Das öffentliche Deutsch 3100253019


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Das öffentliche Deutsch
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Hermann Glaser Das öffentliche Deutsch Hermann Glasers Sprachfeuilletons beschäftigen sich mit der Stereotypie der öffentlichen Sprache, mit jener Form von Kommunikation, die sich stereotyper Formeln und Redeweisen bedient, innerhalb eines bestimmten sozialen und lokalen Rahmens, der vorab schon jegliche Übereinkünfte und Zustimmungen festgelegt hat und voraussetzt. So versucht Glaser, öffentliche Sprache in bestimmten Ausschnitten des soziolinguistischen Bereichs zu erfassen; er beschreibt Sprechhaltung, Sprechlage, Wert- und Bedeutungsfelder und damit Sprach- und Denkverhalten gesellschaftlicher Grenzen und Gruppierungen. Aus dem Inhalt: Politikerdeutsch, Ex cathedra, Par­ kinsonsprache, Das Pathos der : Festreden, Obszönität und Intimitätsjargon, Guter Ton in allen Lebenslagen. Hermann Glaser, geboren 1928 in Nürnberg. Studierte in Erlangen und Bristol Germanistik, Geschichte, An­ glistik und Philosophie. Zunächst als Studienrat und Publizist tätig. Seit 1964 Schul- und Kulturdezement der Stadt Nürnberg. Veröffentlichte: >Weltliteratur der Gegenwart (1956), >Spießer-Ideologie< (1964), >Eros in der Politik< (1967), >Kleinstadt-Ideologie< (1968), >Radikalität und Scheinradikalität< (1970).

Hermann Glaser

Das öffentliche Deutsch S. Fischer Verlag 1972 -ISBN: 3-100-25301-9

ebook 2003 by BOOKZ 'R' US Dieses Ebook ist nicht zum Verkauf bestimmt!

Reihe Fischer

Hermann Glaser Das öffentliche Deutsch

S. Fischer

Die Beiträge Nr. 1, 3-6 sind. 1970/71 in der frankfurter Rundschau< erschienen; Nr. 2 erschien als Beilage zur Wochenzeitung >Das Parlament (19. 6. 1971). Die Einleitung ist die verkürzte Fassung eines Beitrags in der Zeitschrift >Literatur und Kritik< (Juli 1971). Sämtliche Titel wurden geändert.

Originalausgabe © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1972 Gesamtherstellung Georg Wagner, Nördlingen Printed in Germany 1972 ISBN3 10025301 9

Inhalt Einleitung: ZurStereotypie deröffentlichen Sprache 5 Politikerdeutsch

16

Ex cathedra

49

Parkinsonsprache

68

Das Pathos derFestreden

84

Obszönität und Intimitätsjargon

96

GuterTon in allen Lebenslagen

115

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch

Einleitung: ZurStereotypie deröffentlichen Sprache

Den nachfolgenden Überlegungen zur Stereotypie der deutschen »öffentlichen« Sprache seien zwei Bemerkungen vorangestellt: eine axiomatische und eine methodische. Der Ausgangspunkt der Betrachtung liegt in der Feststellung, daß der Mensch ein kommunikatives Wesen, auf Kommunikation angelegt sei. Stereotype (stereotypisierte) Sprache erschwert oder verhindert Kommunikation; sie wird deshalb negativ beurteilt. Stereotypie ist zudem Teil der Lüge, da sie die Gedanken nicht zu offenbaren, sondern zu verbergen bzw. zu verdrängen oder auszuschalten sucht. Was das Methodische betrifft, so soll nicht über das Wesen der Sprache reflektiert werden; es geht um die Wechselbeziehung von Sprechen und Handeln, von Sprache und Gesellschaft. Die Analyse öffentlicher Sprache wendet sich ganz bestimmten Ausschnitten des soziolinguistischen Bereichs zu: der Sprechhaltung, der Sprechlage und den Wortund Bedeutungsfeldern, die den Verbund von Sprache-Denken­ Verhalten einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder Gruppierung zu charakterisieren vermögen. -5-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Es geht um Fragen, die die allgemeine Semantik (Signihk), die Prägung menschlichen Verhaltens durch Worte, die Bedeutungsverschiebung der Worte (Semasiologie), etwa im Dienste politischer Propaganda, und Kategorien der Parole, der individuellen wie kollektiven Sprechlage betreffen. Was in diesem Sinne die öffentliche Sprache und das in ihr ausgedrückte Denken und Verhalten (Nicht-Denken und Fehlverhalten) betrifft, so verweisen Bedeutungsstruktur und Redezusammenhang auf die »tonangebende« Rohe des Bildungsbürgertums, das im Besitz der Herrschahspositionen bzw. als »Stützen der Gesellschaft« Sprache und Sprechen »verwaltete«. Die Analyse der sprachlichen Stereotypie ist Element der

Ideologiekritik.

Angemaßte

und

herrschahsmäßig

abgesicherte Sprachautorität, die sich einen charismatischen, transzendierenden

Schein

zulegt,

verweigert

sich

der

»Befragung«, da sie sich auf Kompetenz hin nicht prüfen lassen kann - da sie keine hat. Die Entlarvung oder Zerschlagung sprachlicher

Stereotypie

versucht,

Sprache

und

damit

Denken und Handeln wieder befragbar zu machen. Wenn die sprachlichen Signale politische Kommunikation ermöglichen sollen, müssen sie dekomponiert (unter Umständen destruiert) und

relativiert

werden,

Verunsicherung

enthalten

wie

ermöglichen. Verunsicherung bedeutet offene Strukturen, und offene Strukturen ermöglichen es, daß »eingegriffen« wird - der jeweils andere mitsprechen kann; Dialektik - wie sie das von Jaspers übernommene Nietzsche-Wort meint: Die Wahrheit beginnt zu zweien. -6-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Parteilichkeit ist als Grundlage rhetorischer Argumentation durchaus möglich. Die Identität von ideologisch und rhetorisch fällt dann weg, wenn (politisches) Sprechen als Rollenspiel erkannt wird und die realen Verhältnisse (die Institutionen z.B.) Rollenspiel zulassen, und gleichzeitig sprachliches Rollenspiel (politische Rhetorik) als solches - eben als Rhetorik - transparent ist. Die institutioneile Sicherung der Sprech- und Meinungsfreiheit ist freilich dann Teil repressiver Toleranz, wenn trotz Spielraum die Sprache aus ihren eigenen Fesseln sich nicht befreien kann, also stereotyp bleibt. Wenn inmitten der Meinungsfreiheit stereotypes Sprechen oktroyiert wird (etwa durch Erziehung), ist die Sprechfreiheit lediglich vorgegeben, Scheinfreiheit. Der Überbau des Bewußtseins ist nicht nur durch die ökonomische Basis, sondern auch durch Sprachpräformationen bestimmt; den Tätern ist die Stereotypie ein Instrument des Herrschens; die Opfer erleiden das Schicksal irrationaler Dumpfheit. Selbstverschuldet bzw. verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn diejenigen, die über das Instrumentarium der Verunsicherung verfügen, dieses nicht gebrauchen bzw. der sprachlichen Affirmation ohne Widerstand sich anpassen. Dieser Vorwurf ist insbesondere an die Adresse des politischen »Redners« zu richten; er müßte zumindest dann, wenn der dialektische Partner fehlt (der die parteiische Rhetorik rechtfertigt, indem er sie durch Gegen-Rhetorik ausgleicht), sein Publikum zur Verunsicherung bewegen, damit kommunikatives Sprechen und Denken entsteht. Statt dessen soll häufig durch politische Sprache die psychologische Disposition gefördert -7-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch werden, nur das wahrzunehmen, was der jeweiligen, durch Triebe und Interessenslage bestimmten Einstellung entspricht. Ein wichtiges Mittel, Fraglosigkeit in Fragwürdigkeit umzuwandeln, steht die Ironie dar - als »Kleintun« dem Understatement verwandt. Die Ironiesignale der Sprache machen z.B. die Überlegenheit des Geistes durch die Unterlegenheit der Worte kommunikativ erträglich und verträglich. Wenn Musil meinte: »Sokratisch ist: sich unwissend stehen. Modern: unwissend sein«, so trifft diese Gegenüberstellung auch das Verhältnis von kommunikativem und stereotypem Sprechen. Stereotypie ist ignorant und - da sie diese Ignoranz dem anderen suggeriert oder oktroyiert - brutal. Vor allem seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde mit Hilfe offizieller Leerformeln ein semantisches Klima geschaffen, das die Reflexion über komplexe Zusammenhänge verhinderte. Können Wörter lügen? Sicherlich nicht. Doch können bestimmte Wörter so oft mit unmenschlichen Handlungen verknüpft werden oder gewesen sein, daß sie dann als Teil des »Wörterbuchs des Unmenschen« für einige Zeit aus dem Gebrauch zu nehmen sind. Wenn z.B. millionenfacher Mord als »Endlösung« bezeichnet wird, ist ein solches Wort auf lange Zeit oder auf immer unbrauchbar. Die Verbindung von Wort und Verbrechen kann dabei völlig willkürlich sein; oder aber von besonderem Zynismus, wie in dem NS-Beispiel: »Mord als Lösung« - Kulmination eines rassischen Erlösungswahns. Unabhängig jedoch vom Handlungshintergrund der Worte muß vor allem das lügende Sprechen interessieren; dann kann Lüge - nicht aus dem Vergleich von Handlung und Sprechen, sondern -8-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch sprachimmanent - erkannt, zumindest vermutbar werden. Wenn Peter von Polenz sagt: »Nicht die Wörter selbst wirken moralisch oder unmoralisch, sondern allein ihr Gebrauch durch bestimmte Sprecher in bestimmten Situationen«, so sind damit vorwiegend bestimmte Sprachsituationen gemeint. Man lügt in Sätzen oder Wortverbindungen. Das Wort »Blut« ist keine Lüge, das Wort »Boden« ist keine Lüge. »Blut und Boden« ist lügend und verlogen (auch ohne die geschichtliche Dimension), da die Konjunktion zwischen beiden Begriffen eine begriffliche Einheit vorgibt, die der Reflexion sich entzieht. Der stereotype Gebrauch von »Friede und Freiheit« entproblematisiert beide Worte, da formelhaft so getan wird, als ob die Verbindung von Friede und Freiheit eine Selbstverständlichkeit darstellte. Erst eine Sekundär-Markierung (etwa durch Ironisierung mit Hilfe von Anführungszeichen) macht die Wortverbindung »brauchbar«, indem sie diese wieder infrage stellt. Bertolt Brecht schrieb 1934: »Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht.« Wenn Wortbedeutungen weitgespannt und deshalb vage und abstrakt sind, können sie gut als Instrument der Kollektivierung verwandt werden: Bedeutungen werden dabei als Meinungen ausgegeben; Meinungen müßten jedoch in Hinblick auf ihre semantische Struktur eng umgrenzt, individuell und konkret sein; sie sind als Mittel der Beeinflussung einer sozialen Gruppe wenig geeignet, da sie in ihrer Begrenzung (Definition) kein Dach für kollektive Triebe, Emotionen und Intentionen abgeben. Meinungssätze, die als Bedeutungssätze sich maskieren, eignen sich besonders gut für stereotypen Gebrauch; was eigentlich eine eng umgrenzte, individuelle und konkrete Mitteilung sein -9-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch sollte und von der Struktur nur sein kann, umgibt sich mit der Aura der allgemeingültigen Verbindlichkeit. Im »Kaukasischen Kreidekreis< sagt die Gouvemeursfrau, sie liebe das Volk mit seinem schlichten, geraden Sinn. Der Kontext entlarvt den Satz insofern als Lüge, als der nachfolgende Meinungssatz offenbart, daß hier eine Generalisierung die eng umgrenzte, individuelle und konkrete Meinung verdecken soll, die da lautet: »Es ist nur der Geruch, der Migräne macht.« Nach diesem Muster sind vielfach politische Stereotype angelegt - aber auch als solche zu dekuvrieren, wenn man Gespür und Gedächtnis tür das Nebeneinander vorgetäuschter Bedeutungs- und wirklicher Meinungssätze besitzt. Betrachtet man unter diesen allgemeinen Aspekten die Stereotypie der deutschen öffentlichen Sprache, so kann man angesichts des ungeheuer umfangreichen zur Verfügung stehenden Materials nach den Merkmalen der Auffälligkeit bestimmte Sprachmuster herausschälen, die jeweils durch ein spezifisches Sprachverhalten, eine spezifische Sprechlage und spezifische Wortfelder geprägt sind. Dominant beim Sprachverhalten ist das Affirmative (der Jargon der Eigentlichkeit), in der Sprechlage das klassizistischromantizistische Pathos, und bei den Wortbereichen das »Organische« sowie Kriegerisch-Militärische. Soziolinguistisch interessiert dabei vor allem das Politikerdeutsch, das Bürokratendeutsch, das Vereinsdeutsch, das Professorendeutsch, das Studentendeutsch, das Offiziersdeutsch, das Predigerdeutsch, das Publizistendeutsch, das Erzieherdeutsch - eben das Deutsch, das aufgrund von Bildungsprivilegien die herrschende Sprache - 10-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch ist und auch die der Nichtprivilegierten mitprägte; und damit, mit der stereotypisierten Sprache, mehrdimensionale Erfahrung und abweichendes Denken verhinderte. Dort, wo das Individuum nicht in eigenen Sprachformen sich artikulieren kann (darf), fehlt ihm auch der Wahmehmungsraster für heterogene und disparate Information. Sprache »im Einsatz« bedeutet »Denken im Gleichschritt«. Die Beispiele, die nachfolgend für einzelne Aspekte angeführt werden, sollen sozusagen strukturalistisch die Wesensmerkmale stereotypen Sprechens veranschaulichen: die Beispiele werden der Vergangenheit wie Gegenwart entnommen und auf ihr Gemeinsames hin geprüft. Natürlich macht jeweils erst die historische Dimension deutlich, welche Unmoral des Handelns hinter der Unmoral des Sprechens stand. In diesem Sinne haben die Beispiele selbstverständlich höchst unterschiedliches Gewicht. Die Zerstörung individuellen Sprechens muß nicht verknüpft sein mit dem Mord am Menschen. Die Stereotypie des Briefstellerdeutsch etwa impliziert nicht a priori, daß ein Heinrich Himmler seine Wahnideen in Form des Briefstellerdeutsch in Befehle des Völkermords umsetzte. Die Stereotypie des verlogen-einseitigen Lesebuchidylls hätte nicht einem Rudolf Höß die Feder bei seinen »Erinnerungen an Auschwitz führen müssen. Das Nebeneinander der Beispiele und ihre Durchleuchtung auf die gemeinsamen Strukturmerkmale hin macht jedoch deutlich, welche Worthülsen für die Verpackung der Inhumanität als besonders geeignet sich erweisen. - 11 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Was unter der affirmativen Rohe der Stereotypie zu verstehen ist, kann am besten mit einer zentralen Stehe aus Herbert Marcuses Essay >Über den affirmativen Charakter der Kultun beschrieben werden: »Sie ist in ihren Grundzügen idealistisch. Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. Hatten zur Zeit des kämpferischen Aufstiegs der neuen Gesellschaft alle diese Ideen einen fortschrittlichen, über die erreichte Organisation des Daseins hinausweisenden Charakter, so treten sie in steigendem Maße mit der sich stabilisierenden Herrschaft des Bürgertums in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener Massen und der bloßen rechtfertigenden Selbsterhebung: sie verdecken die leibliche und psychische Verkümmerung des Individuums.« Das Zitat verweist zudem auf den historischen Ursprung der meisten Stereotypen der deutschen öffentlichen Sprache; diese entstand in der Zeit nach Klassik und Romantik, als der kämpferische Aufstieg der neuen Gesellschaft in die stabilisierende Herrschaft des Bürgertunis überging; Klassik und Romantik wurden von dieser in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener Massen und rechtfertigender Selbsterhebung genommen. Mit Hilfe epigonal-idealistischer Sprache wurden die konkreten gesellschaftsrelevanten Probleme hinwegprojiziert; an die Stelle der Antinomie von Ideal und Leben trat die Verdrängung der Lebensbedürfnisse zugunsten - 12-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch des Ideals, das - eingefroren in standardisierter Sprache - seinen kreativen Einfluß auf die Gestaltungskräfte verlor. Idealität wurde zum Dekor, das Sentimentalische zur Sentimentalität. In dieser stereotypisierten Seelensprache sind diejenigen Kräfte und Bedürfnisse eingegangen, die im alltäglichen Dasein keine Stätte fanden oder nicht haben durften - die Sehnsucht nach einem glücklicheren Leben, nach Menschlichkeit, Güte, Freude, Wahrheit. Sie alle werden mit dem affirmativen Vorzeichen versehen: nämlich einer höheren, reineren, nicht alltäglichen Welt anzugehören. Sie sind nicht von dieser Welt. Zugleich ermöglicht affirmative Sprache unverbindliche Menschlichkeit. Adorno nannte den affirmativen Jargon >Jargon der Eigentlichkeit^ »Der Jargon der Eigentlichkeit ist Ideologie als Sprache, unter Absehung von allem besonderen Inhalt.« Es erfolgt die Himmelfahrt des Wortes über den Bereich des Tatsächlichen. Meinungssätze werden als Bedeutungssätze ausgegeben; mit Hilfe der affirmativen Stereotypie kann man sich aus den realen Problemen in eine Welt der Unverbindlichkeit katapultieren. »Eigentlichkeit nennt kein Eigentliches als spezifische Eigenschaft, sondern bleibt formal, relativ auf einen in dem Wort ausgesparten, womöglich zurückgewiesenen Inhalt selbst dort noch, wo das Wort adjektivisch verwendet wird. Es besagt nicht, was eine Sache sei, sondern ob, in welchem Maße sie das in ihrem Begriff schon Vorausgesetzte sei, in implizitem Gegensatz zu dem, was sie bloß scheint.« Adorno zeigt auch auf, wo (unter anderem) solche Schnittmuster des Menschseins, solche Sprachwirkungen ohne - 13 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Ursache, anzutreffen sind. »In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke vergesellschafteten Erwähltseins, edel und anheimelnd in eins; Untersprache als Obersprache. Er erstreckt sich von der Philosophie und Theologie nicht bloß Evangelischer Akademien über die Pädagogik, über Volkshochschulen und Jugendbünde bis zur gehobenen Redeweise von Deputierten aus Wirtschaft und Verwaltung.« Und bis zur Politik - muß man selbstverständlich hinzufügen. Die Spracherziehung in den Schulen ist weitgehend auf die Reproduktion affirmativer Wortmuster angelegt und ausgerichtet. Ob Sprachbuch oder Lesebuch, Singbuch oder Geschichtsbuch, überall werden Schlüsselworte gebraucht, die die Gesellschaft zum idyllischen Asyl stilisieren. Im Interesse »gesunder Kinder, die das köstlichste Gut eines Volkes sind« (Artikel 125 der Bayerischen Verfassung), wird etwa in Artikel 131 der Bayerischen Verfassung die Humanität als »Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne« auf fatale Weise beim stereotypen Wort genommen. Die Bildungsziele in den Präambeln der schulischen Lehrpläne offenbaren affirmative Beziehungslosigkeit zur Realität. Es fehlt die kritische Distanz zu den Worten; mangelnder Gehalt wird durch deklamatorischen Akt überspielt. Das Wesentliche und Eigentliche erscheint in immer neuen Vagheiten. Dementsprechend die didaktische Praxis. Dazu beliebige Beispiele aus dem Lateinunterricht des Jahres 1970: »Die Eltern werden von uns geliebt. Die Eltern sollen von den Kindern geliebt werden. Die Eltern sind von den Kindern - 14-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch immer geliebt worden und werden immer geliebt werden... Nicht nur die Eltern, sondern auch alle Menschen und alle guten Dinge sollen geliebt werden. Jedes Lebewesen soll geliebt und nicht verachtet werden... Ein Knabe, der die Anstrengung flieht, wird auch als Mann seine Pflicht nicht erfüllen. Was Arzneien nicht heilen, heilt das Eisen, was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer, was das Feuer nicht heilt, heilt der Tod.« Wir ergänzen: Was die affirmativen (Bildungs)-Sätze offensichtlich nicht heilt, ist die Zeit!

