund Formfehler sowie der materiellen Rechtswidrigkeit stellte er schließlich den Mißbrauch eingeräumter Befugnisse (détournement de pouvoir), und verlangte dabei anstelle der Individualrechtsverletzung nur die unmittelbare Beeinträchtigung persönlicher Interessen (Conseil d'État, Urteil vom 24. 02. 1864 - Lesbats - , Recueil S. 209, 213; dazu E. Laferrière, 2. Bd., 1. Aufl., S. 405; Ducrocq, 1. Bd., 6. Aufl., S. 238 f.). 95 F. F. Mayers Ermessensfehlerlehre blieb in der Fachliteratur lange Zeit unbeachtet. Zum Teil lag dies sicher daran, daß F. F. Mayer als Praktiker und zu einer Zeit, in der Verwaltungsrecht noch kein Lehrfach war, nur geringe Chancen hatte, angemessene Beachtung zu finden (vgl. Stolleis, Geschichte, 2. Band, S. 397 f.). Doch die Beiträge, die sich mit seiner Lehre auseinandersetzen, legen noch andere Gründe für die bruchstückhafte und verspätete Rezeption nahe. Von liberaler Seite wird F. F. Mayers Konzentration auf subjektive öffentliche Rechte mit der Tendenz zur Rechtswegbeschränkung mißbilligt (vgl. E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 24 f.). Andere würdigen zwar die systematische Leistung, sparen die Ermessensfehlerlehre aber dabei aus (ζ. B. Tezner, Lehre, S. 117 f.; Bernatzik, Rechtsprechung, S. 20 f.; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 20, Fn. 8 a.E.). Von Tezner war keine Rezeption zu erwarten, weil er jede Ermessensfehlerlehre als systematisch unbefriedigenden Ersatz einer vollständigen Rechtskontrolle ablehnte (dazu s.u. Β. II. 2. b) bb) aaa) (1) bei Fn. 510 ff.); Bernatzik dürfte die Möglichkeit der Ermessensfehlerkontrolle durch unabhängige Gerichte überhaupt, O. Mayer ihr Mangel an positivrechtlicher Begründung gestört haben (dazu s.u. Β. Π. 2. b) bb) aaa) (1) und (2) (c)). Erst gegen Ende des Kaiserreichs, als die Tendenz zum Verwaltungsjustizstaat sich durchgesetzt hatte (dazu s.u. Β. II. 3. a) cc)), wurde F. F. Mayers Ermessensfehlerlehre von W. Jellinek, Gesetz, S. 333, wieder herangezogen, um die Ergänzung der Rechts- durch die Ermessensfehlerkontrolle zu rechtfertigen. 96

Vgl. v. Gneists Kritik an der „mehr privatrechtliche(n) Anschauung" Bährs, in: Verh. 12. DJT (1875), S. 231 f. 97 v. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 232.

I. Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze

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troffene Bürger erscheint bei der Verwaltungsklage nur als Initiator des Kontrollverfahrens; ihm wird weder, wie bei v. Stein und Bähr, ein Reflexrecht aus der verletzten Norm zuerkannt, noch, wie bei F. F. Mayer, 98 Bestandsschutz und Klagerecht aufgrund „rechtlicher Betheiligung" zugestanden.99 Was einerseits als Verkürzung der staatsbürgerlichen Rechtsstellung erscheint, bereitet andererseits eine Ausdehnung des verwaltungsgerichtlichen Prüfungsumfangs vor, die effektiven Schutz erst ermöglichen soll. Gneist will in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte neben Rechtsfragen auch Tatsachen- und „Maßfragen", d. h. Fragen ungleicher oder unangemessener Belastung, einbeziehen.100 Wegen der Unbestimmtheit der modernen Polizeigesetze,101 die mit Begriffen wie denen der Feuer- oder Gesundheitsgefahr, der unordentlichen Wirtschaft oder des Lärms nur „relative Bestimmtheit" erreichen, 102 erscheint v. Gneist die richtige Rechtsanwendung nicht nur als Frage „logische(r) Interpretation", 103 sondern auch als Problem zutreffender tatsächlicher Beurteilung und, vor allem, der gleichmäßigen Anwendung der Gesetzesbestimmung. Dabei bezeichnet er als Problem des gleichen Maßes sowohl die Entscheidung, ob ein tatbestandsmäßiger Sachverhalt erheblich genug sei, um ein Einschreiten zu rechtfertigen, als auch die Verpflichtung zur unparteilichen Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle. 104 Beides wird nicht positivrechtlich begründet, sondern auf die Forderung der aequitas, der Billigkeit und Gerechtigkeit, zurückgeführt. 105 Als rechtspolitischen Hintergrund dieser Forderungen nennt v. Gneist seine „sehr ernsten Erfahrungen in Preußen", 106 wo er in der Reaktionszeit den „Unfug einer Parteiverwaltung", „die parteiische Massbestimmung in Ertheilung oder Versagung der zahlreichen Gewerbsconcessionen", 107 in der Ordnungspolizei und der Abgaben-, Kirchen- und Schulverwaltung miterlebt habe. 108 Mehr noch als in der Gesetzesauslegung sieht v. Gneist in den Tatsachen- und Maßfragen die Einfallstore für polizeiliche Willkür. Mit Ausnahme der Fälle „sel98 S.o. Β. I. 1. c), Fn. 90. 99 v. Gneist, Rechtsstaat, S. 271; ders., Verh. 12. DJT (1875), S. 233. 100 γ. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 234 f.; vgl. Verwaltungsreform und Verwaltungsrechtspflege in Preußen, 1880, S. 19, 23. ιοί v. Gneist, Verwaltungsreform und Verwaltungsrechtspflege, S. 12; v. Gneist zieht den Vergleich zwischen den Reichspolizeigesetzen und den modernen Generalklauseln. 102 Ebd. 103 v. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 235; vgl. ders., Rechtsstaat, S. 47 f. 104 v. Gneist, Verwaltungsreform und Verwaltungsrechtspflege, S. 12. 105 v. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 235. Erst Reiner, Institutionen, 2. Aufl., S. 118, und W. Jellinek, Gesetz, S. 294, kennzeichnen die Parteilichkeit als rechtsfehlerhafte Verletzung des Gleichheitssatzes. 106 y. Gneist, Rechtsstaat, S. 273. 107 vgl. v. Gneist, Verwaltungsreform und Verwaltungsrechtspflege, S. 25: In der Gewerbepolizei finde „der Parteimissbrauch ... das weiteste und wirksamste Feld". los v. Gneist, Rechtsstaat, S. 272 f.; vgl. Lasker, S. 183 ff., 200 ff.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

tener Ungeschicklichkeit oder unbesonnener Leidenschaft" erscheine „der Mißbrauch der obrigkeitlichen Gewalten ... nicht leicht in Gestalt directer Anordnungen gegen das Gesetz," sondern ,Jiefte() sich vielmehr" an die „thatsächliche Seite des Verwaltungsgesetzes, durch Maßregeln, deren thatsächliche Veranlassung nur fingiert wird, oder an minimale Veranlassungen, die allenfalls dem Buchstaben, aber nicht dem Sinne des Gesetzes entsprechen, oder an eine wissentliche Anwendung des ungleichen Maßes, aus Motiven, welche außerhalb des Gesetzes liegen, namentlich aus persönlicher Feindseligkeit oder politischer Tendenz." 109 Gerade vor diesem Mißbrauch müsse eine Verwaltungsgerichtsbarkeit schützen. Ihre Beschränkung auf Gesetzesverletzungen oder gar auf die Verletzung subjektiver Rechte hält v. Gneist daher für einen schwerwiegenden Fehler. 110 Seine Anforderungen an die Gerichtsorganisation ergeben sich aus dem geforderten Prüfungsumfang. Wegen der Einbeziehung der Tatsachen- und Maßfragen kommt eine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte nicht in Betracht. 111 Da aber andererseits nach v. Gneists Überzeugung nur die richterliche Unabhängigkeit die Gewähr für effektive Kontrolle bietet, plädiert er für eine besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit, deren Sachnähe durch organisatorische Einbindung in die Verwaltung gewährleistet ist, und deren Unparteilichkeit durch die richterliche Unabhängigkeit der beteiligten Verwaltungsbeamten und durch die ökonomische Selbständigkeit der ehrenamtlich herangezogenen Besitzbürger garantiert werden soll. 1 1 2 Der Ertrag der Arbeit v. Gneists ist neben einem kompromißfähigen Vorschlag zur Gestaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch ein interessantes Modell zur Beschreibung von Ermessensentscheidungen. Wie Bähr, sieht v. Gneist sich dem Problem unbestimmter Begriffe im Gesetzestext gegenüber. Ähnlich wie Bähr, schiebt er einen Teil des Konkretisierungsproblems auf die Tatsachenseite, indem er es zum Problem zutreffender Tatsachenfeststellung und -Würdigung erklärt. Ob letztere sich nach v. Gneists Auffassung mit der Subsumtion deckt, geht aus seinem Werk und aus seiner Kritik an Bähr nicht hervor. Da er der Gesetzmäßigkeitskontrolle wenig Bedeutung beimißt und in seinem System Rechts- und Ermessensfragen nicht abgrenzen muß, sondern vielmehr mit ihrer Verquickung argumentiert, hat er auch keinen Anlaß, sich genauer mit Fragen der Gesetzesinterpretation auseinanderzusetzen. Seine Zurückhaltung in diesem Bereich zeigt sich bei der näheren Beschreibung der Maßfragen, in denen v. Gneist das Verhältnismäßigkeits- und das Gleichheitsproblem wieder neu entdeckt und, wie F. F. Mayer, die traditionelle Gegenüberstellung von Rechts- und Zweckmäßigkeitsfragen aufbricht. Nach v. Gneist ist die 109

v. Gneist, Verwaltungsreform und Verwaltungsrechtspflege, S. 12. v. Gneist, Verwaltungsreform und Verwaltungsrechtspflege, S. 19, 23; ders., Rechtsstaat, S. 272 f.; Verh. 12. DJT (1875), S. 234 f. m v. Gneist, Rechtsstaat, S. 265 f. Π2 v. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 239 f.; ders., Rechtsstaat, S. 269 ff.; Verwaltungsreform und Verwaltungsrechtspflege, S. 46 f. 110

I. Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze

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Rechtsanwendung nicht zwei-, sondern dreiwertig. Sie in der Gegensätzlichkeit von Recht und Ermessen zu erschöpfen, hält er für eine irreführende petitio principii. Er selbst beschreibt die Maßfragen als „mittlere(s) Gebiet" zwischen dem freien, nur an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierten Ermessen der Verwaltung, und dem Gebiet der reinen Rechtsfragen. 113 Dieses mittlere Gebiet der Maßfragen sei dadurch gekennzeichnet, daß sich die „Behördenthätigkeit... zwar formell in den gesetzlichen Schranken bewegt, aber durch parteiische Massbestimmung (iniquitas) den Sinn der Verwaltungsgesetze dem Einen zu Lieb, dem Andern zu Leid verkehrt." 114 Damit nimmt v. Gneist, ohne sich ausdrücklich darauf zu berufen, die vorkonstitutionelle Mißbrauchslehre wieder auf. Wie diese, qualifiziert er als Rechtsverstoß nur die Maßnahmen, die dem Wortlaut des Gesetzes widersprechen. Vom Wortlaut gedeckte, aber unangemessene Eingriffe werden, ebenso wie sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen oder Maßnahmen aus unsachlichen Motiven, nicht als rechtswidrig, sondern nur als „ungerecht" bezeichnet.115 Darin scheint angesichts der Gleichheitsgarantie in der damals geltenden preußischen Verfassung eine Absage an den Vorrang der Verfassung zu liegen, und außerdem eine Absage an die Interpretation nach dem Sinn und Zweck der Norm. Diese Konsequenzen werden bei v. Gneist aber nicht gezogen. Mit der Positivierung der Gleichheitsgarantie setzt er sich nicht auseinander. Einer klaren Stellungnahme zur Interpretationslehre und zum Verhältnis von Auslegung und aequitas weicht v. Gneist aus, indem er die den Wortlaut achtende Maßnahme als nur „formell" gesetzmäßig bezeichnet und der „sinngemäße(n)" Anwendung gegenüberstellt. Die Vorarbeiten zur Abgrenzung von Gesetzesanwendung, fehlerfreier Ermessensausübung und Willkür wertet v. Gneist nicht aus. Eine Definition der „feine(n) Grenzlinie, welche die redliche Ausübung eines pflichtmäßigen arbitrium von einem chicanösen Vorwand scheidet", 116 wird gar nicht erst versucht. Die Bilanz, daß die „sinngemässe Anwendung des Gesetzes immer erst mit einem gewissen Mass beginn(e)", 117 und deshalb Rechts- und Maßfragen nicht zu trennen seien, verwischt die in der Differenzierung von Wortlaut und Sinn des Gesetzes gewonnenen Anhaltspunkte für eine Abgrenzung. So bleiben die Konturen des „mittleren Gebiets" der Maßfragen undeutlich. Die Frage nach der Rechtsqualität mißbräuchlicher, willkürlicher Ermessensausübung wird nicht geklärt. Ansätze, den Gleichheitssatz oder die Auslegung nach dem Sinn und Zweck für eine Revision der Abgrenzung von Recht und Ermessen fruchtbar zu machen, gehen in der Zurückführung der Maßfragen auf die aequitas unter. Als Verdienst des dreistufigen Modells bleibt, mit der Durchbrechung des "3 v. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 237. 114

Ebd., wortgleich in: ders., Rechtsstaat, S. 272. us v. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 241. 116

v. Gneist, Verwaltungsreform und Verwaltungsrechtspflege, S. 23. "7 v. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 235.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Gegensatzes von Recht und Ermessen wieder bewußt gemacht zu haben, daß es auch im traditionell dem Verwaltungsermessen zugeordneten Bereich Pflichten gibt, deren Verletzung rechtlich relevant sein kann. In der Konstruktion eines Zwischenbereichs von Maßnahmen, die nicht mehr gerechtfertigt, aber noch nicht rechtswidrig sind, wird das von F. F. Mayer schon mit Beispielen belegte Feld der künftigen Ermessensfehlerlehre abgesteckt. Gleichzeitig ist darin deren konstruktiver Mangel, das Auseinanderfallen von Rechtswidrigkeit und sanktionswürdiger, rechtlich relevanter Fehlerhaftigkeit, bereits angelegt.

e) Die gemeinsamen Perspektiven

Bei aller Verschiedenheit der Durchführung stimmen die Beiträge v. Steins, Bährs, F. F. Mayers und v. Gneists in ihrem Ansatz, der Argumentation aus dem Rechtsstaatsbegriff, überein. Kennzeichnend ist jeweils die formale Begriffsbestimmung. Indem sie Rechtsbindung und Rechtskontrolle ins Zentrum der Überlegungen rückt, erlaubt sie nicht nur die Überwindung der aus dem Vormärz geläufigen, gegenständlichen Kompetenzabgrenzung, sondern ermöglicht auch, die frühkonstitutionelle Berufung auf verfassungsrechtliche Positionen zu ersetzen. Das Rechtsstaatsargument dient nicht mehr nur zur Ergänzung der auf den Vorbehalt des Gesetzes und die bürgerlichen Rechte gestützten Argumentation, sondern tritt an ihre Stelle. Die verschiedenen Ansätze zeigen darüber hinaus auch eine gemeinsame Tendenz in der Abgrenzung von Rechtsbindung und Verwaltungsermessen. Der Versuch, die Rechtsbindung auf die Bindung an den Ermächtigungswortlaut zu beschränken und die Konkretisierung vager Tatbestandsmerkmale als Sachverhaltswürdigung dem Verwaltungsermessen zuzuschreiben, beeinflußt nicht nur die Kodifikation der Verwaltungsgerichtsgesetze, sondern zeichnet auch die Problemformulierungen und Lösungsansätze des späteren Streits um den unbestimmten Rechtsbegriff vor. Schließlich umreißen die von F. F. Mayer und v. Gneist entwikkelten Ansätze, die restriktive Bestimmung der Rechtsbindung durch eine Wiederbelebung der Mißbrauchslehre auszugleichen, bereits die Grundlagen und das Grundproblem der spätkonstitutionellen Ermessensfehlerlehre.

aa) Das Rechtsstaatsargument als Surrogat verfassungsrechtlicher Forderungen

Die vier dargestellten Ansätze treffen sich in dem Bemühen, aus einem auf Rechtsbindung und Rechtsschutz reduzierten Rechtsstaatsbegriff Folgerungen für die Gestaltung der staatsrechtlichen Beziehungen zwischen Obrigkeit und Bürger abzuleiten. Sie führen dabei die Formalisierung des frühkonstitutionellen Rechtsstaatsbegriffs fort. Soweit mit der Berufung auf eine dem Staat vorausliegende,

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sittlich-vernünftige Rechtsordnung noch Elemente des früheren, materiellen Rechtsstaatsbegriffs aufgenommen werden, schlagen sie auf die Konstruktion der im Staat geltenden Rechtsordnung nicht mehr durch. Staatsimmanent wird der Rechtsstaatsbegriff nur formal, im Sinne umfassender gesetzlicher Regelung der Staatstätigkeit und ebenso umfassenden justizförmigen Schutzes der positivrechtlich begründeten Rechte verstanden. Nur die Korrespondenz von Rechtsbindung und Rechtsschutz, aber nicht der Inhalt und Umfang der Gewährleistungen sollen im Rechtsstaatsbegriff vorgegeben sein. In diesem reduzierten Umfang versuchen die Beiträge allerdings, den Rechtsstaatsbegriff staatsrechtsdogmatisch auszumünzen. Aus dem Begriff selbst werden präzise Anforderungen an die gesetzliche Regelung der Staatsbürgerstellung und an die Gewährung und Ausgestaltung öffentlich-rechtichen Rechtsschutzes abgeleitet. Indem die Begründungen der Reformvorschläge dem Rechtsstaatsbegriff die Schlüsselstellung einräumen und die verfassungsrechtlichen Grundlagen, insbesondere den Vorbehalt des Gesetzes und die Gewährleistung der Staatsbürgerrechte, nur am Rande erwähnen, kehren sie den Argumentationszusammenhang der frühkonstitutionellen Lehre um. Dort hatte die Berufung auf den Rechtsstaatsgedanken die Grundrechtsgewährleistungen und den nur unvollkommen ausgeprägten Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes ergänzt. Die rechtsstaatliche Forderung, die Staatstätigkeit und die Staatsbürgerstellung umfassend durch Gesetze zu bestimmen, füllte Lücken, die sich aus der Beschränkung des Gesetzesvorbehalts auf einzelne, benannte Grundrechte und aus seinem Verständnis nur als Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgebungs- und Verordnungsgewalt ergaben. 118 In der nachrevolutionären Lehre werden die verfassungsrechtlichen Ansätze durch das Rechtsstaatsargument nicht mehr ergänzt, sondern verdrängt. Die Berufung auf den Rechtsstaatsbegriff, statt auf den Vorbehalt des Gesetzes, verbindet liberale Tradition mit politischer Opportunität. Sie erlaubt, die umfassende Unterwerfung der Exekutive unter das konstitutionelle Gesetz von der Frage weiterer Demokratisierung und Parlamentarisierung zu lösen. Der Rechtsstaat kann aus dem Bewußtsein der immer wieder zitierten sittlichen Verpflichtung auch obrigkeitlich gewährt werden. Er verlangt nicht mehr die von der frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre noch geforderte Teilhabe der Regierten an der Staatsgewalt119 und entfernt sich von den gesellschaftsvertraglichen Wurzeln. 120 Lorenz v. Steins Feststellung, der Gesetzesvorrang legitimiere sich aus der Beteiligung der Bürger an der Rechtsetzung, 121 wird später nicht mehr aufgegriffen. Die Vorstellung, Freiheit werde durch die Beteiligung an der freiheitsbeschränkenden Gesetzgebung gewährt, bildet nur noch den Hintergrund der liberalen Staatsrechtslehre, wird aber nicht mehr thematisiert. π» S.o. A. III. 119 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 7, 106 f.; vgl. Bähr, Rechtsstaat, S. 163 ff., 166; v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Bd., 2. Aufl., S. 305. 120 Dazu s.o. Β. I. 1. a) bei Fn. 5; Böckenförde, Rechtsstaatsbegriff, S. 69 ff. 121 v. Stein, Verwaltungslehre, 1. Bd., 2. Aufl., S. 83, 86.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Der Argumentationswechsel scheint damit auf eine Resignation der liberalen Staatsrechtslehre oder gar auf eine saturierte Abwehr weitergehender verfassungspolitischer Reformbestrebungen hinzudeuten. Dieser Eindruck wird durch den nachrevolutionären Umgang mit den bürgerlichen Rechten noch verstärkt. Die rechtsstaatliche Begründung des Rechtsschutzverlangens macht die Berufung auf vorstaatliche oder verfassungsrechtlich begründete Individualrechte überflüssig. Eine Tendenz zur restriktiven Bestimmung subjektiv-öffentlicher Rechte zeichnet sich ab. Während die Staatsrechtslehre den Grundrechten ihren im Frühkonstitutionalismus noch unbestrittenen subjektivrechtlichen Charakter abzusprechen beginnt, 1 2 2 lassen die verwaltungsrechtlichen Beiträge F. F. Mayers und v. Gneists erkennen, daß auch auf der Ebene des einfachen Rechts nicht mehr jede objektivrechtliche, den einzelnen begünstigende Bindung der Staatsgewalt als subjektives Recht des Betroffenen anerkannt werden soll. So bezeichnet F. F. Mayer als subjektiv-öffentliche Rechte nur die staatsbürgerlichen Teilhaberechte. 123 Dagegen gesteht er dem Betroffenen bei der Verletzung von Abwehrrechten und objektivrechtlichen Eingriffsschranken nur ein Verfahrensrecht in Form der „rechtlichen Betheiligung" zu. 1 2 4 Noch restriktiver ist die Position v. Gneists. Er weist dem einzelnen bei rechtswidrigen Eingriffen zwar die Rolle des Initiators der verwaltungsrechtlichen Überprüfung zu, verbindet damit aber keine noch so schwache Form subjektiver Berechtigung. Der einzelne soll weder einen Anspruch auf Unterlassung bzw. Beseitigung rechtswidriger Eingriffe haben, noch ein Recht auf Durchführung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Seine Beteiligung dient nur der Einleitung objektivrechtlicher Kontrolle, die allein im öffentlichen Interesse ordnungsgemäßer Verwaltungstätigkeit stattfindet. 125 Im Gegensatz zu F. F. Mayer und v. Gneist ziehen v. Stein und Bähr den Kreis subjektiv-öffentlicher Rechte noch nicht enger als den der begünstigenden Rechtsreflexe. Die Konzeption des Rechtsreflexes ist aber offen für die Möglichkeit der Einschränkung durch zusätzliche, qualifizierende Erfordernisse, von der die spätere Lehre ausgiebig Gebrauch macht. Schon Georg Meyer stellt fest, nur eine im Interesse des einzelnen erlassene Vorschrift könne die Grundlage subjektiver Rechte bilden; dagegen begründeten

122 Zuerst Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 45 m. Fn. 3, S. 222 ff.; dann Laband, Staatsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 149, 2. Aufl., S. 141 f., 5. Aufl., S. 150 f. (dazu s.u. Β. II. 1. c) bb) ccc) bei Fn. 134); Leuthold, Hirths Ann. 1884, 321 ff., 365; G. Meyer, Staatsrecht, 5. Aufl., S. 721 f. m. Fn. 1 u. 2; Zorn, Staatsrecht, 1. Bd., S. 370 ff.; v. Stengel, Verwaltungsrecht, S. 35; anders noch v. Rönne, Reichsstaatsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 107 ff.; Schulze, Deutsches Staatsrecht, 1. Bd., S. 364 ff. Zum rechtspolitischen und methodischen Hintergrund der Entwicklung - Entbehrlichwerden der Grundrechte als Hebel zur Überwindung der feudalen Gesellschaftsordnung, Abkehr von der vernunftrechtlichen Deutung und Hinwendung zur Konstruktion der Grundrechte als bloß objektivrechtlicher Schranken der Herrschaftsgewalt vgl. D. Grimm, Grundrechtstheorien, S. 246 ff., 256; Bauer, S. 65 ff.; Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 37 Iff., je m.w.N. 123 F. F. Mayer, Grundzüge, S. 62 f.; ders. Verwaltungsrecht, S. 24 m. Fn. 2. 124 F. F. Mayer, Grundzüge, S. 62., dazu s.o. Β. I. 1. c) m. Fn. 90. 125 y. Gneist, Rechtsstaat, 271; ders., Verh. 12. DJT (1875), S. 231 ff.

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im öffentlichen Interesse erlassene Vorschriften nur begünstigende Reflexe, die als schlichte Interessen nicht rechtsschutzfähig seien. 126 Diese Differenzierung setzt sich in der weiteren Entwicklung durch 127 und ermöglicht besonders in politisch brisanten Bereichen 128 oder dem Bereich der Sozialfürsorge, 129 gerichtlich durchsetzbare Ansprüche der Betroffenen zu verneinen. Dennoch wäre es voreilig, im Rückzug auf die Rechtsstaatsargumentation in den sechziger und frühen siebziger Jahren nur die Resignation der Liberalen oder gar ein Bündnis der Saturierten mit dem monarchischen Obrigkeitsstaat 130 zu sehen. Beide Deutungen mögen zwar die Motive der Rechtsstaatsverfechter zutreffend kennzeichnen, müssen darum aber noch nicht die Funktion des Argumentationswechsels erschöpfen. Die Warnungen v. Gneists vor den Gefahren der Sozialdemokratie, v. Steins und Bährs Ablehnung der Volkssouveränität und die Beschwörung einer Tyrannei der Mehrheit zeigen nur eine antidemokratische Tendenz, die vielen Liberalen eigen war. 131 Sie schließen konstitutionelle Reformen im übrigen, wie etwa eine weitere Parlamentarisierung, jedoch nicht aus. Die Konzentration des Rechtsstaatsbegriffs auf die Rechtsschutzforderung bedeutet nicht notwendig die Absicht, sich mit der Erfüllung der letzteren zu begnügen. Zwar mag einigen die Einrichtung eines Verwaltungsrechtsweges schon als angemessener Abschluß konstitutioneller Staatsgestaltung erschienen sein. 132 Doch andere könnten darin ledig126 G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Aufl., S. 37, 81 f. (Beispiel der Pflicht zur Armenunterstützung als bloß im öffentlichen Interesse statuierter Pflicht). Die Unterscheidung von subjektivem Recht und bloßem Rechtsreflex geht zurück auf Ihering, 3. Bd., 1. Abt., 1. Aufl., S. 327 f.; dazu Bachof, GS W. Jellinek, S. 288 ff.; allgemein zur Anlehnung der öffentlichrechtlichen Lehre an die zivilrechtliche Lehre vom Anspruch Bauer, S. 73 ff. 127

E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 11; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 163 f.; G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 73 m. Fn. 1 u. 3 (anders für die Grundrechte, die ebd., S. 262 f. gegen die h.L. im Kaiserreich als subjektiv-öffentliche Rechte anerkannt werden); Bühler, Öffentliche Rechte, S. 44 ff.; Fleiner, Institutionen, 2. Aufl., S. 155 ff., 159; außerdem s.u. die Nachweise in Fn. 128 f. - Bornhak, 1. Bd., 2. Aufl., S. 285 f., leugnet sogar die Möglichkeit subjektiv-öffentlicher Rechte überhaupt und bezeichnet damit die Extremposition konservativ-obrigkeitsstaatlichen Denkens. 128 Vgl. ζ. Β. v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 110 ff., 415,437 f., 440 ff. zum Polizei- und besonders zum Versammlungsrecht. 129 Vgl. ζ. B. zur Armenunterstützung (geregelt im Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 06. 06. 1870 RGBl. S. 360, neu gefaßt am 30. 05. 1908, RGBl. S. 381) G. Meyer (s.o. Fn. 126); O. Mayer, Verwaltungsrecht, 2. Bd., 3. Aufl., S. 386 m. Fn. 16 (es handele sich nur um Almosen); Hatschek, 5. u. 6. Aufl., S. 291; Krais, S. 371, Fn. 8. Noch W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 1. Aufl., S. 193, referiert die Ablehnung eines Anspruchs auf Armenunterstützung als allgemeine Meinung. Zur Ablehnung eines Anspruchs auf Rentenzahlung vgl. G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 73, Fn. 3. 130 Dazu D. Grimm, Grundrechtstheorie, S. 249, 255.

131 Dazu v. Oertzen, S. 298, 308; er weist besonders auf die Tradition der Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts hin. 132 So ζ. Β. v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 430 ff., 444 ff., und Zorn, VerwArch. 2 (1894), 147, bei denen, wie bei v. Gneist, die Furcht vor einem Machtzuwachs der Arbeiterklasse durchscheint.

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lieh einen ersten, unter den politischen Umständen am leichtesten durchzusetzenden Schritt auf dem Weg zu weiteren Reformen gesehen haben. Denn die vorläufige Beschränkung auf den Ausbau des Verfassungsstaats „nach unten" läßt sich auch als Mittel verstehen, unter der Oberfläche verfassungspolitischer Stagnation eine weitergehende Liberalisierung in sicherer Abgrenzung zu radikaldemokratischen Forderungen durchzusetzen. 133 Den Argumentationswechsel als trojanisches Pferd einer Demokratisierung zu deuten, 134 dürfte allerdings zu weit gehen. Zwar wird unter Berufung auf den Rechtsstaatsbegriff schließlich erreicht, was weder die konstitutionelle Verfassungsbewegung noch die Interpretation der Verfassungsurkunden bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts erreichen konnten: die Durchsetzung des auch auf den Einzeleingriff bezogenen Vorbehalts des Gesetzes. Doch Vorrang und Eingriffsvorbehalt des konstitutionellen Gesetzes genügen noch nicht, um von Demokratisierung zu sprechen, zumal das Zensuswahlrecht noch nicht abgeschafft, das Wahlrecht für Frauen noch nicht eingeführt und die Vorlage von Gesetzesentwürfen weiterhin der Exekutive vorbehalten war.

bb) Die Neubestimmung des Verhältnisses von Rechtsbindung und Ermessen

Unter dem formalisierten Rechtsstaatsbegriff wird das Verhältnis von Ermessen und Rechtsbindung der Staatsgewalt neu bestimmt. Die positiven, objektiv- und materiellrechtlichen Vorschriften erscheinen als Schranke des immer noch vorrechtlich gedachten, aus der Staatsgewalt selbst fließenden Ermessens. Die damit gestellte Aufgabe einer klaren Abgrenzung rechtsfehlerhafter Normanwendung und rechtsfehlerfreien, wenn auch vielleicht zweckwidrigen Ermessensgebrauchs wird jedoch entweder nicht wahrgenommen, oder nicht gelöst. Die Lehre tendiert einerseits dazu, die Kategorie der Rechtsfehler auf Fehler in der grammatischen Auslegung der Ermächtigungsnorm zu beschränken, und kompensiert die unbefriedigenden Ergebnisse andererseits durch die Proklamation rechtlich relevanter Ermessensfehler, die aus einer Wiederbelebung der alten Mißbrauchslehren oder aus der rechtsvergleichenden Anlehnung an das Institut des excès de pouvoir entwikkelt werden.

133 Vgl. v. Oertzen, S. 292, 296 ff.; Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 2. Bd., S. 80 f. - O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl. S. 61 f., versicherte ausdrücklich, der Ausbau der rechtsstaatlichen Verfassung könne geschehen, ohne das Verhältnis des Fürsten zur Volksvertretung zu ändern; ähnlich Gumplowicz, GrünhutsZ 14 (1887), 478 f. 134 So Maus, S. 37.

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aaa) Das positive Recht als Ermessensgrenze In ihrer Neubestimmung des Verhältnisses von Ermessen und Rechtsbindung verbinden v. Stein, Bähr, F. F. Mayer und v. Gneist Elemente justizstaatlicher Rechtsbindungslehre mit der Souveränitäts- und Subjektionslehre der Verfechter der Verwaltungsjustiz. Ohne die Prämissen der vor- und frühkonstitutionellen Diskussion in Frage zu stellen, übernehmen sie die Bestimmung des Ermessens als Ausfluß der vorrechtlich gedachten Staatsgewalt, die sie weiterhin allein dem Fürsten zuschreiben. Dieser wird zwar nicht mehr als persönlicher Inhaber der Staatsgewalt, aber doch als ihr alleiniger Träger vorgestellt. Die in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre vollzogene Umdeutung der Souveränität von einem Attribut des Monarchen zu einem Attribut der Staatsgewalt hat nur den Staat vom Monarchen emanzipiert, das konstitutionelle Verständnis des innerstaatlichen Verhältnisses von Monarch und Volksvertretung aber noch nicht verändert. Die Beschränkung der Volksvertretung auf eine Begrenzungs- und Korrekturfunktion ohne Teilhabe an der Staatsgewalt spiegelt sich im Verständnis des positiven Rechts nur als Schranke, und nicht als Grundlage des vorrechtlich und umfassend gedachten Ermessens. Das konstitutionelle Gesetz dient nach dieser Vorstellung nicht dazu, Staatszwecke zu konkretisieren, sondern zieht nur der Verwirklichung der vom Fürsten konkretisierten Zwecke rechtliche Grenzen. Dieses Bild entspricht der innerstaatlichen Machtverteilung, die nach den Verfassungskämpfen in den sechziger Jahren erreicht war. Ihre Festschreibung in der Beschränkung auf den Gesetzesvorrang trübte allerdings den Blick für die Wahrnehmung der Vorbehaltsfunktion des Gesetzes. Die Darstellung des positiven Rechts als Schranke des Ermessens leistet einer Doppeldeutigkeit des Ermessensbegriffs Vorschub, die schon bei F. F. Mayer deutlich geworden ist. Ermessen ist zunächst, wie eben beschrieben, das Attribut der vorrechtlich und umfassend gedachten Staatsgewalt und damit der Gegenstand der rechtlichen Beschränkung. Ermessen ist aber auch - aus der Perspektive des positiven Rechts sogar allein - , was an Entscheidungs- und Handlungsspielräumen nach Berücksichtigung aller Rechtsschranken übrig bleibt. In dieser zweiten Bedeutung ist der Ermessensbegriff wieder auf eine Negativdefinition zurückgeführt. Vom Kompetenztitel justizfreier Herrschaftsausübung wird er auf den Restbereich rechtlich nicht determinierten Verwaltungshandelns reduziert. Im Unterschied zu den früheren Negativdefinitionen wird dieser Restbereich allerdings nicht mehr durch einen Inbegriff von Zuständigkeiten oder in Abgrenzung zu subjektiven, wohlerworbenen Rechten bestimmt, sondern allein durch positive, objektive Rechtssätze begrenzt. Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit einer Maßnahme erscheinen wieder als Maßstäbe, die nur im Rahmen des rechtlich Zulässigen Bedeutung gewinnen, aber keine Rechtsexemtion begründen können. Entsprechend wird Ermessen überall dort angenommen, wo entweder keine Rechtssätze vorliegen, die das staatliche Handeln bestimmen könnten, oder wo Rechtssätze eingreifen, die nicht eindeutig sind oder keine abschließende Regelung treffen. Die erste Alternative, das Fehlen von Rechtssätzen, wird mit dem Bereich der Regierung im engeren Sinne assozi-

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iert. Er umreißt die dem Monarchen verbliebenen Alleinzuständigkeiten. Dazu gehören die völkerrechtliche Vertretung nach außen und die Ausübung der militärischen Kommandogewalt; teils wird auch die Auflösung der Volksvertretung dazugezählt. 135 Als Rechtsgrenzen sieht die Lehre also nur die konstitutionellen Gesetze, nicht die etwa einschlägigen verfassungsrechtlichen Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften. Die zweite Alternative der positivrechtlich bestimmten Ermessensdefinition, das Fehlen eindeutiger oder abschließender Regelungen, bezeichnet den Schauplatz der späteren Auseinandersetzungen um die Reichweite des Verwaltungsermessens. Dieses ist damit jedenfalls hinsichtlich seiner Schranken, wie das richterliche Ermessen ein halbes Jahrhundert zuvor, zum Problem der Auslegung und Anwendung positiver Normen geworden. Der Ansatz, das positive Recht als Ermessensgrenze zu sehen, hätte nahegelegt, nach Pfeiffers Vorbild die Reichweite der Rechtsbindung zu analysieren und einen Ermessensspielraum erst anzunehmen, wenn die Rechtsbindungen erschöpft und alle Rechtmäßigkeitsanforderungen erfüllt sind. Die Lehre geht aber einen anderen Weg. Das wird bei F. F. Mayers und v. Gneists Abgrenzungen von Rechts- und Ermessensfehlern deutlich, und zeigt sich auch bei Bährs verschachtelten Ausnahmen von der Überprüfbarkeit der Anwendung unbestimmter Begriffe.

bbb) Die Reduzierung der Rechtsanwendungsfehler auf die Wortlautverfehlung Schon auf den ersten Blick fällt auf, daß die Rechtsanwendung zwar als Dreischritt von Normauslegung, Sachverhaltsermittlung und Subsumtion beschrieben wird, als Rechtsfehler bei der Normanwendung aber nur Auslegungsfehler erscheinen. Anwendungsfehler, die auf fehlerhafter Sachverhaltsfeststellung beruhen, werden bei F. F. Mayer nicht als Rechtsfehler, sondern als Ermessensfehler klassifiziert; v. Gneist ordnet sie einem zwischen Rechts- und Ermessensbereich angesiedelten, „mittleren" Gebiet zu, in dem Tat- mit Maßfragen auf eine Stufe gestellt werden. Bähr kommt zum gleichen Ergebnis, indem er dem Richter nur die Nachprüfung der Auslegung vorbehält. Der zweite Blick zeigt, daß zwar nur Auslegungsfehler, aber nicht alle Auslegungsfehler als Rechtsanwendungsfehler begriffen werden. Erstens wird Auslegung nur als grammatische und teleologische Interpretation konkretisiert. Die der zeitgenössischen Lehre ebenfalls geläufigen Gesichtspunkte der systematischen, genetischen und historischen Auslegung 136 werden kommentarlos ausgeklam135 γ. Aretin/v. Rotteck, 1. Bd., 2. Aufl., S. 195 ff.; Stahl, Rechtsphilosophie, 2. Bd., 2. Abt., 5. Aufl., S. 194 f., 386 ff.; Regelsberger, KritVjschr. 4 (1862), 63 f.; G. Jellinek, Staatslehre, 2. Aufl., S. 601 ff.; zur Entwicklung vgl. Boldt, S. 34 f.; Böckenförde, Verfassungstyp, S. 153 ff.; Scheuner, FS Smend, S. 253 ff. Während des Kaiserreichs wird in dem Maße, in dem die Rechtsbindungen der Exekutivspitze entwickelt werden, der Bereich der sogenannten Regierungsakte zunehmend eingeschränkt (s.u. Β. II. 1. a), Fn. 10).

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mert. Zweitens wird, ebenso kommentarlos, die teleologische Auslegung ausdrücklich 1 3 7 oder verdeckt 138 der Verwaltung vorbehalten. Als Rechtsanwendungsfehler erscheint damit ausschließlich die fehlerhafte grammatische Auslegung. Bei Bähr wird die Interpretation nochmals entwertet. Unter dem Deckmantel des Subsumtionsbegriffs wird neben die Tatsachenfeststellung eine Sachverhaltswürdigung geschoben, die eine Vorwegnahme der Auslegung ermöglicht. Dieses Subsumtionsmodell gibt die methodische Disziplinierung, die im Dreischritt der Rechtsanwendung angelegt ist, völlig auf. Die Subsumtion ist kein Schluß aus zwei lege artis konkretisierten Prämissen mehr. Als Sachverhaltswürdigung dient sie vielmehr zur fallbezogenen, subjektiven Präparierung der Tatsachenprämisse. Damit gewinnt sie beliebigen Einfluß auf das Rechtsanwendungsergebnis. Warum verschreiben sich die rechtsstaatlichen Ansätze einem Auslegungs- und Rechtsanwendungsmodell, das nicht nur weit hinter den Standards der zeitgenössischen Interpretationslehre zurückbleibt, 139 sondern auch dem erklärten Ziel, die Willkür bei der Rechtsanwendung auszuschließen, geradezu entgegenläuft? Die Erklärung ergibt sich aus der rechtspolitischen Zielsetzung der Beiträge. Mit neuen Argumenten führen sie nur den frühkonstitutionellen Streit um die Reichweite richterlicher Verwaltungskontrolle weiter. Was der richterlichen Rechtmäßigkeitsprüfung entzogen wird, soll der Verwaltung als Alleinentscheidungsbefugnis zufallen. Die Beschränkung auf die grammatische Auslegung entspricht in ihrer Funktion den Interpretations verboten des 18. Jahrhunderts, mit denen die Landesherren die politische Unschädlichkeit der unabhängig gewordenen Justiz zu sichern suchten. Danach ist bei F. F. Mayer und v. Gneist das Interesse an einer einschränkenden Bestimmung richterlicher Auslegungsmöglichkeiten unmittelbar einleuchtend. Die teleologische Interpretation, mit der über den Zweck des Gesetzes und damit mittelbar auch über die Zweckmäßigkeit von Ausführungsmaßnahmen entschieden wird, soll in jedem Fall der Verwaltung selbst vorbehalten bleiben. Bezeichnenderweise ist bei F. F. Mayer, der eine unabhängige Stellung der Verwaltungsgerichte fordert, die Ausgrenzung der teleologischen Interpretation deutlicher als bei v. Gneist, der sich gegen jede Verselbständigung der Rechtskontrolle wehrt. Im sicheren Zuständigkeitsbereich der Verwaltung kann v. Gneist Wortlautauslegung und sinngemäße Anwendung ohne klare Abgrenzungen ineinanderfließen lassen. Dagegen verfolgen Bähr und v. Stein mit der Auslegungsbeschränkung ein anderes Interesse. Wie die früheren Justizstaatler, fordern sie lieber nur ein Minimum, als 136 Vgl. Ogorek, Richterkönig, S. 102 ff., 144 ff., 292 ff. zur Abkehr vom allein auf die grammatische Auslegung fixierten Gesetzespositivismus um die Wende zum 19. Jahrhundert, zum Aufstieg der „logischen" und „objektiven" Interpretation sowie zur Entwicklung der Savignyschen Auslegungsregeln. Zur Bedeutung historischer Auslegungsgesichtspunkte in der Publizistik des frühen 19. Jahrhunderts vgl. Stolleis, FS Sten Gagnér, S. 497 ff. 137 y. Stein, GrünhutsZ 6 (1879), 69 f., ders., Verwaltungslehre, 1. Teil, 2. Aufl., S. 382 f. 138 Bähr, Rechtsstaat, S. 60; F. F. Mayer, Grundzüge, S. 71; v. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 235, 237; vgl. ders., Rechtsstaat, S. 265 f. 272. 139 S.o. Fn. 136.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

die eigene Position für die Gegenseite angreifbar zu machen, v. Stein muß die teleologische Interpretation der Verwaltung überlassen, um sicherzustellen, daß der Richter nicht die Befugnis der Verwaltung usurpiert, bei Gelegenheit der Rechtsanwendung über die politischen Fragen der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Angemessenheit zu entscheiden. Bähr rettet die alle Auslegungsgesichtspunkte umfassende richterliche Interpretationsbefugnis nur scheinbar, da er die teils justizexemte Subsumtion zum Auslegungsersatz stilisiert. Seine Differenzierungen und verschachtelten Ausnahmekonstruktionen laufen darauf hinaus, die Anwendung aller aus der Verwaltungsperspektive problematischen, mit Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten verknüpften Begriffe nur dann gerichtlich zu sanktionieren, wenn die Entscheidung der Verwaltung den Wortsinn offensichtlich verfehlt. Auf Seiten F. F. Mayers und v. Gneists sind also die Begünstigung der Verwaltung und das altbekannte Mißtrauen gegen den Richter ausschlaggebend. Auf Seiten v. Steins und Bährs ist es das vorsorgliche Bekenntnis zum judicial self-restraint, das die Durchsetzbarkeit eines Rechtsschutzminimums gewährleisten soll. Es bleibt das Problem der Verwaltungswillkür. Sie wird begünstigt durch den Freibrief der Sachverhaltswürdigung, die Monopolisierung teleologischer Auslegung bei der Verwaltung, das Ausklammern von Systematik und Genese und die dadurch getragene Beschränkung der Rechtmäßigkeitsprüfung auf die Feststellung von Wortlautverfehlungen. Um die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte auszuschließen, haben sich die rechtsstaatlichen Ansätze jede Möglichkeit genommen, das Verwaltungsermessen, wie das richterliche, im Wege der Auslegungslehre zu disziplinieren. Um dennoch das Ziel effektiven Rechtsschutzes zu erreichen, greifen sie auf eine Neubelebung der Mißbrauchslehre zurück, die im französischen Anfechtungsgrund des excès de pouvoir ein Vorbild findet.

cc) Die Renaissance der Mißbrauchslehre

Während v. Stein und Bähr in justizstaatlicher Tradition Rechtskontrolle mit richterlicher Kontrolle identifizieren und alles, was nicht von der vorsichtig restriktiv bestimmten Rechtsbindung erfaßt wird, der Verwaltung überlassen, können F. F. Mayer und v. Gneist den Spielraum nutzen, den eine Integration der Verwaltungskontrolle in die aktive Verwaltung erlaubt. Sie entwickeln jenseits der auf die Wortlautgrenze reduzierten Rechtsbindung Tatbestände fehlerhafter Ermessensausübung, die ihre Wurzeln teils in der aus dem 18. Jahrhundert überkommenen Mißbrauchslehre, teils in der aus dem französischen Verwaltungsrecht entlehnten Figur des excès de pouvoir haben. Die Prägung durch die alte Mißbrauchslehre ist bei v. Gneist am deutlichsten. Wie die Publizisten des 18. Jahrhunderts kennzeichnet er das mißbräuchliche Handeln dadurch, daß es zwar dem Buchstaben des Gesetzes entspricht, aber nicht den gesetzlichen, sondern einen sachfremden, egoistischen Zweck verfolgt. Die gesetzliche Ermächtigung wird zweckentfremdet und privaten Interessen des Norman-

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wenders dienstbar gemacht. Da dies zu sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlungen führt, wird der Begriff der Willkür zum Synonym für die mißbräuchliche Rechtsanwendung. Das Problem der Sachverhaltsfeststellung, das die Lehre des 18. Jahrhunderts nicht berücksichtigt hatte, wird bei v. Gneist besonders hervorgehoben und ebenfalls aus der Perspektive des bewußten Mißbrauchs behandelt. Nicht die irrtümliche Annahme falscher Tatsachen steht im Mittelpunkt, sondern das Fingieren eines Sachverhalts zum Zweck schikanöser oder korrupter Anwendung einer im konkreten Fall gar nicht einschlägigen Norm. Ebenso werden unverhältnismäßige Eingriffe nicht als Problem einer objektiven Zweck-Mittel-Relation dargestellt, sondern als Folge böswilligen Hochspielens „minimale(r) Veranlassungen" zu einem „chicanösen Vorwand". 140 v. Gneists politisches Anliegen, den „Unfug" einer reaktionären „ParteiVerwaltung" 141 bloßzustellen und für die Zukunft unmöglich zu machen, läßt das dolose Moment des Mißbrauchs noch deutlicher hervortreten als in der Publizistik des 18. Jahrhunderts, wo es nur eine Fallgruppe kennzeichnet.142 F. F. Mayers an der Figur des excès de pouvoir 143 orientierte Typologie der Ermessensfehlerlehre vermeidet dagegen subjektivierende Umschreibungen. Die Fallgruppe der Nichtberücksichtigung offenbarer oder erwiesener, entscheidungsrelevanter Tatsachen deckt die Fehlerquelle unzureichender Sachverhaltsermittlung ab, ohne auf ein Fingieren von Tatbestandsvoraussetzungen zurückgreifen zu müssen. Das Kriterium des offenbaren Mißverhältnisses von Zweck und Mittel erlaubt die Sanktion unverhältnismäßiger Eingriffe, auch ohne daß eine Absicht oder auch nur ein Bewußtsein schikanösen Handelns nachgewiesen werden müßte. Ein subjektives Element bleibt nur bei der dritten Fallgruppe, dem Erlaß einer Maßnahme aus „fremdartige(n), nicht zur Sache gehörige(n) Motive(n)". 144 Auch diese läßt sich aber in objektive Kriterien auflösen, wenn als Sanktionsbedingung ausreicht, daß die Maßnahme nicht mit sachlichen Motiven gerechtfertigt werden kann. Ein solches Verständnis klingt in F. F. Mayers Argumentation aus dem Gesetzeszweck an. Ihm geht es nicht nur um die Lauterkeit der behördlichen Entscheidungsfindung, sondern ebenso um die Rechtfertigung des Ergebnisses am Maßstab der gesetzlichen Zweckbestimmung. Auch bei F. F. Mayers auf rechtsvergleichendem Weg entwickelter Typologie läßt sich also eine Nähe zur alten Mißbrauchslehre darstellen. Die hergebrachten Kategorien der Zweckverfehlung und des Übermaßverbotes werden nur umformuliert und, wie bei v. Gneist, um die fehlerhafte Sachverhaltsdarstellung als dritte Fallgruppe ergänzt.

140 γ. Gneist, Verh. 12. DJT (1875), S. 234, 237; vgl. ders., Verwaltungsreform und Verwaltungsrechtspflege, S. 12. 141 v. Gneist, Rechtsstaat, S. 272 f. 142 Vgl. ο. Α. I. 2. b) bb) bbb). 143 Dazu s.o. Β. I. 1. c) bei Fn. 94. 144 F. F. Mayer, Verwaltungsrecht, S. 461 f. 7 Held-Daab

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Mit dieser Erweiterung der traditionellen Mißbrauchstatbestände wird ausgeglichen, daß nur die unzutreffende Wortlautauslegung als Rechtsanwendungsfehler anerkannt wird. Sonstige Auslegungsfehler und Fehler im Tatsächlichen, die bei der restriktiven Umschreibung der Rechtsfehler ausgeklammert wurden, kehren als Ermessensfehler wieder. Indem F. F. Mayer und v. Gneist die alte Mißbrauchslehre aktualisierten und für ihre Zwecke dienstbar machten, lösten sie aber nicht das zentrale Problem der Mißbrauchslehre, die Unsicherheit in der rechtlichen Qualifizierung der Mißbrauchstatbestände. Die alte Lehre hatte versucht, angesichts ungenügender positivrechtlicher Bindungen der Hoheitsgewalt aus dem überpositiven Recht oder dem in der Staatslehre entwickelten Begriff der guten Polizei Herrschaftsgrenzen zu konstruieren. Sie mußte diese Grenzen um ihrer Durchsetzbarkeit willen als Rechtsgrenzen postulieren, ohne sie angesichts der zunehmenden Positivierung des Rechtsbegriffs als echte, positivrechtlich begründbare Rechtsgrenzen ausweisen zu können. Um diese Schwäche zu verdecken, wurde das Verhältnis von positivem Recht, überpositiven Grundsätzen und staatswissenschaftlicher Begriffsbildung damals nicht weiter problematisiert. 145 Im Gegensatz zur alten Lehre löst die Mißbrauchslehre bei F. F. Mayer und v. Gneist kein in der Unzulänglichkeit der positiven Rechtsordnung vorgegebenes, sondern ein selbstgeschaffenes Problem. Weil die Rechtskontrolle auf die Kontrolle der Wortlautverfehlung beschränkt, der Anspruch effektiver Verwaltungskontrolle aber nicht aufgegeben werden soll, wird ein Ausweichen auf überpositive Mißbrauchstatbestände erforderlich. Deren rechtliche Einordnung erweist sich in der doppelten Abwehr gerichtlicher und rein administrativer Kompetenzansprüche als Dilemma. Während die alte Mißbrauchslehre den Mißbrauch immerhin noch als Rechtsfehler postulieren, wenn auch nicht mehr nachweisen konnte, müssen F. F. Mayer und v. Gneist die Rechtsnatur der Ermessensfehler in der Schwebe halten, um das rechtspolitische Ziel einer Verwaltungsrechtsprechung zwischen Justiz und aktiver Verwaltung nicht zu gefährden. Hätten sie erklärt, daß die Ermessensfehlertatbestände nicht aus dem positiven Recht herzuleiten seien, hätte dies vielleicht einen wissenschaftlichen Prestigeverlust, und sicher ein Scheitern ihres rechtspolitischen Bemühens um eine effektive Verwaltungskontrolle zur Folge gehabt. Weil die Publizistik der sechziger Jahre Recht schon ganz selbstverständlich mit positivem - wenn auch nicht notwendig geschriebenem - Recht identifizierte und begann, die juristische Arbeitsweise mit der Analyse und dogmatischen Aufbereitung des positiven Rechtsstoffs gleichzusetzen, wäre eine ausdrücklich auf überpositive Kategorien gestützte Argumentation Gefahr gelaufen, als unwissenschaftlich abgelehnt zu werden. 146 Vor allem aber hätte sie nicht mehr begründen können, weshalb die Ermessensfehler vom bloß unzweckmäßigen Han145 S.o. Α. I. 2. b) bb) bbb) bei Fn. 123 ff. 146

Zum Methodenwandel in der spätkonstitutionellen deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre vgl. W. Pauly, Methodenwandel, S. 92 ff.; Meyer-Hesemann, Methodenwandel, S. 32 ff. und ders., Rechtstheorie 13 (1982), 497, 501; einen Überblick und w.N. gibt Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 330 ff., 396,404 ff.

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dein unterschieden und nicht im Weg verwaltungsinterner Aufsicht, sondern durch eine unabhängige Verwaltungsrechtsprechung sanktioniert werden sollten. Ebensowenig konnten F. F. Mayer und v. Gneist die Ermessensfehler, etwa durch Verweis auf den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz oder die Klarstellung, daß auch die fehlerhafte Tatsachenermittlung Rechtsanwendungsfehler begründen könne, als Rechtsfehler konstruieren. Denn dann hätte es keinen überzeugenden Grund mehr gegeben, die Überprüfung durch die Gerichte für ausgeschlossen zu erklären. Die Unklarheit des Rechtsstatus der Ermessensfehler ist also kein Zeichen nachlässiger Systematisierung, sondern nur die Konsequenz eines rechtspolitischen Kalküls. Von ihrem Charakter rechtspolitischer Streitschriften geprägt, münden die rechtsstaatlichen Ansätze der sechziger Jahre noch nicht in eine Ermessensdogmatik, sondern bereiten sie nur vor. Sie umreißen deren Hauptprobleme - die Interpretation unbestimmter Begriffe, die Verhältnisbestimmung von Auslegung, Tatsachenfeststellung und Subsumtion und die Differenzierung von Rechts- und Ermessensfehlern - und entwickeln erste Lösungsversuche. Eine Ausarbeitung dieser Ansätze wird erst unternommen, als die Verwaltungskontrolle mit dem Erlaß der Verwaltungsgerichtsgesetze auf eine positivrechtliche Grundlage gestellt wird. Diese Gesetze institutionalisieren den in den sechziger Jahren vorgezeichneten Kompromiß einer aus der Verwaltung verselbständigten, justizförmigen Verwaltungsrechtsprechung. Sie übernehmen außerdem die Gegenüberstellung von freiem Verwaltungsermessen und positiver Rechtsschranke sowie, für die oberste Instanz, regelmäßig auch die Beschränkung auf die Auslegungskontrolle. Das weitergehende Anliegen F. F. Mayers und v. Gneists, die ergänzende Einbeziehung der Ermessenskontrolle, kann sich langfristig nicht durchsetzen. Bei aller Verschiedenheit der Ausgestaltung im einzelnen stimmten die Verwaltungsgerichtsgesetze in der Tendenz überein, Entscheidungen über fehlerhaften Ermessensgebrauch schon von der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte auszunehmen.

2. Das freie Ermessen als Grund für die Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte 147 Die Verwaltungsgerichtsgesetze der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts verwirklichen einen Kompromiß zwischen liberaler Rechtsschutzforderung und konservativem Beharren auf einem abgeschirmten Machtbereich der Verwaltung. Frühere Bestrebungen der Liberalen, gleich nach dem Ende der Reaktionszeit eine Verbesserung des Verwaltungsrechtsschutzes zu erreichen, hatten nur in Baden zum Erfolg geführt. Dort regierte seit 1860 ein gemäßigt-liberales Kabinett, gestützt auf eine liberale Kammermehrheit. 148 Allerdings wurde auch in Ba147 Vgl. den Titel des kritischen Beitrags von Tezner: „Zur Lehre von dem freien Ermessen der Verwaltungsbehörden als Grund der Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte", Wien 1888. 148 Huber, Verfassungsgeschichte, 3. Bd., 3. Aufl., S. 197 f.

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den der Verwaltungsrechtsschutz zunächst vor allem in den sogenannten Parteistreitigkeiten, d. h. Streitigkeiten im Gleichordnungsverhältnis zwischen Bürgern oder Gemeinden gewährt. 149 Streitigkeiten im Staat-Bürger-Verhältnis bilden im Zuständigkeitskatalog die Ausnahme. 150 In den übrigen Staaten waren die nach der Reaktionszeit wieder einsetzenden Bemühungen um Rechtsschutzverbesserungen teils an der Tradition der französisch geprägten Verwaltungsjustiz gescheitert, 151 teils hatten sie die Niederlage der Liberalen in den Verfassungskonflikten geteilt, in denen die Regierungen den Streit über die Machtverteilung im nachrevolutionären konstitutionellen Staat zunächst für sich entscheiden konnten. 152 Im übrigen wurde die Diskussion über Verwaltungsreformen seit Mitte der sechziger Jahre von der nationalen Entwicklung, der Durchsetzung der „kleindeutschen" Einigung unter preußischer Vorherrschaft, in den Hintergrund gedrängt. 153 Die Konsolidierung der staatsrechtlichen Lage und die vorläufige Beilegung der innenpolitischen Konflikte im nationalliberalen Kompromiß waren die Voraussetzungen für eine aussichtsreiche Wiederaufnahme der Reformdiskussion. Aus politischer Sicht ist der Erlaß der Gesetze eine Gegenleistung konservativer Regierungen für die Kooperationsbereitschaft der ehemaligen Opposition. So wurden in Preußen die Verhandlungen über die Verwaltungsreform und die Verwaltungsrechtspflege wieder aufgenommen, nachdem die Zustimmung zur Indemnitätsvorlage 1866 die realpolitische Wandlung vieler oppositioneller Liberaler zu staatstragenden, kompromißbereiten Nationalliberalen signalisierte. 154 In Württemberg gelang es 1875, die vom Geheimen Rat in Fortentwicklung der französischen Administrativjustiz geübte Praxis zu kodifizieren. In Bayern wurden die Reformgesetze der Regierung nach zehnjähriger Auseinandersetzung von der Volks149 Vgl. § 1 Abs. 4, §§ 5 und 15 des Verwaltungsgesetzes vom 05. 10. 1863; dazu Bühler, Öffentliche Rechte, S. 466 f.; Weizel, S. 157 ff., 170 ff., 195 ff.; zur Genese vgl. ebd., S. 103 ff. 150 So war der Verwaltungsgerichtshof gem. § 15 des Gesetzes v. 05. 10. 1863 in erster Instanz zuständig für Streitigkeiten betreffend die Teilnahme an der staatlichen Witwen- und Pensionskasse, den Anspruch auf das badische Staatsbürgerrecht sowie die Pflicht zur Erstattung der Kosten polizeilicher Ersatzvornahme und die Gültigkeit der Auferlegung polizeilicher Ungehorsamsstrafen gem. §§ 30 f. badPolStrGB. Zur erstinstanzlichen Zuständigkeit der Bezirksverwaltungsgerichte gehörten gem. § 5 des Gesetzes Steuer- und Heimat- oder Armenrechtsstreitigkeiten (Bühler, Öffentliche Rechte, S. 466 f. m. Fn. 295). ist Göz, S. 30 ff.; Poppitz, AöR N.F. 33 (1943), 164 ff.; Rüfner, Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 910 ff. 152 E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 262 ff.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 370 f.; Heffter, S. 410 f. Außerdem vgl. zu Preußen Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3. Bd., 3. Aufl., S. 290 ff. und Stump, S. 26; zu Kurhessen Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Bd., 3. Aufl., S. 908 ff. und 3. Bd., 3. Aufl., S. 436 ff.; zu Bayern v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 573 f.; zu Sachsen Bühler, Öffentliche Rechte, S. 414 f.; zur Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Kleinstaaten Bühler, Öffentliche Rechte, S. 494 ff.; Rüfner, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 910 ff. 153 E. Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden, S. 262 ff.; Stump, S. 26. 154 Stump, S. 26 f.

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Vertretung abgetrotzt. 155 Die fast gleichzeitige Durchsetzung der Verwaltungsgerichtsgesetze in den deutschen Einzelstaaten legt nahe, daß ihr Erlaß mehr als nur eine innenpolitische Versöhnungsleistung war. Sie trug darüber hinaus der Entwicklung von der Agrar- zur Industriegesellschaft Rechnung, die durch die Wirtschaftspolitik des Zollvereins eingeleitet, durch die Wirtschaftsgesetzgebung des Norddeutschen Bundes forciert und durch Preußens Hegemonialpolitik nach 1866 auch den bei ihm verschuldeten süddeutschen Staaten aufgezwungen worden war. 156 Die Neuorganisation der Verwaltung und die Gewährleistung eines Verwaltungsrechtsschutzes konnten sich innerhalb weniger Jahrzehnte in ganz Deutschland durchsetzen, weil die Staaten sich angesichts der voranschreitenden Industrialisierung nicht mehr darauf beschränken konnten, die bürgerliche Gesellschaft freizusetzen, sondern regelnd und unterstützend eingreifen mußten. 157 Die Stellung des Einzelnen, mehr und mehr von staatlicher Gewährung und staatlichem Schutz abhängig, mußte vor regelwidrigen Zugriffen seitens der Verwaltung gesichert werden. Die Entwicklung neuer Techniken, der Aufstieg der chemischen und der Elektroindustrie, die Konzentration und Verflechtung von Schwerindustrie und Banken und die Verstädterung und Proletarisierung großer Bevölkerungsgruppen 1 5 8 forderten nicht nur eine Erweiterung und Differenzierung behördlicher Eingriffsbefugnisse, 159 sondern auch Rechtssicherheit für die betroffenen Bürger, für Unternehmer, Investoren und die sozial Abhängigen, denen die Gesellschaftsordnung nach der Zerschlagung ständischer Strukturen keinen Schutz mehr bot. Diese Rechtssicherheit war ohne eine Ausdifferenzierung von Verwaltung und Verwaltungskontrolle nicht zuverlässig zu gewährleisten. 160 Die Regelung des Verwaltungsrechtsschutzes in den Verwaltungsgerichtsgesetzen übernahm das in den rechtsstaatlichen Ansätzen der sechziger Jahre vorbereitete Konzept einer gegenüber der aktiven Verwaltung organisatorisch verselbständigten Verwaltungsgerichtsbarkeit. Mit Einschränkungen bei der gerichtlichen Prüfungsbefugnis wurde das von v. Gneist entwickelte Modell zum Vorbild der preußischen und der daran angelehnten nord- und mitteldeutschen Gesetzgebung.161 Die 155 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 371; v. Seydel, Bayerisches Staatsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 573 f. 156 Böhme, S. 61. 157 Vgl. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 464 f. zur ausgedehnten Verwaltungsgesetzgebung; Ε. v. Meier, Sp. 1157 f.; Born, S. 485 ff.; zum Gewerberecht Funk, S. 160 ff. - Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 2. Bd., S. 89, stellt klar, daß der Staat des ausgehenden 19. Jahrhunderts keineswegs nur ein Eingriffsstaat war. Die Publizistik konzentrierte sich auf den Eingriffsaspekt nur, weil die Leistungsbeziehungen bereits mit dem zivilrechtlichen Instrumentarium zu bewältigen waren. 158 Dazu Böhme, S. 57 ff. 159 Zum Ausbau der staatlichen Polizei vgl. Funk, S. 226 ff., 240 f. 160 vgl. Weber, 1. Hbd., S. 252, 254 f., 646 ff. 161 Zusammenfassende Darstellungen bei v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 218 ff.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 271 ff. und ebd., S. 494 ff. zu Hessen, Braunschweig, Oldenburg, Anhalt, Sachsen-Meiningen, Lippe.

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süddeutschen Staaten knüpften an die Einrichtungen der aus der Rheinbundzeit überkommenen Verwaltungsjustiz an, die sie gerichtsförmig ausgestalteten.162 In den Verhandlungen über die Zuständigkeit und die Prüfungsbefugnis der Verwaltungsgerichte wird der alte Streit um die Zulässigkeit gerichtlicher Verwaltungskontrolle weitergeführt. Daß sich, entgegen v. Gneists Anliegen, langfristig die Unterscheidung von Rechts- und Ermessensfragen als Richtlinie der Zuständigkeitsabgrenzung durchsetzte, hatte nicht so sehr dogmatische als rechtspolitische Gründe. 1 6 3 Je mehr die organisatorische und personelle Einbindung der Verwaltungsgerichte in die Verwaltungshierarchie gelockert wurde, desto weniger erschien eine verwaltungsgerichtliche Ermessenskontrolle akzeptabel.164 Die obersten Instanzen, die nicht bloß als Verwaltungsbehörden in besonderer Zusammensetzung und besonderem Verfahren entschieden, sondern als echte Gerichte gegenüber der Verwaltung verselbständigt waren und volle richterliche Unabhängigkeit genossen, wurden grundsätzlich auf die Überprüfung von Rechtsfragen beschränkt. Soweit die Nachprüfung von Tatsachenfeststellungen nicht mit den Ermessensfragen ausgeklammert wurde, hielt man sie zumindest für besonderer Regelung bedürftig. Ein kurzer Überblick über die Zuständigkeitsregelungen der Verwaltungsgerichtsgesetze soll diese Feststellungen belegen und zeigen, wie sehr die Gesetze von dem engen Verständnis der Rechtskontrolle geprägt sind, das in den rechtsstaatlichen Ansätzen der sechziger Jahre entwickelt wurde. Der Überblick wird aber auch deutlich machen, daß die meist abstrakte und salvatorische Formulierung der Zuständigkeitsbeschränkungen der verwaltungsgerichtlichen Praxis und der Lehre genügend Spielraum ließ, die in der Gesetzgebung vernachlässigten Rechtsschutzforderungen in der Ausarbeitung der Ermessenslehre weiterzuverfolgen.

a) Der Ausschluß verwaltungsgerichtlicher Ermessenskontrolle

In Österreich, Württemberg und Sachsen wurde die Rechtswegeröffnung für Streitigkeiten im Subordinationsverhältnis durch Generalklauseln geregelt, die die Geltendmachung einer Individualrechtsverletzung durch den Betroffenen verlangten. Obwohl das Bestehen eines subjektiven Rechts regelmäßig schon für ausgeschlossen erachtet wurde, wenn die angefochtene Maßnahme eine Ermessensentscheidung der Verwaltung war, 165 stellten in Österreich und Württemberg jeweils 162 Rüfner, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 910, 915 ff. 163 Stump, S. 140 ff., 160 ff., 299 ff. für das Beispiel Preußens. 164 In der Literatur kritisierten gerade konservative Autoren die Einbeziehung der „Maßfragen" in die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit als inkonsequent und versuchten, mit dem Programm des Schutzes restriktiv verstandener Individualrechte einen möglichst engen Verwaltungsjustizbegriff durchzusetzen (vgl. ζ. B. v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 75 ff.; v. Stengel, SchmollersJB 1883,428 f.; Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 425,466 ff.). Diese Strategie war außerdem nützlich, um zu verhindern, daß die Ermessensfehlerlehre als Korrektiv für die eingeschränkte Kontrolle der Anwendung unbestimmter Tatbestandsmerkmale weiterentwickelt wurde.

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besondere Vorschriften den Ausschluß der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit bei Ermessensfragen klar. § 3 lit. e) des österreichischen Gesetzes vom 22. 10. 1875 166 bestimmte die Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes in „Angelegenheiten, in denen und insoweit die Verwaltungsbehörden nach freiem Ermessen vorzugehen berechtigt sind". Art. 13 S. 2 des württembergischen Gesetzes vom 16. 12. 1876 erklärte die Rechtsbeschwerde zum Verwaltungsgerichtshof für „ausgeschlossen, ... wenn und soweit die Verwaltungsbehörden durch das Gesetz nach ihrem Ermessen zu verfügen ermächtigt sind". Daß danach nicht, wie der Wortlaut vermuten läßt, eine ausdrückliche gesetzliche Ermessenseinräumung vorliegen mußte, ergab sich aus den Motiven. 167 Der Tradition entsprechend, sollte das Fehlen gesetzlicher Ermessensschranken genügen. Die Motive verwiesen dazu auf die Praxis der Verwaltungsrechtsprechung des Geheimen Rates, die sich auf § 60 der württembergischen Verfassung von 1819 stützte, und auf die Parallelregelung in Österreich. Die Exemtion jeglicher Ermessensfragen wurde als in der Natur der Sache liegend dargestellt. Schutz sollte nur gegen gesetzwidrige Maßnahmen, nicht gegen fehlerhafte Ermessensausübung gegeben werden. 168 In der Zuständigkeitsregelung des sächsischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 19.07.1900 169 wurde der ausdrückliche Ausschluß von Ermessensfragen bereits für überflüssig gehalten. Er ergab sich aus § 76 des Gesetzes, der die Anfechtungsgründe abschließend regelte. 170 Danach konnte die Anfechtungsklage „nur darauf gestützt werden: 1. dass das bestehende Recht nicht oder nicht richtig angewendet worden sei und die angefochtene Entscheidung hierauf beruhe; 2. dass in dem Verfahren, welches der angefochtenen Entscheidung vorausgegangen ist, eine wesentliche Formvorschrift unbeachtet gelassen worden sei." In jedem Fall war also ein Verstoß gegen eine Rechtsnorm geltend zu machen; die Berufung auf willkürliche Ermessensausübung genügte nicht. In den übrigen Staaten, in denen die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte auch für Streitigkeiten im Subordinationsverhältnis enumerativ geregelt wurde, führte die Zuständigkeitsabgrenzung keine strenge Trennung nach Rechts- und Ermessensfragen durch. Die Kompetenzkataloge wurden je nach Interessenlage und poli165 Hohl, S. 55 f., 121 ff.; v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 266 f.; vgl. v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 590. 166 Öst. RGBl. 1976, Nr. 36. 167 Hohl, S. 33 ff., 46 ff. 168 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 266 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 324. 169 Sächs. GVB1. 1900, S. 486. Daß das Gesetz erst 1900 zustandekam, ist darauf zurückzuführen, daß nicht nur die Regierung, sondern auch die Erste Kammer trotz dringender Forderungen der Liberalen (vgl. z. B. Leuthold, Hirths Ann. 1884, 418 ff.) bis zum Ende des 19. Jahrhunderts jede Rechtsschutzreform verweigerte (Bühler, Öffentliche Rechte, S. 414 f.). Bis zur Jahrhundertwende wurde eine 1873 neu geregelte Verwaltungsjustiz nach französischem Muster praktiziert (Verwaltungsorganisationsgesetz v. 21. 04. 1873, dazu v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 245). no Dazu Apelt, 2. Aufl., S. 32 ff., 57 f.

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tischem Kräfteverhältnis ausgehandelt und umfaßten weder alle Rechtsfragen, noch schlossen sie Ermessensfragen völlig aus. In Preußen waren den Verwaltungsgerichten auch Ermessensentscheidungen zur Überprüfung zugewiesen. Die Kontrolle war dabei nicht durchweg auf die Rechtsund Tatfragen beschränkt, sondern erstreckte sich bei mehreren Gegenständen zunächst auch auf die Notwendigkeit, Angemessenheit und Zweckmäßigkeit der Maßnahmen. So hatten die Verwaltungsgerichte über die Notwendigkeit von Schul- und Wegebauten zu entscheiden171 und die teils ins Verwaltungsermessen gestellte Zurücknahme von Gewerbekonzessionen sowie die Untersagung nicht konzessionspflichtiger Gewerbe auf Rechts- und Ermessensfehler zu überprüfen. 1 7 2 Außerdem fiel in die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit gem. § 80 der Kreisordnung vom 13. 12. 1872 173 auch die Kontrolle polizeilicher Verfügungen. Neben der Frage, ob die Ausgangsverfügung „gesetzwidrig oder unzulässig" sei, 17 4 konnte auch die polizeiliche Anordnung und Festsetzung einer Ungehorsamsstrafe kontrolliert werden. Dabei sollte insbesondere „die Angemessenheit des auferlegten Zwangs oder der angedrohten Strafe" überprüft und festgestellt werden, „ob nicht das Zwangsmittel außer Zusammenhang oder in einem zweckwidrigen oder in einem offenbar über das Ziel hinausschreitenden Verhältnis zu der zu erzwingenden Handlung stehe". 175 Noch § 155 des Kompetenzgesetzes vom 29. 06. 1875 176 gestattete bei Klagen gegen baupolizeiliche Verfügungen eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Zweckmäßigkeit und Angemessenheit der Maßnahme. Andererseits waren in Preußen praktisch bedeutsame Rechtsfragen, wie die Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Konzessionierung gewerblicher Anlagen, der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle entzogen.177 Schon ein Ermessenselement der Entscheidung sollte ausreichen, um die verwaltungsgerichtliche Kontrolle auszuschließen. Das führte dazu, daß auch die Rechtsgrenzen der Ermessensentscheidung nur verwaltungsintern, im Beschlußverfahren, überprüft werden konnten. 178 Die Möglichkeit, Beschlußentscheidungen wegen 171 §§ 135 KrO, §§ 78 Abs. 1 Nr. 1, 175 KompG (s.u. S. 127, Fn. 176); dazu Stump, S. 143 m. Fn. 20. 172 §§ 119-121 KompG; dazu O. Müller, S. 12. 173 Preuß. GS 1872, S. 661. 174 Gem. § 80 III KrO war diese Frage von den Verwaltungsgerichten im Rahmen ihrer Vorfragenzuständigkeit für einen vor den ordentlichen Gerichten auszutragenden Amtshaftungsprozeß zu klären. 175 Bericht der Kompetenzkommission, Stenographische Berichte des Abgeordnetenhauses, 12. Legislaturperiode, 3. Session 1876, Ani. III, Nr. 230, S. 1453 (zit. n. Stump, S. 184 m. Fn. 24). 176

Gesetz betreffend die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden und der Verwaltungsgerichtsbehörden im Geltungsbereiche der Provinzialordnung vom 29. 06. 1875, in Kraft getreten am 26. 07. 1878 (Preuß. GS 1876, S. 297); hier abgekürzt mit „KompG", zur Unterscheidung vom späteren Zuständigkeitsgesetz vom 01. 08. 1883 (Preuß. GS 1883, S. 237). 177

Vgl. §§ 123 bis 125 KompG, dazu Stump, S. 144. 178 Stump, S. 143 f.

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Gesetzwidrigkeit anzufechten und auf diesem Weg doch noch zu einer Rechtmäßigkeitskontrolle zu kommen, blieb gem. § 178 der Kreisordnung vom 13. 12. 1872, 179 § 118 der Provinzialordnung vom 29.06. 1875 180 und § 126 des Landesverwaltungsgesetzes vom 30. 07. 1883 181 einer Verwaltungsbehörde, dem Oberpräsidenten, vorbehalten. Die 1876 von der Fortschrittspartei geforderte Erstreckung der Klagebefugnis auf den betroffenen Bürger konnte nicht durchgesetzt werden. 182 Ein System läßt sich den unterschiedlichen Zuordnungen verschiedener Ermessensentscheidungen nicht entnehmen. Die jeweilige Kompetenzzuweisung resultiert hauptsächlich aus rechtspolitischen und pragmatischen Erwägungen und spiegelt das politische Kräfteverhältnis zum Zeitpunkt der gesetzgeberischen Entscheidung.183 Dogmatische Überlegungen sind zweitrangig und werden regelmäßig nur zur Rechtfertigung der auf anderem Wege gefundenen Entscheidung benutzt. 184 In Bayern war die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte auf die in Art. 8 und 10 des Gesetzes vom 08. 08. 1878 185 aufgezählten Materien beschränkt. Im Katalog des Art. 8 waren ihnen allerdings auch Angelegenheiten zugewiesen, bei denen nicht nur Rechts-, sondern auch Ermessensfragen zu entscheiden waren. 186 Die Eingangsklausel, nach der „Verwaltungsrechtssachen im Sinne dieses Gesetzes alle bestrittenen Rechtsansprüche und Verbindlichkeiten in nachbenannten Angelegenheiten" waren, wurde nicht dahin ausgelegt, daß die Prüfung auf die Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt sein sollte. 187 Denn für die mittlere Instanz schrieb Art. 31 Abs. 3 des Verwaltungsgerichtsgesetzes ausdrücklich vor, daß Ermessensfragen ebenso überprüft werden sollten wie Rechtsfragen. Nach allgemeiner Auffassung war die Prüfungsbefugnis der unteren Instanzen analog zu bestimmen. 188 Im Großherzogtum Hessen wurden den Verwaltungsgerichten der Unter- und Mittelinstanz durch Art. 48 f. des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 12. 05. 1874 189 sowohl Rechts- als auch Ermessensfragen zur Entscheidung zugewiesen.190 179 S.o. Fn. 173. 180 Preuß. GS 1875, S. 335. 181 Gesetz über die allgemeine Landesverwaltung (LVG) vom 30. 07. 1883 (Preuß. GS S. 195). 182 Stump, S. 144 ff. 183 Stump, S. 160 ff., bes. 164. 184 Stump, S. 179, 299 ff. 185 Bayr. GVB1. 1878, S. 369. 186 Z.B. Art. 8 Nr. 8 des Gesetzes, der die Verwaltungsgerichte für zuständig erklärte, über die „Befugnis zum Gewerbebetrieb auf Grund der Gewerbeordnung in jenen Fällen (sc.: zu entscheiden), in welchen das in den §§ 20, 21 GewO vorgesehene Verfahren einzutreten hat". Damit waren vor allem Gewerbekonzessionsangelegenheiten und Gewerbeuntersagungen erfaßt, für die §§ 20, 21 RGewO eine Verfahrensgarantie bot. 187 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 375 f. 188 Reger/Dyroff, 4. Aufl., S. 206. 189 Hess. RegBl. 1874, S. 251.

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Für die unabhängigen obersten Verwaltungsgerichte und allgemein in Polizeiangelegenheiten setzte sich aber auch in den Staaten, die die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit ausschließlich nach dem Enumerativsystem bestimmten, eine Zuständigkeitsbeschränkung auf die Rechtskontrolle durch. In Bayern und Hessen wurde der Grundsatz für die oberste Instanz, die verwaltungsunabhängigen Verwaltungsgerichtshöfe, von Anfang an strikt durchgeführt. Nach Art. 13 Abs. 3 des bayerischen Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 08. 08. 1878 191 erstreckte sich die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes nicht „auf Angelegenheiten und Fragen, in welchen die Verwaltungsbehörden nach ihrem Ermessen zu verfügen berechtigt sind." Art. 67 der hessischen Kreis- und Provinzialordnung vom 12. 06. 1874 192 ging noch einen Schritt weiter und schloß auch die Tatfrage aus. Er bestimmte, daß die Mittelinstanz, der Provinzialausschuß, im Rechtsmittelzug „über die einschlägigen Thatsachen- und Zweckmäßigkeitsfragen endgültig entscheidet." Der Rekurs an das oberste Verwaltungsgericht war nur zugelassen, soweit „behauptet (sc.: wurde), daß wesentliche Vorschriften in Bezug auf das Verfahren nicht beobachtet oder Bestimmungen des geltenden Rechts, der Gesetze oder Verordnungen verletzt oder unrichtig angewendet worden seien, oder daß die Zuständigkeit des Kreis- bzw. Provinzialausschusses zur Entscheidung der von ihnen entschiedenen Fragen nicht begründet sei." Diese Regelung wurde in Art. 5 Nr. 1 des Gesetzes über den Verwaltungsgerichtshof vom 11. 01. 1875 193 und Art. 84 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 19. 07. 1911 194 im Wesentlichen übernommen. 195 In Polizeisachen führte Hessen darüber hinaus in Art. 66 Abs. 2 und 5 der Kreis- und Provinzialordnung vom 12. 06. 1874 196 eine allgemeine Beschränkung der Prüfungsbefugnis auf die Rechtskontrolle ein. Die Anfechtung konnte nur darauf gestützt werden, daß die angefochtene Verfügung gesetzwidrig oder unzulässig war. Diese Regelung wurde durch § 66 Abs. 5 des hessischen Gesetzes vom 19. 07. 1911 197 auf alle Verwaltungsverfügungen ausgedehnt. Das preußische Oberverwaltungsgericht war auf die Prüfung der Rechtsfrage beschränkt, soweit es, seiner Hauptaufgabe entsprechend, 198 als Revisionsgericht ent190 Vgl. die umfassende Zuständigkeit in gewerberechtlichen Angelegenheiten gem. Art. 48 Abs. 3 Nr. 12 und 13 sowie Art. 49 Nr. 6 des Gesetzes. 191 S.o. Fn. 185. 192 Gesetz-Sammlung für das Großherzogtum Hessen 1819-1905,1. Bd., S. 579 ff. 193 Gesetz-Sammlung für das Großherzogtum Hessen 1819-1905, 2. Bd., S. 1 ff. 194 Hess. RegBl. 1911, S. 324. 195 Dazu v. Calker, S. 83. 196 S.o. Fn. 192. 197 S.o. Fn. 194. 198 Stump, S. 37; vgl. §§ 17 ff. VGG (Gesetz betreffend die Verfassung der Verwaltungsgerichte und das Verwaltungsstreitverfahren v. 03. 07. 1875/02. 08. 1880, Preuß. GS 1880, S. 328), sowie § 157 LVG. Wegen der Ausgestaltung des Oberverwaltungsgerichts als Revisionsgericht wurde auf eine Laienbeteiligung verzichtet.