- 15-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch

Politiker deutsch

Politische Sprache zeigt ein weites Spektrum; die einen wollen mit ihren Worten beeinflussen und verführen, die anderen »redlich« überzeugen; dazwischen hegen vielfältige Mischformen, bald mehr, bald weniger um Wahrheit bemüht. In »Mein Kampf« schreibt Hitler - und man kann an einem solchen Zitat die »Eigenart« des totalitären Sprachmusters erkennen »Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergeßlichkeit groß. Aus diesen Tatsachen heraus hat sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig so lange zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag... Der Glaube ist schwerer zu erschüttern als das Wissen, Liebe unterliegt weniger dem Wechsel als Achtung, Haß ist dauerhafter als Abneigung, und die Triebkraft zu den gewaltigsten Umwälzungen auf dieser Erde lag zu allen Zeiten weniger in einer die Masse beherrschenden wissenschaftlichen Erkenntnis als in einem sie beseelenden Fanatismus, manchmal in einer sie vorwärtsjagenden Hysterie. Wer die breite Masse gewinnen will, muß den Schlüssel kennen, der das Tor zu ihrem Herzen öffnet. Er heißt nicht Objektivität, also Schwäche, sondern Wille und Kraft.« - 16-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Nach Thomas von Aquin sind die Wörter der Sprache Zeichen des Geistes; es sei wider ihre Natur und wider den Geist, sie in den Dienst der Lüge zu stellen; die Sprache solle die Gedanken offenbaren, nicht verbergen. Dem dürften freilich selbst Vertreter des demokratisch-parlamentarischen Systems, zumindest was die Praxis betrifft, nicht zustimmen. Wichtiger als Gedankenwahrheit ist auch hier die Sprachtaktik: wie man die Dinge fürs eigene Lager zurechtbiegt und »hindreht«. Meistens werden die Reden zum Fenster hinaus gehalten: sind an den Mann auf der Straße gerichtet, der durch die Massenmedien recht gut erreicht wird. Im »hohen Hause« selbst bedürfte man dieser Reden nicht; man weiß schon vorher, wie man sich zu entscheiden hat. Es bleibt ein Streit um Worte; die Sachen sind bereits fixiert, wenn die Redeschlachten anheben. Er habe im Laufe seines langen Lebens Tausende von Reden gehört, aber keine habe seine Entscheidung irgendwie beeinflußt, meinte ein englischer Parlamentarier einmal. Das Zitat stammt aus dem 19. Jahrhundert; es dürfte nach wie vor aktuell sein.

Im nachfolgenden sollen das totalitäre und das demokratische Sprachsyndrom betrachtet werden; die Übergänge sind fließend: die Aussagen beziehen sich auf »idealtypische« Erscheinungsformen. Die Einheitlichkeit und der Ausschließlichkeitsanspruch der totalitären Macht läßt eine Sprache des Zweifels und der Befragung nicht zu. Wirklichkeit hat so zu sein, wie sie de­ kretiert wird. Damit die totalitären Setzungen akzeptiert werden, muß (auch) mit der Sprache eingeschüchtert und ge­ - 17-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch droht werden; Überredung und propagandistische Verführung reichen nicht aus, werden aber ebenfalls intensiv betrieben. Hitlers »Mein Kampf« ist nach wie vor ein sehr geeignetes »Lehrbuch« lür die Eigenarten totalitärer Sprache. Dominant sind Beschimpfungen, Platitüden, schiefe Metaphern, end­ lose Tiraden. Die Beschimpfung erfolgt meist im derben Stammtisch) argon mit bramarbasierender Worttrunkenheit. Die Platitüde macht Nicht-Selbstverständliches selbstverständ­ lich, indem sie es in Gängigem bzw. Einleuchtendem verpackt; ähnlich wirkt der Gebrauch der Metapher: das Bild transportiert Unwahrheit oder Unmenschlichkeit ins Bewußtsein. Die Tirade richtet die Gedanken durch Zerreden zugrunde: schläfert sie ein oder treibt sie aus. »Die Humanität schmilzt als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen wie Schnee an der Märzensonne.« Da Schnee in der Märzensonne in der Tat rasch schmilzt, wird die darin eingepackte Unwahrheit mit akzeptiert. »Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft genug geblendet vom plötzlichen Licht, ein Jüdlein.« Anschaulichkeit läßt die Notwendigkeit begrifflicher Trennschärfe vergessen. »Man bedenke, daß auf einen Goethe die Natur immer noch leicht zehntausend solcher Schmierer der Mitwelt in den Pelz setzt, die nun als Bazillenträger schlimmster Art die Seelen vergiften.« Die Beschwörung von Kultur im Metaphemverschnitt verleiht Unsinn den Charakter von Tatsächlichkeit. »Man hat nicht nur Deutschland nicht gesehen, wenn man München nicht kennt, nein, man kennt vor allem die deutsche Kunst nicht, wenn man 18-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch München nicht sah.« Konditionale Verschränkungen werden als Kausalität ausgegeben; das Nichtssagende erhält durch syntaktische Kompliziertheit die Weihe von Wahrheit. Wie Gedanken bei Hitler »entwickelt« werden, kann nachfolgendes Beispiel verdeutlichen; es ist zugleich symptomatisch für totalitäre Argumentation überhaupt (wobei der Boden durch eine Spracherziehung, die nicht als Förderung von Sprachkritik, sondern als Indoktrination von »Muttersprache« sich begreift, vorbereitet wird). 1. Schritt: Aufstellung einer Behauptung, die suggestiv vorgetragen wird (die charismatische Autorität des Führers sichert vor Befragung); die »Basis« für weitere Lügen ist damit geschaffen. »Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnissen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers.« 2. Schritt: Mit Hilfe vorsichtiger, die Apodiktik des 1. Schritts mildernden Verklausulierungen, die den Anschein von Objektivität geben, werden die »Ableitungen« vorgenommen: »Gerade diese Tatsache aber läßt den nicht unbegründeten Rückschluß zu, daß er allein der Begründer höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp dessen darstellt, was wir unter dem Worte Mensch verstehen.« 3. Schritt: Die so gewonnene »Erkenntnis« wird in eine Metapher geschlagen, wodurch der Rest von evtl, noch vorhandenen Zweifeln weggeräumt werden soll; da die Metapher zudem auf der hehren (hohen) Sprachebene hegt, 19-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch ist kaum Widerspruch bei denjenigen zu erwarten, die gedrillt wurden, Pathos mit transzendierender Wahrheit gleichzusetzen. »Er ist der Prometheus der Menschheit, aus dessen lichter Stirn der göttliche Funke des Genies zu allen Zeiten hervorsprang, immer von neuem jenes Feuer entzündend, das als Erkenntnis die Nacht der schweigenden Geheimnisse aufhellte und den Menschen so den Weg zum Beherrscher der anderen Wesen dieser Erde emporsteigen ließ.« In >H. - Protokolh hat Klaus Stiller (Luchterhand-Verlag, 1970) eine Analyse des faschistischen Sprachstils in Form extensiver Darbietung vorgenommen. Material aus >Mein Kampfe, den Hitlerschen Tischgesprächen und andere Zeugnisse wurde collagiert; die syntaktischen Muster zudem fiktiv angetullt. Die Sprache von H. wird in so breitgetretener Form dargeboten, daß bei der Lektüre geradezu physischer Schmerz sich einstellt; die Suada bewirkt eine - bewußt erlebbare - Purgierung von Gedanken, läßt die Methodik von Gehirnwäsche erkennen. »Wenn aber heutzutage irgendein schwindsüchtiges Würstchen mit frommer Stirn die fromme These in die Welt hinausposaune, die frevlerischen Untaten des mehr oder minder lichtscheuen Strauchrittertums seien als kolossale weltgeschichtliche Leistung zu werten - immer natürlich mit dem heimlichen Hintergedanken, daß im Verlauf so vieler Jahrmillionen der wahre Sachverhalt bereits hunderttausendmal verschleiert worden sei -, dann müsse er ob so viel himmelschreienden Unverstandes nicht nur stundenlang den Kopf schütteln, sondern fühle sich gleichsam verpflichtet, ein so durchsichtiges Unterfangen mit aller Entschiedenheit ein und -20-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch allemal zurückzuweisen, nicht ohne endgültig klarzustellen, daß die ganze Tragödie der bis dahin unbesiegten Ahnen ihren Ausgang von jenem fatalen Fleischgenuß genommen habe, der es bekanntlich dem hinterlistigsten Ungeziefer erst gestattet habe, den Hebel sozusagen zugunsten des Strauchrittertums anzusetzen...« Wenn man die faschistische Sprache wörtlich nimmt, entlarvt sie sich meist selbst. Im besonderen belügt die faschistische Sprache die Massen dadurch, daß sie die gesellschaftliche Wirklichkeit verbirgt. Weltanschauung ist nicht Welt­ Anschauung, sondern die Verbalisierung von Phantasmagorien, mit deren Hilfe man über die Probleme der eigenen Existenz hinweggaukelt. Das, was durch Illusion nicht abgesättigt werden kann, wird als Desillusion romantisiert: Unglück erscheint als Heroismus, Not als Stählung, Elend als Schicksal; Streben nach Glück und materieller Besserung gilt als Sünde und Unrecht. >Mein Kampf< bezeichnet nach Lutz Winkler (»Studie zur gesellschaftlichen Funktion faschistischer Sprache«) »nicht den persönlichen Kampf und die in ihm gewonnene Lebenserfahrung des Menschen Adolf Hitler, sondern die typische Lebenserfahrung und die gängigen ideologischen Klischees des militanten Kleinbürgers im kapitalistischen Nachkriegsdeutschland.« Der Faschismus habe zwar die liberale Lüge von der freien Bahn, vom Gottesurteil des Erfolgs, sowie die »Kulturlügen« abgeschaift, nicht aber die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Ungerechtigkeit und Unterdrückung produziert würden. Der Kapitalismus neige dazu, sich mit dem faschistischen Sprachmuster zu tarnen. Ausbeutung werde durch Sprache einem Höheren zugeordnet; das Profitstreben -21 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch damit transzendierend; das weitverbreitete Unbehagen an der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur auf unterdrückte, machtlose Minderheiten (z.B. die Juden) abgeleitet oder auf Sündenböcke (Plutokratie) projiziert. Da der Mittelstand und das Kleinbürgertum aufgrund ihrer Position im Spätkapitalismus besonders krisenanfällig sind, hat faschistische oder faschistoide Sprache in ihnen einen besonders guten Resonanzboden. Aggressionsbereitschaft, Angst, Mißtrauen, stereotype Vorurteile fördern den Umschlag aus der privatistischen Sprache in den faschistischen Sprachkollektivismus. Der Massenführer macht das zumindest im Unterbewußtsein vorhandene Gefühl von der eigenen Misere erträglich, indem er es an nationalen Idolen aufrichtet. In solchem Kontext stehen dann auch machtmanipulatorische Slogans wie »Kanonen statt Butter«, »Blut und Boden«. Die Sehnsucht nach einem besseren Leben wird durch imperiale Symbole hinwegtransportiert; Heimat (als »Option auf ein Grundstück«) ist substituiert durch rurale Mystik, die individuelle Befriedung nicht zuläßt. Faschistische Sprache ist eine extreme Ausprägung der »affirmativen Kultur« (unter Abwandlung des bereits zitierten Marcuse-Worts: »Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht.«). Bei der faschistischen Ausprägung der affirmativen Kultur ist zu ersetzen: »allgemeine Menschlichkeit« durch rassisches Übermenschentum, »Schönheit der Seele« durch zeugungs- und gebärfreudige Gesundheit, »innere Freiheit« durch nationale Macht, »Tugendreich der Pflicht« durch das -22-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Sekundärtugendsystem des Militarismus. (Immerhin ist man im bürgerlich-affirmativen Arkadien immer noch besser aufgehoben als im affirmativ-faschistischen Walhall!) Affirmativ in diesem allgemeinen, strukturellen Sinne ist auch die totalitäre Sprache des Vulgärmarxismus, wie sie etwa in der DDR gedeiht. Fast jeder offizielle Text zeigt eine unkritische Verabsolutierung der eigenen Position bzw. eine gesellschaftsromantische Verschleierung von Realität. »Die Leipziger Messe, auf der die sozialistischen Länder mit einem umfangreichen Angebot von Qualitätserzeugnissen vertreten waren, leistet einen wertvollen Beitrag zur Vertiefung der brüderlichen Zusammenarbeit der DDR mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Ländern, zur sozialistischen, ökonomischen Integration auf der Grundlage der Beschlüsse der XXIII. und XXIV. Tagung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Das Angebot der DDR-Industrie brachte die Anstrengungen der Werktätigen und ihre Erfolge im sozialistischen Wettbewerb bei der Vorbereitung des VIII. Parteitages der SED zum Ausdruck. Der Messepavillon der UdSSR spiegelte eindrucksvoll die Ergebnisse wider, die von den Völkern der Sowjetunion auf dem Wege zum XXIV. Parteitag der KPdSU erreicht wurden.« Der ideologisch unterlegte Leistungsdruck schließt privates drop-out völlig aus. Das Gesellschaftsverständnis ist sowohl neurotisch als auch psychotisch: absolute Anpassung an die durch Propaganda verbreitete Fiktion von Wirklichkeit; oder Ersatz der Realität durch ideologische Halluzinationen. Wer die kollektiven Neurosen oder Psychosen stört (rational erhellt, kritisch abbaut), ist Volksfeind. -23 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch »Unsere DDR ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte. Unsere Partei tritt entschieden gegen die von den Imperialisten betriebene Propaganda der Unmoral auf, die das Ziel befolgt, dem Sozialismus Schaden zuzufügen. Dabei befinden wir uns in voller Übereinstimmung mit der Bevölkerung der DDR und der überwiegenden Mehrheit der Menschen in Westdeutschland... Die Orientierung auf die Summierung von Fehlem, Mängeln und Schwächen wird von Kreisen genährt, die daran interessiert sind, gegenüber der Politik der DDR Zweifel zu erwecken und die Ideologie des Skeptizismus zu verbreiten. Zu diesen Kreisen gehört z.B. Wolf Biermann. In einem Gedichtband, der im Westberliner Wagenbach-Verlag erschien, hat Biermann die Maske fallenlassen. Im Namen eines schlecht getarnten spießbürgerlich-anarchistischen Sozialismus richtet er scharfe Angriffe gegen unsere Gesellschaftsordnung und unsere Partei. Mit seinen von gegnerischen Positionen geschriebenen zynischen Versen verrät Biermann nicht nur den Staat, der ihm eine hochqualifizierte Ausbildung ermöglichte, sondern auch Leben und Tod seines von den Faschisten ermordeten Vaters.« (Erich Honecker) Die affirmativ-totalitäre Sprache läßt keinen aus dem oktroyierten Weltverbrüderungswahn ausscheren; die idealistische Schubkraft wird - wie im Faschismus - dadurch »rein« erhalten, daß man für die Frustrationsaggressivität genügend Abreaktionsmöglichkeiten bereit hält. »... Die im >Stürmer-Jargon< reagierende westdeutsche Presse beweist mit ihrer Verleumdungskampagne nur, wie unangenehm dem imperialistischen System Westdeutschlands die Entlarvung -24-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch seiner verbrecherischen Praktiken sind. Daran hat sich auch unter der SPD-FDP-Regierung nichts geändert.« Demokratisch-politische Sprache müßte konträr zum faschistischen Sprachmuster sich ausprägen. In Wirklichkeit zeigt siejedoch ständig Angleichungen an die totalitäre Sprache, sozusagen faschistoide Tendenzen (wobei man sich freilich bewußt bleiben muß, daß Faschismus nicht nur eine Form des Sprechens, sondern vor allem des Handelns darstellt, was den inflationären Gebrauch des Wortes »Faschismus« durch die Protestbewegung wieder eindämmen könnte). Adorno spricht davon, daß der »Jargon der Eigentlichkeit« dem Faschismus Asyl gewähre; das fortschwelende Unheil äußere sich so, als wäre es das Heil.

Eine affirmativ-»eigentliche« Sprache, die keine anderen Sprachmuster neben sich duldet, ist schon von ihrem Selbstverständnis her autoritär. Die normative Floskel »Gut­ Deutsch« bezieht sich weniger auf bestimmte syntaktische, grammatische und orthographische Regeln, sondern auf das durch Mutterspracherziehung stabilisierte Vorurteil, daß das Sprachmuster der Dialektik, des Infragestellens, der »Zweidimensionalität« weniger wahr und gut sei als das »Wurzeldeutsch« (im »Eigentlichen« gründend). Die Sprache des Politikers zielt auch in der Bundesrepublik - im Mißverständnis von Sprache, Dialog und Wahrheit - ständig darauf ab, ein partikulares Wissen und Interesse als allgemeines auszugeben, aus Meinungssätzen Tatsachensätze zu machen. Um dies zu erreichen, um diese Fiktion sich wie den anderen -25-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch suggerieren zu können, verwendet sie Konstrukte, d. h. idealoder extremtypische Begriffe, die aufgrund ihrer Abstraktheit es zulassen, ja geradezu erzwingen, den Streit über Worte, und nicht über Sachen, zu führen. Mit Recht weist deshalb Martin Jänicke darauf hin, daß aufgrund dieser Tendenz zum Reden in Idealtypen die politische Sprache ständig Norm und Realität in eins setze, bestimmte Aspekte der eigenen oder der fremden Wirklichkeit als atypisch ausklammere, klassiükatorische Aussagen gegen Widerspruch immunisiere, Wertaussagen zu Tatsachenfeststellungen mache, der Willkür essentialistischer Aussageformen entgegenkomme, den Teilbereich eines Phänomens gerne für das Ganze nehme. Ein »Mehr-oder-Weniger« wird durch »Entweder-Oder« ersetzt, Freund-Feind-Denken dadurch gefördert. Der Politiker, der - in seinem Sprechen seinem Denken folgend, durch sein Sprechen sein Denken beeinflussend - »reine Begriffe« und Typen konstruiert (Freiheit, Demokratie, Terror, Totalitarismus), versteht allerdings die einzelnen Begriffe nicht als konstruktive Teile, denen ein heuristischer Wert keineswegs abgesprochen werden soll; er mißversteht sie als Aussagen zur Wirklichkeit. Wenn das Konstrukt nicht selbst wieder in Frage gesteht, sondern die von ihm stets abweichende vielfältige Wirklichkeit verdrängt wird, ist der kritische Weg (den Kant als einzig möglichen erachtete) nicht mehr offen. Wir sprechen von politischer Sprache und nicht vom Politiker als Person. Es wird nicht unterstellt, daß der Politiker keinen Realitätsbezug habe, daß er nicht ständig in die Realitäten des Alltags einbezogen sei; seine Sprache weiß nur davon wenig, zu wenig; ein Streit der Worte um Worte. Dies gilt natürlich weniger für die Sprache -26-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch der »internen« Arbeit (etwa für Ausschußarbeit), auch kaum für die der kommunalen Politik. Aber dort, wo politische Sprache besonders gesellschaftsbezogen ist, wo sie kommunikatorisch nach außen zu treten, den Kontakt mit der Bevölkerung herzustellen versucht (in der parlamentarischen Debatte, in der Wahlversammlung, politischen Sonntagsrede, bei den vielen offiziellen Ereignissen, zu denen Politiker das Wort ergreifen), dominiert die Einkapselung in wirklichkeitsfremde Abstrakta, die oft genug parterre sind. Die Ebene der Abstraktion, die für idealtypische Begriffe charakteristisch ist, zugleich als parterre zu bezeichnen, scheint uns deshalb gerechtfertigt, weil diese Abstrakta nicht innerhalb des politischen Denkens und Handelns abstrahiert, im Sinne eines denkerischen Prozesses entwickelt, sondern als von verschiedener Seite her gelieferte vorfabrizierte Stanzmuster übernommen werden, weshalb ihre Verwendung vom verwissenschaftlichen, das heißt auch emotionalen und ideologischen Bewußtsein entspricht. Die von der politischen Sprache angestrebten idealen Normen sollen den eigenen Standpunkt mit der Aura des Gültigen versehen, zugleich aber den Standpunkt des Andersdenkenden und -sprechenden als unwahr desavouieren. Das Bewußtsein vom »Annäherungscharakter« der Sprache fehlt. Vom jeweiligen spruchbandartig verkündeten Absolutheitsanspruch, der zumindest ideologieverdächtig ist, führt kein Weg zur Kommunikation. Bei diesem Schwarz-WeißSprechen werden gern die idealtypischen Positivbegriffe mit den Realitäten der Gegenposition verglichen, etwa die idealtypische -27-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Auffassung von Demokratie mit der kommunistischen Wirklichkeit, und nicht die idealtypische Vorstellung von Kommunismus mit der demokratischen Wirklichkeit konfrontiert. Die Konstrukte werden als realitätsrelevant ausgegeben. Eine empirische Veriükation und Falsiükation wird gar nicht zugelassen. Der heuristische Wert idealtypischer Formulierung ist ersetzt durch die klassihkatorische Oktroyierung, die sich da sie alles in den Bereich des Essentiellen, des Wesenhaften projiziert - realitätsbezogener Kritik verschließt und entzieht. Die Reinheit des Begriffs wird so hoch über dem Niveau der Wirklichkeit angesetzt, daß eine gegenseitige Rückkoppelung von vornherein ausgeschlossen ist; politische Kommunikation spielt sich dann als Entweder-Oder ab, steht ein Freund-FeindVerhältnis dar, wobei freilich die verfassungsmäßige Ordnung ein Austragen der Freund-Feind-Spannung jenseits des Verbalen erfreulicherweise verhindert. So wenig der Streit um Worte einen Streit um Sachen darsteht, so wenig steht der Streit um Worte letztlich überhaupt einen Streit (mit dem Ziel von Versöhnung = Synthese) dar, auch wenn nicht geleugnet werden soll, daß hinter »verschlossenen Türen«, etwa bei Fraktionssitzungen oder gelegentlich auch in Ausschußsitzungen, der Streit der Worte zu Sachveränderungen führen kann. Die Tatsache, daß die parlamentarische Diskussion keine Standpunktveränderung bewirkt, also bereits vor der Debahe das Ergebnis im Sinne eines Mehrheitsbeschlusses vorhegt, zeigt, wie hier die durch Sprache versuchte Kommunikation sinnlos geworden ist. Das, -28-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch was sich als individuelles Wissen und Gewissen deklariert, ist in Wirklichkeit Element eines Sprachkollektivs, das je nach politischem Standort und politischer Zugehörigkeit seine semantischen und syntaktischen Muster mitgeliefert bekommt. Der Ausbruch aus der Stereotypie ist innerhalb der offiziellen Debatte kaum möglich. Wenn Hermann Lübbe davon spricht, daß die Sätze politischer Rede nicht erst als performative, sondern schon als behauptende Sätze Aktionscharakter hätten, für deren Verständnis niemals ausreiche, sie als Texte im Kontext von Texten zu lesen, sie hätten vielmehr ihren Ort im Kontext von Handlungen - »sie haben stets ihren Bezug auf politische Lagen, in die durch ihre bloße Verlautbarung bereits eingegriffen wird, und nach solchen Wirkungen bemessen sie sich: Handlungsprädisposi tionen sollen stabilisiert, geändert oder zersetzt, Handlungen oder Unterlassungen bewirkt, Zustimmungsbereitschaft erzeugt werden« -, so scheint uns diese Feststellung zumindest mißverständlich zu sein. Natürlich soll Sprache Handlung bewirken, manipulieren oder verhindern. Der intentionale Charakter von politischer Sprache ist unbestritten. Doch sind die Intentionen auf der abstrakten Ebene idealtypischer politischer Begriffe so wenig sachbezogen, so vage, und damit als Instrumentarium für Wirklichkeitsgestaltung ungeeignet, daß sie eben verbal bleiben. Wenn Franz J. Strauß auf dem CDU-Parteitag in Düsseldorf 1971 betonte, daß Parteiprogramme wenig Bedeutung hätten, da sie sowieso nicht gelesen würden, und er darauf verwies, daß bei all seinen Wahlversammlungen wohl keiner das Wahlprogramm -29-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch der CSU gekannt habe, so sprach er mit rationalem Zynismus etwas aus, was die politische Sprache insgesamt charakterisiert, nämlich die weitverbreitete Unfähigkeit, Parteiprogramme so zu formulieren, daß ihr Realitätsbezug dem allgemeinen Bewußtsein verständlich wird. Die politische Sprache ist dort, wo sie besonders wirksam sein sollte und könnte, Gesellschaft zu erreichen vermöchte, unwirksam, da sie, statt rationale Trennschärfe und Realitätsbewußtsein zu fördern, einen Nebel von Allgemeinbegriffen verbreitet. Der typisierend gemeinte Ausdruck »Sonntagsrede« verweist auf den affirmativen Charakter der politischen Sprache; droben im Himmel der Unverbindlichkeit hangen die idealtypischen Begriffe; drunten geht es anders zu; statt Aufklärung ündet Verklärung statt. »Die Inhalte und Ziele unserer Politik entnahmen und entnehmen wir unserem Grundgesetz. Wir kämpfen gegen Krieg und gegen Inflation; für den Ausbau des sozialen Rechtsstaates, für die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes, für die Einigung Europas. Unser Kampf gilt dem Krieg. Wir wollen ihn verhindern. Wir haben der SPD unsere Bündnispolitik und unseren Wehrbeitrag abgetrotzt. Dadurch haben wir, für den freien Teil Deutschlands, ein solches Maß an Sicherheit geschaffen, daß hier die kommunistische Gefahr bei vielen nicht mehr obenan im politischen Bewußtsein steht... Aber: Noch haben wir keinen Frieden. Noch ist unser Land gespalten. Noch werden wir all unserer Erfolge nicht so froh. Denn: Noch dauert - 20 Jahre nach Kriegsschluß - die Besetzung eines Teiles Deutschlands an. Es ist Zeit, das zu liquidieren.« (Rainer Barzel, CDU-Parteitag, 1965). Dieses alte Zitat zeigt, daß die politische Sprache stereotyp bleibt, nicht »fortgeschrieben« -30-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch wird; wäre das Datum nicht angegeben, würde kaum jemand merken, daß inzwischen 7 Jahre vergangen sind; das Zitat könnte freilich auch aus dem Jahre 1955 stammen. Da affirmative Sprache als nichtssagend, rückwärtsgewandt, stereotyp, ohne Wahrheitsbezug sich erweist, ist sie als Instrumentarium für eine »lebendige« Politik nicht geeignet. Das nachfolgende Beispiel ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, da in ihm auch weitverbreitete Vorstellungen über die Erziehungsziele der Demokratie zutage treten. Es handelt sich um einen Auszug aus Grußworten des Präsidenten des Bayerischen Landtags, RudolfHanauer, während des Festaktes zur Feier des zehnjährigen Bestehens der Akademie für Politische Bildung Tutzing, 1968. »Es ist die vornehmste Aufgabe einer politischen Bildungsarbeit, und dies gerade in unserer heutigen Situation, den irrationalen Weg politischer Utopisten zurückzuführen auf den schmalen und mühsamen Pfad der politischen Realitäten. Hier scheint mir die Akademie tür Politische Bildung eine der wichtigsten Begegnungsstätten zu sein, ein demokratisches Diskussionsforum, in dem neue Denkmodelle tür die Zukunft erarbeitet werden. Bildungsarbeit wird damit zur politischen Mitsprache und Mitverantwortung geführt. So ist eine Akademie tür politische Bildung heute nicht in erster Linie eine Schule der Demokratie; sie soll vielmehr sein ein ragender Leuchtturm, an dem sich eine sich neu formierende Gesellschaft orientiert. In ihrer politischen Forschungsarbeit wird die Akademie neue Modelle ausarbeiten und sie attraktiv und wirksam in den politischen Raum stellen. -31 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Eine bayerische Akademie für politische Bildung hat zudem den Auftrag, die in unserem Land besonders wirksamen Ordnungsprinzipien des Föderalismus sichtbar zu machen. Das ist gerade zum jetzigen Zeitpunkt ein höchst aktueller Auftrag. Bayern, das klassische Land des deutschen Föderalismus, hat seit dem Konvent auf Herrenchiemsee 1948 auf die gliedstaatliche Struktur der Bundesrepublik Deutschland einen maßgeblichen Einfluß ausgeübt. Es gilt nun, im dritten Jahrzehnt unserer bundespolitischen Gemeinschaft, von Bayern aus verstärkt den Blick nach Europa zu richten und von unserem politisch-geographischen Standort aus auch in der politischen Bildungsarbeit das föderative Staatsprinzip zu festigen. Die in Tutzing an einem landschaftlich bezaubernden Ort beheimatete Politische Akademie kann so weit über Bayern hinaus für Staat und Gesellschaft wirksam werden. Es ist Sache des Parlaments heute, an diesem Tag, auch Dank zu sagen für all die in der Akademie geleistete Arbeit. Dank an die Damen und Herren des Kuratoriums. Dank auch an die Damen und Herren des Beirats. Dank aber vor allem an den nimmermüden Direktor der Akademie, Dr. F. M.*, mit seinen Dozenten und Assistenten und all den unbekannten und ungenannten Helfern. Ich wünsche der Akademie für Politische Bildung auf ihrem Wege ins zweite Jahrzehnt, daß sie von jenem politischen Geist beseelt sei, der aus den Worten eines bayerischen Abgeordneten Anfang des 19. Jahrhunderts spricht. Es war der Abgeordnete Behr, der zu Beginn der nun 150jährigen Parlamentsgeschichte unseres Landes in den Februartagen 1819 * Der Name ist in diesem Zusammenhang unwichtig und deshalb abgekürzt.

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Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch von den Pflichten und dem Gemeingeist des Politikers sprach und davon, >daß die Augen von ganz Baiem, ja vielmehr von ganz Deutschland, jeden unserer Schritte begleiten«« Das Edelsubstantiv »vornehm«, zumal in der stereotypen Verbindung von »vornehmster Aufgabe«, will die nachfolgende Wegweisung

flir

politische

Bildungsarbeit

charismatisch

absichem: da es sich um die vornehmste Aufgabe handelt, muß die Priorität stimmen. »Und dies gerade in unserer heutigen Situation« - auch der parenthetische Aktualitätsbezug ist logisch nicht bewiesen, bleibt genauso die Begründung schuldig wie die Vokabel »vornehm«. Was als Aufgabe der politischen Bildung ausgegeben wird, ist eine als Tatsachensatz maskierte Meinung: statt politischer Utopien sollen politische Realitäten beachtet werden; der Kontext macht deutlich, daß die politischen Realisten aufgewertet werden. Dies geschieht über den Umweg einer Metapher: die Utopisten befinden sich auf einem Weg, die Realisten auf einem Pfad (archaisch-feierliche, man möchte fast sagen: biblische Anklänge finden sich noch des öfteren in dieser Rede). Der Weg der Utopisten ist zudem »irrational«; interessant, daß