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schied. Urteilte es als Berufungsgericht, entsprach seine Prüfungsbefugnis der der unteren Instanzen.199 Auch deren Kompetenz wurde aber seit Mitte der siebziger Jahre zunehmend auf die Rechtskontrolle beschränkt. In dem Maß, in dem der Zuständigkeitskatalog um neue Gegenstände erweitert und der Geltungsbereich der Verwaltungsgerichtsgesetze vom konservativen, ländlichen Raum auf die Städte ausgedehnt wurde, fanden sich Mehrheiten dafür, die verwaltungsgerichtliche Kontrolle in politisch brisanten Ermessensfragen zurückzunehmen. 200 In den parlamentarischen Verhandlungen über das Kompetenzgesetz von 1875/76 2 0 1 wurde erstmals die Abgrenzung von Rechts- und Ermessensangelegenheiten als Leitlinie für die Zuweisung entweder zum justizförmigen Verwaltungsstreitverfahren oder zum verwaltungsinternen Beschlußverfahren proklamiert. 202 Konsequent durchgeführt wurde sie einstweilen nur für den politisch wohl wichtigsten Bereich, die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Polizeimaßnahmen. Weil die Regierungsfraktion eine unabhängige verwaltungsgerichtliche Kontrolle polizeilicher Ermessensentscheidungen gerade in den Städten nicht hinnehmen mochte, 203 die Liberalen sich aber auch nicht mit einer bloßen Revisionszuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts zufriedengeben wollten, 204 einigte man sich auf einen Kompromiß. Nach § 30 des Kompetenzgesetzes von 1875/76 2 0 5 durften im Verwaltungsstreitverfahren künftig nur noch die Rechts- und Tatfrage geprüft werden. Die darüber hinausgehende Überprüfung von Ermessensentscheidungen wurde dem verwaltungsinternen Beschlußverfahren vorbehalten. Beide Verfahren wurden dem Betroffenen zur Wahl gestellt. Diese Regelung wurde im Wesentlichen unverändert in §§ 63 ff. des Organisationsgesetzes vom 26. 07. 1880 206 und schließlich in §§ 127 bis 130 Abs. 1 des Landesverwaltungsgesetzes von 1883 aufgenommen. Sie bestimmte, von vereinzelten, spezialgesetzlichen Ausnahmen abgesehen,207 den preußischen Rechtsschutz gegen Polizeimaßnahmen208 bis zur Reformgesetzgebung von 1931. 209 W. Jellinek konnte 1913 rückblickend feststellen, daß „der Entwickel t Bühler, Öffentliche Rechte, S. 288 m. Fn. 48; Beispiele ebd., S. 281 ff. (ζ. B. Zurücknahme von Gewerbekonzessionen gem. § 53 RGewO, Zurücknahme der Eisenbahnkonzession aufgrund des Gesetzes vom 28. 07. 1892). 200 stump, S. 141 f., 188 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 292 f.; O. Müller, S. 94 f.; zum politischen Hintergrund vgl. Heffter, S. 605 ff., 704 ff. 201 S.o. Fn. 176. 202 Stump, S. 140. 203 o. Müller, S. 94 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 292 f. 204 Stump, S. 194 f. m. Fn. 31 f. 205 S.o. Fn. 176. 206 Preuß. GS 1880, S. 291. 207 Dazu Stump, S. 173 f. m. Fn. 37, S. 216 ff. Es handelt sich hauptsächlich um wege-, bau-, jagd- und wasserpolizeiliche Angelegenheiten. 208 Die direkte Kontrolle der Polizeiverfügung Schloß eine inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit einer etwa zugrundeliegenden Polizeiverordnung mit ein; vgl. Rosin, 2. Aufl., S. 299 f.; eine Zusammenstellung der in den Einzelstaaten geltenden Regelungen zur Kontrolle von Polizei Verordnungen findet sich bei W. Jellinek, Gesetz, S. 3 m. Fn. 9-14.

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lungsgang ... zu einer Befreiung der preußischen Verwaltungsgerichte von der Ermessensfrage" neigte und es im Zuständigkeitsbereich des Oberverwaltungsgerichts schwer wurde, „auch nur einen einzigen Fall des freien Ermessens zu entdecken" 210 Die Bemühungen, den Ermessensspielraum der Verwaltung vor dem Zugriff unabhängiger gerichtlicher Kontrolle zu sichern, wurden durch eine Revision der Gerichtsverfassung flankiert, die die Unabhängigkeit der verwaltungsgerichtlichen Mittelinstanz beseitigte und den Einfluß der Verwaltung auf die gerichtliche Entscheidung verstärkte. 211 Diese Neuregelungen bezeichnen das Ende des nationalliberalen Einflusses auf die preußische Rechtspolitik. 212 Die Liberalen hatten innenpolitisch an Boden verloren, weil sie für die 1873 einsetzende schwere Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurden. In der Auseinandersetzung um die Schutzzollpolitik spaltete sich die nationalliberale Partei; bei den Wahlen von 1879 verlor sie die Hälfte ihrer Sitze im Abgeordnetenhaus. Bismarck konnte danach auf das Bündnis mit den Liberalen, das die Reichspolitik mitgetragen und die Verwaltungsreformgesetze ermöglicht und geprägt hatte, verzichten. Er fand bei den Konservativen, den Freikonservativen und schließlich auch beim Zentrum eine ausreichende Mehrheit, die konservative Wende in der Wirtschafts- und Innenpolitik durchzusetzen. Die Ära liberaler Reformen wurde abgelöst durch eine Zeit verwaltungsrechtspolitischer Stagnation. Die Übernahme der Zuständigkeitsabgrenzung nach Rechts- und Ermessensfragen in der Reform des badischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes 1884 paßte die 1864 geschaffene Rechtslage an die inzwischen in Preußen und Süddeutschland geltenden Regelungen an. Das badische Gesetz vom 14. 06. 1884 213 erstreckte die verwaltungsgerichtliche Kontrolle auch auf Streitigkeiten im Subordinationsverhältnis. In die Zuständigkeitskataloge der §§ 2 und 3 des Gesetzes sind fast ausschließlich rechtlich gebundene Entscheidungen aufgenommen. Eine Ausnahme bildet die Zuständigkeit in Auseinandersetzungsstreitigkeiten gem. § 3 Nr. 10 des 209 v. Brauchitsch, 1. Bd., 23. Aufl., S. 113 ff., 117 f.; Friedrichs, Landesverwaltungsgesetz, S. 301 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 309, Fn. 75; W. Jellinek, Gesetz, S. 117 f., Fn. 28; Stump, S. 120 ff. - Wie das Landes Verwaltungsgesetz, schränkte auch das gleichzeitig erlassene neue Zuständigkeitsgesetz vom 01. 08. 1883 (GS S. 237; vgl. o. Fn. 176 a.E.) die verwaltungsgerichtliche Ermessenskontrolle weitgehend ein. 210 w. Jellinek, Gesetz, S. 198 ff. m. Fn. 100, wo als Ausnahmen Ansiedlungssachen und Entscheidungen über Diensteinkommen der Lehrer in der Stadt Berlin aufgezählt werden; vgl. auch G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 47, Fn. 4, der dieselbe Tendenz feststellt. Bei O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 168, Fn. 14 sind die den Unterinstanzen verbleibenden Entscheidungszuständigkeiten in Ermessensangelegenheiten aufgezählt. Sie betreffen hauptsächlich die Schul- und Wegebaulast sowie einige wasserrechtliche Entscheidungen, die später überwiegend als Rechtsfragen eingeordnet werden (vgl. W. Jellinek, Gesetz, S. 198; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 284 f. m. Fn. 43). 211 Die Bezirksverwaltungsgerichte wurden mit den mittleren Verwaltungsbehörden, den Bezirksräten, zusammengelegt und als Bezirksausschüsse den Regierungspräsidenten unterstellt (vgl. §§ 28 ff. LVG; dazu ausführlich Stump, S. 39 ff., 65 f.). 212 Dazu und zum folgenden Stump, S. 31 ff. 213 Bad. GVB1. 1884, S. 197.

I. Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze

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Gesetzes. Die Beschränkung auf die Überprüfung von Rechtsfragen wurde auch von der späteren badischen Gesetzgebung im wesentlichen beibehalten.214 Die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ist gem. § 4 des Gesetzes nur für vier Fallgruppen begründet 215 und gem. § 4 Abs. 2 bis 4 des Gesetzes auf die Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt. In § 4 Abs. 4 wird die Unzuständigkeit für Ermessensfragen ausdrücklich geregelt: „Insoweit die Behörden innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit nach Ermessen im Sinn des Gesetzes zu verfügen berechtigt sind, findet die Klage nicht statt." Diese Klausel wurde in Anlehnung an die entsprechenden Bestimmungen des württembergischen und bayerischen Rechts formuliert. 216 Die Bezugnahme auf das Gesetz wurde dabei ebensowenig wie in Württemberg als Erfordernis gesetzlicher Ermessenseinräumung verstanden. Sie verlangte nur, daß das Gesetz dem Ermessen der Verwaltungsbehörden noch Raum ließ. Der Vorbehalt behördlicher Zuständigkeit erinnerte daran, daß diese Rechtsgrenze auch bei Ermessensentscheidungen bestand. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Zuständigkeit der unabhängigen obersten Verwaltungsgerichte sowohl bei generalklauselartiger als auch bei emumerativer Kompetenzzuweisung grundsätzlich auf die Rechtmäßigkeitskontrolle, zum Teil sogar nur auf die revisionsartige Prüfung von Rechtsfragen beschränkt war. 217 Die Ausübung des Verwaltungsermessens wird dagegen der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung entzogen. Für die unteren, noch mit der Verwaltung verflochtenen Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit war der Ausschluß der Ermessenskontrolle nur in Österreich, Württemberg und Sachsen ausnahmslos verwirklicht. Wegen der generalklauselartigen Rechtswegeröffnung galt dort die Zuständigkeitsbeschränkung für alle Instanzen. Preußen und Hessen führten die generelle Beschränkung auf die Rechtmäßigkeitskontrolle nur für Polizeiverfügungen ein; zumindest in Preußen war diese Einschränkung der Prüfungsbefugnis der Preis für die landesweite Ausdehnung der Rechtsschutzgewährung in Polizeisachen. In Baden erübrigte sich eine entsprechende Regelung, weil für Klagen gegen Polizeimaßnahmen ohnehin nur der - von vornherein auf die Rechtskontrolle beschränkte - Verwaltungsgerichtshof zuständig war. Die grundsätzliche Beibehaltung der Ermessenskontrolle in den unteren Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Sonderregelung des Rechtsschutzes gegen Polizeimaßnahmen in Preußen zeigen, daß der Ausschluß von Ermessensfragen aus der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit nur vordergründig als Frage begrifflicher Konsequenz 214 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 474 m. Fn. 307; Rüfner, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 916. 215 Die wichtigsten sind die Individualrechtsverletzungen durch Polizeiverfügungen (§ 4 Abs. 1 Nr. 1) und die Rechtskontrolle von Kommunalaufsichtsverfügungen (§ 4 Abs. 1 Nr. 2). Die Zuständigkeit in gewerberechtlichen Angelegenheiten ist in § 4 Abs. 5 Nr. 3 weitgehend ausgeschlossen. 216 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 473. 217 Zur Abgrenzung von Rechtsfragen- und Tatfragenprüfung ausführlich sogleich Β. I. 2. b).

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

behandelt wurde, tatsächlich aber Politikum war. Wo die organisatorische und personelle Einbindung der Verwaltungsgerichte in die Verwaltungshierarchie nicht mehr gewährleistet war, erschien eine Überprüfung der Ermessensausübung nicht mehr akzeptabel. Während sich der Ausschluß von Ermessensfragen aus der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit damit weitestgehend durchgesetzt hat, regeln die Landesgesetze die Einbeziehung von Tatfragen in die verwaltungsgerichtliche Überprüfung sehr unterschiedlich.

b) Die Sonderstellung der Tatsachenkontrolle

Auffällig ist, daß mehrere Staaten die unabhängigen obersten Gerichte als Revisionsinstanzen ausgestalteten und ihnen nicht nur die Kontrolle der Ermessensausübung, sondern auch die Überprüfung der Tatfragen vorenthielten. Die Beschränkung der obersten Instanz auf die Überprüfung von Rechtsfragen findet sich im preußischen, österreichischen, bayerischen und hessischen Recht. Das preußische Oberverwaltungsgericht war seit 1883 nahezu ausschließlich als Revisionsgericht für Entscheidungen der Bezirksausschüsse tätig. Die in der Praxis vielleicht wichtigste Durchbrechung war seine Zuständigkeit zur letztinstanzlichen Entscheidung polizeirechtlicher Streitigkeiten gem. § 127 Abs. 3, § 128 Abs. 1, 2 LVG. 2 1 8 Dabei und bei Berufungsklagen gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Bezirksausschüsse hatte das Oberverwaltungsgericht nicht nur die Rechts-, sondern auch die Tatfrage zu prüfen. Dies erwies sich später als tragfähige Grundlage für die vom preußischen Oberverwaltungsgericht entwickelte Konkretisierung des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs und die Entwicklung der Verhältnismäßigkeitskontrolle aus dem Verbot des Befugnismißbrauchs. 219 In Österreich ergab sich die prinzipielle Beschränkung des Verwaltungsgerichtshofes auf die Überprüfung von Rechtsfragen daraus, daß § 6 des Gesetzes vom 22. 10. 1875 den Verwaltungsgerichtshof grundsätzlich an die Tatbestandsfeststellung der Verwaltungsbehörden band und ihm die Zurückverweisung zur weiteren Sachverhaltsaufklärung nur gestattete, wenn der vorgelegte Tatbestand „aktenwidrig" war - sich ein abweichender Sachverhalt also schon aus den Akten ergab - oder der Tatbestand in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften gewonnen worden war. Eine ähnliche Regelung traf Art. 40 Abs. 1, 2 des bayerischen Gesetzes vom 08. 08. 1878, wonach der Verwaltungsgerichtshof aufgrund des von den Vorinstanzen erhobenen Sachverhaltes zu entscheiden hatte. Er konnte allerdings eine Ergänzung des Beweismaterials durch die Vorinstanzen 218

Bei § 127 Abs. 3 LVG handelt es sich um die „Schlußklage" gegen die letztinstanzliche Entscheidung der Beschlußbehörden im Beschwerdeweg; bei § 128 Abs. 1, 2 LVG um die sogenannte „Wahlklage", die alternativ zur Beschwerde gegen Polizeimaßnahmen zulässig war. 219 Dazu ausführlich s.u. Β. II. 2. b) aa) bbb).

I. Rechtsstaatslehren und Verwaltungsgerichtsgesetze

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veranlassen, wenn dies zur Entscheidung erforderlich war. In Hessen folgte die Beschränkung des Verwaltungsgerichtshofes auf die Kontrolle von Rechtsfragen aus der Regelung des Art. 67 des Gesetzes vom 12. 06. 1874, die in Art. 84 des Gesetzes vom 19. 07. 1911 übernommen wurde. 220 Dagegen setzten sich Sachsen, Baden und Württemberg von der Tendenz, das oberste Verwaltungsgericht auf die Revision zu beschränken, ausdrücklich ab. Im Anschluß an die Normierung der Anfechtungsgründe, d. h. die Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts oder die Mißachtung einer wesentlichen Verfahrens- oder Formvorschrift, bestimmt § 76 des sächsischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 19. 07. 1900, daß bei der Rechtmäßigkeitsprüfung „auch die tatsächlichen Feststellungen der Nachprüfung des Oberverwaltungsgerichts (sc.: unterliegen), soweit sie auf die rechtliche Beurteilung der Sache von Einfluß sind." Nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 des badischen Gesetzes vom 14. 06. 1884 kann eine Verfügung, wie in Preußen die Polizeimaßnahme gem. §§ 127, 128 LVG, nicht nur wegen falscher Gesetzesanwendung aufgehoben werden, sondern auch, weil die tatsächlichen Voraussetzungen ihres Erlasses nicht vorlagen. Auch in Württemberg durfte der Verwaltungsgerichtshof gem. Art. 62 des Gesetzes vom 16. 12. 1876 die Tatfrage mit überprüfen. Diese Regelung entsprach der Tradition rechtlicher und tatsächlicher Prüfung durch den Geheimen Rat, die im Gesetz kodifiziert werden sollte. 221 Wo Rechtskontrolle und Tatsachenüberprüfung ausdrücklich nebeneinander geregelt sind, scheint sich eine Unsicherheit in der Bestimmung des gegenseitigen Verhältnisses abzuzeichnen. Nur die sächsische Regelung verdeutlicht mit einem Bindewort, daß die Überprüfung der tatsächlichen Voraussetzungen als Bestandteil der Rechtskontrolle angesehen wird. Die hessische Regelung läßt sich so nicht deuten. Art. 67 des Gesetzes vom 12. 06. 1874 nimmt die Tatfragenprüfung von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofs ausdrücklich aus, eröffnet aber den Rekurs für alle Fälle der Mißachtung oder unrichtigen Anwendung gesetzlicher Vorschriften. Diese Regelung berücksichtigt nicht, daß die tatsächlich nicht gerechtfertigte Maßnahme nur ein Unterfall unrichtiger Rechtsanwendung ist. Wenn das Ausklammern der Tatfragenzuständigkeit nicht unterlaufen werden soll, muß die unrichtige Rechtsanwendung - verkürzt - als fehlerhafte Auslegung interpretiert werden. Damit wiederholt sich in Art. 67 des hessischen Gesetzes von 1874 die Reduktion der Rechtsanwendungs- auf die Auslegungsfehler und die Verselbständigung der Tatsachenfeststellung gegenüber der Rechtsanwendung, die in den rechtsstaatlichen Ansätzen der sechziger Jahre begründet wurde. Unklar bleibt die Verhältnisbestimmung von Rechts- und Tatsachenkontrolle in §§ 127 Abs. 3, 128 Abs. 2 des preußischen LVG und im daran angelehnten222 § 4 220 s.o. Β. I. 2. a) nach Fn. 190. 221 Vgl. W. Jellinek, Gesetz, S. 329 m. Fn. 13; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 308. 222 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 471; vgl. ebd., S. 217 allgemein zur Vorbildfunktion des § 127 LVG.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Abs. 2 Nr. 1 und 2 des badischen Gesetzes vom 14. 06. 1884. Nach §§ 127 Abs. 3, 128 Abs. 3 LVG kann die verwaltungsgerichtliche Anfechtung von Polizei Verfügungen „nur darauf gestützt werden, - daß der angefochtene Bescheid durch Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts, insbesondere auch der von den Behörden innerhalb ihrer Zuständigkeit erlassenen Verordnungen, den Kläger in seinen Rechten verletzte; - daß die thatsächlichen Voraussetzungen nicht vorhanden seien, welche die Polizeibehörde zum Erlasse der Verfügung berechtigt haben würden." Fast parallel bestimmt § 4 Abs. 2 des badischen Gesetzes, die Kläge könne „nur darauf gegründet werden, daß die Behörde zu der angefochtenen Verfügung nicht berechtigt war: 1. weil diese auf einer Verletzung des Gesetzes beruht; 2. weil die obwaltenden Verhältnisse jede Berechtigung der Behörde zu der angefochtenen Verfügung ausschließen." Die Gesetzes Verletzung in Nr. 1 wird in § 4 Abs. 3, übereinstimmend mit § 127 Abs. 3 1. Alt. des preußischen LVG, näher erklärt als Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung von Rechtsnormen, insbesondere solchen, die in von den zuständigen Behörden erlassenen Verordnungen oder allgemeinen Vorschriften enthalten sind. Das Nebeneinanderstellen unrichtiger Rechtsanwendung und tatsächlich nicht gerechtfertigter Entscheidung kann auf ein verengtes Verständnis der Rechtsanwendung hindeuten, wie es sich in Art. 67 des hessischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes niedergeschlagen hat. Die gesonderte Hervorhebung des Anfechtungsgrundes fehlender tatsächlicher Voraussetzungen kann aber ebensogut nur deklaratorisch aufgeführt sein, um zu klären, daß im Gegensatz zum hessischen und österreichischen Recht die Rechtskontrolle umfassend und nicht auf eine bloße revisio in iure beschränkt sein soll. 2 2 3 Jedenfalls zeigt das Nebeneinander tatsächlicher und rechtlicher Aufhebungsgründe, daß das Verhältnis von Rechts- und Tatsachenkontrolle als problematisch gesehen wurde und die Identifikation von fehlerhafter Auslegung und fehlerhafter Rechtsanwendung nahe genug lag, Klarstellungen für erforderlich zu halten. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Verwaltungsgerichtsgesetze die in den sechziger Jahren erarbeitete Differenzierung von Rechts- und Ermessenskontrolle weitgehend übernahmen, um die Zuständigkeit zumindest der obersten Verwaltungsgerichte auf die Rechtmäßigkeits- oder gar auf die Rechtsfragenkontrolle zu beschränken. Die Gesetzgebung scheint damit den Oberverwaltungsgerichten und Verwaltungsgerichtshöfen beinahe ebensoviel Skepsis entgegengebracht zu haben, wie man es den ordentlichen Gerichten gegenüber hätte erwarten 223 So für das preußische Recht Bühler, Öffentliche Rechte, S. 308 f. mit Verweis auf die Motive (zit. ebd., S. 309, Fn. 75), gegen O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 192 f.; zu dessen Interpretation s.u. Β. II. 2. b) bb) aaa) (2) (c).

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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können. Maßgeblich dafür dürfte die organisatorische Verselbständigung der obersten Verwaltungsgerichte gewesen sein, die sie als potentielle Gegner der Verwaltung erscheinen ließ. Die generalklauselartige Fassung des Ausschlusses der Ermessenskontrolle und die Unklarheit im Nebeneinander von Rechtskontrolle und Tatsachenüberprüfung stellen für die weitere Entwicklung eine Hypothek, aber auch eine Chance dar. Sie erschweren einerseits den systematischen Zugang, eröffnen aber andererseits der Rechtsprechung und der Lehre Möglichkeiten, die rechtsstaatlichen Ansätze der sechziger Jahre weiterzuentwickeln und die von den Gesetzen vorausgesetzte Abgrenzung von rechtlicher Determiniertheit und Ermessen zu konkretisieren.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre Angesichts der theoretischen und praktischen Bedeutung des Ermessensproblems überraschen die Unübersichtlichkeit der Auseinandersetzung und ihr Mangel an systematischer Struktur. Die herrschende Lehre entwickelt sich in verstreuten, teils beiläufigen Stellungnahmen.1 Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird der Ertrag der Diskussion in Monographien zusammengefaßt und systematisiert. 2 Gemeinsam ist den spätkonstitutionellen Beiträgen zum Ermessen das Anknüpfen an die rechtsstaatliche Neubestimmung des Verhältnisses von Recht und Ermessen, die Ermessen als Gegensatz zur positiv- und materiellrechtlichen Bindung der Staatsgewalt umschreibt.3 Um die richtige Grenzziehung zwischen Recht und Ermessen dreht sich die Diskussion bis zum Ende des Kaiserreichs. Dabei verhindern die Kontinuität der konstitutionellen Gesetzes- und Staatsvorstellung, die Prägung der Diskussion durch die Rechtsschutzperspektive und das 1

Vgl. die Literaturnachweise bei W. Jellinek, Gesetz, S. 2 f., Fn. 8. v. Laun, Ermessen; W. Jellinek, Gesetz; Bühler, Öffentliche Rechte; Tezner, Ermessen. 3 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 1. Aufl., S. 200; 5. Aufl., S. 179 m. Fn. 1, S. 193 f., 197; O. Mayer, Theorie, S. 104 f., 109 f.; ders., Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 84 f., 100, 164 ff., 193 f.; 2. Aufl., S. 99 ff., bes. S. 101; Pözl, KritVjschr. 10 (1868), 140 f.; Roesler, GrünhutsZ 1 (1874), 193 f.; E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 801; G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 27; 2. Aufl., S. 34 f., 64; ders., Staatsrecht, 2. Aufl., S. 521; Bernatzik, Rechtsprechung S. 73 f.; v. Stengel, SchmollersJB 7 (1883), 423; v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 590 m. Fn. 41 f.; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 140 ff.; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 423, 426, 446 ff.; v. Laun, Ermessen, S. 18, 47 ff.; Oertmann, S. 3 ff.; W. Jellinek, Gesetz, S. 6 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 21 f.; Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 180 f. m. Fn. 7; S. 202 beschränkt sich auf die Umschreibung des Gegensatzes von rechtlich determinierter und von Zweckmäßigkeitserwägungen beeinflußter Entscheidung, ohne den Begriff Ermessen zu verwenden. Mit der Bezugnahme auf Stahls Formel vom Recht nur als Schranke der freien Verwaltungstätigkeit (Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 181, Fn. 7) gibt er aber zu erkennen, daß er mit der herrschenden Auffassung übereinstimmt (vgl. O. Mayers Berufung auf diese Formel als den Ausgangspunkt der Lehre in: Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 10, Fn. 14). 2

8 Held-Daab

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

konservative Mißtrauen gegenüber den Verwaltungsgerichten ein konsequentes Denken von der Rechtsbindung her. Sie führen vielmehr zu einer zweifachen Verkürzung der Fragestellung. Einerseits begünstigen sie die Identifikation von Rechtsbindung und Gesetzesvorrang mit der Folge, daß der Vorbehalt des Gesetzes auch weiterhin nicht als Ermessensgrenze wahrgenommen werden kann. Darüber hinaus verkürzen sie auch das Problem des Gesetzesvorrangs, indem sie der Reformulierung traditioneller Gewaltenteilungsargumente Vorschub leisten und die Lehre dazu verleiten, die Ausdifferenzierung möglicher Rechtsbindungen in den holzschnittartigen Dualismus quasi-richterlicher Gebundenheit und exekutiver Freiheit aufzulösen.

1. Die konventionelle Verkürzung der Fragestellung Die Staats- und Verwaltungsrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts begreift die Rechtsbindung staatlichen Handelns regelmäßig nur als Gesetzesbindung. Damit blendet sie die verfassungsrechtlichen Bindungen der Staatsgewalt aus und reduziert die Frage der Abgrenzung von Rechtsbindung und Ermessen auf das Problem der Reichweite gesetzlicher Bindung.

a) Die Identifikation von Rechts- und Gesetzesbindung

Die Gleichsetzung von Rechts- und Gesetzesbindung wird in den allgemeinen Lehren zur Rechtsbindung der Staatsgewalt weder besonders begründet, noch in den Ausführungen zu einzelnen Verwaltungsmaßnahmen konsequent durchgehalten. Sie ergibt sich vielmehr daraus, daß die Ausführungen zur Rechtsbindung regelmäßig an die Darstellung der Gewaltenteilung anknüpfen und mit dem Hinweis auf die Verwirklichung des Rechtsstaats als Errungenschaft der neueren Zeit eingeleitet werden.4 Die Verfaßtheit des Staats wird also bereits vorausgesetzt und der Rechtsstaat, in Anlehnung an die Lehren der sechziger Jahre, als Unterordnung der Exekutive unter das konstitutionelle Gesetz erklärt. O. Mayer faßt diese Argumentation in einer bündigen Formulierung als rechtsstaatlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zusammen5 und erhebt diesen zum Ausgangspunkt der spätkonstitutionellen Verwaltungsrechtsdogmatik. Mit der Ableitung des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes nicht unmittelbar aus dem Verfassungsrecht, sondern aus einer kulturgeschichtlich begriffenen Evolution des Rechtsstaats wird ein Grund* Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 185 f., 191, 193 ff.; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 9 ff., 61 ff., 81 ff.; 2. Aufl., S. 95, 99 ff.; v. Stengel, Hirths Ann. 1875, 1317 ff.; v. Sarwey, Verwaltungsrecht, S. 31 f.; Leuthold, Hirths Ann. 1884, 418 f.; v. Lemayer, GrünhutsZ 8 (1881), 752; ders., GrünhutsZ 22 (1895), 366 ff., 376; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 141; v. Laun, Ermessen, S. 10 ff., 18, 21,47 ff.; Fleiner, 1. Aufl., S. 6. 5 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 72 ff.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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zug der Diskussion vor der Errichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Ablösung der verfassungsrechtlichen Argumentation durch die Argumentation aus dem Rechtsstaatsbegriff, fortgesetzt und vertieft. Die Verschiebung des Rechtsstaatsbegriffs vom Inbegriff des frühkonstitutionellen Verfassungsstaats zum Inbegriff des Staats des „wohlgeordneten Verwaltungsrechts" 6 wird zum Allgemeingut der spätkonstitutionellen Publizistik. Für die Ermessenslehre hat das Ausblenden der Verfassungsrechtsebene, das hinter der Identifikation von Rechts- und Gesetzesbindung steht und über deren Begründung aus dem Rechtsstaatsbegriff vermittelt wird, die Beschränkung auf Fragen der gesetzlichen Bindung der Staatsgewalt zur Folge.7 Verfassungsrechtliche Regelungen werden nicht als unmittelbare Schranke staatlichen Handelns, sondern nur als konstituierende Normen für die Staatstätigkeit verstanden. Der Staat wird durch sie rechtlich sozusagen erst hergestellt8, bevor er handeln oder - durch gesetzliche Normen - in seinen Handlungen beschränkt werden kann. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Gesetzgebung oder der monarchischen Hoheitsakte werden von der Ermessenslehre deshalb nicht reflektiert. Von einem rechtlich begrenzten Ermessen des Gesetzgebers muß nicht gesprochen werden, solange die Gesetze noch als freiwillige Selbstbeschränkung der Staatsgewalt erklärt 9 und grundrechtliche Eingriffsverbote in allgemeine Gesetzesvorbehalte aufgelöst werden können. Die sogenannten Regierungsakte, d. h. Akte der Exekutivspitze wie 6 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 60. 7 So bei Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 178 f., 186, 193 ff.; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 81 ff., 100; 2. Aufl., S. 99 ff.; v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 67, 79; Bernatzik, Rechtsprechung, S. 43 f.; v. Stengel, Verwaltungsrecht, S. 220; ders., VerwArch. 3 (1895), 210 ff.; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 140 ff.; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 423, 446 ff.; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 7 f.; Oertmann, S. 10 ff., 23; W. Jellinek, Gesetz, S. 6 f., S. 189 (Ermessen als Freiheit vom Gesetz); Bühler, Öffentliche Rechte, S. 22 ff., 284 ff.; anders noch Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 202, der auch Verfassungsverletzungen als Rechtsverstöße aufführt, die im Weg öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes (allerdings nicht gerichtlich, sondern nur im Beschwerdeweg, vgl. Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 204 ff.) sanktioniert werden müßten. Ausdrücklich gegen einen Vorbehalt des Gesetzes für Einzelakte v. Sarwey, Verwaltungsrecht, S. 32 f., 36 ff. (anders für Verordnungen ders., Verwaltungsrechtspflege, S. 47); G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 64 f. und, gegen alle Kritik, auch noch in Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 78 m. Fn. 17; vgl. auch ders., Staatsrecht, 5. Aufl., S. 584. » O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 3. Grundlegend G. Jellinek, Staatenverband, S. 30 ff.; zu seiner Zwei-Seiten-Lehre s.u. Β. II. 3. b) bb). Problematisch war, daß die souveräne Rechtsetzungsbefugnis des Staats und seine Bindung an die von ihm geschaffenen Gesetze als „Paradox" (O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 86) erschienen. Laband versucht zunächst (Staatsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 578) die Rechtsbindung aus der Weisungsunterworfenheit der Vollzugsorgane zu erklären, und unterscheidet später (Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 181, 186, 193 f.) zwischen der Rechtschöpfungsfunktion des Staats und seiner unter der Rechtsordnung stehenden Geschäftsführungs- oder Verwaltungsfunktion. O. Mayer (Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 86 f. m. Fn. 8-10) begründet die Rechtsbindung mit dem Gesetzesvorrang, den er als rechtsstaatlichen Grundsatz unmittelbar aus der Gewaltenteilung ableitet. 9

8*

116

Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

die Auflösung der Volksvertretung oder die Ausübung der militärischen Kommandogewalt, werden von vielen Autoren ebenfalls nicht als rechtlich begrenzte Maßnahmen erkannt. 10

b) Die Konzentration auf das Verwaltungsermessen und die Rechtsschutzperspektive

Obwohl die eben beschriebene Verkürzung des Ermessensproblems auf das Problem gesetzlicher Gebundenheit es ermöglicht hätte, Fragen des richterlichen Entscheidungsspielraums wieder einzubeziehen, konzentriert sich die Lehre weiterhin ganz auf das Ermessen der Verwaltung und Probleme des Verwaltungsrechtsschutzes.11 Das ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß nach dem Erlaß der Verwaltungsgerichtsgesetze der Umfang des Rechtsschutzes und die Reichweite verwaltungsgerichtlicher Kontrolle im Vordergrund des Interesses stehen. Die Beschränkung auf das Verwaltungsermessen führt gleichzeitig die Tradition des rechtsstaatlichen Denkens der sechziger Jahre fort, dem die gesetzliche Determiniertheit richterlicher Entscheidungen noch als Selbstverständlichkeit galt, und allein die Durchsetzung der Gesetzesbindung der Verwaltung als rechtsstaatliches Problem erschien. Gelegentliche Erörterungen des „richterlichen Ermessens" bleiben der holzschnittartigen Gegenüberstellung von richterlichem und Verwaltungsermessen verhaftet 12 oder relativieren sie, indem sie Entscheidungsspielräume des Richters als Modellfall eines uneigentlichen, gebundenen Ermessens betrachten. 13 Zivilund strafrechtswissenschaftliche Überlegungen, die die gesetzliche Determiniertheit richterlicher Entscheidungen problematisieren, 14 werden von der Staats- und 10 Vgl. Regelsberger, KritVjschr. 4 (1862), 63 f.; Stahl, Rechtsphilosophie, 2. Bd., 2. Abt., 5. Aufl., S. 194 f., 386 ff.; G. Jellinek, Staatslehre, 2. Aufl., S. 601 ff.; Scheuner, FS Smend, S. 256 ff. O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 10 f., betont noch ausdrücklich die Rechtsbindung der Verwaltung als Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Regierung; anders dann im 1. Bd., 3. Aufl., S. 2 f.: Auch die Regierungstätigkeit falle unter die Gesetzesbindung; dem Begriff der Regierung komme damit keine eigenständige, juristische Bedeutung mehr zu. Kritisch zur Exemtion von Regierungsakten auch v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 589; Fleiner, 1. Aufl., S. 6. W. Jellinek, Gesetz, S. 4, hebt nur noch die Außenpolitik als eigenen Bereich der Regierung hervor. n v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 65 ff., 79, 415 ff.; ders., Verwaltungsrecht, S. 149 ff.; E. v. Meier, Sp. 1155 ff.; E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 8 ff., 806, 820; Bernatzik, Rechtsprechung, S. 42 ff., 63 ff.; v. Lemayer, GrünhutsZ 8 (1881), 748 ff.; ders., GrünhutsZ 22 (1895), 353 ff.; Gluth, AöR 3 (1888), 569 ff.; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 75 ff., 138 ff.; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 3 ff.; Oertmann, S. 11 ff., 20 ff.; Fleiner, 1. Aufl., S. 214 f. 12

So nach der Jahrhundertwende in Auseinandersetzung mit der Freirechtsbewegung ζ. B. Oertmann, S. 11 ff. und Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 445 ff.; ders., AöR 38 (1918), 284 ff. ι 3 Z.B. v. Laun, Ermessen, S. 50, 55, 58 ff.; ihm folgend Oertmann, S. 16 f. 14 Binding, ZStrW 1 (1881), 14; Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 40; J. Köhler, Über die Interpretation von Gesetzen, GrünhutsZ 13 (1886), 7 ff.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

117

Verwaltungsrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht zur Kenntnis genommen, obwohl schon Otto Bähr einen Hinweis in diese Richtung gegeben hatte. 1 5 Die Kenntnisnahme war allerdings auch nicht opportun, solange man die politische Neutralität der Verwaltungsrechtsprechung mit dem Hinweis auf die vollständige gesetzliche Determiniertheit mußte. 1 6

richterlicher

Entscheidungen belegen

Daß die Lehre nicht nur die Beschränkung der Ermessensdiskussion auf die Gesetzesbindung der Verwaltung übernahm, sondern zu deren Umschreibung auch weiterhin die Formel vom Recht nur als Schranke des Ermessens gebrauchte, brachte eine weitere Verkürzung der Problemstellung mit sich.

c) Das Gesetz „nur" als Schranke des Verwaltungsermessens Die Lehre vom Gesetz oder dem Recht „nur" als Schranke der Staatsgewalt bildet den Grundkonsens der spätkonstitutionellen Staats- und Verwaltungsrechtslehr e . 1 7 A u f die Lehre vom Verwaltungsermessen bezogen, hat sie zwei verschiedene Funktionen. Als Gegensatz zum Recht als Grundlage staatlichen Handelns gedacht, blendet sie, wie schon die Ausgrenzung verfassungsrechtlicher Bindungen, weiterhin den Vorbehalt des Gesetzes als Rechtsgrenze des Verwaltungsermessens aus. Dem Satz vom Recht als Zweck richterlicher Tätigkeit gegenübergestellt, be15 Bähr, Rechtsstaat, S. 13 f., wo ausgeführt wird, die Rechtsprechung sei „in gewissem Sinne und Maße stets ein freies geistiges Schaffen". 16 Die Zeitgenossen hielten die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit ihrer Errichtung noch für keineswegs sicher etabliert. So forderte v. Lemayer, GrünhutsZ 8 (1881), 760, die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit zunächst lieber auf ein leicht begründbares Minimum zu beschränken, statt durch frühzeitige weitergehende Forderungen das Erreichte zu gefährden. 17

Die Formulierung geht zurück auf Stahl, Rechtsphilosophie, 2. Bd., 2. Abt., 5. Aufl., S. 137 f. (Der Satz wird a. a. O., S. 338, sogar normativ gewendet: Das Gesetz dürfe der Polizeigewalt nur Schranken ziehen, ihre Anordnungen und Tätigkeiten aber nicht inhaltlich bestimmen). Die Schrankenformel wird aber auch von den Gegnern Stahls immer wieder als öffentlich-rechtlicher Grundsatz zitiert: Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 181 m. Fn. 7 nennt Stahls Formel „im Wesentlichen richtig", distanziert sich allerdings von dessen weiteren Ausführungen mit der Bemerkung, sie seien „schillernd, unstät und teilweise sophistisch". Ohne solche Vorbehalte wird Stahls Satz vom Recht als Schranke übernommen ζ. B. von Bähr, Rechtsstaat, S. 52; Schulze, Preußisches Staatsrecht, 2. Bd., S. 67; Pözl, KritVjschr. 10 (1868), 125 f.; G. Meyer, Staatsrecht, 2. Aufl., S. 521 f.; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 467; im Ergebnis ebenso Regelsberger, KritVjschr. 4 (1862), 58 ff., 61; Roesler, GrünhutsZ 1 (1874), 193 f. (obwohl die Formel ebd., S. 183, als „veraltet" bezeichnet wird); v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 2 ff., 49 f., 67, 79; v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 576; Leuthold, Hirths Ann. 1884, 345, Fn. 3, S. 386, 418 f.; E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 801; Gluth, AöR 3 (1888), 611 f.; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 140 ff.; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 3, 7 ff.; Oertmann, S. 20 f.; noch v. Laun, Ermessen, S. 21 f. referiert die Schrankenformel ausdrücklich als herrschende Meinung. Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 1. Aufl., S. 200; 5. Aufl., S. 178 f., 197 f. und O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 10 m. Fn. 14, S. 84 ff.; 2. Aufl., S. 99 ff., konkretisieren die Formel in der Differenzierung von gebundener Entscheidung und freier Verwaltungsverfügung; dazu s.u. Β. II. 1. c) bb) bbb).

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

hauptet sie den Gegensatz prinzipiell freier Zwecktätigkeit der Verwaltung zur rechtlich stets vollständig determinierten richterlichen Entscheidung.

aa) Die Identifikation

von Gesetzesbindung und Gesetzesvorrang

Unter Berufung darauf, daß das Recht nur die Schranke, nicht die Grundlage der Staatstätigkeit bilde, wird die Diskussion um das Verwaltungsermessen regelmäßig darauf beschränkt, den Regelungsgehalt bestehender Rechtsnormen als Grenze administrativer Zweckverwirklichung zu bestimmen. Das Gesetz wird also nur in der Vorrangfunktion gesehen; der Vorbehalt des Gesetzes wird selbst, wo er grundsätzlich anerkannt wird, 18 nicht als mögliche Grenze des Ermessens wahrgenommen.19 Er bleibt aus der Ermessenslehre ausgeklammert, obwohl seine Anerkennung eine wichtige Voraussetzung für die Ausarbeitung der Ermessensgrenzen gewesen wäre. Solange ein Eingriff keiner gesetzlichen Ermächtigung bedurfte, konnte Ermessen nur durch präzise, abschließende Regelungen ausgeschaltet werden. 20 Das hätte eine Regelungsdichte verlangt, die zu Beginn des Kaiserreichs in absehbarer Zeit nicht zu erreichen war und gerade in den rechtsschutzpolitisch wichtigsten Bereichen, wie ζ. B. im Polizeirecht, 21 für unmöglich gehalten wurde. 22 Das Ausblenden des Gesetzesvorbehalts und die Reduzierung des Gesetzes auf die Vorrangfunktion folgen nicht notwendig aus dem Verständnis des Rechts als Schranke. Auch der Vorbehalt des Gesetzes kann als - verfassungsrechtliche Schranke der Staatstätigkeit verstanden werden, nämlich als generelles Eingriffsverbot unter dem Vorbehalt gesetzlicher Ermächtigung. Die Beschränkung auf den Gesetzesvorrang resultiert auch nicht allein aus dem Ausblenden der verfassungsrechtlichen Argumentation. Denn der Vorbehalt des Gesetzes läßt sich, wie bei v. Stein, ebenso gut aus rechtsstaatlichen Grundsätzen ableiten. Die Konzentration auf das Vorrangproblem zeigt vielmehr den Einfluß der konstitutionellen Staatslehre Z.B. E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 12 f.; Gluth, AöR 3 (1888), 610 f. und bei O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 74, der in Fn. 10 gleichzeitig rügt, die bisherige Lehre habe den Vorbehalt des Gesetzes mit dem Vorrang so „zusammengeworfen", daß ersterer im letzteren aufgegangen sei. 19 E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 801; Gluth, AöR 3 (1888), 610 ff.; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 84 f., 100, 164 f., 2. Aufl., S. 99 ff. Vgl. auch die Zusammenfassung der Diskussion um das „selbständige", d. h. von gesetzlichen Ermächtigungen unabhängige Verordnungsrecht des Monarchen bei Anschütz, Theorie, S. 24 ff. 20 Möglichst präzise gesetzliche Normierung der Eingriffstatbestände fordern deshalb Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 85 m. Fn. 4, und G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 201 f. 2 1 Dazu Oertmann, S. 21 f. 22 Vgl. Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 504; Fleiner, S. 111 f.; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 457 (Unbestimmbarkeit der für die Verwaltungstätigkeit maßgeblichen Gesichtspunkte). Die Konsequenzen umschrieb O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 74 f., Fn. 10: „Sollte da wirklich die Folge sein, daß die Regierung mit dem Eigentum und der Freiheit der Untertanen machen könnte, was sie wollte, bis ihr glücklich durch ein Gesetz Formen und Schranken gegeben werden?"

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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re auf die Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft. Das unter Mitwirkung der Volksvertretung zustandegekommene Gesetz wird nicht als Grundlage, sondern nur als Schranke der mit der monarchischen Exekutive identifizierten, umfassenden Staatsgewalt verstanden. Diese Vorstellung findet sich sowohl in der traditionellen Staatsrechtslehre als auch in den positivistischen Neuansätzen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die traditionelle Staatsrechtslehre versteht die Staatsgewalt, in Abbildung der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung, als vorrechtliche, ursprünglich absolute Herrschaftsgewalt, die meist dem Monarchen zugeschrieben w i r d . 2 3 Die positivistische Staatsrechtslehre kann und w i l l den Staat nicht als vorrechtlich begreifen, sondern versteht ihn als juristische Person und damit als durch die (Verfassungs-)Rechtsordnung konstituiert. 2 4 Auch sie denkt aber die Staatsgewalt grundsätzlich als umfassend, da sie den Staat von allen anderen Rechtssubjekten dadurch unterschieden sieht, daß seine Willensmacht als Herrschaftsgewalt den Willen der übrigen Rechtssubjekte übergeordnet i s t . 2 5 Durch die Anerkennung der Gesetze als Rechtsschranken der Staatsgewalt wird zwar die Subjektionstheorie, die i m Frühkonstitutionalismus noch zur Leugnung von Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Bürger und zur Legitimation der Rechtsschutzverweigerung gedient hatte, rechtsstaat23

v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 23 f.; Verwaltungsrecht, S. 5, 12 f.; Gessler, ZStW 18 (1862), 749; Roesler, GrünhutsZ 1 (1874), 183 f.; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 464 ff.; v. Stengel, VerwArch. 3 (1895), 192 f.; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 141 ff., 146 f. (vgl. ebd., S. 146, gegen die „Herabdrückung" des Staates zur Prozeßpartei). Noch G. Jellinek (Gesetz, S. 220) bestimmt, trotz liberaler Grundhaltung, die rechtlich nicht gebundene Regierung als den „Anfangspunkt staatlichen Daseins überhaupt". w Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 177, 185 f.; ebenso Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 1 f. In: Öffentliche Rechte, S. 16, hatte Gerber noch für die Vorstellung des Staats als Organismus plädiert, sie aber schon ausdrücklich nicht als juristische Konstruktion bezeichnet. Diese könne allenfalls das Genossenschaftsmodell leisten. Die Ablehnung der Konstruktion des Staats als juristischer Person begründete Gerber mit der Gefahr, in zivilistische, der Staatsgewalt unangemessene Begriffsbildungen ausweichen zu müssen (Öffentliche Rechte, S. 12 f., 15 f.). Diese Argumentation ist in den „Grundzügen" aufgegeben. Gerber unterscheidet dort mit dem Begreifen des Staates als juristische Person und seiner Anschauung als Organismus die juristische und natürliche Betrachtung desselben Objekts (Grundzüge, S. 1 f.). Er legt damit einen Grundstein für die Zwei-Seiten-Lehre G. Jellineks (dazu s.u. Β. II. 3. b) bb)). - Zur radikal-positivistischen Identifikation von Staat und Rechtsordnung bei Kelsen und Merkl s.u. Β. ΠΙ. 3. 2

5 Gerber, Öffentliche Rechte, S. 48; Grundzüge, 2. Aufl., S. 3, 62 f. (S. 63: „Die staatsrechtliche Stellung eines Untertanen ist (sc.: im Unterschied zur grundsätzlich unantastbaren Privatsphäre) die eines staatlich Beherrschten und mit diesem Begriffe vollständig bezeichnet."); Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 185 („imperium" des Staates als begrifflich nicht begrenztes Herrschaftsrecht über Land und Leute, das nur im Weg rechtsgeschichtlicher Evolution rechtlich beschränkt worden sei); zum Willen als zentralem Konstruktionselement im staatsrechtlichen Positivismus Gerbers und Labands vgl. W. Pauly, Methodenwandel, S. 107 ff., 141 ff.; ders., Paul Laband, S. 213. Die bei Gerber und Laband noch anthropomorph geprägte Willensvorstellung wird später bei Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 97 f., 162 ff., von psychologisierenden Elementen befreit und auf den Inhalt des Rechtssatzes reduziert (dazu vgl. u. B. III.).

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

lieh modifiziert. Die formellen Gesetze werden aber nach wie vor nicht als notwendige Grundlage, sondern nur als Grenzen der staatlichen Befugnisse gegenüber den Einzelnen gedacht und erscheinen als eine freiwillige Selbstbeschränkung umfassender staatlicher M a c h t . 2 6 Die Tendenz zur Identifikation von Staatsgewalt und Exekutive ist erhalten geblieben, auch wenn deren vorrechtliche Begründung zur vorgesetzlichen gemildert, und die Zuordnung der Exekutive zum Monarchen allein aus der positiv-verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung abgeleitet wird. Dieser Befund erklärt, daß der Vorbehalt des Gesetzes gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunächst nicht als Vorbehalt des formellen Gesetzes, sondern nur als Rechtssatzvorbehalt entwickelt und nicht aus dem Verfassungsrecht, sondern selbst von positivistischer Seite h e r 2 7 - aus dem Rechtsstaatsbegriff abgeleitet w i r d . 2 8 Diese Konstruktion stellt das grundsätzliche Verständnis des formellen Gesetzes als Schranke nicht in Frage. Sie betont auch nicht die Teilhabefunktion des konstitutionellen Gesetzes, sondern die Rechtssicherheit gewährende Garantiefunktion des Rechtssatzes, der auch in einer Verordnung oder gar i m Gewohnheitsrecht gefunden werden kann. 2 9 Erst um die Jahrhundertwende wird der Rechtssatz-

26 Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 63 ff.; 179 ff.; vgl. Öffentliche Rechte, S. 34 f.; Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 181, 186; vgl. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 77 m.w.N. 27 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 186; S. 193 wird als Merkmal des „modernen Staates" aufgeführt, daß die „Rechte der Staatsgewalt gegenüber den Einzelnen durch Rechtssätze anerkannt und deshalb beschränkt" seien. Die im Anschluß geforderte gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für Verwaltungsbefehle wird in den Ausführungen zum Rechtssatzbegriff (S. 2 f. m. Fn. 1) und ausdrücklich nochmals auf S. 186 als Gesetz im materiellen Sinne konkretisiert, das auch „im Gewohnheitsrecht begründet sein" könne und nur „bei den modernen staatlichen und rechtlichen Zuständen ... gewöhnlich" - also nicht notwendig „durch (sc.: formelle) Gesetze sanktioniert" sei. Nur mit der Beschränkung des Gesetzesvorbehalts auf den Rechtssatzvorbehalt konnte Laband auch die Feststellung begründen, G. Meyer, der trotz aller Kritik an der gewohnheitsrechtlichen Ermächtigung der Polizei aus der Aufgabenzuweisung festhielt, habe seine Ablehnung des Vorbehalts des Gesetzes aufgegeben (Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 193, Fn. 1). O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 82, leitet den Vorbehalt des Gesetzes aus der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung als Resultat der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung ab (a. a. O., S. 62 ff., 67 f., 74, 79) und versucht, methodisch bedenklich, ihn als in allen Verfassungen zumindest „stillschweigend" (a. a. O., S. 75) anerkannten oder auch nur vorausgesetzten positivrechtlichen Grundsatz aufzuweisen (a. a. O., S. 75 ff., bes. S. 76, Fn. 13 a.E.: „Das Wort Gesetz genügt auch hier (sc.: in der Reichsverfassung), um den üblichen Vorbehalt zu begründen.") O. Mayer verschweigt dabei, daß er mit dem Postulat des Vorbehalts des formellen Gesetzes weit über den 1895 üblicherweise anerkannten Rechtssatzvorbehalt hinausgeht. 28 E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 241; Pözl, KritVjschr. 10 (1868), 126, 142 f.; Rosin, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 18 ff.; v. Stengel, VerwArch. 3 (1895), 204; Tezner, Lehre, S. 13; vgl. Leuthold, Hirths Ann. 1884, S. 388, 391, Fn. 3 u. 4, dessen Postulat eines Totalvorbehalts aber auf eine schon damals überholte koordinationsrechtliche Auffassung des Staatsrechts zurückgeht. Zur Entwicklung des Rechtssatz- und Gesetzesvorbehalts vgl. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 67 ff.; Jesch, Gesetz,2. Aufl., S. 161 ff. m. Fn. 278. 29

Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 186; dort auch die Feststellung, daß die Ermächtigungsnormen „zugleich ... die Sphäre (sichern), welche von diesen Eingriffen rechtlich geschützt ist."

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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vorbehält in der Staats- und Verwaltungsrechtslehre, nach einem vorläufigen Versuch der Herleitung aus § 10 I I 17 PrALR, 30 durch eine weite Interpretation der grundrechtlichen Freiheits- und Eigentumsgewährleistungen zum Vorbehalt des formellen Gesetzes ausgebaut und die Ableitung aus verfassungsrechtlichen Normen nachgeholt.31 Es gelingt jedoch nicht mehr, die Lehre vom Erfordernis gesetzlicher Eingriffsermächtigung in die herrschende Ermessensdogmatik zu integrieren. 32 Die spätkonstitutionelle Ermessenslehre bleibt auf die Erforschung des Vorrangs des Gesetzes beschränkt.

bb) Die Verkürzung durch die Kontinuität

des Vorrangproblems

der Gewaltenteilungsargumentation

Eine letzte und entscheidende Verkürzung des Vorrangproblems liegt darin, daß die traditionelle Gewaltenteilungsargumentation weitergeführt wird. Die alte Rivalität zwischen Justiz und Verwaltung wird im Verhältnis der Verwaltungsgerichte zur Verwaltung nicht aufgehoben, sondern fortgesetzt. 33 Mit der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist die zuvor weitgehend justizexemte Verwaltung in die Defensive geraten. Der Vorrang des Gesetzes kann nun auch unabhängig von ihrem guten Willen durchgesetzt werden. Die verwaltungsgerichtliche Interpretation des Unzuständigkeitsgrundes des freien Ermessens entscheidet darüber, in welchem Umfang der bisher allein von der Verwaltungspraxis bestimmte Spielraum rechtsfreier, zweckorientierter Entscheidung erhalten bleibt. Für die konservativ geprägte, verwaltungsfreundliche Lehre liegt es nahe, zur restriktiven Bestimmung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle auf die Abgrenzung zwischen ordentlicher Justiz und Verwaltung zurückzugreifen, die schon die vor- und frühkonstitutionelle Praxis getragen hat. Diesem Rückzug auf traditionelle Gewaltenteilungsvorstellungen kann auch die neuere, vom positivistischen Ansatz Labands beeinflußte Richtung keine radikale Alternative entgegensetzen. Sie durchbricht zwar mit der Unterscheidung von formeller und materieller Recht30 Dazu Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 84; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 81; Fleiner, 1. Aufl., S. 112 m. Fn. 2. Zum Rückgriff auf § 10 II 17 PrALR im Zusammenhang mit der Entwicklung des Gesetzmäßigkeitsprinzips der Verwaltung und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes s.u. Β. II. 2. b) aa) bbb) bei Fn. 414 ff. und Β. II. 2. b) aa) ccc) (2). 31 Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 96 f.; ders., Studien, S. 38, 71 f.; G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 262 f.; Thoma, Polizeibefehl, S. 99 ff.; Fleiner, 1. Aufl., S. 110 f.; Jesch, Gesetz, 2. Aufl., S. 158 ff.; ein erster Ansatz findet sich schon bei Gluth, AöR 3 (1888), 610 f. 32 Noch W. Jellinek, Gesetz, S. 6 f., formuliert das Ermessensproblem zusammenfassend als das Problem der Gesetzesanwendung und ihrer Spielräume. Das Problem des Erfordernisses gesetzlicher Ermächtigungen bleibt vom Ermessensproblem ausgeklammert. Anschütz, Lücken, S. 323 ff., begründet aus dem Vorbehalt des Gesetzes die Unmöglichkeit „echter", nicht durch Auslegung zu schließender Lücken im Recht der Eingriffsverwaltung, stellt aber ebenfalls keinen Bezug zu den Ermessensgrenzen her. 33 Dazu s.o. Β. I. 2. a) nach Fn. 162.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

spreehungs- und Verwaltungstätigkeit die simple Zuordnung von Zuständigkeit und Funktion, gelangt damit aber auch nur zu einer Relativierung des Gewaltenteilungsarguments, ohne es in der materiellen Abgrenzung von Justiz und Verwaltung völlig aufzugeben.

aaa) Das Gewaltenteilungsargument in der konservativen Lehre Die Argumentation mit der Wesensverschiedenheit von Justiz und Verwaltung dient der konservativ-monarchischen Staats- und Verwaltungsrechtslehre weiterhin dazu, alle Maßnahmen zum Verwaltungsermessen zu rechnen, die gesetzlich nicht eindeutig determiniert sind. 34 Zuweilen wird bei der Konkretisierung dieser Abgrenzung geflissentlich übersehen, daß mehrere Verwaltungsgerichtsgesetze die gerichtliche Kontrolle nur ausschließen, soweit eine Entscheidung nach Ermessen zu treffen ist, die Kontrolle auf Rechtsanwendungsfehler also zulässig bleibt. 3 5 Der konservativen Lehre genügt, wie den frühkonstitutionellen Verwaltungsjustizlern, schon ein Ermessenselement in der Entscheidung, um die Entscheidung insgesamt zur Ermessensangelegenheit zu erklären und die Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte zu behaupten.36 Bei der Annahme von Ermessenselementen wird großzügig und meist ohne nähere Begründung verfahren. Konkretisierungsbedürftige „unbestimmte" Begriffe wie die des öffentlichen Interesses, der Bedürftigkeit oder auch der Sanitätsgefahr 37 werden ebenso dazugerechnet wie die Anordnung alternativer Rechtsfolgen. 38 Der Grad der rechtlichen Gebundenheit wird dabei jeweils nur nach dem Wortlaut der Ermächtigungsnorm beurteilt. Die genetische und historische Interpretation, die bei der Auslegung der Verwaltungsgerichtsgesetze gern bemüht wird, 39 bleibt bei der Interpretation des materiellen Verwaltungsrechts außer acht. 40 Die systematische Interpretation beschränkt sich, wo sie überhaupt angesprochen wird, auf die - vergebliche - Suche nach Legaldefinitionen oder authenti34 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 74 ff., 79, 576 f.; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 426, 446 ff., 457; Oertmann, S. 11 ff., 20 ff.; im Ergebnis ebenso Zorn, VerwArch. 2 (1894), 75 ff., 139 ff.; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 2, 7, 39; ebd., S. 9 fordert er sogar eine gesetzliche Bestimmtheit „in mathematisch sicherer Weise". 35 S. ο. Β. I. 2. a) bei Fn. 166 und 215. 36 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 430, 444 ff. (zum illiberalen rechtspolitischen Hintergrund seiner Auffassung vgl. a. a. O., S. 437); Roesler, GrünhutsZ 1 (1874), 195 ff., 198; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 82, 134 ff., 143; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 3, 5, 9. 37 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 444; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 452 ff., 462 f.; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 8 f. 38 Beispiele bei v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 424 ff.; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 143; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 8 f. 39 Z.B. bei v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 457 f., Fn. 65. 40

Ansätze bei v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 456, werden ebd., S. 460, zugunsten einer Vermutung für das Verwaltungsermessen wieder aufgegeben.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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sehen Auslegungen,41 wird also ebenfalls nicht ausgeschöpft. Die Interpretation nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift wird ohnehin, wie alle mit dem Zweckbegriff verbundenen Fragen, der Verwaltung vorbehalten. 42 Sofern die Erklärung konkretisierungsbedürftiger Begriffe zu Ermessensmerkmalen doch begründungsbedürftig scheint, weil der Begriff, wie etwa der der Feuergefahr, durchaus bestimmbar ist, wird auf die Sachnähe und den technischen Sachverstand der Verwaltung verwiesen, die zusammen mit dem Erfordernis der Beurteilung der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit zu treffender Maßnahmen einen Entscheidungsvorbehalt der Verwaltung rechtfertigen sollen. 43 Die Parallelen zur Gewaltenteilungsargumentation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind deutlich, ebenso die Parallelen zur Einschränkung der Rechtmäßigkeitskontrolle auf die Kontrolle der Wortlautauslegung, wie sie in den rechtsstaatlichen Ansätzen der sechziger Jahre begründet wurde. Der auffälligste Unterschied zur frühkonstitutionellen Argumentation besteht darin, daß die Berufung auf die Souveränität als Hindernis gerichtlicher Kontrolle aufgegeben ist. Damit trägt man der Ablösung des Staatsbegriffs von der Person des Monarchen Rechnung, die mit der Lehre vom Staat als souveränem Organismus einsetzte44 und im dogmatischen Ausmünzen der Lehre vom Staat als juristischer Person 45 ihren Abschluß gefunden hat 46 . Als Subjekt der Souveränität wird nicht mehr der Monarch gesehen, sondern nur noch der Staat selbst. Die Verwaltung kann deshalb der gerichtlichen Kontrolle nicht mehr die vom Fürsten als der Exekutivspitze abgeleitete Souveränität entgegenhalten, sondern findet sich im souveränen Staat als gleichgeordnete Funktion neben der Rechtsprechung wieder. In diesem Modell kann die Justizexemtion der Verwaltung nur noch über eine restriktive Funktionsbestimmung der Justiz begründet werden. Auf deren erste Variante aus dem Vormärz, die Beschränkung der Justiz auf den Privatrechtsschutz, kann die Lehre nach dem Erlaß der Verwaltungsgerichtsgesetze ebenfalls nicht mehr zurückgreifen. Ihr bleibt die Reformulierung des Gewaltenteilungsarguments mit einer impliziten Verkürzung der Rechtmäßigkeitskontrolle. v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 460 f. 42 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 427,430, 524 f. 43 Vgl. v. Lemayer, GrünhutsZ 8 (1881), 754; v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 587 ff., 614; ders., Verwaltungsrecht, S. 161; Bernatzik, Rechtsprechung, S. 43; v. Stengel, VerwArch. 3 (1895), 211; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 8 f.; zu Bernatziks Versuch einer Neubegründung des Sachkundearguments s.u. Β. Π. 2. a) aa) ccc) bei Fn. 206 ff.. 44 Dazu Kaufmann, S. 21 ff.; v. Oertzen, S. 114 f. m.w.N.; der Begriff der Staatssouveränität findet sich erstmals bei H.A. Zachariae, 1. Teil, 3. Aufl., S. 42,49 f., 67. 45 Zuerst bei Albrecht, Göttingische gelehrte Anzeigen 1837, 1489 ff., 1508 ff., der die ältere - Vorstellung vom Staat als juristischer Person als staatsrechtlichen Grundsatz behauptet; dazu W. Pauly, Methodenwandel, S. 77 ff.

46 Gerber, Grundzüge, S. 1 ff., 217 ff. (ders., Öffentliche Rechte, S. 12 ff. versteht den Staat noch als Organismus); Laband, Staatsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 94 ff. m. Fn. 1, 2. Aufl., S. 53; zur Entwicklung der Lehre ausführlich v. Oertzen, S. 114 ff., 163 ff.; W. Pauly, Methodenwandel, S. 77 ff.; Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 368 ff.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Dabei gelingt es der konservativen Staats- und Verwaltungsrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts, noch einmal hinter die rechtsstaatlichen Positionen der sechziger Jahre zurückzugehen. Diese hatten die Rechtskontrolle zwar auf die Kontrolle der Wortlautauslegung beschränkt, diese aber auch bei nur teilweise gebundenen Entscheidungen nicht ausgeschlossen. Die konservative Lehre verweigert sich dieser Konsequenz. Indem sie die Abgrenzbarkeit von Rechts- und Ermessensfragen leugnet47 oder zum justizexemten „Ermessensgebiet" alle rechtlich nicht „mathematisch" genau bestimmten Entscheidungen erklärt, 48 vergibt sie auf der dogmatischen Ebene die Möglichkeit, den Bereich des Verwaltungsermessens differenziert abzugrenzen. Methodisch führt sie die traditionelle, vorpositivistische Verknüpfung von politisch-staatswissenschaftlicher und juristischer Argumentation fort. Dabei bleibt sie Vorstellungen verhaftet, die ein Erbe schon der vorkonstitutionellen, und nicht erst der frühkonstitutionellen Staatslehre sind. 49 Die übrige Staats- und Verwaltungsrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts kann diesem Konzept zunächst keine geschlossene, von der Rechtsbindung her gedachte Alternative entgegensetzen. Die Verwaltungsrechtswissenschaft beginnt gerade erst, sich gegenüber der Staatsrechtslehre zu verselbständigen und sich als juristische Disziplin von der Verwaltungslehre abzugrenzen.50 Von der Erarbeitung eines Allgemeinen Teils, der die Rechtsformen des Verwaltungshandelns und seine rechtlichen Bindungen analysiert, ist man noch weit entfernt. 51 Die Darstellungen werden überwiegend noch vom Ressortprinzip beherrscht und verzahnen verwaltungsrechtliche und verwaltungswissenschaftliche Gesichtspunkte.52 Selbst G. Meyers Versuch einer Systematik von Verwaltungsakten 53 orientiert sich mit der Einteilung in Gebote, Verbote, Konzessionen etc. noch am Inhalt obrigkeitlicher Maßnahmen und arbeitet weder ihre Rechtsform noch den Grad ihrer rechtlichen Gebundenheit deutlich heraus. 54 Es gibt also bis zur Mitte der achtziger Jahre noch keine verwaltungsrechtswissenschaftliche Dogmatik, in die eine Neuformulierung der Ermessenslehre sich einfügen könnte oder müßte. Die Staatsrechtslehre selbst ist zu sehr mit der Auseinandersetzung um Methodenfragen und der

47 So Zorn, VerwArch. 2 (1894), 134 ff., 140. 48 Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 9, vgl. ebd., S. 3 ff., 7 f.; weitere Nachweise s.o. Fn. 34. 49 S.o. A.II. 1. 50 Dazu Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 90 ff.; Feist, S. 133 ff., 148 ff., 164 ff. 51 Zu den Vorarbeiten F. F. Mayers, G. Meyers, v. Sarweys und v. Stengeis vgl. Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 394 ff. 52 Vgl. Guplowicz' Sammelrezension der Werke von Hue de Grais (1882), v. Kirchenheim (1885), G. Meyer (1883/85), Loening (1884) und v. Stengel (1886), in: GrünhutsZ 14 (1887), 478 ff. Gumplowicz meint (a. a. O., S. 481), noch sei in diesen Lehrbüchern „blutwenig Rechtswissenschaft enthalten", da der Stoff nicht auf die Systematik der Rechtsformen konzentriert dargeboten werde. 53 G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 4, 29 ff. 54 O. Mayer, AöR 11 (1896), 158 ff., lehnt deshalb G. Meyers Einteilung ab.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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Rekonstruktion verfassungsrechtlicher Beziehungen beschäftigt, u m verwaltungsrechtlichen Problemen viel Aufmerksamkeit zu w i d m e n 5 5 - Laband schien zunächst sogar zu zweifeln, ob eine selbständige juristische Bearbeitung des Verwaltungsrechts überhaupt lohne. 5 6 Immerhin kommt die positivistische Lehre vom Gesetzesvollzug, die von Laband entwickelt wird und über O. Mayers Lehre vom Verwaltungsakt Einfluß auf die herrschende Ermessensdogmatik gewinnt, einer Grundsatzkritik des auf der Gewaltenteilungslehre beruhenden Ermessensverständnisses sehr nahe. Auch sie begnügt sich aber letztlich damit, den Gewaltenteilungsansatz zu relativieren, und scheut davor zurück, richterliche und administrative Rechtsanwendung gleichzustellen.

bbb) Die Relativierung des Gewaltenteilungsarguments in der positivistischen Staatsrechtslehre Die spätkonstitutionelle positivistische Staatsrechtslehre 57 tritt mit dem Anspruch auf, nach der Konsolidierung der verfassungsrechtlichen Lage eine wissenschaftliche, rein juristische Methode zur Bearbeitung des öffentlichen Rechts zu begründen. 58 Dabei wird die traditionelle Verflechtung der Darstellung des geltenden Staatsrechts mit vernunftrechtlichen, staatsphilosophischen und politischen 55 Dazu Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 330 ff., 364 ff.; W. Pauly, Methodenwandel, S. 10 ff., 122 ff. 56 In der Rezension von O. Mayers „Theorie des französischen Verwaltungsrechts" stellte Laband fest, das Verwaltungsrecht sei „nicht eine spezifische Art von Recht", sondern nur die Summe der die Verwaltung betreffenden Rechtssätze, und weise deshalb keine „spezifischein), dem Verwaltungsrecht eigenartige(n) Rechtsprinzipien" auf. Eine wissenschaftliche Bearbeitung des Verwaltungsrechts könne deshalb nur die „staatsrechtliche(n), privatrechtliche(n), strafrechtliche(n) und prozeßrechtliche(n) Regeln", die das Verwaltungsrecht beherrschten, in ihrer Verknüpfung darstellen (Laband, AöR 2 (1887), 155 f.; dazu O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 18, Fn. 7). Noch im Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 186 m. Fn. 1 verweist Laband auf die frühere Darstellung und ergänzt zum Verhältnis von Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungslehre auf S. 203: „Der weitaus größte Teil der Staatsverwaltung steht dem Recht ganz fern und kann deshalb nicht in Rechtsregeln gebracht werden. Die Rechtsordnung liefert nur für einen verhältnismäßig kleinen Teil der staatsrechtlichen Verwaltungstätigkeit die Motive und bestimmt ihren Inhalt." 57 Die übliche Bezeichnung der von Gerber und Laband geprägten Methode als positivistisch wird hier übernommen, obwohl ihr Anspruch in der Behandlung des Ermessensproblems nur unvollständig eingelöst wird (dazu s.u. bei Fn. 72 ff.). Als positivistische Ermessenslehre können nur die Beiträge Kelsens, Verdroß' und Merkls bezeichnet werden (dazu s.u. B. III.). 58 Gerber, Öffentliche Rechte, S. 9 ff.; ders., Grundzüge, S. VIII, 1 f.; Laband, Staatsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 5 ff.; zu den Grundlagen des staatsrechtlichen Positivismus und zur Abgrenzung vom Gesetzespositivismus des frühen 19. Jahrhunderts vgl. W. Pauly, Methodenwandel, S. 74 ff., 92 ff.; D. Grimm, Methode, S. 349 ff.; Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 330 ff., je m.w.N.; aus der früheren Literatur vgl. v. Oertzen, S. 216 ff., 291 ff., 326 ff.; Böckenförde, Gesetz, 2. Aufl., S. 211 ff.; Wilhelm, S. 70 ff. (vgl. aber dazu u. Β. IV. bei Fn. 41).

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Postulaten nicht pauschal verurteilt. Sie wird vielmehr als revisionsbedürftige, zeitbedingte Form staatsrechtlicher Auseinandersetzung verstanden. Sie gehöre „eine(r) Zeit der Politik und nicht des Rechts" an, in der „alle öffentlichen Verhältnisse in stetem Schwanken" begriffen waren, 59 und die Bearbeitung des deutschen Staatsrechts sich angesichts der regional und zeitlich verschobenen Ablösung ständischer oder absolutistischer durch konstitutionelle Staatsordnungen entweder mit einer „systematische(n) Staatsrechts-Statistik" begnügen mußte oder versucht war, durch den Rückgriff auf politische oder staatsphilosophische Theorien das erstrebte Ziel vorwegzunehmen. 60 Mit der nationalen Einigung und der Verfassungsgebung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches scheint die Entwicklung nun aber zu einem Abschluß gekommen zu sein, der, unabhängig von der Zufriedenheit mit dem politisch Erreichten, die juristische Erfassung des status quo zur Aufgabe macht. 61 Die Vertreter der positivistischen Neuorientierung verlangen deshalb, die politische, historische und philosophische Betrachtung aus der Staatsrechtslehre auszugrenzen62 und diese als juristische Disziplin allein auf die Interpretation und Systematisierung des positiven Rechts zu beschränken.63 Daß damit weder ein auf die grammatische Interpretation reduzierter, naiver Gesetzespositivismus noch eine bloß kommentierte Synopse des geltenden Rechts beabsichtigt ist, zeigt sich in der Erläuterung des methodischen Vorgehens. Der Rechtsstoff, d. h. die Gesamtheit der geltenden staatsrechtlichen Normen, soll systematisch erfaßt und geordnet werden, um daraus nach sorgfältiger Interpretation die Rechtsbegriffe abstrahieren und die Rechtsinstitute des öffentlichen Rechts konstruieren zu können.64 Ziel ist, das Staatsrecht als System der „Entwicklung eines einheitlichen Grundgedankens"65 aufzufassen und auf den Begriff zu bringen. Das Pro59 Gerber, Öffentliche Rechte, S. 11. 60 Gerber, Öffentliche Rechte, S. 9 f. 61 Laband, Staatsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. V f. 62

Daß diese Disziplinen weiterhin Bedeutung haben und nur von der Rechtsdogmatik getrennt behandelt werden sollen, stellt Laband (Staatsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. X f.) gegen die zeitgenössische Kritik an der „Einseitigkeit" seiner Methode (dazu s.u. Β. IV. bei Fn. 14) nochmals klar. Labands Anliegen der methodischen Differenzierung, die nicht mit der scheuklappenartigen Beschränkung der Staatswissenschaften auf die Staatsrechtslehre zu verwechseln ist, wird auch bei Laband, DJZ 1 (1896), 1; dems., AöR 19 (1905), 615 f. und in seinem Brief an Bluntschli v. 12. Februar 1876 (zit. n. Heyen, Quaderni Fiorentini 8 (1979), S. 277) deutlich; dazu W. Pauly, Paul Laband, S. 316 ff. Zu Labands politischem Wirken vgl. Schlink, Der Staat 31 (1992), 553 ff. 63 Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 1 f.; Laband, Staatsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. XI. 64 Laband, Staatsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. V ff., 2. Aufl., S. XI. Schon in Labands Budgetrecht, S. 3 ff., 75 ff., das genetische, historische und teleologische Auslegungsgesichtspunkteheranzieht, und im Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 279 ff., wird deutlich, daß Laband die Interpretation keineswegs auf die Wortlautauslegung reduziert, um darauf etwa eine naive Begriffsjurisprudenz aufzubauen (vgl. W. Pauly, Paul Laband, 316 f. m.w.N. in Fn. 71 gegen die entsprechende Kritik an Labands staatsrechtlichem Positivmus; zur Positivismus-Kritik vgl. auch u. Β. IV. bei Fn. 14 ff.). 65 Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. VIII.

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gramm schließt die Konstruktion von im positiven Recht nicht verwendeten rechtsdogmatischen Begriffen und die Deduktion staatsrechtlicher Grundsätze also nicht aus, sondern ein. Es verlangt aber, daß diese Begriffe und Grundsätze induktiv hergeleitet, d. h. anhand der Auslegungsregeln am Gesamtbestand der geltenden Normen ausgewiesen und gerechtfertigt werden. 66 Das Ableiten von Kompetenzzuweisungen oder -schranken aus dem staatswissenschaftlich begründeten Wesen von Justiz und Verwaltung kommt danach für die positivistische Staatsrechtslehre nicht in Frage. Die Gewaltenteilung muß vielmehr juristisch auf das zurückgeführt werden, was sie nach den Verfassungstexten ist: eine verfassungsrechtliche Zuordnung von Organkompetenzen, von der die inhaltliche Umschreibung der Staatsfunktionen zu unterscheiden ist. Entsprechend stellt Laband in seiner Darstellung des Reichsstaatsrechts die formelle oder subjektive Seite der Gewaltenteilung der materiellen oder objektiven gegenüber.67 Als Gewaltenteilung im formellen Sinn bezeichnet er die positivrechtliche Kompetenzverteilung zwischen den als Gerichten oder Verwaltungsbehörden konstituierten Organen. 68 Als Gewaltenteilung im materiellen Sinn entwikkelt er im Rahmen der Lehre vom Gesetzesvollzug die Differenzierung rechtlich determinierter Entscheidungen von rechtlich nur beschränkten Verfügungen. 69 Dabei stellt er unmißverständlich klar, daß zwischen der formellen und der materiellen Seite der Gewaltenteilung kein Ableitungszusammenhang besteht.70 Entscheidungen oder Verfügungen könnten durch das positive Recht sowohl den Gerichten als auch den Verwaltungsbehörden zugewiesen werden. Nach geltendem Recht erfüllten auch die Gerichte, ζ. B. im Bereich der Zwangsvollstreckung, einige Verwaltungsaufgaben; auch die Verwaltungsbehörden hätten, ζ. B. in der Verwaltungsrechtspflege, rechtliche Entscheidungen zu treffen. 71 Aus dem Wesen der Justiz oder der Verwaltung, mag es aus der historisch typischen Funktionsverteilung abgeleitet und staatsphilosophisch gerechtfertigt sein, kann deshalb nicht auf die geltende Zuständigkeitsverteilung geschlossen werden. Die Umkehrung deskriptiver in normative Funktionsbeschreibungen, die die Argumentation mit der Gewaltenteilung in ihrer Abgrenzung von Justiz und Verwaltung kennzeichnet, ist damit als unjuristische Begriffsbildung nachgewiesen und widerlegt. Dennoch hat Laband mit der Kontinuität der traditionellen Gewaltenteilungsvorstellungen auch im eigenen System nicht vollständig gebrochen. In die Konkreti66

Nicht gerechtfertigt ist deshalb die Kritik von Friedrich, der Laband ein verkürztes Dogmaükverständnis vorwirft (Friedrich, AöR 102 (1977), 200) und meint, Laband vertrete einen verflachten Gesetzespositivismus (Friedrich, AöR 111 (1986), 206; dagegen zu Recht W. Pauly, Paul Laband, S. 313 m. Fn. 63). 67 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 172 ff. 68 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 172 ff.,bes. S. 174 f. 69 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 176 ff. 70 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 178 f. 71 Ebd.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

sierung der Unterscheidung von materieller Rechtsprechung und Verwaltung fließt die Umschreibung der Verwaltung als freier Zwecktätigkeit, als „ M e h r " gegenüber dem Gesetzesvollzug,72 wieder ein. Sie verhindert die konsequente Durchführung der Abgrenzung allein nach dem Grad rechtlicher Determiniertheit der Entscheidung, die die rechtlich determinierte Verwaltungsentscheidung der gebundenen richterlichen Entscheidung hätte gleichstellen, und die konventionelle Abgrenzung richterlichen und Verwaltungsermessens hätte in Frage stellen müssen. Die Rechtsprechung im materiellen Sinn identifiziert Laband mit der Handlungsform der Entscheidung, die er als „Subsumtion eines gegebenen Tatbestandes unter das geltende Recht" charakterisiert. 73 Sie sei „wie jeder logische Schluß vom Willen unabhängig"; dem zur Entscheidung Berufenen, sei es ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde, werde hinsichtlich der „Entschließung, ob die Folgerung eintreten soll oder nicht", keine Freiheit eingeräumt. 74 Im Gegensatz dazu wird die Verfügung oder der Verwaltungsakt als Handlungsform der materiellen Verwaltung bestimmt und als Entscheidung nach freiem Ermessen innerhalb der gesetzlich gezogenen Grenzen charakterisiert. 75 Wie „(d)ie Gebundenheit... im Wesen der Entscheidung" liegt, liegt danach „die rechtliche Freiheit der Entschließung im Wesen des Verwaltungsaktes". 76 Würde die Abgrenzung nach dem Grad der gesetzlichen Bestimmtheit durchgehalten, müßten nun die gesetzlich vollständig determinierten Maßnahmen der Verwaltungsbehörden als Entscheidung qualifiziert werden. Dieser Konsequenz weicht Laband aus, indem er den Zweck der Tätigkeit als zweites Unterscheidungskriterium neben dem der rechtlichen Gebundenheit einführt. Verwaltung im materiellen Sinne ist nicht nur dadurch gekennzeichnet, daß sie rechtlichen Handlungsspielraum nutzen kann. Sie ist auch und vor allem Geschäftsführung des Staates, die Herbeiführung eines gewollten Erfolges in der eigenverantwortlichen Verwirklichung der Staatszwecke.77 Damit wird nicht nur, parallel zur juristischen Erörterung, eine staatswissenschaftliche Belehrung gegeben, sondern das Unterlaufen der juristischen Definition und Abgrenzung der Handlungsformen vorbereitet. Das deutet sich bereits im Wechsel der" Benennung der Entscheidungssubjekte an. Während eingangs noch neutral vom „zur Abgabe der Entscheidung Berufenen" die Rede war, 78 wird die Entscheidung später dem „Richter", die Verfügung der „Verwaltung" und ihren „Behörden" zugeordnet. 79 In den folgenden Ausführungen zeigt sich dann deutlich, daß aus der besonderen Zweckrichtung der Verwaltungstätigkeit ein qualitati72 73 74 75 76 77

Laband, Staatsrecht, Laband, Staatsrecht, Ebd. Laband, Staatsrecht, Laband, Staatsrecht, Laband, Staatsrecht,

2. Bd., 5. Aufl., S. 177. 2. Bd., 5. Aufl., S. 178. 2. Bd., 5. Aufl., S. 178 f. 2. Bd., 5. Aufl., S. 179. 2. Bd., 5. Aufl., S. 179, 197.

78 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 178. 79 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 178 f.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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ver Unterschied exekutiver und richterlicher Rechtsanwendung abgeleitet wird, der die Abgrenzung von Entscheidung und Verfügung nach dem quantitativen Grad rechtlicher Bestimmtheit überdeckt. Da der Verwaltungsakt immer auf einen über die Rechtsanwendung hinausreichenden Erfolg gerichtet ist, soll er sich zur Rechtsordnung auch im Fall bloßen Gesetzesvollzugs „nicht wie ein Schluß zu seinen Prämissen, sondern wie eine Handlung zu ihren Motiven" 80 verhalten. Das erlaubt, mit dem freien Willen der Verwaltung das Verwaltungsermessen als tragendes Element der Verfügung darzustellen, das im Gesetz „nur eine zufällige, keine begriffliche Schranke" 81 findet. Die rechtlich determinierte Verwaltungsmaßnahme wird zwar noch als Anwendung eines Rechtssatzes anerkannt, aber „nicht wie bei der Entscheidung in dem logischen Sinne, daß ein Rechtssatz als Obersatz auf einen Tatbestand als Untersatz angewendet wird; sondern in dem Sinne, daß die durch den Rechtssatz gewährte Befugnis als Machtmittel zur Erreichung eines bestimmten Erfolges verwendet wird." 8 2 Außerrechtliche Zwecke der richterlichen Rechtsanwendung erörtert Laband ebensowenig wie die Frage, warum diese für die juristische Beurteilung irrelevant sein sollen. Um den Gegensatz von richterlicher Entscheidung und Verwaltungsverfügung halten zu können, bemüht er sich vielmehr, nachzuweisen, daß sogar gesetzlich eröffnete Entscheidungsspielräume beim richterlichen Urteil den logisch-eindeutigen Charakter der Subsumtion nicht ausschließen. So könne bei der Feststellung des Tatbestandes „ein weiter Spielraum des Ermessens gelassen sein" und „das objektive Recht... dem Richter eine weitgehende diskretionäre Gewalt einräumen, ihm die Berücksichtigung der Billigkeit vorschreiben, ihm einen arbiträren Spruch übertragen." 83 Dennoch liege in allen Fällen keine rechtlich nur begrenzte Verfügung, sondern eine rein logisch zu findende Entscheidung vor. Denn die Tatbestandsfeststellung und das Ausfüllen des dem Richter vom Gesetz eingeräumten Spielraums hänge „nicht von seinem Willen ab" 8 4 : Den Tatbestand habe er seiner tatsächlichen Wahrnehmung entsprechend zugrundezulegen; bei der Ausfüllung des gesetzlichen Spielraums habe er „nicht seinen Willen, sondern denjenigen des objektiven Rechts zur Geltung zu bringen" und sei nur die „viva vox legis". 85 Es scheint, als sei danach der Richter vollständig, weil auch an den Willen des Gesetzes, und die Verwaltung nur unvollständig, weil nur an seinen Buchstaben gebunden. Doch Laband betont, die Gesetze seien „für die Verwaltungsbehörden keineswegs weniger bindend wie für die Gerichte; die Verwaltungsbehörden dürfen niemals aus Zweckmäßigkeitsgründen die geltenden Rechtssätze verletzen; aber sie werden innerhalb der durch die Rechtsordnung gegebenen Grenzen durch die Motive der Zweckmäßigkeit zu ihren

so Ebd. 81 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 179. 82 Ebd. 83 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 178. 84 Ebd. 85 Ebd. 9 Held-Daab

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Handlungen bestimmt." 86 Es ist allein dieses Zweckmoment, das noch bei der vollständig determinierten Verwaltungsentscheidung den selbständigen Willen der Verwaltung zum Tragen bringt und die Gleichstellung mit der durch den Gesetzeswillen bestimmten, richterlichen Entscheidung verbietet. 87 Indem das Zweckmoment in die Begriffsbestimmung einbezogen wird, hat sich die Konkretisierung der Abgrenzung von Entscheidung und Verfügung verschoben. Die Unterscheidung der Handlungsformen nach dem Grad positivrechtlicher Gebundenheit wird durch die konventionelle Gegenüberstellung inhaltlicher Funktionsbeschreibungen, durch den Gegensatz von angeblich stets logisch-eindeutiger, richterlicher Urteilsfindung und nur zufällig gesetzlich bestimmter Ermessensausübung der Verwaltung überlagert. Zwei Arten determinierter Entscheidung, aber auch zwei Arten des Ermessens stehen einander jetzt gegenüber: Die bei allem Spielraum immer eindeutig determinierte, richterliche Entscheidung bildet den Kontrast zur durch gesetzliche Schranken nur zufällig auf eine bestimmte Maßnahme verengten Verwaltungsverfügung. Das gesetzlich eingeräumte und gebundene richterliche Ermessen bildet den Gegensatz zum vorgesetzlichen, freien Ermessen88 der Verwaltung. Getragen wird die Verschiebung der Abgrenzung einerseits von der Kontinuität der mechanistischen Subsumtionsvorstellung. Sie begleitet den „Sonderweg" des Verwaltungsermessens gegenüber dem richterlichen Ermessen, erschwert die Wahrnehmung des Ermessensproblems als Rechtsbindungsproblem und verhindert seine Konkretisierung in Fragen der Rechtsauslegung und -anwendung. Im Postulat der eindeutigen Bindung des richterlichen Ermessens durch den Gesetzeswillen ist sie nur neu formuliert, aber nicht überwunden. Die zweite Stütze der Abgrenzungsverschiebung ist die Darstellung der Verwaltung als ursprünglich freier, jeder Rechtsordnung vorausliegenden Zwecktätigkeit, die rechtlich nicht begründet wird, sondern nur rechtlich beschränkt werden kann. In Labands Profanierung der Verwaltungstätigkeit zur Geschäftsführung 89 und in der Feststellung, das Gesetz könne Zweck und Zweckverwirklichung auch präzise vorschreiben, 90 ist die in der vorkonstitutionellen Staatslehre wurzelnde Autonomie der Verwaltung gegenüber der Rechtsordnung nur relativiert. Weil die exekutive Rechtsanwendung selbst bei 86 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 194. 87 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 178, 194; vgl. 1. Bd., 1. Aufl., S. 696, die Bemerkung, eine Verfügung könne „sachlich" auch eine Entscheidung sein; kritisch zu dieser Inkonsequenz O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 100, Fn. 8 a.E. 88 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., spricht S. 179 vom „freien Willen", S. 197 vom „freie(n) Ermessen" der Verwaltung. Subjekt des Ermessens ist nicht der einzelne Beamte, sondern die aus den Organen und Behörden zusammengesetzte Verwaltung (ebd., S. 197; übernommen von Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 17); das Ermessen ist nicht (außen-)rechtlich, sondern nur durch die Aufgabe der Staatszweckverwirklichung oder ihre Konkretisierung in internen Dienstvorschriften näher bestimmt (ebd., S. 197 f.). 89 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 197. 90 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 195.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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gesetzlich eindeutig determinierten Maßnahmen nicht auf die logische Subsumtion beschränkt sein soll, und weil die Verwaltung in der Ausfüllung gesetzlicher Spielräume nicht, wie der Richter, durch den Gesetzeswillen gebunden sein soll, ist auch bei Laband die Unterordnung der Verwaltung unter das konstitutionelle Gesetz noch nicht zum Abschluß gekommen. Entgegen dem ersten Anschein wird die traditionelle Staatslehre aus der staatsrechtlichen Begriffsbildung nicht völlig ausgeblendet. Indem Laband die außerrechtlichen Zwecke des Verwaltungshandelns, nämlich das Verfolgen politischer Ziele, als zentrales Element der verwaltungsrechtlichen Begriffsbildung beibehält, durchbricht er den eigenen methodischen Standard. Er bildet den überkommenen verfassungsgeschichtlichen Dualismus von monarchischer Exekutive und konstitutionellem Gesetz sowie den vorkonstitutionellen Dualismus von Justiz und Verwaltung in der juristischen Dogmatik ab. 91 Die überlieferte Gewaltenteilungsvorstellung hat damit die juristische Konstruktion wieder eingeholt. Labands Gegenüberstellung von Entscheidung und Verfügung wird in der Verwaltungsrechtslehre von Bernatzik und O. Mayer aufgenommen. Allerdings rezipiert Bernatzik die Unterscheidung nur scheinbar. Um eine möglichst weitgehende „Rechtskraft in Verwaltungssachen"92 behaupten zu können, versucht er, unter Rückgriff auf die Dienstpflicht gewissenhafter Amtsführung jede Verwaltungsmaßnahme als rechtlich gebunden auszuweisen und damit auch Ermessensakte zur Entscheidung zu erklären. Als Verfügung bezeichnet er nur noch die Handlungen, die eine solche „Entscheidung" ausführen. Dagegen übernimmt O. Mayer die Differenzierung von Entscheidung und Verfügung so, wie Laband sie gemeint hat, und projiziert sie in seine Lehre vom Verwaltungsakt. Ebenso wie Laband, gelangt er damit nicht zu einer konsequenten Neubestimmung des Ermessens von der Rechtsbindung her. Er bringt nur die zwei Arten des Ermessens, die sich bei Laband als unausgesprochene Konsequenz der doppelten Unterscheidung einerseits nach dem Grad rechtlicher Determiniertheit, andererseits nach dem traditionellen Bild der richterlichen und der Verwaltungsfunktion ergeben, in der Gegenüberstellung von richterlichem und freiem Ermessen auf den verwaltungsrechtsdogmatischen Begriff.

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Daß Laband seine Methode auch in der Staatsrechtsdogmatik wegen der Beeinflussung durch traditionelle Lehren nicht immer konsequent durchgeführt hat, weist W. Pauly, Methodenlehre, S. 200 ff., 205 u. a. für das monarchische Sanktionsrecht und das Dienstrecht der Offiziere nach. 92 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 114; Rechtskraft wird dort im Sinne der heutigen Bestandskraft gebraucht (vgl. dazu O. Mayer, AöR 1 (1886), 722; zu Bernatziks Ermessenslehre s.u. Β. II. 2. a) aa) ccc)).

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

ccc) Der Dualismus von richterlichem und freiem Ermessen in der Lehre vom Verwaltungsakt Die Übernahme der Differenzierung von Vollzugsmaßnahmen nach rechtlich determinierten Entscheidungen und rechtlich nur beschränkten Verfügungen findet sich bereits in O. Mayers „Theorie des französischen Verwaltungsrechts". 93 Mit dem vorgeblich 94 rechtsvergleichenden Ansatz nimmt sich O. Mayer die Freiheit schöpferischer Rekonstruktion und nutzt gleichzeitig die Tatsache, daß das französische Verwaltungsrecht in der jahrzehntelangen Tradition der Verwaltungsrechtsprechung und -lehre besser aufbereitet ist als das deutsche. Außerdem begrüßt O. Mayer den etatistischen Grundzug des französischen Verwaltungsrechts, das justizstaatliche Reminiszenzen mit dem vorrevolutionären Recht abgeschüttelt hat. 95 Es wird für O. Mayer zum Prüfstein einer konstitutionellen Verwaltungsrechtsdogmatik, 96 die er anschließend in seinem „Deutschen Verwaltungsrecht" systematisch ausarbeitet. Mit der positivistischen Staatsrechtslehre teilt O. Mayer dabei den Anspruch, die dem geltenden Recht zugrundeliegenden Begriffe und Rechtsinstitute herauszuarbeiten. Anders als die Positivisten erhebt er aber nicht den Anspruch, seine Dogmatik ausschließlich aus den positivrechtlichen Regelungen abzuleiten.97 Er ergänzt und überdeckt die „zerfahrenen" einzelnen Normen des deutschen Verwaltungsrechts vielmehr gelegentlich mit aus der Verfassungsgeschichte abgeleiteten, staatspolitischen Ideen oder überpositiven Rechtsgrundsätzen, deren Heranziehung er gern durch - teils irreführende - rechtsvergleichende Hinweise zusätzlich absichert. 98 93 O. Mayer, Theorie, S. 104,109 f. 94 Vgl. die entsprechende zeitgenössische Kritik bei Bidermann, GrünhutsZ 14 (1887), 629 ff.; Loening, SchmollersJB 11 (1887), 235; wohlwollender formuliert bei Laband, AöR 2 (1887), 149: Es handele sich um eine „eigenständige Systematisierung des französischen Rechts auf der Grundlage „origineller und zum Teil sehr subjektiver Auffassung". 95 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 54 f., 67: Die öffentlich-rechtlichen Ideen - worunter O. Mayer vor allem die rechtliche Allmacht des Staates und seine Beschränkung nur „von innen heraus" versteht - lägen in Frankreich „immer gleich in Reinkulturen" vor. 96 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 55. 97 Zur Methode O. Mayers und ihrer Distanz zum staatsrechtlichen Positivismus vgl. Hueber, S. 13 ff. (bes. S. 18 ff.), 148, 160 ff.; Heyen, Otto Mayer, S. 155 ff.; Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 98 f. m.w.N. O. Mayer selbst hat - wohl bewußt - zur Methode nur unklar Stellung genommen. Im Vorwort zur 2. Auflage seines Verwaltungsrechtslehrbuchs (S. VIII) stellt er als Replik auf Loenings Kritik (s.o. Β. II. 1. c) bb) ccc), Fn. 94) fest, „Auseinandersetzungen über Methodenfragen liebe (er) nicht". Falls es eine juristische Methode gebe, erhebe er jedenfalls keinen Alleinvertretungsanspruch. In einer Rezension von G. Meyers Verwaltungsrechtslehrbuch meint O. Mayer diplomatisch, juristische und staatswissenschaftliche Methode könnten gleichberechtigt nebeneinander stehen (O. Mayer, AöR 11 (1896), 160). 98 O. Mayer rechtfertigt den gelegentlichen Rückgriff auf nicht positivrechtlich begründete Sätze (dazu Hueber, S. 163) mit der Bemerkung, ihm gehe es vor allem darum, die Entwicklung der allgemeinen Rechtsideen im Verwaltungsrecht zu erfassen und in der Dogmatik

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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I m Zentrum der Lehre O. Mayers steht der Staat als Inbegriff öffentlicher Gew a l t . " Das dem Staat mit dieser Gewalt zugeschriebene Herrschaftsrecht äußert sich in seiner Befugnis zur einseitigen Gestaltung der Rechtsbeziehungen zu den Bürgern 1 0 0 , die O. Mayer wegen ihrer Staatsunterworfenheit mit dem damals schon negativ besetzten 1 0 1 Begriff der Untertanen bezeichnet 1 0 2 . Die staatliche Regelungsbefugnis wird in Rechtsetzungs- und Vollzugsakten ausgeübt und schließlich durch die Einzelfallregelung i m Verwaltungsakt 1 0 3 zur Geltung gebracht, 1 0 4 mit dem die erlassende Behörde ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis für sich und den Einzelnen verbindlich bestimmt. 1 0 5 O. Mayer beschreibt dabei den Ge-

herauszuarbeiten (O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., Vorwort, S. VIII). Mit der Berufung auf die Rechtsideen verschafft er sich die Möglichkeit, die vom staatsrechtlichen Positivismus gezogenen Grenzen juristischer Konstruktion im Bedarfsfall zu überschreiten. Der Gebrauch dieser Möglichkeit zeigt aber keine einheitliche rechtspolitische Tendenz. Bei der Konstruktion des Verwaltungsakts „auf Unterwerfung" (O. Mayer, Verwaltungsrecht, 2. Bd., 2. Aufl., S. 262), der kommunalen Selbstverwaltung (a. a. O., S. 642 ff.) und des subjektiven öffentlichen Rechts (O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 107) dient er dazu, das „rechtliche() Überwiegen()" der Staatsgewalt über den Willen der Einzelnen zu betonen, das Laband in seiner Rezension (AöR 2 (1886), S. 158 ff.) als positivrechtlich nicht begründbaren Etatismus nachweist und ablehnt. Der großzügige Umgang mit juristischen Begründungsstandards kann aber auch, wie bei der Herleitung des Vorbehalts des formellen Gesetzes (O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 60 ff., 74 ff.), ausgesprochen liberale Tendenzen unterstützen. 99 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 3. 100 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 3, 67.; a. a. O., S. VIII spricht 0. Mayer deshalb auch von der „strengen Einseitigkeit" der öffentlichrechtlichen Institute der Polizei- und Finanzgewalt, die alle von der Staatsgewalt her zu konstruieren seien. Ebd., S. 53 wird die „unbedingte Übermacht" der Staatsgewalt als eine ,,große() Errungenschaft()" des Polizeistaates dargestellt, die in der Entwicklung zum Rechtsstaat „nicht ausgelöscht oder rückgebildet", sondern „übernommen" und nur „weiter entfaltet" worden sei. ιοί Stolleis, Untertan, S. 80 ff. 102 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 67. i° 3 Auch im Begriff des Verwaltungsakts hat O. Mayer einen in der französischen Lehre weiten Sprachgebrauch durch Hervorheben der Regelungsfunktion auf einen präzisen dogmatischen Begriff reduziert (O. Mayer, Theorie, S. 91). Die französische Verwaltungsrechtswissenschaft verstand zunächst unter „acte administratif' jede Maßnahme der Verwaltung; selbst der engere Begriff der „actes d'autorité" umfaßte nicht nur die hoheitliche Regelung, sondern als Gegensatz zu den „actes de (pure) gestion" alle öffentlichrechtlichen Maßnahmen außerhalb der Domänenverwaltung und des vertraglichen Handelns (vgl. Chauveau, Principes, 1. Bd., S. 92 f.; Aucoc, 1. Bd., 1. Aufl., S. 374). O. Mayer nahm mit seinem engen Begriff des Verwaltungsakts also die in Frankreich kurz darauf von E. Laferrière (1. Bd., 1. Aufl., S. 5, 2. Aufl., S. 477 f., 484 f.; Ansätze schon bei Ducroqc, 1. Bd., 6. Aufl., S. 232, 235) vertretene Konzeption vorweg. Sie fand in der französischen Lehre nur vorübergehend Verbreitung und wurde um die Jahrhundertwende von der Lehre vom „service public", dem Handeln im öffentlichen Interesse, verdrängt (dazu Jèze, S. V). Zum möglichen Einfluß Bernatziks auf O. Mayers Definition des Verwaltungsakts vgl. Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 99,Fn. 97 a.E.; und O. Mayers Rezension der Arbeit Bernatziks in AöR 1 (1886), 720 ff. 104 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 84 f., 95 ff.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

brauch der staatlichen Regelungsbefugnis erstmals als stufenweise Konkretisierung des Staatswillens, die in der Hierarchie der zur Rechtsanwendung Berufenen dem jeweils Nachfolgenden mehr oder weniger Spielraum lassen kann. 106 Er zieht daraus jedoch nicht die Konsequenz, das Verhältnis von Ermessen und Gebundenheit auf jeder Stufe in Erwägung zu ziehen. Die von Laband entlehnte 107 Unterscheidung nach gebundener und rechtlich nur beschränkter Maßnahme wird, ebenso wie der Begriff des Ermessens, allein auf die unterste Stufe der Konkretisierung, die Handlungsform des Verwaltungsakts, bezogen.108 Indem O. Mayer im französischen Recht sogenannte streitige 109 von den freien Verwaltungsakten abhebt 110 und im deutschen Recht die gebundenen von den freien Verwaltungsakten unterscheidet, 111 projiziert er Labands Abgrenzung von rechtsprechender Entscheidung und Verwaltungsverfügung in den Begriff des Verwaltungsakts hinein. Allerdings geht das außerrechtliche Moment der Zweckverfolgung durch die Verwaltung, mit dem Laband noch die gebundene Verfügung von der urteilsgleichen Entscheidung unterschied, bei O. Mayer in der rechtlichen Befugnis zur einseitigen Konkretisierung öffentlich-rechtlicher Beziehungen auf, die allen Verwaltungsakten zugrundeliegt. 112 Im Unterschied zu Laband kann O. Mayer deshalb zugeben, daß die rechtlich determinierte Verwaltungsmaßnahme mit dem Begriff der Entscheidung zusammenfällt. 113 Er skizziert die „Stufenfolge" verschieden intensiver gesetzlicher Bindung der Verwaltung von der allgemeinen Ermächtigung über die unvollständige Regelung bis zur vollständigen inhaltlichen Bestimmung und stellt dabei ausdrücklich fest, daß das Gesetz die Verwaltungsbehörde ebenso festlegen könne wie die Justiz. 114 Ist der Inhalt des Verwaltungsakts durch Gesetz oder Verordnung schon in „alle(n) wesentliche(n) Punkte(n)" vorgegeben, dann fügt der Verwaltungsakt „kein neues eigenes Willenselement dazu", los O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 64 f., 78, 99 f.; 2. Aufl., S. 95,98. 106 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 84 f. io? O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 100, Fn. 8; 2. Aufl., S. 101, Fn. 13, S. 102, Fn. 14. io» O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 100; 2. Aufl., S. 99 ff. 109 O. Mayer, Theorie, S. 104. Die Bezeichnung geht darauf zurück, daß Mayer mit dieser Kategorie die Verwaltungsmaßnahmen erfassen wollte, gegen die in Frankreich Rechtsschutz im Verwaltungsrechtsweg gewährt wurde. Ihre Gleichsetzung mit gebundenen Akten trifft aber nicht zu. Außerdem konnten nicht nur Verletzungen subjektiv-öffentlicher Rechte, sondern auch rechtswidrige Interessenbeeinträchtigungen geltend gemacht werden (Ducrocq, 1. Bd., 6. Aufl., S. 235; O. Mayer, Theorie, S. 139, Fn. 2, führt das in seiner Darstellung des recours pour excès de pouvoir auch selbst aus). Daß O. Mayer (Theorie, S. 110) dennoch die Kongruenz gebundener und streitiger Akte behauptet, dürfte damit zusammenhängen, daß er den Rechtswegausschluß für Ermessensakte als Grundsatz legitimieren wollte. 110 O. Mayer, Theorie, S. 104 f., 110. m 112 113 114

O. Mayer, Verwaltungsrecht, O. Mayer, Verwaltungsrecht, O. Mayer, Verwaltungsrecht, O. Mayer, Verwaltungsrecht,

1. Bd., 1. Bd., 1. Bd., 1. Bd.,

1. Aufl., 1. Aufl., 1. Aufl., 1. Aufl.,

S. 84 f., 100 f.; 2. Aufl., S. 99 ff. S. 85; 2. Aufl., S. 100. S. 100. S. 84.

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sondern „erklärt nur den Willen der bereits gegebenen Bestimmung". 115 Er ist damit ein „Rechtsprechungsakt", 116 ein „Seitenstück" des zivilgerichtlichen Urteils 1 1 7 und stellt, wie dieses, nur fest, „was (sc.: schon) Rechtens ist." 1 1 8 Sein Regelungsgehalt beschränkt sich darauf, die in der Norm getroffene Anordnung für den konkreten Einzelfall als verbindlich zu erklären. 119 Im Gegensatz dazu steht die Verfügung. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß ein von der Ermächtigungsnorm belassener Regelungsspielraum durch eigenen Willensentschluß der Verwaltung ausgefüllt wird, der die unvollständige normative Vorgabe durch eigene, „schöpferisch(e)" 120 Zutat zu einer vollständigen Regelung ergänzt. 121 Weil O. Mayer, trotz der Erkenntnis möglicher Spielräume bei der Rechtsanwendung, der Vorstellung vom Richter als der viva vox legis verhaftet bleibt, 122 stellt er den gebundenen Verwaltungsakt, wie das richterliche Urteil, als bloßes Auffinden einer vorgegebenen Entscheidung dar. 123 Wie bei Laband, ist es auch bei O. Mayer die Bindung an den Willen des Gesetzes, die die Spielräume bei der Rechtsanwendung zur Gebundenheit verengen soll. 1 2 4 Die schon in der frühkonstitutionellen Diskussion gern zitierte Unfähigkeit des Gesetzes, „der unübersehbaren Mannigfaltigkeit" der tatsächlichen „UmständeO" gerecht zu werden, 125 und die daraus folgende Unbequemlichkeit, den Einzelfall „nur entsprechend treffen" zu können, 126 sollen die unvermeidlichen Anwendungsspielräume erklären und gleichzeitig ausschließen, daß damit dem Anwender eine Befugnis zu eigenständig konkretisierender Regelung gelassen sein könnte. Bei der gebundenen Verwaltungsentscheidung soll, wie beim Urteil, „mit diesem Ermessen ... nur gefunden worden sein, was der wohlverstandene Wille des Gesetzes für diesen Fall... schon ist." 1 2 7 Daraus folgert O. Mayer, es möge sich bei diesen Anwendungsspielräumen wohl um Ermessen handeln, doch liege hier „in Wahrheit kein freies Ermessen,

115 O. Mayer, Theorie, S. 110; inhaltlich übereinstimmend ders., Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 100; 2. Aufl., S. 101. ne O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165.

117 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 59. us O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 100. 119 Vgl. O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 84, zum Urteil. 120 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165. 121 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 101; 2. Aufl., S. 101, 103. 122 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 99 f. 123 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 164 f. 124 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 101. 125 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 164. 126 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165. 127 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165; vgl. 2. Aufl., S. 101 die Formulierung von der Anpassung der richterlichen Entscheidung an einen ,4m voraus nicht genügend zu würdigenden Thatbestand", insbesondere durch die Bestimmung eines „Mehr oder Weniger" entsprechend dem „anzunehmenden Willen des Gesetzes".

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sondern ein gebundenes"128 oder „richterliches" 129 Ermessen vor. Von dem freien Ermessen, das die Verfügung kennzeichne, könne nur gesprochen werden, wenn nach dem Willen des Gesetzes „nicht mehr eine, wenn auch noch so weitgehende Auslegung des Gesetzes,... sondern eigene Erwägung des Gemeinwohles" den Inhalt des Verwaltungsakts bestimmt. 130 O. Mayers Unterscheidung von gebundenem, quasirichterlichen und freiem, verwaltungstypischen Ermessen ist durch das traditionelle Gewaltenteilungsmodell nicht weniger beeinflußt als Labands Abgrenzung von Entscheidung und Verfügung. Aus der jeweiligen Einbindung in die Lehren von Staat und Verwaltung wird aber deutlich, daß O. Mayers Rezeption des Gewaltenteilungsgedankens, insbesondere seine Auffassung der Exekutive, sich von Labands Verständnis durch eine autoritär-etatistische Akzentsetzung unterscheidet. Laband stellt die umfassende Regelungsbefugnis des Staates nur fest, um sich der Begründung und Ausdifferenzierung ihrer rechtlichen Grenzen zuzuwenden. 131 Er begreift die Rechte des Einzelnen zwar als durch die staatliche Rechtsetzung vermittelt, aber darum nicht als gegenüber staatlichen Befugnissen nachrangig. 1 3 2 Das Postulat ursprünglicher, umfassender Herrschaftsgewalt des Staates, das in der Abwehr feudal-patrimonialstaatlichen Staatsverständnisses den Ausgangspunkt der juristischen Konstruktion bildet, wird in ein Geflecht von Rechtsbeziehungen aufgelöst. Aufgrund des rechtsstaatlich begründeten Rechtssatzvorbehalts 133 muß jede Äußerung des staatlichen Herrschaftsanspruchs in den Formen des Rechts geschehen, also in Rechtssätzen konkretisiert werden. Jede Regelung und jede Geltendmachung staatlichen Willens gegenüber dem Einzelnen enthält damit gleichzeitig eine Begrenzung der Staatsgewalt, die bei Überschreitung der gezogenen Schranken durch die Exekutive einen Abwehranspruch vermittelt. 134 128 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165. 129 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 101. 130 Ebd. 131 Deutlich ist Labands Abgrenzung von O. Mayer in AöR 2 (1887), 159 ff., wo Laband die autoritär geprägten Konkretisierungen der Staatsbürgerstellung im subjektiven öffentlichen Recht, im Verwaltungsvertrag und in der Selbstverwaltung als „einseitige und meines Erachtens unhaltbare" Auffassungen bezeichnet, die das Verwaltungsrecht „verkümmern" und „den Reichtum" der juristischen Formen „verkürzen". 132 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 186, zum Rechtsschutz S. 182. 133 S.o. Β. II. 1. c) aa) bei Fn. 27 f. 134 Das Leugnen der subjektivrechtlichen Qualität der Grundrechte bei Laband und Gerber ist deshalb auch nicht als Verkürzung des Rechtsstatus des Einzelnen zu verstehen. Sie versucht nur, sich möglichst weit von der Vorstellung staatsrechtsunabhängiger, überpositiver Rechte des Einzelnen zu distanzieren, die politisch mit den Überresten der feudalen Reaktion in Verbindung gebracht wird und juristisch die Konstruktion des Staatsrechts aus der unabgeleiteten Staatsgewalt gefährdet. Die frühe positivistische Staatsrechtslehre reduziert die Grundrechte deshalb auf die Funktion objektivrechtlicher Schranken der Staatsgewalt. Sie gesteht aber bei ihrer Verletzung, wie bei jedem rechtswidrigen Eingriff, dem Betroffenen einen Abwehranspruch zu. Die Rechtsstellung des Einzelnen wird damit nicht inhaltlich ver-

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Zumindest in den Eingriffsverhältnissen ist die faktische Macht des Staates also vollkommen diszipliniert. Die Subordination des Einzelnen, die in der traditionellen Staatsrechtslehre das öffentliche Recht nur als Recht minderer Verbindlichkeit erschienen ließ, ist in Labands Verständnis des Staates als Willenssubjekt, das die Rechtsordnung nur erschafft, indem es ihr gleichzeitig unterliegt, juristisch aufgehoben. Sie stört die Konstruktion öffentlich-rechtlicher Rechtsbeziehungen nicht mehr, sondern fordert sie heraus. Dagegen bleibt bei O. Mayer das Überwiegen der staatlichen Macht auch in den dogmatischen Konstruktionen präsent. Der Staat „hat auf seiner Seite die öffentliche Gewalt", 135 ohne daß diese aus dem Subjektwillen konstruiert und mit ihm in die rechtliche Ordnung eingebunden wäre. Sie äußert sich vielmehr bis in die Rechtsbeziehungen zum Einzelnen in einem „rechtlich(en) (Ü)berwiegen()" des staatlichen Willens, das nicht nur die Regelungsbefugnis verdeutlichen soll, sondern als Ungleichgewicht der Rechtspositionen von Bürger und Verwaltung aufgefaßt wird. 1 3 6 Die Rechtsbindung der Staatsgewalt ist nicht schon in ihrem Begriff angelegt, sondern wird als nachträgliche, nur mögliche und keinesfalls notwendige Zutat dargestellt. 137 Die Konkretisierung der Rechtsverhältnisse im Verwaltungsakt erscheint, zugespitzt formuliert, als eine Wohltat des Rechts, die der Staat seinen Untertanen gnädig gewährt, damit sie sich angesichts der omnipräsenten staatlichen Bestimmungsgewalt auf kleine „feste Punkte" der Rechtssicherheit zurückziehen können. 138 Sogar die Feststellung, wegen der zweiseitigen Bindungswirkürzt, sondern nur vom unmittelbar verfassungsrechtlichen Anspruch in ein Recht umformuliert, das durch das rechtsstaatlich abgeleitete Gesetzmäßigkeitsprinzip vermittelt ist. Die regelmäßige Ausstattung der Grundrechte mit einfachen Gesetzesvorbehalten gestattet diese Konstruktion, die sich in die oben unter Β. I. 1. e) aa) und Β. II. 1. c) aa) bei Fn. 27 ff. bereits beschriebene Ablösung der verfassungsrechtlichen durch die rechtsstaatliche Argumentation einfügt. - Das inhaltliche Verkürzen der Grundrechte geschieht unterdessen in der nichtpositivistischen Staatsrechtslehre, durch die Herabsetzung der Grundrechtsgewährleistungen zu ausfüllungsbedürftigen Grundsätzen ohne eigenen Regelungsgehalt (G. Meyer, Staatsrecht, 2. Aufl., S. 643 f.; Bornhak, Staatsrecht, 1. Bd., S. 276) oder durch ihr Verständnis als bloße Kompetenzzuweisungen (Arndt, Verordnungsrecht, S. 67 f.). 135 o . Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 67. 136 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 67; vgl. a. a. O., S. 53 die Schilderung der „unbedingten Übermacht der Staatsgewalt" als Errungenschaft des Polizeistaates. 137 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 10, 53 ff.; 68 ff. Der Verdacht drängt sich auf, daß Mayer die ständische Ordnung zwar in etwa zutreffend wiedergibt, den Polizeistaat aber viel absolutistischer schildert, als er in Deutschland jemals war (ebd., S. 38 f., wird das Fortbestehen der iura quaesita und die Anerkennung der Mißbrauchslehren (dazu s.o. A. I. 2. b) bb) bbb)) geleugnet). Die Verzerrung dient dazu, die konstruktiv nicht zu begründende Übermacht der Staatsgewalt evident erscheinen zu lassen. 138 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 95. Die zeitgenössische Verwaltungsrechtslehre sah als Fixpunkte bürgerlicher Rechtssicherheit dagegen die Gewährung subjektiv-öffentlicher Rechte an (v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 428: die subjektive Rechte begründenden, gesetzlichen Bestimmungen „erscheinen gewissermaßen wie das feste Land innerhalb des flüssigen Elements der Verwaltung: nur wo der Einzelne auf dem festen Boden des Gesetzes Halt findet", kann er sein Recht der Verwaltung entgegensetzen.) Da die Ver-

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kung sei im Verwaltungsakt der Rechtsstaat vollendet, 139 erhält, wie die Charakterisierung des gebundenen Verwaltungsakts als Seitenstück des zivilgerichtlichen Urteils, 140 eine autoritäre Pointe. Denn beides dient dazu, die Entbehrlichkeit eines dem Zivilprozeß analogen Verwaltungsrechtsschutzes anzudeuten.141 O. Mayers obrigkeitsstaatliche Ausdeutung der Gewaltenteilung ist damit weit konservativer als Labands juristische Konstruktion staatsrechtlicher Beziehungen. Dagegen wiederholt O. Mayer in seinen Aussagen zur Normauslegung und -anwendung bei gebundenen Verwaltungsakten nur, was Laband bereits für den Begriff der Entscheidung ausgeführt hat. Präsentiert wird, hier wie dort, ein mechanistisches Subsumtionsmodell, das die Polarisierung von Rechtsprechungs- und Verwaltungsfunktion abstützt und die Abstufungen rechtlicher Bestimmtheit in den Gegensatz rechtlich determinierter und freier Maßnahmen auflöst. Die Rechtsanwendung wird, wie nach justizstaatlicher Lehre die Rechtsprechung, als neutrale Funktion ohne eigenen Regelungsgehalt geschildert. Sie soll sich in logischer Denktätigkeit erschöpfen und als viva vox legis ohne eigenes Zutun nur den Willen des Gesetzes reproduzieren. Daß dieser Wille auch bei weit gefaßten Ermächtigungen für jeden Einzelfall eine eindeutige Lösung bestimmt, wird ebenso vorausgesetzt wie die Leistungsfähigkeit der Auslegung, diese Lösung zweifelsfrei zu ermitteln. 142 Die positivistische Staatsrechtslehre Labands und die von ihr beeinflußte Verwaltungsrechtsdogmatik 143 tragen damit die konventionelle Verkürzung des Erwaltungsrechtslehre vor O. Mayer allerdings noch regelmäßig aus den Verwaltungsaufgaben auf die Befugnisse Schloß (v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 79, 401; G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 64 f.; vgl. 2. Aufl., S. 78 m. Fn. 17) war diese Konzeption im Ergebnis nicht liberaler als die Lehre O. Mayers mit ihrer Begründung des Gesetzesvorbehalts. 139 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 83, 94. 140 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 64 f. 141 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 62 f.: „(I)n der Verwaltung kann in derselben Weise Recht gesprochen werden wie in der Justiz", und zwar schon durch den Verwaltungsakt, also außerhalb des streitigen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Der „hochwichtige Begriff" des Verwaltungsakts sei „stillschweigend schon gegeben in der Parallelstellung, welche der Verwaltung unter dem Gesetz neben der Justiz angewiesen ist" (a. a. O., S. 59). O. Mayer spricht deshalb (a. a. O., S. 65) von der »Justizförmigkeit der Verwaltung" und nicht etwa vom Schutz subjektiv-öffentlicher Rechte - als Vollendung des Rechtsstaates. Sie wird dahin verstanden, daß die Verwaltung parallel zu den Gerichten Rechtsbeziehungen konkretisierend gestalten solle, und daß sie damit das, wofür im Zivilrecht Gerichte erforderlich seien, selbst schon ausreichend leiste (a. a. O., S. 78, 94). Die Position wird (a. a. O., S. 63 m. Fn. 16) zugespitzt in der Ablehnung justizstaatlicher Forderungen, die O. Mayer noch verzerrt, indem er behauptet, sie hätten der Verwaltung kein eigenes Vollzugsrecht zugestanden: Die Verwaltung könne Recht und Gesetz verwirklichen wie die Gerichte und stehe diesen nicht gegenüber wie der einzelne Staatsbürger. 142 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Aufl., S. 84, 100, 164 f.; 2. Aufl., S. 101; Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 178. ι 4 3 Die Abgrenzung von gebundenem, richterlichen und freiem Verwaltungsermessen wird übernommen bei v. Laun, Ermessen, S. 24 f., 61, 89 f.; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 2, 7;

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messensproblems in entscheidenden Punkten mit. Sie relativieren zwar das Gewaltenteilungsmodell zur Unterscheidung „materieller" Staatsfunktionen oder administrativer Handlungsformen, beschränken das Ermessensproblem aber weiterhin auf die Analyse des Gesetzesvorrangs und konservieren dabei den verkürzenden Dualismus logisch-eindeutig bestimmter Rechtsanwendung und rechtlich nur beschränkter, freier Ermessensausübung. Die Entwicklung der herrschenden spätkonstitutionellen Ermessenslehre wird durch diese Problemverkürzungen bestimmt und begrenzt. Mangels systematischer Grundlegung beschränkt sich die Diskussion bis nach der Jahrhundertwende darauf, auf der Grundlage der nur unvollständig reflektierten, überkommenen Lehren die Grenzen des Verwaltungsermessens an den Hauptpunkten des rechtsschutzund verwaltungspolitischen Interesses zu erarbeiten.

2. Schauplätze und Fortschritte der Diskussion Die herrschende spätkonstitutionelle Ermessenslehre entfaltet sich in drei Diskussionskreisen, die sich zeitlich teilweise überschneiden und systematisch aufeinander bezogen sind. Problematisiert wird zunächst die überkommene Vorstellung, die Konkretisierung unbestimmter Begriffe sei grundsätzlich der Verwaltung überlassen. Obwohl das Verhältnis von Normauslegung und sachkundiger Tatsachenfeststellung methodisch nicht geklärt wird, gelingt es in der Auseinandersetzung mit der verwaltungsfreundlichen süddeutschen Rechtsprechung und der konservativen Lehre nach und nach, unbestimmte Begriffe im Normtext als nachprüfbare,,Rechtsbegriffe" zu etablieren. Als Folge dieser Entwicklung zeigt sich die Tendenz, den Ermessensbegriff auf die Freiheit gesetzlich angeordneter Rechtsfolgenwahl zu beschränken. In einem zweiten Diskussionszusammenhang wird die Freiheit der Wahl unter verschiedenen, gesetzlichen Handlungsmöglichkeiten durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt. Nachdem das preußische Oberverwaltungsgericht mit seiner Interpretation des § 10 I I 17 PrALR das Übermaß polizeilicher Eingriffe vom Indiz des Ermessensmißbrauchs zum Rechtsfehler erhoben hat, wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Lehre systematisch begründet und zur Rechtfertigungsbedingung jedes Eingriffs verallgemeinert. Daß die Argumentation zum unbestimmten Rechtsbegriff und zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die fällige systematische Analyse des Ermessensproblems nicht ersetzen kann, zeigt sich in der Weiterentwicklung der Ermessensfehlerlehre.

Oertmann, S. 14 ff., 17, 20 ff.; Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 445 ff.; zur Abgrenzung von Entscheidung und Verfügung vgl. Hatschek, S. 8 ff.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 21 ff. m. Fn. 37, 29, 284 ff. Allgemein zur Rezeption der Lehre O. Mayers vgl. Hueber, S. 187 f. m.w.N.

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Die dort verbliebenen Tatbestände dienen weiterhin zur Ergänzung der restriktiv umschriebenen Rechtsbindung und müssen den systematisch unbewältigten Rest der Ermessenslehre aufnehmen. Erst nach der Jahrhundertwende wird versucht, die einzelnen Fehlertatbestände zu erfassen und die Differenzierung von Rechts- und Ermessensfehlern zu begründen. Wie eine Bilanz der herrschenden Lehre zeigt, können die Inkonsequenzen und Widersprüche der herrschenden Ermessenslehre auf der Grundlage der noch herrschenden, vom konstitutionellen Staatsbild geprägten Methode jedoch nicht überwunden werden.

a) Vom Ermessenstatbestand zum unbestimmten Rechtsbegriff

Die Auseinandersetzung um unbestimmte Begriffe im Normtext dreht sich um zwei Fragen, die nicht immer sauber voneinander getrennt werden. Bei der ersten Frage geht es darum, ob auch „zwingende" Vorschriften, die Tatbestand und Rechtsfolge eindeutig im Sinne eines „immer (oder: nur) wenn —• dann" miteinander verknüpfen, dem Rechtsanwender wegen unpräziser Formulierung des Normtextes Entscheidungsspielräume eröffnen können. Die zweite Frage stellt sich im Kontext verwaltungsgerichtlicher Zuständigkeitsabgrenzung und geht dahin, ob gegebenenfalls der Verwaltung oder den Verwaltungsgerichten die verbindliche Ausfüllung dieser Entscheidungsspielräume zukommen soll. Die Verknüpfung beider Fragen aus der Perspektive des Rechtsschutzproblems führt in der Lehre regelmäßig dazu, Auslegungsprobleme durch Kompetenzpostulate zu überlagern. So schreiben einige Autoren der Verwaltung die Befugnis zur letztverbindlichen Tatbestandskonkretisierung zu. Dazu verweisen sie zunächst auf die Befugnis der Verwaltung, in den Grenzen des Gesetzeswortlauts Regelungslücken nach eigenem Gutdünken aufzufüllen. Diese traditionelle Argumentation aus der Schrankenformel wird später ergänzt um die Behauptung, in der Verwendung unbestimmter Begriffe liege eine implizite gesetzliche Delegation der Normkonkretisierung an die Verwaltungsbehörden. Ein zweiter Begründungsansatz läßt sich zumindest vordergründig auf Probleme der Normauslegung und -anwendung ein. Er stilisiert, nach Bährs Vorbild, die Sachverhaltswürdigung zur Vorwegnahme der Begriffsinterpretation, und will deshalb der Verwaltung die Entscheidung über die Konkretisierung unbestimmter Begriffe vorbehalten. Die Entwicklung der Gegenauffassung wird hauptsächlich durch die Rechtsprechung süddeutscher und österreichischer Gerichte provoziert, die mit ihrer Behandlung unbestimmter Begriffe als Ermessenstatbestände den Verwaltungsrechtsschutz empfindlich verkürzen. Einen weiteren Ansatzpunkt bietet Bernatziks Lehre vom technischen Ermessen, in der die Fragwürdigkeit der Lehre vom Ermessen als Freiheit der Sachverhaltswürdigung besonders deutlich wird. Beides nimmt Tezner zum Anlaß, die schon von v. Seydel und Gluth geäußerte Kritik in einer Lehre vom unbestimmten Begriff als Rechtsbegriff zu bündeln. Diese Lehre geht von der Konkretisierungsbedürftigkeit aller Begriffe aus und räumt den sogenannten unbe-

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stimmten Begriffen keine Sonderstellung ein. Ihre Konkretisierung wird, wie die Präzisierung jedes anderen Tatbestandsmerkmals auch, als Problem richtiger Normauslegung und -anwendung verstanden. Den Verwaltungsgerichten wird dabei die Befugnis zugeschrieben, anläßlich der Überprüfung exekutiver Rechtsanwendung autoritativ über die Auslegung und Anwendung unbestimmter Begriffe zu entscheiden. aa) Unbestimmte Begriffe

als Ermessenseinräumung

aaa) Das Argument der gesetzlichen Lücke Das Ableiten von Ermessensspielräumen aus der Unbestimmtheit gesetzlicher Regelungen war vor allem in der Rechtsprechung des Bayerischen, des Württembergischen und des Österreichischen Verwaltungsgerichtshofes bis nach der Jahrhundertwende gebräuchlich. 144 In Bayern und Österreich bemühten sich die Gerichte wohl, durch die großzügige Annahme von Ermessenstatbeständen und die damit verbundene restriktive Bestimmung ihres eigenen Zuständigkeitsbereichs das Mißtrauen der Regierungsseite zu zerstreuen, 145 die vor den Gefahren einer „Doppelverwaltung" durch die Verwaltungsgerichte warnte 146 und schon die Durchsetzung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erheblich erschwert hatte. 147 In Württemberg setzte der Verwaltungsgerichtshof lediglich die Rechtsprechungstradition des Geheimen Rates fort. 1 4 8 Während die restriktive Rechtsprechung in Bayern und Österreich nur teilweise Zustimmung fand 1 4 9 und bald auf Kritik stieß, 150 144 Einen Überblick über die Rechtsprechung in Württemberg geben Bühler, Öffentliche Rechte, S. 319 ff.; Göz, S. 100 f.; Haschtmann, S. 87 ff.; zu Bayern vgl. Reger/Dyroff, 4. Aufl., S. 377 ff.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 387 ff.; Haschtmann, S. 90 ff.; zu Österreich vgl. Exel, 1. Bd., S. 84 ff.; 2. Bd., S. 231 ff.; Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 347 und GrünhutsZ 39 (1912), 417 ff. Haschtmanns Deutung der Rechtsprechung bleibt allerdings oberflächlich, da er meint, die dogmatischen Begründungen als Verschleierung einer eigentlich maßgeblichen, verfassungspolitischen Tendenz vernachlässigen zu können (Haschtmann, 5. 14 ff.). 145 Vgl. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 24, 37.

146 Bernatzik, GrünhutsZ 18 (1891), 161; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 457 f. m. Fn. 65, S. 462 mit dem Hinweis darauf, daß die Verwaltung, im Unterschied zu den Verwaltungsgerichten, zumindest über die Ministerverantwortlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden könne; ähnlich v. Laun, Ermessen, S. 103 f.; 107 m.w.N.; aus der preußischen Literatur vgl. v. Stengel, SchmollersJB 7 (1883), 446; Zorn, VerwArch. 2 (1894), 147; gegen das Doppelverwaltungs-Argument Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 380. 147 S.o. Β. I. 2. 148 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 365 f.; Haschtmann, S. 56. Die württembergische Praxis wurde zusätzlich dadurch geprägt, daß der Verwaltungsgerichtshof bis nach der Jahrhundertwende noch an der Ablehnung des Eingriffsvorbehalts - auch in der Form des Rechtssatzvorbehalts - festhielt (Bühler, Öffentliche Rechte, S. 113 ff. m.w.N.). Zu einer Weiterentwicklung der Rechtsprechung im Polizeirecht kam es deshalb dort zunächst nicht (Bühler, Öffentliche Rechte, S. 341 f., 363 f.). 149 Reger-Dyroff, 4. Aufl., S. 377 f.; Krais, S. 320; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 353 ff.

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blieb sie in Württemberg bis zur Jahrhundertwende nahezu unangefochten 151 und fand in v. Sarwey 152 sogar einen prominenten Befürworter. Die Rechtsprechung rechtfertigt die Behandlung unbestimmter Begriffe als Ermessenstatbestände regelmäßig mit dem Lückenargument. Die gesetzliche Regelung sei in diesen Fällen unvollständig und nicht präzise genug, das Ermessen der Verwaltung auszuschließen.153 Die Vorstellung vom Recht als Schranke der freien Verwaltungstätigkeit wird dazu genutzt, durch hohe Anforderungen an die Schrankenformulierung der Verwaltung auch im Anwendungsbereich konstitutioneller Gesetze noch genügend Nischen zur flexiblen Zweckverfolgung zu schaffen. Das populärste Beispiel für diese Argumentation gibt die Rechtsprechung zur Erteilung der Gaststättenerlaubnis, die in der Literatur schließlich unter dem Stichwort der „Bedürfnisfrage" 154 diskutiert wurde. Die Gaststättenerlaubnis durfte gem. § 33 RGewO nur verweigert werden, wenn der Antragsteller unzuverlässig war, das Lokal den polizeilichen Anforderungen nicht genügte oder kein Bedürfnis für eine (weitere) Gaststätte vorlag. Während der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Beurteilung der Zuverlässigkeit des Antragstellers lediglich als Gegenstand gebundenen, richterlichen Ermessens sah und insoweit von einer Rechtsfrage ausging, 1 5 5 behandelte er die beiden anderen Versagungsgründe als Fragen des Verwaltungsermessens156 und erklärte sich insoweit für unzuständig. Weil auch der Verordnungsgeber es unterlassen habe, „Tatsachen zu bezeichnen, deren Nachweis das Vorhandensein des Bedürfnisses begründet", sei „die Würdigung des Bedürfnisses der freien Beurteilung der Verwaltungsbehörden und dem allgemeinen 150 v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 590 m. Fn. 41; 3. Bd., 2. Aufl., S. 413 ff. m. Fn. 101; Gluth, AöR 3 (1888), 614 ff.; Tezner, Lehre, S. 3, 8 ff. 1 51 Kritik findet sich zunächst nur vereinzelt bei Göz, S. 209 ff., 213 (zum Gewerberecht); vgl. aber a. a. O., S. 100 f. m. Fn. 1, die grundsätzliche Zustimmung zur Behandlung unbestimmter Begriffe als Ermessenstatbestände. Erst Teuffei, S. 31 ff., 90 f., schließt sich der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff an und kritisiert die restriktive württembergische Rechtsprechung. 1 52 v. Sarwey, Verwaltungsrecht, S. 152 f., 159 ff.; vgl. zur Genehmigung und Untersagung gewerblicher Anlagen ders., Verwaltungsrechtspflege, S. 525 ff. Dieses Buch geht auf eine Aufsatzreihe aus den Jahren 1871-1877 zurück (Stolleis, Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 96); zu v. Sarweys politischer Prägung vgl. Elben, S. 42 ff. 153 WürttVGH v. 17. 10. 1912, zit. n. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 352 (Ermessen, da keine Legaldefinition im Normtext oder in untergesetzlichen Vorschriften); BayVGH 2, 140, 144 („nicht genugsam bestimmte, thatsächliche Voraussetzungen"); dazu kritisch v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 590, Fn. 41. 154

W. Jellinek, Gesetz, S. 132 m. Nachweisen zum Streitstand in Fn. 71; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 387. 155 BayVGHE 1, 291, 294; der VGH spricht hinsichtlich der Beurteilung der persönlichen Qualifikation des Antragstellers von einem Ermessen in der Rechtsfindung und greift damit auf die Unterscheidung von (unechtem) richterlichem und (echtem) Verwaltungsermessen zurück. 156 BayVGHE 11, 553, 555; 27, 125, 127. zur Bedürfnisfrage; BayVGHE 1, 185, 186 f. zur Lokalfrage; w.N. bei Bühler, Öffentliche Rechte, S. 387 f. und Haschtmann, S. 65 ff.

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Standpunkt des öffentlichen Interesses anheimgestellt, so dass die genannten Behörden über diese Fragen nach ihrem Ermessen zu verfügen berechtigt" seien. 157 Mit gleicher Begründung wurde die Zuständigkeit für die Überprüfung der Feststellungen zur Eignung des Lokals abgelehnt.158 Der Württembergische Verwaltungsgerichtshof brauchte zur Ermessensfrage bei der Gaststättenerlaubnis gar nicht erst Stellung zu nehmen, weil er die §§ 20 f. RGewO bis nach der Jahrhundertwende noch als reichsrechtlichen Ausschluß des Verwaltungsrechtswegs interpretierte. 159 Für den österreichischen Parallelfall der Gasthauskonzession erklärte der dortige Verwaltungsgerichtshof nicht nur die Eignungs- und Bedürfnisfrage, sondern auch die Unbescholtenheit des Antragstellers ohne nähere Begründung zur Ermessensfrage. 160 Er sah sich dadurch allerdings nicht gehindert, die Bescholtenheit des Lebenswandels als Voraussetzung der Ausweisung als Rechtsfrage zu behandeln und nachzuprüfen. 161 Ein weiteres Beispiel für die Argumentation mit der Unvollständigkeit gesetzlicher Regelungen bilden die Genehmigung und die Untersagung des Betriebs gewerblicher Anlagen. Beides war gem. §§ 16, 18 RGewO davon abhängig, ob für das Publikum erhebliche Belästigungen, Nachteile oder Gefahren zu erwarten waren, gegen die durch Vorschriften über die Einrichtung oder den Betrieb der Anlage nicht genügend Schutz gewährt werden konnte. Auch hier erklärte die Rechtsprechung die Tatbestandskonkretisierung zur Ermessensangelegenheit der Verwaltung, weil „nähere Vorschriften" fehlten, die das für die Entscheidung maßgebliche, öffentliche Interesse näher bestimmten. 162 Daß eine nähere Bezeichnung gerade mit den Begriffen der Erheblichkeit der Belästigung, der Gefahr und des Nachteils beabsichtigt und damit eine Auslegungsaufgabe gestellt sein könnte, wird mit dem Rückgriff auf das allgemeine öffentliche Interesse unterschlagen. In der Literatur bekennt sich, von der Kommentarliteratur abgesehen,163 vor allem v. Sarwey zum Lückenargument. 164 Er hält es in seiner Begründung der unbe157 BayVGHE 1, 140,143. iss BayVGHE 1, 185,186 f. 159 WürttVGH v. 06. 08. 1879; 14. 06. 1882; 30. 09. 1885 und 03.07. 1895; jeweils zit. n. Göz, S. 211 f.; in der Literatur war diese Auffassung ursprünglich von Landmann, 1. Bd., 1. Aufl. (1888), S. 181 und noch in der 6. Aufl. (1911), S. 203, vertreten worden; sie wurde später jedoch aufgegeben (vgl. Landmann/Rohmer, 1. Bd., 9. Aufl. (1938), S. 262 unter § 21, Anm. 2). - Die übrige Literatur und Rechtsprechung erkannten schon früher an, daß die reichsrechtliche Regelung nur ein Minimum landesrechtlichen Verwaltungsrechtsschutzes im Gewerberecht festlegen sollte (dazu Bühler, Öffentliche Rechte, S. 350 m.w.N.). 160 ÖstVGH, in: Exel, 1. Bd. (1885), Nr. 437; dazu Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 327. 161 ÖstVGHE 13, Nr. 4552; 25 (Administrativrechtlicher Teil), Nr. 13483; kritisch dazu Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 327 f.; v. Laun, Ermessen, S. 28 f. 162 BayVGHE 4, 311, 315; WürttVGH v. 17. 01. 1912, zit. n. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 352; ebenso noch Landmann/Rohmer, 1. Bd., 9. Aufl., § 18, Anm. 5; ÖstVGHE 8, Nr. 1996, dazu Tezner, Lehre, S. 21. 163 Dazu s.o. Fn. 149 und 151. 164 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 576.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

stimmten Tatbestandsmerkmale als Ermessenstatbestände aber nicht konsequent durch. Statt dessen hält er für entscheidend, daß die in Frage stehenden Maßnahmen wie ζ. B. gewerberechtliche Konzessionserteilungen und Untersagungen „durch thatsächliche Voraussetzungen bedingt (sind), welche zur Erreichung des Zwecks des Gesetzes die volle Freiheit der Verwaltung verlangen". Deshalb „eigne(te)n sich" diese Tatbestände „nicht zur Rechtsprechung", und könnten keine subjektiven öffentlichen Rechte begründen. 165 Mit dieser Argumentation wird die richtige Verknüpfung von Ermessen, subjektivem öffentlichem Recht und verwaltungsgerichtlicher Zuständigkeit umgekehrt. Statt den gesetzlich begründeten Ermessensspielraum durch Auslegung zu ermitteln und von ihm auf das Fehlen subjektiv-öffentlicher Rechte und auf die Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte zu schließen,166 wird umgekehrt aus pragmatischen Erwägungen der Verwaltungsrechtsschutz für untunlich erklärt und gefolgert, es müsse eine rein objektivrechtliche Ermessensermächtigung vorliegen. 167 Die Unbestimmtheit des Gesetzes wird also nicht als Auslegungsauftrag ernst genommen, sondern dient nur als Vorwand, den Regelungsgehalt mit Zweckmäßigkeitserwägungen zu unterlaufen. Die autoritäre Tendenz dieser Argumentation zeigt sich in antiliberalen Äußerungen und dem erklärten Ziel, ,,de(n) berechtigte(n), in dem Wesen des Staates begründete(n) Anspruch der Verwaltung auf ein freies Gebiet der Selbstbestimmung ... zu wahren". Die Einschränkung der Verwaltung dürfe nicht so weit gehen, „daß durch das den Liberalismus beherrschende Streben, die Einzelinteressen gegen die Staatsgewalt zu schützen, die öffentliche Gewalt in der zur Erreichung der öffentlichen Interessen nothwendigen Freiheit zum Nachtheil dieser gehindert wird." 1 6 8 Der knappe Verweis auf den Gesetzeszweck bei der Einordnung der gewerberechtlichen Vorschriften kann nicht verdecken, daß die Wahrung der gesetzgeberischen Autorität nur den Vorwand bietet, die traditionelle Machtstellung der Verwaltung in den Rechtsstaat hinüberzuretten. Dieser Eindruck wird durch v. Sarweys Ausführungen zur Polizei 169 und zu den bürgerlichen Freiheitsrechten bestätigt. Wie G. Meyer, 170 ist auch v. Sarwey weit 165

v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 525, 576 zu §§ 18, 33 RGewO (dazu s.o. bei Fn. 154 u. 162) und - ebenso pauschal - zur Verweigerung gewerberechtlicher Erlaubnisse gem. §§ 30, 32, 34 RGewO und zur Untersagung des Gewerbebetriebs gem. §§ 35, 37 RGewO. 166 So dem Anspruch nach noch v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 79; ders., Verwaltungsrecht, S. 153. 167 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 524 f.; 406 ff., 419 ff.; ders., Verwaltungsrecht, S. 163, Fn. 2. 168 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 112; ders., Verwaltungsrecht, S. 163. Entsprechend fordert v. Sarwey für die Annahme eines subjektiven öffentlichen Rechts die offenbare und unzweifelhafte Absicht des Gesetzgebers, der Verwaltung im Individualinteresse eine Schranke zu ziehen (Öffentliches Recht, S. 415). 16 9 Der Polizei schreibt v. Sarwey ein allgemeines Aufsichtsrecht zu, dessen Ausübung die subjektiven öffentlichen Rechte der Einzelnen nur begrenzt, aber nicht verletzen kann (Öffentliches Recht, S. 430). Die Parallele zur fürstlichen Mißbrauchsaufsicht über den Ge-

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davon entfernt, eine Rechtsgrundlage für polizeiliche Maßnahmen zu verlangen oder gar die Polizei auf die Gefahrenabwehr zu beschränken. Er leitet die Eingriffsermächtigung aus der „allgemeinen Aufgabe" der Polizei ab 1 7 1 und erklärt alle Maßnahmen der Sitten- und Wohlfahrtspolizei, unabhängig von der Eingriffsqualität, zu Ermessensmaßnahmen.172 Die restriktive Behandlung subjektiver öffentlicher Rechte, insbesondere der Grundrechte, 173 runden das Bild ab. Jeder Anschein interpretativer Begründung wird schließlich aufgegeben, wo v. Sarwey ohne Bezugnahme auf die Konkretisierung von Tatbestandsmerkmalen allgemein ein Ermessen der Verwaltung bei Eingriffen in die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit fordert und gesetzliche Eingriffsbeschränkungen „bloß als Instruktion" ohne Außenwirkung abtut. 174 Hier seien „Gegensätze und Konflikte" auszutragen, die „nicht durch Richtersprüche gelöst werden könn(t)en, sondern die ganze Kraft und Macht des Volkswillens erforder(te)n, dessen oberstes Gesetz ... das Wohl des Ganzen" sei. Es bleibe nur die Wahl, „dem Ermessen der Verwaltung freien Raum zu geben", da wegen der Unberechenbarkeit der Freiheitsausübung „kein Gesetz die Grenze, in welcher sich der Staatswille bei der Bekämpfung der Gefahr zu bewegen hat, zum Voraus bestimmen" könne. 175 v. Sarwey schließt also nicht nur in polizeistaatlicher Manier von der Aufgabe auf die Befugnis, sondern deutet darüber hinaus ein Ermessen kraft übergesetzlichen Staatsnotstands an. Die autoritäre Tendenz der Ermessenslehre v. Sarweys relativiert sich, wenn man den Hintergrund seiner Zeit berücksichtigt. Sie entspricht dem in den achtziger Jahren verbreiteten Bemühen, die Zuständigkeit der neu errichteten Verwaltungsjustiz in engen Grenzen zu halten. 176 Die krassen Ausführungen zum Gebrauch der Vereins- und Versammlungsfreiheit müssen im Zusammenhang der Sozialistenverfolgung 177 und der allgemeinen Demokratiefeindlichkeit, auch auf libebrauch der iura quaesita (s.o. Α. I. 2. a) bb) aaa) bei Fn. 32 ff. und Α. I. 2. a) cc) aaa)) ist nicht zu übersehen. no S.o. Β. II. 1. c) aa), Fn. 27. 171 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 401, 633 f.; nur für Vermögensleistungen zu öffentlichen Zwecken, also für Steuerforderungen, wird ein Rechtssatzvorbehalt anerkannt (a. a. O., S. 368 f., 418). v. Sarwey steht damit auf dem Stand der frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre. 172 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 430. 173 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 419 ff., 424,437,440 ff. ι 7 4 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, 415, 440 ff.; Zitat S. 443, zur enumerativen Aufzählung der Gründe für die Auflösung einer Versammlung gem. § 5 des preußischen Polizeigesetzes vom 11. 03. 1850. 175 v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 437. Für v. Sarwey haben die Verhandlungen über das Sozialistengesetz vom 21. 10. 1878 die Widersinnigkeit jedes Versuchs gesetzlicher Rechts- oder gar Rechtsschutzgewährung auf diesem Gebiet gezeigt (a. a. O., S. 437 f.). Die Organe des Staates hätten „einer nach ihrem Ermessen auszuübenden Vollmacht bedurft(), wenn der Zweck überhaupt erreicht werden sollte (a. a. O., S. 438)." 176 Dazu v. Lemayer, GrünhutsZ 8 (1881), 760. ι 7 7 Vgl. den ausdrücklichen Verweis bei v. Sarwey, Verwaltungsrechtspflege, S. 437 f. 10 Held-Daab

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raier Seite, 178 gesehen werden. Weil die lokale Polizeiverwaltung in Württemberg mit seiner noch ständisch geprägten politischen Struktur nicht notwendig als Gegner bürgerlicher Interessen erlebt wurde, kann der restriktiven Bestimmung der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit auch nicht dieselbe absolutistische Tendenz unterstellt werden, die eine solche Parteinahme in Preußen gehabt hätte. 179 Doch an der Beurteilung der dogmatischen Qualität ändert dies alles nichts. Die unverhohlene Form, in der die Staatsraison als eigentlicher Angelpunkt der Lehre von den unbestimmten Begriffen als Ermessensermächtigung präsentiert wurde, konnte den Anforderungen der sich eben von der Verwaltungslehre emanzipierenden Verwaltungsrechtswissenschaft an eine rationale, juristische Begründung ihrer Lehren nicht standhalten. Sie wurde auch im Hinblick auf die Legitimation gegenüber dem konstitutionellen Gesetzgeber zunehmend problematisch. In beiden Hinsichten schien die neue Rechtfertigung der Lehre von den Ermessenstatbeständen mit einer impliziten gesetzlichen Delegation der Tatbestandskonkretisierung an die Verwaltung aussichtsreicher.

bbb) Das Argument impliziter gesetzlicher Delegation Die Berufung auf einen gesetzlichen Auftrag zur verbindlichen Konkretisierung unbestimmter Tatbestandsmerkmale trägt dem Legitimationsdruck Rechnung, unter den der traditionelle Verwaltungsvorbehalt politisch zweckmäßiger Entscheidung mit der Durchsetzung des rechtsstaatlichen Eingriffsvorbehalts geriet. Auch wenn dieser zunächst nur als Rechtssatzvorbehalt verstanden wurde und noch nicht als Vorbehalt des formellen Gesetzes anerkannt war, 1 8 0 stellte er doch klar, daß rechtsfreie exekutive Spielräume nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme waren, und daß das Ermessen zumindest in den Eingriffsbeziehungen zum Bürger rechtlich begründet werden mußte. Gleichzeitig hatte die Deutung des unbestimmten Rechtsbegriffs als Konkretisierungsauftrag eine wichtige praktische Bedeutung. Die immer dichtere Regelung der Verwaltungstätigkeit ersetzte nach und nach die bloßen Schranken freier Aufgabenerfüllung durch differenzierte Ermächtigungsgrundlagen, die nur noch mit Mühe in das Schrankenverständnis einzupassen waren. 181 So wurde die Frage, ob die Verwaltung bei einer bestimmten Tätigkeit gesetzlich beschränkt war, zunehmend verdrängt durch die Frage, ob die einschlägigen Regelungen abschließend waren, oder ob sie für die subsidiäre Anwendung gewohnheitsrechtlicher oder vorkonstitutioneller Eingriffsermächtigungen noch Raum ließen. 182 Die Deutung von Tatbestandsmerkmalen als Auftrag zur

ne v. Oertzen, S. 298 ff., 308. 179 So Bühler, Öffentliche Rechte, S. 362 ff., zur v. Sarweys Grundsätzen folgenden württembergischen Rechtsprechung. 180 Dazu s.o. Β. II. 1. c) aa) bei Fn. 27 f. 181 E. v. Meier, Sp. 1157 f.; Born, S. 485 ff.; vgl. v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 464 f.

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Normkonkretisierung nach eigenem Ermessen bot eine Möglichkeit, diesem Problem auszuweichen und auch in abschließenden Regelungen Entscheidungsspielräume aufzudecken, ohne sich gegen die Autorität des Gesetzes stellen zu müssen. Die einfachste Variante der Delegationsbehauptung findet sich in einem 1908 veröffentlichten Aufsatz des bayrischen Verwaltungsrechtlers Menzinger. Er rechtfertigt die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zur Gaststättenkonzession183 mit der Behauptung, unter polizeilichen Anforderungen an die Eignung eines Lokals seien eben die Anforderungen zu verstehen, die die Polizei zu stellen für gut befinde. 184 Eine solche „Interpretation" des Polizeibegriffs als Blankoermächtigung war jedoch schon zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung überholt. Denn bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Beschränkung der Polizeibefugnisse auf Maßnahmen zur Abwehr tatsächlich bestehender Gefahren weitgehend anerkannt. 185 Geschickter argumentiert v. Lemayer, der die Frage, ob eine Rechtsnorm dem Verwaltungsermessen Raum gewähre, 186 in die Frage umdeutet, ob die Normkonkretisierung in den (verwaltungs-)richterlichen Tätigkeitsbereich falle, oder der Verwaltung vorbehalten bleiben müsse. 187 Zur Beantwortung dieser Frage bedient er sich einer Rezeption der Unterscheidung von richterlichem und Verwaltungsermessen, die deren Bezüge zur Auslegungslehre abschneidet und den von Laband bereits widerlegten Schluß von der materiellen Rechtsprechungs- und Verwaltungstätigkeit auf die Zuständigkeitsverteilung wieder aufnimmt. Anwendungsspielräume, die durch die Unbestimmtheit einer Norm eröffnet werden, erklärt v. Lemayer grundsätzlich zum Gegenstand richterlichen Ermessens. 188 Allerdings begründet er die Nachprüfbarkeit der Normkonkretisierung in diesen Fällen nicht, wie die übrige Lehre, 189 mit der Bindung an den durch Auslegung zu ermittelnden Willen des Gesetzgebers. Er erklärt sie vielmehr daraus, daß die verbindliche Ausfüllung des bestehenden Anwendungsspielraums dem Richter als 182

Vgl. G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Aufl., S. 47 und S. 65 zur Rechts- und Konzessionsentziehung; zum Streit um die subsidiäre Anwendbarkeit der polizeirechtlichen Generalklausel im Verhältnis zu reichsgesetzlichen Spezialnormen (z. B. §§ 1 f. Reichsvereinsgesetz, §§ 3-5 Freizügigkeitsgesetz, §§ 18 ff. Reichsgewerbeordnung) vgl. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 296 ff.; W. Jellinek, Gesetz, S. 99, je m.w.N. 183 Dazu s.o. Β. II. 2. a) aa) aaa) bei Fn. 158. ι» 4 Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 22. iss O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 257, 266 f.; Thoma, Polizeibefehl, S. 103 ff.; Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 85; Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 320 f., 336 ff., 369 ff.; außerdem s.u. Β. Π. 2. b) aa) bbb) zur Rechtsprechung des PrOVG. 186 v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 447,450. 187 v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 453 f., 457: der Ermessensbereich der Verwaltung solle „unmittelbar aus der Natur und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit" bestimmt werden. iss v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 452 f., 458, Fn. 65 a.E. 189 s. ο. Β. II. 1. c) bb) bbb) bei Fn. 84 f. und Β. II. 1. c) bb) ccc) bei Fn. 114 ff.. 10*

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Teil seiner Funktion vom Gesetz zugeschrieben sei. 190 Das richterliche Ermessen unterscheidet sich bei v. Lemayer vom Verwaltungsermessen nicht durch seine Struktur, sondern nur durch die unterschiedliche Kompetenzzuweisung hinsichtlich seiner Ausfüllung. Im Verwaltungsrecht muß v. Lemayer deshalb nach Anhaltspunkten dafür suchen, ob „das in der gesetzlichen Bestimmung offengelassene Ermessen dem Richter oder der Verwaltungsbehörde zukommt." Anders als im Zivilrecht, könne im Verwaltungsrecht nicht von einer Vermutung für das richterliche Ermessen ausgegangen werden. Denn anders als bei der Zivilgerichtsbarkeit unterliege der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht „das ganze Lebensverhältnis, welches den Streit betrifft", sondern nur der Teil, der von der konkurrierenden Kompetenz der Verwaltungsbehörde nicht erfaßt werde, v. Lemayer gibt vor, Anhaltspunkte für die Kompetenzabgrenzung zwischen Verwaltungsbehörde und Verwaltungsgericht zunächst in der Auslegung der gesetzlichen Norm zu suchen, die Auskunft darüber geben soll, ob ihre Unbestimmtheit nur als „allgemeiner gehaltene rechtliche Disposition" verstanden werden solle, oder ob sie als „Vorbehalt für den staatlichen", d. h. administrativen, „Machtbereich" gemeint sei. 191 Damit gelangt v. Lemayer, wie die Vertreter des Lückenarguments, allerdings nicht über eine Aufforderung an den Gesetzgeber hinaus, die Zuordnung des Anwendungsspielraums möglichst näher zu erläutern. Die Lösung des in der Unbestimmtheit liegenden Problems leitet v. Lemayer schließlich nicht aus Auslegungsregeln ab, sondern aus Kriterien funktionaler Kompetenzverteilung, die auf die traditionelle Gewaltenteilungsargumentation zurückgehen und im Ergebnis v. Sarweys Abgrenzung entsprechen. Ein gesetzlicher Ausfüllungsvorbehalt zugunsten der Verwaltung soll angenommen werden, soweit dies zur Erfüllung der Verwaltungsaufgabe erforderlich ist. 1 9 2 Was zunächst noch als Erforschung des mutmaßlichen gesetzgeberischen Willens begründet wird, erscheint bald darauf als Vermutung zugunsten eines Verwaltungsvorbehalts, der darauf gestützt wird, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit als das nachträglich hinzugekommene Phänomen sich mit einer restriktiven Funktionsbestimmung zu bescheiden habe und außerdem als Rechtsprechung „wider den Staat als solchen" dessen „Selbständigkeit" und die „gleichberechtigten Aufgaben der staatlichen Potenz" anerkennen müsse. 193 v. Lemayers Darstellung der Einzelbeispiele läuft auf eine Apologie der restriktiven österreichischen Rechtsprechung hinaus und läßt als rechtspolitischen Hintergrund den Schutz obrigkeitsstaatlicher Behördenautorität durch die Erhaltung eines kontrollfreien Entscheidungsspielraums deutlich werden. Die immer wieder ange190 v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 453 ff.; dort auch die ersten beiden Zitate im nächsten Absatz. 191 γ. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 454 f. 192 γ. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 454,456.

193 γ. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 454,458, Fn. 65 a.E.

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deutete Möglichkeit verwaltungsgerichtlicher Nachprüfung administrativer Begriffskonkretisierungen wird in keinem Beispielsfall bejaht. 194 Das Verwaltungsermessen bei der Anwendung nicht präzise formulierter Tatbestände wird damit bei v. Lemayer, wie bei v. Sarwey, aus einem Rückschluß von der Aufgabe zweckmäßiger Verwaltung auf die Befugnis zur zweckentsprechenden, verbindlichen Ausfüllung der Ermächtigungsnormen begründet. Die Bezugnahme auf das richterliche Ermessen und die einleitende Formulierung als Auslegungsproblem ändern nichts daran, daß der „Vorbehalt des staatlichen Machtbereichs" auch bei v. Lemayer nicht auf das Gesetz, sondern auf vor- und frühkonstitutionelle Kompetenzzuschreibungen gestützt wird. Die Konkretisierung unbestimmter Begriffe wird damit von den Vertretern des Lückenarguments wie von den Verfechtern des Delegationspostulats gar nicht als Rechtsanwendungsproblem ernstgenommen. Ihr Verständnis der unbestimmten Tatbestandsmerkmale als rechtsfreier Enklave versucht lediglich, die alte Gegenüberstellung von kontrollierbarer Rechtsanwendung und freier Zweckmäßigkeitsentscheidung im Anwendungsbereich des konstitutionellen Gesetzes fortzuführen. Dagegen binden die Autoren, die den Konkretisierungsspielraum bei der Anwendung unbestimmter Begriffe als Befugnis zur verbindlichen Sachverhaltswürdigung sehen, ihre Darstellung bereits in die Lehre von der Rechtsanwendung ein.

ccc) Das „technische" Ermessen sachverständiger Tatsachenfeststellung und -Würdigung Gemeinsam ist den im folgenden dargestellten Ansätzen, daß die Anwendung unbestimmter Begriffe wohl als Rechtsanwendungs-, aber nicht als Auslegungsproblem begriffen wird. Statt dessen wird die Entscheidung über die Begriffsanwendung der Feststellung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage zugeordnet und als Sachverhaltsfeststellung oder, wie bei Otto Bähr, als Sachverhaltswürdigung charakterisiert. G. Meyer, dessen Verwaltungsrechtslehrbuch etwa gleichzeitig mit dem v. Sarweys erscheint, 195 ordnet die Konkretisierung vager Begriffe noch nicht ausdrücklich der Tatsachenwürdigung zu. Seine Abgrenzung von „äußeren" Tatbeständen und Ermessenstatbeständen entspricht im Ergebnis aber der Lehre Bährs und deu194

v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 461 ff.; als Ermessenstatbestände werden eingeordnet die Begriffe des öffentlichen Interesses, die Voraussetzungen der Erteilung einer Gaststättenkonzession (zur Rechtsprechung s.o. Β. II. 2. a) aa) aaa)) sowie die Beurteilung technischer Fragen wie der Feuergefährlichkeit, da man „doch nicht... eine Gegenbeweisführung durch beliebige Sachverständige zulassen (könne), so dass sich der Verwaltungsrichter zwischen ihrer Meinung und jener der behördlichen Organe entscheiden könnte" (v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 461, vgl. 464). 195 G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl. (1883).

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tet darauf hin, daß G. Meyer das Problem auf der tatsächlichen Ebene ansiedelt. So sollen als „äußere" Tatbestände nur solche Tatbestandsmerkmale in ihrer Anwendung gerichtlich überprüft werden können, die sich auf beurkundete oder meßbare Tatsachen beziehen, wie ζ. B. auf strafgerichtliche Verurteilung, Staatsangehörigkeit, Alter oder Entfernung. 196 Dagegen soll „subjektives Ermessen" der Verwaltungsbehörde maßgeblich sein, wo der Leumund, die Zuverlässigkeit einer Person, die Gefährlichkeit einer Anlage oder die Belästigung der Öffentlichkeit in Frage stehen.197 Verunsichert durch die mittlerweile zwischen Bernatzik und Tezner entbrannte, heftige Auseinandersetzung um Voraussetzungen und Grenzen des Ermessens 198 spricht G. Meyer in der zweiten Auflage seines Lehrbuchs nur noch von einem „gewissen Ermessen" subjektiver Beurteilung. Es schließe, im Gegensatz zum Ermessen ,4m strengen Sinn" bei Fehlen jeder rechtlichen Regelung, die gerichtliche Überprüfung zwar nicht aus, sei aber eigentlich dazu ungeeignet.199 Der Mangel objektiver Nachprüfbarkeit der Sachverhaltsfeststellung, der G. Meyers Unterscheidung unausgesprochen zugrundeliegt, wird erstmals von Bernatzik zum Kennzeichen der Ermessenstatbestände erklärt. Gleichzeitig behandelt Bernatzik, wie bereits Otto Bähr, Spielräume der Verwaltung bei der Rechtsanwendung eindeutig als Problem der Sachverhaltswürdigung. Auf den ersten Blick scheint Bernatzik die Behauptung einer besonderen Kategorie unbestimmter Ermessenstatbestände fernzuliegen. Die Anwendung unbestimmter Tatbestandsmerkmale erscheint bei ihm nur als Unterfall eines Konkretisierungsermessens, das jeder Anwendung einer Rechtsnorm eigentümlich ist und, je nach dem Grad der Bestimmtheit der Norm, größere oder kleinere Spielräume gewähren kann. 200 Bernatzik gibt also als erster die hergebrachte Entgegensetzung von Rechtsanwendung und Ermessensausübung ausdrücklich auf. 201 Sein Rechtsanwendungsbegriff schließt ein den Tatbestand konkretisierendes Ermessen nicht aus, sondern ein. Als Maßstab der Tatbestandskonkretisierung gibt Bernatzik den beamtenrechtlichen Imperativ gewissenhafter Dienstpflichterfüllung an, der mit „Thue, was Du glaubst, dass es durch das öffentliche Wohl bedingt ist!" umschrieben wird. 2 0 2 Seine Gleichstellung mit den Außenrechtsnormen erlaubt Bernatzik, die Anwendung jeder noch so unpräzise gefaßten Ermächtigungsnorm als rechtlich gebundene Ent196 G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 65. 197 Ebd. 198 Dazu s.u. Β. Π. 2. a) bb) bbb), Fn. 281 f. und Β. II. 2. b) bb) aaa) bei Fn. 510 ff.; zu Bernatziks Ermessenslehre sogleich und s.u. Β. II. 2. b) bb) aaa); zu Tezners Lehre s.u. Β. Π. 2. a) bb) bbb). 199 G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl. (1893), S. 47, Fn. 3. 200 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 41 f. 201 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 37, 39, 41; vgl. die knappe, kritische Darstellung der früheren Literatur ebd., S. 38 ff. 202 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 46.