»irrational« - was

ansonsten

der politischen wie

weltanschaulichen Position des Redners nicht entsprechen dürfte - negativ verwendet wird. Die Eigenschaften des realistischen Pfads haben dem Pejorativ »irrational« gegenüber eindeutig positive Einfärbung; der Pfad ist schmal und mühsam. Im bürgerlichen Weltbild ist, wogegen schon Friedrich Schiller in Abwandlung des Kantschen Rigorismus anging, mühevoll -33 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch immer wertvoller als mühelos; wer sich abmühen muß, stets höher, als wer sich leicht tut. Unbestritten ist, daß politische Bildungsarbeit die Realitäten beachten soll; gleichermaßen unbestritten, daß die Utopie (das »Prinzip Hoffnung«, die idealtypische Orientierung) politisches Denken und Handeln zu bestimmen hat. Dies ist offensichtlich durchaus auch die Meinung des Redners, denn im zweiten Satz dieses Textes fordert er die Akademie für Politische Bildung auf, »Denkmodelle für die Zukunft« zu erarbeiten. Die Unlogik der beiden Sätze, die sich gegenseitig aufheben, wäre freilich dann »sinnvoll«, wenn man unterstellen würde, daß es sich in beiden Sätzen nicht - wie die abstrakte Formulierung vorgibt - um allgemeine Aussagen, sondern um (unterschwellig) inhaltlich­ qualifizierende Aussagen handelt: Die irrationalen Utopisten des ersten Satzes könnten dann z.B. Produzenten »linker« Denkmodelle sein; der nachfolgende Satz auf die Herstellung systemkonformer Denkmodelle sich beziehen. Eine solche Differenzierung wäre legitim; doch dürften die Intentionen der beiden Sätze dann nicht in Konstrukten verpackt bzw. versteckt sein. Auch der dritte Satz ist in der logischen Verknüpfung unhaltbar: Wenn die Akademie eine Begegnungstätte, ein Diskussionsforum ist, in dem Denkmodelle für die Zukunft erarbeitet werden, so folgt daraus keineswegs, daß sie damit zur politischen Mitsprache und Mitverantwortung führt. Gerade der erste Satz, in dem vom irrationalen Weg politischer Utopisten abgeraten wird, muß so verstanden werden, daß eine Einrichtung, in der Denkmodelle für die Zukunft erarbeitet -34-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch werden, keine Chancen der Mitsprache und Mitverantwortung hat. Da jeder Definition aus dem Weg gegangen, eine solche auch nicht andeutungsweise versucht wird, werden die weitgehend synonym wirkenden Wort-Verbindungen beliebig positiv oder negativ verwendet. Oder aber man meint mit »Denkmodell fiir die Zukunft« Affirmation des Bestehenden; dann wäre die Satzfolge inhaltlich stringent. »Denkmodell« würde dann als Modevokabel lediglich politischen und bildungspolitischen Konservatismus verschleiern wollen. Der dritte Satz steht scheinlogisch fest: »So ist eine Akademie für politische Bildung heute nicht in erster Linie eine Schule der Demokratie.« Es wird nicht erläutert, warum eine Akademie, die eine Begegnungsstätte, ein demokratisches Diskussionsforum, eine Produktionsstätte für Denkmodehe, eine Einrichtung von Mitsprache ist, nicht in erster Linie eine Schule der Demokratie sein kann; offensichtlich wird der Begriff »Schule« nicht mit Begegnung, Demokratie, Diskussion, Denkmodell, Mitverantwortung assoziiert. Es muß dem Redner überlassen bleiben, wie er den Worten durch Gebrauch ihre Bedeutung gibt bzw. nimmt; da er aber die Akademie für Politische Bildung sachgerecht zu beschreiben sucht, hat er offensichtlich von den dort in Theorie wie Praxis vertretenen Zielen wenig Ahnung: Schule wird zumindest dort als demokratische, emanzipatorische Einrichtung verstanden. Das »So« macht deutlich, daß die Rede sowohl unlogisch als auch unsachlich (sachfremd) ist. Die Meinung des Redners über die Aufgabe einer Politischen Akademie wird als Metapher vorgetragen: eine Schule der Demokratie soll die Akademie nicht in erster Linie sein; dafür ein »ragender Leuchtturm«; das Adjektiv gibt dem Gleichnis -35-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch eine zusätzliche emotionale wie moralische Aufwertung; am Signalcharakter eines Leuchtturms kann nun kein Zweifel sein. Wer wird schon, wenn er auf offener oder stürmischer See sich befindet, am Leuchtturm sich nicht orientieren wollen? Das Bild macht einen Vorgang fraglos, der ohne Bild fragwürdig wäre: Soll eine Akademie tür politische Bildungsarbeit normativ wirken, Leitbild tür eine sich formierende Gesellschaft sein, oder kann sie nur »Angebote« machen - eben Diskussionsforum, Begegnungsstätte sein, Denkmodelle alternativ vorschlagen? Die im zweiten Satz vom Redner gegebene Wesensschau der Akademie wird hier erneut zurückgenommen: nicht Forum ist die Akademie, sondern Leuchtturm. Das sind auch topographisch zwei sehr verschiedene Dinge. Da der Redner offensichtlich sich selbst in der Metapher nicht so wohl fühlt, daß er darin verbleiben möchte, zieht er sich wieder aufs »Modell« zurück; gewinnt dann vollends Boden unter den Füßen beim Lob des bayerischen Föderalismus, der nun einmal zum Gedankenvorrat bayerischer Politiker gehört. Daß der Redner mit »Modellen« letztlich nicht viel anzufangen weiß, wird auch in diesem Kontext deutlich: er »stellt sie in den politischen Raum« und versieht sie mit dem Allerweltswort »attraktiv«. Warum der Föderalismus »gerade zum jetzigen Zeitpunkt ein höchst aktueller Auftrag« sei, bleibt unbegründet; man kann sicherlich vieles für die »Ordnungsprinzipien des Föderalismus« anführen; sie auch tür die europäische Einigung empfehlen; das Adjektiv »klassisch« (über das schon Nestroy spottete) entwertet jedoch den Gedanken. Immerhin sind diese beiden Sätze einigermaßen konkret; um so verwunderlicher, daß ihnen der Redner allein nicht genügend Überzeugungskraft zutraut -36-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch und deshalb seine Feststellung über die »so« über Bayern hinaus für Staat und Gesellschaft in Erscheinung tretende Wirksamkeit der Akademie mit einem geographischen Lob garniert: ist doch die Akademie in Tutzing an einem landschaftlich bezaubernden Ort beheimatet - als ob eine landschaftlich bezaubernde Heimat etwas mit der Überzeugungskraft logischer oder politischer Arbeit zu tun hätte. Wäre der Redner mit politischer Bildungsarbeit wirklich besonders verbunden, würde er diese Arbeit besonders schätzen, müßte die Hochschätzung in den Dankesworten sich manifestieren. Es muß bedenklich stimmen, daß die Rede diesem Dank nicht die geringste gedankliche oder persönliche Einfärbung zu geben vermag. Statt dessen nur die übliche syntaktisch-enumerative Sequenz: »Dank... Dank... Dank... vor allem...« Besonders fatal dabei ist das Eigenschaftswort »nimmermüd«. Mag Dr. M.’s Arbeit in manchem auch umstritten sein, mag mancher seine Vorstellungen von politischer Bildung nicht billigen, mag mancher der Meinung sein, er sei in diesem Bereich zu »geschäftig« gewesen - seine jahrzehntelange, überregional wie international anerkannte Tätigkeit mit dem »Lob« »nimmermüd« zu bedenken, kommt einer Abqualihzierung gleich. Es ist durchaus anzunehmen, daß der Redner dies nicht gemeint hat; lexikalisch rekurriert er eben gerne auf archaische oder rurale Vokabeln. Das Wunschbild steht dahinter, daß man hierin der Akademie - den politischen Königsgedanken die Kärmerdiensteleiste; »nimmermüd« auf dem schmalen und mühsamen Pfad der Realitäten. Angesichts des Leuchtturms, an dem die Gesellschaft sich formiert, verblassen die zur Dialektik des Denkens und Handelns anregenden Denkmodelle. -37-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Der hierarchischen Grundeinstellung entspricht es zudem, wenn nach dem nimmermüden Direktor in sich abstufender Reihenfolge die Dozenten, Assistenten, die »ungenannten und unbekannten Helfer« erwähnt werden. Verständlich, daß diese Helfer nicht alle genannt werden können; »unbekannt« sind sie freilich deshalb nicht. Das Personal der Akademie ist namentlich genauso bekannt wie die in der Akademie tagenden Besucher. Wieder einmal, wie so oft in dieser Rede, ist die (hier royale) Stereotype dem Inhalt davongelaufen. - Offizielle Reden enden gerne mit einem Zitat; auch wenn dies heute meist nur zum Ritual gehört, ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden - kann doch das Zitat evtl, eine gute Zusammenfassung der vorausgegangenen Gedanken sein oder nochmals den Standort des Verfassers widerspiegeln. Das vom Redner an den Schluß gestellte Zitat ist jedoch völlig nichtssagend. Man suchte offensichtlich ein Zitat, fand nichts Passendes, fand schließlich dieses. Ironisch könnte man freilich auch sagen, daß dieses Zitat durchaus passe: da es einen nichtssagenden Text adäquat - nämlich nichtssagend - zusammenfasse, und den Mangel an politischer bzw. politologischer Argumentation mit einem »Bayern über alles« zu kompensieren suche. (»Ich denke ja gar nichts, ich sage es ja nur«, meint Karoline in Ödön von Horvaths Stück »Kasimir und Karoline«; das Stück spielt auf dem Münchener Oktoberfest). Den demokratisch-affirmativen Sprachstil kann man insgesamt auch gut mit einem Sprachspiel von Ludwig Harig charakterisieren: »Red immer Treu und Üblichkeit -38-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch red immer Üb- und Treulichkeit trau immer Red- und Üblichkeit üb immer Red und Treulichkeit üb immer Treu und Redlichkeit.« Die APO- und Protestbewegung hat die politische Sprache insofern verändert, als sie (auch wenn sie die etablierte politische Sprache nicht direkt beeinflußte) die offizielle Sprache mit Sprachmustern konfrontierte, die ein unbeschwertes und unberührtes Weitersprechen im »Jargon der Eigentlichkeit« nicht mehr zuließen. Das Tremolo der Ergriffenheit wurde dadurch zwar nicht abgebrochen, aber als solches erkennbar. Die betuliche Oberflächennaivität wurde zugunsten kritischer Differenzierung abgebaut. Vor allem hat die APO-Sprache eine Methodik des Infragestellens entwickelt, einschließlich Lernprozesse veranlassender Direktheit, die den harmonisierenden Nebel unverbindlicher Floskeln brutal, aber ehrlich zu vertreiben vermag. In und mit solcher Negation wurden Wort- und Begriffsbereiche aktiviert, die zu lange dem deutschen Bewußtsein entzogen gewesen waren und höchstens esoterisch im wissenschaftlichen Bereich eine begrenzte Ausstrahlungskraft gehabt haben; das Begriffsarsenal des Marxismus, den Sozialismus überhaupt, und der Psychoanalyse. Hier schien sich eine Sprache herauszubilden, die mit ihrem entmythologisierenden und entpathetisierenden Effekt gut geeignet wäre, die Stereotypie des Denkens aufzubrechen bzw. die Flexibilität des Denkens zu artikulieren. Die gegenüber dem affirmativen Mißbrauch von Sprache sich formierende -39-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Gegenbewegung reproduziert in ihrer Kritik jedoch die Elemente des Kritisierten. An die Stelle des »Jargons der Eigentlichkeit« tritt der »Jargon der Dialektik«. Beide Male vertritt Sprache Absolutheitsanspruch. In Diskrepanz zu den in Sprache vorgebrachten Zielvorstellungen, zeigt die Sprachpraxis ein Freund-Feind-Denken. Man glaubt sich weiterhin im Besitz von Wahrheit; Glaube und Dogma artikulieren sich einmal in pathetischer Sprechlage und affirmativen Satzmustem; zum anderen, als dialektische Sprache, werden Gesellschaftsrelevanz und Kapitalismustheorie ohne Selbstreflexion und Problematisierung der eigenen Axiomatik zelebriert. So wie sich die Bourgeoisie ihr Pseudoidyll nicht durch kritische Sprache beeinträchtigen ließ, so wenig ist die Sprache des Protests bereit, das revolutionäre Asyl zu verlassen. Diese Sprache - ergänzt durch Revoluzzer-Look und die Accessoires linker Boutiquen - sendet Erkennungszeichen aus, nach denen man sich zur verschworenen Gemeinschaft zusammenfügt. Das, was häufig sich als radikal bezeichnet oder bezeichnet wird, ist insofern nur Scheinradikal, als die Radikalität vor dem Infragestellen der eigenen Position halt macht und Progression durch Stagnation im einzementierten Standort ersetzt wird. In diesem Sinne zeigen die Scheinradikalitätcn einen Ästhetizismus, der durchaus dem der spätbürgerlichen Ära adäquat ist. Während bei der Bourgeoisie vorwiegend künstlerische Mythologeme bzw. auch Trivialmythen für den Transport aus dem Ideenhimmcl ins Bewußtsein bzw. Unterbewußtsein verwendet wurden, haben diese Aufgabe im APO-Bereich bestimmte »Sprachfigurationen« übernommen. Das Ritual des dialektischen Jargons mit den jeweils signalhaft -40-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch einschnappenden Schlüsselbegriffen dient zudem dazu, an konkreter Praxis sich vorbeizumogeln. Während man dem liberalen Reformer sein Tun als Alibifunktion ankreidet, will man sich selbst mit Hilfe von revolutionärer Rhetorik ein Alibi verschaffen, nämlich weiterhin Welt und Gesellschaft interpretieren zu können, ohne sie verändern zu müssen. Die der Praxis entzogenen und somit ästhetisierten Leerformeln gesellschaftskritischer Jargons (mit dem Wort »Scheiße« als Erkennungssignal tür die Gemeinschaft der Progressiven), zeigen ihren inhumanen Ursprung auch dadurch, daß ihnen Humor, Witz und Zweifel abgehen. Die Überzeugung, im Recht zu sein, gibt der ursprünglich gegen die Affirmation angehenden Sprache wiederum die Aura des Affirmativen. Wortreiche Bejahung des eigenen Systems; provinzielles Beharren im eigenen Denkgebäude mit aggressiven Attacken auf all diejenigen, die dem Gedankengebäude sich kritisch’ nähern oder es gar kommunikativ-anfragend betreten wollen; manische Fixierung auf die eigenen Prämissen; Mangel an Bereitschaft, ein Jota des Geglaubten aufzugeben - machen es verständlich, daß diese Sprache viel mehr ihren Feind im liberalen Relativismus als im konservativen Eigentlichkeitsjargon sieht. Da diese Sprache jedoch bislang nicht oder kaum zum Handeln gekommen ist, wird man schwerlich aus ihrer Struktur den Vorwurf des Linksfaschismus ableiten können. Die Stereotypie der Protestsprache ist nicht Artikulation brutaler Praxis; sie ist überwölbt von einem Ideenhimmel, der Meinungen in Wahrheiten transzendieren läßt. Aus diesem Grunde muß die »Protest«-Sprache sehr abstrakt sein und -41 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch bleiben, weil jede Dinglichkeit die Ideologie gefährden würde. So kann Wirklichkeit über Sprache nicht aufs Denken einwirken. Es entsteht nichtjene spannungsreiche Polarität zwischen Praxis und Sprache, die es verhindert, daß Anschauungen blind und Begriffe leer bleiben. Wenn es der Sprache des Protestes gelänge, sich selbst als Zeichensystem von Vereinbarung zu begreifen, sie also nicht - auf ihre Weise - den Irrtum affirmativer Kultur reproduzierte (mit dem Wort in der Wahrheit zu wurzeln, in der Idee verankert zu sein), erhielte sie die Dimension des Spielerischen zurück, die experimentelle Offenheit und kommunikative Verunsicherung einschließt. Auch das »linke« politische Sprachmuster sei an einem längeren Textbeispiel aufgezeigt und analysiert; es handelt sich um den Auszug aus einer Resolution vom 4. Deutschen Jugendhilfetag (1970). »Die Funktion der Schule im Kapitalismus besteht darin, die Reproduktion von Arbeitskraft in einem Umfang und in einer Qualifikationsabstufung sicherzustellen, die den Entwicklungs­ tendenzen der Produktivkräfte angepaßt ist. Da die erforderliche Qualifikationsstruktur sich immer schneller verändert, muß das Schulsystem, um denjeweils benötigten Arbeitskräftenachwuchs erschließen zu können, flexibel gemacht werden. Diese Tendenz zur größeren Mobilität des Bildungssystems gerät tendenziell in Widerspruch zu der vom Herrschaftsinteresse diktierten Not­ wendigkeit zur Erhaltung sozialer Ungleichheit. Neben dieser Widerspruchsebene produzieren die Erfordernisse der indus­ triellen Produktion unter kapitalistischen Bedingungen eine -42-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch weitere Widerspruchsebene. Die in der hochindustrialisierten Produktion zunehmend benötigten Grundqualifikationen imp­ lizieren ein Emanzipationspotential, das die vom Herrschafts­ und Ausbeutungsinteresse des Kapitals diktierte Arbeitsteilung und Machtstruktur im Betrieb zu gefährden droht. Der hierin sich ausdrückende Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen muß in wachsendem Maße im Schulsystem selbst bereits aufgefangen werden. Dies soll die Schule dadurch leisten, daß sie neue Disziplinierungs- und Anpassungstechniken in den Schulmechanismus und neue ideo­ logische Inhalte in den Lehrplan aufnimmt. Die Art und Weise, in der die Schule ihre Funktion im Kapitalismus wahmimmt, wirkt sich für die Arbeiterkinder und -jugendlichen besonders nachteilig aus. Zum einen rekrutiert sich aus ihnen nach wie vor die Masse der Lohnabhängigen; ihre Chancen, dem Lohnarbeiterdasein über eine schulische Höherqualifizierung zu entgehen, bleiben gering. D. h. die Kinder des Proletariats bleiben in ihrer überwiegenden Mehrheit am unteren Ende der Qualifikationsskala kleben und partizipie­ ren so auch nur vergleichsweise gering an den emanzipatorischen Impulsen, die die Höherqualifizierung mit sich bringt. In dem Maße, in dem ihnen gestattet wird, an der weitertuhrenden Schulbildung teilzuhaben, müssen sie dies mit besonderen Anpassungsleistungen an bürgerliche Normen und Sprachmuster erkaufen, ein Vorgang, der sie ihrer sozialen Identität häufig beraubt, sie so ihrer Klassenlage entfremdet und ihre Handlungs­ fähigkeit lähmt. In ihnen erzeugt die Schule ein Geiuhl der Minderwertigkeit, sie werden eingeklemmtzwischenOhnmachts-43 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch geflihlen und vagen, an ihre individuelle Anstrengung fixierten Aufstiegshoffnungen. In diesem Dilemma offenbart sich, daß die Schule nicht nur eine repressive Institution ist, von der alle Schüler gleicherma­ ßen betroffen sind, sondern daß sie ein Herrschaftsinstrument, daß sie Klassenschule ist. Sie verlöre diesen Charakter auch dann nicht, wenn das Dreiklassenschulsystem (Gymnasium, Realschule und Hauptschule) unter dem Motto der sozialen Integration und Herstellung der Chancengleichheit in integrierten Gesamtschulen eines Tages gänzlich aufgehoben wäre. Soziale Integration in der Schule, die nicht basiert auf einer Aufhebung des Klassenantagonismus in der Gesamtgesellschaft, verkommt zwangsläufig zur Volksgemeinschaftsideologie und hindert die Arbeiterkinder an der Erkenntnis ihrer Klassenlage. Selbst dann, wenn es der Gesamtschule gelänge, die Chancenungleichheit verringern zu helfen (wofür es noch keine Anzeichen gibt), könnte sie den Arbeiterkindern keine Perspektive solidarischer Überwindung des Klassenschicksals vermitteln, sondern sie nur zu individuellem Aufstiegsstreben motivieren und sie damit in verschärfte Konkurrenzsituationen hineintreiben.« Der den Text eröffnende Meinungssatz wird als Tatsachenfeststellung ausgegeben; dafür sorgt nicht nur die keine Befragung zulassende indikativische Feststellung »besteht«; dem Verdikt dienen auch die ideologisch besetzten Konstrukte »Schule«, »Kapitalismus«, »Arbeitskraft«, »Produktivkräfte«. Die mit diesen Begriffen implizierte Gesehschaftstheorie läßt als Axiom keine anderen Axiome neben sich gelten; alle nachfolgenden Behauptungen leiten sich aus solchem -44-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Ausschließlichkeitsdenken ab. Alternativen gibt es nicht; dies widerspräche dem Wesen von Ideologie. Daß Schule auch gegen gesellschaftliche Tendenzen angelegt sein könnte, also nicht nur der Reproduktion von Arbeitskraft im Sinne der Entwicklungstendenzen der Produktivkräfte diente, wird inner­ halb des »bestehenden Systems« a priori verneint. Dem Begriff »Flexibilität« werden ebenfalls von vornherein emanzipatorische Möglichkeiten abgesprochen; er wird statt dessen »ein­ deutig« als Herrschaftsvokabel entlarvt. Diese Eindeutigkeit wird dekretiert. Das Herrschaftsinteresse, ungeachtet des gro­ ßen sozialen Fortschritts (der bis ins Detail belegbar wäre), sei auf soziale Ungleichheit fixiert. Diffamierung von Reform und Evolution ist damit verknüpft. Die Stringenz der Argumentation ist gegeben, da die Prämissen nicht diskutiert werden (dürfen). Alternatives Denken würde den ideologischen Duktus zerstören. Verunsicherung wird nur aktiv, nie reflexiv vorgenommen. Daß der auf abstrakter Ebene konstatierte Widerspruch zwi­ schen Arbeitsweise und Machtstruktur autoritäre Strukturen verändern könne, etwa Teamarbeit Hierarchien abzubauen vermöge, wird apodiktisch verneint. Die Demokratisierung eines Industriesystems durch Mitbestimmung, seine Sozialisierung unter Beibehaltung effizienter Arbeitsweisen kann als Reform nicht stattfinden. Die Prämissen lassen es nicht zu. An eine nicht-repressive Leistungsgesellschaft darf man nicht glauben, da dies Irrglaube wäre. Dementsprechend wird Demokratisierung von Schule zur Disziplinierungs- und Anpassungstechnik uminterpretiert; Schulreform erweist sich als »fortgeschriebene« Repression. Disqualifiziert wird somit auch der Versuch, Sprachbarrieren abzuschaffen bzw. zu über­ -45-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch winden. Solche Spracherziehung stelle letztlich nichts anderes dar als Anpassung an den Code der Herrschenden. Die bürgerli­ chen Sprachmuster würden zwar dann für die unteren Schichten geöffnet (der Begriff des Proletariers bleibt wie so vieles in die­ sem Text Undefiniert), aber diese scheinbare emanzipatorische Möglichkeit entfremde den Proletarier nur seiner Klassenlage. Durch Spracherziehung werde er integriert; bewege er sich nicht im proletarischen Sprachmuster, verlöre er sein revolutionäres Bewußtsein. Verwischten sich die Klassenunterschiede und gegensätze, würde Chancengleichheit hergestellt, gäbe es also nicht mehr (durch Sprache) Herrschende und nicht mehr (wegen ihres sprachlichen Mangels) Beherrschte, gelänge die Reform, fehlte der revolutionären Strategie das revolutionäre Potential. Möglichkeiten werden als irreal denunziert, weil sie nicht in die Taktik passen. Sprachliche Emanzipation will zudem der Text als solcher verhindern, indem er den Vorsprung soziologischer Terminologie zum Führungscharisma stilisiert - wohlwissend, daß die mangelnde Fähigkeit sowohl des Proletariats wie der Bourgeoisie, das soziologische (neomarxistische) Sprachmuster zu beherrschen, in einer einigermaßen demokratischen (d. h. sprachlicher Kommunikation große Bedeutung zumessen­ den) Gesellschaft Machtpositionen einräumt. Die herrschende Sprache ist nicht mehr die Sprache der Bourgeoisie; die beherr­ schende und manipulierende Sprache ist längst die der vulgär­ marxistischen Indoktrination geworden. Mit dem Begriff Spätkapitalismus glaubt man insofern wei­ terzukommen, als der »Jargon der Dialektik« mit seinen aggres­ siven, Abbreviaturen magisch verwendenden Sequenzen den morschen Jargon der Eigentlichkeit davonstieben läßt. Wenn -46-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch diese von den Linken erworbene sprachliche Macht praktisch sich noch nicht so auswirkt, wie sie es an sich könnte, dann vor allem deshalb, weil die revolutionäre Theorie die kon­ krete Arbeit scheuen muß, würde doch diese die ideologische Selbsttäuschung evident machen. So katapultiert sich der neo­ marxistische Revolutionär aus dem durch Sprache erworbenen machtpolitischen Vorteil mit Hilfe von Sprache wieder hinaus, in die Theorie zurück, damit er empirische Falsifikation vermei­ den kann. Im Sinne linker Affirmation »offenbart« sich durchaus logisch (solange Prämissen unbefragt bleiben und nicht befragt werden dürfen), daß die Schule eine repressive Institution und als Klassenschule Herrschaftsinstrument ist. Indem unbezweifelbare historische Erfahrungen extrapoliert werden, eine korrelieren­ de Entwicklung außerjeden Betracht bleibt, »kann« Schule sys­ temimmanent sich nie befreien. Die Negation emanzipatorischer Möglichkeiten geschieht dadurch, daß man Konjunktivsätze in den Irrealis setzt; die futurologischen Chancen werden so als unmöglich, unwirklich abgetan. Das kann natürlich nur syntak­ tisch, nicht argumentativ geschehen - wie sollte man denn be­ weisen können, daß die Schule ihren repressiven Charakter nicht verlöre, wenn das Dreiklassenschulsystem unter dem Motto der sozialen Integration und Herstellung der Chancengleichheit in integrierten Gesamtschulen aufgehoben würde? Warum sollte die Gesellschaft nicht durch solche Aufhebung sich eman­ zipieren können? Das Experiment könnte das Theorem vom Klassenkampf mit revolutionärem Umschlag mißachten; so ist es taktisch klüger, über das Experiment bereits a priori ein Verdikt zu sprechen (ähnlich dem Konservatismus, der es aus anderen Gründen verabscheut). Die soziale Integration durch Schule wird -47-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch nicht nur als Verschleierung von Klassenbewußtsein empfunden (woraus sich erneut ergibt, daß eine Verbesserung der Situation nicht als Unwirklichkeit, sondern wegen Verminderung des re­ volutionären Potentials abgelehnt wird); sie wird zusätzlich mit dem Schlüsselwort »Volksgemeinschaftsideologie« verdächtigt. Wiederum wird der reformatorische Konjunktiv (»Selbst dann, wenn es der Gesamtschule gelänge...«) durch Ideologie abge­ kappt: Es würde sich nur ein individuelles Aufstiegsstreben und keine klassenspezifische Emanzipation einstellen, die Konkurrenzsituation erführe Verstärkung. Was ideologisch nicht sein darf, kann auch empirisch nicht erlaubt werden. Vor Ideologie hat Rationalität zu kuschen, läßt sich Ideologie doch selbst als »kritisches Bewußtsein« feiern.

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Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch