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Scheidung oder Rechtsprechung im materiellen Sinne darzustellen 203 und jeden Spielraum bei der Tatbestandskonkretisierung zum gebundenen, „technischen" oder „diskretionären" Ermessen sachverständigen Verwaltungshandelns zu erklären. 2 0 4 Anders als bei Laband und O. Mayer, 205 wird dabei die eindeutige Vorherbestimmtheit des Ergebnisses durch den gesetzgeberischen Willen und die Auslegungsregeln nicht impliziert; an ihre Stelle tritt der dienstrechtliche Imperativ. Die Zuordnung des technischen oder diskretionären Ermessens zur Ebene der Sachverhaltsfeststellung und -Würdigung 206 begründet Bernatzik mit der „logischen Natur" der Rechtsanwendung. Er sieht sie nicht etwa in dem methodischen Vorherbestimmtsein der Subsumtion unter den Tatbestand, sondern in der Verknüpfung von Tatbestandsfeststellung und Rechtsfolgenanordnung. Weil mit der Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit eines Sachverhalts schon über die Anwendbarkeit der Rechtsfolge entschieden werde, könne eine Freiheit des Rechtsanwenders nur „in den tatsächlichen Prämissen liegen" oder, genauer, im „geistige(n) Vorgang, vermöge dessen aus der Wahrnehmung tatsächlicher Momente auf das Vorhandensein gewisser im Gesetz aufgestellter Categorien geschlossen wird". Das führt Bernatzik für die „Categorien des technischen Ermessens" weiter aus, zu denen er mit den Begriffen der Angemessenheit, Nützlichkeit oder Gefahr die Tatbestandsmerkmale zählt, die üblicherweise als unbestimmte Begriffe bezeichnet werden. Sie seien dadurch gekennzeichnet, daß ihr „Vorhandensein erst unter Anwendung einer ziemlich complizirten Reihe von Schlussketten bejaht werden" und „die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der gezogenen Schlüsse" von Dritten „nicht mehr constatir(t)" werden könne. Bernatziks Behauptung, die Freiheit bei der Rechtsanwendung könne nur in der Feststellung der tatsächlichen Entscheidungsprämisse liegen, ist nicht nur angesichts von Kann- und Soll-Vorschriften problematisch, sondern vor allem, weil die Bedeutung der Auslegung völlig unterschlagen wird. Daß die Auslegung nichts zur Tatbestandspräzisierung beitragen könnte, wird nicht bewiesen, sondern vorausgesetzt. Der Grund dafür ist vermutlich, daß das Einordnen des Ermessens als Auslegungsspielraum die verwaltungsgerichtliche Nachprüfbarkeit nahegelegt hätte, die Bernatzik gerade ausschließen will. Dazu redefiniert er das Merkmal der Un203 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 8, 37, 39 ff. Eine Entscheidung oder „Rechtsprechung" ist danach mit jeder Subsumtion gegeben. Sie liegt bei allen „Schlüsse(n)" vor, „dass ein conkreter Tatbestand den Anwendungsfall einer abstrakten Rechtsnorm bildet", unabhängig davon, ob es sich um die Anwendung präziser oder unpräziser Normen handelt (vgl. ebd., S. 39, 41 f.). Dahinter steht Bernatziks Interesse, für möglichst viele Verwaltungsmaßnahmen eine „Rechtskraft" im Sinne der heutigen Bestandskraft von Verwaltungsakten in Anspruch nehmen zu können (vgl. ebd., S. 114, und die Kritik von O. Mayer, AöR 1 (1886), 722, der das Fehlen positivrechtlicher Grundlagen für diese Konstruktion rügt). 204

Bernatzik, Rechtsprechung, S. 41. 05 Dazu s.o. Β. II. 1. c) bb) bbb) bei Fn. 84 f. und Β. II. 1. c) bb) bbb) bei Fn. 114 ff.

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206

Absatz.

Bernatzik, Rechtsprechung, S. 41 ff. m. Fn. 5; dort auch die weiteren Zitate in diesem

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überprüfbarkeit tatsächlicher Feststellungen und Schlußfolgerungen so lange, bis er es in einen gesetzlich begründeten Vorbehalt sachverständiger Verwaltungsentscheidung umgedeutet hat. Ursprünglich kennzeichnet Bernatzik den Bereich des technischen Ermessens dadurch, daß sich das „Urteil über tatsächliche Momente der allgemeinen Controle entzieht" und Dritte die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der gezogenen Schlüsse nicht mehr feststellen können. 207 Damit erscheinen zunächst das Fehlen objektiver Richtigkeitskriterien und die daraus folgende Unmöglichkeit der Falsifizierung behördlicher Feststellungen als maßgebliche Kriterien. Gleich darauf gibt Bernatzik jedoch die Ansicht der Mehrheit als entscheidendes Indiz für die Richtigkeit einer Feststellung an. Das ermöglicht ihm, bei der Beurteilung technischer Fragen, wie der Sanitätswidrigkeit oder der Wasser- oder Feuersgefahr, pauschal von einem Ermessen der Behörde auszugehen, da die Schlußfolgerungen hier durch technische Regeln bestimmt seien, über die „nur ein kleiner Kreis Fachgelehrter, nicht die Gesammtheit ein Urteil hat." Die Falsifizierung durch Dritte, die nach den naturwissenschaftlichen Regeln durchaus möglich wäre, wird nicht berücksichtigt, weil es nicht mehr auf Kontrollierbarkeit im Sinne objektiver Nachprüfung, sondern auf die Nachprüfbarkeit durch jedermann ankommen soll. Das Ermessen bei der Konkretisierung öffentlicher Interessen kann nun schlicht damit begründet werden, daß die Behörden „in jener Beziehung Sachverständige" seien. Diese Feststellung wird durch den Hinweis gestützt, das Gesetz habe es ja in der Hand, Ermessensbegriffe zu verwenden. Wenn es dies tue, bedeute dies regelmäßig, daß Dritten die „Möglichkeit, die Richtigkeit der gezogenen Schlüsse zu prüfen", entzogen sein solle. 208 Damit ist Bernatzik bei der Begründung eines Verwaltungsvorbehalts sachverständiger Entscheidung angelangt. Der rechtsschutzpolitische Sinn der widersprüchlichen, immer weiter ausgreifenden Konkretisierung des technischen Ermessens wird mit Bernatziks Feststellung klar, „über die auf technischem Ermessen basierenden Aussprüche" könne es, von straf- und disziplinargerichtlichen Urteilen abgesehen, „keine Rechtscontrole" geben. 209 Die Kontrolle durch die Straf- und Disziplinargerichte sei zulässig, weil diese von der Rechtsordnung ermächtigt seien, im Namen der Gesamtheit darüber zu befinden, ob etwas mit deren Ansichten in solch groben Widerspruch trete, daß daraus die Überzeugung absichtlichen oder grob fahrlässigen, fehlerhaften Handelns zu schließen sei. 21 0 Den Verwaltungsgerichten schreibt Bernatzik eine entsprechende Ermächtigung nicht zu. Aus der Prämisse, die Ermessensausübung betreffe nur die tatsächliche Seite der Rechtsanwendung, folgert er hier, wie die verwaltungsfreundliche Lehre der sechziger Jahre, mögliche Fehler bei der Anwendung der Ermessenstatbestände könnten von den Verwaltungsgerichten nicht als 207

Bernatzik, Rechtsprechung, S. 43. Bernatzik, Rechtsprechung, S. 43 f. 209 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 45. 21 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 45, Fn. 9. 208

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Rechtsfehler sanktioniert werden. Soweit das positive Recht dennoch eine Zuständigkeit begründe, liege keine Rechtskontrolle, sondern eine Doppelverwaltung vor. 211 Bernatziks Darstellung der unbestimmten Begriffe als Ermessenstatbestände ist damit von dem Bemühen geprägt, den Konsequenzen zu entgehen, die die Einordnung des Ermessens als Bestandteil der Rechtsanwendung hätte haben müssen. Möglicherweise haben die Inkonsequenzen und Widersprüche in Bernatziks Argumentation eine breite Rezeption seiner Ermessenslehre verhindert. 212 Zudem konnten die Unüberprüfbarkeit „technischer" Urteile und das Postulat eines umfassenden Sachverstandes der Verwaltung kraft Amtes um so weniger einleuchten, als die Fortschritte der Naturwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts einerseits eine objektive Überprüfung aller empirischen Feststellungen zu erlauben schienen, andererseits aber auch einen hohen Grad an Spezialisierung notwendig machten. O. Mayer weist das Argument überlegener Sachkunde der Verwaltung deshalb mit unübersehbarer Ironie zurück. 213 Er begründet die Einordnung vager Tatbestandsmerkmale als Ermessenstatbestände einerseits aus dem Begriff des öffentlichen Interesses, andererseits mit der Mehrdeutigkeit derjenigen verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeitsregelungen, die neben der Rechtmäßigkeitskontrolle die Kontrolle der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage besonders hervorheben. Seiner eigenen Systematik folgend, hätte O. Mayer die Anwendung unbestimmter Begriffe, wie jede Gesetzesanwendung, als Auslegungsproblem einordnen müssen. 214 Dann hätte er allerdings nur ein richterliches, durch Auslegungsregeln gebundenes Ermessen annehmen können, das jeden gerichtsfreien Anwendungsspielraum ausgeschlossen hätte. Indem O. Mayer dieser Konsequenz ausweicht, vermeidet er den Bruch mit der noch herrschenden verwaltungsgerichtlichen Praxis 215 und muß seinen Anspruch wissenschaftlicher Erklärung der Rechtswirklichkeit 216 nicht aufgeben. Die übliche Behandlung des öffentlichen Interesses als Ermessenstatbestand kann O. Mayer noch relativ leicht begründen, weil er die Ausübung des freien Ermessens umschreibt als schöpferisch-verbindliche Konkretisierung dessen, was im öffentlichen Interesse liegt. 2 1 7 Die Vorstellung, jede gesetzliche Bezugnahme auf 211 Ebd. 212 Vgl. die Kritik bei O. Mayer, AöR 1 (1886), 720 ff.; ders., Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 169, Fn. 15; Laband, Staatsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 677 m. Fn. 2; 2. Bd., 5. Aufl., S. 179 m. Fn. 1; Tezner, Lehre, S. 12, 98 f.; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 332 ff., 350 ff., 393 ff. 213 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 195, Fn. 32. 214 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 84, 164 f., vgl. o. S. 167 ff. 215 Dazu s.o. B. II. 2. a) aa) aaa). 216 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. IX; vgl. o. S. 169, Fn. 15 gegen Bernatziks Ermessenslehre.

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das öffentliche Interesse sei als Verweis auf die entsprechende Regelungsbefugnis der Verwaltung zu verstehen, liegt nahe. Indem O. Mayer Formulierungen wie die der öffentlichen Sicherheit, Ruhe oder Ordnung nur als nähere Umschreibungen des öffentlichen Interesses aufführt, läßt er sie am Verweischarakter dieses Merkmals teilhaben, 218 ohne auf die von Leuthold, 219 Neumann 220 und Tezner 221 inzwischen ansatzweise erarbeitete, einschränkende Konkretisierung dieser Begriffe einzugehen. Für die Konkretisierung der übrigen, nicht präzise bestimmten Tatbestandsmerkmale kommt O. Mayer zum gleichen Ergebnis, indem er nach dem Vorbild Bährs der Auslegung die Sachverhaltswürdigung gegenüberstellt und diese, im Gegensatz zu jener, nicht dem gebundenen, sondern dem freien Ermessen der Verwaltung zuordnet. Die positivrechtliche Legitimation für dieses Vorgehen entnimmt er der Tatsache, daß einige Landesgesetze222 neben der Anfechtung wegen fehlerhafter Rechtsauslegung und -anwendung die Anfechtung wegen Fehlens der tatsächlichen Voraussetzungen einer Maßnahme gestatten. O. Mayer behauptet - im Widerspruch zu seinen weiteren Ausführungen 223 - der Tatsachenüberprüfung liege ein gegenüber der Rechtsanwendungskontrolle „ganz selbständige(r) Rechtsgedanke()" zugrunde. 224 Die Verselbständigung der Tatsachenüberprüfung erlaubt O. Mayer, von einem freien Ermessen der Verwaltung „nach zwei Seiten" auszugehen. Es soll nicht nur bei Verfügungen die Wahl zwischen mehreren gesetzlichen Rechtsfolgen beinhalten, 2 2 5 sondern darüber hinaus bei jeder Normanwendung eine Würdigung der Umstände umfassen, „ob sie geeignet sind, den (sc.: als Rechtsfolge angeordneten) Akt hervorzubringen" 226. Diese zweite Seite des freien Ermessens ist nichts anderes als die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit, die nicht aus der Perspektive konkretisierender Auslegung, sondern aus der Perspektive der Tatsachenwürdigung 217 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165, 2. Aufl., S. 101. 218 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165. 219 Leuthold, Hirths Ann. 1884, 393 ff., 408 f., allerdings noch von patrimonialstaatlichem Denken geprägt. 220 Neumann, Hirths Ann. 1886, 357 ff. 221 Tezner, Lehre, S. 68 ff., 80 f., 121, dazu s.u. Β. II. 2. a) bb) bbb) bei Fn. 269 ff. 222 O. Mayer zitiert (Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 192) § 127 ΠΙ Nr. 2 des preußischen LVG und § 4 Π Nr. 2 des badischen VerwGG von 1884; zu den Vorschriften s.o. Β. 1.2. b). 223 o. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 195: Das Gesetz sei auch dann falsch angewendet, wenn „es zwar auf den vom angefochtenen Urteile angenommenen, aber nicht auf den wirklichen Tatbestand paßt." 224 o . Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 192; vgl. ebd., S. 165, „wo die richterliche Auslegung umschrieben wird als Würdigung des Tatbestandes, ob dieser „die vom Gesetze etwa verlangte, verhältnismäßige Bedeutung hat". 225 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 84 f., S. 168, Fn. 14; 2. Aufl., S. 101. 226 o . Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 193.

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beschrieben wird. Wie bei Otto Bähr, dient dieser Kunstgriff auch bei 0. Mayer dazu, der Auslegung vorzugreifen und ihre methodischen Probleme zu umgehen. Das freie Ermessen der Sachverhaltswürdigung erlaubt, den Anwendungsbereich einer Norm induktiv aus den Besonderheiten des Einzelfalls zu bestimmen. Damit entgeht der Rechtsanwender nicht nur dem durch die Lehre von der viva vox legis gesetzten Zwang, das konkrete Anwendungsergebnis deduktiv als einzig denkbare Lösung zu entwickeln. Er kann sich auch dem Erfordernis entziehen, durch abstrakte Formulierung der Anwendungskriterien die Begriffsauslegung in verbindlicher, für weitere Fälle präjudizieller Konkretisierung weiterzutreiben. Anders als Bähr und Bernatzik nutzt O. Mayer die Einordnung der Tatsachenfeststellung als Ermessensausübung jedoch nicht, um die gerichtliche Kontrolle auszuschließen. Die Regelungen in Preußen und Baden, auf die er die Verselbständigung der Tatsachenüberprüfung stützt, dienen ihm zugleich als Beleg, daß die Tatsachenermittlung und -Würdigung gerichtlich nachprüfbar sei, wenn sie auch als Unterfall der Ermessenskontrolle bezeichnet werden müsse. 227 Die Verselbständigung der Tatsachenfeststellung und ihre Stilisierung zur Sachverhaltswürdigung haben bei O. Mayer lediglich den Zweck, die gerichtliche Kontrolle der Normanwendung inhaltlich zu begrenzen. Die Überprüfung der zur Sachverhaltswürdigung erklärten Subsumtion unter den Tatbestand soll sich nur darauf erstrecken, ob die Verwaltung „auf solche Voraussetzungen hin möglicherweise zu einer derartigen Verfügung veranlaßt werden konnte", oder, in einer anderen Formulierung, ob „im allgemeinen ... derartige Thatsachen Voraussetzung" für die Anordnung der Verwaltung werden können. Dagegen soll sich die Überprüfung nicht darauf beziehen, ob die angeordnete Maßnahme in Anbetracht des Tatbestandes „erforderlich, gut oder zweckmäßig" war. 228 Diese unklar gehaltenen Formulierungen ermöglichen einerseits, bei der Anwendung vager Tatbestandsmerkmale Beurteilungsspielräume 229 zu behaupten, die O. Mayer im Rahmen der Auslegung

227

O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 192 f. Daß diese Auslegung der genannten Regelungen nach deren Entstehungsgeschichte nicht haltbar ist, weist Bühler, Öffentliche Rechte, S. 309, Fn. 75, S. 389 f. nach; vgl. ο. Β. I. 2. b), Fn. 223. O. Mayer qualifiziert die Anwendung des § 33 RGewO mit der h.M. als Ermessensfrage, stellt jedoch ihre gerichtliche Überprüfbarkeit in Form der Tatsachenkontrolle fest (Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165 f., Fn. 10) und erklärt ausdrücklich, gegen Bernatzik gewendet, es gebe keinen Sachverhalt, dessen Beurteilung per se den Verwaltungsbehörden vorbehalten und der gerichtlichen Überprüfung entzogen sei. Maßgeblich seien allein positivrechtliche Zuständigkeitsbegrenzungen (O. Mayer, a. a. O., S. 195, Fn. 32). 228 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 193; vgl. aber a. a. O., S. 267 die naturrechtliche Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Rechtmäßigkeitserfordernis polizeilicher Maßnahmen (dazu s.u. Β. Π. 2. b) aa) ccc) (2) bei Fn. 458 und B. II. 2. b) bb) aaa) (2) (c) bei Fn. 544). 229 Der moderne Begriff wird hier verwendet, weil er den Kompromißcharakter und die Begründung der Lehre O. Mayers am besten kennzeichnet - die Annahme eines Spielraums auf der „Subsumtionsebene", der die gerichtliche Kontrolle nicht ausschließen, aber den Kontrollmaßstab herabsetzen soll.

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nicht hätte begründen können. Andererseits erlauben sie, die Tatbestandskontrolle einzelfallbezogen strenger oder großzügiger zu gestalten, und nehmen nur die Kontrolle der Rechtsfolgenwahl grundsätzlich von der Überprüfung aus. O. Mayers Konzept ist damit für die Entwicklung in Rechtsprechung und Lehre offen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dazu tendiert, immer mehr vage Tatbestandsmerkmale als „unbestimmte Rechtsbegriffe" für justiziabel zu erklären und das Ermessen auf die Rechtsfolgenwahl zu beschränken.

ddd) Zusammenfassung Der Überblick über die verschiedenen Ansätze, vage Tatbestandsmerkmale als Ermessentatbestände auszuweisen, hat deutlich gemacht, daß von einer entsprechenden Lehre nur mit Einschränkungen die Rede sein kann. Gemeinsam ist den verschiedenen Beiträgen nur die Vorstellung, in der Verwendung solcher Tatbestandsmerkmale liege eine Ermächtigung an die Verwaltung, die Begriffsanwendung im Einzelfall verbindlich zu bestimmen. In ihrer Argumentation setzen die Begründungsversuche jeweils neu an und gehen von unterschiedlichen Annahmen aus. Von einem Fortschritt in diesem Bereich der Lehre kann danach nur insofern gesprochen werden, als der plumpe Rückgriff auf Kompetenzpostulate im Lauf der Zeit zugunsten einer Argumentation aufgegeben wird, die zumindest versucht, ihr Ermessenskonzept mit den zeitgenössischen Vorstellungen von der Rechtsanwendung in Einklang zu bringen. Die Berufung auf den Verwaltungsvorbehalt kraft Gewaltenteilung oder Natur der Sache verliert in dem Maß an Überzeugungskraft, in dem der Schluß von der Aufgabe auf die Befugnis als Relikt des Polizeistaats diskreditiert und der Rechtssatzvorbehalt anerkannt und schließlich zum Vorbehalt des formellen Gesetzes ausgebaut wird. 2 3 0 Dagegen hat der Kunstgriff, die Tatbestandskonkretisierung auf der Sachverhaltsebene zu verorten und damit die Auslegung in den Hintergrund zu drängen, in den rechtsstaatlichen Ansätzen der sechziger Jahre prominente und unverdächtige Vorläufer. Zudem kann der Hinweis auf das Erfordernis flexibler, sachangemessener Gesetzeskonkretisierung und -anwendung sich in einer Zeit technischer und gesellschaftlicher Umwälzungen leicht den Anschein der Plausibilität geben. Gerade die Bezugnahme auf naturwissenschaftliche und technische Regeln legt aber auch schon den Grundstein zur Überwindung der Lehre vom Ermessen als Befugnis zur freien Sachverhaltswürdigung. Der Konsequenz der Falsifizierbarkeit tatsächlicher Feststellungen konnte Bernatzik nur durch zahlreiche, ineinander verschachtelte Umdefinitionen und Widersprüche entgehen. Sein späteres Zugeständnis, evidente Fehler bei der Sachverhaltsfeststellung ohne Rücksicht auf ein schuldhaftes Handeln des Verwaltungsbeamten überprüfen und sanktionieren zu lassen,231 bleibt halbherzig und inkonsequent.232 230 Dazu s.o. Β. II. 1. c) aa) bei Fn. 27 ff. 231 Bernatzik, GrünhutsZ 18 (1891), 160 ff. 232 Dazu Tezners Kritik in GrünhutsZ 19 (1892), 332 ff., bes. 334.

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O. Mayer läßt sich auf solche Konstruktionen nicht ein und kommt folgerichtig zur - vorsichtig eingeschränkten - Überprüfbarkeit des von ihm angenommenen freien Ermessens der Tatbestandsfeststellung. Dieser Abschluß der Lehre vom unbestimmten Begriff als Ermessenseinräumung schlägt bereits die Brücke zur Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff.

bb) Die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff

Anders als die unterschiedlichen Ansätze, die die Einordnung unbestimmter Begriffe als Ermessenstatbestände verteidigen, wird die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff 233 kontinuierlich aus zwei Grundgedanken entwickelt. Der erste stammt von Pözl und besagt, die Anwendung von Normen, die die Rechtsstellung des einzelnen bestimmten, könne nie im Ermessen der Verwaltung stehen. Er wird von v. Seydel gegen die Praxis des bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gewendet und von Gluth und Tezner verallgemeinert zum Grundsatz, die gesamte Tatbestandsauslegung und -anwendung sei, unabhängig von der Bestimmtheit der Tatbestandsformulierung, als Rechtsfrage zu behandeln. Die Grundlage für diese Generalisierung bildet der zweite Grundgedanke der Lehre, der ebenfalls von Gluth und Tezner entwickelt wird: Beide stellen fest, die Konkretisierung der sogenannten unbestimmten Begriffe sei, wie die Tatbestandskonkretisierung überhaupt, allein durch die Auslegung zu leisten.

aaa) Unbestimmte Begriffe als Tatbestandsvoraussetzung bei der Regelung subjektiver Rechte Am Beginn der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff steht die justizstaatlich geprägte Vorstellung, ein freies Ermessen der Verwaltung könne nur vorliegen, wo die Behörde ausschließlich nach Rücksichten des öffentlichen Interesses zu entscheiden habe und dem Verwaltungshandeln keine subjektiven Rechte entgegenge233 Die gängige Bezeichnung als „Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff' geht auf einen Beitrag Tezners zurück (Tezner, Lehre (1888)). Sie faßt den dort erstmals systematisch entwickelten Ansatz allerdings mißverständlich zusammen. Tezner (a. a. O., S. 121) nannte auch die unbestimmt gefaßten Begriffe Rechtsbegriffe, um darauf hinzuweisen, daß sie, wie jedes Tatbestandsmerkmal, durch Auslegung konkretisiert werden könnten und müßten, und daß deshalb ihre Anwendung auf einen konkreten Sachverhalt der gerichtlichen Rechtskontrolle zugänglich sei. Die Bezeichnung als Rechtsbegriff ist dabei jedoch kein Attribut nur der unbestimmten Begriffe, sondern kennzeichnet alle Tatbestandsmerkmale. Dem entspricht Tezners Überzeugung, zwischen den sogenannten unbestimmten und den als bestimmt anerkannten Begriffen gebe es nur graduelle Unterschiede (Tezner, Lehre, S. 45; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 335). Ein Abgrenzungsmerkmal für eine besondere Gruppe der unbestimmten Begriffe gebe es nicht (Tezner, Lehre, S. 38 f.; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 331 ff.). Die Rede vom „unbestimmten Rechtsbegriff 4 darf deshalb bei Tezner nicht so verstanden werden, als sei damit eine Begriffskategorie bezeichnet.

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halten werden könnten. 234 Das dieser Vorstellung zugrundeliegende Verständnis des Rechts als Abgrenzung subjektiver Rechtssphären 235 und der übliche Rechtswegausschluß bei Ermessensfragen 236 verleiten dazu, subjektives Recht und Ermessen als einander ausschließende Gegensätze zu begreifen und die nur objektivrechtlichen Bindungen der Staatsgewalt zu vernachlässigen. So zieht v. Seydel aus der bayerischen Rechtswegbeschränkung den voreiligen Umkehrschluß, Ermessen liege immer vor, wenn keine subjektiven Rechte gegeben seien. 237 Aus der Gegenüberstellung von subjektivem Recht und Ermessen wird andererseits aber auch gefolgert, die Unbestimmtheit einer verwaltungsrechtlichen Norm reiche nicht aus, ein subjektiv-öffentliches Recht auf ihre Beachtung auszuschließen und so ein Ermessen der Verwaltung zu begründen. 238 Würden subjektive Rechtsbeziehungen geregelt, räumten die Unklarheiten kein freies Verwaltungermessen ein, sondern nur ein rechtlich gebundenes, ,»richterliches" Ermessen, das nach den „Grundsätzen des Rechtes", und nicht nach Gesichtspunkten des öffentlichen Interesses, ausgefüllt werden müsse. 239 In dieser Abgrenzung von richterlichem und Verwaltungsermessen wird die Gefahr eines Zirkelschlusses deutlich, in die sich die Lehre mit der Gegenüberstellung von subjektivem Recht und Ermessen begibt. Die Schwierigkeit liegt darin, ein Kriterium für die Einräumung subjektiver Rechte zu finden, ohne auf den Begriff des Ermessens zurückzugreifen, da dieser ja selbst erst über das Fehlen subjektiver Rechtsgewährleistung definiert werden soll. Die Frage, wann die Unbestimmtheit einer Norm einer Rechtsgewährung nicht entgegensteht und deshalb kein Ermessen begründet, kehrt die traditionelle Frage, wann eine Norm ein subjektive Rechte ausschließendes Verwaltungsermessen eröffnet, nur um, ohne sie einer Lösung näher zu bringen. Einen Ausweg aus dem Zirkel findet die Lehre schließlich darin, auf die zwingende Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge abzustellen. Das wird zuerst bei Pözl angedeutet. Für ihn ist entscheidend, ob die Behörde bei Bejahen der tatbestandlichen Voraussetzungen zu einer bestimmten begünstigenden Entscheidung gezwungen ist oder nicht. Auf die Bestimmtheit der tatbestandlichen Voraussetzungen soll es dagegen nicht ankommen. 240 Indem ein subjektives Recht schon bei Vorliegen einer zwingenden Norm bejaht wird, ist der Zirkel durchbrochen; eine

234 Pözl, KritVjschr. 10 (1868), 140 f.; v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 590. 235 Z.B. v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 576. 236 Vgl. v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 590, unter Berufung auf Art. 13 des bayerischen Gesetzes vom 08. 08. 1878 (dazu s.o. Β. I. 2. a) bei Fn. 191). 237 v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 590. 238 Pözl, KritVjschr. 10 (1868), 140; v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 592, vgl. S. 590, Fn. 41. 239 v. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 590 f.; im Ergebnis ebenso E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 801, Fn. 2. Dabei wird das richterliche Ermessen aber nicht eindeutig der Auslegung zugeordnet; vgl. v. Seydel, a. a. O., S. 591, Fn. 44 (Feststellung der Armut als Tatfrage). 240 Pözl, KritVjschr. 10 (1868), 141.

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Ermessenseinräumung durch unbestimmte Tatbestandsmerkmale kann in diesen Fällen ausgeschlossen werden, v. Seydel übernimmt die Figur zur Beantwortung der bereits dargestellten „Bedürfnisfrage" bei § 33 RGewO, die er - entgegen der damals h.M. 2 4 1 - als Rechtsfrage qualifiziert. 242 Die Schwäche dieses Ansatzes liegt darin, daß er sich über Fragen des Auslegungsspielraums hinwegsetzt und unbestimmte Begriffe in Rechtsfolgenanordnungen überhaupt nicht problematisieren kann. Wo über die Fallgruppen der zwingenden Normen hinaus versucht wird, Anhaltspunkte für eine Einschränkung des Ermessens zu finden, bleibt die Lehre zunächst im Zirkel von Ermessensausschluß und subjektivem Recht gefangen. Entweder muß der subjektiv-rechtliche Charakter einer Vorschrift a priori vorausgesetzt oder verneint werden, 243 oder es bleibt bei mehr oder weniger hilflosen Ansätzen, die Bedeutung der Unbestimmtheit und nicht etwa die des unbestimmten Tatbestandsmerkmals - zu ermitteln. So will v. Seydel prüfen, ob die unbestimmte Fassung der Norm dazu dienen soll, der Verwaltungsbehörde die Wahrung öffentlicher Interessen zu ermöglichen, oder ob sie nur aus der Unmöglichkeit resultiert, die abstrakte Umschreibung des Tatbestands präziser zu fassen. 244 Im ersten Fall soll ein Verwaltungsermessen bejaht und ein subjektives Recht ausgeschlossen werden; im zweiten Fall soll der Spielraum auf ein bloß richterliches Ermessen der Rechtsfindung schrumpfen. Genauere Hinweise, wie die Bedeutung der Unbestimmtheit zu ermitteln sei, kann v. Seydel jedoch nicht geben. Den in ähnlicher Lage von v. Lemayer praktizierten Rückgriff auf Kompetenzpostulate dürften ihm größere methodische Skrupel verboten haben. Einen pauschalen Verweis auf die Genese läßt v. Seydels liberalere Tendenz nicht zu, die ihn schon warnen ließ, den (von Regierungsseite verfaßten) Gesetzesmotiven „übertriebene Bedeutung" beizulegen.245 Es bleibt die Frage nach dem objektiven Sinn und Zweck der Unbestimmtheit, die sich stets am Rande des Zirkelschlusses bewegt. Die Weiterentwicklung der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff hängt deshalb von einer Akzentverschiebung in der Problemstellung ab, die von Gluth und 241 Dazu s.o. Β. Π. 2. a) aa) aaa) bei Fn. 144 ff. 242 γ. Seydel, Staatsrecht, 3. Bd., 2. Aufl., S. 412 f. 243 So v. Seydel (1. Bd., 2. Aufl., S. 591, Fn. 44) für die Pflicht zur Armenunterstützung, der nach der damals h.M. kein subjektives Recht des Betroffenen korrespondieren soll (vgl. ο. Β. I. 1. e) aa), Fn. 126 und 129). Deshalb soll die Armutsfrage zwar bei Streitigkeiten zwischen Fürsorgeträgern und im Rahmen der Kommunalaufsicht als Rechtsfrage geprüft werden, nicht aber auf Klage des Betroffenen selbst, v. Seydel bemüht sich, diese Ungleichbehandlung mit der Behauptung zu rechtfertigen, in den ersten beiden Fällen werde die Rechtsfrage der Pflicht zur Armenunterstützung geprüft, aus der sich die Ermessensfrage der Armut nicht ausklammern lasse. Ohne Erklärung bleibt jedoch, warum die zwingende Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge im Fall der Annenunterstützung unbeachtet geblieben ist und nicht, wie bei § 33 RGewO, zur Annahme eines subjektiven Rechts und darüber zur einheitlichen Einordnung der Tatbestandsanwendung als Rechtsfrage geführt hat. 244 γ. Seydel, 1. Bd., 2. Aufl., S. 592 m. Fn. 48. 245 Ebd.

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Tezner ausgearbeitet wird. Nicht mehr der Verweis auf das subjektive Recht oder die zwingende Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge, sondern die Berufung auf die Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit der unbestimmten Begriffe nimmt die Schlüsselstellung in der Argumentation ein.

bbb) Die Konkretisierung unbestimmter Begriffe als Auslegungsproblem Das Verständnis des unbestimmten Begriffs als Auslegungsproblem wird bei Gluth an einzelnen Beispielen entwickelt und in Tezners erstem, etwa gleichzeitig erschienenen Beitrag zum Ermessen grundsätzlich ausgeführt. Obwohl beide den Zusammenhang mit der früheren Lehre und insbesondere die Anknüpfung an v. Seydel betonen, 246 gehen sie doch über die dort vertretenen Lehren hinaus. Bei Gluth bildet die Bezugnahme auf Individualrechte lediglich den Ansatzpunkt einer Argumentation, die auch auf bloß objektivrechtliche Regelungen zu übertragen OA.' 7

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ist. Tezner benutzt den Verweis auf subjektive Rechte nur noch als Plausibilitätsnachweis für seine These, die richtige Tatbestandskonkretisierung sei immer im Weg der Auslegung zu ermitteln und nachzuprüfen. 249 Ihm genügt jede Regelung des Verhältnisses von Bürgern und Behörden, unabhängig von ihrer subjektivrechtlichen Qualität, um ein Verwaltungsermessen bei der Tatbestandsfeststellung auszuschließen.250 Gluth und Tezner gehen aus von dem Grundsatz, die präzisierende Auslegung aller Tatbestandsmerkmale sei möglich und vom Gesetz aufgegeben. 251 Während Gluth noch dazu neigt, den Begriff des Tatbestands einschränkend im Sinne der Voraussetzungen für die Setzung der Rechtsfolge zu verstehen, 252 argumentiert Tezner schon konsequent aus dem Gegensatz von Ermessen und objektivrechtlicher Bindung und begreift die gesamte Rechtsnorm, einschließlich der Umschreibung der Rechtsfolgenanordnung, als Tatbestand und als Rechtsgrenze des Verwal-

246 Tezner, Lehre, S. 48; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 411. Gluth, AöR 3 (1888), 617, Fn. 56. 247 Gluth, AöR 3 (1888), 610 ff. 248 Tezner, Lehre, S. 121; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 370. 249 Tezner, Lehre, S. 45, 71. 250 Tezner, Lehre, S. 121; vgl. S. 81: im Zweifel sei davon auszugehen, daß der Gesetzgeber der Verwaltung kein Ermessen habe einräumen wollen. 251 Gluth, AöR 3 (1888), 612 f.; Tezner, Lehre, S. 45; GrünhutsZ 19 (1892), 373. 252 Gluth, AöR 3 (1888), 612 f., 615 ff. Die Entscheidung über die Rechtsfolgenanordnung hält Gluth noch grundsätzlich für eine Ermessensfrage, die der Verwaltung vorbehalten bleiben soll. Er teilt damit den Standpunkt O. Mayers (s.o. Β. II. 2. a) aa) ccc) bei Fn. 225) und der Rechtsprechung des österreichischen Reichsgerichts (ÖstRG v. 30. 04. 1874, bei Hye, Nr. 57, zit. n. Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 360; vgl. die Bezugnahme bei Gluth, AöR 3 (1888), 613 f., 616).

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tungshandelns. Für ihn ist deshalb die Konkretisierung aller unbestimmten Begriffe im Normtext Auslegungs- und Rechtsfrage. 253 Gluth und Tezner ergänzen die Feststellung, daß unbestimmte wie bestimmte Tatbestandsmerkmale im Weg der Auslegung konkretisiert werden müssen, durch die Erklärung, für die Annahme eines Verwaltungsvorbehalts sei bei der Sachverhaltsfeststellung ebensowenig Raum wie bei der Auslegung. Beides gehöre zur Rechtsanwendung und sei im Weg der Rechtskontrolle gerichtlich nachzuprüfen. 2 5 4 Die Opposition gegen die Darstellungen des unbestimmten Begriffs als Ermessenseinräumung gewinnt damit deutlichere Konturen als noch bei Pözl und v. Seydel. Die Erkenntnis, daß unbestimmte Begriffe durch regelgeleitete Auslegung konkretisiert werden müssen, richtet sich gegen ihre Darstellung als bloße Platzhalter für administrative Zweckmäßigkeitserwägungen. Die Erklärung, auch die Feststellung des Sachverhalts gehöre zur Rechtsanwendung und sei im Weg der Rechtskontrolle nachzuprüfen, wendet sich gegen die Lehre vom Verwaltungsermessen bei der Sachverhaltswürdigung und gegen Bernatziks Behauptung, die verwaltungsgerichtliche Rechtskontrolle sei grundsätzlich auf eine revisio in iure beschränkt. 255 In der näheren Begründung der Auslegungsbedürftigkeit unbestimmter Begriffe weichen Gluth und Tezner geringfügig voneinander ab, weil Gluths Darlegungen noch nicht vollständig aus dem Kontext der Gegenüberstellung von subjektivem Recht und Ermessen gelöst sind. Sie setzen mit einem Bekenntnis zur allgemeinen Handlungsfreiheit ein, die nur durch Rechtssätze wie ζ. B. die gewerberechtlichen Genehmigungserfordernisse beschränkt werden könne. 256 Sobald die Genehmigungsversagung oder ein Verbot an tatbestandlich aufgezählte Gründe geknüpft seien, werde dadurch das Ermessen der Behörden begrenzt. Die Einhaltung der entsprechenden Grenzen sei als Rechtsfrage zu kontrollieren; ihre Überschreitung konstituiere, im Hinblick auf die rechtswidrige Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit, eine gerichtlich zu ahndende Rechtsverletzung. 257 Anders als bei Pözl und v. Seydel, 258 entscheidet hier das Vorliegen eines subjektiven Rechts nicht mehr über die Frage der Ermessenseinräumung, sondern nur noch über die Klagebefugnis. Gluth wendet sich damit vom Zirkel aus subjektivem Recht und Ermessensausschluß ab und kehrt zum Verständnis des objektiven Rechts als Ermessensschranke zurück.

253

Tezner, Lehre, S. 71; vgl. das Beispiel des § 26 öst. Wassergesetz a. a. O., S. 52. 54 Gluth, AöR 3 (1888), 616; Tezner, Lehre, S. 45, 51 ff.; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 373. 255 Bernatzik, GrünhutsZ 18 (1891), 150 ff.; vgl. ders., Rechtsprechung, S. 45; dagegen Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 368, 382 f. und ders., Lehre, S. 61, 88 f. 256 Gluth, AöR 3 (1888), 610 f. 257 Ebd. 258 Dazu s.o. Β. Π. 2. a) bb) aaa). 2

11 Held-Daab

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Tezner ist ohne den Umweg über das subjektive Recht zur Darstellung der unbestimmten Begriffe als Auslegungsproblem gekommen. Er erkennt als Grundsatz, was Gluth für die gewerberechtlichen Genehmigungstatbestände ausgeführt hat: Von einem Ermessen der Verwaltung kann erst die Rede sein, wenn alle Rechtsschranken erschöpft sind. 259 Diese Bedingung festzustellen, ist nach Tezner Aufgabe der Normauslegung und der Subsumtion unter den ermittelten Sachverhalt, 260 ohne daß es auf die Bestimmtheit der Tatbestandsmerkmale ankäme. 261 Wie bei der Begründung der Auslegungsbedürftigkeit, setzt Tezner auch bei der Begründung der Auslegungsfähigkeit unbestimmter Begriffe grundsätzlicher an als Gluth. Dieser verweist nur darauf, daß sich bei unbestimmten Begriffen mindestens „ein Anhaltspunkt" 262 für ihre Konkretisierung finden lasse. Als Beispiel nennt er den Begriff der Gefahr, der nach der Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts von der bloßen Belästigung abzugrenzen ist. 2 6 3 Tezner stimmt Gluths Überlegungen im Ergebnis zu, 2 6 4 stützt die eigene Argumentation aber auf grundsätzliche Erwägungen zu den Grenzen begrifflicher Präzision. Nicht die Tatsache, daß auch die unpräzise gefaßten Merkmale der Auslegung noch Anhaltspunkte bieten, sondern die Erkenntnis, daß alle Begriffe mehr oder weniger vage sind, 265 läßt Tezner das Postulat der Ermessenseinräumung 259 Zu Beginn führt Tezner die Rechtsschranken des Ermessens detailliert aus und bezieht zur möglichst restriktiven Bestimmung neben objektiven Rechtssätzen auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und, in Durchbrechung der Abgrenzung von Innen- und Außenrecht, sogar das Gebot zweckmäßigen Handelns ein (Lehre, S. 12 ff.). Später ist meist vereinfachend nur noch vom Gesetz oder der Norm die Rede (a. a. O., S. 19, 29, 119); das Ausgrenzen verwaltungsinterner Regelungen aus den Rechtsgrenzen wird unter Berufung darauf, daß gem. § 2 des österreichischen Gesetzes über den Verwaltungsgerichtshof nur Außenrechtsverletzungen rechtsschutzfähig seien, nachgeholt (a. a. O., S. 14, 29). 260

Tezner, Lehre, S. 45: „Definieren, interpretieren, feststellen, ob der Thatbestand einer Norm gegeben sei oder nicht, subsumieren, ferner aber auch prüfen, ob der zu subsumierende Thatbestand durch die Ergebnisse des Streitverfahrens bewiesen sei, ist das nobile officium des Richters." Zur Umschreibung der Tatsachenfeststellung und ihrer Einordnung s. u. bei Fn. 276. 2 61 Tezner, Lehre, S. 70 f., 81, 121; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 373; ebenso Neumann, Hirths Ann. 1886, 395. 2 2

* Gluth, AöR 3 (1888), 613. 263 Gluth, AöR 3 (1888), S. 613 f., dort auch die Begriffe der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und des öffentlichen Wohls als bestimmbare Begriffe, da sie als Konkretisierungen des öffentlichen Interesses eine Berufung auf andere öffentliche Rücksichten ausschlössen. Damit greift Gluth die Bemühungen von Leuthold (Hirths Ann. 1884, 321 ff.) und Neumann (Hirths Ann. 1886, 357 ff.) auf, den Begriff des öffentlichen Interesses zu präzisieren. Bestimmbar sind für Gluth auch die Begriffe der Verläßlichkeit und Unbescholtenheit (Gluth, AöR 3 (1888), 616). 264 Tezner, Lehre, S. 68, 80 f., S. 74 ff. zur Abgrenzung der Gefahr von der bloßen Belästigung; vgl. ders., GrünhutsZ 19 (1892), 352 f. mit einem Beispiel aus dem Versammmlungsrecht: Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung werde erst durch eine Gefahr für Leben oder Gesundheit der Teilnehmer oder durch die Rechtswidrigkeit des Versammlungszweckes begründet.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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durch unbestimmte Begriffe verwerfen. Das Unvermögen der Sprache, alle Grenzfälle zweifelsfrei zu erfassen, führe dazu, daß auch scheinbar bestimmte Begriffe zu Anwendungsunsicherheiten führen könnten. 266 Tezner nennt die Abgrenzung von Straße und Weg oder von Hütte und Haus als Beispiele dafür, daß die Unbestimmtheit eines Begriffs erst angesichts konkreter, im Grenzbereich liegender Sachverhalte erkennbar werden und ein- und derselbe Begriff bei der Anwendung im Einzelfall, je nach Kontext, bestimmt oder unbestimmt erscheinen kann. 267 Solle jeder nicht präzise umgrenzte Begriff ein Ermessen der Verwaltung begründen, werde alles „außer Zahlenbezeichnungen und den Nomenclaturen der exakten Wissenschaften" zur Ermessenseinräumung. 268 Dagegen erklärt Tezner in Anlehnung an Neumann, aus Unsicherheiten über den Anwendungsbereich eines Begriffes könne nicht auf die Unbestimmbarkeit seiner Bedeutung geschlossen werden: „(M)ag auch der Inbegriff dessen schwanken, was innerhalb gewisser Kreise gelegen, gewissen Bedingungen und Voraussetzungen entsprechend erscheint, daraus folgt noch keineswegs, daß auch diese Bedingungen und Voraussetzungen selber derart schwanken, daß sie sich unserer Fassung entziehen." 269 Die Aufgabe der Auslegung besteht danach darin, die Begriffsbedeutung in abstrakten Merkmalen als Bedingungen der Begriffsanwendung so weit zu konkretisieren, daß Zweifel über die Zuordnung einzelner Sachverhalte gelöst werden können. Dieses Fruchtbarmachen der Unterscheidung von Begriffsbedeutung und Begriffsumfang ist ein wichtiger Schritt, auf dem später W. Jellineks Drei-Sphären-Modell der Anwendung unbestimmter Tatbestandsmerkmale270 aufbaut. Das Verständnis unbestimmter Begriffe als Auslegungsauftrag legitimieren Neumann und Tezner aus dem Willen des Gesetzgebers. Wenn dieser mehr oder weniger vage Begriffe in Eingriffsermächtigungen verwende und an solche Tatbestandsmerkmale zuweilen weitreichende Rechtsfolgen knüpfe, könne man nicht davon ausgehen, er habe sich bei der Begriffsverwendung gar nichts gedacht und alles der Verwaltung überlassen wollen. 271 Wie in allen Tatbestandsmerkmalen, ruhe auch in den sogenannten unbestimmten Begriffen ein „autoritative(r) Wille des Gesetzgebers", 272 der mit den Mitteln der Auslegung aufgefunden werden könne und müsse, wenn die Autorität des Gesetzes nicht aufgegeben werden solle. 273 Die 265 266 267 268 269 270

Tezner, Lehre, S. 45. Tezner, Lehre, S. 39, 55; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 335. Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 335. Ebd. Neumann, Hirths Ann. 1886, 395 f.; Tezner, Lehre, S. 80 f. Dazu s.u. B. II. 2. a) cc) bbb).

271 Neumann, Hirths Ann. 1886, 395 f.; Tezner, Lehre, S. 81, vgl. a. a. O., S. 34: „Es gibt kein Verwaltungsgesetz, welches nicht Normen, keine Norm, welche nicht Begriffe dieser Art aufzuweisen hätte." 272 Neumann, ebd. 11*

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

traditionelle Vermutung für das Verwaltungsermessen wird also ersetzt durch die Vermutung für die interpretative Bestimmbarkeit des Anwendungsbereichs. Sogar die üblicherweise noch als Ermessenstatbestände eingeordneten Begriffe des öffentlichen Interesses, 274 der Notwendigkeit und der Zweckmäßigkeit 275 sollen eindeutig bestimmbar sein, so daß ihre Anwendung im Rahmen der Rechtskontrolle überprüft werden kann. Damit die auslegende Begriffskonkretisierung nicht durch den Verwaltungsvorbehalt einer der Auslegung vorgreifenden Sachverhaltswürdigung unterlaufen werden kann, 276 verwahren Tezner und Gluth sich zum einen gegen die Stilisierung der Sachverhaltsfeststellung zur Sachverhaltswürdigung 277 und betonen zum anderen, daß auch die Sachverhaltsfeststellung als Element der Rechtsanwendung der Rechtskontrolle unterliegt. 278 Gluth äußert sich dabei zurückhaltend, weil das österreichische Recht den Verwaltungsgerichtshof grundsätzlich zwingt, nach Aktenlage zu entscheiden und den von den Verwaltungsbehörden präsentierten Sachverhalt zugrundezulegen. 279 Tezner dagegen setzt sich unter Berufung auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung und mit einer eigenwilligen Interpretation der §§ 5 f. öVGHG über diese Schranke hinweg. Indem er das Auffinden von konkretisierenden Merkmalen zum Bestandteil der Beweiswürdigung erklärt, macht er sich, unter umgekehrten Vorzeichen, die Lehre von der Sachverhaltswürdigung zunutze und reklamiert für den österreichischen Verwaltungsgerichtshof eine Befugnis zur umfassenden Tatsachenkontrolle, die mit dem Instrument der Zurückverweisung an die Verwaltung zwecks weiterer Sachverhaltsaufklärung gem. § 6 öVGHG durchgesetzt werden soll. 2 8 0 273

Tezner, Lehre, S. 71, vgl. S. 78: Sonst könnten die Verwaltungsbehörden „ungehindert Fragen des öffentlichen Rechts nach ihrem »technischen Ermessen' lösen, von denen man meinen sollte, daß sie ihre Lösung durch das positive Recht schon gefunden haben." 274 Tezner, Lehre, S. 121. 275

Tezner, Lehre, S. 121, S. 98 ff. mit Ausführungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; dazu ausführlich s.u. Β. II. 2. b) aa) ccc) (2). 276 Zur mangelnden Effizienz der Kontrolle bei Ausklammern der Tatsachenüberprüfung Tezner, Lehre, S. 61; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 382 f. 277 Gluth, AöR 3 (1888), 612, 616; Tezner, Lehre, S. 51 ff., 73 ff.; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 362, 375, 406. Wo beide selbst die Grenzen zwischen Auslegung und Sachverhaltsfeststellung zu verwischen scheinen, indem sie danach fragen, ob ein bestimmter Sachverhalt die Annahme des Tatbestands rechtfertige (Gluth, AöR 3 (1888), 612; Tezner, Lehre, S. 80), soll nicht die Auslegung per Sachverhaltswürdigung vorweggenommen werden, sondern nur überprüft werden, ob der zuvor festgestellte Sachverhalt unter die auslegungsweise konkretisierten Tatbestandsmerkmale zu subsumieren ist (vgl. Gluth, AöR 3 (1888), 616; Tezner, Lehre, S. 73 f. mit dem Beispiel des Gefahrenbegriffs im Polizeirecht). 2

™ Gluth, AöR 3 (1888), 612; Tezner, Lehre, S. 45, 51 ff.; ders., GrünhutsZ 19 (1892), 362, 375, 382 ff., 406; vgl. ebd., S. 378 ff. die ausdrückliche Ablehnung der von Bernatzik (GrünhutsZ 18 (1891), 160) geforderten Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle. 279 Gluth, AöR 3 (1888), 612 trägt dem Rechnung, indem er als Gegenstand der Subsumtion den „ermittelten Sachverhalt" nennt. 2 80 Tezner, Lehre, S. 43, 53, 82 f.; ders. GrünhutsZ 19 (1892), 382 f.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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Trotz der hinsichtlich des österreichischen Rechts fragwürdigen Begründung 281 bildet die Argumentation zur gerichtlichen Tatsachenkontrolle nicht die entscheidende Schwäche der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff. Entgegen Bernatziks Polemik 282 disqualifiziert sich die Lehre auch nicht durch die gelegentliche Verwendung rechtspolitischer Argumente, solange diese nicht mit den juristischen vermischt werden. 283 Die Schwäche der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff liegt vielmehr darin, daß sie das Problem der Konkretisierung unbestimmter Begriffe nicht vertieft, wo Grenzen der Auslegung erkennbar werden. Obwohl gesehen wird, daß eine Begriffskonkretisierung nicht notwendig zu eindeutigen Lösungen führen muß, werden die Konsequenzen für die Reichweite möglicher Rechtskontrolle nicht gezogen, sondern übergangen im liberal motivierten Bemühen, die verwaltungsgerichtliche Prüfungsbefugnis möglichst großzügig zu bestimmen. Für dieses Ziel nimmt die Lehre auch methodische Inkonsequenzen in Kauf.

ccc) An den Grenzen der Auslegung Die Frage, wie weit die Konkretisierung unbestimmter Begriffe im Weg der Auslegung getrieben werden kann, wird erstmals bei Gluth am Beispiel der „Einschichte" verdeutlicht. Der Begriff bezeichnet, nach heutiger Terminologie, ein Bauvorhaben im Außenbereich; nach dem damaligen österreichischen Recht konnte die Baugenehmigung in diesen Fällen verweigert werden. 284 Der österreichische Verwaltungsgerichtshof erklärte die Beurteilung eines Bauvorhabens als „Einschichte" zur Ermessensfrage und wies Klagen gegen die damit begründete Verweigerung der Baugenehmigung gem. § 3 lit. e des österreichischen Gesetzes über den Verwaltungsgerichtshof 285 wegen Unzuständigkeit ab. Dagegen argumentiert Gluth: „Mag es auch unmöglich sein, den Begriff der Einschichte derart scharf abzugrenzen, daß gesagt werden könnte: bis zu dieser Entfernung" eines Gebäudes vom Ort liegt keine Einschichte vor, „so ist doch andererseits klar, dass ein wirklich freies Ermessen der Behörde in dieser Rücksicht nicht Platz greift, und der Verwaltungsgerichtshof würde gewiss diesem Ermessen Schranken ziehen, wenn sich eine Behörde etwa einfallen ließe, ein mitten in der Ortschaft zu erbauendes Haus für eine Einschichte zu erklären." 286 Die vorsichtige Formulierung, bei der Anwendung des Begriffs der Einschichte liege kein „wirklich freies" 287 Ermessen der Verwaltung vor, scheint auf einen be281 Vgl. die insoweit berechtigte Kritik Bernatziks, GrünhutsZ 18 (1891), 152. 282 Bernatzik, GrünhutsZ 18 (1891), 150 f. 283 Vgl. z. B. Tezner, Lehre, S. 34 ff., 61; GrünhutsZ 19 (1892), 341 ff., 382 f. (rechtspolitische Argumentation), Lehre, S. 45, 51 ff., 68 ff., 80 f.; GrünhutsZ 19 (1892), 335 ff., 362, 375,406 (juristische Argumentation). 284 Gluth, AöR 3 (1888), 615. 285 S.o. Β. I. 2. a). 286 Gluth, AöR 3 (1888), 615.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

grenzten Ermessensspielraum und damit auf eine Vertretbarkeitslösung hinzudeuten. Gluth verfolgt das Auslegungsproblem aber nicht weiter, sondern zieht sich auf ein Kompetenzpostulat zurück. „Ob der Thatbestand selbst vorlieg(e)", sei immer vom Verwaltungsrichter zu entscheiden,288 der insofern,»kein Ermessen zulassen" dürfe 289 und die juristische Interpretation gegebenenfalls um eine „gewisse freie Würdigung ... der Thatsachen" ergänzen müsse. 290 Erst nach der Feststellung des Tatbestands soll für ein Ermessen der Verwaltung Raum sein, von der tatbestandsmäßig begründeten Versagungsbefugnis im Einzelfall Gebrauch zu machen oder die Genehmigung trotzdem zu erteilen. 291 Die richterliche Kontrollbefugnis wird nach der Unterscheidung von Tatbestand und Rechtsfolge abgegrenzt, indem auf das - zuvor zu Recht abgelehnte - Postulat einer auslegungsergänzenden Sachverhaltswürdigung zurückgegriffen und diese, statt der Verwaltung, dem Richter vorbehalten wird. Damit ist die korrekte Bestimmung der Rechtskontrolle nach der Reichweite der Rechtsbindung aufgegeben. Bei Tezner findet sich dieselbe Inkonsequenz, nur geschickter versteckt. Er räumt zwar eine „Discutabilität" der Auslegung ein, 2 9 2 die im Einzelfall zu unterschiedlichen Ergebnissen führen könne, von denen keines als „offenbar falsch" auszuschließen sei. 293 Da aber die Rechtskontrolle nicht auf die Sanktion evidenter Rechtsverstöße begrenzt sei 2 9 4 und auch vom Richter keine Unfehlbarkeit, sondern nur gewissenhafte Auslegungsarbeit gefordert werden könne, 295 bestehe kein Grund, in diesen Fällen der Verwaltung die Entscheidung zu überlassen. Warum die gewissenhafte Auslegungsarbeit nur den Richter zur verbindlichen Entscheidung über Begriffsgrenzen und Norminhalte legitimieren soll, kann auch Tezner nur mit dem Sprung auf ein Kompetenzpostulat begründen. Der Richter sei kraft seines Amtes dazu berufen, den Inhalt einer Norm „mit autoritativer Wirkung" zu bestimmen. 296 Nicht die juristische Natur der Auslegungsaufgabe oder ihre eindeutige Lösbarkeit entscheidet, sondern ein aus der Rechtsprechungsfunktion abgeleiteter Entscheidungsvorbehalt der Gerichte.

287 288 289 290

Ebd. Gluth, AöR 3 (1888), 612. Gluth, AöR 3 (1888), 614. Gluth, AöR 3 (1888), 612.

291 Gluth, AöR 3 (1888), 613, 615 f.; ebenso S. 614 für den Begriff der Gefahr als Eingriffsvoraussetzung im Polizeirecht. 292 Tezner, Lehre, S. 55. 293 Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 335. 294 Ebd. 295 Tezner, Lehre, S. 55. 296 Tezner, Lehre, S. 71; vgl. a. a. O., S. 45 die Rede von Tatbestands-, Sachverhaltsfeststellung und Subsumtion als dem „nobile officium" des Richters.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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ddd) Zusammenfassung Am Ende der Lehre vom unbestimmten Begriff als Rechtsbegriff steht also, wie bei den gegnerischen Auffassungen, der Rückzug auf ein Kompetenzpostulat. Hier wie dort wird die Befugnis zur verbindlichen Konkretisierung aus Gewaltenteilungs- oder Staatsfunktionsbeschreibungen abgeleitet, die auf Kosten der Rechtsbindungs- und -anwendungsanalyse in den Vordergrund geschoben werden. Nur die Zielrichtung dieser Verkürzungen ist gegensätzlich. Während die eine Seite die Rechtsauslegung und -anwendung verkürzt darstellt, um unbestimmte Tatbestandsmerkmale als Platzhalter für administrative Zweckmäßigkeitserwägungen zu behaupten oder ihre Konkretisierung der Sachverhaltswürdigung der Verwaltung zu überantworten, meint die andere Seite, sich über das Problem der beschränkten Leistungsfähigkeit der Auslegung hinwegsetzen zu müssen, um die Befugnis des Richters zur verbindlichen Begriffskonkretisierung im Rahmen der Rechtskontrolle zu legitimieren. Allerdings hat die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff das Problem vager Begriffe im Normtext schärfer erfaßt als die übrigen Auffassungen. Indem sie die Begriffskonkretisierung zutreffend als Auslegungsproblem definiert, widerlegt sie die Lehre von der impliziten Anerkennung eines Verwaltungsvorbehalts der zweckmäßigen Entscheidung. Indem sie weiter klarstellt, daß die Sachverhaltsfeststellung erst Bedeutung gewinnen kann, wenn die Auslegung die zur Tatbestandserfüllung maßgeblichen Kriterien ermittelt hat, entlarvt sie außerdem die Berufung auf die sachverständige Sachverhaltswürdigung als Scheinlegalismus. Die Lehre vom unbestimmten Begriff als Rechtsbegriff begeht zwar letztlich unter umgekehrten rechtspolitischen Vorzeichen den gleichen methodischen Fehler wie die von ihr abgelehnten Auffassungen. Sie hat die Problemanalyse zuvor aber bis an die Schwelle der konsequenten Lösung vorangetrieben. Der damit erreichte Stand wird von der späteren, spätkonstitutionellen Lehre nicht immer erreicht und nur in wenigen Ansätzen ausgebaut. Die Rezeption der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff bleibt bruchstückhaft, soweit es um das grundlegende Verständnis des Konkretisierungsproblems als Auslegungsproblem geht. Statt die bei Gluth und Tezner angesprochenen Fragen nach den Grenzen der Auslegung zu vertiefen, flüchtet die Lehre in kasuistische Kompromisse und Hilfskonstruktionen, die mögliche Spielräume überbrücken und so die meisten unbestimmten Begriffe als eindeutig bestimmbare Rechtsbegriffe legitimieren sollen.

cc) Kompromisse und Kasuistik Die Überbrückung des Auslegungsspielraums

In der verwaltungsrechtlichen Lehre und Praxis des frühen zwanzigsten Jahrhunderts setzt sich die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff nur in den Ergebnissen durch, nicht mit ihrer Begründung. Zwar werden immer mehr unbestimmte Begriffe zu Rechtsbegriffen erklärt, deren Anwendung nicht als Ermessensfrage,

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

sondern als gerichtlich nachprüfbare Rechtsfrage behandelt werden soll. Doch dabei spielt die Argumentation mit der Auslegungsbedürftigkeit und -fähigkeit dieser Begriffe nur noch eine untergeordnete Rolle. Insbesondere vermeidet die herrschende Lehre, auf Gluths und Tezners Überlegungen zu möglichen Auslegungsspielräumen näher einzugehen. Da Tezners Auseinandersetzung mit Bernatzik gewissermaßen als Auftakt einer breiteren Diskussion um das Verwaltungsermessen bekannt wurde, 297 ist das Übergehen nicht etwa auf Unkenntnis dieser Vorarbeiten zurückzuführen. Der Grund für die Zurückhaltung dürfte vielmehr darin liegen, daß die Berufung auf die Leistungsfähigkeit der Auslegung seit den achtziger Jahren immer problematischer geworden war. Die traditionelle Unterscheidung von eindeutig determinierter, „richterlicher" Rechtsanwendung und freiem, administrativen Ermessen wurde von Seiten der Zivilrechtler aufgekündigt, als die Verwaltungsrechtslehre sich gerade entschloß, die Anwendung unbestimmter Begriffe als Auslegungsproblem zu betrachten.

aaa) Das Brüchigwerden des Dogmas vom eindeutigen Auslegungsergebnis Die Vorstellung von der Rechtsanwendung als bloßem Auffinden eines eindeutig vorausbestimmten Ergebnisses war in der zivilistischen Methodenlehre schon seit der Abkehr vom naiven Gesetzespositivismus Anfang des 19. Jahhunderts brüchig geworden. 298 Die in der hermeneutischen Diskussion seither immer wieder geäußerten Zweifel am logischen Charakter der Rechtsanwendung wurden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, unter dem Eindruck der neuen zivilrechtlichen Generalklauseln, auch in der übrigen Lehre offen diskutiert. 299 Seufferts Rektoratsrede über das richterliche Ermessen 300 und O. Bülows Legitimation schöpferischer Richtertätigkeit aus der gesetzlich angeordneten Rechtskraft des Urteils 301 wurden zum Ausgangspunkt für Untersuchungen, die freie Gestaltungsspielräume des Richters bei der Rechtsanwendung begründeten 302 oder später, mit der Freirechts297 Vgl. nur die Hinweise in den Lehrbüchern von G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 47, Fn. 3, und O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165, Fn. 10. 298 Zur Kritik am Gesetzespositivismus und zur Weiterentwicklung der Interpretationslehren von der interpretatio logica, die den Gesetzeszweck in die Auslegung einbezog, bis zu den Savignysehen Auslegungstopoi vgl. Ogorek, Richterkönig, S. 89 ff., 102 ff., 144 ff. m.w.N. 299 Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 463 ff., 469 f.; Ogorek, S. 75 ff., 197 ff., 258 f., 273 ff. m.w.N.; zur Diskussion seit 1880 vgl. auch die folgenden Nachweise. 300 Seuffert, S. 5 ff., 12 f. mit ausdrücklicher Unterscheidung von Begriffskonkretisierungs- und Rechtsfolgenermessen. 301 O. Bülow, Gesetz, S. 6 f., 13 ff. (Urteil als konkretisierende Rechts-Willenserklärung), 40; vgl. die Berufung auf zivilrechtliche Vorläufer ebd., S. VIII ff.; zu O. Bülows Ansatz vgl. Ogorek, Richterkönig, S. 257 ff. 3 2 F. Regelsberger, Pandekten, S. 88 ff.; Ihering, 1. Teil, S. 31 ff., 2. Teil, 2. Abt., S. 337 ff.; Zitelmann, Lücken, S. 10, Anm. 5, S. 27, 31 ff. Zur parallelen öffentlichrechtlichen Dis-

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bewegung, in Reaktion gegen die positivistische Methode sogar eine Befugnis zur Rechtsfortbildung contra legem forderten. 303 Das einfache Verständnis des richterlichen Ermessens als eines auslegungsmethodisch auf Null reduzierten Spielraums bloßer Rechtsfindung war nicht mehr aufrechtzuerhalten. Mit dem Brüchigwerden dieser Vorstellung wurde auch die Rechtfertigung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle problematisch. Eine schöpferische Tätigkeit des Zivilrichters mochte, jedenfalls für den Not- und Ausnahmefall, noch konsensfähig sein. 304 Die Verwaltungsgerichtsbarkeit war in der fortdauernden Auseinandersetzung um die Zuständigkeitsabgrenzung zur Verwaltung jedoch weiterhin darauf angewiesen, die Rechtsanwendung als eindeutig gebundene Tätigkeit zu behaupten, um die eigene Rechtsprechung als politisch unverdächtig darstellen zu können. Ein offenes Anerkenntnis (verwaltungs-)richterlicher Entscheidungsspielräume hätte die Rechtfertigung der Verwaltungsjustiz gegenüber denen erschwert, die die Rechtsprechung ζ. B. im Polizei- und Gewerberecht als rechtswidrige und illegitime „Doppelverwaltung" 305 verurteilten. Dieselben Folgen hätte das Eingeständnis eines Auslegungsspielraums bei der Anwendung unbestimmter Begriffe gehabt. Weil die genaue Abgrenzung dieses Spielraums nur schwer zu begründen war, drohte seine offene Anerkennung in wichtigen Bereichen die verwaltungsgerichtliche Kontrolle auszuhebeln, die als mühsam erkämpfte, rechtsstaatliche Errungenschaft betrachtet wurde. 306 In ähnlichem Zusammenhang hatte schon v. Seydel gewarnt, daß man „auf jedem Mittelweg ... den Boden" verliere. 307 Die herrschende Verwaltungsrechtslehre des beginnenden 20. Jahrhunderts sucht diese Konsequenz um jeden Preis zu vermeiden. Ohne sich mit dem Auslegungsproblem genauer auseinanderzusetzen, beharrt sie auf einem Entweder-Oder vollständig determinierter oder vollständig freier Begriffsanwendung. Mit ihren kasuistischen Kompromißlösungen versucht sie, die Grenze zwischen Gebundenheit kussion um die „Lückenlosigkeit" der Rechtsordnung vgl. Laband, Budgetrecht, S. 75 (Lükkenlosigkeit der Rechtsordnung, nicht der Gesetze); Anschütz, Lücken, S. 319 ff.; Zitelmann, Lücken, S. 27 ff.; Schmitt, S. 56 ff., 88 f.; je m.w.N. 303 Flavius (= H.U. Kantorowicz), S. 5 f., 10 ff.; Ehrlich, S. 7 ff., 15 f., 29 ff.; dazu Larenz, 6. Aufl., S. 59 ff. Während die Freirechtsbewegung eine voluntaristische Rechtsanwendung ohne Rücksicht auf methodische Begründungsstandards proklamierte (am schärfsten formuliert bei Flavius, a. a. O., S. 5, 44 ff.; dagegen Ο. Bülows Distanzierung in Das Recht 10 (1906), 773 ff., 777, 779), beschränkte sich die Interessenjurisprudenz darauf, die Interessenabwägung und die Berücksichtigung sozialer Komponenten in die Auslegungslehre zu integrieren; sie lehnte, wie O. Bülow, a. a. O., jede Rechtsfortbildung contra legem ab (vgl. Heck, DJZ 10 (1905), Sp. 1140 ff.; dazu Ellscheid/Hassemer, S. 7 ff.; Larenz, 6. Aufl., S. 49 ff.). 304 So Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 492. Im Strafrecht wurden Rechtsanwendungsspielräume wegen der einschneidenden Folgen der richterlichen Entscheidung unter den Gesichtspunkten der Rechtssicherheit, des Gleichheitssatzes und des Freiheitsschutzes zunehmend problematisiert; vgl. A. Kohler, Hirths Ann. 1910, 222 ff.; Drost, S. 122 ff. 305 Bernatzik, GrünhutsZ 18 (1891), 161. 306 Hawelka, GrünhutsZ 40 (1913), 338. 307 v. Seydel, 3. Bd., 2. Aufl., S. 412.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

und Freiheit bei der Rechtsanwendung nicht als Grenze der Bestimmbarkeit in der Konkretisierung eines Begriffes, sondern als Grenze zwischen den Kategorien der unbestimmten Rechtsbegriffe und der Ermessensbegriffe zu ziehen. 308 Eine Ausnahme bildet nur W. Jellineks Drei-Sphären-Modell. Es begreift die unbestimmten Begriffe als vage Begriffe im Sinne der Sprachwissenschaft und versucht auf dieser Grundlage, ihre Anwendung zu analysieren und den Anwendungsspielraum zu begrenzen.

bbb) Walter Jellineks Drei-Sphären-Modell der Anwendung unbestimmter Tatbestandsmerkmale W. Jellineks Definition der unbestimmten Begriffe macht sich, wie schon Neumanns Begründung ihrer Auslegungsfähigkeit, die Unterscheidung von Begriffsbedeutung (Intension) und Begriffsumfang (Extension) zunutze. Während die Begriffsbedeutung die Merkmale angibt, die für einen Begriff wesentlich sind, gibt der Begriffsumfang Auskunft darüber, welche tatsächlichen Erscheinungen unter den Begriff fallen. Nach W. Jellinek sind die unbestimmten Begriffe dadurch gekennzeichnet, daß sich ihr Begriffsumfang anhand der Begriffsbedeutung nicht für alle denkbaren Fälle präzise abgrenzen läßt. Nicht für alle tatsächlichen Erscheinungen kann mit Sicherheit ausgesagt werden, daß sie dem unbestimmten Begriff zuzuordnen bzw. nicht zuzuordnen sind. Bei einigen Sachverhalten ist sowohl die Zuordnung als auch die NichtZuordnung denkbar. W. Jellinek führt dazu das Beispiel einer Verordnung an, die das Herumziehen in „Horden" verbietet. Daß ein Einzelner keine Horde ausmachen könne, fünfzig Menschen dazu aber ausreichten, sei evident. Fraglich sei jedoch, wo dazwischen die Grenze zu ziehen sei. Der Vagheitsbereich der beidseits vertretbaren Lösungen oder, mit Jellineks Worten, des „problematischen", nicht sicheren Urteils kennzeichnet den unbestimmten Begriff. Im Unterschied zum bestimmten Begriff, dessen Anwendungsbereich eindeutig abgezirkelt ist, hat der unbestimmte Begriff zwei Grenzen: die zwischen den Bereichen eindeutiger und nur vertretbarer Zuordnung, und die zwischen der noch vertretbaren und der nicht mehr zu vertretenden, sicher ausgeschlossenen Begriffsanwendung. Für die verwaltungsgerichtliche Rechtskontrolle bedeutet das Drei-Sphären-Modell, daß die Anwendung unbestimmter Begriffe nur darauf überprüft werden kann, ob die Grenzen des Vagheitsbereichs eingehalten sind. Bejaht die Verwaltung das Vorliegen des unbestimmten Tatbestandsmerkmals, ist ihre Entscheidung nur rechtswidrig, wenn der Sachverhalt in den Bereich negativer Gewißheit fällt. Umgekehrt ist die Verneinung der Anwendbarkeit eines Tatbestandsmerkmals rechts308 Vgl. v. Laun, Ermessen, S. 70 und Fleiner, 1. Aufl., S. 120, Fn. 1; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 28 ff., 287; Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 491 ff., 506. Die Bezeichnung als unbestimmter Rechtsbegriff hat hier gegenüber Tezners Formulierung einen Bedeutungswandel erfahren. Als Rechtsbegriff werden nicht mehr alle Tatbestandsmerkmale bezeichnet, sondern nur diejenigen, die die Lehre für eindeutig bestimmt oder bestimmbar hält.

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widrig nur, wenn der Sachverhalt zum Bereich positiver Gewißheit gehört. Innerhalb des Vagheitsbereichs ist jeder Rechtsanwender, also auch die Verwaltung, in ihrer Entscheidung rechtlich frei. Wird Ermessen als Gegensatz zur Rechtsbindung definiert, ist eine Nachprüfung im Vagheitsbereich deshalb nicht mehr Rechts-, sondern Ermessenskontrolle oder -substitution. W. Jellineks Drei-Sphären-Modell kann sich jedoch nicht durchsetzen. Während diejenigen, die einen Anwendungsspielraum befürworten, eher auf das unscharfe und suggestive Bild von Begriffskern und -hof zurückgreifen, 309 kritisiert die herrschende Verwaltungsrechtslehre gerade die Annahme eines Spielraums. „Die Wirkung dieser schwächeren Art von Umgrenzung eines unbestimmten Begriffs" sei, daß „gerade in den zweifelhaften Fällen" der Beamte nach freiem Ermessen entscheiden könne; die Bindung versage damit gerade dort, wo man sie besonders brauche. 310 Hinweise auf die Anerkennung eines Auslegungsspielraums finden sich nur in einem etwas früheren Beitrag Stier-Somlos. Er sieht in der Konkretisierung unbestimmter „Ausfüllungsbegriffe" eine schöpferische, über die logische Schlußfolgerung hinausgehende Funktion und nimmt einen auslegungsmethodisch begrenzten Anwendungsspielraum an. 3 1 1 Das alles soll aber nur für das richterliche Ermessen im Bereich des Zivil- und Strafrechts gelten. 312 Im Kontrast dazu wird das Verwaltungsermessen als prinzipiell freie Zwecktätigkeit umschrieben, ohne jeden Versuch, die Auslegung unbestimmter Begriffe dort in gleicher Weise zu präzisieren. 313 Hintergrund dieses Vorgehens dürfte Stier-Somlos Bestreben sein, gegenüber den Forderungen der Freirechtsbewegung klarzustellen, daß von einem „echten", dem freien Verwaltungsermessen vergleichbaren Spielraum des Richters nicht die Rede sein könne. 314 Dazu greift Stier-Somlo auf vor- und frühkonstitutionelle Umschreibungen des Verwaltungsermessens zurück, die weit hinter dem inzwischen erreichten Stand der Lehre zurückbleiben. 315

309 Das Bild taucht schon bei Wurzel, S. 83, auf, wird von Heck, Gesetzesauslegung, S. 107 f., ausgearbeitet und ζ. B. von Baumgarten, S. 369 f., übernommen. Zur weiteren Rezeption s.o. Einleitung, Fn. 32 a.E. aio Bühler, Öffentliche Rechte, S. 34, S. 41 f., dort auch Zitat.

311 Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 467 ff. 312 Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 471,493. 313 Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 506. Als Beispiel wird unkritisch die Rechtsprechung übernommen, nach der im Ermessen der Behörde steht, zu entscheiden, wen sie „als einen für die öffentliche Sicherheit und Moralität gefährlichen Menschen erachten" und deshalb ausweisen wolle. 314 Vgl. Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 449,465. 315 So schon die Kritik v. Launs, Ermessen, S. 45 f. Später wendet sich Stier-Somlo (AöR 38 (1918), 284 ff.) ausdrücklich dagegen, die Lehren der Freirechtsbewegung für das Verwaltungsrecht zu übernehmen, da damit der Schutz subjektiv-öffentlicher Rechte gefährdet werde. Er gibt aber auch in diesem Zusammenhang keine differenziertere Darstellung des Verwaltungsermessens.

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Die ganz herrschende Verwaltungsrechtslehre versucht dagegen, den Ermessensbereich der Verwaltung möglichst einzugrenzen. Ohne das Problem des Vagheitsbereichs offen zu diskutieren, geht sie von dem Ungenügen der Auslegungsregeln aus und erarbeitet Ausweichstrategien, die für die Anwendung nahezu aller unbestimmten Begriffe im Einzelfall ein eindeutiges Ergebnis gewährleisten sollen. Im Ergebnis schließt sich dieser Richtung auch Jellinek an, indem er die aufgezeigten Spielräume durch Hilfskonstruktionen einzuengen oder sogar in die Bestimmtheit zu überführen versucht. 316

ccc) Die Ausweichstrategien Mit der Entwicklung der Ausweichstrategien versucht die Lehre, Konkretisierungsregeln aufzuzeigen, die außerhalb der traditionellen Auslegungsregeln stehen und, diese ergänzend oder ersetzend, die Eindeutigkeit der Rechtsanwendung im Einzelfall gewährleisten sollen. Unter den Hilfskonstruktionen steht die Annahme eines impliziten, gesetzlichen Verweises auf gesellschaftliche Anschauungen und den allgemeinen oder wissenschaftlichen Sprachgebrauch an erster Stelle. Daneben findet sich der Verweis auf Erfahrungssätze, die zur Begriffskonkretisierung eine Nische zwischen Auslegung und Tatsachenfeststellung eröffnen sollen. All diese Ansätze zielen darauf, möglichst viele Begriffskonkretisierungen aus dem Ermessensbereich auszugrenzen. Sie werden ergänzt durch den umgekehrten Versuch, aus der inhaltlichen Umschreibung des Ermessens als Wertungsentscheidung oder Zweckkonkretisierung positive Kriterien dafür abzuleiten, welche Begriffe überhaupt als Kandidaten möglicher Ermessenseinräumung verbleiben. (1) Die Verweislehren

Die in der Literatur gängige Berufung auf die Absichten, die der Gesetzgeber bei der Verwendung unbestimmter Begriffe verfolgt hat, 3 1 7 ist nicht als genetische Auslegung mißzuverstehen. Gefragt wird nicht oder allenfalls einleitend 318 nach den Begriffs Vorstellungen des historischen Gesetzgebers. Es geht vielmehr um die Feststellung des Zwecks, dem die Verwendung unbestimmter Begriffe dient, und der im Zweifel aus der mutmaßlichen Absicht des Gesetzgebers319 erschlossen werden soll. 3 2 0 Dieser Rückgriff erinnert an v. Seydels und v. Lemayers Versuche, 316 Vgl. w. Jellinek, Verwaltungsrecht, 1. Aufl., S. 30: Man müsse aus dem unbestimmten Begriff einen bestimmten machen. 317 γ. Laun, Ermessen, S. 47 ff., 55. 318 So bei W. Jellinek, Gesetz, S. 163 ff. 319 v. Laun, Ermessen, S. 47 f.; W. Jellinek, Gesetz, S. 169 ff. 320 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 27, 30 ff. Irreführend deshalb W. Jellinek, Gesetz, S. 157, wo vorsorglich gegen die Ablehnung der genetischen Interpretation im öffentlichen Recht Stellung genommen wird.

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auf den Sinn der Unbestimmtheit statt auf die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals abzustellen. Die Lehre des beginnenden 20. Jahrhunderts optiert für die Vermutung, die Unbestimmtheit sei lediglich als Auftrag zu regelgeleiteter Konkretisierung zu begreifen. 321 „Es ist allgemein anerkannt, dass es nicht Absicht des Gesetzgebers ist, dass sich unter unbestimmten Begriffen, wie Bedürfnis u. dgl., innerhalb des logisch Möglichen jeder zu seiner Anwendung Berufene soll vorstellen können, was er will, dass solche Begriffe nach individuellen Anschauungen auszulegen wären ... Vielmehr ist mit der Aufstellung solcher unbestimmter Voraussetzungen bezweckt, dass sie möglichst einheitlich und überall gleichmäßig nach einer Durchschnittsanschauung ausgelegt werden, die von der Allgemeinheit oder dem engeren Kreis der zur Anwendung der betreffenden Gesetze Berufenen gebildet wird". 3 2 2 Mit dieser Konkretisierung des gesetzgeberischen Willens ist die Annahme eines Vagheitsbereichs, innerhalb dessen der Begriff vom Rechtsanwender frei abgegrenzt werden darf, grundsätzlich abgelehnt. Statt den zitierten Gleichheitssatz als Rechtsgrenze eines Konkretisierungsermessens auszuarbeiten, wird auf die angenommene Eindeutigkeit einer empirisch zu ermittelnden „Durchschnittsauffassung" der Gesellschaft oder der Rechtsanwender verwiesen. 323 In technischen oder medizinischen Fragen, wie bei der Bestimmung des Begriffs der Eisenbahn oder der Gesundheitsgefahr, soll in Anlehnung an die Konkretisierung zivilrechtlicher Generalklauseln 324 die Auffassung der beteiligten bzw. sachverständigen Verkehrskreise an die Stelle des Sprachgebrauchs der Gesamtgesellschaft treten. 325 v. Launs Verweis auf sogenannte Erfahrungssätze 326 deckt beide Varianten ab, indem als Inhalt der Erfahrungssätze, je nach Bedarf, mal der im sozialen Umgang erlebte Sprachgebrauch, mal die sachverständige Beurteilung von Kausalverläufen angesehen wird. 3 2 7 Unabhängig davon, was zum Gegenstand des Verweises erklärt wird, besteht Einigkeit im Ergebnis: Die „komplizierten Reihe(n) von Schlußketten" sollen nicht mehr, wie noch bei Bernatzik, 328 dem Ermessen der Verwaltung überlassen, sondern anhand empirischer Umschreibungen der Begriffsverwendung gesteuert und nachvollziehbar gemacht werden.

321 v. Laun, Ermessen, S. 49 ff.; W. Jellinek, S. 34 f., 37, 88 f., 198; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 28 ff., 280, 284 ff. („Kompromißbestimmungen" als Ausgleich notwendiger Abstraktion und hinreichender Gewährleistung von Rechtssicherheit); für die Zivilrechtslehre ebenso Stier-Somlo, S. 464 f., 491 ff. 322 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 30 f. 323 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 30 ff. 324 Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 466 ff.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 33 f. 325 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 30 f. 326 γ. Laun, Ermessen, S. 50 ff. 327 y. Laun, Ermessen, S. 52 ff. (Beispiele: Gefährlichkeit einer technischen Anlage, Schädlichkeit von Kinderarbeit). 328 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 43.

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Diesem Konzept, das eine zivilrechtliche Konstruktion zur Begründung der Revisibilität von Naturgesetzen, Verkehrssitten usw. 329 ins öffentliche Recht überträgt, schließt sich im Ergebnis auch W. Jellinek an. 3 3 0 Den Übergang vom DreiSphären-Modell zur herrschenden Auffassung findet er bei der Bestimmung der Grenzen des Vagheitsbereichs. Dazu soll ermittelt werden, was der gesellschaftliche Sprachgebrauch noch als begriffsgemäß ansieht. Indem Jellinek aus dem Spektrum der gesellschaftlichen Auffassungen die gesamtgesellschaftliche Durchschnittsauffassung heraushebt, verschafft er sich die Möglichkeit, dem Sprachgebrauch auch die „Kraft" zur präzisen Bestimmung der Begriffsbedeutung zuzuschreiben. 331 Er unterscheidet nun „zwei Arten von gesellschaftlichen Begriffsbestimmungen", einerseits die „Festlegung des Grenzgebiets möglichen Zweifels", andererseits und weitergehend die „Verwandlung des unbestimmten Begriffs in einen bestimmten". 332 Mit dieser letzten hat er den Anschluß an die übrige, herrschende Lehre wiedergefunden. W. Jellineks Begründung, warum die Vagheit auf die Bestimmtheit reduziert werden kann und soll, ist dürftig. 333 Die Behauptung, dem Richter sei mit der Auskunft über ein mögliches Verständnis des Begriffes nicht gedient, überzeugt nicht. W. Jellinek hätte in Anlehnung an sein Drei-Sphären-Modell behaupten können und müssen, daß jedes Urteil in den durch Auslegung zu ermittelnden Grenzen korrekter Begriffsverwendung richtig sei. Die Auskunft über diese Grenzen genügt deshalb nicht nur für die erste Rechtsanwendung, sondern auch für die Rechtskontrolle. Das Bedürfnis einer Reduzierung des Vagheitsbereichs auf Null besteht also nicht. Als Kriterium dafür, ob im Einzelfall eine gesellschaftliche Begriffsbestimmung oder nur eine Begriffsumgrenzung stattfinden soll, nennt W. Jellinek den tatsächlichen 334 oder mutmaßlichen335 Willen des Gesetzgebers.336 Die Erläuterung, der 329 Stein, S. 12 ff., 104 ff., 118 f.; Wurzel, S. 70 ff., bes. S. 74 f.; w.N. bei v. Laun, S. 51, Fn. 1 und bei W. Jellinek, Gesetz, S. 183 f. Beide zählen auch Danz mit zu den Begründern der Lehre. Danz, 3. Aufl., S. 58 f., 87 ff., 118 ff., schreibt aber nicht jedem durch Tatbestandsmerkmale bezeichneten Sachverhalt und jedem zur Sachverhaltsdarstellung verwendeten Erfahrungssatz Rechtsquellencharakter zu. Er betont vielmehr, erst bei der Rechtsanwendung würden durch Auslegung und Feststellung der Gepflogenheiten die Rechtssätze der Verkehrssitte geschaffen. 330 w. Jellinek, Gesetz, S. 38 f., 57. 331 W. Jellinek, Gesetz, S. 39. 332 w. Jellinek, Gesetz, S. 38 f. Für den Rekurs auf die Durchschnittsauffassung beruft W. Jellinek sich auf Bernatzik, Rechtsprechung, S. 43, Fn. 6 (die Mehrheitsanschauung als Kriterium der Richtigkeit) und ebd., S. 45, Fn. 9 (der Richter als von der Rechtsordnung autorisierter Repräsentant der Mehrheitsauffassung), dazu vgl. ο. Β. II. 2. a) aa) ccc) bei Fn. 207 ff. 333 Vgl. dazu Bühler, Öffentliche Rechte, S. 40 ff. 334 w. Jellinek, Gesetz, S. 163 ff. 335 w. Jellinek, Gesetz, S. 169, 171 ff. 336 w. Jellinek, Gesetz, S. 39, 171 ff.

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Begriff selbst sei dafür unwichtig, 337 wird in der Durchführung des Grundsatzes allerdings bald aufgegeben, und die Erforschung des gesetzgeberischen Willens durch eine Begriffstypologie ersetzt. Während es zunächst heißt, Ermessenseinräumungen durch den Gesetzgeber seien nicht anzunehmen, wo eine eindeutige Erkenntnis möglich sei, heißt es bald darauf, Ermessenseinräumungen in diesen Fällen seien nicht statthaft. 338 Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, die eindeutig bestimmbaren „theoretischen" Begriffe reiner Erkenntnis 339 von den Wertbegriffen abzugrenzen, bei deren Bestimmung menschliches Fühlen oder Wollen eine Rolle spielen könne. In nahezu allen Fällen, die von der herrschenden Lehre als Rechtsbegriffe anerkannt werden, ist W. Jellinek danach ebenfalls nicht mehr gezwungen, eine Abgrenzungsfreiheit innerhalb des Vagheitsbereichs anzuerkennen. 340 Unter Berufung auf die bloß scheinbare Erkenntnisfreiheit des Augenmaßes können sogar Angemessenheit und Billigkeit als Rechtsbegriffe verstanden werden. 341 Schließlich klammert W. Jellinek aus der Gruppe der Wertbegriffe auch ästhetische und „sittliche" 342 Urteile aus, um sie als Gegenstand sogenannter theoretischer Wertbegriffe den bestimmbaren Rechtsbegriffen zuzurechnen. 343 Ein Anwendungsspielraum im Sinne des Drei-Sphären-Modells bleibt danach nur noch bei den sogenannten praktischen Wertbegriffen, die als Urteile über den „inneren Wert oder Unwert" definiert werden. 344 In einigen Fällen weicht W. Jellinek allerdings von der angegebenen Typologie ab, vermutlich, um mißliebige Ergebnisse und allzu große Diskrepanzen zur zeitgenössischen Rechtsprechung zu vermeiden. So soll die Entscheidung darüber, was die öffentliche Ordnung gefährde, durch die gesellschaftlichen Anschauungen nur begrenzt werden, 345 während der Gefahrbegriff eindeutig bestimmbar sein soll. 3 4 6 Der Begriff des Bedürfnisses in § 33 RGewO wird mit der h.M. ebenfalls nicht als Rechtsbegriff, sondern als Ermessensermächtigung qualifiziert, weil damit den Behörden „ein Stück Alkoholpolitik" habe anvertraut werden sollen. 347

337 W. Jellinek, Gesetz, S. 39. 338 w. Jellinek, Gesetz, S. 34. 339 w. Jellinek, Gesetz, S. 35 f., 41 ff. Hier sollen alle Erkenntnisspielräume, zu denen Jellinek nicht nur die „Freiheit der historischen Erkenntnis" äußerer oder innerer Tatsachen (d. h. die Sachverhaltsermittlung), sondern großzügig auch die „Freiheit des Augenmaßes" der Abschätzung und Abwägung nicht meßbarer Größen zählt (vgl. a. a. O., S. 34 ff., die Aufzählung möglicher Erkenntnisfreiheiten), nur methodisch auf Null zu reduzierende Freiheiten „kraft Unwissenheit oder Irrtums" sein (a. a. O., S. 177). 340 Dazu Bühler, Öffentliche Rechte, S. 42. 341 W. Jellinek, Gesetz, S. 53 f., 72 f. 342 Unter sittlichen Fragen versteht W. Jellinek Fragen des sozialen Standards (ζ. B. Gesetz, S. 66 f.: unentbehrlicher Unterhalt, Notwendigkeit eines Sonntagsanzuges). 343 w. Jellinek, Gesetz, S. 62 f. (Verunstaltung). 344 Dazu s.u. Β. II. 2. a) cc) ccc) (2) bei Fn. 361 ff. 345 w. Jellinek, Gesetz, S. 74 f. m. Fn. 38. 346 w. Jellinek, Gesetz, S. 71 f.

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Das Verhältnis von juristischer Auslegung und Verweispostulat bleibt nicht nur bei W. Jellinek, sondern auch in den übrigen Beiträgen zum Verweis auf gesellschaftliche Auffassungen oder Erfahrungssätze ungelöst. Wie bereits festgestellt, kann der Rekurs auf den Willen des Gesetzgebers nicht als genetische Auslegung ausgegeben werden, da auch ein Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers zulässig sein soll. 3 4 8 W. Jellineks Versuche zur methodischen Legitimation der Verweislehre 349 konstruiert sie als Mischform von Auslegung und Tatsachenfeststellung. Soweit bei der Verwendung unbestimmter Begriffe ein Verweis auf gesellschaftliche Auffassungen oder den allgemeinen oder wissenschaftlichen Sprachgebrauch unterstellt werden kann, werden diese zu „Tatsachen mit abgeleiteter Rechtssatzwirkung" erklärt. 350 Kraft gesetzlicher Bezugnahme soll ihnen die Qualität einer subsidiären Rechtsquelle zukommen. Weil durch ihre Umschreibung der Anwendungsbereich der verweisenden Norm erklärt werden könne wie mit einer Ausführungsverordnung, sollen sie, nach dem Modell der Verweisung auf eine solche Vorschrift, gleichsam als Bestandteil der Ausgangsnorm betrachtet werden. Die Schwäche der Verweislehre wird damit deutlich. Die Konstruktion der abgeleiteten Rechtssatzwirkung von Tatsachen verwischt die Grenze zwischen konkretisierungsbedürftigem Tatbestandsmerkmal und Sachverhaltsausschnitt. Sie legt Tatsachen normative Wirkung bei, ohne ihre Maßgeblichkeit für die Normkonkretisierung zu begründen. Die Substitution des eigenen als des gesetzgeberischen Willens wird in der Fiktion der Bezugnahme verschleiert, aber nicht legitimiert. Zudem werden die juristischen Auslegungsregeln in der Konstruktion der abgeleiteten Rechtssatzwirkung schlicht verdrängt, obwohl der Verweis auf den Sprachgebrauch im Rahmen der grammatischen Auslegung einen legitimen Platz hätte finden können. v. Launs oberflächlicher und etwas verworrener Versuch, den Verweis auf Erfahrungssätze zu legitimieren, zeigt vergleichbare Unstimmigkeiten. Weshalb die Umschreibung in Erfahrungssätzen die Begriffsauslegung ergänzen oder ersetzen soll, kann v. Laun nicht begründen. Wenn er als Mangel der Auslegung angibt, diese könne nur den allgemeinen Sprachgebrauch ermitteln, 351 beschreibt er lediglich die Konsequenzen seines auf die grammatische Auslegung verkürzten Auslegungsbegriffs und wiederholt im übrigen die Binsenweisheit, daß die Auslegung, wie das Gesetz, in Worten reden muß. Das gilt aber ebenso für die Erfahrungssätze. Was gesicherter Bestand gesellschaftlicher oder praktischer Erfahrung ist, kann ohne weiteres in die Wortlautauslegung einfließen. Was die Berufung auf Erfah-

. 347 w. Jellinek, Gesetz, S. 132 m. Fn. 71. 348 w. Jellinek, Gesetz, S. 169, 171 ff. Entsprechend undeutlich sind W. Jellineks Aussagen zur Legitimität der genetischen Auslegung S. 163 f. Letztlich dient die Berufung auf den mutmaßlichen Willen als Leerformel für die teleologische Auslegung. 349 w. Jellinek, S. 13 ff., 39 ff. 350 w. Jellinek, S. 13; zustimmend Bühler, Öffentliche Rechte, S. 31, Fn. 45. 351 v. Laun, Ermessen, S. 52 f.

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rungssätze leisten kann, leistet die Auslegung also ohnehin. Oft leistet sie sogar mehr, weil weitere Auslegungsgesichtspunkte - Systematik, Genese etc. - hinzukommen. Wie der Verweis auf die gesellschaftliche Durchschnittsanschauung, verkürzt und ersetzt der Verweis auf Erfahrungssätze also die Interpretation. Der Vorteil der Verweislehren liegt darin, daß sie trotz ihres Ausweichens auf die Sachverhaltsebene den Auslegungsstatus der Begriffskonkretisierung wahren können. Damit grenzen sie sich ab von der früheren Aufwertung der Sachverhaltsfeststellung zum Auslegungssurrogat qua Sachverhaltswürdigung. Die Ermittlung der angeblich in Bezug genommenen, gesellschaftlichen Vorstellungen oder der Erfahrungssätze bleibt zwar Tatsachenermittlung. Doch weil die Empirie zur Rechtsquelle aufgeweitet wird, kann die Ermittlung der richterlich zu überprüfenden Auslegungstätigkeit zugeordnet werden. Die Konkretisierung unbestimmter Begriffe ist damit, wenn auch auf fragwürdigen Umwegen, wieder als Teil der Rechtsfrage etabliert. Dabei sind die Umwege keineswegs nur als Verlegenheitslösung zu sehen. Indem die Begriffskonkretisierung als Auslegung im Weg der Tatsachenfeststellung erklärt wird, entgeht man der „Diskutabilität" der Auslegungsfragen, die die Weiterentwicklung der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff als Auslegungsproblem so prekär machte. Die Auseinandersetzung mit der Leistungsfähigkeit der traditionellen Auslegungstopoi kann ebenso umgangen werden wie das Erfordernis der Vermittlung möglicherweise mehrdeutiger Auslegungsergebnisse. Der Verweis auf den Rechtsquellencharakter gesellschaftlicher Tatsachen bedeutet eine Flucht aus der Unsicherheit der Interpretation in die Gewißheit der Empirie. Daß diese Gewißheit nur eine vermeintliche ist, zeigt sich bei dem Versuch, die Leistungsfähigkeit der gesellschaftlichen Anschauungen für die Begriffskonkretisierung zu bestimmen. Die Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Durchschnittsauffassung bleiben in der Literatur regelmäßig unberücksichtigt. Thematisiert wird weder der Umgang mit einem regional oder nach sozialen Schichten abweichenden Sprachgebrauch, noch die Frage, wie bei Streitigkeiten etwa angerufener Fachkreise über die Begriffsverwendung zu verfahren sei. Damit wird die unbequeme Erkenntnis umgangen, daß auch der allgemeine oder fachlich qualifizierte Sprachgebrauch nur über den möglichen, zulässigen Gebrauch eines Ausdrucks Auskunft geben kann. Auch er zeigt nur die Grenzen möglicher Konkretisierung, nicht aber die einzig richtige, konkrete Abgrenzung in jedem zweifelhaften Fall. Das Problem eindeutiger Begriffsbestimmung ist mit der Flucht aus der juristischen Auslegung in die Empirie des gesellschaftlichen Sprachgebrauchs also nur verschoben, aber nicht gelöst. Der Verdacht drängt sich auf, daß die empirisch zu ermittelnde Durchschnittsauffassung oder Erfahrung nur als Platzhalter einer normativen, aber nicht an den Auslegungsregeln zu rechtfertigenden, richterlichen Präzisierung unbestimmter Begriffe dienen soll. Angesichts der methodischen Unstimmigkeit der Verweislehren ist die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts darauf angewie12 Held-Daab

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

sen, die Einschränkung des Verwaltungsermessens bei der Normanwendung zusätzlich durch eine restriktive Definition des Ermessensbegriffs abzusichern. (2) Die Begrenzung des Ermessens auf die Ermächtigung zur Zweckkonkretisierung oder Wertung

Die Grundlage der Einordnung eines Tatbestandsmerkmals als Ermessensbegriff ist die hergebrachte Umschreibung des Ermessens als Staatszweckverwirklichung nach den Kriterien der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit. Bei v. Laun wird daraus abgeleitet, daß wirklich freies Ermessen der Behörde nur vorliege, wenn sie selbst den „nächste(n), unmittelbare(n) Zweck" ihrer Tätigkeit frei bestimmen dürfe. 3 5 2 Die einzigen Schranken für die Zweckwahl sieht v. Laun in der Wahrung der „letzten Staatszwecke", zu denen er bezeichnenderweise neben der Erhaltung der Staatsform auch die der Eigentumsordnung zählt. 353 Als einzigen Ermessensbegriff erkennt v. Laun nach diesen Kriterien den Begriff des öffentlichen Interesses an. 3 5 4 Weil weder Auslegung noch Tatsachenermittlung oder Erfahrungssätze darüber Auskunft geben könnten, welchem der vielen, in diesem Oberbegriff zusammengefaßten staatlichen Zwecken der Vorrang einzuräumen sei, müsse und dürfe die Behörde die Zweckkonkretisierung selbst vornehmen. 355 Die Verwendung des Begriffs gebe der Behörde eine „Biancovollmacht"; 356 im Gegensatz zu allen anderen unbestimmten Begriffen seien Rechtsfehler bei der Konkretisierung nicht denkbar. 357 Diese pauschale Abgrenzung bietet mehrere Ansatzpunkte für Kritik. 3 5 8 v. Launs stereotype Einordnung des öffentlichen Interesses als Ermessensbegriff übersieht frühere Abhandlungen zu seiner rechtlichen Umgrenzung oder handelt sie sehr oberflächlich ab. 3 5 9 Dabei setzt v. Laun sich auch mit sich selbst in Widerspruch. Denn er erkennt ja selbst mit den höchsten Staatszwecken Grenzen eines möglichen Begriffsverständnisses des öffentlichen Interesses an. Zudem läßt er in seinen Ausführungen zu Zwecken und Mitteln die Offenheit der Zweck-Mittel-Relation unberücksichtigt, die es gestattet, in beliebig enger Schachtelung jeden Zweck als Mittel zu weitergehenden Zwecken darzustellen.

352 γ. Laun, Ermessen, S. 61 f.; Zitat S. 62. 353 v. Laun, Ermessen, S. 64. 354 v. Laun, Ermessen, S. 62 f., 66 ff. 355 v. Laun, Ermessen, S. 68 f. 356 v. Laun, Ermessen, S. 70. 357 v. Laun, Ermessen, S. 66. 358 Vgl. ζ. B. die Rezension von Hawelka, GrünhutsZ 40 (1913), 338 ff., und die u. in Fn. 537 zitierten Rezensionen. 359 z.B. die Arbeiten von Tezner und Neumann, dazu s. ο. Β. II. 2. a) bb) bbb) bei Fn. 259 ff., 269 ff. Der Beitrag Leutholds (s.o. Fn. 263) wird bei v. Laun, Ermessen, S. 68 m. Fn. 4, verkürzt und verzerrt dargestellt.

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Die übrige Literatur lehnt deshalb die Umschreibung des Ermessens als Ermächtigung zur Zweckwahl ab. Sie bestimmt Ermessen formal als gesetzliche Ermächtigung zur Wahl zwischen mehreren, legalen Mitteln, und inhaltlich als Befugnis, diese Wahl an eigenen Wertentscheidungen auszurichten. 360 In der Konkretisierung dessen, was als Wertentscheidung gelten soll, kommt sie allerdings zu unterschiedlichen Folgen für die Abgrenzung unbestimmter Rechts- und Ermessensbegriffe. Bei W. Jellinek wird als Wertentscheidung nicht nur die Auswahl unter mehreren, gleichermaßen zulässigen Rechtsfolgen angesehen, sondern auch die Konkretisierung von praktischen Weitbegriffen, im bereits dargestellten Unterschied zur Abgrenzung der „theoretischen Begriffe". 361 Ihre Anwendung soll durch das Zuordnen der Eigenschaften gut oder schlecht, wünschbar oder unerwünscht bestimmt sein. W. Jellinek rechnet dazu nur die Begriffe der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit, und auch diese nur, sofern sie „absolut" gemeint, d. h. nicht nur „relativ" auf die Verwirklichung eines bestimmten Zwecks bezogen sind. 362 Diese Unterscheidung ist Kants „Kritik der Urteilskraft" 363 entlehnt und zielt darauf ab, die Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme im Sinne ihrer Eignung und Erforderlichkeit zur Zweckerreichung aus dem Ermessensbereich herauszunehmen. Weil die relative Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit, wie die Abgrenzung der theoretischen Begriffe, eindeutig zu bestimmen sei, könne von einer Freiheit der Verwaltung dabei nicht ausgegangen werden. 364 Bühler engt den Bereich der Ermessensbegriffe noch weiter ein. Wie Jellinek, kennzeichnet auch er das Ermessen als gesetzlich eingeräumte Verwaltungsbefugnis zur Wertentscheidung, und zwar darüber, „was dem Staatszweck am förderlichsten ist". 3 6 5 Gleichzeitig soll es die Wahl der zweckentsprechenden, legalen Maßnahmen einschließen.366 Dabei sieht Bühler die Ermessenseinräumung aber nicht von Begriffskategorien abhängig, sondern schließt Ermessen bei jeder Rechtsfolgenanordnung aus. 367 Wenn im Tatbestand die Voraussetzungen für eine ins Er360 w. Jellinek, Gesetz, S. 6 f., 38 f f ; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 21 f., 38 ff.; v. Seydel, 3. Bd., 2. Aufl., S. 412 ff.; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 164 f.; 2. Aufl., S. 101, 103; Oertmann, S. 20 ff.; Fleiner, 1. Aufl., S. 120, 215; Friedrichs, in: Stier-Somlo/ Elster, S. 336 f. 361 W. Jellinek, Gesetz, S. 38 ff., 41; vgl. o. bei Fn. 339. 362 w. Jellinek, Gesetz, S. 77 f., 81 ff. (relative Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit); S. 86 ff. (absolute Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit). Der Begriff des öffentlichen Interesses gehört für W. Jellinek grundsätzlich nicht zu den praktischen Wertbegriffen, weil er, je nach Regelungszusammenhang, ebensogut auf die gesellschaftlichen Anschauungen wie auf das subjektive Urteil des Rechtsanwenders verweisen könne (Gesetz, S. 71 f. m. Fn. 10, S. 74 f.). 363 364 365 366 12*

Kant, Kritik der Urteilskraft, § 62. w. Jellinek, Gesetz, S. 77 f., 81 ff. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 25 f. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 26 f. m. Fn. 44 a.E.

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messen der Verwaltung gestellte Rechtsfolge geregelt sind, 368 spricht Bühler von einer Freiheit nur „nach einer Seite hin". 3 6 9 Sie bestehe darin, bei Zutreffen der Tatbestandsvoraussetzungen zu entscheiden, ob von der Ermächtigung Gebrauch gemacht werde, lasse aber die Einordnung der Tatbestandsmerkmale als Rechtsbegriffe unberührt. 370 Schließlich werden unbestimmte Begriffe, unabhängig von der Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge, als Rechtsbegriffe eingeordnet, wenn der Regelungszusammenhang Richtlinien für ihre Auslegung erkennen läßt. 371 Hier scheide eine Ermessenseinräumung im Tatbestand aus, weil sich der Norm „zur Not bestimmte oder doch durch die Auslegung bestimmbare Direktiven" entnehmen lassen.372 Nach diesen Kriterien kann die Anwendung fast aller Tatbestandsmerkmale zur Rechtsfrage erklärt werden. So hält Bühler die Regelung des § 53 des preußischen Kommunalabgabengesetzes für „immerhin so bestimmt gefaßt, daß sie doch wohl zu den nachkontrollierbaren" zu zählen sei. Die Vorschrift gibt Gemeinden einen Anspruch auf einen „angemessenen Zuschuß", wenn eine „unbillige Steuerbelastung" der Gemeindebürger daraus entstehe, daß „erhebliche" Mehrkosten aus der Verpflichtung der Gemeinde resultieren, Schulplätze, Armenpflegeleistungen oder Polizeikosten für Personen aufzubringen, die in der Gemeinde wohnen, aber in der Nachbargemeinde arbeiten. 373 Weil Bühler nur vordergründig auf den Wertungscharakter der Entscheidung, tatsächlich aber auf Normstruktur und Normkontext abstellt, gibt es keinen Begriff, den er per se zum Ermessensbegriff erklären könnte. Da er regelmäßig Auslegbarkeit mit Bestimmbarkeit gleichsetzt und auch den Begriff der Notwendigkeit grundsätzlich als Rechtsbegriff versteht, bleiben im wesentlichen die Begriffe des öffentlichen Interesses374 und der Billigkeit 3 7 5 als potentielle Kandidaten einer Ermessenseinräu„ 376

mung.

367 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 21 ff.; 30 ff. zu § 33 RGewO unter Bezugnahme auf v. Seydel, Bayerisches Staatsrecht, 3. Bd., 2. Aufl., S. 412. 368 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 22 f. (Ermächtigung zum Widerruf oder zur Versagung von Konzessionen gem. §§ 53, 57 b RGewO). 369 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 22. 370 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 22 f., 33 f.; S. 280 ff. streitet Bühler mit W. Jellinek nicht darum, ob durch die Ermächtigung zum Widerruf von Genehmigungen, Approbationen oder Konzessionen gem. § 53 RGewO, § 24 KleinbahnG oder durch die Ermächtigung zur Schließung und Auflösung von Krankenkassen, Innungen und Gesellschaften mit beschränkter Haftung ein Ermessen eingeräumt werde oder nicht. Der Streit geht lediglich darum, ob die jeweils in der „Kann"-Bestimmung liegende, von beiden grundsätzlich akzeptierte Ermessenseinräumung ausschließlich der antragstellenden Verwaltungsbehörde zukomme (so W. Jellinek, Gesetz, S. 197, für den Fall der Kleinbahn und der Auflösung und Schließungen der Vereinigungen), oder auch dem Verwaltungsgericht (so Bühler in diesen beiden Fällen, und beide Autoren für § 53 RGewO). 371 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 280. 372 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 285. 373 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 284 ff. 374 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 429 ff.; ähnlich W. Jellinek, Gesetz, S. 71 f.; Fleiner, 1. Aufl., S. 120, Fn. 1.

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ddd) Zusammenfassung Gegen Ende des Kaiserreiches hat sich in der Verwaltungsrechtslehre die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff insofern durchgesetzt, als nahezu alle unbestimmten Begriffe als eindeutig bestimmbar anerkannt werden. 377 Der Bereich der Ermessensbegriffe ist auf die traditionellen Synomyme der Ermessensentscheidung, die Konkretisierung des öffentlichen Interesses, der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Billigkeit zurückgedrängt. Die Tendenz zu seiner weiteren Einschränkung zeigt sich in Ansätzen, Konkretisierungsrichtlinien oder -grenzen auch für diese Begriffe zu erarbeiten. Mit der Zweiteilung unbestimmter Tatbestandsmerkmale in bestimmbare Rechts- und frei auszufüllende Ermessensbegriffe vermeidet die Lehre, die unbequemen Überlegungen zur Begriffskonkretisierung als Auslegungsproblem weiterführen zu müssen. Als Ausweichstrategie entwickelt sie zwei Begründungsstränge. Für die zu Rechtsbegriffen deklarierten Tatbestandsmerkmale hält sie, trotz des Brüchigwerdens des Dogmas vom eindeutig bestimmten Auslegungsergebnis, am Postulat eindeutiger Determiniertheit der Rechtsanwendung fest. Sie verficht die Überzeugung, den Anwendungsbereich dieser Begriffe aufgrund empirisch festzustellender Tatsachen oder Erfahrungssätze eindeutig abgrenzen zu können. Im geschichtlichen Rückblick erscheint die Flucht in die Empirie als Spiegelbild der Flucht in die Sachverhaltswürdigung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Einordnung des unbestimmten Begriffs als Ermessensermächtigung rechtfertigen sollte. Dogmatisch wird damit aber nichts gewonnen. Denn die Begründungen, mit denen die eindeutige Abgrenzbarkeit der Rechtsbegriffe nachgewiesen werden soll, sind in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Das Ersetzen der Auslegungsregeln durch den Verweis auf empirisch festzustellende gesellschaftliche Anschauungen, auf den Sprachgebrauch oder auf Erfahrungssätze ist mit der Berufung auf den mutmaßlichen gesetzgeberischen Willen nur scheinbar positivrechtlich begründet. Außerdem kann der Anspruch der eindeutigen, verbindlichen Begriffskonkretisierung auch mit der Flucht in die vermeintliche Gewißheit der Empirie nicht eingelöst werden. Die Lehre kann erstens nicht nachweisen, daß und wie eine gesellschaftliche Durchschnittsauffassung oder -erfahrung zu ermitteln wäre. Zweitens kann sie nicht begründen, daß eine solche Durchschnittsauffassung oder ein Inbe375

Bühler, Öffentliche Rechte, S. 278, bezeichnet, mangels gesetzlicher Anhaltspunkte für einen Verteilungsmaßstab, die Ausfüllung des Billigkeitsbegriffs bei der Festlegung finanzieller Ausgleichszahlen nach kommunalen Grenzveränderungen „doch wohl eher" als Angelegenheit des freien Ermessens. Haschtmanns Feststellung, Bühler erkenne keine Ermessenseinräumung durch unbestimmte Rechtsbegriffe an (Haschtmann, S. 79), trifft deshalb nicht zu. 376 Bühler weist S. 28 f., 280 ff. darauf hin, daß über die Konkretisierbarkeit dieser Begriffe je nach dem Normzusammenhang entschieden werden müsse. 377 Vgl. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 37 ff. zur Lehre, S. 39 f., 172 f., 429 ff. zur Rechtsprechung.

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griff der ihr zugrundeliegenden Erfahrungssätze präzisere Kriterien für die Begriffsverwendung angeben könnte, als der Kanon grammatischer, systematischer, genetischer oder historischer Auslegung. Da die Untersuchung des Sprachgebrauchs regelmäßig im Rahmen der grammatischen Auslegung stattfindet, kann die Analyse des empirischen Sprachgebrauchs nur einen Ausschnitt von dem zutage fördern, was die Arbeit mit den juristischen Auslegungsregeln leisten könnte. Schließlich bleibt als entscheidender Mangel festzustellen, daß die Normativität der Empirie, abgesehen von ihrer Maßgeblichkeit für die Wortlautauslegung, nicht begründet werden kann. Solange die Voraussetzungen für die zutreffende Begriffsverwendung angegeben werden, handelt es sich um normative Aussagen über den korrekten Sprachgebrauch, wie sie in der Auslegungsarbeit begründet werden. Sobald Aussagen darüber getroffen werden, wie ein Begriff tatsächlich angewandt wird, handelt es sich um empirische Feststellungen, die den korrekten Sprachgebrauch nicht bestätigen müssen. Die Lehre verläßt sich denn auch nicht auf die Empirie allein. Daneben nutzt sie einen zweiten, ergänzenden Argumentationsstrang, um die Zweiteilung von Rechts- und Ermessensbegriffen zu begründen. Aus der inhaltlichen Umschreibung des Ermessens als Wertentscheidung oder freie Zweckkonkretisierung entwickelt sie eine einschränkende Aufzählung der Begriffe, die noch als Ermessenseinräumungen verstanden werden können. Danach wird nur noch die Konkretisierung des öffentlichen Interesses überwiegend als Ermessensentscheidung betrachtet. Die Begriffe der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit werden dagegen, sobald sie auf einen gesetzlichen Zweck bezogen werden können, zunehmend als Rechtsbegriffe qualifiziert. Selbst die Begriffe der Angemessenheit und Billigkeit werden als bestimmbar angesehen, wenn sich aus dem Normzusammenhang Anhaltspunkte für Zuteilungsrichtlinien oder Vergleichsmaßstäbe ergeben. Beide Argumentationsstränge stützen eine Tendenz, immer weniger Begriffe als Ermessenseinräumungen anzuerkennen und eine möglichst weitgehende verwaltungsgerichtliche Kontrolle der Tatbestandsanwendung zu legitimieren. Rechtspolitisch ist das Bestreben erkennbar, Eingriffe in Freiheits- und Vermögensrechte der gerichtlichen Kontrolle auch dort zu unterstellen, wo Ermächtigungsnormen unpräzise formuliert sind. Die Erkenntnis, daß der Vorbehalt des Rechtssatzes oder des Gesetzes dem Einzelnen nur nützt, wenn die Eingriffsvoraussetzungen hinreichend konkretisiert werden, 378 motiviert die Verwaltungsrechtslehre, mit der Behauptung der Bestimmbarkeit vager Begriffe die gerichtliche Nachbesserung gesetzgeberischer Unklarheiten in der Tatbestandsformulierung zu fordern. Das preußische Oberverwaltungsgericht konnte, nicht zuletzt seiner privilegierten Stellung wegen, 379 dieser Forderung von Anfang an Rechnung tragen. Aber auch die süd378 Leuthold, Hirths Annalefl 1884, S. 390; Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 85 m. Fn. 4; G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 201 f.; Oertmann, S. 6, 10. 379 in Preußen genoß die Verwaltungsgerichtsbarkeit von Anfang an einen höheren Status als die Verwaltung. Rang- und Gehaltsordnung stellten sicher, daß die Karrieren aus der Ver-

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deutschen Verwaltungsgerichte und der österreichische Verwaltungsgerichtshof haben sich um die Jahrhundertwende genügend etabliert, um ihren Kompetenzbereich durch eine zunehmend restriktive Bestimmung des Verwaltungsermessens ausdehnen zu können. 380 Die methodischen Brüche und Inkonsequenzen der Verwaltungsrechtslehre sind der Preis, den sie für die Entwicklung zum Verwaltungsjustizstaat zahlt. Indem sie die Auslegungslehre durch die Empirie ergänzt, kann sie das Postulat eindeutig determinierter Rechtsanwendung halten, das die gerichtliche Präzisierung unbestimmter Begriffe als bloße Rechtskontrolle legitimiert. Die Anknüpfung der empirischen Begriffskonkretisierung an den gesetzgeberischen Willen und die Rezeption der zivilprozessualen Verweislehre stellen sicher, daß die dem Sprachgebrauch, den Gesellschaftsanschauungen und den Erfahrungssätzen entnommenen Konkretisierungsregeln nicht als Tat-, sondern als Rechtsfragen behandelt werden. So bleibt die Begriffskonkretisierung auch in den Staaten, in denen die obersten Verwaltungsgerichte auf die revisio in iure beschränkt sind, gerichtlich voll überprüfbar. Schließlich vermeidet die Lehre mit der im zweiten Argumentationsstrang beibehaltenen, positiv-inhaltlichen Umschreibung des Verwaltungsermessens, den Verwaltungsvorbehalt zweckmäßiger Entscheidung so grundsätzlich in Frage zu stellen, wie dies noch bei Tezner geschah. Die allmähliche Ablösung des Ermessensbegriffs durch den Rechtsbegriff wird als Resultat eines stufenweisen Erkenntnisfortschritts präsentiert, ohne in radikale, offene Opposition zu den hergebrachten Lehren zu treten. Als Fluchtpunkt der dogmatischen Entwicklung wird bereits die Beschränkung des Ermessensbegriffs auf die Wahl zwischen alternativ angeordneten Rechtsfolgen erkennbar.

dd) Zwischenergebnis: Die Tendenz zur Reduzierung des Ermessens auf die Rechtsfolgenwahl

Die Identifikation der Ermessensausübung mit der Wahl zwischen verschiedenen Rechtsfolgen ist nicht nur die praktische Konsequenz des Bemühens der Lehre, immer mehr unbestimmte Begriffe zu Rechtsbegriffen zu erheben und damit eine Ermessenseinräumung durch die Verwendung unbestimmter Tatbestandsmerkmale auszuschließen. Die Einschränkung des Ermessens auf die Rechtsfolgenwahl ist auch die Konsequenz der bereits dargestellten Problemverkürzung, die

waltung in die Verwaltungsgerichtsbarkeit liefen. Gleichzeitig gewährleisteten die Gerichtsverfassung, die die unteren und mittleren Ebenen der Verwaltungsjustiz in die Verwaltung einband, und die Verwaltungsausbildung der Berufsverwaltungsrichter, daß die Verwaltung die Verwaltungsgerichte nicht als Gegner sah (Stump, S. 108 ff., 116 ff.). 380 In Süddeutschland wird erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer Tendenzwende in der zunächst sehr verwaltungsfreundlichen Rechtsprechung eine Distanzierung von Regierungspositionen deutlich (Bühler, Öffentliche Rechte, S. 37, 39; Haschtmann, S. 90 f.). Zur Änderung der österreichischen Rechtsprechung vgl. Tezner, Ermessen, S. 22 ff.

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das Ermessen nur bei der Gesetzesanwendung wahrnimmt und den Vorbehalt des Gesetzes als Ermessensgrenze übersieht. Eine Anmerkung v. Launs 381 macht darauf aufmerksam, daß Ermessen als Ermächtigung zur Rechtsfolgenwahl in einem weiteren und in einem engeren Sinn verstanden werden kann. In einem weiteren Sinn ist eine Rechtsfolgenwahl auch eingeräumt, wenn der Tatbestand einer zwingenden Norm verschiedene Auslegungen zuläßt. Denn mit der Entscheidung über die Tatbestandsverwirklichung ist gleichzeitig die Anordnung der Rechtsfolge zur Disposition gestellt. Die ganz herrschende Lehre will den Begriff der Rechtsfolgen- oder „Mitterwahl jedoch enger fassen. Sie besteht darauf, in den eben genannten Fällen die zwingende Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge hervorzuheben und die Ermessenseinräumung durch unbestimmte Begriffe von der durch eine ausdrückliche Anordnung alternativer Rechtsfolgen abzuheben. Ermessen im Sinne einer Rechtsfolgenwahl sieht sie nur gewährt, wenn das Gesetz in Form der bloßen Ermächtigung ohne Handlungspflicht die Wahl zwischen Tun und Unterlassen offenhält, oder verschiedene, ausdrücklich aufgezählte Maßnahmen zur Wahl stellt. Erste Ansätze zu einer Einschränkung des Ermessensbegriffs auf diese Art der Rechtsfolgenwahl konnten bei Pözl, Gluth und v. Seydel festgestellt werden. 382 Da alle drei Autoren aber eine Ermessenseinräumung durch unbestimmte Begriffe nicht ausschließen, ist bei ihnen das Verwaltungsermessen nicht ausschließlich durch die Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge gekennzeichnet. Tezner definiert das Ermessen erstmals formal als Wahlfreiheit zwischen verschiedenen legalen Mitteln. 3 8 3 Da er sich zur Möglichkeit eindeutiger Konkretisierung unbestimmter Begriffe durch die Auslegung nicht äußert und nur auf die richterliche Amtsbefugnis zur autoritativen Begriffsbestimmung verweist, kann nicht ausgeschlossen werden, daß er eine indirekte Rechtsfolgenwahl qua Tatbestandskonkretisierung akzeptiert hätte. Er rechnet sie aber jedenfalls nicht dem Verwaltungsermessen zu und hütet sich auch, von einem verwaltungsrichterlichen Ermessen zu sprechen. Im Ergebnis kommt er deshalb zu einer Beschränkung des Ermessensbegriffs auf den Fall ausdrücklich alternativer Rechtsfolgenanordnung. Hätte O. Mayer die Konkretisierung unbestimmter Begriffe konsequent als Rechtsauslegung und damit als richterlich gebundenes Ermessen eingeordnet, hätte er zum selben Ergebnis kommen müssen. Wie Bernatzik, für den ein Ermessen bei der Normauslegung durch die „logisch" zwingende Verbindung von Tatbestand und Rechtsfolge ausgeschlossen war, entgeht Mayer dieser Konsequenz jedoch durch ein Abschieben des Konkretisierungsproblems auf die Tatsachenebene.384 Der Lehre des beginnenden 20. Jahrhunderts liegt eine Beschränkung des Ermessens auf die Rechtsfolgenwahl wieder näher. Soweit die Beiträge die eindeuti381

v. Laun, Ermessen, S. 62. 82 Dazu s.o. Β. II. 2. a) bb) aaa). 383 Tezner, Lehre, S. 12 ff., 71. 3

584 s.o. Β. II. 2. a) aa) ccc) bei Fn. 214 ff.

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ge Konkretisierbarkeit unbestimmter Begriffe anhand empirischer Feststellungen behaupten, bleibt als Grundlage einer gesetzlichen Ermessenseinräumung nur die alternative Rechtsfolgenanordnung. Eine entsprechende Beschränkung des Ermessensbegriffs wird aber dadurch verhindert, daß die Anwendung einzelner unbestimmter Begriffe weiterhin als Ermessensausübung oder Ausfüllung eines Vertretbarkeitsspielraums angesehen wird. Bei Bühler ist die Tendenz zur Gleichsetzung von Ermessen und ausdrücklich angeordneter Rechtsfolgenwahl am deutlichsten. Das liegt einerseits daran, daß er für die Frage, ob ein unbestimmter Begriff Ermessen einräume, auf die Struktur der Norm abstellt und bei zwingenden Rechtsfolgenanordnungen grundsätzlich von einer eindeutigen Bindung ausgeht. Andererseits ist es darauf zurückzuführen, daß ihm regelmäßig schon Auslegungshinweise aus dem Normzusammenhang genügen, um eine Bestimmbarkeit vager Begriffe anzunehmen.385 Nur die kleine Restmenge vager Begriffe, die in Normen mit alternativer Rechtsfolgenanordnung, aber ohne nähere Konkretisierungshinweise enthalten sind, trennt Bühlers Ansatz von einer Beschränkung des Ermessens auf die Rechtsfolgenwahl. Die Tendenz, das Verwaltungsermessen auf die Wahl zwischen alternativ angeordneten Rechtsfolgen zu beschränken, bedeutet eine erhebliche Eingrenzung des Spielraums, der der Exekutive noch in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zugestanden wurde, v. Sarweys Rechtfertigung der restriktiven süddeutschen Rechtsprechung steht am Anfang dieser Entwicklung; ihren vorläufigen Endpunkt bezeichnen die Arbeiten Jellineks und Bühlers. Die Verwirklichung des rechtspolitischen Bestrebens, den autonomen Machtbereich der Verwaltung zu reduzieren, zeigt sich aber nicht nur in der Rezeption der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff. Parallel zur Einschränkung des Verwaltungsspielraums bei der Tatbestandskonkretisierung wird auch die Freiheit der Rechtsfolgenwahl begrenzt. Die Grundlage dafür liefert vor allem die Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Rechtsgrenze für exekutive Eingriffe. Seine Durchsetzung ist schon in der Tendenz deutlich geworden, Notwendigkeit und „relative" Zweckmäßigkeit als Rechtsbegriffe einzuordnen. Für die Entwicklung der Ermessensdogmatik ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz außerdem von Interesse, weil mit ihm der traditionelle Mißbrauchstatbestand des willkürlichen, weil unangemessenen Eingriffs aus der Ermessensfehlerlehre zum Rechtsfehler emanzipiert wird.

385 S.o. Β. II. 2. a) cc) ccc) (2) bei Fn. 371 ff.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre b) Einschränkungen des Rechtsfolgenermessens aa) Die Emanzipation des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus der Ermessensfehlerlehre

aaa) Der Ausgangskonsens: Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit als reine Ermessensfragen Mit dem vor- und frühkonstitutionell geprägten Ermessensbegriff hatte die spätkonstitutionelle Staats- und Verwaltungsrechtslehre auch die Identifikation der Ermessensausübung mit der Entscheidung nach Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit 3 8 6 übernommen. Diese Formel wurde durch die neue, formale Definition des Ermessens als Gegensatz zur positivrechtlichen Gebundenheit387 nicht verdrängt, sondern bestand daneben als inhaltliche Umschreibung des Verwaltungsermessens fort. 3 8 8 Die hergebrachte Entgegensetzung von Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit blieb damit weiterhin Bestandteil der Ermessenslehre. Sie kennzeichnete nicht nur den Unterschied von Rechtsanwendung und Ermessensausübung, sondern beschrieb gleichzeitig die Grenzen der verwaltungsgerichtlichen Überprüfungsbefugnisse. Soweit die Gerichte auf die Rechtskontrolle von Verwaltungsakten oder Verordnungen beschränkt waren, galt die Nachprüfung der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der Maßnahmen als ausgeschlossen.389 Diese Auffassung hielt sich unabhängig davon, wie Rechts- und Ermessensfragen im übrigen, etwa im Streit um die unbestimmten Begriffe, voneinander abgegrenzt wurden. Autoren, die die Tatsachenfeststellung und -Würdigung mit Blick auf die unbestimmten Begriffe zum Gegenstand des freien Verwaltungsermessens erklärten, 3 9 0 trafen sich mit den meisten Verfechtern der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff 391 in der Überzeugung, daß jedenfalls die Beurteilung der Notwen386 Dazu s.o. Α. IV. 387 Dazu s.o. Β. I. 1. e) bb) und Β. Π. 1. c). 388 Vgl. ζ. B. Pözl, KritVjschr. 10 (1868), 140; v. Seyel, 1. Bd., 1. Aufl., S. 591; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165, 2. Aufl., S. 101, 103; Rosin, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 41; v. Laun, Ermessen, S. 1, 20,47, 62 ff.; eingeschränkt nach Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: W. Jellinek, S. 6 f., 33 ff.; 61 f., 65 (praktische Wertbegriffe), 86 ff. (absolute Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit); Bühler, Öffentliche Rechte, S. 21 f., 25 f.; vgl. auch ο. Β. Π. 2. a) cc) ccc) (2). 389 v. Sarwey, S. 427, 430, 524 f., 615; v. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 461. O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 193 f., 2. Aufl., S. 85, 101 f. m. Fn. 14, S. 103 (anders für Polizeiverfügungen, dazu s.u. a.E. d. Fn.); Rosin, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 298 f.; Gluth, AöR 3 (1888) 613 f., 616 f.; Oertmann, S. 20 ff., 25; Hatschek, S. 474; v. Seydel, Staatsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 594 will die Rechtskontrolle sogar auf die Überprüfung der (formellrechtlichen) Zulässigkeit einer Verordnung begrenzen, von der er die Inhalts- und Zweckmäßigkeitskontrolle unterscheidet. - Nur Tezner, Lehre, S. 96 ff., fordert vor der Jahrhundertwende schon eine Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen. Für Polizeiverfügungen stimmt O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Aufl., S. 267 dem zu. 390 Von den in der vorigen Fußnote Genannten ζ. B. v. Sarwey, v. Lemayer und O. Mayer; s.o. B. II. 2. a) aa). 391 Z.B. v. Seydel und Gluth, s.o. B. II. 2. a) bb) aaa).

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digkeit und Zweckmäßigkeit eines Vollzugsakts zur Ermessensfrage gehöre und deshalb verwaltungsgerichtlicher Kontrolle entzogen sei. Folgerichtig wurde bei Maßnahmen, die von gesetzlichen Eingriffsermächtigungen Gebrauch machten, regelmäßig nur die Anwendung der als nachprüfbar anerkannten Tatbestandsmerkmale kontrolliert, dagegen nicht die Entscheidung, ob von einer mit der Tatbestandserfüllung gegebenen Eingriffsbefugnis Gebrauch gemacht werden sollte. Mit dem Grundsatz, daß bei Vorliegen der tatsächlichen Eingriffsvoraussetzungen nicht nachgeprüft werden dürfe, ob die jeweilige Maßnahme auch gut, erforderlich oder zweckmäßig gewesen sei, 3 9 2 formulierte Otto Mayer sowohl den Konsens der Lehre 393 als auch die zunächst noch einhellige Ansicht der Rechtsprechung. Selbst das Preußische Oberverwaltungsgericht prüfte in den ersten Jahren seines Bestehens bei polizeilichen Maßnahmen grundsätzlich nur das Vorliegen einer Gefahr 394 und überließ die Bestimmung geeigneter und nötiger Abwehrmaßnahmen dem Ermessen der Verwaltung 395 . Ebenso behauptete der Württembergische Verwaltungsgerichtshof, die Festlegung der polizeilichen Eingriffsmittel sei „der Natur der Sache nach" Ermessensfrage. 396 Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beschränkte sich, wie das Beispiel des § 35 SeuchenG 397 zeigt, auf eine Kontrolle der Tatbestandsvoraussetzungen. Nachgeprüft wurde nur, ob im konkreten Fall die Gefahr der Krankheitsübertragung durch verunreinigtes Wasser bestand. War der Tatbestand erfüllt, galt die aufsichtsbehördliche Verpflichtung der Gemeinde zur Errichtung von Wasserversorgungs- oder Kanalisationseinrichtungen als rechtmäßig, da die Beurteilung der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Anordnung im aufsichtsbehördlichen Ermessen liege. 398 Zu den gleichen Ergebnissen kamen Rechtsprechung und herrschende Lehre in Österreich. 399 So bestätigte das österreichische Reichsgericht 400 die Untersagung einer 392 Otto Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 193. 393 S.o. Fn. 389. 394 PrOVGE 6, 349, 352; 7, 370, 372 f.; 9, 344, 350; PrVBl. 6 (1884/85), 380 f.; 15 (1893/94), 202 f.; 16 (1894/95), 125 f.; w.N. bei Haschtmann, S. 47 f. 395 PrOVG PrVBl. 1 (1879/80), 266, 268; 17 (1895/96), 431 f.; 23 (1901/02), 548 f.; 24 (1902/03), 583, 584 f.; 28 (1906/07), 162 f.; PrOVGE 29, 442, 446; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 176. Zu Durchbrechungen des Grundsatzes Bühler, Öffentliche Rechte, S. 176, 192 und Jellinek, S. 9 f. 396 WürttVGH, Urteil v. 16. 11. 1887, Württ. Amtsbl. 1887, 421; w.N. bei Haschtmann, S. 60, Fn. 31 f., S. 88 f. 397 Gesetz betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten v. 30. 06. 1900, RGBl. S. 306 ff. 398 BayVGHE 28, 147, 149 f.; aus der früheren Rechtsprechung vgl. BayVGHE 2, 710, 717; 3, 384, 386; w.N. bei Haschtmann, S. 91 ff. 399 γ. Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 461 f.; Gluth, AöR 3 (1888), 616 f.; vgl. Bernatzik, Rechtsprechung, S. 42 (Angemessenheit als Ermessenstatbestand); a.A. Tezner, Lehre, S. 96 ff. 400 in Österreich bestand eine konkurrierende Zuständigkeit des Reichsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs für Verwaltungsmaßnahmen. Während der Verwaltungsgerichtshof

Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Vereinsgründung, weil angesichts des Gründungsstatuts die Annahme der Verwaltungsbehörde, das Tatbestandsmerkmal der Staatsgefährlichkeit des Vereins sei erfüllt, nicht beanstandet werden könne. 401 Ob das Gründungsverbot im konkreten Fall auch nötig oder zweckmäßig gewesen sei, sei dagegen nicht nachprüfbar. 402 Entsprechend wird bei Gluth die Feststellung „gesundheitsschädliche(r) oder lästige(r) Einflüsse" einer gewerblichen Anlage als Tatbestandsfeststellung für nachprüfbar gehalten, zur Ermessensfrage jedoch gerechnet, „ob dieselben soweit reichen, dass ihretwegen die Anlage aus öffentlichen Rücksichten zu verbieten ist." 4 0 3 Entgegen dieser herrschenden Auffassung wurden jedoch nach und nach Stimmen laut, die eine Überprüfung der Notwendigkeit im Sinne der Eignung und Erforderlichkeit von Eingriffen verlangten. 404 Einen ersten Ansatzpunkt zur Durchsetzung dieser Forderung bot die Ermessensfehlerlehre mit dem Willkürverbot, das schon die Mißbrauchslehren des 18. Jahrhunderts getragen hatte 405 und in den rechtsstaatlichen Ansätzen der sechziger Jahre wiederbelebt worden war. 4 0 6 Das Preußische Oberverwaltungsgericht knüpfte daran seine Rechtsprechung zur Ermessensüberschreitung im Polizeirecht und identifizierte Willkür mit dem Handeln ohne erkennbares polizeiliches Motiv. Dabei erlaubte der Rückgriff auf § 10 I I 17 PrALR die einschränkende Konkretisierung zulässiger, polizeilicher Zwecke. Er ermöglichte außerdem den Brückenschlag zur positivrechtlichen Begründung der

bei allen Individualrechtsverletzungen angerufen werden konnte, war das Reichsgericht bei Grundrechtsverletzungen zuständig (dazu Kißling, S. 42 ff., 58 ff., 82 ff.; Tezner, Lehre, S. 78 u. 83 m. Fn. 19). 401 ÖstRG bei Hye, Nr. 57; dazu Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 360 f.; die vorsichtigen Formulierungen des Reichsgerichts zeigen, daß eine strenge Kontrolle der Tatbestandsanwendung nicht beabsichtigt ist. Das Reichsgericht begnügt sich mit Gründen, die nahelegen, die Unvereinbarkeit des zu gründenden Vereins mit den öffentlichen Interessen in Erwägung zu ziehen. Dazu reicht ihm - wie der Verwaltungsbehörde - schon ein weit gefaßtes Statut, das rechtswidrige oder politisch unliebsamen Bestrebungen nicht ausschließt. Immerhin rügt das Reichsgericht einige Jahre später (ÖstRG bei Hye, Nr. 123) ein Vereinsverbot, weil die Staatsgefährlichkeit nicht allein durch die Möglichkeit statutenwidrigen, staatsgefährdenden Handelns einzelner Vereinsmitglieder zu begründen sei. 402 ÖstRG bei Hye, Nr. 57; dazu Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 360 f.; vgl. die zustimmende Stellungnahme Gluths, AöR 3 (1888), 613 f. zur parallelen Rechtsprechung des österreichischen Reichsgerichts bei Versammlungsverboten aufgrund § 6 des österreichischen Gesetzes v. 15. 11. 1867. 403 Gluth, AöR 3 (1888), 616 f.; die Stellungnahme bezieht sich auf die österreichische Parallelregelung zu § 18 RGewO; dazu s.o. Β. II. 2. a) aa) aaa) nach Fn. 161. 404 Tezner, Lehre, S. 96 f f ; Otto Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 257 f., 267 nur für Polizeimaßnahmen; Schultzenstein, VerwArch. 10 (1902), 507; Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 371; zur Entwicklung der preußischen Rechtsprechung bis zur Jahrhundertwende ausführlich Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 320 f.; 336 ff.; 369 ff.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 179 ff. 405 Dazu s.o. Α. I. 2. b) bb) bbb). 406 Dazu s.o. Β. I. l.e)cc).

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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Notwendigkeit als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung. Ungeeignetheit und Übermaß des Eingriffs, die zunächst nur als Indiz für Willkür oder Schikane gesehen wurden, konnten schließlich als selbständige Rechtsfehler etabliert werden.

bbb) Die Ungeeignetheit als Indiz der Ermessensüberschreitung durch Willkür - die „Motivkontrolle" 407 des Preußischen Oberverwaltungsgerichts Den Hintergrund der preußischen Rechtsprechung zur Ermessensüberschreitung bilden Versuche in der Literatur, die bei v. Gneist und F. F. Mayer entwickelte Abgrenzung des Verwaltungsermessens von der Willkür fortzuführen. Die Rede vom freien Ermessen der Verwaltung, die den Gegensatz zur gebundenen, richterlichen Rechtsfindung ausdrücken soll, wird durch die Floskel vom pflichtmäßigen, vernünftigen Ermessen ergänzt und relativiert. 408 Nur das auf die Staatszweckverwirklichung gerichtete Handeln soll legitimiert sein, nicht das Vorgehen nach subjektiver Laune und Belieben. Besonders die Autoren, die für eine Verwaltungsprärogative bei der Tatbestandsfeststellung eintreten, beeilen sich, die Freiheit der Verwaltung in Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitsfragen als wohlverstandene Freiheit zu definieren, die ihre Grenzen in den Regeln pflichtgemäßer, vernünftiger Amtsführung finden soll. 4 0 9 Inhaltliche Konkretisierung und Rechtsstatus der damit bezeichneten Ermessensgrenzen bleiben allerdings zunächst umstritten. 410 Mangels näherer Konkretisierung der Ermessensgrenzen bedeutet der Vorbehalt der Ermessensüberschreitung 411 vorläufig nicht mehr als eine salvatorische Klausel. Ohne den Bezug zu sonstigen Rechtsfehlern zu klären, soll sie nur die Sanktion offensichtlicher Willkür oder anderer eklatanter Pflichtverletzungen offenhalten. Mit der Betonung des Ausnahmecharakters bestätigt sie aber vor allem den Grundsatz der Unüberprüfbarkeit der Ermessensakte. In diesem Sinn wird der Hinweis auf die Ermessensüberschreitung durch Willkür und Pflichtverfehlungen zunächst auch in der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts verwendet. Er dient „nicht als Waffe gegen die polizeili407 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 315, vgl. 516 (Umschreibung als Überprüfung der Notwendigkeit), Beispiele a. a. O., S. 192 f., 197 f.; vgl. auch Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 321, der von einer „Motivtheorie" des PrOVG spricht. 408 Vgl. Roesler, GrünhutsZ 1 (1874), 194; E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 808; Bernatzik, S. 41; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 164 f., 191; v. Stengel, VerwArch. 3 (1895), 212; Rosin, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 289 m. Fn. 22; G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 131 f., 202; v. Laun, Ermessen, S. 65 f., 175 f., ders. AöR 34 (1915), 166 f.; Fleiner, 1. Aufl., S. 120; W. Jellinek, Gesetz, S. 137. 409 Bernatzik, S. 41; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 164 f., 191; Oertmann, S. 25. 410 Dazu ausführlich s.u. Β. II. 2. b) bb). 411 Vgl. Bernatzik, GrünhutsZ 18 (1891), 159 m. Fn. 1.; W. Jellinek, Gesetz, S. 66 zur preußischen Rechtsprechung.

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che Verfügung, sondern nur im verneinenden Sinne, nämlich zur Belehrung des Anfechtenden, daß das Vorgehen der Polizei den Vorwurf der Pflichtwidrigkeit nicht verdient." 412 Der Ansatzpunkt zur Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird erst mit der näheren Umschreibung der Willkür als Fehlen erkennbarer polizeilicher Motive geschaffen. 413 Daß dieser in der Lehre als „Motivkontrolle" 414 bezeichnete Ansatz zur Sanktion ungeeigneter und übermäßiger Eingriffe entwickelt werden kann, hängt von der Konkretisierung des Polizei- und des Motivbegriffs ab. Einerseits ist entscheidend, daß der Kreis zulässiger, „polizeilicher" Motive einschränkend bestimmt wird. Andererseits kommt es darauf an, das „Motiv" nicht subjektiv, als Absicht des Verfügenden, sondern objektiv, als Zweckrichtung der Maßnahme, zu konkretisieren. Die Möglichkeit zur restriktiven Bestimmung zulässiger Eingriffsziele verschafft sich das Preußische Oberverwaltungsgericht mit einem Rückgriff auf § 10 Π 17 PrALR. Gleichzeitig bahnt es mit der objektivierenden Interpretation des Motivs als Eingriffszweck den Weg zur Überprüfung der Zweck-Mittel-Relation. Die Regelung des § 10 I I 17 PrALR wird, dem traditionellen Verständnis des Rechts als Schranke des Ermessens entsprechend, in den frühen Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts nur als Umgrenzung der polizeilichen Aufgabe verstanden. 415 Der Rückgriff auf das Allgemeine Landrecht, den das Oberverwaltungsgericht aus der Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals zu Polizeistrafverordnungen übernahm, 416 verblüfft also nicht wegen einer impliziten Anerkennung des Rechtssatzvorbehalts. Erstaunlich ist auch nicht allein die Berufung auf eine vorkonstitutionelle Norm, 4 1 7 sondern vielmehr die Selbstverständlichkeit, mit der das Preußische Oberverwaltungsgericht die späteren, für eine liberale und rechtsschutzfreundliche Auslegung weniger geeigneten Polizeirechtsregelungen des 19. Jahrhunderts 418 übergeht. 419 Mit dem unmittelbaren Rückgriff auf 412 W. Jellinek, Gesetz, S. 66. 413 Vgl. PrOVGE 58, 273, 274: „Die Handhabung eines solchen Ermessens unterliegt einer Nachprüfung ... nur daraufhin, ob nicht die Polizeibehörde ohne jedes polizeiliche Motiv oder, wie es auch ausgedrückt wird, aus Schikane oder in Willkür gehandelt hat". In diesem Fall soll keine Ausübung polizeilichen Ermessens vorliegen. 414 Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 321. 415 PrOVGE 2, 399, 406 f. nimmt bereits auf § 10 Π 17 PrALR Bezug, nutzt die Bestimmung aber noch nicht zur Ermessensbegrenzung. Erst PrOVG PrVBl. 1 (1979/80), 401 f., und PrOVGE 9, 353, 370 f. (Kreuzberg-Entscheidung) sprechen von einer Bestimmung des Umfangs der Polizeigewalt; dazu Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 85; Preu, S. 325. 416 Pr.Obertribunal, Opp.Rspr. (Die Rechtsprechung des Königlichen Ober-Tribunals in Straf-Sachen, hrsgg. v. F. C. Oppenhoff) 6, 91, 103; 17, 722 f.; 19, 292, 297; dazu Preu, S. 324 f. 417 Dazu Thoma, Polizeibefehl, S. 103 ff.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 85 f. 418 Vgl. die Zusammenstellung bei W. Jellinek, Gesetz, S. 3 m. Fn. 9 ff.; zum Gesetz über die Polizeiverwaltung v. 11. 03. 1850 auch Bühler, Öffentliche Rechte, S. 85, 185 f.; Thoma, Polizeibefehl, S. 103 ff.; zum Gesetz v. 07. 01. 1870 Friedrichs; PrVBl. 30 (1908), 371. Die genannten Regelungen bieten keine Anhaltspunkte für eine Zweckbegrenzung und schließen

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§ 10 I I 17 PrALR gelingt es dem Preußischen Oberverwaltungsgericht, anhand einer ausführlichen Darstellung der Genese die Beschränkung der polizeilichen Verfügungs- und Verordnungsgewalt auf den Zweck der Gefahrenabwehr zu begründ e n . 4 2 0 Nach dieser Rechtsprechung kommt nur noch die Verfolgung des Sicherheitszwecks, aber nicht mehr die Wohlfahrtsförderung, als legitimes M o t i v polizeilicher Eingriffe in Frage. 4 2 1 Der Begriff des Motivs selbst wird vom preußischen Oberverwaltungsgericht regelmäßig nicht subjektiv i m Sinne der Absicht des Verwaltungsbeamten, sondern objektiv i m Sinne der Zweckrichtung der Maßnahme interpretiert. 4 2 2 Das Oberverwaltungsgericht knüpft zwar, wie v. Gneist, 4 2 3 an die Bezeichnungen der Willkür oder Schikane an, fordert aber weder den Nachweis bewußter Zweckentfremdung gesetzlicher Befugnisse aus unsachlichen Beweggründen, noch den Beleg vorsätzlicher oder fahrlässiger Pflichtverletzung. 4 2 4 Statt dessen verneint es die Erkenneine Notwendigkeits- oder Zweckmäßigkeitsprüfung ausdrücklich aus; § 21 PolVwG v. 11. 03. 1850 erklärt die Aufhebung aller entgegenstehenden, früheren Regelungen. Auf die spätere, rechtsschutzfreundliche Bestimmung des § 80 KrO (dazu s.o. S. 126 f.) konnte die Rechtsprechung sich nach den Korrekturen in §§ 127 f. LVG vom 30. 07. 1883 nicht mehr berufen (dazu s.o. Β. I. 2. a) bei Fn. 198 ff. u. 222). 419 PrOVGE 9, 353, 370 ff., behauptet, die Gesetzgebung habe nach 1808 nicht den weiten Polizeibegriff wieder einführen wollen, sondern sei nur als nähere Erläuterung des § 10 Π 17 PrALR zu verstehen. Das PrOVG sieht sich deshalb auch nicht gehindert, Polizeiverordnungen inzident am gleichen Maßstab wie Polizeiverfügungen zu überprüfen. Der Auffassung des PrOVG folgt die h.L.; vgl. Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 85; Fleiner, Institutionen, 2. Aufl., S. 240; im Ergebnis ebenso Thoma, Polizeibefehl, S. 48 f.; Friedrichs, Polizeigesetz, S. 7 f.; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 246 ff., 257, 261 m. Fn. 3, 267, 278 m. Fn. 9, unter Berufung auf naturrechtliche Grenzen der Polizeigewalt. W. Jellinek, Gesetz, S. 201 f., 263 ff. behandelt Polizei Verordnungen und -Verfügungen hinsichtlich der Ermessenskontrolle gleich, ohne ausdrücklich zum Problem Stellung zu nehmen (vgl. die ausführliche Kritik bei Bühler, Öffentliche Rechte, S. 202 ff.). Dagegen halten Bühler (S. 85, 183 ff.) und Rosin (in: WStRV, 3. Bd., 2. Aufl., S. 119 ff.; ders., Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 52) die den Rechtsschutz beschränkenden Regelungen des Gesetzes vom 11. 03. 1850 für abschließend zumindest, soweit Polizeiverordnungen betroffen sind. Während Rosin (VerwArch. 3 (1895), 288 ff., 293 ff., 363 f.) konsequent den Rückgriff auf § 10 Π 17 PrALR ablehnt, will Bühler (S. 87, 188 ff.) ihn für die Eingriffsverwaltung als richterrechtlich begründetes Gewohnheitsrecht anerkennen. Er vermeidet mit dieser fragwürdigen Wende die Konsequenz, der Verwaltung die Flucht in den bloßen Vollzug gerichtlich nicht überprüfbarer Polizeiverordnungen zugestehen zu müssen. 420 Zuerst in PrOVG, PrVBl. 1 (1879/80), 401 ff., einem Vorläufer der bekannten Kreuzberg-Entscheidung. Die ausführliche Begründung wurde dort (PrOVGE 9, 353, 370 ff.) sozusagen nachgeliefert (vgl. Preu, S. 326 f.). 421 PrOVG, PrVBl. 1 (1879/80), 401 ff.; PrOVGE 9, 353, 370 ff. für Einzelverfügungen; PrOVGE 39, 415, 418 f., ausdrücklich für Polizeiverordnungen. Die Wohlfahrtspflege wurde dabei nicht aus dem Polizeibegriff ausgegrenzt, sondern nur als Eingriffsrechtfertigung abgelehnt. 422 PrOVGE 6, 220, 226 stellt ausdrücklich klar, es komme dafür auf die Absichten des Beamten nicht an. 423 Vgl. w. Jellinek, Gesetz, S. 66, Fn. 116. 424 PrOVGE 50, 376, 378; 54, 261, 266; 58, 273, 274; Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 370.

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barkeit polizeilicher Motive schon, wenn die Maßnahme nicht polizeilichen Zwekken, nach der restriktiven Auslegung des § 10 I I 17 PrALR also nicht dem Zweck der Gefahrenabwehr dient. Diese Voraussetzung sieht das Preußische Oberverwaltungsgericht erfüllt, wenn entweder gar keine Gefahr vorliegt 425 oder die Maßnahme zur Gefahrenabwehr untauglich ist 4 2 6 . Da im Anschluß an die Lehre von der Überprüfbarkeit der tatsächlichen Eingriffsvoraussetzungen 427 bei Fehlen einer Gefahr regelmäßig schon der Mangel der Tatsachengrundlage bzw. der Tatbestandserfüllung gerügt wird, 4 2 8 bildet die Ungeeignetheit der Rechtsfolgenanordnung den Hauptanwendungsfall der Motivkontrolle. Sie ist damit zum Indiz für die Ermessensüberschreitung durch Willkür geworden. Die praktische Bedeutung der so verstandenen Motivkontrolle bleibt allerdings gering. Solange die angefochtenen Maßnahmen „nicht ganz abwegig und zur Erreichung des bestrebten Zieles ungeeignet" sind, 429 werden sie regelmäßig bestätigt, selbst wenn sie den Zweck nur teilweise verwirklichen können 430 oder den Einzelnen ungleich 431 oder übermäßig 432 belasten. Das Überschreiten der erforderlichen Belastung wird im Rahmen der „Motivtheorie" nur ausnahmsweise als Willkürindiz berücksichtigt. 433 Erst die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „nöthigen Anstalten" gem. § 10 II 17 PrALR kann deshalb neben der Eignung auch die Erforderlichkeit als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der polizeilichen Gefahrenabwehr begründen. 425 PrOVGE 2, 399, 406 ff.; 9, 344, 350 f.; PrVBl. 24 (1902/03), 523 (Fälle bloßer Belästigung). 426 PrOVG, PrVBl. 22 (1900/01), 108 (Angeblich zur Bekämpfung der Feuergefahr wurde aufgegeben, (nur) die übelriechenden - nicht auch die übrigen - im Hof lagernden Heringstonnen zu beseitigen); weitere Beispiele bei Friedrichs PrVBl. 30 (1908), 336; W. Jellinek, Gesetz, S. 298, Fn. 156. 427 s.o. Β. II. 2. a) aa) ccc). 428

Das PrOVG umgeht eine eindeutige Stellungnahme zur Konkretisierung der Begriffe der Gefahr und der Notwendigkeit, indem es grundsätzlich nicht erklärt, ob die Maßnahme gem. § 127 III Nr. 1 LVG wegen falscher Gesetzesanwendung, oder gem. § 127 ΙΠ Nr. 2 LVG wegen Fehlens der Tatsachengrundlage aufgehoben wird; dazu kritisch Bühler, Öffentliche Rechte, S. 306 f. 429 PrOVGE 10, 260, 267. 430 PrOVGE 11, 365, 371; PrOVG, PrVBl. 24 (1902/03), 505 (verlangte Feuersicherung nicht völlig ungeeignet, aber unzureichend). 431 PrOVGE 3, 333, 337; 45, 393, 401 (Baubeschränkungen nur für einen Teil des Pariser Platzes in Berlin); PrOVG, PrVBl. 21 (1900/01), 266; 25 (1903/04), 62. Ein Schluß auf willkürliches Vorgehen wird nur in Ausnahmefällen erwogen (PrOVG, PrVBl. 2 (1880/81), 214; 4 (1882/83), 366); w.N. bei Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 320. 432 PrOVGE 10, 260, 267 (Verpflichtung zur Anschaffung eiserner Körbe statt der nach dem Sachverständigengutachten ausreichenden, metallverstärkten Holzkästen); vgl. PrOVGE 29,442,446 (Wasserversorgung). 433 Dazu kritisch Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 337: „Einmal kommt doch die Grenze, wo das Übermaß des Verlangens das Vorhandensein jedes polizeilichen Motives selbst nach der strengsten Auffassung des OVG ausschließt".

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ccc) Eignung und Erforderlichkeit als Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Polizeiverfügung (1) Die Stagnation der Rechtsprechung

Seit Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts werden die Fälle zahlreicher, in denen das Preußische Oberverwaltungsgericht nicht nur die Eignung, sondern auch die Erforderlichkeit polizeilicher Maßnahmen überprüft. 434 Die Ausdehnung der Kontrolle wird zuweilen positivrechtlich aus dem Wortlaut des § 10 I I 17 PrALR gerechtfertigt, der die Polizei nur zu den „nöthigen" Maßnahmen berechtige und sie damit verpflichte, unnötige Belastungen der Betroffenen zu vermeiden. 435 Häufiger findet sich die Erforderlichkeitsprüfung ohne weitere Begründung. 436 Sie wird auch nicht auf alle polizeilichen Maßnahmen ausgedehnt. In zahlreichen Fällen verweigert das Preußische Oberverwaltungsgericht noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Überprüfung der Erforderlichkeit polizeilicher Maßnahmen unter Berufung auf die Grundsätze der Motivkontrolle, die eine Überprüfung der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit ausschließe.437 In der Lehre erntet die Rechtsprechung dafür den Vorwurf, widersprüchlich zu entscheiden438. Tatsächlich ist die unterschiedliche Behandlung polizeilicher Verfügungen nicht auf einen Grundsatz zurückzuführen. Die Differenzierung scheint sich vielmehr pragmatisch und fallbezogen einerseits an der Schwere des Eingriffs, andererseits am Ausmaß der drohenden Gefahr auszurichten. So werden massive Eigentumsbeschränkungen, wie Baugebote oder AbrißVerfügungen, 439 und strikte Beschränkungen der Versammlungsfreiheit 440 regelmäßig schärfer kontrolliert als Regelungen, die den Straßenverkehr betreffen 441. Andererseits vermeidet die Rechtsprechung, 434 ζ . B. PrOVGE 13, 424, 425 f. (kein Verbot des Ladenbetriebes, um den bei dieser Gelegenheit möglichen unerlaubten Alkoholausschank zu verhindern); 13, 397, 400. In den siebziger Jahren wurde die Erforderlichkeit nur in Ausnahmefällen überprüft, so ζ. B. in PrOVGE 1, 324, 326 (Verpflichtung zum Abriß eines Giebelstubenofens rechtswidrig, wenn Feuersicherungsmaßnahmen möglich und ausreichend) und PrOVGE 4, 374, 378 (Baugebot unzulässig, wenn zum Verdecken eines Hinterhauses ein Zaun ausreicht). 435 PrOVGE 44, 342, 343; PrVBl. 19 (1897/98), 239, 240 f.; in der frühen Rechtsprechung bereits PrOVGE 4, 374, 378; vgl. Stump, S. 202. 436 ζ . B. PrOVGE 13, 424, 426 f.; 13, 397, 400; PrOVG PrVBl. 18 (1896/97), 421 f.; 19 (1897/98), 342, 343 f.; 21 (1899/1900), 266; 23 (1901/02), 534 f.; 24 (1902/03), 648. 437 PrOVGE 18, 418,420 f.; 39, 216, 221; 43, 212. 438 Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 336 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 176; Haschtmann, S. 50. 439 z.B. PrOVGE 13, 424, 426 (Abrißverfügung rechtswidrig, wenn eine Beleuchtung des Zauns zur Verhinderung von Unfällen ausreicht); 13, 397, 400 (Abrißverfügung rechtswidrig, wenn der Bau einer Brandmauer ausreicht). 440 PrOVGE 11, 382, 387; 35, 442, 444 (Verbot einer Versammlung nicht nur, weil sie sich durch Hinzukommen Dritter zur nicht genehmigten, öffentlichen Veranstaltung ausweiten könnte); zur Rechtsprechung des PrOVG zum Versammlungsrecht vgl. Wichardt, S. 42 ff., 86 ff. 13 Held-Daab

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

unabhängig von der Eingriffsintensität, meist eine intensive Prüfung von Maßnahmen zur Abwehr von Feuer- oder Gesundheitsgefahr 442. Zur Rechtfertigung dieser eingeschränkten Kontrolle kann die „Motivtheorie" nicht aufgegeben werden. In der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muß die preußische Rechtsprechung deshalb „auf halbem Wege stehen (bleiben)" 443 . Das sächsische Oberverwaltungsgericht, das nach einer Zeit widersprüchlicher Entscheidungen444 jedenfalls faktisch zur Kontrolle der Notwendigkeit polizeilicher Verfügungen übergeht, 445 entwickelt dazu ebenfalls keine konsequente Argumentation. 446 Die Begründung von Eignung und Erforderlichkeit als Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen polizeilicher Eingriffe bleibt damit der Lehre überlassen. (2) Die Lehre vom Übermaßverbot oder vom Grundsatz der verhältnismäßigen Abwehr

Tezner nimmt die in der preußischen Rechtsprechung nicht weiter verfolgten Begründungsansätze auf und leitet das Verbot übermäßiger Eingriffe unmittelbar aus dem Wortlaut des § 10 I I 17 PrALR ab. „In dem Begriffe der Notwendigkeit einer Verfügung liegt ... das doppelte Erforderniß erstens der Zweckmäßigkeit, der Tauglichkeit zur Abwehr der bestehenden Gefahr, und zweitens die Beschränkung auf das für diesen Zweck unerläßlich Gebotene."447 Weil diese gesetzlichen Erfordernisse als Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen polizeilicher Maßnahmen verwaltungsgerichtlich zu überprüfen seien, müsse die Lehre vom Ausschluß der Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle insofern „auf ihre richtigen Grenzen" zurückgeführt werden. 448 Diese bestimmt Tezner als Überprüfbarkeit des Überma441 Z.B. PrOVGE 2, 395, 397 f. (Nutzung des Bürgersteigs durch Hufschmied); 39, 221 (Straßensperre); 43, 212 (Verbot des Straßenhandels mit Fuhrwerken); abweichend aber Prüfung der Erforderlichkeit in PrOVGE 28, 201 f. (Nutzung des Bürgersteigs zur Anlieferung von Baumaterialien); w.N. bei Friedrichs, PrVBl. 30 (1908), 337. 442 ζ. B. PrOVGE 11, 365, 371; PrVBl. 24 (1902/03), 505 (Maßnahmen zum Feuerschutz); PrOVGE 34, 375, 386 (Bauhöhenbeschränkungen und Bauwichregelung zur Gewährleistung ausreichender Frischluftzufuhr); uneinheitlich die Rechtsprechung zur Schließung von Brunnen; vgl. ζ. B. PrOVG PrVBl. 23 (1901 /02), 548 f. (Anwendung nur der Motivtheorie), PrOVG, PrVBl. 19 (1897/98), 342, 343 f.; 23 (1901/02), 534 f. (Notwendigkeitsprüfung). 443 Tezner, Lehre, S. 95. 444 Vgl. SächsOVGE 4, 250, 252; 6, 187, 188 f.; 6, 272, 273 f. (Ermessensfrage); SächsOVGE 4, 182, 184; 5, 198, 201 f.; 8, 131 f., 135 f. (Notwendigkeitsprüfung, in der letzten Entscheidung unter Berufung auf Tezner). 445 Nach Bühler, Öffentliche Rechte, S. 435 f., seit SächsOVGE 8, 131 f., 135 f. 446 SächsOVGE 8, 131, 135 f., postuliert die Notwendigkeit als Rechtsgrenze, ohne auf positivrechtliche Bestimmungen, den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung oder einschränkende Definitionen des Polizeibegriffs Bezug zu nehmen. Zugrunde scheint eine nicht weiter abgeleitete Vermutung für die Freiheit des Einzelnen zu liegen. 447 Tezner, Lehre, S. 96 f. 448 Tezner, Lehre, S. 93.