Ex cathedra

Das Sprachmuster, das nachfolgend analysiert werden soll, wird etwas vereinfachend als »Professorendeutsch« bezeichnet - und darin ist die vorherrschende Artikulationsweise des Bildungsprivilegierten ebenso eingeschlossen wie die Artikulationsweisen von Kanzel und Katheder. Es geht weniger um die Sprech- und Schreibattitüden einer bestimmten Berufsgruppe; vielmehr um die Sprache des Bildungsbürgertums, die sich an diesem Deutsch orientiert hat. Die historische Dimension des soziolinguistischen Tatbestands umfaßt das 19. und 20. Jahrhundert, wobei die Eindeutigkeit und Kompaktheit der Merkmale vor allem im Wilhelminischen Zeitalter und in der Zeit vor und nach 1933 gegeben ist. Zur generellen Charakterisierung kann man einen Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lee heranziehen: »Es war eine große Leere, angefüllt bis an den Rand mit Gelehrsamkeit.« Und diese Gelehrsamkeit war ausgerichtet und bestimmt: in der Sprechanlage durch das Pathetische, in den Wortfeldern durch das Kämpferische, im Psycholinguistischen durch das Kriegerisch-Idyllische. Das Rühmen der kriegerischen Idylle stellt dabei einen Bruch in sich selbst dar, daja gerade das ursprünglich Idyllische ein Kleintun in Worten, relativierende Ironisierung, Liebe in Distanz erfordert, also die Idylle dem Kriegerischen diametral entgegengesetzt ist: als Abkapselung von den »Stürmen und Kämpfen der Welt«. -49-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Die besondere negative »Leistung« des Professorendeutsch besteht - auf einen Nenner gebracht - darin, daß es idealistische und romantische Grundwerte in Umwertung amalgiert hat. Es wird bestimmt vom Pathos des epigonalen Idealismus und Klassizismus, fühlt sich vor allem Friedrich Schiller verpflichtet, während es in Wirklichkeit dessen Sprache mißbraucht (aus Schiller etwa den »Moraltrompeter von Säckingen« macht). Die Gedenkrede zu Schillers 100. Geburtstag des Liberalen (!) Gabriel Rießer markiert einen wichtigen Punkt der sprachlichen Episonalisierung: »Wie das Auge des Volks das festliche Gepräge liebt, mit dem mächtige Herrscher sich umgeben, so liebt seine Seele den Glanz und die Pracht der Schillerschen Sprache, die Majestät seines Ausdrucks, das von Gold und Purpur strahlende Gewand der Herrschaft im Reiche des Geistes.« Diese symptomatische Rede umfaßt ungefähr 5000 Worte, darunter etwa 150 Steigerungsformen, grammatikalische Superlative oder Komparative, d. h. jedes 33. Wort ist ein Superlativ oder Komparativ. Unberücksichtigt in dieser Zahl sind die vielen inhaltlichen Superlative, wie etwa »mächtiges Rauschen«, »hohes Tönen«, »gewaltiger Genius« und dergleichen. Um deutlich genug aufzuzeigen, daß Schiller edel, erhaben, mächtig, herrlich und unerreicht sei, werden die entsprechenden Worte zu rhetorischen Gipfeln aufgetürmt. Allein das Wort hoh bzw. hoch taucht sechzigmal auf, ähnlich edel. Für Rießer und seine enthusiastischandächtigen Zuhörer war in Schiller »die höchste und edelste Bildung erschienen«, die »reine Entwicklung des Natürlichen, die schönste Blüte, -50-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch die süßeste Frucht; in ihm lebten die zartesten und die tiefsten Empfindungen, das reinste Geistigste, die höchsten Mächte und die ursprünglichsten und kindlichsten Gefühle« - und dies alles in einem Satz. Das Schillersche Pathos war nun nicht mehr Gewand des Gedankens, Erhöhung des Gedachten, Gesehenen, Erlebten, Erfühlten, sondern sich selbst überlassen; unverbindlicher, willkürlicher Wortrausch. Der Mensch bewegte sich im Gehäuse der stereotypisierten Worte, sinnlos im Kreise affirmativen Kontextes sich drehend. Ein Wort gab das andere, eine Phrase die andere; kein Gedanke. Metaphorik, Syntax und Topik der national-bürgerlichen, dem Geist nach kleinbürgerlichen Rede des 19. und 20. Jahrhunderts sind charakterisiert durch einen Schwulst der Bilder, die Betäubung des Logos durch mythifizierendes Geraune, Zerstörung der Begriffskeme, so daß leere Worthülsen allein verbleiben. Die das Biedermeier charakterisierende Hinwendung zu den Dingen, die je nach Temperament des Rezipierenden entweder als harmonisch oder enervierend empfundene Dinglichkeit (z.B. in Stifters >NachsommerGartenlaube< wurde von einem Liberalen des Jahres 1848 gegründet. Emst Keil, Gefangener der Restauration, gab von Anfang an seinem Blatt eine sprachliche Note, die um die Sympathien der geistigen Provinz sich bemühte. Das Bildungsbürgertum wurde von Urbanität durch Sprachmuster ausgeschlossen, die Aufklärung durch Vernebelung ersetzten. Das in polaren syntaktischen Strukturen sich widerspiegelnde rationale Bemühen, das dialektische Abwägen von Pro und Kontra, das argumentative Schließen und Folgern, der die eigene Position verunsichernde und damit kommunikationsfähige Relativismus und Pluralismus werden ersetzt durch Irrationalismen und Emotionen, deren geistige Trennschärfe sehr gering ist, die aber dafür um so mehr Tatbestände, Dinglichkeit, Objektivität zu verschleiern vermögen. Ex cathedra wird eine Kultur der Innerlichkeit verkündet (oktroyiert), stets einer unbedingt zu bejahenden, »ewig besseren und wertvolleren Welt« - irgendwo »droben« - verpflichtet; die Deskription der tatsächlichen Welt, z.B. in den Formen des Realismus und Naturalismus, verfällt der Diffamierung. Auch von dieser Sicht her stoßen wir auf den Dingverlust der Sprache, die nun ganz von innen her sich formiert. Die in der eigenen »Sprachwürde« sich hochsteigemde Sprache hat nichts mehr mit dem zu tun, was Schiller »Würde« -52-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch nannte. In dessen dialektischem Weltbild war die »Schöne Seele« Ausdruck der bewältigten Natur und Triebhaftigkeit, war Sittlichkeit human, da sie der Natur, der Materie, der Schwerkraft abgerungen wurde, in der Formung, dem »Formtrieb«, Geist und Stoff sich versöhnten. Dort, wo diese Vermählung »zwanglos« sich vollzieht, waltet Anmut, dort, wo die Verbindung erkämpft wird, zeigt sich Würde. Im Professorendeutsch ist das Schöne, Große, Wahre, Erhabene eine Angelegenheit lediglich von Worten, die ihre Leere dadurch verdecken, daß sie sich die Aura des »Nicht-von-dieser-Welt« zulegen. Inmitten einer durch Industrialisierung sich extravertierenden Gesellschaft und innerhalb der wirtschaftlichen Expansion des Kapitalismus flüchtet Sprache in Introvertiertheit. Zurückgeschreckt von der Diskrepanz zwischen Soll und Sein, Tugendhimmel und Welt im Gaslicht, sucht die epigonale »schöne Seele« in dieser Welt dadurch sich zurechtzufinden, daß sie sich mit Hilfe von Sprache von dieser Welt wegbewegt. Besonders deutlich spiegelt diese Tendenz auch die Literatur wider, die sich der »konservativen Erneuerung des Menschen« verpflichtet fühlt. Die Dichter der deutschen Innerlichkeit spezialisierten sich darauf, den Dreck der Welt in Sprachgold auszumünzen, das sie dann mit gelassener Pose an die Kulturbeflissenen verteilten. Im Geiste rein bleiben! »Zu Beginn des Jahres 1939 empfing ich zwei amtliche Briefe, die beide einen Glückwunsch zu Hitlers Geburtstag verlangten. Dergleichen Huldigungen wurden damals wie Steuern eingetrieben, und in diesem Fall mit besonderem Nachdruck, denn dieser Geburtstag war einer von denen, welche Rilke die >betonten< nannte: der fünfzigste. Eine bloße Gratulation wurde leider von vornherein als ungenügend

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Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch bezeichnet; sie sollte mit einem klaren Bekenntnis zum Führer verbunden sein... Ich stellte aus einigen meiner Bücher Zitate von allgemeiner Gültigkeit zusammen und ergänzte sie durch den Schluß, der Dichter, der Künstler habe im Bereich seiner Arbeit den eigenen schmalen abseitigen Weg mit der gleichen Entschiedenheit zu gehen, wie draußen auf dem Kampfplatz irdischer Gewalten der Mann der Tat den seinigen. Dieser Glückwunsch für Hitler war zu einer Zeit geschrieben, wo man die Hoffnung, ihn jemals loszuwerden, hatte aufgeben müssen. Wer sie richtig las, mußte in ihnen eine höflichmittelbare Beschwörung des Mannes erkennen, von dessen Entschlüssen nun einmal unsere Zukunft abhing. Und so war auch der Segenswunsch am Schlüsse durchaus ernst gemeint, da er doch der Gesamtheit unseres Volkes galt. Ich sandte mein Schreiben ab und verlor es bald aus dem Gedächtnis.« Das Affirmative zeigt sich bei diesen Erinnerungen eines Dichters (Hans Carossas) in Form feinziselierter kunstgewerblicher Sätze. Blamabel ist nicht der Geburtstagsgruß an den »Führer«; er ist aus der Zeit mit ihren Repressionen zu verstehen. Blamabel ist, wie der Dichter im Nachhinein den Vorgang stilisiert, ihn in genüßlich-betulichen Perioden einfängt - wo ein hartes, die tragische Situation aufreißendes Wort am Platze gewesen wäre. In diesem Denken wie Sprechen ist kein Platz für »Materialismus«. »Das Wort Seele gibt dem höheren Menschen ein Gefühl seines inneren Daseins, abgetrennt von allem Wirklichen und Gewordenen, ein sehr bestimmtes Gefühl von den geheimsten und eigensten Möglichkeiten seines Lebens, seines Schicksals, seiner Geschichte. Es ist in der Sprache aller Kulturen von früh an ein Zeichen, in dem zusammengefaßt -54-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch wird, was nicht Welt ist.« So Oswald Spengler. Mit diesem Seelenbegriff, mit dieser Seelenhaftigkeit und Innerlichkeit von Sprache, geht endgültig das verloren, was »schöne Seele«, was Würde und Anmut im nichtpervertierten klassischen Sinne bedeutete: Kalokagathia - Schön-Gutheit gerade des Körpers, gerade des Handelns, gerade der Existenz. Aus der Gemeinschaft der Tätigen wird der esoterische Zirkel der Redenden; im Zentrum der Redenden etabliert sich die Professorenschaft; im Zentrum affirmativer Sprache ist Professorendeutsch zu Hause. Die Professorenschaft ist auch soziologisch, biographisch in der affirmativen Kultur beheimatet. Sie entstammte der bürgerlichen Schicht, die es sich als Leisureclass leisten konnte, Kultur zu intemalisieren. Die Solidität des väterlichen Hauses und Erbes ermöglichte die Habilitation, den Wartestand des Privatgelehrten, das Ausharren als Privatdozent mit der Chance der Berufung. Der Weg war, je länger er wurde, freilich auch mühevoll. Der Kapitalzins langte nicht, die Schwestern mußten ausgezahlt werden. Lebensstandard und Statusdenken ließen den Unterbau wegschmelzen, ehe das Gedankensystem Früchte trug. Vielfach hat die Literatur den Privatgelehrten zum Helden, auch Unhelden gemacht, den anämisch-sensiblen, vertrackt - genialen oder träumerisch-versonnenen Wirrkopf. Der bürgerliche Lebensraum als Teil und Kem affirmativer Kultur ermöglicht nur die Perpetuierung des verflachten Idylls; da das Idyll die Tiefe verloren hatte und die Werte abhanden gekommen waren, die verinnerlichte Bescheidung nicht mehr möglich war, erwuchs daraus Frustration (Vereitelung von Identifikation) und daraus wiederum Frustrationsaggressivität, die sich entsprechend verbalisierte. -55-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch »Der deutsche Mann voll Biederkeit und Treue, der Jüngling, im äußeren Auftreten oft eckig und verschlossen, aber mit Mark in den Röhren und den Kopf voll Ideale, das Herz auf dem rechten Flecke; die deutsche Hausfrau, das Juwel aller Frauen auf Erden, die deutsche Jungfrau, wie eine Blume so hold und schön und rein - das deutsche Haus, ein Haus voll Zucht und Emst und zugleich eine Stätte traulicher Gemütlichkeit... Die Franzosen sind ihrem Wesen nach auf den Verstand angewiesen, sie sind bin durch und durch verständiges Volk, aber ohne rechte Tiefe des Geistes und Gemütes.« (Aus einem weitverbreiteten Lehrbuch tür den Unterricht in Geographie, 1. Auflage 1850; 280. Auflage 1925!) Der Nationalismus bot die moralische Legitimation, aggressiv sein zu dürfen: ein nationales Idyll insofern, als die Propheten des Nationalismus zunächst nicht handelten, sondern sprachen. Geistige Waffengänge wurden ausgetragen. Das Blut war aus Tinte; doch bereitete die Katharsis auf dem Papier das Stahlbad von Langemarck vor. - Professorendeutsch ist die Artikulation bzw. Projektion eines schichtenspezifischen Unsicherheitsgelühls. Die Spitzen des gebildeten Bürgertums und des daran orientierten Kleinbürgertums, die Privatgelehrten, Privatdozenten, Professoren, entwickelten Gedankengebäude, die sich als Schreckenskammem nationalistischer Wahnideen erwiesen. Die Sprache wird zum Kraftakt, mit dem die herrschende Schicht, die sich unter Verdrängung, Mißachtung und Unterdrückung sozialer Wirklichkeit mit Volk und Nation schlechthin gleichsetzt, sich ihre Führerrolle zu beweisen sucht. Die Propheten des Nationalismus steigern sich dabei in eine verbale Hybris und Unmenschlichkeit, die zugleich Teil -56-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch von Provinzialismus ist - nämlich als Mangel an Urbanität­ Erfahrung und Weitläufigkeit, Toleranz und Pluralismus, an Distanz zum eigenen Ich und Wissen um die Fragwürdigkeit der Phänomene; Versuch, Geborgenheit, Idyll dadurch zu erreichen, daß man sich in die Spekulation (die keine wirkliche Spekulation, sondern - psychoanalytisch gesprochen - verbale Frustrationsaggressivität ist) einkapselt und sich’s hier wohl sein läßt. Dieses nationale Pseudoidyll - heroisch ausgestattet, wobei man den »Schreibtisch zu einer Wallstatt deutscher Größe macht« (Karl Schwedhelm) - ist im Grunde gnomenhaft, Zwergwachstum, schrulliger Plüsch, Gedankengebäude, das wie der Eiffelturm als Briefbeschwerer aussieht - Kleinlichkeit, die sich mit Hilfe pathetischer Sprache zur Größe aufpumpt. Dem Kulturbewußtsein der nationalen und nationalistischen Idylle ist zivilisatorische Urbanität ein besonderer Stein des Anstoßes. Die Auseinandersetzung zwischen Thomas und Heinrich Mann zeigt exemplarisch die weltanschaulichen und sprachlichen Positionen. Thomas Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen« können als typisches Beispiel für Professorendeutsch herangezogen werden; gedanklich wie sprachlich treten seine wesentlichen Merkmale (und zwar in besonders komprimierter Art) hervor: in Auseinandersetzung mit dem französischen Ungeist wird die Zivilisation als Verkitschung des Lebens und der Welt empfunden; die westlich orientierte Zivilisationsliteratur wolle die Politisierung und Intellektualisierung; der kulturbewußte deutsche Mensch mit seiner künstlerischen Tiefenschicht wisse jedoch, daß Politik den Menschen nicht menschlicher mache. Thomas Mann, der in seinem Buch sich »hat’s sauer werden lassen«: er habe gekämpft und entsagt (wobei die kämpferische -57-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Verherrlichung ohne existentielle Folge bleibt - die Feder in der Hand ist immer besser als die Kugel im Bauch!), entwickelt eine todessüchtige Mystagogie, im Verbund mit einem rausch­ und traumhaften Sensualismus. Der deutsche Tristan gegen den französischen Voltaire, der siegfriedhafte Thomas Mann gegen den pazifistisch dekadenten Romain Rolland. »Ich fand es oberflächlich, maniakalisch und kindlich, die Welt aus dem Punkte des militärischen Friedens kurieren zu wollen; ich glaube nicht, daß das Leben je friedlich sein könne und auch nicht, daß die hebe Menschheit im ewigen Frieden sich wesentlich schöner ausnehmen werde als unter dem Schwerte. Solange die Menschheit nicht, dachte ich, in weißen Gewändern, Palmzweigen in den Händen und literarische Stimküsse tauschend, umherwallt, wird es wohl dann und wann Krieg geben auf Erden; solange sie Blut in den Adern hat, dachte ich, und nicht lindes Öl, wird sie es wohl vergießen wollen dann und wann. Also nicht Pazifist hätte ich mich nennen dürfen.« Eine solche Äußerung ist professoral in dem beschriebenen Sinne. Hier wird verbal vorgetäuscht, daß man Einblick habe ins Weltgetriebe, daß man sich wohl auskenne in der Menschheitsgeschichte. Realitätsbewußtsein wird vorgegeben, indem man mit metaphemreicher Ironie die rationale und urbane Gegenposition lächerlich macht. Man fühlt sich mit den Kämpfern und Tatmenschen dadurch verbunden, daß man durch die Gefilde der heroischen Wortfelder wandelt. Diese waren entsprechend parzelliert und beackert; die Wortfelder problematisierender Dialektik, tolerierenden Rationalismus, aufklärender Toleranz dagegen ließ man unbebaut und verfemt links hegen. Die Einseitigkeit dieser -58 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Bildungssprache, die seit Jahrzehnten die gleichen verbalen, syntaktischen und semantischen Muster reproduzierte und überall systemstabilisierende Schlüsselworte oktroyierte, ist an der Geschichte des Grimmschen Wörterbuches gut belegbar - ein »Pyrrhussieg der Germanistik« (Walter Boehlich), der die germanistische und damit weitgehend auch die pädagogische Desolation einleitete. Der junge Karl Goedeke läßt 1839 in einem Sonett Jakob Grimm sagen: »Nurjene Wörter soll mein Buch verkünden, die uns den Völkern als Germanen zeigen, als brave Männer, die es nicht verschweigen, daß Wort und Tat aus reiner Seele münden.« In der Tat wurde bei der »Verzettelung« des deutschen Sprachguts, vor allem bei Grimms Nachfolgern, deutlich unterschieden zwischen dem »Wertvollen« und »Wertlosen«. Aufgenommen wurden Kanone, Kaserne, Kartätsche, Kompanie, nicht aber Kapital, Katastrophe, Kausalität. Lazarett, Militär, Monarchie sind vorhanden, nicht aber Literatur, Legalität, Loyalität, Logik, Methode, Materialismus. Daran erkennt man bereits die germanistische Ideologie; in ihrem affirmativen Rollenverständnis versteht sie die Speicherung und Verwaltung des Sprachguts als rechtsreaktionäre Angelegenheit. Da die Herrschaftsschicht Marxismus, Sozialismus und Psychoanalyse ablehnte, interessierte sich die Sprachwissenschaft auch nicht für entsprechende Wortbildungen und Begriffe. Bis zum Jahre 1910 ist kein einziger sozialistischer Theoretiker verzettelt worden. Das Quellenverzeichnis zeigt Paul de Lagarde, LettowVorbeck, aber nicht Ferdinand Lassalle und August Bebel. Es -59-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch zeigt Otto von Bismarck, Baedecker, die Marlitt, aber nicht Karl Marx. Die Sprache der Dialektik fehlt später zwar nicht mehr so eklatant im Wörterbuch, wohl aber weiterhin im Sprachbewußtsein des Bürgertums. Benedetto Croce meint, daß die deutschen Professoren nach 1871 das Sedanlächeln nicht mehr von ihren Lippen gebracht hätten. Dem stillen Gelehrtendasein mit der aufgezwungenen Innerlichkeit und gelehrten Meditation - eine Folge der Flucht nach innen nach dem Scheitern der Revolution von 1848 - war endlich der Anschluß an die gesellschaftliche Hierarchie, an deren Spitze die kämpferischen Naturen standen, gelungen - und zwar mit Hilfe eines rüden Militarismus und Chauvinismus der Feder. Der intensive Haß auf westliche Demokratie und westlichen Parlamentarismus erlöste aus der eigenen Anämie und aus verdrängten Minder Wertigkeitsgefühlen; indem man sich suggerierte, daß man als Deutscher nur Gott und sonst nichts auf der Welt fürchte, konnte man humanitäre Hemmungen überwinden. Der Bruch mit der Tradition der Aufklärung war bei Beginn des 1. Weltkriegs endgültig vollzogen. Die »Ideen von 1914« wurden gegen die von 1789 entworfen: Deutschtumsmetaphysik und -mystik, Gemeinschaftsromantik, der Krieg als Eigentlichkeit. Auch das antidemokratische Denken in der Weimarer Republik war wesentlich durch die Professorenschaft geprägt. Der Einsatz der Wissenschaft im Dritten Reich lag somit innerhalb einer fatalen, seit langem angelegten Entwicklung. Sombart hat dieser »Grundgestimmtheit« in einem klassischen Wort Ausdruck gegeben: »Militarismus ist der zum kriegerischen Geist hinaufgesteigerte heldische Geist. Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. Er ist >Faust< und >Zarathustra< -60-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch und Beethoven-Partitur im Schützengraben. Denn auch die Eroica und die Egmont-Ouvertüre sind doch wohl echtester Militarismus.« Dieser »geistige Waffendienst« wurde vor allem auch dadurch gefördert, daß die Klassik besonders gut zur Abdeckung der eigenen Aggressivität geeignet schien. Sie wurde gleichgesetzt mit spektakulärer Pose, mit Systematisierung, Gliederung, Ordnung, Organisation. Sie war ästhetische Strategie und damit eine Abart der Kriegskunst. So wurde etwa Moltke als der große Künstler des Krieges gepriesen. Das Volk der Dichter und Denker habe sich, Langbehn stellte dies in >Rembrandt als Erziehen aufatmend fest, in ein Volk der Krieger und Künstler verwandelt. »Krieg und Kunst ist eine griechische, eine deutsche, eine arische Losung.« Ein solches Erbe wurde weitergereicht von deutschbewußten Hochschulprofessoren, Lehrern, Schriftstellern, Verlegern, Pfarrern, wobei besonders die Schule als Agentur der herrschenden Gesellschaft ein einflußreicher Umschlagplatz der Ideologeme war. Eine Analyse der Terminologie von Kunstwissenschaft und Germanistik offenbart, in welch starkem, ja überwältigendem Maße der militärische und nationalistische Jargon (»Sprache im Einsatz«) dominierte. Kunst wurde nicht interpretiert, sondern heroisiert. Prototypisch etwa, was in der Kunstwissenschaft dem »Bamberger Reiter« angetan, und wie in der Germanistik »Faust und das Faustische« als Element deutscher Ideologie integriert wurden. Die Krise der Germanistik in unseren Tagen, besonders evident geworden auf den Germanistentagen 1966 in München und 1969 Berlin, machte deutlich, daß die Entnazifizierung als Verdrängung erfolgt war. Die Inhalte waren ausgetauscht worden, die Sprachmuster aber weitgehend unbeeinträchtigt

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Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch geblieben. Germanistisches Professorendeutsch, signifikant für (zumindest geisteswissenschaftliches) Professorendeutsch überhaupt, blieb affirmativ nicht zuletzt deshalb, weil es nicht den Mut aufbrachte, die eigene sprachliche wie gedankliche Position historisch zu reflektieren. Das Geschichtsbewußtsein war vorgetäuscht, nicht für Aufklärung, sondern Verneblung, nicht für kritische Trennschärfe, sondern nur für die Bekräftigung von Ideologie geeignet. Am Beispiel der Germanistik wird zudem deutlich, wie aktuell die soziolinguistische Betrachtung von Professorendeutsch heute ist. Trotz der Demokratisierung der Inhalte sind die aus dem agrargesellschaftlichen Stabilitätsdenken entwickelten Sprachmuster des Patemalistischen und Pseudoidyllischen, die Sprechlage der entdinglichten Spekulation sowie die leere Redundanz des ästhetischen Wortrauschs weitgehend unlädiert geblieben. Dialektisches Sprechen wird entsprechend als destruktives Sprechen diffamiert - wäre es doch in der Lage, die Hybris der Fraglosigkeit zugunsten einer sprachlichen und damit auch weltanschaulichen größeren Offenheit aufzubrechen, im besonderen auch Aufgabe einer pluralistischen Spracherziehung von der Vorschule bis zur Universität. Die Krise der Germanistik, die von der linken Kritik als »Agonie einer bürgerlichen Wissenschaft« interpretiert wird, hat zwei Seiten: krisenhaft erscheint uns sowohl die bestehende Germanistik wie die des Gegenentwurfs (die das, was kritisiert wird, e contrario weiterführt). Als Deutschwissenschaft ist die Germanistik fast von Anfang an als Deutschtumswissenschaft entwickelt worden, als Teil einer völkischen Theologie, die bald zur Ideologie wurde, indem sie Ausschließlichkeitsanspruch erhob. »Die Krise der