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ßes polizeilicher Eingriffe 449 . Angesichts der positivrechtlichen Verankerung des Eignungs- und Erforderlichkeitskriteriums im Allgemeinen Landrecht lehnt Tezner die mit der „Motivtheorie" und der Lehre von der Ermessensüberschreitung verfochtene Beschränkung auf eine Indizwirkung ab. Die Formel vom Vorliegen polizeilicher Motive sei „weder völlig klar, noch zutreffend", wenn damit auch die Absicht des Verfügenden für maßgeblich erklärt werden solle. 450 Es sei nicht einzusehen, weshalb die „Masslosigkeit oder Übertriebenheit", 451 die ,,erkennbare() Grundlosigkeit oder Zweckwidrigkeit einer Verordnung oder Verfügung ... lediglich als Durchgangspunkt" für die Feststellung der Willkür betrachtet werden solle. 452 Wenn die Rechtswidrigkeit des Akts sich schon daraus ergebe, daß die gesetzlich geforderte, tatsächliche Voraussetzung der Notwendigkeit fehle, sei der „Umweg der Constatierung einer Pflichtwidrigkeit ganz überflüssig". 453 Tezners Ableitung aus dem Wortlaut des § 10 I I 17 PrALR hat allerdings den Nachteil, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur für das preußische Polizeirecht und andere das Merkmal der Notwendigkeit enthaltende Regelungen zu begründen. 454 Um eine Verallgemeinerung zu erreichen, greifen andere Autoren deshalb zu einer schon aus der Mißbrauchslehre des 18. Jahrhunderts bekannten Strategie. 4 5 5 Sie argumentieren mit naturrechtlichen Grundsätzen 456 oder dem Begriff der Polizei 457 . So stellt O. Mayer apodiktisch fest, die „naturrechtliche Grundlage" der Polizeigewalt gebe „Maß und Richtung für das, was als damit gewollt anzusehen" sei, und bestimme so das Verständnis der generalklauselartigen Ermächtigungen. 458 Er konkretisiert die naturrechtliche Grundlage aber nicht, wie sonst üblich, als Aufgabe der Gefahrenabwehr, sondern als Polizeipflicht der Untertanen, die öffentliche Ordnung nicht zu stören. 459 Dieser Perspektivwechsel bietet die Möglichkeit, das 449 Tezner, Lehre, S. 98 ff. 450 Tezner, Lehre, S. 98. 451 Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 363. 452 Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 363, 393. 453 Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 393; ebenso ders., Lehre, S. 98 ff., mit Beispielen. Tezner hält deshalb auch die Anlehnung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an die französische Lehre vom excès de pouvoir für überflüssig und schädlich (Lehre, S. 99, 118, Fn. 27) Irreführend ist daher die von Haschtmann, S. 78 m. Fn. 17, gezogene Parallele. 454 Vgl. Tezners Versuch einer entsprechenden Übertragung auf das österreichische Recht (Lehre, S. 101 ff.). 455 Dazu s.o. Α. I. 2. 456 z.B. O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 257, 267. 457 Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 84 ff. (dazu s.u. bei Fn. 469 f.); v. Laun, Ermessen, S. 204 ff., greift zwar ebenfalls auf eine einschränkende Bestimmung des Polizeibegriffs zurück, will damit jedoch nur die Beschränkung auf die Gefahrenabwehr erreichen. Das Kriterium der Erforderlichkeit des Eingriffsmittels kommt bei ihm wegen der Charakterisierung des Ermessens als Freiheit der Zweckwahl gar nicht in den Blick (vgl. u. bei Fn. 482). 458 o. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 257, 267. 459 o. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 257. 1

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

polizeiliche Rechtsfolgenermessen gleich in zweifacher Hinsicht zu beschränken. Die Bezugnahme auf die Untertanenpflicht legitimiert einerseits die Einschränkung der Adressatenwahl 460 und andererseits, in Konkretisierung der Pflichtgrenze, den Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit der Abwehr". 461 Die Eignung der Abwehrmaßnahme wird dabei schon vorausgesetzt. Entscheidend ist ihre Beschränkung auf das zur Abwendung der Gefahr Erforderliche. 462 Die Bezeichnung unverhältnismäßiger Maßnahmen als „Machtüberschreitung" 463 weckt dabei die Assoziation zur Ermessensüberschreitung und ihrer Parallele in der französischen Lehre vom excès de pouvoir 464 . Otto Mayer läßt aber keinen Zweifel daran, daß er den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „Rechtsschranke" verstanden wissen will. Weil nicht anzunehmen sei, daß die polizeirechtlichen Generalklauseln der Polizei eine „über dieses natürliche Maß hinausgehende Ermächtigung zur Abwehr geben woll(t)en", sei jede UnVerhältnismäßigkeit rechtsfehlerhaft. 465 Der Rückgriff auf naturrechtliche Postulate ist in Otto Mayers Argumentation zu deutlich, um in der Publizistik der Jahrhundertwende allgemein gutgeheißen zu werden. Zwar ist die von Gerber und Laband eingeführte positivistische Methode gerade im Verwaltungsrecht nie konsequent durchgeführt, und die Opposition dagegen auch im Staatsrecht nie ganz aufgegeben worden. 466 Doch vermeiden die meisten Autoren bis zum Ende des Kaiserreichs einen offenen Bruch mit der herrschenden Methode. 467 Anschütz' Kritik der Begründung Otto Mayers als „Lösung . . . i m Wege naturrechtlicher Spekulation" 468 bleibt deshalb unwidersprochen. Eine alternative Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird bei Anschütz nur angedeutet.469 Sie besteht darin, aus § 10 I I 17 PrALR in Verbindung mit der Lehre vom Rechtssatzvorbehalt eine restriktive Bestimmung des Begriffs und der Schranken „der" Polizei schlechthin abzuleiten.470 Aus dem Erfordernis 460 o. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 266. 461 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 267 ff., Zitat S. 267. 462 o . Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 267 f. m. Fn. 11; S. 268 ff. mit den Abstufungen der unbedingten und bedingten Verbote, der Beschränkung auf die Überwachung oder auf Anzeige- und Meldepflichten. 463 o. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 267. 464 Haschtmann, S. 78 m. Fn. 17; vgl. O. Mayer, Theorie, S. 168; ders., Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 191, wo der „excès de pouvoir" als „Machtüberschreitung" übersetzt wird. 465 o. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 267. 466 Dazu W. Pauly, Methodenwandel, S. 209 ff.; Hueber, S. 18 ff., 142 ff.; Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 97, 100 f., 105; je m.w.N. 467 Zu Erosionen des staatsrechtlichen Positivismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Korioth, AöR 117 (1992), 212 ff.; W. Pauly, Methodenwandel, S. 240 ff.; zur Positivismuskritik in dieser Zeit s.u. Β. IV. bei Fn. 14 ff. 468 Anschütz, PrVBl. 22 (1900), 85 m. Fn. 5. 469 Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 84 ff.; VerwArch. 5 (1897), 406 f., beschränkt die ausführliche Darstellung rechtsstaatlicher Grundsätze auf die Darlegung des Rechtssatzvorbehalts und der Beschränkung polizeilicher Eingriffe auf die Gefahrenabwehr. 470 Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 85.

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rechtssatzförmiger Eingriffsermächtigung ergibt sich, daß Eingriffe nur „auf Grund und nach Maßgabe" des materiellen Gesetzes zulässig sind. Darin sieht Anschütz eine „Rechtsvermuthung ... für die Freiheit des Individuums", 471 die eine Beschränkung von Eingriffen auf das zur gesetzlichen Aufgabenerfüllung erforderliche Maß nahelegt. Der damit angedeutete Bezug zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, in dem Rechtssatzvorbehalt und Vorrang des Gesetzes zusammengefaßt werden, prägt die spätere Lehre. 472 Sogar Bühler, der den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz positivrechtlich aus einer Wortlautinterpretation des § 10 II 17 PrALR ableitet, rechtfertigt das Ergebnis zusätzlich als vom „Standpunkt der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" aus gefordert. 473 Auch Walter Jellineks Herleitung aus dem bestimmbaren Begriff der ,relativen" Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit 474 und aus den Grenzen der Polizeigewalt knüpft an das Gesetzmäßigkeitsprinzip an. Denn übermäßige Eingriffe werden dadurch gekennzeichnet, daß sie mehr verlangen als die Herstellung des Zustands, bei dem die Polizei gesetzlich schon nicht mehr zum Eingreifen ermächtigt wäre. 475 Gegen Ende des Kaiserreichs ist die Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 476 oder Übermaßverbots, 477 jeweils verstanden als Erfordernis der Eignung und Erforderlichkeit polizeilicher Maßnahmen, nahezu Allgemeingut der Lehre. 478 Die abweichende Auffassung von Rosin, der weiterhin an der Unüberprüfbarkeit aller Notwendigkeitsfragen festhält, 479 wird, wie die Weigerung von Georg Meyer und v. Sarwey, den Vorbehalt des Gesetzes für Einzeleingriffe anzuerkennen, 480 als hartnäckiges Beharren auf einem überholten Lehrsatz kritisiert. 481 Sogar v. Laun, der wegen seiner Ermessensdefinition als Freiheit der Zweckwahl kaum auf die Erforderlichkeit der Mittel eingehen kann, 471 Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 84; ebenso später Fleiner, FS Laband, 2. Bd., S. 10. 472 Thoma, Polizeibefehl, S. 465; ders., FS PrOVG, S. 201; Fleiner, FS Laband, 2. Bd., S. 10, 13 f.; ders., Institutionen, 2. Aufl., S. 341, 354; Wolzendorff, AöR 24 (1909), 325 ff., 359 ff., 386 ff.; Hatschek, S. 147; W. Jellinek, Gesetz, S. 9 f., 289 ff.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 295 f.; ähnlich später O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 3. Aufl., S. 70 ff.; w.N. bei W. Jellinek, Gesetz, S. 290, Fn. 110. 473 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 295 f., S. 314 erklärt die Kontinuität der Lehre von der Unüberprüfbarkeit der Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitsfragen aus der unzulänglichen Erkenntnis des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Ebenfalls mit § 10 I I 17 PrALR argumentiert Schoen, VerwArch. 27 (1919), 149. 474 Dazu s.o. Β. II. 2. a) cc) ccc) (2) bei Fn. 362. 475 W. Jellinek, Gesetz, S. 289 f. 476 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 267. 477 Tezner, Lehre, S. 98 ff.; W. Jellinek, Gesetz, S. 10, 79, 289 ff. 478 Nachweise s.o. Fn. 472. 479 Rosin, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 280 f. m. Fn. 2.; ders., VerwArch. 3 (1895), 365. 480 Dazu s.o. Β. II. 1. a), Fn. 7 a.E. und Β. II. 2. a) aa) aaa), Fn. 171. 481 Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 86 m. Fn. 9; ders., VerwArch. 5 (1897), 406 f.; W. Jellinek, Gesetz, S. 290, Fn. 107; weniger scharf Bühler, Öffentliche Rechte, S. 177 f.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

signalisiert in einem Beispiel die Anerkennung des Übermaßverbots, indem er die Unverhältnismäßigkeit einer Anordnung als Indiz für die Verfolgung gesetzwidriger Zwecke darstellt 482 . Die weitere Ausdifferenzierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Walter Jellinek 483 illustriert teils Einzelfälle ungeeigneter oder übermäßiger Eingriffe, teils bezieht sie die Absicht des Verfügenden oder die Optimierung der Zweckverfolgung in die Beurteilung ein und geht damit wieder einen Schritt in die Richtung der traditionellen Ermessensfehlerlehre. Die am Beispiel des zu erlegenden Löwen präsentierten Fälle der Ungeeignetheit (Schuß in die Luft) und des Übermaßes (Schuß auf das tödlich getroffene Tier) bezeichnen die beiden bereits als rechtsfehlerhaft erkannten Arten unverhältnismäßiger Eingriffe. 484 Der dritte Fall der „Schädlichkeit", in dem ein auf den Löwen gezielter Schuß den Jagdgenossen trifft, 4 8 5 behandelt sozusagen die verwaltungsrechtliche aberratio ictus. Daß damit nur „ein besonders schwerer Fall der Ungeeignetheit" beschrieben wird, gesteht Jellinek selbst ein. 4 8 6 Ein Grund, ihn mit Rücksicht auf die zugrundeliegende gute Absicht nicht als rechtsfehlerhaft zu behandeln, besteht nicht 4 8 7 und wird von Jellinek auch nicht geltend gemacht. Er begründet die gesonderte Hervorhebung nur damit, daß die „Schädlichkeit" sich nicht, wie im Fall der Löwenjagd, unmittelbar aus der Maßnahme selbst ergeben, sondern auch aus ihren „Nebenwirkungen" resultieren könne. So könne ζ. B. die Verpflichtung zu bestimmten Vorsorgeuntersuchungen oder Hilfeleistungen bei Krankheit eine Ansteckungsgefahr für die Verpflichteten oder für Dritte begründen. 488 Doch auch bei dieser Fallkonstellation ist eine besondere Behandlung der „Schädlichkeit" nicht erforderlich. Das Risiko schädlicher Nebenwirkungen beim Adressaten der Handlungs- oder Duldungspflicht bestimmt den Inhalt und Umfang des in der Pflichtbegründung liegenden Eingriffs mit und muß bei der Prüfung seiner Eignung und Erforderlichkeit zur Zweckerreichung mit berücksichtigt werden. Soweit Dritte betroffen sind, liegt Jellineks Differenzierung eine Verlegenheit zugrunde, die mit der Figur des mittelbaren oder faktischen Eingriffs, d. h. dem Ersetzen des Finalitätskriteriums durch die Kriterien der objektiven Zurechnung, überwunden werden kann. Die vierte Fallgruppe der „Unzulänglichkeit" läßt sich schließlich in zwei Varianten auflösen. Die erste Variante betrifft Maßnahmen, die die Schadenswahrscheinlichkeit zwar unter die Gefahrenschwelle senken, die Möglichkeit des Schadenseintritts aber noch nicht ganz ausschließen.489 Jellinek sieht selbst, daß damit kein Rechtsfehler 482 48

v. Laun, Ermessen, S. 214 m. Fn. 3. 3 W. Jellinek, Gesetz, S. 79, 296 ff.

484

W. Jellinek, Gesetz, S. 79 f. 5 W. Jellinek, Gesetz, S. 79. 48 6 W. Jellinek, Gesetz, S. 299. 48

48

? Dazu schon Tezner, Lehre, S. 98 f. W. Jellinek, Gesetz, S. 300. 489 W. Jellinek, Gesetz, S. 298 f. m. Fn. 157, unter anderem mit dem Beispiel des Verbots, mehr als zwei Schweine innerhalb der Ortschaft zu halten, obwohl das Halten von Schwei488

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vorliegt und die Wahl der effektivsten unter mehreren tauglichen Maßnahmen Ermessenssache ist. 4 9 0 Die zweite Variante der Unzulänglichkeit umfaßt Maßnahmen, die die Schadenswahrscheinlichkeit nur unwesentlich verändern, statt sie zu beseitigen. Diese Fälle sind schlicht solche der Ungeeignetheit und werden in der zeitgenössischen Rechtsprechung auch so eingeordnet. 491 Die von Jellinek aufgefächerte Kasuistik fügt den zentralen Kriterien der Ungeeignetheit und des Übermaßes also kein neues Merkmal hinzu.

ddd) Zusammenfassung Die Lehre vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist damit in der Verwaltungsrechtswissenschaft des Spätkonstitutionalismus zu einem vorläufigen Abschluß gekommen. Eignung und Erforderlichkeit polizeilicher Maßnahmen sind als Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen begründet und aus dem ursprünglichen Kontext der Ermessensfehlerlehre gelöst. Die entscheidende Weichenstellung dieser Entwicklung liegt noch nicht in der Konkretisierung des Willkürverbots über den Motivbegriff, sondern erst in dessen objektivierender Interpretation als Zweck der Maßnahme. Anders als ein subjektivierendes Verständnis des Motivs als Absicht, eröffnet die objektivierende Auslegung die Möglichkeit der rationalen Eingriffsüberprüfung am Maßstab der Zweck-Mittel-Relation. Der damit implizierte Vergleich verschiedener Eingriffsmittel fügt sich in die Umschreibung des Ermessens als Freiheit der Mittel- oder Rechtsfolgenwahl ein und bestätigt sie indirekt. Die Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes trägt so mittelbar dazu bei, das Problem der Konkretisierung vager Begriffe aus dem Bereich der Ermessenslehre herauszudrängen. Die positivrechtliche Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist nur unvollständig gelungen. Da nicht alle Einzelstaaten Vorschriften erlassen haben, aus denen sich eine Beschränkung der Polizeigewalt auf die erforderlichen Eingriffsmittel ableiten läßt, muß die Lehre letztlich auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurückgreifen. Dessen positivrechtliche Begründbarkeit ist jedoch gerade in der Ausprägung des Vorbehalts des Gesetzes, der die Freiheitsvermutung begründet und so den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz trägt, noch umstritten. 4 9 2 Immerhin zeichnen sich mit der weiten Interpretation der verfassungsrechtlichen Freiheits- und Eigentumsgewährleistungen 493 Wege ab, zu einer positivnen ganz untersagt werden könnte. Ein anderes Beispiel soll das Verbot abgeben, Lumpen und Knochen in der Stadt zu lagern, wenn nicht gleichzeitig den mit der Lumpensortierung außerhalb zu Beschäftigenden vor ihrer Rückkehr in die Stadt eine Reinigung vorgeschrieben wird. 490 w. Jellinek, Gesetz, S. 298. 491 ζ. B. PrOVGE 54, 245 (Verpflichtung zur Umlagerung von Holz, ohne daß die Gefahr des Inbrandsetzens des angrenzenden Wohnhauses dadurch beseitigt würde). 492 Dazu s.o. Β. Π. 1. c) aa). 493 Dazu s.o. Β. Π. 1. c) aa) bei Fn. 31.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

rechtlichen Begründung zu kommen. Bis dahin teilt die spätkonstitutionelle Verwaltungsrechtswissenschaft das Schicksal der frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre, nur mit positivrechtlich unzureichend belegten „allgemeinen" Lehren ausgleichen zu können, was die Gesetzgebung der Ausgestaltung des Rechtsstaats schuldig bleibt. Nachdem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfassungsrechtlich aus dem Vorbehalt des Gesetzes begründet werden kann, läßt sich seine ursprüngliche Verankerung in der Ermessensfehlerlehre rückblickend mit Bühler 494 als Kompensation der Ablehnung oder der Verkennung des Gesetzmäßigkeitsprinzips deuten. Während die Anerkennung des Geeignetheits- und Notwendigkeitskriteriums als Indiz der Ermessensüberschreitung bereits eine rechtspolitische Liberalisierung anzeigt, bezeichnet die Emanzipation des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus der Ermessensfehlerlehre einen dogmatischen Fortschritt. In der Argumentation aus dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt liegt eine Rückbesinnung auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Verwaltungsrechts, die die in den sechziger Jahren vollzogene Abkoppelung 495 rückgängig macht. Gleichzeitig wird das restriktive frühkonstitutionelle Verständnis des Gesetzesvorbehalts, das ihn bloß als Abgrenzung von Gesetzgebungs- und Verordnungszuständigkeit sehen konnte, überwunden. Beides ermöglicht der Verwaltungsrechtslehre, den Vorbehalt des gesetzmäßigen und verhältnismäßigen Eingriffs verfassungsrechtlich zu begründen und damit das vorkonstitutionelle Tabu der Unüberprüfbarkeit von Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit zu relativieren. Mit der verfassungsrechtlichen Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird allerdings nur ein Mißbrauchstatbestand, der übermäßige Eingriff, als Rechtsfehler etabliert. Die übrigen Fälle inkorrekten, d. h. vor allem gleichheitswidrigen oder sonst unsachlichen Ermessensgebrauchs verbleiben in der Kategorie der Ermessensfehler. In ihr faßt die spätkonstitutionelle Verwaltungsrechtswissenschaft die Ausprägungen der Ermessensüberschreitung zusammen und stellt sie den Rechtsfehlern gegenüber. Ein abschließender Überblick über die Entwicklung und die Funktion der Ermessensfehlerlehre soll zeigen, daß Bühlers These der Kompensation unzureichender oder unzulänglich begriffener Rechtsbindung nicht nur auf die Vorläufer des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sondern auf die Ermessensfehlerlehre allgemein zutrifft. Gleichzeitig soll deutlich werden, daß das Problem der Abgrenzung von Rechtsbindung und Ermessen im Rahmen der Ermessensfehlerlehre nicht befriedigend gelöst werden kann.

4 94 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 295, 311. Bühler begründet den Gesetzesvorbehalt für Einzeleingriffe und das Verhältnismäßigkeitserfordernis allerdings nicht verfassungsrechtlich, sondern behauptet eine richter- und gewohnheitsrechtliche Durchsetzung. 495 Dazu s.o. Β. I. 1. e) aa).

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre bb) Entwicklung spätkonstitutionellen

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und Funktion der Ermessensfehlerlehre

Der Ursprung der spätkonstitutionellen Ermessensfehlerlehre liegt in der Renaissance der Mißbrauchslehren, die die verwaltungsfreundlichen, rechtsstaatlichen Ansätze der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts prägt. 496 Friedrich Franz Mayer und Rudolf v. Gneist führen den „mittleren", zwischen Rechtsfehlern und bloßer Unzweckmäßigkeit liegenden Bereich der Ermessensfehler ein, um die Beschränkung der Rechtsfehler auf den Verstoß gegen den Wortlaut der Ermächtigungsnorm auszugleichen. Die neue Kategorie der Ermessensfehler soll einerseits den Ausschluß der Kontrollzuständigkeit ordentlicher Gerichte begründen, andererseits die Forderung nach verwaltungsgerichtlicher Überprüfung plausibel machen. Über die Rechtsnatur der neuen Fehlerkategorie brauchen F. F. Mayer und v. Gneist keinen Aufschluß zu geben, da sie die Verwaltungsgerichte nicht strikt auf die Rechtmäßigkeitskontrolle beschränken wollen und, im Fall v. Gneists, in der Überprüfung der Ermessensausübung sogar die Hauptaufgabe der Verwaltungsrechtsprechung sehen. Als sich in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Beschränkung der Verwaltungsgerichte auf die Rechtmäßigkeitskontrolle durchsetzt und sogar in Preußen, jedenfalls für polizeiliche Maßnahmen, der Ausschluß der Ermessenskontrolle statuiert wird, sieht sich die Verwaltungsrechtslehre zu neuen Stellungnahmen gezwungen. Entweder muß die Kategorie der Ermessensfehler aufgegeben, oder die rechtliche Relevanz der darin zusammengefaßten Fehlertatbestände neu begründet werden. Die Lehre ist zur ersten Alternative nicht bereit, zur Verwirklichung der zweiten jedoch kaum in der Lage. Denn von der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung wird die Rechtsbindung in den frühen achtziger Jahren kaum weniger restriktiv bestimmt als in den rechtsstaatlichen Beiträgen der sechziger Jahre. Die unbestimmten Begriffe gelten den meisten Autoren schlechthin und den übrigen, mit Ausnahme Tezners, zumindest potentiell als Ermessensermächtigung. 497 Das Dogma von der Unüberprüfbarkeit der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Verwaltungsmaßnahmen ist nahezu ungebrochen; die „Motivkontrolle" des preußischen Oberverwaltungsgerichts beginnt gerade erst, sich zu entwikkeln. 4 9 8 Die Berufung auf das Verfassungsrecht, etwa auf Diskriminierungsverbote und Freiheitsgewährleistungen, ist seit den sechziger Jahren mit dem Rückzug auf rechtsstaatliche Postulate aus dem Blick geraten. Sie ist aber auch wenig aussichtsreich, solange Grundrechte nur als Programmsätze oder bestenfalls als bereichsspezifische Gesetzesvorbehalte verstanden werden. Diejenigen Autoren, die mit F. F. Mayer und v. Gneist die Fehlertatbestände der Diskriminierung, der übermäßigen Belastung und der Eingriffe aufgrund unzutreffender Sachverhaltsermittlung

496 Dazu und zum folgenden s.o. B. I. 1. e) cc). 49? S.o. B. II. 2. a) aa). 498 Dazu s.o. B. II. 2. b) aa) bbb).

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

nicht preisgeben wollen, versuchen wohl deshalb gar nicht erst, diese Ermessensfehler in Rechtsfehler umzuformulieren. Statt dessen knüpfen sie an den Begriff der Ermessensüberschreitung an und nutzen die salvatorische Klausel vom pflichtgemäßen, nicht willkürlichen Ermessensgebrauch als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer eigenständigen Fehlerkategorie. 499 Sie konkretisieren dazu den Begriff der Ermessensüberschreitung in verschiedenen Ermessensfehlern, die den bereits anerkannten Rechtsfehlern an die Seite gestellt werden. Dabei wird auf unterschiedlichen Wegen versucht, Inhalt und Sanktionswürdigkeit der Ermessensfehler zu begründen.

aaa) Konkretisierungen und Rechtfertigungsversuche Unter den Konkretisierungen und Rechtfertigungsversuchen der Ermessensfehlerlehre lassen sich drei Begründungsstrategien unterscheiden, die einander, wenn auch mit zeitlichen Überschneidungen, ablösen. Bis in die neunziger Jahre bevorzugt die Lehre den Rückgriff auf die böse Absicht oder auf die vorwerfbare Dienstpflichtverletzung seitens des Verfügenden als Mittel, die rechtliche Relevanz von Ermessensfehlern zu belegen, ohne sie als Verstoß gegen Außenrechtssätze nachweisen zu müssen.500 Gegen diesen Rekurs auf die Innenrechtsbindung wendet sich eine zweite Richtung, die von der „Motivkontrolle" des preußischen Oberverwaltungsgerichts angeführt wird und die Ermessensüberschreitung als Verstoß gegen rechtliche Zweckbindungen beschreibt. 501 Mit dieser Konstruktion konkurriert bereits vor der Jahrhundertwende eine dritte, zunächst in der bayerischen und sächsischen Rechtsprechung vertretene Auffassung. Sie meint, eine inhaltliche Überprüfung des Ermessensakts selbst sei durch den Ausschluß verwaltungsgerichtlicher Ermessenskontrolle verboten. Deshalb ersetzt sie die Kontrolle der Ermessensentscheidung durch eine Überprüfung des Entscheidungsverfahrens. 502 Dieser Ansatz kann sich nach der Jahrhundertwende behaupten, allerdings nicht etwa, weil die herrschende Auffassung eine Ergebniskontrolle für ausgeschlossen hielte. Entscheidend ist vielmehr, daß die aus der Zweckbindungskontrolle entwickelte Verhältnismäßigkeitsprüfung, die den Kern der Ergebniskontrolle bildet, inzwischen als Teil der Rechtskontrolle anerkannt wird und damit aus der Ermessensfehlerlehre herausfällt. Die Durchsetzung der Verfahrenskontrolle ist also nur das Re499 Bernatzik, S. 41; v. Laun, Ermessen, S. 65 f., 175 f.; W. Jellinek, Gesetz, S. 138 f., 337 ff.; nur angedeutet bei O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 164 f., 191. 500

Bernatzik, Rechtsprechung, S. 45 f.; Rosin, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 289 m. Fn. 22; Oertmann, S. 25; bei v. Laun, Ermessen, S. 176 ff., 187 f., ist dies nur noch eine Begründungsalternative. soi O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165, 191 ff.; v. Laun, Ermessen, S. 115 ff., 187 ff. 502 w. Jellinek, Gesetz, S. 138 f.; 337 ff.; Nachweise zur Rechtsprechung s.u. in Fn. 550 ff.; dasselbe Ergebnis erreichte schon Tezner, Lehre, S. 52 f., mit einer eigenwilligen Auslegung des Amtsermittlungsgrundsatzes.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

203

sultat einer Verschiebung. In dem Maß, in dem die Überprüfung des Entscheidungsergebnisses positivrechtlich begründet werden kann, wird der Rückzug auf die Absichten des Verfügenden überflüssig und die Ermessensüberprüfung auf die Kontrolle der Entscheidungsfindung zurückgedrängt. (1) Die Ermessensüberschreitung

als

bösgläubige Dienstpflichtverletzung

Dem Rückgriff auf subjektive Momente, der sich in der Definition der Ermessensüberschreitung als bösgläubiger Dienstpflichtverletzung 503 zeigt, liegt ein traditionelles Verständnis der Unüberprüfbarkeit von Notwendigkeits- und Zweckmäßigkeitsfragen zugrunde. Wie in der herrschenden vor- und frühkonstitutionellen Lehre, werden sowohl die administrative Zweckkonkretisierung als auch die Auswahl der zur Zweckverwirklichung verwendeten Mittel als Ermessensfragen verstanden, die im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle nicht nachgeprüft werden können. Sowohl die Frage, ob ein zulässiger Zweck verfolgt wird, als auch die Relation von Eingriffsziel und -mittel werden damit von der gerichtlichen Kontrolle ausgenommen. Jede Geeignetheitsprüfung, etwa nach dem Vorbild der „Motivkontrolle" des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, scheidet aus. Ohnehin ist eine Überprüfung der Zweck-Mittel-Relation den meisten Vertretern der Absichtskontrolle schon durch ihr Verständnis der unbestimmten Begriffe als Ermessensermächtigungen versperrt. 504 Wenn Begriffe wie die der polizeilichen Aufgaben oder der Gefahr nicht konkretisiert werden können, ist auch die präzisierende Umschreibung des Eingriffszwecks unmöglich, an die eine Geeignetheits- oder Erforderlichkeitsprüfung anknüpfen muß. Als Ausweg, der die Sanktion groben Befugnismißbrauchs ermöglicht, bleibt dieser Auffassung daher nur, an die Willensrichtung des Verfügenden anzuknüpfen. Bei schuldhaften Verstößen gegen das Gebot pflichtgemäßer Ermessensausübung soll die äußerste Grenze des Ermessens überschritten und sanktionsfähige Willkür anzunehmen sein. Dabei wird die vorwerfbare Pflichtverletzung überwiegend, in Anlehnung an v. Gneist, nur als vorsätzliches Handeln gegen das Gemeinwohl konkretisiert. 505 Allein Bernatzik bezieht bei dem Versuch, die rechtliche Re503 z.B. bei Rosin, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 289 m. Fn. 22; Bernatzik, S. 41, 45 f.; v. Laun, Ermessen, S. 176 ff., 187 f.; Oertmann, S. 25; vgl. G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 131 f., 202, wo nicht deutlich wird, ob die Verletzung der Dienstpflichten eine Individualrechtsverletzung des Betroffenen begründen können soll. 504 So ζ. B. Bernatzik, Rechtsprechung, S. 42 ff.; Oertmann, S. 20 f. für das Verwaltungsrecht, anders aber a. a. O., S. 13 ff., für den zivil- und strafrichterlichen Zuständigkeitsbereich. 505 Rosin, Polizeiverordnungsrecht, 2. Aufl., S. 289; Bernatzik, Rechtsprechung, S. 41; Oertmann, S. 25 f.; vgl. Hatschek, S. 474 (Willkür und Schikane; Hatschek erkennt allerdings a. a. O., S. 147, auch die objektive Ungeeignetheit oder Unmöglichkeit des Verlangten als Ermessensfehler an und befindet sich damit etwa auf dem Stand der Motivkontrolle der PrOVG).

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

levanz der Ermessensüberschreitung disziplinarrechtlich zu begründen, auch grob fahrlässige Pflichtverletzungen in den Kreis der Ermessensfehler ein. 5 0 6 Mit der Herleitung der Ermessensüberschreitung aus der Dienstpflichtverletzung gelingt es, die Ermessensfehlerlehre scheinbar nahtlos in die hergebrachte Ermessenslehre einzufügen. So braucht das überkommene Verständnis unbestimmter Tatbestandsmerkmale als Ermessensermächtigungen nicht revidiert zu werden. Unter Hinweis auf die Disziplinarstrafen kann die rechtliche Sanktionswürdigkeit der Ermessensüberschreitung dargetan werden, ohne sie als fehlerhafte Anwendung des Ermächtigungstatbestands selbst qualifizieren zu müssen. Gleichzeitig kann das Erfordernis der Konkretisierung unbestimmter Begriffe, vor allem des Begriffs des öffentlichen Interesses, durch die Subjektivierung des Prüfungsmaßstabs vermieden werden. Der Imperativ des „Thue, was du glaubst, daß es durch das öffentliche Wohl bedingt ist", 5 0 7 nennt als Gegenstand der Dienstpflicht nicht die Verwirklichung des Gemeinwohls, sondern das Handeln nach der subjektiven Auffassung dieses Begriffs. Die Bezugnahme auf das Disziplinarrecht und die Subjektivierung des Prüfungsmaßstabs sollen schließlich auch die Begrenzung der Ermessensüberschreitung auf vorsätzliche bzw. - nach Bernatzik - auch grob fahrlässige Pflichtverletzungen legitimieren. Trotz der geschickten Begründung kann sich die subjektivierende, auf die Dienstpflichtverletzung abstellende Ermessensfehlerlehre jedoch nicht behaupten. Die Unstimmigkeiten sind in der Argumentation nur versteckt, nicht ausgeräumt. Die meisten Kritiker lehnen die Bezugnahme auf das Disziplinarrecht schon wegen der Durchbrechung der Trennung von Innen- und Außenrechtsbindung ab. 5 0 8 Diese Kritik ist nicht unproblematisch, soweit zur Rechtfertigung der Trennung auf die anthropomorphe Vorstellung der Impermeabilität der Staatsperson zurückgegriffen, oder die Vorstellung unterschiedlicher Adressaten von Dienstrechtsnormen und Außenrechtsnormen bemüht wird. 5 0 9 Aber die Unterscheidung von Innen- und Außenrechtsbindung läßt sich auch ohne diese Bilder begründen. Dienstund Außenrechtsnormen nennen unabhängig voneinander die Voraussetzungen für verschiedene Rechtsfolgen. Die Disziplinarrechtsnormen geben in ihrer Gesamtheit die Bedingungen dienstrechtlicher Sanktionen an. Die verwaltungsrechtlichen Ermächtigungsnormen nennen dagegen die Voraussetzungen, unter denen eine Verwaltungsmaßnahme dem Einzelnen gegenüber durchgesetzt werden darf. Berührungspunkte ergeben sich, soweit das positive Disziplinarrecht rechtswidrigschuldhafte Amtshandlungen ahndet. Insoweit muß es zur Umschreibung der ob506 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 45; v. Laun, Ermessen, S. 180 f., 183 hält fahrlässige Verstöße wegen Beweisproblemen für irrelevant. 507 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 44. 508 Vor allem O. Mayer, AöR 1 (1886), 721; Laband, Staatsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 677 f. m. Fn. 2 und 2. Bd., 5. Aufl., S. 179 m. Fn. 1; Tezner, Lehre, S. 12, Fn. 3, S. 98 f. und ders., GrünhutsZ 19 (1892), 332 ff.; W. Jellinek, Gesetz, S. 334; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 209, 214. 509 So ζ. B. bei Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 181.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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jektiven Rechtswidrigkeit der Amtshandlung auf die Tatbestandsmerkmale der verwaltungsrechtlichen Ermächtigungsnormen verweisen. Ein umgekehrter Verweis findet dagegen nicht statt. Wenn die Tatbestandsmerkmale der verwaltungsrechtlichen Eingriffsermächtigungen erfüllt sind, ist der Eingriff zulässig, ohne daß es auf die disziplinarrechtlichen Sanktionstatbestände als zusätzliche, negative Tatbestandsmerkmale ankäme. Die Kritik am Rekurs auf die Dienstpflichtwidrigkeit als Grundlage der Ermessensfehlerlehre ist also berechtigt. Darüber hinaus weist Tezner in seiner Kritik an Bernatzik 510 nach, daß der subjektivierende Ansatz auch in sich nicht stimmig ist. Einen Systembruch stellt schon die Einbeziehung der groben Fahrlässigkeit dar, die mit der gleichzeitig behaupteten Bindung des Beamten nur an seine Überzeugung 511 nicht zu vereinbaren ist. Denn auch die grobe Fahrlässigkeit braucht keine bewußte zu sein. Wird sie dagegen nur als Indiz für vorsätzliches Handeln gesehen, ist damit der subjektivierende Begründungsansatz aufgegeben. Tezner weist außerdem darauf hin, daß der subjektivierende Prüfungsmaßstab überzeugungsgemäßen Handelns im Disziplinarrecht keine Stütze findet. 512 Denn die disziplinarische Sanktion knüpft keineswegs an die Bösgläubigkeit des Amtswalters an, sondern greift auch bei gutgläubigen, schlicht fahrlässigen Pflichtverletzungen ein. Schließlich müssen im Rahmen der disziplinargerichtlichen Feststellung objektiv rechts- oder zweckwidrigen Handelns auch Tatbestandsmerkmale wie die des öffentlichen Interesses oder der Gefahr geprüft werden. Wenn aber insoweit die richterliche Präzisierung unbestimmter Ermächtigungstatbestände zugelassen werden soll, ist nicht nachzuvollziehen, warum die entsprechende verwaltungsrichterliche Befugnis ausgeschlossen werden müßte. 513 Dieser Kritik kann Bernatzik kaum etwas entgegensetzen. Er objektiviert die Kriterien für die Ermessensüberschreitung nur halbherzig, ohne größere Konsequenz zu erreichen. So sollen auch evidente Fehler bei der Tatbestandsanwendung als Ermessensüberschreitung gelten, etwa die Umschreibung einer Zehnjahresfrist als „unverzüglich" oder die Annahme, die Wählerschaft einer Stadt mit einer Million Einwohnern sei „geringO". 514 Im Ergebnis läuft diese Auffassung auf Bährs Grenzziehung beim absurden Wortgebrauch hinaus. Die Beziehung zum Fall grob fahrlässiger Pflichtverletzung wird von Bernatzik dabei nicht geklärt. Auch die Rechtfertigung vor der aufrechterhaltenen These, unbestimmte Begriffe könnten nicht nachvollziehbar konkretisiert werden, bleibt dürftig. Die Behauptung, in den

510 Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 333 ff. Bernatzik hatte Tezners 1888 veröffentlichte Monographie in GrünhutsZ 18 (1891), 148 ff. hart und z.T. unsachlich kritisiert (dazu s.o. Β. Π. 2. a) bb) bbb) bei Fn. 282). Daraus erklärt sich die Schärfe von Tezners Replik. 511 Bernatzik, Rechtsprechung, S. 44. 512 Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 350 ff. 513 Tezner, GrünhutsZ 19 (1892), 393 ff., bes. 395: „Umweg der Constatierung einer Pflichtwidrigkeit". 514 Vgl. Bernatzik, GrünhutsZ 18 (1891), 159 f. m. Fn. 1.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Fällen offensichtlicher Wortlautverfehlung sei die „Thatfrage" der Begriffsbestimmung „eben keine »Frage4 mehr", 515 kann nur den Unterschied von Frage und Feststellung, aber nicht den von Tat- und Rechtsfrage überbrücken. Bernatziks Versuch, die Kontinuität zur früheren Auffassung um jeden Preis zu wahren, zeigt sich auch in der Darstellung evidenter Fehlentscheidungen als unwiderleglicher Indizien vorwerfbarpflichtwidrigen Handelns. 516 Mit dieser Rückkehr zum Kriterium der Dienstpflichtverletzung setzt sich Bernatzik jedoch wieder dem Vorwurf aus, Innen- und Außenrechtsbindung nicht korrekt zu trennen. Nach der Jahrhundertwende wird die Begründung von Ermessensfehlern aus der Dienstpflichtverletzung nur noch als Ergänzung anderer Herleitungsversuche präsentiert. v. Launs Versuch, den Rückgriff auf Innenrechtsschranken mit „natürlichen Rechtsgrundsätzen" der Evidenz eines Sanktionsbedürfnisses bei schweren Dienstpflichtverletzungen zu begründen, 517 bleibt zu weit hinter den methodischen Standards zurück, um ernsthaft diskutiert zu werden. 518 Mangels dogmatischer Überzeugungskraft und wegen ihres Zurückbleibens hinter der rechtspolitischen Entwicklung hat sich die Begründung der Ermessensfehlerlehre aus der Dienstpflichtverletzung in der spätkonstitutionellen Verwaltungsrechtswissenschaft nicht durchsetzen können. 519 Mit der Anerkennung des Gesetzesvorbehalts für Eingriffe und mit der allmählichen Durchsetzung der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff verträgt sich eine Beschränkung der Rechtmäßigkeitsprüfung auf eklatante Rechtsverstöße nicht. Das Abstellen auf die Schuld des Amtswalters ist unbefriedigend einerseits, weil vor der Schuldfrage im Rahmen der Prüfung objektiver Rechts- oder Pflichtwidrigkeit doch über den Anwendungsbereich unbestimmter Begriffe entschieden werden muß. Andererseits führt der Verweis auf Willen und Absicht der Verfügenden zu Beweisproblemen, die nur durch Verwertung von Indizien zu lösen sind. Der Rückgriff auf objektive Merkmale kann bei der subjektivierenden Begründung der Ermessensfehlerlehre also nur verschleiert, aber nicht umgangen werden. Die seit der Jahrhundertwende herrschende Lehre knüpft deshalb, der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts folgend, unmittelbar an objektive Merkmale an und begründet die Ermessensfehlerlehre aus dem Verbot, rechtswidrige Zwecke zu verfolgen oder zur legitimen Zweckverfolgung ungeeignete oder übermäßige Maßnahmen zu treffen. 515 Bernatzik, GrünhutsZ 18 (1891), 160. 516 Ebd. 517 v. Laun, Ermessen, S. 177 f., 182; vgl. die Berufung auf Bernatzik a. a. O., S. 73. Praktisch wird der schuldhafte Ermessensmißbrauch bei v. Laun durch die Ermessensüberschreitung qua Zweckbindungsverstoß verdrängt (v. Laun, Ermessen, S. 175 ff., 187 ff.). 518 Vgl. die Kritik bei Hawelka, GrünhutsZ 40 (1913), 336; Thoma, VerwArch. 20 (1912), 451 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 166 ff.; Tezner, Ermessen, S. 7 ff. 519 S.o. bei Fn. 508, sowie W. Jellinek, Gesetz, S. 334; Fleiner, Institutionen, 2. Aufl., S. 128 und 132 m. Fn. 1 u. 5 f. (Fälle der Ungeeignetheit oder des Übermaßes polizeilicher Eingriffe als Ermessensmißbrauch).

. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre (2) Die Ermessensüberschreitung

207

als Verstoß

gegen rechtliche Zweckbindungen

Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wurde bereits dargestellt, wie das Preußische Oberverwaltungsgericht die Ermessensüberschreitung als Fehlen eines polizeilichen Motivs konkretisierte und, gestützt auf § 10 II 17 PrALR und ein objektivierendes Verständnis des Motivs als Eingriffszweck, die polizeilichen Eingriffsbefugnisse auf geeignete Maßnahmen zur Gefahrenabwehr beschränkte. 520 In der Lehre wird der Verstoß gegen rechtliche Zweckbindungen von Otto Mayer und, als zweite Fehlergruppe neben dem Ermessensmißbrauch, auch von v. Laun als Konkretisierung der Ermessensüberschreitung anerkannt. Zur Begründung dieser Auffassung knüpft allerdings nur O. Mayer an die preußische Rechtsprechung an. V. Laun beruft sich dagegen, wie schon F. F. Mayer, 521 rechts vergleichend auf die französische Rechtsfigur des excès de pouvoir. (a) Das Vorbild des excès de pouvoir Der excès de pouvoir war in der Verwaltungsrechtsprechung des Conseil d'État als Aufhebungsgrund neben der Inkompetenz, der Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften und dem Verstoß gegen den Wortlaut materiellrechtlicher Vorschriften entwickelt worden. 522 Anläßlich des Mißbrauchs ortspolizeilicher Befugnisse zur Verfolgung fiskalischer Interessen, zur Protektion eigener Parteigänger oder zur Diskriminierung politisch Mißliebiger erklärte der Conseil d'État Verwaltungsmaßnahmen für anfechtbar auch, wenn die Verwaltungsbefugnisse zwar ohne Verletzung des Gesetzeswortlauts, aber zu anderen Zwecken und aus anderen Motiven gebraucht wurden als denen, die der gesetzlichen Ermächtigung zugrundelagen. Der rechtspolitische Hintergrund war also dem der preußischen „Motivkontrolle" vergleichbar. Indem die französische Rechtsprechung, wie die preußische, nicht auf die Absicht des Amtswalters, sondern auf die Zielrichtung und Geeignetheit der Maßnahme abstellte, gelangte sie auch zu vergleichbaren Ergebnissen. Mangels einer dem § 10 I I 17 PrALR entsprechenden positivrechtlichen Grundlage stützte sie sich dabei jedoch von vornherein auf einen abstrakt formulierten Grundsatz und bot deshalb eine bessere Grundlage für Verallgemeinerungen.

520 s.o. B. II. 2. b) aa) bbb). 521 S.o. Β. I. 1. c) bei Fn. 92. 522 Zum recours pour excès de pouvoir s.o. Β. I. 1. c) m. Fn. 94; vgl. den Überblick bei v. Laun, Ermessen, S. 121 ff.; O. Mayer, Theorie, S. 137 ff.; zu Ungenauigkeiten in v. Launs Auswertung der französischen Rechtsprechung W. Jellinek, AöR 27 (1911), 467 f. m.w.N.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

(b) Die Zweckbindung als „innere" Ermessensgrenze V. Laun entnimmt der französischen Rechtsprechung zum excès de pouvoir, Ermessen dürfe nur zu positivrechtlich erlaubten oder zumindest nicht verbotenen Zwecken ausgeübt werden. Er charakterisiert dies als Anerkennung „innerer" Ermessensgrenzen, die die „äußere" Bindung an formelle und materielle Rechtsnormen ergänze. 523 Um eine Ableitung der inneren Grenzen aus dem positiven österreichischen Recht bemüht v. Laun sich nicht. Er zitiert lediglich einige Fälle polizeilichen Befugnismißbrauchs, um die Erforderlichkeit einer Sanktion zweckwidriger Ermessensausübung zu belegen. 524 Anschließend proklamiert er die Zweckbindung zum Rechtsgrundsatz kraft Natur der Sache, da die französische Lehre vom excès de pouvoir nur Ausdruck eines „fast allen modernen Kulturstaaten" gemeinsamen Rechtszustandes sei. 525 Vorbehaltlich ausdrücklich abweichender Regelungen soll der Rechtsgrundsatz der Zweckbindung in jedem nationalen Recht gelten. Diese elegante Umkehrung der rechtsvergleichenden Analyse erspart v. Laun alle positivrechtlichen Begründungsversuche und erlaubt ihm, das österreichische Verwaltungsrecht supra legem zu liberalisieren. Verstöße gegen die inneren Ermessensgrenzen der Zweckbindung bezeichnet v. Laun, je nach bewußter oder irrtümlicher Zweckverfehlung, als Diskretionsverletzung oder als Ermessensverirrung. 526 Die Unterscheidung ist im Ergebnis ohne Bedeutung, da beide Formen der Ermessensüberschreitung gleich behandelt werden. Die Diskretionsverletzung bildet nur den Übergang zur dritten, bereits dargestellten Form des vorsätzlich-böswilligen Ermessensmißbrauchs 527 und soll gutgläubige Mißachtungen gesetzlicher Zweckbindung im vermeintlich höheren öffentlichen Interesse umfassen. 528 Dagegen wird die Ermessensverirrung als reine „Erfolgshaftung" bei zweckwidrigen Maßnahmen erklärt, die ohne Rücksicht auf die Willensrichtung des Verfügenden eintritt. 529 Bei ihr ist also das subjektive Moment der Vorwerfbarkeit als notwendiges Merkmal der Ermessensüberschreitung aufgegeben. Da auch die Diskretionsverletzung stets objektiv zweckwidrig ist, behält das subjektive Moment der Vorwerfbarkeit eine sanktionsbegründende Bedeutung nur im Rahmen des Ermessensmißbrauchs. Als solcher sollen nach v. Laun selbst objektiv rechtmäßige und zweckdienliche Maßnahmen angefochten werden können, wenn sie aus parteipolitischen Beweggründen erlassen wurden. 530

523 524 525 526

γ. Laun, Ermessen, S. γ. Laun, Ermessen, S. v. Laun, Ermessen, S. v. Laun, Ermessen, S.

115 ff., 175 ff. 115 f.; kritisch dazu Bühler, Öffentliche Rechte, S. 167 f. 175; gegen dieses Vorgehen Thoma, VerwArch. 20 (1912), 452 f. 187 f.

527 s.o. Β. II. 2. b) bb) aaa) (1). 528 y. Laun, Ermessen, S. 187. 529 γ. Laun, Ermessen, S. 188 f. 530 Als Beispiel zitiert v. Laun (Ermessen, S. 115 f.) die listige Verhinderung des das tschechische Nationalgefühl beleidigenden „Grabenbummels" deutscher Studenten durch die Pra-

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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Die den Ermessensspielraum begrenzenden Schranken der Zweckbindung unterscheidet v. Laun in „negative" Zweckverbote und „positive" Umschreibungen zulässiger Zwecke. 531 Als Zweckverbot nennt er Art. 19 des österreichischen Staatsgrundgesetzes, der jede Diskriminierung wegen des Gebrauchs einer der im Staatsgebiet üblichen Sprachen verbietet. Als Ermessensüberschreitungen werden deshalb polizeiliche Anordnungen qualifiziert, die ohne sachlichen Grund die Ersetzung tschechischer oder polnischer Bezeichnungen durch deutsche verlangen. 532 Das wichtigste Beispiel positiver Zweckumschreibungen bildet die Regelung der polizeilichen Befugnisse. In der Begründung treten wieder überpositive Postulate an die Stelle der positivrechtlichen Argumentation. Wo die Polizeigesetze keine ausdrückliche Zweckbegrenzung enthalten, soll sich die Ermessensgrenze aus dem Begriff der Polizei selbst oder, falls dieser nicht verwendet wird, aus der Natur der Sache ergeben 533. Anders als der parallele Ansatz in der deutschen Lehre, 534 konkretisiert v. Laun den Polizeibegriff allerdings nicht eng im Sinne der Gefahrenabwehr, sondern grenzt nur die Verfolgung fiskalischer und parteipolitischer Ziele aus. 535 Er verfolgt die Zweckbindung auch nur bis zur Überprüfung der Geeignetheit der Maßnahme. Zur Kontrolle der Erforderlichkeit zitiert er nur ein einziges Beispiel 536 und spart die Diskussion der Notwendigkeitsüberprüfung und die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts ebenso aus wie Tezners, O. Mayers oder Anschütz' Begründung des Übermaßverbotes. 537 Vom liberalen Standpunkt aus gesehen, bedeutet v. Launs Konkretisierung der Zweckbindung also einen deutlichen Rückschritt. Dogmatisch unbefriedigend ist vor allem seine Unterscheidung von inneren und äußeren Ermessensgrenzen. Schon die Umschreibung der gesetzlichen Gebundenheit als äußere Ermessensgrenze ist überflüssig und verwirrend. Denn bei der Aufgliederung von Verwaltungsakten in rechtlich gebundene und freie Entscheidungselemente erklärt v. Laun selbst, daß von Ermessen erst nach Berücksichtigung aller Rechtsbindungen gesprochen werden kann. Zudem wird die Abgrenzung zwischen inneren und äußeren Ermessensgrenzen nicht konsequent durchgeführt. 538 Die äußeren Grenzen müßten als Synonym der gesetzlichen Gebundenheit alle Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit durch materiellrechtliche Vorschriften erger Stadtverwaltung, die die Promenade am Graben während der Saison zu (sachdienlichen) Pflasterungsarbeiten sperren ließ. 531 v. Laun, Ermessen, S. 189 ff. 532 γ. Laun, Ermessen, S. 190 ff. 533 γ. Laun, Ermessen, S. 205 f. 534 o. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 257, 266 ff.; dazu s.o. B. II. 2. b) aa) ccc) (2). 535 γ. Laun, Ermessen, S. 211 f. 536 v. Laun, Ermessen, S. 214 f. 537 Vgl. die Kritik bei Tezner, JöR 5 (1912), 67 ff.; Thoma, VerwArch. 20 (1912), 453; W. Jellinek, AöR 27 (1911), 465. 538 So schon Thoma, VerwArch. 20 (1912), 447 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 168. 1

Held-Daab

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

schöpfen. Danach dürften weder die positivrechtliche Zweckbindung polizeilicher Befugnisse noch das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot zu den inneren Grenzen gezählt werden. Beide wären vielmehr den äußeren Grenzen bzw., korrekt, unmittelbar der gesetzlichen Gebundenheit zuzuordnen, v. Laun entzieht sich dieser Konsequenz, indem er in der Aufzählung der äußeren Grenzen neben den formellrechtlichen Regelungen nur die materiellrechtlichen „Voraussetzungen" des Ermessensakts nennt. Die materiellrechtliche Bindung wird damit auf die Tatbestandsmerkmale der Ermächtigungsnorm reduziert, wie in den sechziger Jahren die Rechtsbindung auf die Bindung an deren Wortlaut beschränkt wurde. Der einzige Fortschritt besteht darin, daß v. Laun die unbestimmten Tatbestandsmerkmale, vom Begriff des öffentlichen Interesses abgesehen,539 nicht mehr als Ermessensermächtigungen versteht, sondern ihre Konkretisierung dem rechtlich „gebundenen" Ermessen zuzählt. Rechtsschranken, die sich aus den Grundrechten oder sonstigen höherrangigen Normen ergeben, bleiben weiterhin ausgeblendet. Sie müssen in Zweckbegrenzungen umformuliert und in die Ermessensfehlerlehre verschoben werden. Diese kompensiert also auch bei v. Laun eine restriktive Umschreibung der Rechtsbindung. Nur der Ermessensmißbrauch durch bloß unlautere, aber gesetzes- und zweckkonforme Ausübung von Eingriffsbefugnissen entzieht sich der Umdeutung in einen Rechtsverstoß. Außer der bereits widerlegten Herleitung aus der Dienstpflichtverletzung und einer Berufung auf die Evidenz der Sanktionswürdigkeit kann v. Laun für die rechtliche Relevanz dieses Fehlers aber auch keine Begründung angeben. Um eine stärker am positiven Recht orientierte Begründung der Ermessenskontrolle hat sich O. Mayer bemüht. Er begründet die Zweckbindung der Verwaltungsmaßnahmen aus dem Zuständigkeitsbegriff und konkretisiert ihre Überprüfung in Anlehnung an die preußische Verwaltungsrechtsprechung. Der französische recours pour excès de pouvoir wird nur noch rechtsvergleichend als Parallele zi-

te) Die Zweckbindung als Grenze zur Zuständigkeitsoder Befugnisüberschreitung Die Zuständigkeit wird in der spätkonstitutionellen Lehre zuerst von Gerber als äußerste Grenze zulässiger Ermessensausübung angegeben.541 Gerber bezieht sich damit aber nicht auf Verstöße gegen gesetzliche Zweckbindungen. Er grenzt nur Maßnahmen aus, die nicht mehr als öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit verstanden werden können, insbesondere Übergriffe in die Entscheidungszuständigkeit der ordentlichen Gerichte, ζ. B. in Enteignungssachen. Otto Mayer bestimmt den Zuständigkeitsbegriff in Abgrenzung zum subjektiven Recht als bloße Wahr539 V. Laun, Ermessen, S. 61 ff., 70; dazu s.o. B. II. 2. a) cc) ccc) (2). 540 o. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 191 ff. 541 Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 204, Fn. 1.

Π. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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nehmungszuständigkeit, die nicht im eigenen Interesse und nach eigenen Vorstellungen des Amtswalters, sondern im öffentlichen Interesse und somit zweckgebunden ausgeübt werden muß. 5 4 2 Mit der zusammenfassenden Feststellung, die Zuständigkeit sei „(d)emgemäß ... immer beschränkt auf das, was das öffentliche Interesse fordert", 543 wird die Zuständigkeits- in eine Befugnisgrenze umgedeutet, und der Weg zur Überprüfung des Verhältnisses von Eingriffszweck und -mittel im Rahmen der Ermessenskontrolle geebnet. Anders als in der Darstellung des Polizeirechts, wo er die Zweckbindung als Beschränkung auf geeignete und erforderliche Eingriffe vernunftrechtlich begründet und für verwaltungsgerichtlich kontrollierbar erklärt, 544 bestimmt O. Mayer die Zweckbindung und ihre Kontrolle im Allgemeinen Teil des Verwaltungsrechts zurückhaltender 545. Umschreibungen des Eingriffszwecks durch Tatbestandsmerkmale wie das öffentliche Interesse oder die öffentliche Sicherheit hält er nicht für bestimmt genug, um ihre Auslegung und Anwendung als Rechtsfrage nachzuprüfen; er erklärt ihre Konkretisierung deshalb grundsätzlich zur Ermessensfrage. 546 Die Konsequenzen dieser Auffassung werden entschärft, indem eine Überprüfung der entsprechenden Sachverhaltsfeststellung als Ermessenskontrolle aufgrund spezieller gesetzlicher Normen, wie ζ. B. § 127 III Nr. 2 LVG oder § 4 des badischen Verwaltungsgerichtsgesetzes, für zulässig erklärt wird. 5 4 7 Die Kontrolle der Rechtsfolgenwahl muß O. Mayer eng fassen, weil er einerseits die vernunftrechtliche Begründung der Notwendigkeitsprüfung aus dem Polizeibegriff nicht verallgemeinern, und andererseits die Rechtsfolgenwahl nicht völlig aus der Kontrolle herausnehmen kann, ohne ein Unterlaufen der Zweckbindung zu riskieren. Die sich daraus ergebende, pragmatische Relativierung des Kontrollmaßstabs wird als Überprüfung der Rechtsfolge nur „in abstracto" umschrieben. Geprüft werden soll, ob „das Angeordnete noch im allgemeinen zu den Dingen gehört, für welche derartige (sc. die verwaltungsgerichtlich festgestellten) Thatsachen Voraussetzung werden können." Als Maßstab wird „ein Normalmensch gedacht, ... hier ein ordentlicher Verwaltungsbeamter; wenn ein solcher auf diese Voraussetzungen hin möglicherweise zu einer derartigen Verfügung veranlaßt werden konnte, so ist nicht weiter zu untersuchen, ob sie auch erforderlich, gut und zweckmäßig war." 5 4 8 Diese Prüfung wird in Beispielen, in Anlehnung an die preußische „Motivkontrolle", als Überprüfung der Geeignetheit der Maßnahme zur Verwirklichung des Eingriffszwecks konkretisiert. 549 542 o . Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165. 543 Ebd. 544 o. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 256, 265 ff., 267 f. m. Fn. 11 f. 545 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165. 546 Ebd., vgl. ο. Β. II. 2. a) aa) ccc) bei Fn. 214 ff. 547 o . Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 192 f. m. Fn. 27 f.; dazu vgl. ο. Β. II. 2. a) aa) ccc) bei Fn. 222. 548 o . Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 193. 549 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 193 f., Fn. 28. 1*

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

O. Mayers Versuch, die Überprüfung der Zweckbindung als positivrechtlich legitimierten Bestandteil der verwaltungsgerichtlichen Ermessenskontrolle zu legitimieren, ist nicht ganz gelungen. In der Berufung auf § 127 III Nr. 2 LVG und § 4 des badischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes verschweigt er, daß die erste Bestimmung nach ihrer Genese, und die zweite nach ihrem vierten Absatz jede Ermessensüberprüfung ausdrücklich ausschließt. Kontrolliert werden sollen nur die Tatbestandsauslegung und die zur Subsumtion erforderlichen Tatsachenfeststellungen. O. Mayer könnte das nicht eingestehen, ohne im Widerspruch zur noch herrschenden Auffassung die Bindung durch unbestimmte Tatbestandsmerkmale und die dadurch benannten Eingriffszwecke als Rechtsbindung qualifizieren zu müssen oder zum völligen Verzicht auf eine Kontrolle dieser Bindungen gezwungen zu sein. Mit der Konstruktion der Zweckbindung als Ermessensgrenze kann er dagegen den Mangel positivrechtlicher Begründbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes außerhalb des Polizeirechts zumindest teilweise kompensieren; mit dem Verständnis der Tatsachenkontrolle als Ermessenskontrolle gleicht er die rechtsschutzpolitisch unerwünschten Folgen der Lehre vom unbestimmten Begriff als Ermessensermächtigung aus. Die Tendenz dieses Ausgleichsversuchs wird von den Ansätzen fortgeführt, die die Ermessensgrenzen nicht in einer Kontrolle des Inhalts der Ermessensentscheidung, sondern in einer Kontrolle des Entscheidungsverfahrens realisieren wollen. (3) Die Ermessensüberschreitung im Entscheidungsverfahren

als Fehler

Als Lehre von der fehlerhaften Entscheidungsfindung wird die Ermessensfehlerlehre in der sächsischen Verwaltungsrechtsprechung entwickelt, die dazu auf einzelne Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes 550 zurückgreifen kann. Walter Jellinek übernimmt diesen Ansatz, 551 differenziert die Fehlertypen weiter aus und stellt sie als Kategorie der Ermessensfehler den Rechtsfehlern der Gesetzwidrigkeit und UnVerhältnismäßigkeit gegenüber. Die sächsische Rechtsprechung, die nach der Jahrhundertwende ihre Tätigkeit aufnahm, grenzt sich mit ihrer Ermessensfehlerlehre von den bisher vertretenen Ansätzen ab. 5 5 2 Wegen des Verbots der Ermessensüberprüfung hält sie die Kontrolle von Verfügungen am Maßstab der Geeignetheit, der Erforderlichkeit oder der Gleichbehandlung für unzulässig.553 Ebensowenig schließt sie sich der Herleitung der Ermessensfehler aus der Dienstpflichtverletzung an. Statt dessen konstruiert sie die Grenzen zulässiger Ermessensausübung aus verschiedenen Bedin550 Vgl. BayVGHE 22, 19, 25; 25, 176, 180; 25, 244, 251 f.; dazu Reger/Dyroff, 4. Aufl., S. 202, 378; Haschtmann, S. 93 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 408 ff. 551 W. Jellinek, Gesetz, S. 332 ff. 552 Vgl. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 164,450 ff.; W. Jellinek, Gesetz, S. 332 ff. 553 SächsOVGE 5,42,46 f.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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gungen korrekter Entscheidungsfindung, 554 die als Gegenstand „ungeschriebenen Rechts" ausgegeben werden. 555 Die Ermessensüberschreitung erscheint als Sammelbegriff für Fehler des Entscheidungsverfahrens, die das Entscheidungsergebnis nachteilig beeinflußt haben könnten. Ein Nachweis der Fehler soll anhand der Begründung des Verwaltungsakts gelingen. Denn zur Begründung ihrer Verfügungen sind die Behörden in einzelnen Staaten aufgrund positivrechtlicher Vorschriften 556 verpflichtet, die von der Rechtsprechung und einer stärker werdenden Auffassung in der Literatur als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes verstanden werden. 557 Eine Zusammenfassung der in der sächsischen Rechtsprechung entwickelten Verfahrensgrundsätze findet sich in der Kommentierung Apelts: „Bei Entschließungen, die vom Ermessen der Behörde abhängen, ist das Ermessen nicht völlig frei und ungebunden, nicht ein bloßes Belieben . . . . Es wird vielmehr beschränkt und bestimmt durch die der Behörde obliegende Pflicht, alle ihre Entschließungen nur nach sachlichen und sachgemässen Gesichtspunkten und so zu treffen, dass den Anforderungen des Gemeinwohls Rechnung getragen, die Verletzung berechtigter privater Interessen aber, soweit es irgend möglich, vermieden wird. Das Endergebnis dieser Erwägungen, der gefasste Entschluss als solcher, ist nun zwar der Anfechtung im Verwaltungsstreitverfahren entzogen, wohl aber hat das Oberverwaltungsgericht zu prüfen, ob die Verwaltungsbehörde sich bei ihren Erwägungen innerhalb der vorstehend gekennzeichneten Grenzen gehalten hat, bzw. ob sie hiebei von rechtsirrtümlichen Anschauungen ausgegangen ist. Geben ihre Entschließungen insoweit zu gerechtfertigten Bedenken Anlass, dann ist eine Rechtsverletzung anzunehmen."558 Grundlage der Konstruktion ist also die traditionelle Gegenüberstellung von pflichtmäßiger Ermessensausübung und willkürlichem Handeln nach Belieben. Dabei wird die Pflichtbindung des Ermessens als Verpflichtung zur korrekten Entscheidungsfindung konkretisiert, ohne die einzelnen Verfahrensgrundsätze positivrechtlich zu begründen. Immerhin sind diese Grundsätze nicht ohne Tradition. Schon bei F. F. Mayer wird die korrekte Ermessensausübung als Erfüllung von Verfahrenserfordernissen umschrieben; die Gesichtspunkte der zutreffenden sachlichen Entscheidungskriterien und der Schonung der Individualinteressen sind in seiner Lehre schon angelegt. 559 Die Weiterentwicklung der Grundsätze in der säch554 SächsOVGE 5,42, 46 f.; 10, 90, 92 f.; 13, 97. 555 So SächsOVGE 13, 97 zum rechtlichen Gehör im Verwaltungsverfahren. 556 Vgl. § 37 der württembergischen Verfassung (Huber, Dokumente, 1. Bd., 3. Aufl., S. 191 f.) i.V.m. Art. 59 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes v. 16. 12. 1876 (Württ. RegBl. S. 485); § 36 I I der Sächsischen Verfassung (Huber, a. a. O., S. 269) i.V.m. § 76 I Nr. 2 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes v. 19. 07. 1900 (Sächs. GVB1. S. 486). 557 SächsOVGE 7, 98 f.; PrOVGE 58, 405, 407 f.; v. Laun, Ermessen, S. 93, 252 f., 261; W. Jellinek, Gesetz, S. 233 f., 43 f. m.w.N. 558 Apelt, S. 286; diese Zusammenfassung wird auch von Bühler, Öffentliche Rechte, S. 164, und W. Jellinek, Gesetz, S. 332 als repräsentativ zitiert.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

sischen und bayerischen Rechtsprechung zeigt, daß sie im Grunde genommen keine neuen Fehlertypen bezeichnen, sondern nur die Fehler der Unsachlichkeit, Diskriminierung und UnVerhältnismäßigkeit in Verfahrensverstöße übersetzen. So verbietet die Verpflichtung, nur aufgrund sachlicher und sachgemäßer Gesichtspunkte zu entscheiden, Maßnahmen aufgrund unzureichend oder fehlerhaft ermittelter Tatsachengrundlage ebenso wie sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen. Sanktioniert werden damit Fälle fehlerhafter Anwendung von Tatbestandsmerkmalen und Verstöße gegen den - in den meisten Verfassungen positivierten - Gleichheitssatz. Die Verpflichtung zur Gemeinwohlverwirklichung läuft wegen der Behandlung des öffentlichen Interesses als Rechtsbegriff in der sächsischen Rechtsprechung auf die Anerkennung einer Zweckbindung hinaus, die auch eine Geeignetheitsprüfung legitimiert. Die Pflicht, bei der Gemeinwohlverwirklichung die berechtigten Interessen der Einzelnen möglichst zu schonen, bildet die Parallele zur Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Erforderlichkeit des Eingriffs zum legitimen Zweck. Die Verpflichtung, aufgrund fehlerfreier Rechtsauffassung zu entscheiden, formuliert schließlich nur das Erfordernis zutreffender Normauslegung in einen Verfahrensgrundsatz um. Die Überschneidungen der Verfahrensfehlerlehre mit den bereits anerkannten Rechtsfehlern der Entscheidung aufgrund unzutreffender Rechtsauslegung oder Tatsachenfeststellung werden von der bayerischen und sächsischen Rechtsprechung nicht thematisiert. Aufgrund welcher Norm die übrigen Ermessensfehler als Rechtsverletzung zu qualifizieren sind, wird ebensowenig begründet wie der Inhalt der einzelnen Verfahrensgrundsätze. Die Begründung wird auch in der Rezeption des Ansatzes durch W. Jellinek nicht nachgeholt. Indem er ungeeignete und übermäßige Eingriffe als rechtsfehlerhaft anerkennt, 560 verschiebt er nur die Abgrenzung von Rechts- und Ermessensfehlern. Er entwickelt die Ermessensüberschreitung durch fehlerhafte Entscheidungsfindung nicht als Alternative zur Ergebniskontrolle, sondern als deren Ergänzung. Die Darstellung der Ermessensfehler als Verfahrensfehler erklärt W. Jellinek aus der inhaltlichen Umschreibung des Ermessens als gesetzlicher Befugnis der Verwaltungsbehörde, selbständig über den Wert einer Maßnahme zu entscheiden und entsprechend vorzugehen. 56 · Er postuliert, nach dem mutmaßlichen Willen des ermächtigenden Gesetzes solle nicht jede Entscheidung, sondern nur die fehlerfrei zustandegekommene maßgeblich sein und von der Ermächtigung umfaßt werden. 562 Die Konkretisierung der Anforderungen an eine fehlerfreie Entscheidungsfindung 563 entlehnt er der sächsischen und bayerischen Rechtsprechung, deren Grundsätze er ausdifferenziert und ergänzt. Das Verbot der Entscheidung aufgrund 559 s.o. Β. I. 1. c) bei Fn. 83 ff. 560 Dazu s.o. Β. Π. 2. b) aa) ccc) (2) bei Fn. 456. 561 Dazu s.o. B. II. 2. a) cc) ccc) (2). 562 w. Jellinek, Gesetz, S. 138 f. 563 w. Jellinek, Gesetz, S. 138 f., 337 ff.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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irriger Rechtsauffassung wird bestätigt 564 und in den Verboten irriger Annahme von gesetzlicher Gebundenheit565 oder Freiheit 566 näher erläutert. Die Verpflichtung zu sachgemäßer oder sachlicher Entscheidung wird, was die tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen betrifft, im Verbot der Berücksichtigung unrichtiger oder gesetzwidriger Gesichtspunkte567 konkretisiert. Was die Ungleichbehandlung betrifft, umschreibt W. Jellinek das Verbot unsachlicher Entscheidung als Verbot der Annahme des Handelndürfens nach Belieben 568 oder der Berücksichtigung gesetzlich verbotener Zwecke 569 sowie als Verbot der willkürlichen, nicht grundsatzmäßigen Entscheidung.570 Über die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hinaus bestätigt W. Jellinek außerdem die sächsische Rechtsprechung zur Pflicht des sorgfältigen Abwägens öffentlicher und privater Interessen. 571 Nur scheinbar neu ist das Verbot, gegen die eigene Überzeugung vom Wert der Maßnahme zu entscheiden.572 Es reformuliert lediglich den Tatbestand der Ermessensüberschreitung, wie ihn Bernatzik als Handeln gegen die eigene Auffassung des öffentlichen Interesses begründet hat. W. Jellineks eigene Schöpfung ist daher nur der letzte Verfahrensgrundsatz, die Verpflichtung zur folgerichtigen Entscheidung.573 Damit soll der Behörde aufgegeben sein, einmal getroffene Zweckkonkretisierungen, ζ. B. im Rahmen der Gefahrenabwehr, der Entscheidung über die zu treffenden Maßnahmen auch tatsächlich zugrundezulegen und keine anderen Zwecksetzungen zur Rechtfertigung weitergehender Eingriffe nachzuschieben.574 Wie in der sächsischen Rechtsprechung, wird auch bei W. Jellinek das Verhältnis der Ermessensfehler zu den Rechtsfehlern nicht zufriedenstellend geklärt. 575 Als Rechtsfehler erkennt W. Jellinek, den „äußeren Grenzen" bei v. Laun 5 7 6 vergleichbar, zunächst die Verletzung von Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorschriften 5 7 7 sowie den Verstoß gegen materiellrechtliche Ermächtigungsnormen an. Im 564 W. Jellinek, Gesetz, S. 343 f. (irrige Annahme eines Ersitzungsrechts an öffentlichen Sachen). 565 w. Jellinek, Gesetz, S. 337 f. 566 w. Jellinek, Gesetz, S. 339 f. 567 w. Jellinek, Gesetz, S. 342 ff.; zu fehlerhaften Tatbestandsfeststellungen als Rechtsfehler a. a. O., S. 327 ff. 568 w. Jellinek, Gesetz, S. 340 ff. 569 w. Jellinek, Gesetz, S. 344 ff., bes. S. 347. 570 w. Jellinek, Gesetz, S. 348 f.; umschrieben als Grundsatzlosigkeit oder Willkür im engeren Sinn.

571 W. Jellinek, Gesetz, S. 347 f.; zu den allgemeinen Anforderungen auch a. a. O., S. 341 f. 572 w. Jellinek, Gesetz, S. 138, 335, 351 ff. 573 w. Jellinek, Gesetz, S. 349. 574 w. Jellinek, Gesetz, S. 322 f. m. Fn. 8. 575 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 169 ff. 576 v. Laun, Ermessen, S. 113 f., S. 75 (zur Zuständigkeit); dazu s.o. Β. Π. 2. b) bb) aaa) (2) (b).

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Unterschied zu v. Laun will W. Jellinek bei der materiellen Rechtswidrigkeit aber auch die Verletzung sonstiger materiellrechtlicher Vorschriften berücksichtigen. 578 Außerdem nimmt er kein unbestimmtes Tatbestandsmerkmal von vornherein von der Rechtskontrolle aus 579 und begreift, anders als noch O. Mayer, nicht nur die Entscheidung aufgrund fehlerhafter Rechtsauslegung, sondern auch die Entscheidung aufgrund falscher Tatsachenfeststellung als rechtsfehlerhaft. 580 Neben diesen Fällen des „Widerspruchs" der Entscheidung mit dem Gesetz bezeichnet W. Jellinek als Rechtsverstöße auch die Fälle der sogenannten „Machtüberschreitung", in denen die Verfügung nicht von der einschlägigen Ermächtigung gedeckt ist. 5 8 1 Dazu zählt W. Jellinek auch unverhältnismäßige, an den falschen Adressaten gerichtete und der behördlichen Selbstbindung bei der Tatbestandsanwendung widersprechende Maßnahmen.582 Ein allgemeiner Gesetzesvorbehalt für Eingriffe wird mit dem Begriff der Machtüberschreitung also nicht gefordert; es soll nur darauf ankommen, ob die im Ermächtigungstatbestand gezogene Befugnisgrenze oder der Gleichheitssatz mißachtet wurde. 583 Kern der Machtüberschreitung ist damit das Vorrangproblem, nicht der Vorbehalt gesetzlicher Eingriffsermächtigung. Daraus erklärt sich auch W. Jellineks Schwierigkeit, Widerspruch und Machtüberschreitung voneinander abzugrenzen. Er muß feststellen, es handele sich „doch nur" um einen „Unterschied der Bezeichnung und des Gedankengangs".584 Nicht bewußt wird W. Jellinek, daß diese Feststellung weitgehend auch auf seine Abgrenzung der Rechtsfehler von den Ermessensfehlern zutrifft. Gemeinsames Kennzeichen der Rechtsfehler soll sein, daß es sich um Mängel des Inhalts der Verfügung handele, während die Ermessensfehler Mängel des Entscheidungsverfahrens bezeichneten.585 W. Jellinek sieht noch, daß fehlerhafte Entscheidungsverfahren zu rechtswidrigen Entscheidungen führen, beide Bereiche sich also überschneiden können. Doch sein Versuch, in der Kasuistik der Ermessensfehler den Überschneidungsbereich zu berücksichtigen und nur die Fälle bloßer Verfahrensverstöße als ermessensfehlerhaft einzuordnen, 586 gelingt nicht. Regelmäßig erfassen

577 578 579 580

w. Jellinek, Gesetz, S. 225 ff. w. Jellinek, Gesetz, S. 137, 245 f. Dazu s.o. Β. II. 2. a) cc) ccc) (1). w. Jellinek, Gesetz, S. 327 ff.

581 W. Jellinek, Gesetz, S. 244 f.; vgl. a. a. O., S. 137 (Verbot nicht ermächtigter Verfügung). 582 W. Jellinek, Gesetz, S. 250 f.; bes. S. 267 ff., 289 ff. (UnVerhältnismäßigkeit); S. 304 ff. (Adressatenwahl); S. 321 ff. (Verstoß gegen Selbstbindungen). 583 W. Jellinek, Gesetz, S. 244 f., 249. 584 W. Jellinek, Gesetz, S. 244. 585 w. Jellinek, Gesetz, S. 224 f., 138 f., 331 ff. 586 Vgl. die Erklärung bei W. Jellinek, Gesetz, S. 224: Nach Analyse der Inhaltsfehler blieben „nur noch übrig die rechtswidrigen und die tatsächlich unrichtigen Erwägungen. Diese Zweiteilung macht aber sofort Platz einer ganz natürlichen Dreiteilung. Soweit die rechtswidrige Erwägung zu einem rechtswidrigen Inhalt führt, kommt es auf die Erwägungen selbst

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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die Beispiele fehlerhafter Ermessensausübung Fälle der „Machtüberschreitung", die als Rechtsfehler der Ungleichbehandlung, des Übermaßes oder der Gesetzwidrigkeit aufgrund unrichtiger Rechts- und Tatsachenfeststellung behandelt werden müßten. Bei den Ausnahmefällen, die nicht in Rechtsfehler umformuliert werden können, zeigen sich Schwierigkeiten, sie überhaupt rechtlich als fehlerhaft zu begründen. So kann man in der irrigen Annahme rechtlicher Gebundenheit, mit Bühler, 587 den Rechtsfehler der unrichtigen Auslegung der Ermächtigungsnorm erkennen. Die irrige Annahme der rechtlichen Freiheit ist, wie jeder andere Rechtsirrtum bei der Tatbestandsanwendung, regelmäßig schon ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlich begründeten Vorbehalt des Gesetzes bzw., nach W. Jellineks Konstruktion, gegen die in der Ermächtigung bezeichnete Befugnisgrenze. Schwierigkeiten bei der Qualifikation als Rechtsfehler könnte es allerdings in dem von W. Jellinek zitierten Beispiel der Strafzumessung geben. 588 Ein zu weit angenommener Strafrahmen führt zur Festlegung eines Strafmaßes, das zwar noch vom Wortlaut der Ermächtigung gedeckt ist, den nur durchschnittlich schweren Fall aber mit der gesetzlichen Höchststrafe ahndet. Das Problem löst sich, weil die gesetzliche Ermächtigung zur Strafzumessung durch die Interpretation nach dem Zweck und mutmaßlich - auch der Genese der Vorschrift verengt werden kann auf die Bestimmung einer zum Strafzweck geeigneten und nicht übermäßigen Strafe. Der so begrenzte Konkretisierungsspielraum wird im angegebenen, nur durchschnittlich schweren Fall durch die Zumessung der Höchststrafe nicht mehr gewahrt. Die Entscheidung ist also rechtswidrig, selbst wenn keine Strafzumessungsregeln positiviert sind. Ähnlich löst sich ein zweiter von W. Jellinek angeführter Fall rechtsirriger Erwägungen.589 Ein Hufschmied beschlägt Pferde vor seinem Anwesen und gefährdet dadurch den Verkehr auf der Dorfstraße. Die Polizeibehörde untersagt dem Schmied die gewerbliche Nutzung des Straßenraums, da sie irrig annimmt, er könne sonst die in Anspruch genommene Räche ersitzen. W. Jellinek hält die Verfügung wegen ihrer Beeinflussung durch eine unrichtige Rechtsauffassung für ermessensfehlerhaft. Richtigerweise muß zur rechtlichen Beurteilung jedoch differenziert werden. Möglicherweise ist die Untersagung zur Gefahrenabwehr nicht erforderlich, etwa, weil Auflagen oder Beschränkungen angesichts des geringen Verkehrsaufkommens im Dorf als mildere Maßnahmen genügen. Dann ist die Untergar nicht mehr an. Der Polizeibefehl ist dann ganz einfach fehlerhaft wegen rechtswidrigen Inhalts. Ebensowenig Bedeutung haben die tatsächlich unrichtigen Erwägungen neben dem tatsächlich unrichtigen Entscheidungsergebnis selbst.... Wohl aber bewahrt die tatsächlich unrichtige und die rechtswidrige Erwägung ihre Eigenart im Rahmen der Ermessensfrage. Denn die Zweckmäßigkeitserwägung selbst und ihr Endergebnis ist unüberprüfbar." 587 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 170 f., Fn. 270. 588 w. Jellinek, Gesetz, S. 340. 589 w. Jellinek, Gesetz, S. 341 f., nach PrOVGE 2, 395, 397 f.; dazu Bühler, Öffentliche Rechte, S. 210 f.

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sagung schon wegen UnVerhältnismäßigkeit rechtswidrig. Ist sie dagegen zur Gefahrenabwehr erforderlich, ist ihre Fehlerhaftigkeit kaum zu begründen. W. Jellineks Verweis auf den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers ist mangels weiterer Begründung nur eine zirkelschlüssige Leerformel. Positivrechtlich läßt sich eine Grenze nur konstruieren, indem die polizeiliche Generalklausel nach ihrem Sinn und Zweck ausgelegt wird. Diese Auslegung kann feststellen, daß bei Vorliegen einer Gefahr Ermessen nur zur Wahrung von Opportunitätsgesichtspunkten eingeräumt ist. So, wie der Gleichheitssatz eine Ermessensausübung nach Diskriminierungsgesichtspunkten verbietet, wäre danach jede Entscheidung verboten, die auf anderen als Opportunitätskriterien beruht. Weil die Annahme eines Ersitzungsrechts unzutreffend war, fehlt es an einem Opportunitätskriterium im vorliegenden Fall. Wegen Verstoßes gegen den Zweck der Ermächtigung ist die Untersagungsverfügung rechtswidrig. Lehnt man die teleologische Auslegung ab, gibt es keine Norm mehr, die eine rechtliche Fehlerhaftigkeit der Untersagung begründen könnte. Die Entscheidung im Fall des Hufschmieds kann also entweder schlicht als rechtswidrig bezeichnet oder als rechtmäßig anerkannt werden. W. Jellineks dazwischenliegende Einordnung als nur ermessensfehlerhaft läßt sich dagegen nicht aufrechterhalten. Auf dieselben Alternativen lassen sich die übrigen Ermessensfehler zurückführen. Die Berücksichtigung unrichtiger tatsächlicher Gesichtspunkte590 führt regelmäßig zur fehlerhaften Tatbestandsanwendung aufgrund falscher Subsumtionsgrundlage. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann sie auch das Urteil über die Eignung oder Erforderlichkeit einer Maßnahme irreleiten und so die Unverhältnismäßigkeit der Entscheidung begründen. Schließlich kann sie durch Verzerren von Vergleichen auch zur ungerechtfertigten Ungleichbehandlung führen. Außerhalb dieser drei Fallgruppen ist eine rechtliche Relevanz unrichtiger Tatsachenfeststellungen nicht zu erkennen; sie wird insoweit von W. Jellinek auch weder mit Beispielen belegt noch begründet. Die Verfolgung gesetzwidriger Zwecke oder die Nichtberücksichtigung dem Einzelnen günstiger Umstände 591 kennzeichnen Entscheidungen, die entweder schon den Gesetzesvorrang mißachten oder, wie der Mangel an Sorgfalt bei der Abwägung öffentlicher und privater Interessen, auch als unverhältnismäßig umschrieben werden können. Die Grundsatzlosigkeit und die Entscheidung nach unsachlichen Gesichtspunkten592 stellen Verstöße gegen den Gleichheitssatz dar, den W. Jellinek selbst als Rechtsgrenze anerkennt. 593 Die Entscheidung in der irrigen Meinung, nach Belieben verfahren zu können, 594 äußert sich meist in unsachlich-gleichheitswidrigen oder unverhältnismäßigeren Verfügungen. Liegt keiner dieser Fehler vor, ist rechtlich nicht zu begründen, weshalb die Maßnahme fehlerhaft sein soll. 590 w. Jellinek, Gesetz, S. 343 f. 591 W. Jellinek, Gesetz, S. 342 f. 592 w. Jellinek, Gesetz, S. 347 f. 593 w. Jellinek, Gesetz, S. 261. 594 w. Jellinek, Gesetz, S. 340 f.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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Der verbleibende Ermessensfehler mangelnder Folgerichtigkeit 595 überschneidet sich mit dem als Machtüberschreitung bezeichneten Rechtsfehler des Handelns gegen die Selbstbindung. Dessen zweite Alternative, das Abweichen von der Rechtsanwendungspraxis im Einzelfall, hat W. Jellinek schon zutreffend als Gleichheitsverstoß gekennzeichnet, allerdings unter den Ermessensfehlern nochmals als Grundsatzlosigkeit aufgeführt. 596 Der Verstoß gegen die selbstgesetzte Zweckbindung ist als Unterfall der Machtüberschreitung und als Ermessensfehler dagegen doppelt falsch eingeordnet. Er stellt weder einen Ermessensfehler noch einen selbständigen Rechtsfehler dar, sondern muß im Zusammenhang mit der Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gesehen werden. Die Beschränkung auf geeignete und erforderliche Eingriffe kann sich nur auf einen bestimmten Eingriffszweck beziehen. Für die Zweckbindung maßgeblich ist deshalb nicht das Bündel der nach dem Tatbestand zulässigerweise zu verfolgenden Zwecke, sondern die Zweckkonkretisierung, die die Behörde in Anwendung des Ermächtigungstatbestands vornimmt. Die anschließend ausgewählte Rechtsfolge muß zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich sein. Ist sie es nicht, ist die Verfügung wegen UnVerhältnismäßigkeit rechtswidrig, ohne daß es auf ihre Eignung und Erforderlichkeit zu einem der anderen, zulässigerweise zu verfolgenden Zwecke ankäme. Der Rückgriff auf die Selbstbindung der Verwaltung ist überflüssig. Daß der böse Wille allein eine Verfügung nicht fehlerhaft macht, hat W. Jellinek schließlich selbst mit der Feststellung anerkannt, eine rechtmäßige Maßnahme werde nicht dadurch rechtswidrig, daß sie nicht aus lauteren Motiven eingesetzt werde. Er distanziert sich damit von v. Laun, der diese Fälle des Vorwands legitimer Zweckverfolgung auch bei Wahrung der Rechtsgrenzen als Ermessensmißbrauch sanktioniert wissen möchte. Die von W. Jellinek entwickelte Kasuistik fehlerhafter Ermessensausübung läßt sich damit in die Alternativen rechtsfehlerhafter oder rechtlich nicht zu beanstandender Entscheidungen auflösen. Soweit den Ermessensfehlern rechtliche Relevanz zukommt, erweisen sie sich nicht als zweite Fehlerkategorie neben den Rechtsfehlern, sondern nur als zweite Perspektive der Betrachtung ein- und derselben Entscheidungsmängel. Der Gleichheitsverstoß, der sich aus der Perspektive der Ergebniskontrolle als Rechtsfehler sachlich nicht gerechtfertigter Ungleichbehandlung zeigt, kann aus der Verfahrensperspektive als Ermessensfehler des willkürlichen, an unsachlichen Gesichtspunkten orientierten Entscheidens dargestellt werden. Der Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erscheint, vom Ergebnis her gesehen, als Ungeeignetheit oder Übermaß eines Eingriffs. Er läßt sich aber ebenso als Verfahrensmangel unzureichender Abwägung umschreiben. W. Jellineks Kasuistik zeigt außerdem, warum die Verdoppelung der Perspektive in Ergebnis- und Verfahrenskontrolle problematisch ist. Die Kriterien für eine rechtlich relevante Fehlerhaftigkeit des Verfahrens können keine anderen sein als 595 w. Jellinek, Gesetz, S. 349. 596 Ebd.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

die, die auch die Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses begründen - die objektiven Rechtsregeln. Das Ausweichen in die Verfahrensperspektive kann deshalb keine neuen Fehlertatbestände begründen, sondern lenkt nur von den Schwierigkeiten der Fehlerkonstruktion bei der Ergebniskontrolle ab. Gleichzeitig verwischt seine Begründung mit dem Postulat der Optimierung der Entscheidungsfindung die Grenzen rechtlicher und verwaltungswissenschaftlicher Entscheidungsrechtfertigung. Die Verdoppelung der Perspektive ist deshalb nicht nur überflüssig, sondern, vom rechtsdogmatischen Standpunkt aus, auch gefährlich. Gegenüber den früheren Autoren hat sich die Ausgleichsfunktion der Ermessensfehlerlehre bei W. Jellinek aber schon reduziert und verschoben. Früher ersetzten die Ermessensfehlertatbestände Rechtsfehler, die wegen der Beschränkung der Rechtsbindung auf die Bindung an den Ermächtigungswortlaut und wegen der Erklärung unbestimmter Begriffe zur Ermessensermächtigungen noch nicht formuliert oder durchgesetzt werden konnten. Bei W. Jellinek werden Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zwar noch nicht positiv-verfassungsrechtlich abgeleitet, aber doch, wie unbestimmte Begriffe und höherrangige Normen, bereits als Rechtsgrenzen anerkannt. W. Jellinek benötigt die Ermessensfehler deshalb nur noch dazu, Mängel der systematischen Erfassung einzelner Rechtsgrenzen zu kompensieren.

bbb) Die Kompensationsfunktion der Ermessensfehlerlehre Die Kompensation der restriktiven Bestimmung oder unzureichenden Erfassung von Rechtsgrenzen ist ein Merkmal, das allen Ermessensfehlerlehren gemeinsam ist. Bühler hat es für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bereits 1913 festgestellt: Die Ermessensfehlerlehre sei nur ein Ersatz für die zu Unrecht verweigerte Rechtskontrolle. 597 Der Überblick über die einzelnen Lehren von der Ermessensüberschreitung hat diese Feststellung auch für die übrigen Fehlerkonstruktionen bestätigt. Doch gleichzeitig relativiert der dogmengeschichtliche Überblick die negative Tendenz der Aussage. Bühlers Kritik steht auf der Höhe des Erreichten. Sie behandelt die Durchsetzung von Gesetzesvorbehalt, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Gleichheitssatz als bloßes Erkenntnisproblem und berücksichtigt nicht, gegen welche Widerstände, mit welchen methodischen Problemen und in wie kleinen Schritten die Anerkennung der einzelnen Rechtsfehler durchgesetzt werden mußte. Zu Beginn des Spätkonstitutionalismus war die Vorstellung vom gesetzlich kaum begrenzten, originären Ermessen der Verwaltung nahezu ungebrochen. Die rechtsstaatlichen Ansätze der sechziger Jahre waren für die Durchsetzung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes zu sehr auf einen Kompromiß mit der konservativen Regierungs- und Verwaltungsfraktion angewiesen, um über eine enge 597 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 206, 311; vgl. S. 517 (Kompensation unzureichender verfahrensrechtlicher Regelungen)

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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Umschreibung der Rechtsbindung hinausgehen zu können. Die Beschränkung auf die Bindung an den Wortlaut der Ermächtigungsnorm entsprach kluger Rechtspolitik. Die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschende Anerkennung unbestimmter Begriffe als Ermessensermächtigung war von der traditionellen Abgrenzung von Rechts- und Zweckmäßigkeitsfragen geprägt. Sogar liberal-rechtsstaatlich gesonnenen Juristen wie Bähr galt die Unüberprüfbarkeit unbestimmter Begriffe als selbstverständlicher Grundsatz. Die Möglichkeit einer Kontrolle äußerster Begriffsgrenzen wurde nur vorsichtig und als absolute Ausnahme angedeutet. Die Verwaltungsgerichtsgesetze der siebziger und frühen achtziger Jahre schrieben mit ihren Einordnungen der Rechts-, Tat- und Ermessensfragen die in der Lehre entwickelten Abgrenzungen zwar nicht fest, gaben aber auch keine Anstöße zu ihrer Überwindung, v. Sarweys restriktive Bestimmung der Rechtsbindung erschien zu Beginn der achtziger Jahre deshalb nicht als Exponent konservativer Verwaltungsrechtslehre, sondern spiegelte die herrschende Auffassung. Ihr etwas entgegenzusetzen, mußte schwerfallen, solange der Blick auf die verfassungsrechtliche Argumentation durch den Rückzug auf das Rechtsstaatspostulat verstellt blieb. Der grundrechtlich gewährleistete Gleichheitssatz wurde als objektivrechtliche Schranke überhaupt nicht gesehen. Solange der Schluß von der Aufgabe auf die Befugnis nicht diskreditiert war, ließ sich auch gegen die Ableitung weitreichender Eingriffsermächtigungen aus administrativen Aufgabenzuweisungen nichts einwenden. Die Anerkennung des Vorbehalts des Gesetzes in der Form des Rechtssatzvorbehalts half wenig, da zu seiner Ausfüllung auch Gewohnheitsrecht ausreichte, und die Verwaltungsrechtslehre mit der Annahme gewohnheitsrechtlicher Eingriffsermächtigungen großzügig verfuhr. Schließlich war auch die Vorstellung einer geschlossenen, gestuften Rechtsordnung noch zu wenig ausgeprägt, als daß der Vorrang sonstiger Rechtsnormen neben der Prüfung der Ermächtigungsnorm Beachtung gefunden hätte. Unter diesen Umständen erscheint das Ausweichen in die Ermessensfehlerlehre dogmatisch zwar nach wie vor fragwürdig, aber auch als einzig aussichtsreicher Versuch, auf dem Boden der bisherigen Lehre und mit einer Methode, die selbst bei erklärten Positivisten nicht vom Einfluß konstitutioneller Staatslehre befreit war, eine Liberalisierung des Verwaltungsrechts und eine Verbesserung des Rechtsschutzes zu erreichen. Die Konstruktion der Dienstpflichtverletzung erlaubte, die traditionell-restriktive Bestimmung der objektiven Rechtsgrenzen einfach beizubehalten. Unbestimmte Begriffe konnten zunächst weiter als Ermessensermächtigungen verstanden, und Auslegungsfragen auf die Wortlautauslegung reduziert werden. Dennoch war wenigstens eine Kontrolle extremer Fehlentscheidungen möglich. Die Argumentation mit der Dienstpflichtverletzung glich damit zwei Mängel der zeitgenössischen Rechtsfehlerlehre aus, ohne sie zu korrigieren. Ähnlich kompensierte O. Mayers Darstellung der Tatsachenüberprüfung als Ermessenskontrolle nur eine ungerechtfertigte frühere Einschränkung der Rechtskontrolle. Beide Hilfskonstruktionen erledigten sich im gleichen Maß, in dem sich die Anerkennung unbestimmter Begriffe als Rechtsbegriffe durchsetzte.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Die Motivkontrolle des Preußischen Oberverwaltungsgerichts kompensierte ebenfalls eine Unvollständigkeit der Rechtskontrolle. Statt die mit der Heranziehung des § 10 Η 17 PrALR eröffnete Auslegung des Notwendigkeitsbegriffs auszuschöpfen, begnügte sich die Rechtsprechung zunächst mit dem Indiz der Ungeeignetheit der Maßnahme. Anders als die vorher genannten Ansätze, bot die Motivkontrolle aber ein tragfähiges Gerüst für eine Reform der Rechtsfehlerlehre. Mit der Überprüfung der Zweck-Mittel-Relation und den Begriffen der Geeignetheit und Notwendigkeit legte sie den Grundstein für einen neuen Fehlertatbestand, den die Verwaltungsrechtslehre als Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder Übermaßverbot ausarbeiten und schließlich positivrechtlich begründen konnte. Mit der faktischen Durchsetzung der Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff und der Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind die ursprünglichen Anliegen der Ermessensfehlerlehre weitgehend erfüllt. Ihr bleibt nur noch ein kleiner Anwendungsbereich, der sich als Befugnismißbrauch zu sachwidrigen Zwekken umreißen läßt. Regelmäßig handelt es sich dabei um Anwendungsfälle des Verhältnismäßigkeits- oder Gleichheitsgrundsatzes, die nur noch nicht als solche erkannt sind. Daneben verbleiben Fälle legaler Maßnahmen aus sachfremden Motiven, wie die von v. Laun zitierte Pflasterung des Prager „Grabens". Die gegen Ende des Spätkonstitutionalismus herrschende Lehre ist sich jedoch einig, daß der böse Wille allein diese Maßnahmen nicht rechtswidrig macht. Die Ermessensfehlerlehre verdankt ihr Fortbestehen danach den Unsicherheiten in der Abgrenzung zu Verletzungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Gleichheitssatzes. Ihre von W. Jellinek unterstützte Neuformulierung als Lehre vom fehlerhaften Entscheidungsverfahren legt darüber hinaus eine weitere Ausgleichsfunktion nahe. Die Ermessensfehlerlehre des frühen 20. Jahrhunderts dürfte auch als Ersatz für die noch ausstehende Regelung des Verwaltungsverfahrens gedient haben.

ccc) Zusammenfassung Die Lehre von den Ermessensfehlern wird in einer Zeit restriktiver Bestimmung der Verwaltungsrechtsbindung dazu genutzt, ohne Bruch mit der Tradition die als zu eng empfundene verwaltungsgerichtliche Rechtskontrolle auszuweiten und die anerkannten Rechtsfehler durch Konkretisierungen der Ermessensüberschreitung zu ergänzen. Den drei Modellen, der Konstruktion über die Dienstpflichtverletzung, der Motivkontrolle und der Lehre von den Ermessens- als Verfahrensfehlern, gelingt es aber nicht, die Ermessensfehler als eigenständige rechtliche Fehlerkategorie zu begründen. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich die Ermessensfehlertatbestände entweder als Fälle schlichter Rechtswidrigkeit oder als Fälle bloß dienstpflichtwidrigen, im Außenverhältnis rechtmäßigen Handelns. Die Überschneidungen von Ermessens- und Rechtsfehlern werden in der Lehre des beginnenden 20. Jahrhunderts zwar teilweise erkannt, aber nicht vollständig ausgeräumt. Besonders die Formulierung der Ermessensfehler als Verfahrensfehler begünstigt

. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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eine Verdoppelung der Perspektive, die denselben Mangel im einen Fall als Rechtsfehler, im anderen Fall als Ermessensfehler auffaßt. Anders als bei der Lehre vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, gelingt es der herrschenden Auffassung also nicht, die Figur der Ermessensüberschreitung in eine Systematik möglicher Rechtsfehler aufzulösen. Die Ergänzung restriktiv bestimmter oder unzulänglich begriffener Rechtsgrenzen wird mit der Kontinuität des dogmatischen Bruchs erkauft. Die Fehlerlehre bleibt doppelbödig; die Aufgabe der klaren Grenzbestimmung zwischen Rechtsbindung und Ermessen wird nicht gelöst.

3. Die Bilanz der herrschenden spätkonstitutionellen Ermessenslehre Auch nach der Jahrhundertwende bleibt die herrschende Ermessenslehre durch Dualismen gekennzeichnet. Der Ermessensbegriff umfaßt die einander gegenübergestellten Spielarten des gebundenen, richterlichen und des freien Verwaltungsermessens. Im Rahmen des Verwaltungsermessens bezeichnet er entweder den Gegenstand rechtlicher Beschränkung oder den angesichts der Rechtsschranken verbleibenden Spielraum. Dieser Doppeldeutigkeit entspricht eine doppelbödige Fehlerlehre, die neben den Rechtsfehlern eine besondere Kategorie von Ermessensfehlern annimmt, die ebenfalls rechtlich relevant und gerichtlich sanktionierbar sein sollen. Insgesamt haben sich gegenüber der Lehre der achtziger und neunziger Jahre Relativierungen und Modifikationen ergeben; ihre methodischen Grundlagen und ihre Beeinflussung durch die konstitutionelle Staats- und Rechtslehre sind jedoch geblieben. Die Lehre hat zwar den Ermessensbereich der Verwaltung weitgehend einschränken, das Ermessen aber nicht auf einen in sich widerspruchsfreien Begriff bringen können.

a) Die Dualismen

Die Lehre des beginnenden 20. Jahrhunderts unterscheidet weiterhin zwischen gebundenem oder richterlichem und freiem Verwaltungsermessen. 598 Diese Unterscheidung hat zwei Aspekte: einerseits die Abgrenzung rechtlich determinierter von an sich freier, rechtlich nur beschränkter Staatstätigkeit, andererseits die Zuordnung beider Formen zu den Staatsfunktionen der Justiz und Verwaltung. Während die Zuordnung zu den Staatsfunktionen zumindest in Ansätzen relativiert wird, hält die herrschende Lehre am Dualismus von determinierter und freier Staatstätigkeit nahezu unbeirrt fest. 598 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 197, vgl. S. 178 f. zur gebundenen Entscheidung; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 101; v. Laun, Ermessen, S. 24 f., 61, 89 f.; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 2 u. 7; Oertmann, S. 14 ff., 17, 20 ff.; Reger/Dyroff, 4. Aufl., S. 376 ff.; Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 445 ff.; G. Jellinek, Staatslehre, 2. Aufl., S. 598 f., 601 ff.; Thoma, HdbStR, 2. Bd., S. 233 f. m. Fn. 33.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre aa) Die Kontinuität richterlichen

der Gegenüberstellung

von gebundenem

und freiem Verwaltungsermessen

aaa) Der Dualismus gebundener und freier Staatstätigkeit In der Gegenüberstellung rechtlich gebundener und an sich freier, rechtlich nur beschränkter Staatstätigkeit wird die rechtliche Gebundenheit einer Maßnahme weiterhin mit ihrer rechtlich eindeutigen Determiniertheit gleichgesetzt.599 Der Verunsicherung durch die zeitgenössische Auslegungslehre und den Angriffen der Freirechtsbewegung sucht die herrschende Lehre mit dem Verweis auf die Autorität des Gesetzes und der Berufung auf die Empirie zu begegnen, die notfalls einlösen soll, was die Auslegungslehre an Eindeutigkeit der Rechtsanwendung zu wünschen übrig läßt. 600 Angesichts der holzschnittartigen Unterscheidung zwischen Gebundenheit und freiem Ermessen bleibt jedoch in der Lehre ein Unbehagen. Es hat W. Jellinek zur Entwicklung des Drei-Sphären-Modells der Anwendung unbestimmter Begriffe geführt, 601 wird aber auch auf Seiten seiner Gegner vorsichtig artikuliert. So meint Bühler, „Kompromißbestimmungen", die durch Verwendung unbestimmter Begriffe „einerseits der Verwaltung genügend Spielraum lassen wollen, um die Verschiedenheit der Fälle érfassen zu können, andererseits ihr doch gewisse Direktiven mehr oder weniger allgemeiner Art für ihre Entscheidung geben wollen", seien in den Dualismus von freiem Ermessen und gesetzlicher Gebundenheit „nie in absolut unanfechtbarer Weise" einzuordnen. 602 An anderer Stelle unterscheidet er die „unbestimmten" von den „absolut bestimmten" Begriffen 603 und deutet damit, vielleicht unbewußt, die Möglichkeit einer nur graduellen Stufung von Bestimmtheiten an. Die Konsequenzen einer Beschränkung rechtlicher Verwaltungskontrolle auf die Befolgung der „Direktiven" oder die Wahrung des durch die relative Bestimmtheit gezogenen Auslegungsrahmens werden von Bühler jedoch sofort abgewehrt: „Man wird aus diesen Schwierigkeiten nicht den Schluß ziehen können, dass die Aufstellung dieser beiden Kategorien (sc.: der Gebundenheit und des freien Ermessens) und die prinzipielle Formulierung ihres Unterschieds nicht richtig wäre." Sowenig 599 Laband, Staatsrecht, 2. Bd., 5. Aufl., S. 178 f.; O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 101; Hatschek, S. 8 f.; v. Laun, Ermessen, S. 89 f.; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 7; Oertmann, S. 14 ff., 17; W. Jellinek, Gesetz, S. 190 ff.; im Ergebnis auch Bühler, Öffentliche Rechte, S. 21 ff. m. Fn. 37, S. 29, 284 ff. 600

Dazu ausführlich oben B. II. 2. a) cc) ccc) (1). 601 S.o. Β. II. 2. a) cc) bbb). 602

Bühler, Öffentliche Rechte, S. 287; Beispiele für problematische Zuordnungen ebd., S. 280, 284 ff. 603 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 29; auch die Bezeichnung unbestimmter als „dehnbare(r)" Begriffe ebd., S. 27, verweist auf die Vorstellung eines minimalen Bedeutungsgehalts und damit einer relativen Bestimmtheit.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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wie bei der Abgrenzung unbestimmter Begriffe des BGB, etwa der leichten Fahrlässigkeit oder des Verstoßes gegen die guten Sitten, werde sich" „die durchaus flüssige Grenze zwischen freiem Ermessen und gesetzlicher Gebundenheit je absolut zutreffend für alle Fälle feststellen lassen; und dennoch kann auch diese Grenzziehung nicht entbehrt werden." 604 Noch diese abschließende Aussage ist widersprüchlich und zeigt, daß das zugrundeliegende Problem verwischt, aber nicht gelöst wird. Mit dem Bild der „flüssigen" Grenze wird konzediert, daß Kriterien für die sichere Zuordnung fehlen, unter Umständen auch ein Verfließen in Form der Mehrfachzuordnung einzelner Fälle in Betracht kommt. Demgegenüber suggeriert der Begriff des Feststellens der Grenze die Gewißheit einer vorgegebenen, wenn auch nicht leicht erkennbaren Grenzlinie. Das Festhalten an dieser Gewißheit trotz aller zuvor eingestandenen Zweifel wird allein mit der praktischen Unentbehrlichkeit einer eindeutigen Grenze begründet. Im Hintergrund steht die Forderung nach einem umfassenden, effektiven Verwaltungsrechtsschutz, der gegenüber der Verwaltung durch klare Abgrenzung der Kontrollbefugnisse legitimiert sein soll. 6 0 5 Diesem rechtsschutzpolitischen Desiderat wird die weitere methodische Reflexion geopfert. Indem die spätkonstitutionelle Ermessenslehre am Ideal gebundener Rechtsanwendung festhält und gleichzeitig immer bereitwilliger von gebundenen Entscheidungen ausgeht,606 verhilft sie den Justizstaatslehren des 19. Jahrhunderts zu einem späten Sieg. Weil das Problem der Rechtsanwendung nicht zu Ende gedacht wird, kann auch der Dualismus von gebundenem, richterlichen und freiem Verwaltungsermessen nicht aufgelöst und seine Zuordnung zu den Staatsfunktionen nur abgeschwächt, aber nicht überwunden werden.

bbb) Die Zuordnung zu den Staatsfunktionen Die Zuordnung von gebundenem und freiem Ermessen zu den Staatsfunktionen wird im Anschluß an die Arbeiten Labands und O. Mayers insofern relativiert, als richterliches oder gebundenes Ermessen nicht mehr ausschließlich in der Justiz, sondern auch in der Verwaltungstätigkeit vorkommen soll, und andererseits dem Richter in bestimmten Fällen ein freies Ermessen zuerkannt wird. 6 0 7 Zuweilen wird sogar angedeutet, der Gegenüberstellung gebundener und freier Verwaltungstätigkeit liege womöglich kein kategorialer Gegensatz zugrunde, sondern nur eine konventionelle Überhöhung der quantitativen Abstufung gesetzlicher Entschei604 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 287. 605 Vgl. Bühlers Kritik an W. Jellineks Drei-Sphären-Modell (Bühler, Öffentliche Rechte, S. 34 und 40 ff., bes. S. 42). 606 Vgl. ζ. B. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 284 f.; W. Jellinek, Gesetz, S. 38 ff., 71 ff. 607 v. Laun, Ermessen, S. 24 ff.; Oertmann, S. 14 ff., 17; Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 469 f., 492; W. Jellinek, Gesetz, S. 191 ff.; dagegen Bühler, Öffentliche Rechte, S. 26, 33 f., 38 f. 15 Held-Daab

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

dungsspielräume. 608 Auch in der Praxis zeichnet sich eine Konvergenz richterlicher und administrativer Ermessensspielräume bei der Rechtsanwendung ab. Die zahlreichen Generalklauseln des BGB werden in der Lehre als bewußte Erweiterung des richterlichen Ermessensspielraums gesehen.609 Umgekehrt ist der administrative Ermessensspielraum durch die Erklärung der unbestimmten Begriffe zu Rechtsbegriffen, durch die Anerkennung des Eingriffsvorbehalts, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Gleichheitssatzes und der Ermessensfehlerlehre deutlich kleiner geworden. Ansätze, aus dem Gesetzesvorrang eine Bindung der Verwaltung an gesetzliche Zweckkonkretisierungen 610 und gesetzgeberische Zweckvorstellungen 611 herzuleiten, gipfeln in dem Versuch, der Verwaltung das Definitionsmonopol für den Begriff des öffentlichen Interesses zu entziehen, indem dieser Begriff zumindest potentiell zum unbestimmten Rechtsbegriff erklärt wird. 6 1 2 In ihrer Funktion entsprechen die so konstruierten Zweckbindungen der Verwaltung der Bindung des richtlichen Ermessens an den gesetzgeberischen Willen oder den Sinn der Norm. Trotz dieser Entwicklung weigert sich die herrschende Lehre, die hergebrachte, prototypische Zuordnung des freien Ermessens zur Verwaltung und, als Kontrast, die Identifikation des richterlichen Ermessens mit dem gebundenem Ermessen völlig aufzugeben. Selbst diejenigen, die den möglicherweise nur konventionellen Charakter der Unterscheidung von richterlichem und Verwaltungsermessen andeuten, wollen letztlich an einem prinzipiellen Gegensatz festhalten. 613

608 v. Laun, Ermessen, S. 25 ff., 60 f.; Oertmann, S. 16; W. Jellinek, Gesetz, S. 194: „In der Verwaltung tritt das freie Ermessen häufiger auf als in der Justiz und hat meist einen größeren Gegenstand als dort."; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 26 f., Fn. 44, vgl. S. 279 („Abstufungen" des freien Ermessens"). 609 Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 492; W. Jellinek, Gesetz, S. 191 ff.; a.A. Bühler, Öffentliche Rechte, S. 26, Fn. 44 (zu den prozeßleitenden Verfügungen - Bindung an Grundsätze der Prozeßökonomie), S. 33 f., 38 f. (allgemein zu vagen zivilrechtlichen Tatbeständen - es handele sich nur um gebundenes Ermessen, das durch Ermittlung der einschlägigen Verkehrsauffassung auszufüllen sei). 610 G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 201 f.; v. Laun, Ermessen, S. 58 f.; vgl. auch W. Jellinek, Gesetz, S. 33 f., wo das Ermessen als Freiheit auch vom „Gedanken" des Gesetzgebers erklärt wird. 611 v. Laun, Ermessen, S. 47 ff., 55, 58; ders., AöR 34 (1915), 168. Das Postulat der Bindung an gesetzgeberische Zweckvorstellungen darf bei v. Laun allerdings nicht als besonders ermessensfeindliche Konstruktion mißverstanden werden. Es wird zwar als Gebot optimaler Zweckverwirklichung dargestellt, trägt in der Durchführung aber keine weitergehenden Einschränkungen als die, die der bei v. Laun ausgeblendete Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der übrigen Lehre erfüllt (s.o. Β. II. 2. b) bb) aaa) (2) (b)). 612 Zuerst bei Leuthold, Neumann und Tezner (dazu s.o. Β. Π. 2. a) bb) bbb) bei Fn. 263); später bei Bühler, Öffentliche Rechte, S. 429 ff. und bei W. Jellinek, Gesetz, S. 71 f., die auf den Kontext und den Zweck der Norm abstellen; im Ergebnis ebenso Fleiner, 1. Aufl., S. 120, Fn. 1 und 2. Aufl., S. 128, Fn. 2. Selbst v. Laun, der zunächst (Ermessen, S. 62 f., 66 ff.) den Begriff des öffentlichen Interesses noch pauschal zum Ermessenstatbestand erklärt, räumt später (FS Zitelmann, S. 32) die Möglichkeit einer nachprüfbaren Präzisierung ein.

Π. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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Zu diesem Zweck wird das freie Ermessen des Richters als Ausnahmefall oder Systembruch umschrieben 614 und versucht, es interpretati ν auf ein Minimum zu beschränken oder durch Gerechtigkeitspostulate letztlich doch auf ein eindeutiges Ergebnis zu verpflichten. 615 Wie schon im Vormärz, 616 soll das richterliche Ermessen eine verkürzte Auslegungslehre plausibel machen und, als Kontrastfolie, die Eigenart des freien Verwaltungsermessens stärker hervortreten lassen. Nur vereinzelt wird es als Modell genutzt, die Möglichkeit gebundenen Ermessens in der Verwaltung, etwa bei der Ausfüllung vager Begriffe, zu erklären. 617 Hauptsächlich dient es angesichts zunehmender, methodischer Unsicherheit der Selbstvergewisserung derer, die in Abwehr der Freirechtsbewegung mindestens im Kernbereich justizieller Tätigkeit die Vorstellung determinierter Rechtsanwendung nicht aufgeben möchten. 618 Spiegelbildlich zu den Umschreibungen des gebundenen als des typisch richterlichen Ermessens findet sich weiterhin der Satz vom freien Ermessen als notwendigem Attribut der Verwaltung. 619 Mit der gelegentlichen Berufung auf die Unmöglichkeit präziser gesetzlicher Regelung aller Einzelfälle und wechselnden Umstände wird die ursprüngliche Begründung des freien Ermessens aus der vorrechtlichen Natur und den rechtlich nicht vollständig zu erfassenden Zwecken der Staatsgewalt nur überdeckt, aber nicht aufgegeben. 620 Denn sonst hätte die Lehre zugeben müssen, daß der Gewährung richterlichen Ermessens dieselbe Unmöglichkeit vollständiger abstrakter Bestimmung der Einzelfallentscheidung zugrundelag, und hätte keinen qualitativen Unterschied beider Ermessensarten mehr behaupten können. Es ist der unterschwellige Einfluß der vor- und frühkonstitutionellen Staatszwecklehren, der mit der Gegenüberstellung von Rechtswahrung und Gemeinwohlzweck dazu verführt, die Konkretisierungsspielräume bei der Anwendung abstrakter Normen im Fall der richterlichen Tätigkeit pauschal durch den Rückgriff auf den gesetzgeberischen Willen zu leugnen, während vergleichbare Spielräume bei der Verwaltungstätigkeit immer noch, wenn auch immer seltener, als Delegation justizfreier, letztverbindlicher Zwecksetzungs- und Konkretisierungsbefugnis 613 v. Laun, Ermessen, S. 36, 60 f., 89 f.; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 26 f., Fn. 44, S. 33 f., 38 f.; W. Jellinek, Gesetz, S. 189 ff. 614 Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 492. 615 Dazu Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 466 ff. m.w.N., S. 471,493; Oertmann, S. 11 f. - Nur Bühler gesteht in einer Fußnote (S. 26 f., Fn. 44) ausdrücklich ein, der Begriff des freien Ermessens könne auch auf rechtlich nicht präzise bestimmte Justizakte und andere „verwandte Erscheinungen" ausgedehnt werden. Er möchte den Begriff aber weiter für die Verwaltungstätigkeit reservieren, weil die „Weite der für eine Entscheidung in Betracht kommenden Gesichtspunkte" nur der Verwaltung eigentümlich sei. 616 617 618 619 620 15*

Dazu s.o. Α. I. 3. bei Fn. 154 und Α. IV. v. Laun, Ermessen, S. 24 f., 61. Besonders deutlich bei Stier-Somlo, FS Laband, 2. Bd., S. 449,453 f., 465, 506. Oertmann, S'. 20; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 26, Fn. 44. Ausdrücklich bei Oertmann, S. 20 f.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

ausgegeben werden. Soweit die administrative Konkretisierungsbefugnis mittlerweile bei unbestimmten Rechtsbegriffen oder wegen gesetzlicher Zweckkonkretisierungen für ausgeschlossen erklärt und insoweit auch der Rechtsweg eröffnet wird, ist nur die verwaltungsjustizstaatliche Domestizierung der Verwaltungstätigkeit erreicht. Ihr verfassungsgeschichtlich und staatswissenschaftlich begründeter Mehrwert gegenüber der bloßen Rechtsanwendung setzt sich in der Verwaltungsrechtslehre aber weiter fort, solange die vorrechtlich begründeten, materiellen Verwaltungszwecke nicht aus der juristischen Begriffsbildung ausgeklammert werden, 621 und der Begriff des freien Ermessens im Sinne rechtlich nicht legitimierter Staatsgewalt nicht aufgegeben wird. Weil die herrschende Lehre diesen letzten Schritt nicht geht, muß sie den Ermessensbegriff in einem weiteren Sinne doppeldeutig verwenden. Ermessen muß einerseits das Attribut der vorrechtlich-allmächtig gedachten Staatsgewalt bleiben, andererseits das Resultat ihrer Beschränkung durch das konstitutionelle Recht bezeichnen.

bb) Ermessen als Gegenstand rechtlicher Beschränkung oder als Restbereich legalen Entscheidungsspielraums

Unter dem Schlagwort des Gegensatzes von Ermessen und Rechtsbindung führt die Verwaltungsrechtslehre des frühen 20. Jahrhunderts eine doppeldeutige Verwendung des Ermessensbegriffs fort, die erst bei v. Laun 6 2 2 und Kelsen 623 kritisch bewußt gemacht wird. Als Ermessen in einem weiteren Sinn wird, wie schon im 19. Jahrhundert, die administrative Handlungsfreiheit als Gegenstand der rechtlichen Beschränkung bezeichnet. Zugrunde lag dieser Begriffsverwendung ursprünglich, nach der konstitutionellen Lehre vom Recht „nur" als Schranke der Verwaltungstätigkeit, die Vorstellung der umfassend und vorrechtlich gedachten Staatsgewalt, die mit der monarchischen Exekutive identifiziert und durch konsti621 Die Fragwürdigkeit des Rückgriffs auf Zweckelemente und die Beliebigkeit der damit erzielten Ergebnisse veranschaulicht die Sonderbehandlung des gesetzgeberischen und monarchischen Ermessensspielraums. Hier wird das Zweckmoment dazu benutzt, eine rechtspolitisch motivierte Einschränkung des Ermessensbegriffs zu erreichen. Sowohl die Gesetzgebungsakte als auch die sog. Regierungsakte, d. h. die „freien, aber nach höchsten politischen Gesichtspunkten vorzunehmenden Staatsaktionen, wie Kriegserklärung, Reichstagsauflösung usw." (Bühler, Öffentliche Rechte, S. 27, Forts. Fn. 44), sollen wegen der besonderen Vielfalt und des politischen Charakters der zu berücksichtigenden Zwecke aus dem Ermessensbegriff ausgeklammert werden (Bühler, ebd.; vgl. W. Jellinek, Gesetz, S. 190, der von der gesetzlichen auf die rechtliche Ungebundenheit des Gesetzgebers schließt, aber dennoch kein Ermessen annehmen will). Ein Grund für das fortgesetzte Ausklammern von Regierungs- und Gesetzgebungsakten könnte sein, daß die Lehre sonst in die Verlegenheit gekommen wäre, ihre zur Disziplinierung der Verwaltung entwickelte Ermessensfehlerlehre auch auf Gesetzgebungs- und Majestätsakte anwenden zu müssen.

* 2 2 v. Laun, Ermessen, S. 1, 18, 24 ff., 47 ff. ™ Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 503 f., Fn. 1.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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tutionelles Recht nur beschränkt wurde. 624 Mit dem Bemühen um eine positivrechtliche Begründung der Verwaltungsrechtsdogmatik gewinnt daneben aber eine zweite Konkretisierung des weiten Ermessensbegriffs an Boden. Sie stellt auf die Ermessenseinräumung durch eine Norm ab und unterscheidet zwischen der - immer restriktiver bestimmten - Ermessenseinräumung durch die Verwendung unbestimmter Tatbestandsmerkmale und der Ermessenseinräumung durch alternative Rechtsfolgenanordnungen. 625 Dieser normbezogene Ansatz sieht das konstitutionelle Gesetz als Grundlage und Bedingung staatlichen Handelns, jedenfalls soweit es als Ermächtigungsnorm den Vorbehalt des Gesetzes ausfüllt. Unberührt von dieser Konstruktion bleibt dagegen die Möglichkeit „rechtsfreien" Staatshandelns jenseits des Vorbehalts und Vorrangs des Gesetzes. Im Gegensatz zur Handlungsfreiheit, die der Verwaltung als vorrechtlich zugeschrieben oder durch den Normtext abstrakt-generell eröffnet wird, bezeichnet der Begriff des Ermessens in einem engeren Sinn den konkreten Entscheidungsspielraum, der dem Normanwender im Einzelfall nach Berücksichtigung aller einschlägigen Rechtsschranken verbleibt. 626 Diese Begriffsbestimmung ist bereits ganz auf die Reduzierung des Ermessens auf die Rechtsfolgenwahl zugeschnitten. Sie bezieht sich auf Schranken aus dem Vorrang anderer Vorschriften, aus dem rechtsstaatlich oder verfassungsrechtlich hergeleiteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Gleichheitssatz. Obwohl die Möglichkeit einer „Ermessensreduzierung auf Null" noch nicht formuliert wird, ergibt sich aus einzelnen Beispielen doch, daß die Gesamtheit der Rechtsschranken oder der Zweck der Ermächtigungsnorm einzelne, von ihrem Wortlaut noch umfaßte Entscheidungsalternativen ausschließen können. 627 Im Gegensatz zum weiten Begriff des Ermessen als Gegenstand rechtlicher Beschränkung bleibt der Begriff des Ermessens im engeren Sinne, d. h. als Restspielraum legaler Handlungsmöglichkeiten, unscharf. Die Ursache dafür liegt in der Doppelbödigkeit der Fehlerlehre, die im Spätkonstitutionalismus nicht überwunden wird.

624 s.o. B. II. 1. c). 625 W. Jellinek, Gesetz, S. 131 f., 159; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 25 f., 36 ff., Beispiele S. 280 ff.; vgl. schon O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 165 für Verfügungen; im Ansatz auch v. Laun, AöR 34 (1915), 162 ff. mit seiner Unterscheidung von kategorischen und disjunktiven Normen, die aber im folgenden (ebd., S. 168) durch die Berufung auf Zweckbindungen überlagert wird. 626 γ. Laun, Ermessen, S. 18, 47 ff.; W. Jellinek, Gesetz, S. 6 f., 33 ff., 40; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 21 f.; aus der Literatur vor der Jahrhundertwende vgl. O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 84 f., 164 f. und Lemayer, GrünhutsZ 22 (1895), 467. 627 Vgl. ζ. B. v. Laun, Ermessen, S. 88 (Betriebsschließung wegen erheblicher Gesundheitsgefährdung der Arbeitnehmer infolge der Verletzung von Arbeitsschutz Vorschriften); Fleiner, 1. Aufl., S. 118 (Gleichheitssatz als Rechtsschranke der Ermessensausübung). W. Jellinek, Gesetz, S. 117, 331 ff. geht noch einen Schritt weiter und bejaht ein subjektiv-öffentliches Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch.

230

Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre cc) Die Doppelbödigkeit

der Fehlerlehre

Die Fortführung des unaufgelösten Nebeneinanders von Rechts- und Ermessensfehlern 628 beruht teils noch auf einem verkürzten Verständnis der Rechtsbindung, das die verfassungsrechtliche Begründbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder des Willkürverbots aus den Grundrechten der (Landes-)Verfassung nicht realisiert. Teils beruht die Behauptung selbständiger, von den Rechtsfehlern unterschiedener Ermessensfehlertatbestände aber auch auf einer rechtspolitischen Erweiterung des Fehlerkanons, die die als unzureichend empfundene Kontrolle des Entscheidungsergebnisses um eine umfassende Kontrolle der Entscheidungsfindung ergänzt, wohl nicht zuletzt, um damit das Fehlen verwaltungsverfahrensrechtlicher Regelungen zu kompensieren. 629 Die positivrechtliche Begründung dieser selbständigen Ermessensfehler bleibt die herrschende Lehre schuldig. Ihre Unsicherheit zeigt sich in der Argumentation mit dem Begriff der Ermessensüberschreitung, der auf begriffsimmanente Grenzen des Ermessens hindeutet, und in der Beschränkung des Entscheidungsspielraums auf die „pflichtmäßige" Ermessensausübung.630 Damit soll nicht nur die Willkürfreiheit, sondern eine in jeder Hinsicht mangelfreie Entscheidungsfindung gewährleistet werden. Zur positivrechtlichen Begründung einer entsprechenden, einklagbaren Pflicht des Vollzugsorgans kann seit der Anerkennung der Trennung von Außen· und Innenrechtsbindung nicht mehr auf dienstrechtliche Vorschriften zurückgegriffen werden. 631 Auch die Berufung auf den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers632 genügt dazu nicht. Denn der mutmaßliche Wille muß ja gerade vermutet werden, weil die Auslegung der Ermächtigungsnorm keine ausreichenden Anhaltspunkte gibt. Als letzter Grund der selbständigen, von den Rechtsfehlern unterschiedenen Ermessensfehler bleiben verwaltungspolitische Desiderate. 633 Soweit die Forderung nach einem rational-optimierenden, alle öffentlichen und privaten Interessen abwägenden Entscheidungsprozeß nicht aus geltenden Normen begründet werden kann, ist sie eine Frage zweckmäßiger politischer Ausfüllung des Ermessensspielraums, und keine Frage der Rechtsanwendung mehr. Die Doppelbödigkeit der Fehlerlehre verstellt der spätkonstitutionellen Ermessenslehre die Möglichkeit einer konsequenten Abgrenzung von Rechtsbindung und 628 z.B. bei v. Laun, Ermessen, S. 65 f.; G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 131 f., 202; Hatschek, S. 413 f., 474; Fleiner, 1. Aufl., S. 215; W. Jellinek, Gesetz, S. 224 und ders., Verwaltungsrecht, 1. Aufl., S. 293 f. 629 So Bühler, Öffentliche Rechte, S. 517. 630 E. Loening, Verwaltungsrecht, S. 808; G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 131 f., 202; v. Laun, Ermessen, S. 65 f., 175 f.; Fleiner, 1. Aufl., S. 120; W. Jellinek, Gesetz, S. 294. 631 Dazu s.o. B. II. 2. b) bb) aaa) (1). 632 W. Jellinek, Gesetz, S. 167 ff., bes. S. 169,173. 633 So Bühler, Öffentliche Rechte, S. 166 f.: In der Ermessensfehlerlehre sei „zu viel von Gerechtigkeit und zu wenig vom Recht die Rede".

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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Ermessen. Dazu hätten die Ermessensfehler zunächst, soweit möglich, als Verletzung von Rechtsgrenzen nachgewiesen und so in Rechtsfehler bei Gelegenheit der sogenannten Ermessensausübung aufgelöst werden müssen. Die verbleibenden Ermessensfehler hätten nur noch als rechtlich irrelevante Fälle bloß unzweckmäßigen Befugnisgebrauchs eingeordnet werden können. Daß die Lehre diese Konsequenzen nicht zieht, dürfte an der Tendenz zum Verwaltungsjustizstaat liegen, die sich seit der Jahrhundertwende verstärkt. Parallel zur Konsolidierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit werden die subjektiv-öffentlichen Rechte der Bürger im konstitutionellen Staat seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zunehmend anerkannt und ausgeweitet. Ein wichtiger Beitrag ist die zunehmende Anerkennung unbestimmter Rechtsbegriffe, 634 die vor allem im Polizeirecht vom naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt, vom damit allgemein gestiegenen Rationalitätsanspruch und der Überprüfbarkeit kausaler Erklärungen (ζ. B. beim Gefahrbegriff) profitiert. 635 Die Tendenz zunehmender Anerkennung von Individualrechten setzt sich in der Rehabilitierung der Grundrechte als subjektiv-öffentlicher Rechte fort. 6 3 6 Auf einfachrechtlicher Ebene gelingt es 1908 mit dem Reichs Vereinsgesetz, eine abschließende, vergleichsweise restriktive Regelung der polizeilichen Befugnisse im Versammlungsrecht durchzusetzen. 637 Dem Schutz der neu geschaffenen oder anerkannten Individualrechte kommt zugute, daß die Verwaltungsrichter zumindest in den obersten Instanzen ihre richterliche Unabhängigkeit und ihr hohes Prestige dazu nutzen, die Verwaltungskontrolle immer weiter auszudehnen.638 Die Verwaltungsrechtslehre stützt diese Rechtsprechung mit ihrer pragmatischen, wenn auch doppelbödigen Fehlerlehre. Vielleicht kompensiert die Verschärfung justizieller Verwaltungskontrolle das Unvermögen des starren, durch Wahlrechtsverzerrungen und Zweikammersystem beeinträchtigten politischen Systems, die nötigen Verwaltungsreformen und -kontrollen auf parlamentarischem Wege durchzusetzen. 639 Jedenfalls ist die Verwaltungs634 Dazu s.o. Β. II. 2. a) bb). 635 Vgl. PrOVG PrVBl. 19 (1897/98), 342 f. (Nachweis von Salpeter im Trinkwasser; dazu W. Jellinek, Gesetz, S. 287); PrOVG PrVBl. 38 (1916/17), 360; PrOVGE 36, 377, 379 f.; zur Nachprüfbarkeit von Kausalitätsfeststellungen bei der Anwendung des Gefahrenbegriffs Arnstedt, 1. Bd., S. 47; Scholz, VerwArch. 27 (1919), 31, 36 ff. 636 z.B. bei Anschütz, Verfassungsurkunde, 1. Bd., S. 96 ff.; G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 102 f. m. Fn. 2; dazu vgl. D. Grimm, Grundrechtstheorien, S. 261 ff. m.w.N. 637 Reichsvereinsgesetz vom 19. 04. 1908 (RGBl. S. 151); dazu Huber, Dokumente, 3. Bd., S. 17; Tillmann, S. 183 ff.; zur früheren Praxis Funk, S. 170 ff.; vgl. ebd., S. 298 f. zur seit der Jahrhundertwende immer stärker werdenden Kritik an der repressiven Handhabung der Polizeigewalt. 638 s.o. Β. II. 2. b) aa) ccc) und Β. II. 2. b) bb) aaa) (3); zur Entwicklung der Rechtsprechung im Vereins- und Versammlungsrecht vgl. Tillmann, S. 161 ff.; Wichardt, S. 42 ff., 128 ff. 639 Zum Scheitern der Verwaltungsreformen im Kaiserreich und zur Starre der politischen Strukturen vgl. v. Oertzen, S. 292 ff., 344; Süle, S. 45 ff.; A.J. Mayer, S. 154 ff., 165 ff., 174 ff.; Wunder, Geschichte, S. 91 ff.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

rechtslehre gegen Ende des Kaiserreichs gekennzeichnet durch eine sorgfältige Balance liberalen Rechtsschutz- und autoritären Staatsdenkens, für die O. Mayers Verwaltungsrechtslehrbuch beispielhaft ist. 6 4 0 Seine unangefochtene Vorrangstellung unter den Zeitgenossen641 ist möglicherweise nicht nur auf seine griffigen dogmatischen Begriffsbildungen, sondern auch darauf zurückzuführen, daß er dem rechtspolitischen Zeitgeist Rechnung trägt. So wie gegen Ende des Kaiserreiches zwar Liberalisierungen im Rahmen des monarchischen Systems erreicht, die überfälligen Reformen im System selbst aber nicht durchgesetzt werden können, begnügt sich die herrschende spätkonstitutionelle Ermessenslehre mit einer zunehmenden Einschränkung des Ermessensbereichs, ohne die Grundlagen der Lehre in Frage zu stellen. Die immer weiter ausgearbeitete, positivrechtliche Beschränkung des Verwaltungsermessens und ihre Ergänzung durch die Ermessensfehlerlehre lassen die überkommene Methodik unberührt. Erhalten bleibt vor allem das dualistische Rechtsanwendungsmodell, das seinerseits den staatstheoretischen Hintergrund der herrschenden Lehre abbildet.

b) Methodische Grundlagen und staatstheoretischer Hintergrund aa) Die Entfaltung positivrechtlicher Bindungen auf dem Boden des dualistischen Rechtsanwendungsmodells

In ihrer Behandlung des Ermessensproblems, das zunehmend als Frage nach der Bindungsleistung positiver Normen gefaßt wird, hat die Ermessenslehre bis zur Jahrhundertwende die Prägung durch vor- und frühkonstitutionelle Gewaltenteilungsvorstellungen zwar nicht überwunden, aber doch deutlich gemildert. Die Sorge um die Wahrung eines selbständigen Handlungsspielraums der Verwaltung mag als Motiv konservativer Beiträge weiterhin eine Rolle spielen, 642 ist aber als Ansatzpunkt dogmatischer Erörterungen nicht mehr präsentabel. 643 Die Analyse der Ermächtigungsnormen und der Begriffsbedeutung werden nach der Jahrhundertwende zum selbstverständlichen Ausgangspunkt, wenn auch die Auslegungsarbeit regelmäßig nicht zu Ende geführt, sondern durch Verweislehren oder die Frage nach dem quis iudicabit verbindlicher Begriffskonkretisierung verdrängt wird. 6 4 4 Mit der Konkretisierung des Ermessens als Freiraum jenseits der positivrechtlichen Grenzen wird auch die Verengung der Rechts- auf die Gesetzesbindung aufgebro640 Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 99 f. 641 Dazu Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 407; Meyer-Hesemann, Rechtstheorie 13 (1982), 496 ff., je m.w.N. 642 z.B. bei Zorn, VerwArch. 2 (1894), 75 ff., 84 ff., 147; Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 5 ff., 31 f. und Oertmann, S. 20 f. 643 s.o. Β. II. 2. a) aa) bbb). 644 Vgl. Menzinger, BladmPr. 58 (1908), 2 f., 8 ff.; Oertmann, S. 21, 23 f. und ο. Β. Π. 2. a) cc) ccc).

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

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chen. Das Ausdehnen des Ermessensbegriffs auf alle Fälle rechtlich nicht determinierten Staatshandelns, also auch auf Gesetzgebungs- und sogenannte Regierungsakte, gilt nicht mehr als schlechthin ausgeschlossen, wenn es auch regelmäßig unter Berufung auf die Besonderheit der verfolgten Zwecke oder eine Reduzierung der Rechts- auf die Gesetzesbindung abgelehnt wird. 6 4 5 Schließlich durchbricht die Anerkennung eines grundrechtlich begründeten Gesetzesvorbehalts,646 des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 647 und des Gleichheitssatzes648 als Ermessensgrenzen die Isolierung der Verwaltungsrechtsdogmatik vom Verfassungsrecht, die die Lehre seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestimmte. In ihrem Bild der Rechtsanwendung bleibt die spätkonstitutionelle Ermessenslehre den hergebrachten Lehren stärker verhaftet. Unabhängig vom Streit über die Abgrenzung des Ermessensbereichs im einzelnen hält die Verwaltungsrechtslehre auch nach der Jahrhundertwende noch am dualistischen Rechtsanwendungsmodell fest. Sie beharrt weiterhin auf dem kategorialen Gegensatz von „gebundener", d. h. rechtlich determinierter Entscheidung und freier, rechtlich nur beschränkter Ermessensausübung. Das Idealbild des Richters als der viva vox legis wird nur in seinem Bezug zur Gewaltenteilung abgeschwächt. Als methodisches Postulat des durch die Norm eindeutig vorherbestimmten und auffindbaren Rechtsanwendungsergebnisses bleibt es, trotz oder gerade wegen der Anfechtungen von Seiten der Freirechtsbewegung, erhalten. 649 Die Lehre bewahrt sich damit die alte rechtsstaatliche Idealvorstellung der Determiniertheit der Rechtsanwendung. Die Erklärung der unbestimmten Begriffe zu bestimmbaren Rechtsbegriffen und die Beschränkung des Ermessens auf alternative Rechtsfolgenanordnungen liegen in der Konsequenz dieser Grundhaltung. Methodische Zweifel, ob die Auslegungsregeln eine Normkonkretisierung bis zur Determiniertheit im Einzelfall leisten können, werden durch die Verweislehren mit ihrer Bezugnahme auf empirische Feststellungen überspielt. 650 Den Hintergrund dafür bilden die oben bereits erklärten Forderungen nach einem umfassenden, effektiven Verwaltungsrechtsschutz, der gesetzgeberische Unzulänglichkeiten kompensieren soll. 6 5 1 Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die herrschende Lehre, auf dem dualistischen Rechtsanwendungsmodell zu beharren. Hätte sie das Ermessen allein als positivrechtlich begründeten und auslegungsmethodisch begrenzten Rechtsanwendungsspielraum verstanden, hätte sie anerkennen müssen, daß sich die Ausübung

645 w. Jellinek, Gesetz, S. 190; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 27, Forts. Fn. 44. 646 z.B. bei Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 84 f.; Fleiner, 1. Aufl., S. 110; Thoma, HDStR, 2. Bd., S. 228 f. argumentiert dagegen noch aus dem Rechtsstaatsbegriff. 647 Dazu s.o. B. II. 2. b) aa) ccc) (2). 648 Fleiner, Institutionen, 2. Aufl., S. 118; W. Jellinek, Gesetz, S. 294. 649 Dazu s.o. B. II. 2. a) cc) aaa); vgl. auch Bülows Abgrenzung gegen die Freirechtsbewegung in: Das Recht 10 (1906), Sp. 777 f.; dazu Ogorek, Richterkönig, S. 269 ff. 650 Dazu s.o. B. II. 2. a) ccc) (1). 651 s.o. B. II. 2. a) ddd) a.E.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

der Staatsgewalt im Vollzug der konstitutionellen Verfassung und des daraus abgeleiteten Rechts erschöpfte. Dazu war die herrschende Lehre nicht bereit. Sie sah im Recht nach wie vor nur die Schranken, nicht die Grundlagen der Staatstätigkeit. 6 5 2 Auch der Vorbehalt des Gesetzes erschien als Schranke, indem er die Vermutung zugunsten staatlicher Handlungsbefugnis für den Schutzbereich der Freiheitsrechte umkehrte. 653 So bildet die Zwei-Seiten-Lehre G. Jellineks den staatstheoretischen Hintergrund der herrschenden Ermessenslehre. Sie zeichnet das Bild einer die Rechtsordnung transzendierenden Staatsgewalt, die sich selbst in die Schranken des von ihr geschaffenen Rechts zurücknimmt.

bb) Die Lehre von den zwei Seiten des Staates

Die Zwei-Seiten-Lehre G. Jellineks ist ein Versuch, die vorrechtliche Begründung der Staatsgewalt mit der Konstruktion des Staates als juristischer Person zu vermitteln. G. Jellinek nimmt die bereits bei Gerber 654 angelegte und mit der Renaissance der Staatslehre um die Jahrhundertwende 655 populär gewordene Unterscheidung zwischen natürlichem und juristischem Staatsbegriff auf und unterscheidet eine der soziologischen Erkenntnis zugewandte, natürliche Seite des Staates von einer der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis zugewandten, juristischen Seite. 6 5 6 Die erste bezeichnet er mit dem sozialen Begriff des Staates als Verband, die zweite mit dem rechtswissenschaftlichen Begriff des Staates als juristischer Person. Um aus dieser Doppelseitigkeit die Rechtsbindung des Staates erklären zu können, schreibt G. Jellinek das logische Primat dem natürlichen Staatsverband als Träger der Macht oder Staatsgewalt zu. 6 5 7 Die juristische Persönlichkeit des Staates wird erst als Resultat der Selbstunterwerfung dieses Verbandes unter die Rechtsordnung erklärt, die vom Staatsverband geschaffen und anschließend garantiert wird. 6 5 8 Die Rechtsbindung des Staates folgt also aus einer freiwilligen 652

Noch W. Jellinek, Gesetz, S. 1, bezeichnet die Feststellung, die Verwaltung sei mehr als nur Vollziehung, als „Überwindung der Lehre Montesquieus"; ebenso G. Jellinek, Gesetz, S. 67 ff.; aus der früheren Literatur vgl. Stahl, Rechtsphilosophie, 2. Bd., 2. Abt., S. 44 f., 53, 338. 653 Vgl. die Argumentation Anschütz', PrVBl. 22 (1900/01), 84 und Fleiners, 1. Aufl., S. 110. 654 Gerber, Grundzüge, 2. Aufl., S. 1 ff., 9, 216 ff., differenziert zwischen der natürlichen Betrachtung des Staates als Organismus und seiner juristischen Betrachtung als Rechtsperson. Im Gegensatz zu G. Jellinek lehnt Gerber aber das Verständnis der Verfassung nur als Schranke der Staatsgewalt ab; für ihn, wie für Laband (AöR 20 (1906), 304), konstituiert die Verfassung die Staatsgewalt (vgl. W. Pauly, Methodenwandel, S. 150 f.). 655 Vgl. die Nachweise bei Kelsen, Staatsbegriff, S. 132 f. sowie G. Jellinek, Staatslehre, Vorwort zur 1. Aufl. 1898, abgedruckt in der 3. Aufl., S. XVI, und ebd., S. 140 ff. 656 G. Jellinek, Staatslehre, 3. Aufl., S. 174 ff., 182 f. 657 G. Jellinek, Staatslehre, 3. Aufl., S. 168.

II. Die Entwicklung zur herrschenden Ermessenslehre

235

Selbstverpflichtung. Diese Lehre überhöht eine bestimmte verfassungsgeschichtliche Situation, nämlich den Übergang vom Spätabsolutismus zum Konstitutionalismus, aus monarchistischer Perspektive. Im Zentrum steht die ursprünglich allmächtige, monarchische Staatsgewalt, die die Verfassung oktroyiert und ihre Machtausübung durch diese Verfassung und die konstitutionellen Gesetze nur punktuell beschränkt. Allerdings ist die Zwei-Seiten-Lehre nicht auf die Identifikation der Staatsgewalt mit der monarchischen Exekutive festgelegt. Das Modell kann auch auf Staatsgewalt in anderer Trägerschaft bezogen werden. Ebenso ist die Rechtsunterwerfung des Staates nicht nur punktuell, sondern auch umfassend vorstellbar. Diese Möglichkeiten werden von der herrschenden Verwaltungsrechtslehre allerdings nicht wahrgenommen. Ihr Begriff des freien Verwaltungsermessens, der an eine vorrechtliche Legitimation der Verwaltung zur eigenständigen Staatszweckkonkretisierung anknüpft, 659 bleibt weiterhin von konstitutionell-monarchischem Staatsdenken geprägt. Problematisch daran ist nicht erst die politische, monarchistische Tendenz. Fragwürdig ist vielmehr schon die Verquickung von Staatslehre und Verwaltungsrechtsdogmatik. Jenseits des Geltungsbereichs des Vorbehalts des Gesetzes und der einschlägigen gesetzlichen Schranken schafft die herrschende Lehre mit der Vorstellung des ursprünglich freien Verwaltungsermessens ein Reservat faktischer Staatsgewalt, die positivrechtlich nicht begründet und legitimiert werden kann, gleichwohl aber rechtlich verpflichten soll. Das Festhalten am überholten methodischen Postulat der logischen Determiniertheit der Rechtsanwendung einerseits und der fortwirkende Einfluß der konstitutionell-monarchischen Staatsvorstellung andererseits haben in der herrschenden Lehre die überfällige Revision der Ermessensdogmatik verhindert. Dabei verstärken sich die beiden Faktoren gegenseitig. Das Beharren auf dem Ideal determinierter Rechtsanwendung nötigt, wenn auch das rechtlich nicht eindeutig determinierte Verwaltungshandeln begriffen werden soll, zur Vorstellung eines administrativen „Mehr" autonomer Zweckverfolgung, das von der Zwei-Seiten-Lehre als Präsenz einer Staatsgewalt hinter und neben der Rechtsordnung veranschaulicht wird. Umgekehrt leistet die Zwei-Seiten-Lehre der hergebrachten Gegenüberstellung determinierter Rechtsanwendung und freier Zweckverfolgung Vorschub, indem sie Vollzug und Garantie der Rechtsordnung nur als eine unter mehreren Staatsfunktionen darstellt, 660 im Rechtszweck also, wie schon Stahl, nicht den einzigen oder auch nur den höchsten Staatszweck sieht. Die Revision der Ermessenslehre bleibt einem Gegenentwurf vorbehalten, der die methodischen und staatstheoretischen Prämissen der herrschenden Lehre in Frage stellt und mit seinen Ansätzen zur Auflösung der Dualismen den Weg zu eitler in sich geschlossenen Ermessenslehre zeigt. \ 658 G. Jellinek, Staatslehre, 3. Aufl., S. 183; ders., Staatenverbindungen, S. 262 ff., 269. 659 Besonders deutlich bei O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 99 ff.; Oertmann, S. 20 ff.; v. Stengel, VerwArch. 3 (1895), 212; Fleiner, S. 7; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 24 ff., anders W. Jellinek, Gesetz, S. 36, 157 ff. 660 G. Jellinek, Staatslehre, 3. Aufl., S. 263 f.; vgl. S. 174 ff., 250 ff.

236

Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

III. Der positivistische Gegenentwurf Die erste Grundsatzkritik der herrschenden Ermessenslehre unternimmt Kelsen 1911 in seiner Habilitationsschrift, den „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre". 1 Wie bereits Gerber und Laband, erhebt Kelsen den Anspruch systematischer Konstruktion der Staatsrechtsordnung allein aus dem positiven Recht. Anders als seine Vorgänger, sieht Kelsen als Angelpunkt der Konstruktion aber nicht die der juristischen Staatsperson schon vorrechtlich zugeschriebene Staatsgewalt im Sinne der Herrschaftsmacht bzw. des rechtlich überlegenen Willens, sondern den Rechtssatz.2 Dieser wird definiert als hypothetisches Sollensurteil, das unter bestimmten Voraussetzungen eine bestimmte Folge anordnet.3 Der Perspektivwechsel von der Staatsgewalt zum Rechtssatz trägt einer erkenntnistheoretisch begründeten Notwendigkeit Rechnung. Sie ergibt sich aus dem kategorialen Unterschied von Sein und Sollen.4 Normative oder Sollenssätze können nie aus Seinstatsachen begründet werden. Umgekehrt können faktische Aussagen nie auf normative zurückgeführt werden. Das heißt veranschaulicht: Daraus, daß etwas sein soll, folgt nicht, daß es auch ist. Umgekehrt läßt sich daraus, daß etwas ist, nicht ableiten, daß es auch sein soll. Auf die Rechtswissenschaft als Lehre von Normsystemen übertragen, bedeutet dies, daß sie nur normative oder Sollenssätze zum Gegenstand haben kann, nicht jedoch faktische Größen wie ζ. B. reale Handlungen, Willens- oder Machtverhältnisse. Diese sind für die Rechtswissenschaft nur insoweit interessant, als sie vom Normtext als - tatbestandliche - Bedingung der Sollensanordnung oder als in der Rechtsfolge normierter - Sollensinhalt in Bezug genommen werden.5 Das gilt auch für die tatsächlichen Akte der Normsetzung, etwa die parlamentarische Abstimmung über einen Gesetzentwurf. Er ist Gegenstand der Rechtswissenschaft 1

Zitiert wird hier nach der unveränderten, zweiten Auflage von 1923 (vgl. Hauptprobleme, 2. Aufl., Vorrede, S. V). 2 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., Vorrede, S. V I I und S. 255 ff.; ihm folgend Merkl, Verwaltungsrecht, S. 157 ff. 3 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. IX ff., 250, 255; in ZöffR 3 (1922/23), 205 ff., 213 ff. grenzt Kelsen seine Definition der Rechts- als Sollenssätze nochmals von der um die Jahrhundertwende verbreiteten Imperativtheorie ab. In den späteren Werken nennt Kelsen als weiteres Merkmal des Rechtssatzes das des Zwangs oder der zwangsweisen Durchsetzbarkeit (ζ. B. Reine Rechtslehre, S. 34 ff.; anders noch Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 212 ff.). Weil auch diese nur auf einem Rechtssatz beruhen kann - denn sonst handelte es sich um keine andere Gewaltanwendung als die der gern zitierten Räuberbande (vgl. Reine Rechtslehre, S. 48 f.) - , ist die Einführung des zusätzlichen Merkmals überflüssig. Sie führt darüber hinaus zu Widersprüchen, weil das Merkmal der Durchsetzbarkeit dazu nötigt, ein Minimum an Wirksamkeit und damit ein Seinselement als Geltungsvoraussetzung anzunehmen (vgl. Reine Rechtslehre, S. 49 f., 55). 4

Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 7 ff.; ders., Reine Rechtslehre, S. 5 ff. Hierin liegt der Einfluß der neukantianischen Philosophie auf Kelsens Arbeit und die übrigen Vertreter der rechtspositivistischen Wiener Schule; dazu Ewald, Kant-Studien 17 (1912), 396 f.; Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 449 m.w.N. in Fn. 156. 5 Kelsen, ZöffR 3 (1922/23), 213 f.

III. Der positivistische Gegenentwurf

237

nur, soweit die Rechtsordnung dieses Verfahren als Bedingung der Geltung einer Norm, also eines neuen Sollens, statuiert.6 Die Gründung der Rechtswissenschaft ausschließlich auf die Analyse von Rechtssätzen bedeutet für die Staats- und Verwaltungsrechtslehre, daß sie Größen wie eine vor oder außerrechtliche Staatsgewalt nicht mehr in ihre Dogmatik integrieren kann, sondern allein vom Rechtssatz ausgehen muß. Gefragt ist also eine Reformulierung der öffentlich-rechtlichen Lehren auf rechts- bzw. normtheoretischer Grundlage.7 Am freien Verwaltungsermessen im Sinne der herrschenden Lehre muß Kelsen beweisen, wie Verwaltungsrechtswissenschaft ausschließlich als Lehre von Verwaltungsrechtssätzen, Verwaltung ausschließlich als Rechtsfunktion begründet und so der „Rechtsbegriff der Verwaltung" 8 herausgearbeitet werden kann. Er entwirft eine Lehre vom Ermessen als notwendigen, nur graduell abgestuften Konkretisierungsspielraum bei der Normanwendung. Sie wird von Verdroß 9 übernommen und, um die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung ergänzt, 10 später von Merkl in seinem Lehrbuch des Allgemeinen Verwaltungsrechts weiter ausgearbeitet. Die aufeinander aufbauenden Ansätze werden im folgenden zusammenfassend als positivistische Ermessenslehre bezeichnet, da sie erstmals den von Gerber und Laband erhobenen methodischen Anspruch auch für die Ermessenslehre einlösen. Ihnen gelingt es, das dualistische Rechtsanwendungsmodell der herrschenden Lehre zu überwinden und damit die Doppelbödigkeit der Ermessensdogmatik ebenso aufzulösen wie die Widersprüche der Zwei-Seiten-Lehre vom Staat.

1. Das einheitliche Rechtsanwendungsmodell: Ermessen als notwendiger Konkretisierungsspielraum im Stufenbau der Rechtsordnung Die positivistische Ermessenslehre begreift das Ermessen als Problem des Vollzugs der geltenden Rechtsnormen.11 Ermessen soll Spielräume bezeichnen, die der Rechtssatz dem ihn vollziehenden Rechtsanwender eröffnet. 12 Die Spielräume können auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite liegen und „direkt", durch ausdrückliche Einräumung von Entscheidungsalternativen, oder „indirekt", d. h. konkludent, durch unvollständige Determinierung oder eine nur scheinbar präzise Fas6 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 7 f. Die Geltung eines Rechtssatzes wird hier als Äquivalent zur Existenz einer Tatsache erkennbar (vgl. Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 14 f., Reine Rechtslehre, S. 9 ff.). 7 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 511; Merkl, Verwaltungsrecht, S. XI. s Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 491. 9 Verdroß, ZöffR 1 (1914), 621 ff. 10 Dazu s.o. B. III. 2. b).

h Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 503 ff.; Merkl, Verwaltungsrecht, S. 163 ff., 167. 12 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 505 f.

238

Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

sung von Tatbestandsmerkmalen begründet werden. 13 Kelsen und Merkl gehen selbstverständlich davon aus, daß vage Begriffe im Normtext, gleich ob auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite, Ermessen einräumen. 14 Genügen soll, daß „der Wortlaut eines Gesetzes zwar scheinbar eine vollkommene Determinierung ζ. B. des bedingenden Tatbestandes enthält, sich dabei aber eines Begriffes bedient, dessen Inhalt und Umfang gesetzlich nicht festgestellt oder objektiv gar nicht feststellbar sind". 15 Danach kommt es darauf an, ob Bedeutung (Intension) und Anwendungsbereich oder Umfang (Extension) des im Normtext verwendeten Begriffs nach den Auslegungsregeln allgemeinverbindlich definiert bzw. abgegrenzt werden können. Soweit dies nicht der Fall ist, ist der Rechtsanwender zur Begriffskonkretisierung nach eigenem Ermessen, d. h. nach seiner subjektiven Anschauung, befugt. Die Bezugnahme auf Begriffsinhalt und -umfang erinnert an die von Neumann und Tezner in die Diskussion eingeführten Überlegungen zur Konkretisierung unbestimmter Begriffe. 16 Diese Vorarbeiten werden von Kelsen und Merkl aber nicht zitiert oder dem Inhalt nach weiterverfolgt. In Übereinstimmung mit der vom österreichischen Verwaltungsgerichtshof beibehaltenen Praxis verfahren beide bei der Annahme unbestimmter Begriffe sehr großzügig, 17 ohne sich mit der gegenläufigen Tendenz der übrigen Lehre auseinanderzusetzen oder selbst Präzisierungsmöglichkeiten im Sinne einer Eingrenzung des Vagheitsbereichs zu erwägen. Der Grund für diese oberflächliche Behandlung dürfte bei Kelsen darin liegen, daß er nur eine überblicksartige Grundsatzkritik der herrschenden Ermessenslehre zu geben beabsichtigte und sich mit W. Jellineks später veröffentlichtem Drei-Sphären-Modell noch nicht auseinandersetzen mußte. Warum Merkl die ihm mögliche Auseinandersetzung unterließ, kann nur vermutet werden. Die Tatsache, daß die unbestimmten Begriffe in Merkls ausführlichem Stichwortverzeichnis keinen Platz erhalten haben und im Text nur als Unterfall der Ermessenseinräumung dargestellt werden, deutet darauf hin, daß Merkl dem Problem der Begriffskonkretisierung neben dem allgemeinen Problem der Ausfüllung normativer Spielräume keine eigenständige Bedeutung beimaß. Dazu kommt, daß sein Entwurf eines Allgemeinen Verwaltungsrechts auf Einzelauseinandersetzungen grundsätzlich verzichtet und die herrschende Lehre nur en bloc in Bezug nimmt. Die Würdigung der Verdienste der herrschenden Lehre interessiert ihn ebensowenig wie eine Konkretisierung der Ermessenslehre zu einzelnen Detailfragen. Doch was im Rahmen der groß angelegten Abrechnung im Rahmen der „Hauptprobleme" verständlich erscheint, muß im Rahmen eines Lehrbuchs des Allgemeinen Verwaltungsrechts enttäuschen. 13 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 506 (Ermessen bei der „Feststellung des bedingenden Tatbestandes" oder der „Realisierung des bedingten Staatswillens"). 14 Kelsen, ebd.; Merkl, Verwaltungsrecht, S. 140. !5 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 506. 16 Dazu s.o. Β. Π. 2. a) bb) bbb) bei Fn. 269. 17

Kelsen (Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 506) nennt als Beispiele etwa die Begriffe des öffentlichen Interesses, der Unbescholtenheit, der Fabrik und der Eisenbahn, Merkl (Verwaltungsrecht, S. 140, 155) u. a. das Tatbestandsmerkmal der wichtigen Gründe und den Begriff der Staatsgefährlichkeit.

III. Der positivistische Gegenentwurf

239

Weil Ermessen notwendiger Vollzugsspielraum ist, bildet es keinen Gegensatz zur Rechtsanwendung, sondern gehört notwendig dazu. Die Erklärung, die Rechtsordnung könne nicht alle Staatstätigkeit genau bestimmen, entspricht nur scheinbar den ähnlich lautenden Sätzen der herrschenden Lehre. 18 Denn diese bleibt im Gewaltenteilungsdenken befangen und meint, eine abschließende, eindeutige Regelung sei nur im Verwaltungsrecht wegen der besonderen Eigenart und Vielfalt der zu verfolgenden Staatszwecke nicht möglich. Dagegen sehen Kelsen und Merkl die Unmöglichkeit vollständiger rechtlicher Determinierung schon in der Abstraktheit begründet, die jeder Norm eigen ist, und die bei jeder Rechtsanwendung, gleich zu welchem Zweck diese geschieht, ein Ermessen des Anwenders impliziert. Am Beispiel der Anordnung, ein Buch auf den Tisch zu legen 19 oder ein Schriftstück auszufertigen, 20 wird demonstriert, daß kein Rechtssatz die Voraussetzungen und die Art und Weise der Rechtsfolgenverwirklichung so genau bestimmen kann, daß dem Vollzugsorgan kein Entscheidungsspielraum mehr bliebe. 21 „Ermessen ist nichts anderes als die notwendige Differenz zwischen dem Inhalte des abstrakten Staatswillens in der Rechtsordnung und der konkreten Staatshandlung in der... Exekutive." 22 Die Umschreibung des Ermessens begreift auch noch die Ausfüllung der unbestimmtesten Blankettform als schlichten Gesetzesvollzug.23 Diese Zuordnung ist nicht neu. Schon Bernatzik hat sie mit seiner Gleichstellung von Ermessen und Rechtsanwendung vorformuliert, allerdings noch im Glauben, die Identität von Ermessensausübung und Normvollzug nur unter Zuhilfenahme eines disziplinarrechtlichen kategorischen Imperativ erklären zu können, der etwaige Entscheidungsspielräume auf Null reduziert. 24 Erster Vordenker der Identität von Rechtsanwendung und Ermessensgebrauch im positivistischen Sinne ist O. Mayer, der darauf besteht, daß auch das Gebrauchmachen von einer weiten gesetzlichen Ermessensermächtigung noch als Anwendung des Gesetzes zu verstehen sei. 25 Den naheliegenden Vergleich mit dem Gebrauch einer Vollmacht hat Anschütz schon um die 18

Vgl. die Distanzierung bei Merkl, Verwaltungsrecht, S. 166. Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 505. Das Buch kann ζ. B. offen oder geschlossen, nach oben oder unten und an verschiedenen Stellen auf den Tisch gelegt werden. 20 Merkl, Verwaltungsrecht, S. 143. Offen ist ζ. B. die Art der Schrift, die Farbe der Tinte, die Textanordnung und die Gestaltung der Unterschrift. 19

21 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 504; in die gleiche Richtung wies schon Tezners Bemerkung (GrünhutsZ 19 (1892), S. 396), freies Ermessen müsse es immer geben, da menschliches Handeln nicht „maschinenmässig" vorauszubestimmen sei. 22 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 506 f. 23 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 557. 24 S.o. Β. II. 2. a) aa) ccc). 25 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 85 und 2. Aufl., S. 101. Mayer distanziert sich von der positivistischen Ausprägung des Gedankens aber, indem er neben dem Ermessen bei der Rechtsanwendung auch ein ursprüngliches, nicht durch Rechtsnormen eröffnetes Verwaltungsermessen annimmt (Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 84 f., 100).