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Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Germanistik steht stellvertretend für die Fächer, die aufgrund ihres Wissenschaftsverständnisses in unpolitisch-affirmativer Harmonie mit der bestehenden Gesellschaft leben, das kritische Potential der Studenten von gesellschaftlicher Praxis femhalten und zage Detailkritik allenfalls im Rahmen fachinterner innerer Emigration deklamieren.« (M. Pehlke) Die Deutschkunde war »Erzieherin des Volkstums« - Wegbereiter eines politischen Irrationalismus, kulminierte.

der

Man

schließlich kann

im

aufgrund

Nationalsozialismus der

germanistischen

Wissenschaftsgeschichte abgesichert behaupten, daß sich 1933 nicht Individuen schuldig machten, sondern eine Wissenschaft ihre ideologische »Erfüllung« fand, die von ihren Ursprüngen und ihrem Selbstverständnis her auf diese Perversion angelegt gewesen ist. An der germanistischen Sprache ist diese Entwicklung ablesbar: Artikulation einer geistigen Haltung, die zwischen militanter Innerlichkeit und verbalem Imperialismus angesiedelt war und deren Verführbarkeit gerade in ihrem scheinbar unpolitischen Methodenpluralismus lag - konnte er doch die systemhörige Grundstimmung kaschieren. Kritische Sprache ist der Germanistik stets fremd geblieben; sieht man von den Invektiven gegenüber Kollegen ab, so haben kritische, ironische, witzige oder humorvolle Sätze im germanistischen Schrifttum Seltenheitswert. Kleintun mit Worten lag einer Wissenschaft fern, die sich ständig auf das heilende, erhebende und erhabene Wort berief, deren Idyllik stets auf (zunächst national-liberalen, später national-imperalen) Sphärenflug ausgerichtet war. Besonders deutlich ist dies am Verhältnis zur »Muttersprache« ablesbar; die nachfolgenden Zitate illustrieren -63 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch den national-rassistischen Sprachfetischismus der Professoren, - und ihr unheimlich-heimeliges Sprach-Idyll. »Wenn wir Deutschen schon das einzige Volk Europas sind, das sich nach seiner Muttersprache nennt, dann soll uns das nicht nur ein steter Hinweis darauf sein, wie eng das Schicksal deutsches Volk und deutsche Sprache miteinander verkettet hat; es soll uns vor allem an die Aufgabe erinnern, die volkhaften Kräfte unserer Muttersprache so lebendig zu erhalten und zu stärken, daß sie sich immer reicher auswirken können, daß sie besonders in Stunden der Not und Gefahr ihre volle Leistung entfalten können - zum Heile unseres Volkes.« »Sprache ist die tragende Kraft lebendiger Gemeinschaft; Muttersprache ist Form gewordene Gemeinschaft, die nun in sich die Kraft trägt, Menschen, die die Voraussetzung und Möglichkeit zur Gemeinschaft in sich tragen, zu wirklichen Gliedern einer Gemeinschaft zu prägen. Sprache ist die Grundbedingung aller Geschichtlichkeit: sie allein hat die Kraft.... Raum und Zeit zu überspannen und dabei das zusammenzufassen, was von ungezählten Millionen in Jahrtausenden an Bleibendem geschaffen wurde, und dieses Volkserbe jedem neuen Glied dieser Gemeinschaft als umfassendes Weltbild von frühester Kindheit an einzuprägen.« »Es ist kein Zufall, daß die Jahrzehnte, in denen das Gefühl für die Kräfte der Muttersprache am stärksten war, zugleich die Zeiten größter Not unseres Volkes waren, Zeiten, die zur Besinnung auf die tragenden Kräfte des Volkslebens zwangen. Und wenn die Bedrängnisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre uns von neuem einen volkhaften Sprachbegriff gebracht haben, -64-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch so hüten wir uns dabei vor jedem Überschwang, wir suchen jede Geringschätzung der anderen volkschaffenden Kräfte zu vermeiden; aber wir hoffen um der Zukunft unseres Volkes willen, daß es gelingt, alle die volkhaften Kräfte wachzurufen und einzusetzen, die im Wesen der Muttersprache und Sprachgemeinschaft begründet sind; und wir sind überzeugt, daß diese sich immer wieder erweisen werden - so wie sie sich in der deutschen Geschichte oft genug bewährt haben als Band unzerstörbarer Einigkeit, als Triebkraft gemeinschaftlichen Wollens und Handelns, als Unterpfand einer Lebensgestaltung aus deutschem Geist heraus.« (Leo Weisgerber) Wenn freilich heute die kritische Linke den Nationalismus, die Bildungsideologie und die irrationale Geschichtsmythologie der Germanistik (gerade auch an ihren Sprachmustem) entlarvt und damit die Krise (die zu erkennen, zu der sich zu bekennen die Ordinarien bis zum Germanistentag 1966 in München sich zu drücken versuchten) evident macht, verfallt sie in den Fehler, eine Wissenschaftsideologie durch eine andere zu substituieren. Man kritisiert und attackiert z.B. zwar mit Recht den für die alte Germanistik zentralen Begriff der »Lebenshilfe«, da dieser Begriff im Sinne germanistischer Ideologie der Indoktrination einer heilen nationalvölkischen Welt diente, setzt aber dann an dessen Stelle eine neue Form von (gleichermaßen apodiktischer und oktroyierender) »Lebenshilfe«, die nun »Gesellschaftsrelevanz« heißt. Die ontologischen Interpretationsmausoleen werden durch soziologische ersetzt; die Diffamierung nicht-gesellschaftsrelevanter geistiger Arbeit (zumindest was die Unmittelbarkeit ihrer Auswirkung betrifft) ist Teil eines ideologieverdächtigten -65-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Pansoziologismus, der damit notwendigerweise auf das hin orientiert, was früher von der Hybris pathetischen Höhenflugs aus als Triviahiteratur bezeichnet wurde. Wenig ist gewonnen flir die notwendige Offenheit von Wissenschaft, die seit der europäischen Aufklärung von dem Axiom ausgeht, daß die Wahrheit an sich unbekannt und nur eine Annäherung an sie möglich sei, wenn der ideologische Absolutheitsanspruch der nationalimperialen Germanistik ersetzt wird durch die als absolut gesetzte Utopie marxistischer Gesehschaftstheorie; eine chiliastische Zukunftserwartung mit einer anderen ausgetauscht wird. Emanzipation kann genauso zur Leerformel werden wie Lebenshilfe, wenn die Mehrdeutigkeit der Beziehung zwischen Literatur und Realität dogmatisch ersetzt wird durch die der Dichtung zugewiesene Verifikation für bereits fixierte gesellschaftliche Veränderungsabsichten. Ein Überbauphänomen ist Literatur auch, wenn auch häufig unbewußt, in der bisherigen Germanistik gewesen: Produkt und Projektion einer Gruppe, die zum geistig korrumpierten Spätbürgertum gehörte; ihr war Sprache nicht ein Zeichensystem, also eine individuell erfolgte und dann sozial fest gewordene Reaktion oder Konstruktion von Menschen (le signe linguistique est arbitraire), sondern im Sinne des romantischen Organismusdenkens Ausdruck von Wesenhaftigkeit; Worte wurzelten im Sein. Indem sich diese Sprache von ihrem hybriden Wahrheitsanspruch aus vor der Verunsicherung durch andere Sprachmuster (kritischen Denkens) verschloß, hat sie im Reflex freilich jene radikale Kompromißlosigkeit mit hervorgerufen und gefördert, die jetzt als Gegen-Germanistik sich zu etablieren sucht. Dem liberalen Relativismus fallt es schwer, sich zwischen Ideologie und -66-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Gegenideologie zu behaupten. Wer sowohl die »Lebenshilfe« affirmativer, bewußtlos tradierender, Herrschaftsverhältnisse stabilisierender Germanistik, als auch die Sündenbocktheorie von der spätkapitalistischen Gesellschaft als zentralem Element der Gegengermanistik ablehnt, muß versuchen, außerhalb von Professorendeutsch der Konservativen und vom Professorendeutsch der Linken, jenseits vom Jargon der Eigentlichkeit und vom Jargon der Dialektik, zu sprechen, damit sein Sprechen praxisfähig bleibt - im Sinne eines Praxisbegriffs, wie ihn Ivan Svitäk charakterisiert: »Die Praxis ist das Korrektiv der ideologischen Selbsttäuschung. Die Praxis demaskiert das falsche Selbstbewußtsein, das wir von uns selber bilden. Wir sind außerstande, uns durch Praxis zu belügen. Gedanken sind vieldeutig, Taten nicht.«

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Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch

Parkinsonsprache

Bürokratie rückt immer mehr ins kritische Bewußtsein: Was geht in Verwaltung vor? Wie wird Einlauf zu Auslauf - d. h. nach welchen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten, oder nach welcher Irregularität, Zufälligkeit, auch Anmaßung vollzieht sich das, was Verwaltung genannt wird und heute so übermächtig in allen Bereichen in Erscheinung tritt? Weitgehend ist das Verhältnis des Bürgers zur Verwaltung wohl noch bestimmt durch die Beschwerde über: »....des Rechtes Aufschub, den Übermut der Ämter und die Schmach, die Einwert schweigendem Verdienst erweist«. So Shakespeare im >HamletGroßen Buch festlicher Reden und Ansprachem herausgegeben von Frank Sieker, entnommen, und man kann getrost behaupten, daß die Vertreter der Kultusministerien, einschließlich der Kultusminister, in der Tat meist so oder ähnlich sprechen. Dem Gedanken geht die festliche Rede aus dem Weg; was gemeint ist, bleibt unklar; wahrscheinlich ist überhaupt nichts gemeint. »In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke vergesellschafteten Erwähltseins, edel und anheimelnd in eins; Untersprache als Obersprache. Er erstreckt sich von der Philosophie und Theologie nicht bloß Evangelischer Akademien über die Pädagogik, über Volkshochschulen und Jugendbünde bis zur gehobenen Redeweise von Deputierten aus Wirtschaft und Verwaltung« (Theodor W. Adorno) - und aus der Politik, muß man selbstverständlich hinzufügen. Untersprache als Obersprache: die »hohen«, »edlen« Worte aus dem Bereich idealistischer Dichtung wurden epigonalisiert, ins Triviale eingeebnet; parterre; als Sinkgut werden sie von den Festrednern wieder ins Offizielle hinaufstilisiert. - Das festliche Publikum erwartet schöne Reden; es ist aufgeschlossen fär alles Wahre, Gute und Schöne und fühlt sich in dieser Gestimmtheit erst richtig gewürdigt, wenn der Redner seine Worte ständig den Wortfeldern des Wahren, Guten und Schönen entnimmt. Aufgrund der vorherrschenden Spracherziehung ist man nur in der Lage, ganz bestimmte Signale und Zeichen aufzunehmen, d. -87-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch h. lediglich auf affirmative Worte zu reagieren. Der Dunstkreis der Suada wird zur Aura des Gutgemeinten. - Festliche Rede ist sprachliches Ritual. Die standardisierten Formen und Formeln ermöglichen es dem Hörer, sich zurechtzufinden; er erlebt, was er erwartet hat, und er erwartet, was er immer erlebt hat. Das sprachliche Ritual hat einen integrierenden Sog, der alle zu einer Gemeinschaft der Gutwilligen zu vereinigen sucht, vom Anspruch kritischen Denkens und Bedenkens entlastet. Es geht nicht um Reflexion, sondern um Simplifikation, Unifikation. Wie gut dieses Ritual funktioniert, haben etwa bis vor kurzem die Abiturreden gezeigt. »Es ist soweit. Der heutige Tag steht im Zeichen des Abschieds von der Schule... Jahrelang war die Schule eure Welt... Wie das nun einmal ist auf der Welt, so gab es auch in der Schule schöne und schwere Zeiten, aber die schönen Zeiten überwogen bei weitem... Auf euren Gesichtem spiegeln sich zwiespältige Gefühle wider. Ich sehe Freude auf das neue Leben, das euch wie eine Kette der Freuden erscheint, und ich sehe die Wehmut des Abschieds... Die Tore des Lebens öffnen sich nun... Es gibt keinen Stillstand im Leben,... Wehe dem, der nicht mitschwimmt im Strome des Lebens: er müßte untergehen.« So spricht der Schulleiter; und der Abiturient antwortet: »Nun ist die Stunde da, in der wir ins Leben treten. Der Abschied von der Schule ist doch nicht ganz so leicht, wie wir es uns vorgestellt haben... In dieser für uns und unsere Eltern so bedeutungsvollen Stunde stehen wir zum letzten Mal als Schüler in diesen heiligen Hallen, um Abschied zu nehmen von unserem Lehrern und Erziehern... Ein jeder von uns wird sich stets der Verpflichtung bewußt bleiben, im Sinne unserer Erzieher weiter an der Bildung unserer Persönlichkeit zu -88-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch arbeiten.« So konnte man es landauf, landab hören; erst im Zuge des jugendlichen Protests hat sich einiges geändert. Als vor vier Jahren in Hessen eine Abiturientin eine Rede hielt, die weniger abgeschmackt und gemäßigt kritisch war, wurde diese Rede dutzende Male nachgedruckt; daß eine Schülerin nach neun Jahren Deutschunterricht etwas außerhalb der traditionellen Fest-Stereotypie sprechen konnte, wurde offensichtlich und wohl auch mit Recht als Sensation empfunden. Kehren wir noch einmal zum >Großen Buch festlicher Reden und Ansprachem (als Beispiel für die sehr auflagenstarke Literatur dieses Genres) zurück. Welche Empfehlungen werden hier dem Festredner mitgegeben, damit seine Rede ein »wirkliches, echtes sprachliches Gebilde wird«? Die Rede soll »mustergültig«, »sauber« und »klar«, vor allem gegen den Schluß »effektvoll«, »aufrüttelnd« und »zündend« sein; sie soll »innere Wahrhaftigkeit«, »Redlichkeit« und »Natürlichkeit« spiegeln. »Abgedroschene, ausgewalzte, ausgequetschte, ausgelaugte Redensarten« sind zu vermeiden. Der Autor des Buches (wie der ihm nachfolgende Festredner), der sich so unter das Gebot der Wahrhaftigkeit, Redlichkeit und Natürlichkeit stellt, merkt nicht, daß er diese Forderungen mit den abgedroschensten, ausgewalztesten und ausgelaugtesten Redensarten verkündet: »... die Rede soll in die heimlichen Tiefen der Seele dringen oder eine zarte Stimmung festhalten«. Dabei vertagt natürlich das Fremdwort,_weshalb vor seinem Gebrauch intensiv gewarnt wird. - Die anerzogene Sprache ist so sehr zur Natur geworden, daß man die Diskrepanz zwischen dem vorgegebenen Ziel und der praktizierten Sprechweise nicht erkennt und auch gar nicht erkennen kann. Die Kommu -89-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch nikationswissenschaft nennt dies »kognitive Dissonanz« - der Unterschied zwischen Theorie und Wirklichkeit wird nicht gesehen bzw. verdrängt. Viele Festredner verkörpern diese kognitive Dissonanz; ihr entpersonalisierter Jargon ist dabei so »verinnerlicht«, die verbalisierte Leere so existentiell (der »ganze Mensch« redet), daß man nicht redende Menschen, sondern plappernde Scheuchen vor sich zu haben glaubt. Grass spricht in den >Hundejahren< von philosophischen und historischen, kleinbürgerlichen und uniformierten Scheuchen, von Nahkampf­ und Diskussionsscheuchen, von Hallelujascheuchen, inneren Emigrationsscheuchen, Trachtenfestscheuchen, Berg- und Flachlandscheuchen, Jungscheuchen, Altscheuchen; man könnte nach einer solchen Typologie durchaus die Festredner einordnen, wobei die Hallelujascheuchen dominieren dürften - diejenigen nämlich, die unentwegt zum Rühmen sich bestellt fühlen. Ein Gast spricht; ein Verwandter spricht; der Hofbesitzer spricht; ein Emtearbeiter spricht; der Bauführer spricht; der Oberbürgermeister spricht; der Freund des Hauses redet; der Sohn ehrt die Großmutter; ein größeres Kind spricht zur Familie. Man spricht zur Lehrlingsfreisprechung; zur Pensionierung eines Mitarbeiters; zur Begrüßung inländischer Praktikanten; zum 25. und 50. Jubliäum; zur 100-Jahrfeier; zum l.Mai; zum 17. Juni; zum 20. Juli; zum Volkstrauertag; zur Ordensverleihung; zur Preisverleihung; beim Festbankett; zur Grundsteinlegung; zum Richtfest; bei der Übernahme eines neuen Kindergartens, einer neuen Umgehungsstraße, einer Brücke; bei der Einweihung eines Denkmals, eines öffentlichen Gebäudes; beim Stapellauf eines Schiffs; am Grab des Schulleiters, Bürgermeisters, Kollegen. -90-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Wenn das Quartett die musikalische Einstimmung beendet hat, springt der Redner, gestrafft und konzentriert, mildem Notizzettel in der Hand, an den Lorbeerbäumen vorbei, ans Rednerpult. »Meine sehr verehrten Damen, meine Herren!« Die feinsinnige Anrede (= Unterscheidung) bürgt für rhetorische Qualität. Wittgensteins Satz: »Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen«, gilt nicht für die Festrede; sonst müßte sie stumm sein. »Eigentlich« gibt es nichts zu sagen; aber dieses Nichts wird umfassend dargelegt. Verpackung als Botschaft. Die Verpackungsarten sind unterschiedlich. Der eine garniert die Gedankenarmut mit persönlichen anekdotenhaften Witzchen und Mätzchen; das festliche Publikum lacht und spürt die menschliche Wärme. Der andere reiht bedeutungsvolle Worte zu einer phonetisch eindrucksvollen Kette zusammen und legt sie sich mit vielen Verrenkungen immer neu um. Das Publikum sieht Tiefe im Silberschlips vor sich und nickt bedächtig. Ein dritter spricht aus der Tiefe des Herzens. Die Worte geraten von dort direkt in den Mund. Enthusiasmierte bedürfen sowieso nicht begrifflicher Trennschärfe; solche Verständigung bedarf nicht des Verstandes. Doch getretener Quark wird breit, nicht stark. - Die festliche Rede ist eindimensional. Sie verzichtet sowohl auf die Reflexion wie die Selbstreflexion. Sie problematisiert nicht, sondern idyllisiert. Sie entwickelt keine kommunikative Dialektik, sondern erwartet harmonische Solidarität. Wenn einer lacht oder anderweitig die Regeln des festlichen Aktes, des Festaktes, stört, so ist mit der schönen Stimmung alles hin. Die Stereotypie kann dann nur aggressiv Zurückschlagen oder das Feld räumen. Deshalb ist es leicht, Festreden umzufunktionieren. Kultur erweist sich in der -91 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Festrede als das, was man dem Menschen antut, und nicht als das, was er selbst tun könnte. Die Festrede bringt keine kreativen kommunikativen Prozesse in Bewegung; sie ist nicht Anstoß, sondern Ausschuß. Das Publikum soll in eine semantische Unverbindlichkeit hinwegkatapultiert werden. In seiner Schrift über den Jargon der Eigentlichkeit< zitiert Adorno eine in diesem negativen Sinne idealtypische Festrede, die alle Elemente leerer Redundanz aufweist: »Hochverehrter Herr Präsident, meine Herren Minister, Staatssekretäre, Bürgermeister, Referenten, Dezernenten und Assistenten, hochgeschätzte Männer und Frauen unseres Kulturlebens, Vertreter der Wissenschaft, der Wirtschaft und des selbständigen Mittelstandes, geehrte Festversammlung, meine Damen und Herren! Wenn wir uns heute hier zusammengefunden haben, um miteinander diesen Tag zu begehen, so geschieht das nicht von ungefähr. Denn gerade in einer Zeit wie der unseren, da die echten menschlichen Werte mehr denn je unser ernstes, tiefinnerstes Anliegen sein müssen, wird von uns eine Aussage erwartet. Ich möchte Ihnen keine Patentlösung vortragen, sondern lediglich eine Reihe von heißen Eisen zur Diskussion stellen, die nun einmal im Raum stehen. Was wir brauchen, sind ja nicht fertige Meinungen, die uns doch nicht unter die Haut gehen, sondern was wir brauchen, ist vielmehr das echte Gespräch, das uns in unserer Menschlichkeit aufrührt. Es ist das Wissen um die Macht der Begegnung bei der Gestaltung des zwischenmenschlichen Bereiches, was uns hier zusammengeführt hat. In diesem zwischenmenschlichen Bereich sind die Dinge angesiedelt, die zählen. Ich brauche ihnen nicht zu sagen, was ich damit meine. Sie alle, die sie im -92-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch besonderen und in hervorragendem Sinne mit Menschen zu tun haben, werden mich verstehen...« etc. etc. Der Festredner als Mensch weiß, worauf es im letzten ankommt: auf den Menschen! Gesucht wird: der Mensch! Protest wird erhoben: gegen Unmenschliches! »Auf diesem unbequemen Vorposten des Sichaussetzens, der Verweigerung zur Meute hin und des Widerstandes gegen eine abgekartete oder agitierte Konformität, die ihre Vorstellungen von der Menschenund Gesellschafts-Veränderung starrsinnig vorpaukt, auf diesem unbequemen Vorposten sagen wir Protest gegen alles an, was nur entfernt ins Wörterbuch des Unmenschen gehört, und wäre es noch so modern in seiner Vokabulatur und seinem neuen Chinesisch.« (Rede bei einer »Festakademie«)

Soziologisch orientierte Kritik will nicht den einzelnen attackieren, sondern die verschleierten Systemzwänge enthüllen. An der Misere der Festreden ist nicht der Oberbürgermeister X oder der Parlamentarier Y, der Ministerialrat A, der Vereinsvorstand B schuld; diese haben sich’s bei ihren Emanationen sicher sauer werden lassen, den Büchmann konsultiert, im Synonymwörterbuch nachgeblättert. Abkommandiert zur Feier, waren sie glücklich, wenn ihnen eine Metapher einfiel, die man breitschlagen konnte. Das antiquierte Ritual der Festreden fordert, daß ein Offizieller am Fest dadurch teilhat, daß er seine Teilhabe ausspricht; Repräsentation fühlt sich erst wohl, wenn alle im Geschirr stehen und loslegen. - Doch erst aus der Verunsicherung der Feier entstünde eine neue Form festlicher Verbundenheit. Denn das Fragwürdige -93 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch »betrifft« macht betroffen. Nicht signalhaft einschnappende Worte werden benötigt, sondern Signale, die einen geistigen Rückkopplungsprozeß bewirken. Theodor Heuss hat solche Rede mit Klugheit und Erfolg praktiziert und damit der festlichen Ansprache in Deutschland eine neue Dimension erschlossen - nämlich die der gedanklichen Durchdringung, persönlichen Einfärbung, dialektischen Befragung und kompetenten Reflexion. Reden als Sache des Denkens setzt freilich voraus, daß die Spracherziehung von der Ideologie des Muttersprachegeraunes sich befreit; Aufgabe wäre die Einübung ins sprachliche Rollenspiel, welches das »Eigentliche« zugunsten des »Jeweiligen« (der realistischen Einschätzung der jeweiligen Situation) aufgibt und pathetische Fraglosigkeit in Fragwürdigkeit umzuwandeln vermag. Dabei kann die Ironie helfen, als »Kleintun« dem Understatement verwandt. Festliche Reden, die dieses Mittel anwenden, sind zumindest vor der Glorifizierung der eigenen Gedankenlosigkeit gefeit. Dies ist z.B. häufig im Englischen der Fall. Das »Kleintun« darf freilich nicht nur Attitüde sein, es muß der personalen Bereitschaft entspringen, Sprache spielerisch zu verstehen. Man soll die Worte ernst nehmen, aber nicht zu ernst: d. h. man muß sich die Freiheit nehmen und sich die Freiheit erhalten, Worte immer wieder neu zu kombinieren, sich also aus den teils selbstverschuldeten, teils gesellschafts- bzw. herrschaftsmäßig bestimmten Sprechzwängen zu befreien. Die deutsche Publizistik könnte dem Festredner hierzu viele »Anregungen« geben. Dieter E. Zimmer hat in einem Aufsatz auf die in Gang gekommene Versachlichung der Sprache hingewiesen, und dazu eine Reihe von Einworttiteln (von Büchern und -94-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Zeitschriften) zitiert. Der Katalog dieser Begriffe ist m. E. ein guter Hinweis auf das, was festliche Reden sein sollten und könnten, wenn sie sich vom Jargon der Eigentlichkeit zu lösen vermöchten: Bewegungen, Eingriffe, Aufklärungen, Einzelheiten, Illuminationen, Impromptus, Konfrontationen, Notate, Rapporte, Verfremdungen, Vorzeichen, Aussichten, Aspekte, Akzente, Konstellationen, Konkretionen, Kontraste, Provokationen, Perspektiven. - Dann würden die festlichen Worte dem kritischen Zuhörer im Ohre nicht mehr wie modrige Pilze zerfallen.

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Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch

Obszönität und Intimitätsjargon

»Tastend ließ er seine Hände über ihre schwellenden Glieder gehen. Da lag sie ihm am Hals und küßte ihn mit sehnenden Küssen. In all das Tuscheln, Tasten und Kosten glitt dann ein weiches und lockendes Leuchten, als das Mädchen ihn zur nahen Tür hinzog und seine Kammer auftat. Friedlich glomm der Wachsstock vom schlichten Tischlein an dem aufgeschlagenen blütenweißen Bett und übergoß die beiden mit seinem weichen Schein. Jetzt sah Goethe in wortlosem Staunen die Schönheit dieses Mädchens, ihr dunkles Haar, das blühende Antlitz an dem schönen Halse und dem weichen weißen Nacken, der strahlend aus dem halbgelösten Kleide stieg... Sah ihren roten lockenden Mund mit den weißen Zähnen wie eine wunderfremde Blüte. Sich in ihre Schönheit zu versenken, stürzte er vor und umschlang sie.« Handelt es sich hier um einen obszönen oder um einen pornographischen Text? Das gesunde Volksempfinden wird keinen Anstoß nehmen. Der Vorgang ist zwar eindeutig (»>Komm!< hauchte sie hingegeben«), aber die Eindeutigkeit wird nicht ausgesprochen; nach dem bürgerlichen Kodex ist der Tatbestand an sich unmoralisch; denn es wird ein unschuldiges Röslein geknickt; aber die Entjungferung geschieht durch Goethe. -Auch der literarisch Ungebildete, der etwa die germanistischen Sublimierungstheorien über Goethes Liebesleben nicht kennt, -96-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch hat eine unbewußte Ehrfurcht vor der Sexualität der Großen. Die verwendeten Edelwörter lassen zudem keinen Zweifel daran aufkommen, daß es sprachlich züchtig zugeht. Ein Kommentar zum

Paragraph

184

des

Strafgesetzbuchs

(Verbreitung

unzüchtiger Werke) steht fest: »Der nackte menschliche Körper ist nicht unzüchtig; unzüchtig ist an sich auch nicht die Wiedergabe der Schamspalte; unzüchtig ist ein Verkehr, der den Geschlechtstrieb in einer Zucht und Sitte verletzenden Weise befriedigt.« Der zitierte Romanabschnitt vermeidet Nacktheit; jede Blöße ist durch kleidsames Vokabular abgedeckt: weich, schwellend, sehnend, lockendes Leuchten, friedlich, schlicht, blütenweiß, weicher Schein, wortloses Staunen, blühend, schöner Hals, weicher, weißer Nacken, strahlend roter lockender Mund, weiße Zähne, wunderfremde Blüte. Die Schamspalte wird nicht wiedergegeben; der Geschlechtstrieb wird nicht in einer Zucht und Sitte verletzenden Weise ausgeübt; es geht süß und friedlich zu. Die Kopulation fallt in eine Leerzeile. In einer Postwurfsendung wurde mir kürzlich als »volljähriger Bürger« ein »Einführungs-Sonderangebot«

aus Dänemark

angeboten. Pomospielkarten. Liebe im Bett. Bordellmutters Lieder. (»Nur mit weißem Handschuh wichst man mich«). Venus in Indien; etc. Dazu ein Auszug aus einem Farbmagazin, den ich aus Sorge, mein Beitrag könne indiziert werden, nur mit einer harmlosen Stelle zitiere: »Hier treffen Sie 2 Mädchen mit einer fast unglaublichen Sex-Begierde. Ihr heißes Verlangen wird aber mit Hilfe von enormen Schwänzen gestillt - die stärksten, die Sie je gesehen haben.« -97-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Zwei weitere Sprachbeispiele zum Problemkreis Scham und Sprache: »Das Mädchen fing an. Ich kriegte einen hoch und vögelte die Alte. Vorher hatte ich noch nicht, wohl schon gefummelt und geknutscht, aber noch nie gepimpert. Das Mädchen war so gut, daß wir mehrmals in der Woche auf mein Zimmer gingen. Da war was los, kann ich Ihnen sagen. Die kannte alle Tricks und jede Stellung.« (Junger lediger Arbeiter 17 Jahre, zitiert nach >SpiegelJasminJasminJasminWie halten Sie das aus, immer mit diesen Bildern zusammenzuleben?< fragte ich ihn. >Wie könnte ich es ohne diese Bilder aushalten?< sagte er. Von diesem Augenblick an begann eine Freundschaft - lebendig, ohne Komplikationen und Zwang. Ich bewunderte an ihm seine Kraft und Beherrschung, er war mir ein Vorbild. Er durfte nichts anderes für mich sein, denn ich wußte, daß er - 100-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch verheiratet und aus verschiedenen Gründen nicht bereit war, diese Ehe aufzugeben. Er sprach mit mir einmal in anderem Zusammenhang darüber, und deswegen war ich sehr erstaunt, als er mir eines Tages eine ernsthafte Bindung vorschlug. Ich spürte, daß ein gemeinsames Leben auf uns wartet - daß es uns >bestimmt< war, wie der Mohammedaner sagt. Man mag behaupten, daß es egoistisch war, was ich tat. Es stimmt vielleicht sogar - aber nicht im üblichen Sinne des Wortes. Es geschieht nichts auf der Welt, es gibt keinen Fortschritt ohne Egozentrik: keine Macht, keinen Reichtum, keine Kunst, keinen Glauben, keinen Staat. Wir spürten die Kraft, die durch unsere Begegnungen in uns entstand, wir wußten, daß wir nichts dafür konnten. Es war eine Frage der Tapferkeit, sich diesem Schicksal zu stellen, ganz gleich, was die Außenwelt davon dachte.« Die familiäre Ansprache, insbesondere die DuApostrophierung, vermittelt in-group-Gefühl. Innerhalb der Anonymität der modernen Gesellschaft ist Gemeinschafts­ romantik Surrogat; sie vermag die Sehnsucht, der individuellen wie kollektiven Einsamkeit entfliehen zu können, zu befriedi­ gen oder wenigstens temporär zu sättigen. Die sonst meist mit gehobenem moralischen Zeigefinger erlebte ältere Generation wird hier voller Verständnisbereitschaft, gerade in delikaten Fragen, präsentiert; die ältere Ratgeberin, die die Mutterrolle spielt, spricht aus, was junge Herzen beschwert. Das jüngere Ich in ihr befähigt sie dazu. Die Geliebte und die jung verheiratete Frau werden mit einem Satz zusammengebunden, der freilich zunächst im moralischen Schwebezustand verbleibt. Ist die jung verheiratete Frau vom ehelichen Alltag enttäuscht, wird ihr die Chance, die Rolle einer Geliebten zu übernehmen, ver­ - 101 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch bal offeriert; die bourgeoise Familienauffassung, nach der die Ehefrau für die drei K’s (Küche, Kinder, Kirche), die Geliebte für die Liebesromantik zuständig sei, schwingt mit, auch wenn der nachfolgende Satz so tut, als ob beide an der »Herrlichkeit der Liebe« gleichermaßen partizipieren könnten. Seiner leeren Redundanz entspricht innerer Widersprüchlichkeit: einmal wird behauptet, daß beide von der Herrlichkeit und dem Kummer der Liebe wüßten; zum anderen, daß beide vom Glück ebensoweit entfernt wären wie von der Trauer. Wo ist denn dann der Ort der Liebe? Eine Standortfixierung ist jedoch nicht beabsichtigt; es geht lediglich darum, möglichst viele Edelsubstantive, wie sie Frauenheb und Frauenleid zu evozieren vermögen, unterzubringen. Die syntaktische Verknüpfung ersetzt die logische; Herrlichkeit und Kummer, Glück und Trauer sind Melodie, nicht Argument. Der Drang zur intimen Aussprache, das Gespräch von Herz zu Herz, führt zu einer die ganze Gedankenlosigkeit der Suada ent­ larvenden Fehlleistung: In 20 Jahren werde sich das Band gelo­ ckert haben, deshalb muß die 70jährige mit dem jüngeren Ich in sich jetzt sprechen; 20 Jahre später wären in der Tat zu spät; die Briefkastentante wäre dann 90. - Die Frustrationsangst oder die bereits gegebene Frustration der angesprochenen jungen Frau wird abgefangen. Wird auch der Überfluß von Hoffnung zunich­ te, irgendwie ist alles tröstlich. Was die individuelle wie kollek­ tive »Vereitelung« bewirkt, etwa der Mangel an Emanzipation, bleibt hier wie später unausgesprochen. Die oben schon vorge­ nommene Ineinssetzung von Frau und Geliebte wird weiterge- 102-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch fuhrt; der Schwebezustand aufrechterhalten. Beide nehmen das tägliche Einerlei »enorm ernst«, beide haben vieles ge­ meinsam. Das Motto der Zeitschrift: »Ein Leben zu zweit« (allerdings mit evtl, wechselnden Zweis), wird süßlich variiert. Die Leserin soll ständig das Gefühl suggeriert bekommen, daß sie ja auch Geliebte sein könne; ihr banaler Zustand als Ehefrau wird dadurch romantisiert. Dem männlichen Leser wird ähnliche Hoffnung gemacht - ist es doch offensichtlich gar nicht so schlimm, eine Geliebte zu haben (zu halten). Die kluge ältere Ratgeberin spricht weder von familiären, noch von gesellschaftlichen Implikationen. Als ob beide Rollen gleichermaßen in unserer Gesellschaft »glückhaft« seien. - Nachdem Ehefrau und Geliebte mehrfach gleichgesetzt wur­ den, wird behauptet, daß man sie nicht vergleichen wolle; muß man doch auch mit Leserinnen und Lesern rechnen, die bei sol­ cher »Einheit« moralisch allergisch reagieren würden. Doch dann geht es rasch wieder in den Schwebezustand zurück; keine ist besser als die andere, was einschließt, daß beide gut sind. Die logischen und evtl, moralischen Widersprüchlichkeiten werden durch eine Apotheose des Weiblichen überspielt: dieses, das Weibliche nämlich, haben Ehefrau und Geliebte gemeinsam. Endlich ist die hinanziehende Vokabel gefallen, Schlüsselwort für einschnappende Affirmation: Wenn man vom »Weiblichen« spricht, ist logische Trennschärfe suspendiert. Die Evokation dieses sowohl literarisch als auch trivialliterarisch abgesicherten Getühlskomplexes immunisiert gegenüber logischer Befragung. Ohne das Wissen ums »Weibliche« kann man weder richtig le­ ben noch lieben. Geschickt wird in diesem Augenblick die Vokabel »richtig« eingeführt: mitschwebend in der Aura des - 103 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Weiblichen, kann sie sich ohne Erläuterung der moralischen Axiomatik, innerhalb derer sie erst ihren Stellenwert erhält, ausbreiten. »Richtig« ist eben richtig. Was richtig ist, kann man bei Ehefrauen wie bei Geliebten lernen. »Richtig« ist auch, daß auf Demütigung Seligkeit folgt. Damit kann man stets in einer repressiven Gesellschaft beschwichtigte Adaption erreichen. Denn nach der Demütigung wird schon irgendwie und irgend­ wo eine Seligkeit warten; man erträgt das Gegenwärtige, indem man sich aufs bessere Zukünftige fixiert. Der Begriff »Glück« transzendiert; die Misere verbleibt dem Augenblick. Daß man den Gefahren des Lebens ungeschützt ausgesetzt ist, wird als Vorteil ausgegeben; gelobt sei, was hart macht; was einen nicht umbringt, macht stärker. Die 70jährige ist nicht umgekommen, sie schwimmt nach wie vor in Seligkeitsgefühlen; also werden auch die anderen das Leben bestehen und überstehen. Von denen, die scheiterten, ist nicht die Rede. Diese gingen eben klanglos zum Orkus hinab. Allein das Leben meistern - als süßes Mädel, das nach arbeitsamem Tag in Fabrik oder Geschäft dem ehelich verhärmten Bürger illegitime Wollust bereitet, oder als Fräulein Doktor (Ärztin oder Journalistin), die in den Familiensendungen des Fernsehens einen Hauch von Emanzipation verbreitet -, das ist das höchste Glück gesellschaftspolitischer Ignoranz. Daß man angesichts der Bedrohungen sich nichts schenken läßt, ist Gnade. Mit dem Wort »Gnade« lassen sich soziale wie emanzipatorische Versäumnisse abdecken. Was man auch an Unterdrückung der Schwächeren, der Unterprivilegierten in der Konkurrenzgesellschah erfahrt - es ist eine »Art von Gnade«. Der Text hat damit seinen affirmativen Höhepunkt erreicht. Wer an solcher sozialpolitischer Theodizee gelinde zweifelt, - 104 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch erfährt, daß man dies »natürlich« nicht sofort erkennen kön­ ne; die Autorität der verständnisvollen 70jährigen wird in die Waagschale geworfen. Zudem sorgt die beginnende Liebesstory für Ablenkung; ein Leben zu dritt mit sich anbahnender Scheidung ist interessant, einer »Vertiefung« gesellschaftspo­ litischer Problematik kann so aus dem Weg gegangen werden. Den vielen zerrütteten Ehen wird trostreich versichert, daß die Erkenntnis von der Zerrüttung »Friede« bringe. Die Leidgeprüfte erfahrt auch hier wiederum Gnade: d. h. Begegnung mit einem Mann, der ganz ihrer Vorstellung vom Mann entspricht: Sehr viel Selbstbeherrschung; voller Kunstsinnigkeit - die Liebe zur Kunst garantiert, daß Liebe tief gründet. Einer, der Originale statt Drucke im Zimmer hängen hat, ist von einer besseren Welt. Das bürgerliche Kulturbewußtsein ist in dieser Szene nachdrücklich präsent Bilder; Kraft; Beherrschung - solche Prädikationen nehmen der außerehelichen Beziehung das Hautgout des Verhältnisses. Dieser Mann lebt dem Höheren; er kann es sich leisten (»aus verschiedenen Gründen«) Frau und Geliebte zu haben. Wo oben ist, ist die Kunst; wo die Kunst ist, ist Seelenfreundschaft; von Sexualität braucht nicht die Rede zu sein. Sic ist inklusive. Mit dem Kismet der Mohammedaner wird der seit dem 19. Jahrhundert beliebte Orientkomplex ins Sprach- und Empfindungsmuster einbezogen. Diese Leute sind religiös, also moralisch, und dennoch polygam, was von den Männern geschätzt, und von den Frauen masochistisch akzeptiert wird. Abendländisch ist dagegen der verherrlichte Egoismus. Ohne Egozentrik gibt es keinen Fortschritt. Keine Macht, keinen Reichtum, keine Kunst, keinen Glauben, keinen Staat. Die - 105 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Reihenfolge entspricht dem spätkapitalistischen Weltbild; Macht stützt sich auf Reichtum; dieser verbrämt sich mit Kunst; stützt sich ab durch Glaube - alles zusammen macht den Staat aus. In eine private (privatistische) Geschichte eingefligt, also »menschlich verpackrt, wird solche Erkenntnis viel leichter ab­ genommen, als wenn sie mit politischem Akzent vorgetragen würde. Diese Geschichte (aus dem Leben gegriffen, eine »wahre Geschichte«) macht deutlich: Egozentrik gibt Kraft; für solche Kraft kann man nichts; sie kommt über einen. Aus dem jasmin­ parfümierten Wertekanon wird noch besonders die Tapferkeit hervorgehoben: bewußtlose Bewältigung von Außenwelt. Und über allem das Schicksal. Die Extension dieses Wortes ist so groß, daß eine Intension gar nicht versucht wird. Als Zauberwort rückt es alles Irdische dadurch zurecht, daß es die individuellen wie kollektiven Widrigkeiten in den Mythos entrückt; alles ist, wie es ist, weil es so sein muß - und es muß so sein, weil es Schicksal ist. Aufklärung hat hier nichts mehr zu suchen. Der Text ist schamlos; die Schamlosigkeit hegt freilich nicht im Entblößen primärer oder sekundärer Geschlechtsmerkmale. Die Begriffe Obszönität und Pornographie werden häußg - im alltäglichen Sprachgebrauch zumindest - als Synonyme behandelt. Man sollte jedoch beide Worte voneinander abgren­ zen und ihnen einen eigenen Inhalt zuordnen. Obszön wird hier als Bezeichnung etwa für eine Literatur und Kunst verwendet, die tabufrei und provozierend der Wahrheit über die mensch­ liche Existenz dient - einer Wahrheit, die den Menschen als sexuelles Wesen begreift, die menschliche Sexualität >direkt< zu schildern wagt. Innerhalb des bürgerlichen Moralsystems wird meist nicht begriffen, daß Kunst als ein Entbergen von - 106-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Wirklichkeit die konventionelle Scham vielfach verletzen muß, der Künstler Tabubrecher zu sein hat, der die dogmatisch-ide­ ologischen Erstarrungen und Verkrustungen zerschlägt, um so Realität neu zu erschließen. Bürgerliche Entrüstung wird durch Wahrheit evoziert. Die Schamlosigkeit der obszönen Kunst entdeckt den »ganzen Menschen«, während innerhalb der af­ firmativen Kunst (und Kunstinterpretation) zwar die Ganzheit des Menschen ständig beschworen, aber diejenigen »Teile«, die eine Verunsicherung der Vorstellung vom Wahren, Guten und Schönen darstellen, verdrängt werden. Mit der obszönen Kunst versucht verdrängte Natürlichkeit sich wieder Zugang zum ta­ buisierenden und verdrängenden Bewußtsein zu erwirken. Das Obszöne, meint Henry Miller, sei ein Prozeß der Reinigung, der Katharsis. Das Obszöne rufe deshalb viel heftigere Reaktionen hervor als das Pornographische. Pornographie ist Ventilsitte. Möglichkeit für die Abreaktion unterdrückter Energien. Pornographische Trivialkunst, nur auf Stofflichkeit angelegt, ruft kaum öffentliche Entrüstung hervor, da sie die herrschende Moral nicht attackiert. Sie stützt sie sogar ab, da sie den durch »öffentliche Moral« bewirkten Triebstau abkanalisiert. Mit Recht weist Comfort darauf hin, daß die Pornographie Liebe und Liebesgenuß gering einschätze und dafür abnorme Erscheinungsformen, die weniger mit genita­ ler Sexualität, sondern mit Haß und Aggression zu tun haben, bevorzuge. Pornographie markiert somit den Pegelstand allge­ meiner Asozialität. Häufig kaschiert sich Pornographie mit den Zügen des Erbaulichen oder Idyllischen; sie gibt sich moralisch und wird gerne ideologisch ausgerichtet. (Man erinnere sich z.B. an die Pornographie von Streichers >StürmerLiebesleben in der Natur< herleiten kann: »Dieser Zeugungsakt ist wie eine blitzschwangere Wolke, geladen mit Philosophie... Mit der Eizelle aber hängst du im Innenleben des Kosmos. In der Folge des Lebendigen. Du wirst selbst Kosmos in ihr«), wie in den kirchlichen Aufklärungstraktaten, die nach unserer Definition besonders pornographisch-repressiv sich gebärden: »Findest du nicht am schönsten, wenn ein Mädchen - 108 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch seine Liebe ganz still und fein ausstrahlt, wie eine Kerze durch Licht die Finsternis erhellt? Wenn wir im Frühling von einem grünenden Zweig eine Knospe nach der anderen abbrechen, kann uns dann der Zweig mit herrlichen Blüten erfreuen? So ist es mit der Liebe. Wollen wir jetzt nicht versuchen, jede Knospe zu hüten und zu pflegen, bis alles in einer Blütenpracht aufspringt? Wir wollen uns darum bemühen, und den anderen dazu helfen! Kurz darauf verließ Gerda den Betrieb; später traf unsere Briefschreiberin sie und fragte: >Gerda, wie steht’s mit deinen Knospen?< Da lachte diese die Fragestellerin glücklich an und sagte: >Ich habe es bis jetzt wahrgemacht. Jeden Jungen, der mir nachläuft, weise ich ab, und ich freue mich darauf, später einem feinen Jungmann, der es ebenso getan hat, mein Herz zu öffnen. < >Als sie dieses sagtejubelte mein Herz und ich freute mich unbändige«