240

Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Jahrhundertwende gezogen.26 Dieser Vergleich bildet auch den Hintergrund von Kelsens Ausführungen, die es für „Unsinn" erklären, eine Handlung mangels eindeutiger und vollständiger Determiniertheit „nicht mehr als Ausführung zu bezeichnen". Denn „mit jeder Ausführung eines fremden Willens ist eine mehr oder weniger große Ermessensfreiheit notwendig verbunden". 27 Wie bei der Vollmacht, wird so das Vollzugs- als Zurechnungsproblem umformuliert. 28 Die Deutung eines Einzelakts als von der Rechtsordnung „gewollt" geschieht, weil die wesentlichen Merkmale der in der Norm verwendeten Begriffe in ihm bzw. dem ihm zugrundeliegenden Sachverhalt verwirklicht sind. Zugerechnet wird auf dieser Grundlage der Einzelakt im Ganzen, mit all seinen zufälligen, in Ausfüllung des Ermessensspielraums ausgeprägten Merkmalen, wie ja auch das Vertretergeschäft mit all seinen Akzidenzien dem Bevollmächtigenden zugerechnet wird, wenn es sich nur im Rahmen der erteilten Vollmacht hält. 29 Anders als für die herrschende Lehre 30 wird damit nicht die - als unmöglich nachgewiesene - vollständige Determiniertheit eines Aktes, sondern sein Ermächtigtsein durch die Norm zum Kriterium des Vollzugs. Die Umschreibung des Ermessens als Vollzugsproblem zielt aber nicht nur darauf ab, Ermessen als Element jedes Normvollzugs nachzuweisen. Sie schließt darüber hinaus jedes Ermessen außerhalb des Normvollzugs aus. Grundlage dafür bildet die Erkenntnis, daß ein Akt als Staatsakt nur erkannt werden kann, wenn er mindestens auf eine Kompetenznorm zurückzuführen ist. 31 So kann die Kriegserklärung durch den Kaiser, die materiellrechtlich an keinerlei Vorgaben gebunden ist, nur darum als Akt der Exekutivspitze und nicht als Privatakt des Monarchen gedeutet werden, weil eine verfassungsrechtliche Norm dem Kaiser die Kompetenz zur Kriegserklärung zuschreibt. 32 Das Verständnis des Ermessens als eines notwendigen Konkretisierungsspielraums beim Normvollzug führt damit zur Auflösung der die herrschende Lehre prägenden Dualismen. Wie bereits angedeutet, relativiert es zunächst den Gegensatz von gebundener und freier Entscheidung. Auch der kategoriale Gegensatz von richterlichem und Verwaltungsermessen ist angesichts der Erkenntnis des einheitlichen Vollzuges nicht mehr zu halten. Schließlich ist in der positivistischen Konstruktion für die Annahme eines vor- oder außerrechtlich begründeten freien Ermessens der Verwaltung kein Platz mehr. Wenn Staatstätigkeit nur als Normvollzug denkbar ist, müssen Staat und Rechtsordnung identisch sein. 26 Anschütz, PrVBl. 22 (1900/01), 85. 27 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 505. 28 Zum Begriff der Zurechnung vgl. Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 183, 494 f. und 507. 29 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 505. 30

Mit Ausnahme O. Mayers, dazu s.o. Β. II. 1. c) bb) ccc) bei Fn. 106 ff. Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 507; Merkl, Verwaltungsrecht, S. 159 f. 32 Merkl, Verwaltungsrecht, S. 143, S. 164 f., deshalb gegen die Annahme rechtsfreier Majestätsakte; vgl. ο. B. III. 2. b). 31

III. Der positivistische Gegenentwurf

241

2. Die Auflösung der Dualismen a) Die Relativierung der Gegenüberstellung gebundener und freier Akte

Die Erkenntnis, daß jeder Rechtssatz schon wegen seiner Abstraktheit zur Ermessensausübung ermächtigen muß, schwächt die hergebrachte Unterscheidung rechtlich gebundener und rechtlich nur begrenzter Entscheidungen zu einer Skala graduell abgestufter Ermessensspielräume ab. 33 Jeder Vollzugsakt ist durch den Normtext teilweise gebunden, im dadurch vorgegebenen Rahmen aber im übrigen immer der freien Gestaltung durch das Vollzugsorgan überlassen. Die Antithese von rechtlicher Bindung und Freiheit, die bei Laband von der Kompetenzabgrenzung zwischen Justiz- und Verwaltungsfunktion abgelöst und bei O. Mayer zur Abgrenzung zweier Kategorien von Vollzugsakten gebraucht wurde, wird von Kelsen und Merkl als Spannung in jedem einzelnen Vollzugsakt nachgewiesen. An die Stelle der Alternative von rechtlich determinierten Maßnahmen oder Ermessensakten treten „unendlich viele Grade der rechtlichen Bindung und des Ermessens". 34 Im Unterschied zu ähnlichen Abstufungen in der herrschenden Ermessenslehre, sind in der positivistischen Lehre die beiden Extrempositionen vollständig determinierter, „gebundener" Entscheidung und rechtlich völlig ungebundener, „freier" Verfügung aufgegeben. 35 Ein Minimum an Ermessensspielraum liegt in der Notwendigkeit, jede abstrakte Regel, sei sie auch noch so präzise, im Vollzug zu konkretisieren. Das Maximum an Ermessen kann nie so weit gehen, daß die Maßnahme als rechtsfrei erscheint. Denn nur, wenn sie mindestens eine Kompetenzzuweisung ausfüllt, ist sie überhaupt als rechtlich relevanter Akt denkbar. Die Unterscheidung von Gebundenheit und Freiheit wird im kategorialen Sinn deshalb ausschließlich als Unterscheidung der beiden notwendigen Elemente jedes Normvollzugs aufrechterhalten. 36 Immerhin wird der Bezeichnung als „gebundener Entscheidung", wiewohl „logisch nicht ganz einwandfrei", noch ein „konventioneller Sinn" zugestanden. Die Bezeichnung könne zweckmäßig sein, wo eine abstrakte Norm die Vollzugsvorgaben so präzise regelt, daß die Menge der im verbleibenden Ermessensspielraum liegenden Akte, im Licht der übrigen Rechtsregeln gesehen, „nur den nämlichen rechtlich relevanten Inhalt" habe.37

33

Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 507 m. Fn. 1; Merkl, Verwaltungsrecht, S. 143. Merkl, Verwaltungsrecht, S. 143. 3 5 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 507. 3 6 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 503 f., 506 f. m. Fn. 1. 34

37

Merkl, Verwaltungsrecht, S. 143; dort auch die im Absatz aufgeführten Zitate.

16 Held-Daab

242

Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre b) Die Überwindung des Dualismus von gebundenem richterlichen und freiem Verwaltungsermessen

Die Deutung des Ermessens als eines notwendigen, nur graduell abgestuften Konkretisierungsspielraums beim Normvollzug erlaubt keine kategoriale Unterscheidung nach dem Vollzugsorgan mehr. 38 Sie ist auch als Unterscheidung von gebundenem und freiem Ermessen nicht mehr aufrechtzuerhalten. 39 Im Vollzugsbegriff müssen richterliche und administrative Rechtsanwendung gleichgestellt werden; Justiz- und Verwaltungstätigkeit erscheinen als nebeneinander stehende, prinzipiell gleiche Vollzugsfunktionen. 40 Beide sind in gleicher Weise an die anzuwendenden Rechtssätze gebunden. Behauptungen, die Verwaltungstätigkeit sei nie vollständig oder auch nur annähernd ebenso wie die Justiz an rechtliche Regelungen zu binden, entlarvt Merkl zutreffend als „Wertungen an einem rechtsfremden Maßstab, ... rechtspolitische Urteile, die bestenfalls den Wunsch nach einer Lockerung der bestehenden rechtlichen Bindung oder nach einer möglichst losen rechtlichen Bindung neu hinzutretender Verwaltungsaufgaben ... rechtfertigen können". 41 Die Auflösung der Gegenüberstellung von Justiz und Verwaltung durch die Erarbeitung eines einheitlichen Vollzugsbegriffs bedeutet aber nur einen ersten Schritt zur vollständigen Ablösung des Ermessensbegriffs von den Staatsfunktionen. Die mit dem hergebrachten Vollzugsbegriff überlieferte Beschränkung des Ermessens auf den Spielraum bei Einzelakten wird noch bestimmt durch die Identifikation von Rechtssatz und Gesetz, die auch den „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre" noch zugrundeliegt. 42 Das Konzept ändert sich erst, als die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung in die Ermessenslehre integriert wird 4 3 Sie öffnet den Weg zu einer Ausdehnung des Vollzugsbegriffs über die Justiz- und Verwaltungsfunktion hinaus und ermöglicht so die Anerkennung eines gesetzgeberischen Ermessens. Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung 44 beruht auf der Erkenntnis, daß der Rechtssatz nicht mit dem Gesetz zu identifizieren, und die Rechtsordnung nicht als Summe gleichrangiger Normen, sondern als gestuftes System ermächti38 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 506 m. Fn. 2; Merkl, Verwaltungsrecht, S. X I I f. u. S. 160 f. 39 Merkl, Verwaltungsrecht, S. 154 f. 40

Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 504 ff.; ders., Zeitschrift für soziales Recht 1 (1928/29), 80 ff.; Verdroß, ZöffR 1 (1914), 622 ff.; Merkl, Verwaltungsrecht, S. 142 ff., 170. 41 Merkl, Verwaltungsrecht, S. 166. 42 Dazu Kelsen, ZöffR 3 (1922/23), 216 f. « Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., Vorwort, S. XV f.; ders., ZöffR 3 (1922/23), 216 ff., 220 ff. 44

Entwickelt von Merkl, JurBl. 1917, 425 ff.; ders., Das Recht im Spiegel seiner Auslegung, DRiZ 1917, Sp. 394 ff., 443 ff.; ders., FS Kelsen (1931), S. 252 ff.

ΠΙ. Der positivistische Gegenentwurf

243

gender und konkretisierender Rechtssätze zu denken ist. Zur Rechtsordnung werden dabei nicht nur die abstrakten Normen gezählt, zu denen neben den Gesetzen ζ. B. noch Verfassungsnormen und Rechtsverordnungen gehören können, sondern auch die Einzelakte des gerichtlichen oder administrativen Vollzugs, die als „individuelle Normen" bezeichnet werden. 45 Der Stufenzusammenhang zwischen diesen verschiedenen Rechtssätzen wird von der herrschenden Lehre traditionell im Bild der Normenhierarchie veranschaulicht. Merkl erklärt ihn als Ableitungszusammenhang. Indem ein Rechtssatz die Erzeugungsbedingungen für einen anderen Rechtssatz regelt, ermöglicht er Rechtsetzung auf einer niedrigeren Stufe. 46 Der Rangunterschied ergibt sich daraus, daß die in Ausfüllung der Ermächtigung gesetzte Norm nur gilt, wenn sie den Erzeugungsbedingungen entspricht. 47 Das bedeutet nicht, daß die niederrangige Norm fehlerfrei zustandegekommen sein muß. Die Erzeugungsregeln oder die Vorschriften über Rechtsmittel48 können durchaus eine gewisse Fehlertoleranz statuieren. Auch in diesem Fall beruht aber die Geltung der niederrangigen Norm allein darauf, daß sie den positivrechtlich abgesteckten Ermächtigungsrahmen einhält. Die niederrangige Norm kann ihrerseits selbst Rechtssetzung weiter nach „unten" delegieren, bis hin zum letzten Vollzugsakt, der nur natürliche Handlung, aber keine Ermächtigung mehr ist. 49 Die Stufenfolge von der höchsten zur niedrigsten Norm ist idealerweise gleichzeitig eine Abstufung von der abstraktesten zur konkretesten Regelung, da ja - bloße Kompetenzverschiebungen ausgenommen - der auszufüllende Ermächtigungsspielraum immer kleiner wird. Was aus der Perspektive der jeweils höherrangigen Norm als Ermächtigung erscheint, zeigt sich aus der Perspektive der nächstniedrigeren Norm als Rechtsanwendung, verstanden als Konkretisierung in Ausfüllung des Ermächtigungsrahmens.50 Das Problem des Ermessens, zunächst nur für Justiz und Verwaltung ausgearbeitet, kommt also auf jeder Stufe der Rechtsordnung vor, von der Konkretisierung der höchsten, nur ermächtigenden Norm bis hin zur Umsetzung der niedrigsten, konkretesten Ermächtigung in einen Realakt.51 Neben dem Ermessen des Richters und dem des Verwaltungsbeamten ist damit auch das Ermessen des Gesetzgebers, das von der Verfassung begründet und begrenzt wird, sichtbar geworden. 52 Der Ermessensspielraum der drei Staatsfunktionen unterscheidet sich nicht in seiner Struktur, sondern nur im Umfang des positivrechtlich üblicherweise eingeräumten Spielraums. 53 Das Ermessen der Verwaltung liegt dabei regelmäßig 45 Kelsen, ZöffR 5 (1926), 76; vgl. Merkl, FS Kelsen (1921), S. 260 ff. (S. 262: Individualnormen). 46

Merkl, Verwaltungsrecht, S. 142. 47 Merkl, Verwaltungsrecht, S. 171 f.; ders., FS Kelsen (1931), S. 275 f., 280. 48 Z.B. die Regelung der formellen Rechtskraft, dazu Merkl, DRiZ 1917, Sp. 446,450. 4 9 Merkl, Verwaltungsrecht, S. 173. so Merkl, FS Kelsen (1931), S. 282. 51 Merkl, Verwaltungsrecht, S. ΧΠ f. u. S. 142, 162, 171. 52 Merkl, Verwaltungsrecht, S. XIII. 53 Merkl, Verwaltungsrecht, S. 142. 16*

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

in der Mitte zwischen dem des Gesetzgebers und dem des Richters. Die von der herrschenden Lehre verfochtene Verabsolutierung des Verwaltungsermessens kann Merkl deshalb mit der Bemerkung ironisieren, man habe wohl das richterliche Ermessen übersehen, weil es zu klein, und das gesetzgeberische Ermessen nicht zur Kenntnis genommen, weil es zu umfassend sei. 54 Auch das letzte Reservat der gewaltenteilungsbestimmten Zuschreibung des Ermessens zu verschiedenen Staatsfunktionen, die mit der Unterscheidung von Justiz und Verwaltung assoziierte Unterscheidung von gebundenem und freiem Ermessen, kann vor dem positivistischen Begriff des Ermessens als positivrechtlich begründetem und begrenztem Vollzugsspielraum keinen Bestand haben. Die Floskel vom „freien Ermessen" erscheint als Pleonasmus,55 weil die Ausfüllung des von der Rechtsordnung gezogenen Ermächtigungsrahmens rechtlich gerade nicht mehr bestimmt wird. Umgekehrt ist das „gebundene Ermessen" ein Widerspruch in sich, soweit die Bindung Rechtsqualität haben soll. 56 Denn die Rechtsbindung begrenzt das Ermessen nicht etwa nachträglich, sondern schließt eine Ermessenseinräumung von vornherein aus. Das gilt nicht nur, wenn sich die Bindung aus der Ermächtigungsnorm ohne weiteres ablesen läßt, sondern auch, wenn sie erst interpretativ ermittelt werden muß. 57 Ist die angenommene Bindung des Ermessens nicht rechtlich zu begründen, kann der Terminus des gebundenen Ermessens auch keine rechtswissenschaftliche Bedeutung haben. Rechtlich liegt dann schlicht („freies") Ermessen vor, dessen Ausübung durch Regeln der Politik, Moral o.ä. geleitet sein kann. Auf dieser Grundlage kann schließlich auch die doppelbödige Fehlerlehre als letzter Dualismus der herrrschenden Ermessenslehre aufgelöst werden.

c) Die einheitliche Fehlerlehre

Die Fehlerlehre des positivistischen Ansatzes zieht nur noch die Konsequenzen der Umschreibung des Ermessens als konkretisierender Ausfüllung positivrechtlich eröffneter und begrenzter Spielräume. Die Grenzen des Ermessens, d. h. des Konkretisierungsspielraums beim Vollzug einer Norm, werden allein durch die er54

Merkl, Verwaltungsrecht, S. 144 f.; Merkl sieht auch die rechtspolitische Tendenz zur Einschränkung des gesetzgeberischen und Verwaltungsermessens (Ausweitung des Verfassungsrechts und Verrechtlichung der Verwaltungstätigkeit) sowie die umgekehrte Tendenz im Justizbereich (Forderungen der Freirechtsbewegung). Merkl stellt die Freirechtsbewegung als Gegenbewegung zur Rechtsstaatsbewegung im Verwaltungsrecht dar und beurteilt sie mit der Bemerkung, gefordert werde ein Richterkönig mit der Befugnis eines absoluten Monarchen, ebenso kritisch wie die herrschende Lehre. 55 Merkl, Verwaltungsrecht, S. 153. 56 Merkl, Verwaltungsrecht, S. 154. 57 Ebd. Das Problem des Vorrangs anderer Normen wird bei Kelsen und Merkl noch nicht angesprochen; dazu s.o. B. III. 2. c).

III. Der positivistische Gegenentwurf

245

mächtigenden Rechtssätze bestimmt, die sorgfältig und „mit allen erlaubten Mitteln der Interpretation" 58 auszulegen sind. Alle danach verbleibenden Vollzugsalternativen sind „rechtlich gleichwertigO"; 59 dem Rechtsanwender steht die Wahl offen. Da definitionsgemäß die rechtlichen Bindungen schon zur Umgrenzung des Ermessensspielraums ausgeschöpft sind, kann die Wahl nur noch nach rechtlich irrelevanten Gesichtspunkten ausgeübt werden. 60 Dabei etwa auftretende Fehler sind keine Rechtsfehler mehr und können nicht mehr zur Aufhebung eines Aktes wegen Rechtswidrigkeit führen. Soweit die Verwaltungsgerichtsgesetze dennoch die Aufhebung oder Ersetzung von Verwaltungsmaßnahmen wegen solcher Mängel zulassen, handelt es sich nicht um eine Befugnis zur Rechtskontrolle, sondern um eine positivrechtliche Ermächtigung zur Substitution des eigenen Ermessens anstelle des Ermessens des Verwaltungsorgans. 61 Dürftig bleibt die bei Kelsen und Merkl skizzierte Fehlerlehre, soweit sie die Probleme bei der Konkretisierung unbestimmter Begriffe mit dem schlichten Verweis auf alle Mittel der Auslegung überspielt. Gerade Kelsens Bemerkung, es sei gleichgültig, welche Auslegungsregeln herangezogen würden, 62 ist unzutreffend und gefährdet das Anliegen, die Normativität der Rechtsordnung zur Geltung zu bringen. Denn der Regelungsgehalt einer Norm kann verkürzt oder gar unterlaufen werden, wenn nicht alle zulässigen Auslegungsmittel ausgeschöpft sind. Sowohl die Korrektheit der Auslegungsregeln als auch ihre vollständige Berücksichtigung sind daher von entscheidender Bedeutung. Der positivistische Ansatz bedarf deshalb der Ergänzung durch eine Auslegungslehre, die sich auch mit der Eingrenzung des Vagheitsbereichs befassen muß. Nahe läge eine Weiterentwicklung des Drei-Sphären-Modells, das die Auslegung zur Bestimmung des sicher positiven und sicher negativen Anwendbarkeitsurteils heranzieht. Dabei kann das fragwürdig gewordene Konzept deduktiver Ermittlung der Einzelfallentscheidung zugunsten eines Konzepts aufgegeben werden, das die Auslegungsregeln als Standards für die Rechtfertigung oder Falsifizierung der Normanwendung versteht. 63 Der Bereich negativer Gewißheit wäre dadurch gekennzeichnet, daß die Anwendung sich am Maßstab der Auslegungsregeln nicht rechtfertigen ließe, der Bereich positiver Gewißheit dadurch, daß die Ablehnung der Anwendung fehlerhaft wäre. Damit wäre der Vagheitsbereich allerdings nicht auf einen Vertretbarkeitsbereich im Sinne Ules 64 reduziert. Denn der Streit darüber, welche Auslegungsregeln maßgeb58 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 508. 59 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 151. 60 Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 508; Merkl, Verwaltungsrecht, S. 151. 61

Merkl, Verwaltungsrecht, S. 156 f. Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 510 f.: es komme „nicht darauf an, wie, d. h. auf welchem Wege, mit welchen Interpretationsmitteln, der Inhalt der Rechtsnormen aus den Rechtsquellen gewonnen, sondern daß dieser Inhalt prinzipiell nur aus den positiven Gesetzen hergeleitet wird ... "; vgl. a. a. O., S. 510: Methodenfragen seien „von nebensächlicher Bedeutung". 63 Dazu Schlink, Der Staat 19 (1980), 87 ff. 62

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

lieh sind, muß, wie bei jeder Rechtsanwendung, auf der Ebene der Methodenlehre ausgetragen werden. Er kann deshalb nicht dazu führen, den Vagheitsbereich zu vergrößern. In der positivistischen Lehre ebenfalls nur in Grundzügen angelegt ist die Abgrenzung des Ermessensspielraums, wo nach der Auslegung der Ermächtigungsnorm die Wahl zwischen Maßnahmen verschiedenen Regelungsgehalts bleibt. Weil die Rechtsbindung erschöpft sein muß, bevor von Ermessen die Rede sein kann, sind für die Eingrenzung des Ermessens nicht nur die Auslegung der Ermächtigungsnorm, sondern auch die im Stufenbau höher stehenden Vorschriften maßgeblich, soweit sie die Geltung der Ermächtigungsnorm regeln, ebenso andere Normen der Rechtsordnung, aus denen sich eine Pflicht zur Wahl oder zum Ausschluß bestimmter Entscheidungsalternativen ergibt. Als Beispiel aus der heutigen Rechtsordnung wäre für den ersten Fall die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm oder die Bundesrechtskonformität einer landesrechtlichen Vorschrift zu nennen, als Beispiel für den zweiten Fall die Pflicht zur Beachtung der Grundrechte oder des aus diesen abzuleitenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Nur die nach Berücksichtigung des Vorrangs anderer Normen verbleibenden, legalen Alternativen liegen im Ermessen des Rechtsanwenders. Die positivistische Lehre begnügt sich nicht damit, auf einer neuen methodischen Grundlage die Dualismen der herrschenden Ermessensdogmatik aufzulösen. Sie bezieht auch den staatstheoretischen Hintergrund in die Kritik mit ein. Der Zwei-Seiten-Lehre G. Jellineks stellt sie, in konsequenter Fortführung der Lehre vom Stufenbau, die Lehre der rechtlichen Begründung aller Staatsgewalt, die Lehre der Identität von Staat und Recht gegenüber.

3. Die Identität von Staat und Rechtsordnung Sowenig das Ermessen rechtswissenschaftlich begriffen werden kann, wenn es nicht als Produkt der Rechtsordnung, sondern als Attribut einer vorrechtlichen Macht vorgestellt wird, sowenig ist eine vorrechtlich konstitutierte, rechtlich nur zufällig beschränkte Staatsgewalt juristisch zu denken. Diesen Satz begründet die positivistische Lehre auf zwei Wegen. Zum einen argumentiert sie aus dem Stufenbau der Rechtsordnung, der in Verbindung mit der Beschränkung der Rechtswissenschaft auf normative Sätze einen Rekurs auf die Staatsgewalt als Faktum verbietet. Zum anderen führt sie die Zwei-Seiten-Lehre G. Jellineks, die das Recht als Selbstbeschränkung des Staates erklärt, ad absurdum. Wie alle Vollzugsakte, erhalten Ermessensakte Rechtsverbindlichkeit nur, soweit sie auf eine normative Ermächtigung zurückzuführen sind. Weil aus dem bloßen Sein, der bloßen Machtbeziehung, kein Sollen folgen kann, kann kein Akt eines w Ule, GS W. Jellinek, S. 309 ff.

. Der positivistische Gegenentwurf

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Staatsorgans, der nicht durch einen Rechtssatz ermächtigt wäre, normative Kraft erlangen. 65 Der Stufenbau der Rechtsordnung veranschaulicht den Rekurs auf immer abstraktere Ermächtigungen über mehrere Ebenen und macht deutlich, daß die Ermächtigung unter Umständen auch in einer bloßen, global gefaßten, verfassungsrechtlichen Kompetenzzuweisung bestehen kann. 66 Das Erfordernis der rechtlichen Ermächtigung bedeutet also keineswegs einen Totalvorbehalt des Gesetzes, sondern nur einen rechtstheoretisch begründeten Vorbehalt des Rechts. Dieser Vorbehalt zwingt dazu, das Modell des Stufenbaus ausschließlich normativ weiterzudenken. 67 Weil das Modell nicht als Rekurs ad infinitum gedacht werden kann, muß eine höchste Stufe existieren, die nur ermächtigt, aber nicht konkretisiert. Anschaulich gesprochen, begründet sie die Geltung aller von ihr unmittelbar oder mittelbar abzuleitenden Normen. Diese höchste Stufe kann, wie die unteren, keine Seinstatsache aufnehmen, sondern muß selbst ebenfalls eine Norm sein, um die methodisch geforderte normative Geschlossenheit des Systems zu wahren. Die Annahme einer Ursprungs- oder Grundnorm, 68 die die Geltung der Rechtsordnung anordnet, ist damit die logisch zwingende Folge der Unterscheidung von Sein und Sollen. Für eine die Grundnorm transzendierende, der Rechtsordnung vorausliegende Staatsgewalt ist im System kein Raum. Rechtlich kann Staatsgewalt, und damit auch staatliches Ermessen, nur durch die Rechtsordnung konstitutiert und gleichzeitig durch sie begrenzt gedacht werden. Diese normtheoretische Begründung über den Stufenbau der Rechtsordnung wird ergänzt durch eine Widerlegung der Zwei-Seiten-Lehre G. Jellineks.69 Ihrer Vorstellung, der Staat sei ein vorgegebenes Objekt, das mit verschiedenen Methoden von verschiedenen Seiten betrachtet werden könne, hält Kelsen den „fundamentalen erkenntnistheoretischen Grundsatz" entgegen, „daß zwei verschiedene, miteinander unvereinbare Erkenntnisprozesse", wie die normative, juristische, und die kausalwissenschaftliche, soziologische Betrachtung, „zwei ebenso verschiedene und miteinander unvereinbare Gegenstände erzeugen müssen."70 Weil die Erkenntnismethode das Erkenntnisobjekt erst schafft, hängt die Identität des Objekts von der Identität der Methode ab. 71 Kelsen kritisiert deshalb zu Recht, die ZweiSeiten-Lehre behaupte eine Einheit ihres Gegenstandes, die sie nicht nur nicht begreifen könne, sondern geradezu leugnen müsse.72 Kelsen geht aber noch einen 65 Kelsen, Staatsbegriff, S. 133. 66 Vgl. das Beispiel bei Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 501 f. 67 Kelsen, Staatsbegriff, S. 118 ff., 133 ff.; ders. ZöffR 3 (1922/23), 231 ff.; Merkl, Verwaltungsrecht, S. 172 und Vorwort, S. VIII. 68 Dazu ausführlich Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 196 ff. 69 Kelsen, Staatslehre, 1. Aufl., S. 74 ff.; ders., Staatsbegriff, S. 105 f., 114 ff., 202 f., mit ausdrücklicher Distanzierung von der noch in den Hauptproblemen, 2. Aufl., S. 405 ff. vertretenen, an G. Jellineks Lehre angelehnten Auffassung. 70 Kelsen, Staatsbegriff, S. 106,109 f. 71 Kelsen, Staatsbegriff, S. 116. 72 Kelsen, Staatsbegriff, S. 109 f.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Schritt weiter und zeigt, daß der soziologische und der juristische Staatsbegriff der Zwei-Seiten-Lehre voneinander nicht so unabhängig sind, wie G. Jellinek dies darstellt. Denn die sozialen Herrschaftsbeziehungen, die das Substrat des soziologischen Staatsbegriffs bilden, werden erst durch eine Ordnung zum Verband. Daß diese Ordnung nur die Rechtsordnung sein kann, beweist Kelsen damit, daß nur die Begründung in der Rechtsordnung den Staat von anderen sozialen Verbänden unterscheidet.73 G. Jellinek selbst weist an mehreren Stellen auf die Rechtsordnung als notwendiges Merkmal des Staates hin und bestätigt, indem er die Unabgeleitetheit als charakteristisches Merkmal der Staatsgewalt bezeichnet, Kelsens Beweisführung indirekt. Denn Unabgeleitetheit der Staatsgewalt bedeutet nichts anderes als die Unabgeleitetheit des Geltungsanspruchs staatlicher Herrschaftsäußerungen und Anordnungen, und damit den Geltungsgrund der staatlichen Rechtsordnung.74 Dieser aber kann, wie in der normtheoretischen Argumentation deutlich geworden ist, nur in einer Norm, und nicht in einer Seinstatsache begründet sein. Allerdings versucht die Zwei-Seiten-Lehre, den Dualismus von Staatsgewalt und Rechtsordnung dadurch zu erhalten, daß sie der Staatsgewalt das logische Primat einräumt und ihre rechtliche Begründung aus der freiwilligen Selbstunterwerfung erklärt. 75 Diese Vorstellung war aus den Reihen der herrschenden Lehre bereits mit dem Einwand kritisiert worden, wer denn den Staat zur Einhaltung der Selbstverpflichtung zwingen und die „Scheidewand" zwischen Staatsmacht und Recht aufrechterhalten solle. 76 O. Mayer erklärte die Schwierigkeiten für unüberwindlich und Schloß daraus, der Staat könne nie vollständig rechtlich gebunden werden. 77 Kelsen sieht die Widersprüchlichkeit der Selbstverpflichtungslehre ebenfalls, löst sie aber nicht, wie O. Mayer, etatistisch, sondern normativ auf. Die Lehre von der Selbstverpflichtung erscheint ihm als „Scheinproblem" 78 und „Selbstbetrug" 79 der herrschenden Lehre, die in der Identität von Staat und Rechtsordnung aufzuheben ist. Die Vorstellung, der Staat konstitutiere sich erst als Macht und schaffe dann die Rechtsordnung, um sich ihr zu unterwerfen, ist schon im Rahmen der Zwei-SeitenLehre fragwürdig. Denn auch für ihren soziologischen Staatsbegriff hat die Rechtsordnung konstitutive Bedeutung, weil ja der Verband erst durch die Rechtsordnung zum Staat wird. Ein logisches Primat des als reine Macht vorgestellten Staates ist damit nicht zu vereinbaren. 80 Davon abgesehen, ist wegen der Gegensätzlichkeit 73 Kelsen, Staatsbegriff, S. 111 ff. 74 Kelsen, ZöffR 3 (1922/23), 233 f.; ders. Souveränität, S. 14. 75 G. Jellinek, Staatslehre, 2. Aufl., S. 357 ff., vgl. S. 175, 374,463 ff. 76 O. Mayer, FS Laband, 1. Bd., S. 47 ff., S. 56: „(W)er hielte hier die Scheidewand" zwischen dem rechtsetzenden und dem rechtsunterworfenen Staat). 77 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 110; ders., FS Laband, 1. Bd., S. 48, 69; in seiner Verteidigung zieht G. Jellinek, System, 2. Aufl., S. 195 f., sich darauf zurück, die Möglichkeit zur Selbstverpflichtung aus dem sittlichen Charakter der Pflicht zu begründen. 78 Kelsen, Staatsbegriff, S. 203. 79 Kelsen, Staatsbegriff, S. 133.

III. Der positivistische Gegenentwurf

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von Sein und Sollen auch nicht zu erklären, wie der Staat als bloße Macht eine Rechtsordnung, d. h. normative Verpflichtungen, in Geltung setzen soll, ohne selbst rechtlich ermächtigt zu sein. Das Verhältnis von Staat und Recht ist widerspruchsfrei nur als Identitätsverhältnis zu konstruieren: Weil „Recht ... nur aus Recht werden (kann)", kann auch der Staat sich selbst und andere „nur in seiner Eigenschaft als Rechtsordnung", d. h. nur verpflichten, wenn und weil er mit der Rechtsordnung identisch ist. 81 Diese zunächst etwas fremd anmutende Vorstellung wird verständlich, wenn man bedenkt, daß auch die übrigen juristischen Personen erst durch die Rechtsordnung konstituiert werden und keine selbständige Wesenhaftigkeit haben. Eine juristische Person ist nichts anderes als die „aus Gründen der Veranschaulichung vollzogene anthropomorphe Personifikation eines Rechtsnormenkomplexes", der Organe schafft, Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten begründet und so die gedachte Einheit herstellt. 82 Von anderen juristischen Personen, die jeweils nur durch einen Ausschnitt der Rechtsordnung konstituiert werden, unterscheidet sich die juristische Person des Staates dadurch, daß sie die Gesamtrechtsordnung umfaßt. Die Rechtsordnung konstituiert die staatlichen Organe, die die Rechtsetzung und Rechtsanwendung leisten; sie gibt in ihrer Gesamtheit die Bedingungen für ihr Tätigwerden an und ermöglicht, Handlungen einzelner Amtswalter als Staatsakte zu deuten. Der Staat als Personifikation der Rechtsordnung ist der Endpunkt, in dem die Zurechnung aller von den Staatsorganen vorgenommenen Handlungen zusammenläuft. Kelsen versäumt nicht, nach der Methodenkritik auch seine politischen Bedenken gegen die Zwei-Seiten-Lehre vorzutragen. Er widmet dem „(p)olitische(n) Mißbrauch des metarechtlichen Staatsbegriffes" einen eigenen Paragraphen, in dem er das „Doppelspiel" der herrschenden Lehre herausarbeitet. 83 Sie operiere einerseits mit der Legalität, andererseits mit der Staatsraison und nutze den Dualismus vorzugsweise dazu, die rechtlich nicht begründbaren Handlungen einzelner Organe „- etwa des Monarchen - " nicht als Kompetenzüberschreitungen zu erklären, sondern als legale Akte gelten zu lassen.84 Die Vorstellung des Staates als natürlicher, vorrechtlicher und rechtlich nicht vollständig einzubindender Macht 85 enttarnt Kelsen als Grundlage absolutistischer Rechtsauffassung. 86 so Kelsen, Staatsbegriff, S. 118 ff., bes. S. 121. 81 Kelsen, Staatsbegriff, S. 133. 82 Kelsen, Staatsbegriff, S. 134; ähnlich schon Bernatzik, Rechtsprechung, S. 6, 40 ff., der aber noch glaubte, zur Begründung der Identität von Staatshandeln und Rechtsanwendung auf die Hilfskonstruktion eines kategorischen Imperativs ordentlicher Amtsführung zurückgreifen zu müssen (dazu s.o. Β. II. 2. a) aa) ccc)). 83 Kelsen, Staatsbegriff, S. 136 ff. 84 Kelsen, Staatsbegriff, S. 137. 85 O. Mayer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., S. 110. 86 Kelsen, Staatsbegriff, S. 137, vgl. S. 139: „Der Gegensatz von Staat und Recht..., den die Theorie allen inneren Widersprüchen zum Trotz aufrechterhält, ist letzten Endes aus dem Bestreben zu erklären, die positive, konstitutionell-demokratische Verfassung, den sogenannten »Rechtsstaat', im Wege einer Interpretation aus dem Wesen des »Staates4 oder des ,öffent-

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Mit dem Einfluß der konstitutionellen Staatslehre auf die Methode wird auch das letzte Relikt vorkonstitutionell geprägter Ermessenslehre beseitigt, das Ermessen als originäres Attribut einer vorrechtlich begründeten Staatsgewalt. Wie der Staatsbegriff in der Rechtsordnung, geht nun das Verwaltungsermessen ausnahmslos in deren konkretisierendem Vollzug auf.

4. Zusammenfassung Der positivistische Gegenentwurf hat eine in sich stimmige, die Widersprüche der herrschenden Lehre auflösende Ermessenslehre vorgezeichnet. Ermessen erscheint als notwendiger, die Kluft zwischen Abstraktheit und Konkretheit überbrückender Spielraum beim Normvollzug auf jeder Stufe der Rechtsordnung. Seine Struktur ist immer gleich, unabhängig von der Organstellung des Rechtsanwenders oder dem Umfang des eingeräumten Spielraums. Die ausschließlich positivrechtliche Begründung und Begrenzung des Ermessens erlaubt, die Doppeldeutigkeiten des Ermessensbegriffs ebenso aufzuheben wie die Doppelbödigkeit der herrschenden Fehlerlehre. Die Auflösung der Staatsgewalt in die Rechtsordnung befreit die Ermessenslehre von ihren staatstheoretischen und verfassungsgeschichtlichen Reminiszenzen und begründet den ausschließlichen Rechtsanwendungscharakter des Ermessens. Sie erlaubt damit gleichzeitig, die gesamte Verwaltungstätigkeit als Rechtsfunktion zu begreifen. Unschärfen im Detail, wie eine Vernachlässigung des Problems der Konkretisierung vager Begriffe oder das Ausblenden des Vorrangproblems bei der Eingrenzung des Rechtsfolgenermessens, sind systemimmanent zu beheben und begründen keine prinzipiellen Bedenken gegen den Entwurf. Den kritisch gegen die herrschende Lehre gewendeten, positivistischen Anspruch hat die Lehre Kelsens und Merkls damit erfüllt. Indem sie die Folgen des kategorialen Unterschieds zwischen Sein und Sollen für die Rechtswissenschaft bewußt gemacht hat, hat sie darüber hinaus dargetan, daß jede Verwaltungsrechtslehre diesem Anspruch genügen muß.

IV. Die versäumte Auseinandersetzung Der Entwurf einer positivistischen Ermessenslehre hätte für die herrschende Auffassung eine nicht zu übergehende Herausforderung darstellen müssen. In der Fassung der „Hauptprobleme" lag er schon 1911, d. h. vor den Beiträgen W. Jellineks und Bühlers, vor. Verdroß' Aufsatz zum Ermessensproblem und der Freirechtsbewegung erschien 1914.1 Merkls Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, liehen' Rechtes zugunsten des absolutistisch-monarchischen Prinzipes des Polizeistaates zu verdrängen". ι Verdroß, ZöffR 1 (1914), 616 ff.

IV. Die versäumte Auseinandersetzung

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die die positivistische Ermessenslehre abrundete, wurde erstmals 1917 veröffentlicht. 2 Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem positivistischen Ansatz fand in der deutschen Verwaltungsrechtslehre jedoch nicht statt. Die zeitgenössischen Beiträge zur Ermessenslehre rezipieren 3 oder kritisieren 4 den Ansatz allenfalls oberflächlich. W. Jellinek und Bühler setzen sich zwar mit der Kritik des jeweils anderen ausführlich auseinander,5 weichen aber der positivistischen Methodenkritik aus.6 W. Jellinek verzeichnet und verwirft Kelsens Ermessenslehre mit der Behauptung, Kelsen habe das Ermessen fälschlich als notwendige „Fehlerhaftigkeit" der Vollzugsakte, als „eine Art notwendige Abirrung der konkreten Staatshandlung ... von dem Inhalt des abstrakten Staatswillens in der Rechtsordnung"7 erklärt. Er übersieht oder überspielt dabei jedoch, daß Kelsen gerade die dieser Kritik zugrundeliegende Prämisse eines eindeutigen, durch Auslegung oder Rückgriff auf außerrechtliche Gegebenheiten zu ermittelnden Gesetzeswillen widerlegt hat. Bühler entzieht sich der Auseinandersetzung, indem er ein Eingehen auf Kelsens Thesen wegen der grundsätzlichen Verschiedenheit des Ansatzes für untunlich erklärt und die positivistische Herleitung subjektiver Rechte aus dem objektiven Rechtssatz ins Lächerliche zieht.8 Nur Tezner und v. Laun bemühen sich um ein genaueres Verständnis des positivistischen Ansatzes.9 v. Laun meint zwar ebenfalls, eine Kritik an Kelsens Ermessenslehre würde „zu weit führen", 10 stellt sich aber, wie Tezner, zumindest den methodischen Fragen. Beider Bedenken schließen an die Positivismuskritik der Gegner Labands an, indem sie Kelsen das Ausgrenzen geschichtlicher, politischer und soziologischer Merkmale und das Ausblenden der Zwecke aus der juristischen Begriffsbildung als „Einseitigkeit" vorwerfen 11 und die darauf aufbauende Rechtslehre auf „Irrwege(n)" sehen, weil diese „der Vielgestaltigkeit des Rechtslebens in keiner Weise gerecht" werden könne. 12 Insbesondere sei für freies Ermessen und Rechtsfindung in Kelsens Rechtslehre kein Platz: Seine Darstellung, nach der alle 2 Merkl, JurBl. 1917,425 ff.; ders., DRiZ 1917, Sp. 394 ff., 443 ff. 3 Oertmann, S. 7; später Scheuner, VerwArch. 33 (1928), 74 ff. 4

W. Jellinek, Gesetz, S. 166; Bühler, Öffentliche Rechte, S. 17 f.; etwas differenzierter Tezner, AöR 28 (1912), 325 ff.; v. Laun, GrünhutsZ 39 (1912), 312 ff. 5 Bühler, Öffentliche Rechte, S. 40 ff., 158 ff.; W. Jellinek, AöR 32 (1914), 580 ff. 6 Vgl. zu Bühler die Rezension von Weyr, ZöffR 3 (1917), 370 f. 7 W. Jellinek, Gesetz, S. 166 m. Fn. 23. » Bühler, Öffentliche Rechte, S. 17 f.; dagegen nimmt Tezner AöR 28 (1912), 341 f., bei seinem ebenfalls pragmatisch begründeten Beharren auf der tradierten Vorstellung des subjektiven Rechts Kelsens Kritik durchaus ernst. 9 v. Laun, GrünhutsZ 39 (1912), 312 ff.; Tezner, AöR 28 (1912), 325 ff. ίο v. Laun, GrünhutsZ 39 (1912), 334. u Tezner, AöR 28 (1912), 343 f.; v. Laun, Ermessen, S. 324; ebenso O. Mayer, DJZ 1911, Sp. 1284. 12 v. Laun, GrünhutsZ 39 (1912), 324; vgl. ebd., S. 329, wo bemängelt wird, der positivistische Ansatz könne viele Probleme nicht erfassen.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Ermessensakte schon von der Rechtsordnung gewollt seien, müsse als bloße Fiktion abgelehnt werden. 13 Hier werden, wie bei W. Jellinek, der Unterschied von Form und Inhalt, von Ermächtigt- und Determiniertsein eines Vollzugsakts durch das positive Recht verwischt. Nach der Lehre vom Stufenbau sind alle Vollzugsakte von der Rechtsordnung nur insofern „gewollt", als sie rechtlich ermächtigt sind, ohne jedoch inhaltlich vollständig vorausbestimmt sein zu müssen. Einer „Fiktion" bedient sich danach nicht Kelsen, sondern v. Laun, der im Begriff des „Wollens" ein inhaltliches Bestimmen unterstellt. Entgegen seiner Darstellung ist für das Ermessen und die Rechtsfindung in der positivistischen Rechtslehre sehr wohl Platz. Er wird durch die Grenzen des Konkretisierungsspielraum umrissen. Auch seine Ausfüllung wird als konkretisierende Rechtsetzung formal als Rechtsanwendung begriffen. Nur das Problem der inhaltlich optimalen Entscheidung innerhalb des Konkretisierungsspielraums ist für die positivistische Lehre keine Rechtsfrage mehr. Hier liegt der eigentliche Ansatzpunkt des Vorwurfs, die positivistische Lehre könne die Vielfalt der staats- und verwaltungsrechtlichen Probleme nur ungenügend erfassen und nicht angemessen behandeln.14 Inwieweit er berechtigt ist und wozu er verwendet wird, kann für die Ermessenslehre aufgrund der Ergebnisse der bisherigen Untersuchung umrissen werden. Richtig ist, daß die positivistische Ermessenslehre einige bisher in der verwaltungsrechtlichen Literatur behandelte Probleme, wie ζ. B. den Mißbrauch einer Ermessensermächtigung zu sachfremden Zwecken, auf ihren rechtlichen Gehalt reduziert und im übrigen als politische oder verwaltungswissenschaftliche Probleme ausweist. Die Kritik, diese Probleme seien damit nicht angemessen behandelt, zielt, je nach rechtspolitischen Standpunkt, entweder darauf ab, die positivrechtlichen Bindungen nach überpositiven Maßstäben „nachzubessern",15 oder darauf, ebenso überpositiven administrativen Entscheidungsvorbehalten die Autorität rechtswissenschaftlicher Begründung zu verleihen und ihnen damit eine Normativität zuzuschreiben, die sich aus der Auslegung des geltenden Rechts nicht begründen läßt. 16 Die herrschende Lehre wehrt sich dagegen, die Rechtswissenschaft auf die Auslegung und systematische Durchdringung des positiven Rechts zu beschränken17 und die verbindliche Einzelfallkonkretisierung im dadurch gezogenen Rahmen den Rechtsanwendern zu überlassen.

13 v. Laun, GrünhutsZ 39 (1912), 325 f.; ähnlich, aber ungenau, Tezner, AöR 28 (1912), 343 f. 14 O. Mayer, DJZ 1911, Sp. 1284; Tezner, AöR 28 (1912), S. 343 f.; v. Laun, GrünhutsZ 39 (1912), S. 324; zu Laband ebenso Smend, Einfluß, S. 336. ι 5 So ζ. B. W. Jellinek (Gesetz, S. 135 f.), der lieber den gesellschaftlichen Tatsachen als dem Richterspruch Rechtsquellencharakter beilegen will und die Rechtsfehler um eine breite Palette von Ermessensfehlern ergänzt (dazu s.o. Β. II. 2. a) cc) ccc) (1) und Β. II. 2. b) bb) aaa) (3)). 16 So ζ. Β. v. Launs Weigerung, die rechtliche Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Diskriminierungsverbote nachzuvollziehen; dazu s.o. Β. II. 2. b) bb) aaa) (2) (b).

IV. Die versäumte Auseinandersetzung

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Diese Aufgabenbeschränkung der Verwaltungsrechtswissenschaft dürfte aber nicht der einzige und vermutlich auch nicht der wichtigste Grund für die lapidare Ablehnung der positivistischen Lehre in der zeitgenössischen Literatur gewesen sein. Abgesehen von einer gewissen intellektuellen Arroganz der in den „Hauptproblemen" vorgetragen Kritik, mußte vor allem der oberflächliche Umgang mit den vagen Tatbestandsmerkmalen18 Bedenken provozieren. Er drohte zunichte zu machen, was die herrschende Lehre als mühsam errungenen rechtsstaatlichen Fortschritt gerichtlicher Verwaltungskontrolle ansah. Hätte sie die Kelsensche Lehre einer eingehenden Auseinandersetzung gewürdigt, wäre ihr Urteil vermutlich noch negativer ausgefallen als das über W. Jellineks Drei-Sphären-Modell. Schließlich zeigt die Entwicklung der zeitgenössichen Staats- und Methodenlehre, daß die Voraussetzungen für eine Rezeption der positivistischen Ermessenslehre gegen Ende des Kaiserreichs denkbar ungünstig waren. Die dem positivistischen Entwurf zugrundliegende Vorstellung der Identität von Staat und Recht widersprach nicht nur der Lebenserfahrung der Zeitgenossen, für die der Rechtsstaat eine Errungenschaft langwieriger und mühseliger verfassungsgeschichtlicher Entwicklung bedeutete.19 Sie beinhaltete gleichzeitig eine Entmystifizierung des Staates, zu der die Staats- und Verwaltungsrechtslehre des Kaiserreichs noch nicht bereit war. 20 Die Definition des Staates als Inbegriff inhaltlich beliebiger Normen und das Ausklammern aller Staatszweck- und Gemeinwohlkonkretisierungen beraubten den Staat jeder überpositiven Legitimation und ließen den etatistischen Lehren von der vorrechtlichen Staatsgewalt als Zentrum des öffentlichen Rechts keinen Raum mehr. Schon der Positivismus Labandscher Prägung war mit seinem Vergleich des Kaisers mit dem Vorstand einer juristischen Person 21 vielen in der Entzauberung der Staatsgewalt zu weit gegangen.22 Er konnte dennoch die Staats17 Vgl. v. Laun, GrünhutsZ 39 (1912), S. 325, 330: Kelsens Lehre sei brauchbar nur für „die dogmatische Behandlung des geltenden Rechts" in einem „isoliert gedachten, modernen Einheitsstaat", könne aber nicht den Prozeß der Bildung neuer oder der geschichtlichen Überlagerung mehrerer Rechtsordnungen begreifen; in AöR 43 (1922), 165 f., 174 ff., befürwortet v. Laun die Einbeziehung staatswissenschaftlicher Gesichtspunkte in die Staatsrechtslehre. is S.o. B. III. 1. bei Fn. 17. 19 Dazu Stolleis, Geschichte, 2. Bd., S. 453 f. 20

Zur zeitgenössischen Positivismuskritik vgl. v. Oertzen, S. 207 m. Fn. 108; Hueber, S. 146 f.; Korioth, Integrationslehre, S. 87 f.; Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 104 f.; W. Pauly, Methodenwandel, S. 228 ff. und die Nachweise unten bei Fn. 39. Noch Smend, FS Arndt, S. 458 warf dem staatsrechtlichen Positivismus ,,anspruchslose() Technizität" vor. In diesem Beitrag, der die bundesrepublikanische Staatsrechtslehre zur Einbeziehung materialen Staatsdenkens auffordert, zeigt sich, daß vor allem die Entmystifizierung des Staates und der Verzicht auf staatstragende, politisch-weltanschauliche Akzentuierung der Dogmatik Anstoß gaben. 21 Laband, Staatsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 210. 22 Stoerk, S. 55 ff., 69 ff.; Zorn, Staatsrecht, 1. Bd., S. 166, der von Smend (FS Arndt, S. 458) als „Vertreter eines besonders naiven Wilhelminismus" bezeichnet wird; vgl. G. Meyer, Verwaltungsrecht, 1. Bd., 2. Aufl., S. 23, Fn. 1 (gegen den Vergleich der Regierung mit der Geschäftsführung einer juristischen Person); vorsichtiger werden Bedenken aus etati-

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

rechtslehre bis zum Ende des Kaiserreichs prägen, weil das Bedürfnis nach rationaler und systematischer Durchdringung des geltenden Rechts auch von denen geteilt wurde, die die Anlehnung an die „zivilistisch" geprägte, positivistische Methode im öffentlichen Recht als für die Staatsraison gefährlich ansahen.23 Zudem grenzte der Labandsche Positivismus Zweckerwägungen gerade im Verwaltungsrecht nicht vollständig aus 24 und blieb bewußt offen für die Ergänzung der Staatsrechtswissenschaft durch eine Staatslehre, die auch den politischen und sozialen Gesichtspunkten Rechnung trug. Die dadurch gewahrte Grenze der Akzeptanz wurde durch die Radikalisierung der positivistischen Methode bei Kelsen und Merkl überschritten. 25 Daß auch diese Lehre mit dem Buchstaben des monarchischen Staatsrechts vereinbar war, genügte den meisten Zeitgenossen nicht. Sie wollten auch den konstitutionell-monarchischen Hintergrund rechtswissenschaftlich erfaßt haben, vermutlich um so mehr, als das Brüchigwerden dieser Herrschaftsform sich im politischen und gesellschaftlichen Alltag seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer deutlicher abzeichnete.26 Insofern kam die positivistische Ermessenslehre zu früh. Mit gleichem Recht ließe sich sagen, daß sie zu spät kam. Denn sie traf in eine Zeit, in der die Vorrangstellung des staatsrechtlichen Positivismus schon durch das Erstarken abweichender methodischer Ansätze erschüttert wurde. Während Interessenjurisprudenz und Freirechtsschule die Gesetzesbindung des Richters relativierten, indem erstere zur Überbrückung gesetzlicher „Lücken" den Rückgriff auf die Interessenabwägung empfahl, 27 und letztere sogenannte „Kultur-" und moralische Normen an die Stelle des positiven Rechts stellte,28 zeigten sich in der Staatsrechtslehre schon die antipositivistischen Ansätze, die im sogenannten Methodenund Richtungsstreit in der Weimarer Republik zur offenen Opposition aufbrechen sollten.29 So versucht Carl Schmitt in seiner 1912 erschienenen Schrift „Gesetz

stischer Sicht bei O. Mayer, DJZ 1911, Sp. 1284 f.; dems., AöR 1 (1886), 720 ff. und in: FS Laband, 1. Bd., S. 1 ff. geäußert; differenzierte Kritik am Methodenprogramm formuliert Gierke, SchmollersJB 7 (1883), Sp. 1136 ff. 23 Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 100 f. m.w.N.; Hueber, S. 143 f. Schon Brater, BladmPr. 1851, S. 4, hatte die Auffassung vertreten, eine rein rechtswissenschaftliche, politische Gesichtspunkte ausklammernde Verwaltungsrechtslehre sei notwendig, um jede Willkür auszuschließen. 24 S.o. Β. II. 1. c) bb) bbb) bei Fn. 72 ff. 25 Selbst v. Oertzen, der es als einer der ersten unternimmt, den spätkonstitutionellen Positivismus zu rehabilitieren (v. Oertzen, S. 321 ff.), meint (a. a. O. S. 261), die Reine Rechtslehre Kelsens führe in die »Absurdität". 26 v. Oertzen, S. 292 ff., 344; Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 104, je m.w.N. 27 Heck, DJZ 1905, Sp. 1140 ff.; Ellscheid/Hassemer (Hrsg.), S. 1 ff.; dazu Larenz, 6. Aufl., S. 49 ff. 28 Flavius (= H.U. Kantorowicz), S. 14, 20, 44 ff.; Ehrlich, S. 7 ff., 14 ff., 29 ff.; dazu Larenz, 6. Aufl., S. 59 ff. 29 Dazu Korioth, AöR 117 (1992), 212 ff.; Stolleis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, 3. Bd., S. 105 f.; je m.w.N.; sowie Rennert, S. 23 ff.; Heun, Der Staat 28 (1989), 377 ff.;

IV. Die versäumte Auseinandersetzung

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und Urteil", der richterlichen Entscheidung eine nicht durch das positive Recht vermittelte Legitimität zuzuschreiben. Soweit die Einzelfallentscheidung nicht durch die abstrakte Norm bestimmt ist, soll sie ihre Rechtfertigung einerseits aus der Notwendigkeit einer Entscheidung überhaupt, andererseits aus der „Rechtspraxis" erhalten, nämlich daraus, daß ein „anderer Richter", verstanden als ,,de(r) empirischeO Typus des modernen, rechtsgelehrten Juristen", ebenso entschieden hätte. 30 In der Erläuterung dieses Ansatzes geht auch Schmitt einer Auseinandersetzung mit Kelsen aus dem Weg. 31 Er unterstellt Kelsen, dieser könne die gesetzlich nicht determinierte Entscheidung nicht mehr als juristisch legitimiert begreifen, und spart sich eine genaue Untersuchung der Kelsenschen Rechtsanwendungslehre mit der Begründung, die Auslegung durch die Rechtswissenschaft und die durch den Richter seien völlig verschieden. 32 Das eine überzeugt so wenig wie das andere. Wie bereits gezeigt, betont Kelsen gerade, daß auch eine gesetzlich nicht determinierte, von moralischen oder politischen Erwägungen mit beeinflußte Entscheidung rechtlich ermächtigt ist, solange sie den rechtlichen Konkretisierungspielraum nicht verläßt, und damit juristisch begriffen werden kann. 33 Die richterliche und die rechtswissenschaftliche Tätigkeit unterscheiden sich nicht in der Auslegung, sondern nur darin, daß der Richter über die Auslegungsarbeit hinausgehen muß, weil er verpflichtet ist, im dadurch konkretisierten Spielraum seine Entscheidung zu treffen. Schmitts Darstellung der richterlichen Entscheidung behebt also keine Defizite der Konstruktion Kelsens, sondern verzerrt sie nur, um einen juristisch unbegriffenen Rest und damit die Notwendigkeit einer nicht-positivrechtlichen Legitimation richterlicher Entscheidung zu suggerieren. Gleichzeitig wird die Steuerungswirkung der Auslegungslehre durch den Verweis auf die tatsächliche Gerichtspraxis unterlaufen. Dieses Bestreben, auch im öffentlichen Recht die Autonomie des Rechtsanwenders gegenüber dem Gesetz zu stärken, hatte im Kaiserreich eine autoritäre Funktion, die der Tendenz zur Parlamentarisierung entgegenlief. Die herrschende Verwaltungsrechtslehre verfiel, wie bereits an den Verweislehren deutlich wurde, angesichts der methodischen Verunsicherung in eine Art Schreckstarre, die sie nur um so krampfhafter am Postulat vollständig determinierter Rechtsanwendung festhalten ließ. 34 Doch gerade die Weigerung, sich mit der

Friedrich, AöR 102 (1977), 161 ff., der aber (a. a. O., S. 182 m. Fn. 46, S. 200) in die oberflächliche Kritik am „Formalismus" des staatsrechtlichen Positivismus einstimmt, den Hintergrund des Streits um den Gesetzesbegriff ausblendet und (a. a. O., S. 198 f., 202 ff.) die Wirkung der antipositivistischen Lehren überzeichnet (vgl. Korioth, AöR 117 (1992), 243). 30 Schmitt, S. 71. W. Jellinek, AöR 32 (1914), 297 f., versucht, den dezisionistischen Ansatz Schmitts im Sinne der eigenen Verweislehre zu relativieren, muß sich aber (a. a. O., S. 298) doch eingestehen, daß Schmitt der methodischen Disziplinierung wohl gerade ausweichen wollte. 31 Dazu Korioth, AöR 117 (1992), 219 f. 32 Schmitt, S. 56, 61; dagegen schon W. Jellinek, AöR 32 (1914), 298. 33 S.o. Β. ΙΠ. 1.; vgl. auch Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 249 f.

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

positivistischen Lehre auseinanderzusetzen und die erarbeiteten Rechtsbindungen in die Ermessenslehre zu integrieren, beraubte die herrschende Lehre der Möglichkeit, ihre rechtsstaatlichen Errungenschaften methodisch unanfechtbar gegen die Angriffe auf die Gesetzesbindung zu verteidigen. In der Weimarer Republik wurde die versäumte Auseinandersetzung mit der positivistischen Ermessenslehre nicht nachgeholt. 35 Für die Verwaltungsrechtswissenschaft war es eine Zeit der Konsolidierung; der Schwerpunkt öffentlichrechtlicher Auseinandersetzungen lag i m Staatsrecht, anhand dessen auch die Methodendiskussion geführt wurde. 3 6 So fand der Methoden- und Richtungsstreit in der Ermessenslehre keinen weiteren Niederschlag. Die verfassungsrechtlichen Veränderungen bedeuteten für die Lehre kein Problem, da die Grundrechte und der daraus abgeleitete Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Sache nach j a schon in W. Jellineks Habilitationsschrift berücksichtigt worden waren. Für den Begriff des freien Ermessens war es gleich, ob die Staatsgewalt monarchisch oder demokratisch begründet war. Daß die nationalsozialistische Verwaltungsrechtslehre an der richtigen Konstruktion der Abgrenzung von Rechtsbindung und Ermessen kein Interesse hatte, ist einleuchtend. 37 So knüpfte die bundesrepublikanische Lehre nach 1945 wieder

34 Dazu s.o. Β. Π. 2. a) cc) aaa); W. Jellinek, Gesetz, S. 2, zieht ausdrücklich die Parallele zwischen dem Streit um das Verwaltungsermessen und der Auseinandersetzung um die Freirechtsbewegung im Zivilrecht: Beides sei das „Resultat des Angegriffenseins des Dogmas" vom Gegensatz zwischen Justiz und Verwaltung, rechtlicher Gebundenheit und Freiheit. Verdroß, ZöffR 1 (1914), 616 ff., äußert sich zur Ermessensdiskussion im Zusammenhang mit einer Kritik sowohl an der Freirechtsbewegung als auch an der herrschenden, nicht-positivistischen Lehre. 35 Vgl. Plappert, W., Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und das freie Ermessen, 1929; Jöhr, E., Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung des administrativen Ermessens, jur. Diss., Zürich 1931; Scheuner, VerwArch. 33 (1928), 68 ff.; der zunächst (a. a. O., S. 74 ff.) innere Ermessensgrenzen und Ermessensfehler ablehnt, um sie dann (a. a. O., S. 85) doch als Ermessensüberschreitung qua Zweckverfehlung wieder einzuführen und - wie v. Laun - damit die rechtsstaatliche oder grundrechtliche Herleitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu ersetzen (Scheuner, a. a. O., S. 87). Im Gegensatz zur inzwischen herrschenden Auffassung (s.o. Β. II. 1. a) bei Fn. 10) will Scheuner (a. a. O., S. 97 f.) auch die Regierungsakte wieder als besondere Kategorie nur eingeschränkt überprüfbarer politischer Maßnahmen anerkannt wissen. Im Strafrecht ging dagegen die Diskussion um die Präzisierung vager Tatbestandsmerkmale weiter; vgl. z. B. Drost, S. 13 ff.; Grünhut, S. 7 ff. 3 6 Dazu s.o. Fn. 29. 37 Sauer, S. 12, meint, wer den Juristen die über die Gesetzesanwendung hinausgehende, schöpferische Funktion absprechen wolle, zerrütte Recht und Rechtsprechung; vgl. auch Burckhardt, S. 158 ff.; seine systematisch wenig aufbereitete Abhandlung schließt (a. a. O., S. 167) mit der Proklamation der „Unüberprüfbarkeit politischen Denkens und Wirkens", womit die gerichtliche Kontrolle von Ermessensakten weitgehend ausgeschlossen sein soll; dagegen Peters, S. 11. - Drews, 1. Bd., 5. Aufl., S. 6 f., bemüht sich zwar noch, Reste des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu retten und die Grundrechte wenigstens als Auslegungsdirektive zu halten. Er muß aber (a. a. O., S. 12 ff.) auch die nationalsozialistische Uminterpretation der polizeirechtlichen Generalklausel nachzeichnen. Im Abschnitt

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dort an, wo die herrschende spätkonstitutionelle Lehre stehengeblieben war - bei der Ermessenslehre Bühlers und W. Jellineks. 3 8 Den verschütteten positivistischen Alternativentwurf auszugraben, hatte die Lehre u m so weniger Anlaß, als „der" Positivismus in der Nachkriegszeit pauschal für die Wehrlosigkeit der Weimarer Demokratie und die scheinbar legale Machtübernahme der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht wurde. 3 9 Daß dieser Vorwurf nicht gerechtfertigt war, ist inzwischen anerkannt. 40 Auch der Vorwurf der affirmativen, die obrigkeitsstaatliche Ordnung stützenden Tendenz 4 1 ist nach den Ergebnissen dieser Arbeit nicht gerechtfertigt. Wie sich gezeigt hat, wohnt den positivistischen Ermessenslehren eher eine liberale, aufklärerische Tendenz inne, während die Vertreter autoritär-obrigkeitsstaatlicher, monarchistischer Lehren regelmäßig auf der Seite der Nichtpositivisten standen. 42 Als die Pauschalverurteilungen des staatsrechtlichen Positivismus einer differenzierten Einschätzung Platz machten, veranlaßte dies die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft 43 noch immer nicht zu einer Beschäftigung mit der positivistischen Ermessenslehre. 44 Die Diskussion wurde vielmehr in dem durch die spätkonstitutionelle Lehre gezogenen Rahmen fortgeführt und weiterentwickelt. 4 5

über das Ermessen (a. a. O., S. 44) finden sich im Rahmen einer Erörterung des Opportunitätsprinzips noch vorsichtige Äußerungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, aber keine Ausführungen zu Ermessensfehlern. Zur Entwicklung des Polizeirechts im Nationalsozialismus vgl. Hirsch/Majer/Meinck (Hrsg.), S. 317 ff. 38 Vgl. die Gedächtnisschrift für W. Jellinek (1955) mit den Beiträgen von Ule (a. a. O., S. 309 ff.) Bühler (a. a. O., S. 269 ff.) und Bettermann (a. a. O., S. 365 ff.); außerdem H. Loening, DVB1. 1952, 197 ff., 235 ff.; Reuß, DVB1. 1953, 585, 649 ff.; Bachof, JZ 1955, 97 ff. 39 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 352 ff.; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Neudruck 1950, Nachtrag, S. 7; vgl. auch W. Jellineks Anregung in VVdStRL 10 (1951), 73, festzustellen, ob die Bezeichnung als ,^Positivist" eine Beleidigung sei. 40 Walther, KJ 21 (1988), 263 ff.; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1973. 41 So schon Gierke, SchmollersJB 7 (1883), Sp. 1104 f., 1132; ebenso H. Mayer, Krisis, S. 9 ff.; W. Wilhelm, S. 159; v. Oertzen, S. 271, 321. Dagegen meinte C. Schmitt, Hugo Preuß, S. 6 ff., die positivistische Staatsrechtslehre unterminiere die Monarchie. 42 S.o. B. II. 1. c) bb); vgl. Adamovich/Funk, S. 83; zur positivistischen Staatsrechtslehre Korioth, Integrationslehre, S. 88 ff. m.w.N.; Anschütz, Theorien, S. 55 ff. mußte sich dagegen wehren, von Arndt als Vertreter „liberaler" und „demokratischer" Ideen angegriffen zu werden. - Freilich darf daraus keine holzschnittartige Gegenüberstellung liberaler Positivisten und monarchischer Antipositivisten abgeleitet werden. Es gab durchaus auch liberale Antipositivisten (z. B. Tezner, vgl. o. S. 332), allerdings keine Positivisten, deren Arbeiten von Bekenntnissen zur monarchischen Staatsform geprägt gewesen wären. 43 Anders die österreichische Lehre; vgl. Walter, FS Klug, S. 187 ff.; Adamovich/Funk, S. 36 ff., 82 ff.; und Bernhardt, S. 89 ff., der von Merkls Ansatz ausgeht, sich dadurch allerdings nicht gehindert sieht, aus der deutschen Literatur die Ermessensfehlerlehre zu übernehmen (a. a. O., S. 103). 44 Nachweise s.o. Einleitung, Fn. 34. Auch die neue Monographie zum Problem der Billigkeit von Pernice läßt sich in ihrem sehr knappen Abriß der Kelsenschen Ermessenslehre (a. a. O., S. 157 f.) nicht auf eine Auseinandersetzung ein. 17 Held-Daab

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Β. Die Entfaltung der spätkonstitutionellen Ermessenslehre

Selbst Koch, der eine normtheoretische Neubegründung der Ermessenslehre für sich in Anspruch nahm und auch die spätkonstitutionellen Ansätze in seine Auseinandersetzung mit der bisherigen Lehre einbezog,46 ging auf die Vorarbeiten Kelsens und Merkls nicht weiter ein. Kochs Ansatz war denn auch nicht rechtstheoretisch begründet im Sinne einer Untersuchung des Rechts- und Rechtssatzbegriffs und der Grenzen rechtlicher Bestimmbarkeit, sondern argumentierte vielmehr aus der Normstruktur, verstanden als Aufgliederung in Tatbestand und Rechtsfolge. Immerhin mußte sich selbst dieser gemäßigte Entwurf, der von W. Jellineks Drei-Sphären-Modell ausging und für das Rechtsfolgenermessen die Rechtsbindungen des geltenden Verwaltungsrechts durchrechnete, 47 den Vorwurf gefallen lassen, wegen der Vernachlässigung des Zweckmoments auf dem „Holzweg" zu sein. 48 Wenn sich danach auch vermuten läßt, daß eine positivistische Ermessenslehre heute mindestens ebenso unpopulär wäre wie zur Zeit des Kaiserreichs, bleibt doch festzuhalten, daß die heutige Lehre weder die Auseinandersetzung mit diesem Ansatz nachgeholt, noch die Überflüssigkeit der Auseinandersetzung dargetan hat.

45 S.o. Einleitung, bei Fn. 6 ff. 46 Koch, S. 37 ff. 47 Koch, S. 33 ff., 87 ff. 48 So Rupp, FS Zeidler, 1. Bd., S. 468.

C. Zusammenfassung und Ausblick Mit der positivistischen Ermessenslehre steht am Ende der in dieser Arbeit nachgezeichneten dogmengeschichtlichen Entwicklung, wie an ihrem Beginn, eine Negativdefinition des Ermessens. Das Ermessen als Restkompetenz des Landesherrn und das Ermessen als Restspielraum bei der Konkretisierung positivrechtlicher Normen bezeichnen den Anfangs- und Endpunkt der Entwicklung. Die zwischenzeitliche Verabsolutierung des Verwaltungsermessens zum Ausfluß vorrechtlicher Souveränität des Monarchen oder des Staates und die Dualismen der im Spätkonstitutionalismus herrschenden Lehre bilden die Durchgangsstadien. Mit der Abspaltung des richterlichen Ermessens und der damit verbundenen Abkopplung der Ermessens- von der Auslegungslehre, mit der Gegenüberstellung von gebundenem und freiem Verwaltungsermessen, dem doppeldeutigen Verständnis des Ermessens einerseits als Gegenstand, andererseits als Resultat positivrechtlicher Beschränkung sowie der damit korrespondierenden, doppelbödigen Fehlerlehre bilden sie das konstitutionelle staats- und rechtsschutzpolitische Vorverständnis ab und können daher der Weiterentwicklung der Methodenlehre nur unvollständig Rechnung tragen. Das Verdienst der im Spätkonstitutionalismus herrschenden, in Dualismen befangenen Ermessenslehre bleibt es, die monarchische Exekutive im rechtsstaatlichen Sinne1 domestiziert zu haben, indem sie die positivrechtliche Bindung der Verwaltungstätigkeit ausdifferenzierte und auf der Grundlage der im 19. Jahrhundert entwickelten rechtsstaatlichen Postulate ergänzte. Gerade weil dies unter der Oberfläche verfassungsrechtlicher Stagnation und gegen z.T. erhebliche Widerstände in der eher konservativ-monarchisch orientierten und methodischen Reflexionen gegenüber wenig aufgeschlossenen Verwaltungsrechtslehre geschehen mußte, darf das Verdienst der herrschenden Lehre nicht unterschätzt werden. Wie weit die Ermessenslehre auf der Grundlage einer noch von konstitutioneller Staatsund Rechtslehre geprägten Methode entwickelt werden konnte, zeigen die Beiträge W. Jellineks und Bühlers. In ihnen wird aber auch das Dilemma der herrschenden Lehre deutlich, auf der Grundlage der alten Methode wohl den Ermessensbereich einschränken, aber nicht die Dualismen und Widersprüche der Konstruktion überwinden zu können. 1

Hier gebraucht im rechtspolitischen Sinn der konstitutionellen Rechtsstaatslehren, nicht im Sinne der positivistischen Lehre, die die Identität von Staat und Recht polemisch dadurch veranschaulicht, daß sie jeden Staat zum Rechtsstaat erklärt (vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 314 ff.). 17*

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C. Zusammenfassung und Ausblick

Ihre Auflösung blieb dem positivistischen Ansatz Kelsens und Merkls vorbehalten. Er zeigt, daß die widerspruchsfreie Konstruktion der Ermessenslehre davon abhängt, die juristische Betrachtung auf die Rechtsordnung als Gesamtheit von Normen zu konzentrieren und den Einfluß der konstitutionellen Staatslehre auf die rechtswissenschaftliche Methode zu beseitigen. Indem Ermessen ausschließlich als Problem der Normkonkretisierung begriffen wird, kann der offene oder verdeckte Rückgriff auf überpositive, staatstheoretisch geprägte Kompetenzzuschreibungen aufgegeben und das Erschöpfen der Auslegung im Stufenbau der Rechtsordnung als einziges Mittel erkannt werden, die Grenzen rechtlicher Determinierung und damit den Umfang des verbleibenden Ermessens zu bestimmen. Daß die Auslegung abstrakter Normen keine eindeutige Programmierung der konkreten Einzelfallentscheidung leisten kann, muß nicht mehr geleugnet werden, sondern illustriert nur das Ermessen als notwendiges Element der in jeder Rechtsanwendung liegenden Normkonkretisierung. Eine Schwäche der spätkonstitutionellen positivistischen Ermessenslehre liegt darin, den Problemen der Auslegung ausgewichen zu sein. Dabei hätte ihr gerade am verkürzten Auslegungsverständnis der herrschenden Lehre deutlich werden müssen, wie groß die Gefahr ist, die Normativität rechtlicher Regelungen durch unzureichende Auslegung zu verkürzen oder sie durch auslegungsmethodisch nicht zu rechtfertigende, implizite Konkretisierungsvorbehalte zugunsten dieses oder jenes Rechtsanwenders zu unterlaufen. Eine weitere Schwäche des positivistischen Ansatzes liegt darin, sich bei der Eingrenzung des Ermessens, wie die herrschende Lehre, so sehr auf die Analyse der Ermächtigungsnorm konzentriert zu haben, daß weitere Einschränkungen aus anderen Vorschriften des Stufenbaus außer acht blieben. An diesen beiden Schwächen hätte eine kritische Auseinandersetzung mit der spätkonstitutionellen positivistischen Ermessenslehre ansetzen können, um deren methodische Erkenntnisse für die nachkonstitutionelle Lehre fruchtbar zu machen. Die heute noch herrschende Ermessenslehre hat sich dieser Aufgabe ebensowenig gestellt wie die spätkonstitutionelle Verwaltungsrechtslehre. 2 Die eingangs festgestellte Kontinuität der spätkonstitutionellen Ermessensdogmatik beruht, wie schon der dogmengeschichtlich belegte Zusammenhang von Methode, Staats- und Rechtslehre und Dogmatik vermuten läßt, auf einer Kontinuität der methodischen Grundlagen. Die aus der spätkonstitutionellen Lehre übernommenen Doppeldeutigkeiten des Ermessensbegriffs und die weiter bestehende, ja teilweise noch ausgebaute Doppelbödigkeit der Fehlerlehre resultieren daraus, daß auch die Begriffsbildung der heutigen Ermessenslehre vom konstitutionellen Staats- und Rechtsverständnis beeinflußt bleibt. Nach wie vor liegt den dogmatischen Dualismen ein dualistisches Rechtsanwendungskonzept zugrunde, das mit seiner Unterscheidung von vollständig gebundener Entscheidung und rechtlich nur beschränkter Verfügung von der Vorstellung einer vorrechtlich begründeten Staatsgewalt geprägt ist.

2

Dazu s.o. Einleitung bei Fn. 30 ff.

C. Zusammenfassung und Ausblick

Gleichzeitig bewahrt es die Verwaltungsrechtslehre davor, Konsequenzen aus der Weiterentwicklung der Auslegungslehre ziehen zu müssen. Begünstigt durch die Rechtsschutzperspektive, die weiterhin das Erkenntnisinteresse bestimmt, wirken auch die konstitutionell geprägten Gewaltenteilungsvorstellungen in der heutigen Ermessenslehre fort. Sie äußern sich weiterhin in Form von Kompetenzpostulaten, wo ζ. B. die normative Ermächtigungslehre Kompetenzen zur letztverbindlichen Konkretisierung vager Ermächtigungstatbestände verteilt und der Unbestimmtheit Zuweisungsgehalte ablesen will, statt sich den Problemen der Begriffsauslegung selbst zu stellen. Das Gewaltenteilungsmodell stützt nach wie vor die Sonderstellung des Verwaltungsermessens im Vergleich zu richterlichen Entscheidungsspielräumen. Der im Verwaltungsrecht überfällige Schritt zur Begründung der Ermessens- als Rechtsanwendungslehre wird verhindert durch das hergebrachte Bild einer der Rechtsordnung vorausliegenden Staatsgewalt und durch das Bedürfnis, deren Legitimation samt den politischen Zwecken in die Lehre vom öffentlichen Recht einzubinden. Daß die immer noch vorrechtlich vorgestellte Staatsgewalt nun nicht mehr auf monarchischer Legitimität, sondern auf demokratisch-parlamentarischer Legitimation beruht, und daß sie nicht mehr ausschließlich mit der Exekutive identifiziert wird, ändert nur die politische Tendenz. Die dogmatische Konstruktion bleibt unbefriedigend. Wie die dogmengeschichtliche Untersuchung gezeigt hat, genügt es nicht, innerhalb des doppelten Staatsbegriffs die konstitutionelle durch eine verfassungsgeschichtlich aktualisierte Fassung des vorrechtlichen Staatsverständnisses zu ersetzen. Es geht vielmehr darum, mit diesem Staatsverständnis den vorrechtlichen Staatsbegriff aus der Verfassungsund Verwaltungsrechtslehre zu verabschieden, damit die staatspolitische Verzerrung der Dogmatik beseitigt und ihre Widersprüchlichkeit überwunden werden kann. Zu fragen bleibt, was die heutige Ermessenslehre von diesem Schritt abhält. Angesichts der weitreichenden verfassungsrechtlichen Garantien müßte die Lehre heute nicht mehr befürchten, durch die überfällige Revision des Ermessensbegriffs und der Ermessensfehlerlehre einem Verwaltungsdespotismus den Weg zu ebnen. Der Vorbehalt des Gesetzes in Verbindung mit der aus dem „Wesentlichkeitsvorbehalt" abgeleiteten Verpflichtung des Gesetzgebers, grundrechtsrelevante Regelungen selbst zu treffen, gibt das zulässige Maximum des exekutiven und judikativen Ermessensspielraums an. Bei Eingriffsakten schränken die Grundrechte und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Verbindung mit den gesetzlichen Ermächtigungsnormen mögliche Spielräume weitgehend ein. Der Gleichheitssatz verpflichtet den Rechtsanwender dort, wie auch bei allen anderen Vollzugsakten, vor den Diskriminierungsverboten gerechtfertigte Kriterien zur Ausfüllung des Konkretisierungsspielraums zu entwickeln. Außerdem muß er sie, wie es in der Figur der Selbstbindung veranschaulicht wird, in seiner Praxis durchhalten. Dies gilt sowohl für die Konkretisierung von Tatbestandsmerkmalen im Rahmen der Auslegung, als auch für die Entscheidung, unter welchen Bedingungen von einer nach der Tatbestandskonkretisierung eröffneten Ermächtigung Gebrauch gemacht werden soll.

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C. Zusammenfassung und Ausblick

Einwände dürften danach und nach dem bisherigen Diskussionsverlauf weniger wegen der Behandlung des sogenannten Rechtsfolgenermessens, als vielmehr wegen der Behandlung der unbestimmten Begriffe zu erwarten sein. Wer der Verwaltung bei deren Anwendung administrative Letztentscheidungsbefugnisse und Konkretisierungsvorbehalte sichern möchte, dürfte dem Rationalitätsanspruch positivistischer Normkonkretisierung mißtrauen und befürchten, die administrative Rechtsanwendung könne in ein methodisches Korsett gezwängt werden, das für Beurteilungsspielräume, Einschätzungsprärogativen und Zweckmäßigkeitserwägungen nicht genügend Raum ließe. Wer dagegen eine möglichst umfassende und dichte verwaltungsgerichtliche Kontrolle befürwortet, könnte befürchten, die Anerkennung eines Vagheitsbereichs setze die verwaltungsgerichtliche Kontrolle zusätzlichem Legitimationsdruck aus und bedeute die Rückkehr zum Tatbestandsermessen oder zu Ules Vertretbarkeitsspielraum. Diese Konstellation erinnert an den Gegensatz zwischen Justizstaatlern und Verwaltungsjustizlern im Spätabsolutismus und im Frühkonstitutionalismus - auf beiden Seiten dieselbe Tendenz, der methodischen Reflexion auszuweichen, um das rechtspolitische Ziel nicht zu gefährden. Der Rückblick in die Dogmengeschichte hat aber auch gezeigt, daß es heute für beide Seiten gute Gründe gibt, die versäumte Auseinandersetzung zu wagen. Sowohl die Verfechter eines weiten Verwaltungsspielraums als auch die Vertreter eines umfassenden Verwaltungsrechtsschutzes können erkennen, daß jede Berufung auf funktionellrechtliche Abgrenzungen und Kompetenzpostulate bestenfalls einen Pyrrhussieg sichern kann. Wer die Normativität der Einzelregelungen durch den Rückgriff auf auslegungsmethodisch nicht zu rechtfertigende Postulate unterläuft, verliert damit gleichzeitig die Möglichkeit, seine Lehre gegenüber anderen Auffassungen gültig zu rechtfertigen. Was wäre von einer Rückbesinnung auf den positivistischen Ansatz zu erwarten? Sie würde zunächst die Problemstellung präzisieren und eingrenzen. Wenn jedes Staatshandeln als Rechtsanwendung und das Ermessen als deren notwendiges Element erkannt wird, entpuppt sich Ermessen als das rechtlich Irrelevante jenseits der Rechtsbindung. Seine Grundlagen und Grenzen ergeben sich allein aus dem Ausschöpfen der Auslegungsregeln und des durch die Normhierachie vermittelten Geltungszusammenhangs. Man mag einwenden, damit sei das Problem lediglich auf die Ebene der Auslegungslehre verschoben. Doch auch darin liegt ein Fortschritt. Scheinprobleme wie die Frage des „quis iudicabit" werden als solche entlarvt; argumentative Sackgassen wie die Berufung auf implizite gesetzliche Delegationen, offene oder verdeckte Kompetenzpostulate oder die Befugnis zu Sachverhaltswürdigung als Auslegungsersatz können vermieden werden. Die Auseinandersetzung kann sich auf die methodischen Probleme der Konkretisierung vager Tatbestandsmerkmale und auf eine systematische Darstellung möglicher Rechtsfehler beschränken. Der Umfang des danach verbleibenden Ermessens ist durch die geltende Rechtsordnung vorgezeichnet und, wie oben gezeigt wurde, nur scheinbar kleiner als der, von dem die herrschende Lehre ausgeht. Weil diese als Rechtsfehler behandelt,

C. Zusammenfassung und Ausblick

was sie als Ermessensfehler erörtert, würde sich der positivistische Ermessensbegriff mit dem engeren Ermessensbegriff der herrschenden Lehre decken. Praktisch ergäben sich also keine nennenswerten Unterschiede; lediglich Ermessensfehler, die nicht als Rechtsverstöße formuliert werden könnten, fielen weg. Einschneidender sind die Konsequenzen auf der Ebene der Theorie. Wenn Ermessen als notwendiger Konkretisierungsspielraum jeder Rechtsanwendung erkannt wird und dort beginnt, wo die Rechtsbindung erschöpft ist, verliert das Ermessen als selbständiger Forschungsgegenstand seinen Sinn. Was in einer Ermessenslehre gesagt werden könnte, muß immer schon in der Analyse der Rechtsbindung gesagt worden sein. Als Fluchtpunkt der fälligen Revision der Ermessenslehre erscheint damit ihre Auflösung in der Lehre von der Methodik der Rechtsanwendung. Das wäre das Ende der Ermessenslehre als eines besonderen Kapitels des Allgemeinen Verwaltungsrechts.

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