Wer über Sexualität nicht spricht, sondern sie in Metaphern verschleiert, weil er sich eben schämt, verhindert eine rational­ erhellende Durchdringung des elementaren Triebbereichs. Die leibliche Partnerschaft, die sich der verbalen Kommunikation entzieht, bleibt blind. Das trifft auch für die Gesellschaft zu: wenn Sozietät es nicht versteht, schamlos in dem Sinne zu sein, daß sie vernebelnde Tabus und Ideologeme zerbricht, versagt sie sich die Möglichkeiten offener Unbefangenheit. Von Wichtigkeit ist dabei das soziolinguistische Problem. Die gerade für die abendländische Gesellschaft charakteristische Unfähigkeit, »brauchbare« Wörter für Liebe zur Verfügung zu haben, bewirkt, daß die Sprache an einem wesentlichen Bereich - 109-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch der menschlichen und gesellschaftlichen Existenz vorübergeht. Die »Ansprache« der Sexualität vollzieht sich nicht als offene Ansprache,

sondern in Andeutungen und Aussparungen.

Geschlechtliche Vorgänge werden metaphemreich verdrängt. Wahrheit erbringt gesellschaftliche Diffamierung. Am weitesten wagt sich noch der sexuelle Witz über die Tabugrenzen hinaus. Meist stehen nur Wortfelder zur Verfügung, die durch unerträgliche genital-lyrische Blumigkeit oder medizinischtechnische Sterilität oder zotige Bösartigkeit charakterisiert sind. Viele Eltern und Erzieher beklagen deshalb, daß sie adäquate Worte für die Beschreibung sexueller Vorgänge nicht finden. Versucht Sozialpädagogik jedoch die Fragen offen anzusprechen, entsteht eine »Woge der Empörung«. Der Tenor des Protests klingt etwa so: »Abgrundtiefer und abscheuungswürdiger ging es wohl nicht. Sie haben die Psyche der Kinder damit vergiftet. Wie wollen Sie diese Schäden der Seele wieder gut machen?« (So ein Hörerbrief, der sich auf das Protokoll einer Unterrichtsstunde mit Siebenjährigen bezog; aus ihm hatte ich für eine Rundfunksendung über Spracherziehung folgende Stehe zitiert:

»Lehrerin: Ihr seht diesen Jungen und das Mädchen. Könnt ihr einen Unterschied erkennen? Johann, was meinst du?

Johann: Das Mädchen hat lange Haare und der Junge kurze. Lehrerin: Gibt es noch einen Unterschied? Dennes: Ja. Der Junge hat einen Pimmel und das Mädchen hat so eine kleine Sache, so etwas wie ein Loch. - 110-

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Lehrerin: Ganz richtig, Du hast Pimmel gesagt, gibt es einen unter Euch, der etwas anderes dazu sagt?

Peter: Ich sage Diller. Rune: Als ich im Krankenhaus lag, da war einer, der nannte das Piephahn.

Anita: Glied, Fräulein. Lehrerin: Richtig. Und das Mädchen, sie hat auch etwas. Johann nannte es ein kleines Loch. Und wie kann man noch sagen?

Rosemarie: Scheide. Lehrerin: Richtig. Wir können uns vielleicht entscheiden, diese Dinge Glied und Scheide zu nennen.«) Wenn man die Scham-Ideologie bekämpft, so wird deshalb nicht grundsätzlich der anthropologische und soziale Wert von Schamhaftigkeit geleugnet. Die Schamlosigkeit des Sprechens (im Sinne von Obszönität) verhilft zu einem Wirklichkeitsbewußtsein, das neurotische oder psychotische Selbstentfremdung verhindern kann; zugleich ermöglicht das schamlose Ansprechen der Sexualität eine neue Form von Schamhaftigkeit, da erst der »Wissende« bereit und in der Lage ist, den Wert der Intimität zu schätzen. Diese Intimität ist dann nicht eine Folge des Zwanges zu verschweigen, befangen zu sein, sondern eine Schamhaftigkeit, die mit der Freiheit des Aufgeklärtseins verknüpft ist. Wer durch die gegen repressive Schamnormen aufbegehrende Schamlosigkeit hindurchgegangen ist, gelangt zu einer neuen Dimension ethischen Verhaltens. Worin liegt der Wert bzw. die Bedeutung - 111 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch eines derart entideologisierten Schamgefühls? Bei dem Versuch der Beantwortung einer solchen Frage muß man sich bewußt sein, daß in Ermangelung anderer Bezeichnungen alte, wegen häufigen Mißbrauchs und gedankenlosen Verbrauchs abgegriffene Tugendbegriffe wieder auftauchen, die aber nun in Anführungszeichen zu setzen sind, damit deutlich wird, daß sie - ohne die ideologische Absicht der Machtausübung - durch neuen Gebrauch zu humanitärer Bedeutung gelangen sollen. Max Scheler spricht davon, daß Schamhaftigkeit in diesem Sinne ein Akt der Rückwendung auf ein Selbst sei. Während auf der einen Seite die Liebe Hingabe fordere, ein Sich-selbst-gehen-lassen, müsse auf der anderen Liebe auch das Bewußtsein des Sichgesehen-Wissens einschließen und so zu einer »Rückwendung« aufs Selbst, zu Verhaltenheit und Zurückhaltung führen. Überträgt man diese philosophisch-abstrakten Überlegungen auf die augenblickliche gesellschaftliche Situation, so wird man generell sagen können, daß dieses Oszillieren zwischen Schamlosigkeit und Schamhaftigkeit nicht gegeben ist. Weder findet kollektive Aufklärung im Sinne »obszöner« Offenlegung von Wahrheit statt (verhindert durch Scham-Ideologien und soziolinguistische Defekte), noch bleibt die aus der kollektiven Offenheit auszuklammemdc persönliche und personale Intimität gewahrt. Wo weder das eine (Schamlosigkeit als sozialer Wert) noch das andere (Schamhaftigkeit als individuelles Reservat) »gelingt«, dominiert das Voyeurtum. Der Voyeur ist nicht an Offenheit interessiert; er ist ein schamideologisch aufgeladener, repressiv-autoritärer Typ, der sich gegenüber Obszönität aggressiv abreagiert; er benötigt für seine brachliegende unterdrückte (unemanzipierte) Sexualität jedoch Objekte der - 112-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Fixierung: der Lustgewinn seines Zuschauens besteht darin, daß er die individuelle Intimität zu lüpfen und sich durch Einblick in die Schlafzimmeratmosphäre zu befriedigen sucht. Er wird darin unterstützt von der kynischen Haltung all derjenigen, die im Reflex auf die repressiven Sexualnormen ihre individuelle Sexualität nach außen stülpen, und die Veröffentlichung von Intimität mit kollektiver Aufklärung verwechseln. Die Matrizen der Lust werden dem Voyeur somit von zwei Seiten geliefert: von der auf Kommerzialisierung ausgerichteten Illustriertenpresse, die bestimmt ist von der bourgeoisen Verschleierungsabsicht und dafür individuelle Intimität zum »Schlüssellochblick« kompensatorisch freigibt (mit Pornographie Obszönität verhindert und repressive Sexualnormen stabilisiert), und vom »linken« Abreaktionsorgasmus, der veröffentlichten Koitus als Emanzipation mißversteht. - Schließlich bemächtigt sich noch die Werbung des Voyeurtums: indem sie ein sexuelles Tahiti vorgaukelt, setzt sie zivilisatorische Konsumgüter ab; dieser mit den Accessoires der Boutiquen ausstaffierte Intimitätsjargon manipuliert mit Hilfe entblößter Privatsphäre. Schamhaftigkeit wird auf Sozietät bezogen, wo sie unangebracht ist; Schamlosigkeit dominiert im personalen Bereich, wo sie ihren eigentlichen Sinn hätte. Die nachfolgende Reklame, so harmlos sie als Einzelanzeige ist, kann die Tendenz kommerzialisierten Voyeurtums illustrieren »An seiner Zärtlichkeit erkennen Sie intim-Mouson. Die zärtliche Intimpflege: intim-Mouson. Mit zwei speziell für den Intimbereich der Frau entwickelten Duftnoten: toscana, der Duft jungen Champagners, und erotique, der Duft von betörender Weiblichkeit. Intim-Mouson schenkt Ihnen seine ganze Zärtlichkeit. Und gibt Ihnen Sicherheit

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Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch und Frische.« (Auf dem Reklamephoto - leider hier nicht wiederzugeben - braune Schenkel, die eine »männliche« Hand, in doppeltem Wortsinne, umfangt!) Als Mythe des Alltags verbreitet Reklame mit der Aura intimen Dufts kommerzialisiertes Glücksgefühl für den einzelnen und suspendiert ihn von der Bewußtheit kollektiver Verdummung. Die Schamspalte ist verdeckt; die Justiz kann beruhigt sein. Wahrheit ist nie desodorant, häufig aber obszön.

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GuterTon in allen Lebenslagen

Es gibt Sprachbereiche, die besonderen Einblick in die Bewußtseinsstruktur eines Menschen bzw. einer Gruppe zu geben mögen. Vor allem, wenn Persönliches angesprochen wird oder sich ausspricht, sind aufschlußreiche Einsichten in das Sozio- wie Psychogramm von Gesellschaft zu erwarten. Mit dieser Absicht seien die Heiratsanzeigen in deutschen Zeitungen untersucht - ein öffentlich zugänglicher, partieller Bereich von Intimität. Die Annoncen sind nicht schichtenspezifisch, sondern soziologisch diffus; an ihnen kann generell die Artikulation von Sehnsucht und die Sehnsuchtssprache unserer Zeit analysiert werden. Die Betroffenen, die »familiäres Glück« nicht finden konnten, behandeln ihre Hoffnungen und Erwartungen dabei als Ware und handeln mit ihr. Dieser Warencharakter wird freilich nicht zugestanden; die Kommerzialisierung der Sehnsucht wird romantisch abgedeckt. Mit Recht hat Jürgen Habermas darauf hingewiesen, daß man die Texte mit der »prätentiösen Fracht eines tausendjährigen, hochindividualistischen Liebesideals« überlädt. »Erwachsen aus der Vereinigung der christlichen Erlösungsreligion mit den Prinzipien strenger Monogamie, kultiviert im ästhetischen Raffinement von Troubadouren und Minnesängern, verklärt im autistisch stilisierten Liebesprogramm des romantischen Kreises und schließlich vom - 115-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch europäisch-amerikanischen Großbürgertum rezipiert und durch die erotischen Klischeemaschinen des 20. Jahrhunderts allen Schichten vermittelt, prägt dieses Liebesideal die Eheerwartung zur Erwartung eines individuellen, eines einzigartigen, an einen bestimmten Partner gebundenen Glücks, das mit kurzfristigen und beliebig reproduzierbaren Lusterlebnissen angefüllt ist. Die Heiratsanzeigen entgehen nicht dem Zusammenhang mit den Liebesromanen der gleichen Zeitungen, die mit kolorierten Reizschemen bebildert sind und die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen: animierende Konturen einer Umarmung und daneben in groben Lettern der Kommentar: >Schräg fällt der Mondstrahl auf ihr Gesicht, als sie ihn küßt. Das ist die Liebe, das ist die Wirklichkeit.« »Nur das Herz soll entscheiden. Ersehnt Herzensehe. Suche das große Herzensglück. Träume von Liebesehe. Suche viel Herz. Die richtige Liebe. Entscheidung des Herzens.« Die »vollkommene Ehe« ist hier - zumindest wollen das die inflationär gebrauchten, mit Innerlichkeit aufgeladenen Fangwörter suggerieren - ganz aufs Wesentliche und Eigentliche ausgerichtet. Die zukünftig einander Liebenden projizieren in ihr erwartetes Eheglück die »einzigartige schicksalhafte Begegnung zweier Seelen.« »Unübersehbar klafft der Widerspruch der vom geltenden Liebesideal zugespielten und zugemuteten Rolle auf der einen und der rationalisierten Praxis der Heiratsbörse auf der anderen.« Der erste, der auf die gesellschaftspolitische Relevanz der Heiratsanzeige hingewiesen hat, ist Karl Kraus gewesen. Er entlarvte an ihr bildungsbürgerliche Verlogenheit, die Kultur als Fassade verwendet, um damit die patriarchalische Abgründigkeit zu kaschieren: - 116-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch »Ich lebe als vielbeschäftigter Rechtsanwalt in rhein. Kleinstadt unweit der Großstadt. Mein Wohnort, meine starke berufl. Inanspruchnahme und das Brachliegen des geselligen Lebens sind der Grund meiner Ehelosigkeit. Ich habe gutes Einkommen und Privatvermögen. Alter 36 J. Größe 173 cm, dunkelblond und gesund... Männer wie Friedrich der Große und Bismarck, Goethe und Schiller, Beethoven und Wagner sind mir Vorbilder und Lebensführer. Seit langem geht mein tiefstes Sehnen nach einer herzlieben Frau, die Verständnis für meine Art hat. Eine solche Gattin zu finden, wäre mir höchstes Erdenglück! In Betracht kommt nur eine Tochter aus ebenbürtiger Familie, die gleich mir im Eltemhause die sorgfältigste Erziehung genossen hat. Ihre Anschauungen müssen den meinen verwandt sein. Ich habe eine ausgesprochene Vorliebe für hübsche Blondinen von ungefähr 1,70m Größe... So sehr ich gelegentlichen Besuch von Konzert und Theater schätze, so zuwider ist mir eine Frau, die ihre Lebensaufgabe außerhalb des ehelichen Heims sieht. Bei aller Freude an schicker Kleidung mag ich keine Modepuppe, deren Seligkeit ein vollgepfropfter, ständig neue Zufuhr erhaltender Kleiderschrank ist...< >Wehe der Frau, die in solchen Belangen das wahre Familienglück sucht! Denn wenn sie nicht von Haus aus Verständnis für die Art hat, also nicht eo ipso ein Mißgeschöpf ist, wird sie in ihrer hellblonden Ahnungslosigkeit heillos in den Strudel dieser Konzessivsätze gerissen: bei aller Freude an schicker Kleidung mag er nicht und so sehr er gelegentlich, so zuwider ist ihm, bei aller Energie ist er und ohne sich zu betätigen steht er, und ohne etwas zu sein, bekennt er sich - und sie geht in der Langweile einer Ehrbarkeit unter, die in ihrem ganzen Leben keinen anderen romantischen - 117-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch Einfall hatte als den, Friedrich den Großen und Bismarck, Goethe und Schiller, Beethoven und Wagner als ihre Vorbilder und Lebensführer anzusprechen und zu wünschen, daß auch die Braut die Sachen in genügender Menge mitbringt... Aber an all der Schmach sind nur die Frauen schuld, weil sie, anstatt die Natur, der sie doch näherstehen als die Verdiener, durch Verzicht auf Ausübung ihrer Funktionen in übelster Gemeinschaft zu rächen, sich diesen bürgerlichen Geschlechtstieren hingeben, um sie gar noch fortzupflanzen.« Wenn man - freilich mit geringerem kritischen Zom - die Heiratsanzeigen von heute betrachtet, so wird man feststellen können, daß die Phänomene ähnlich geblieben sind. Zwar tritt die faschistoide Komponente kaum mehr in Erscheinung; die Heiratsanzeigen sind in diesem Sinne unideologisch; das Politikum liegt vielmehr in den Stanzmustem, die den Wunsch auf »persönliche Begegnung« prägen. Die sprachliche Stereotypie ist Ausdruck eines genormten Denkens und Fühlens. Hinter dem folgenden Text z.B. »steckt ein kluger Kopf« - so artikuliert einer, der eine »geistige Führerrolle« spielt, der 1970 zu den »Spitzen und Stützen der Gesellschaft« sich zählt oder gezählt wird: »Universitäts-Dozent. 42/183, sportlich nach Typ und Erscheinung, unternehmungslustig, mehrdimensional: vom großen Lausejungen (sagen sie) und Globetrotter bis zum ernsthaften Forscher und Kunstbeflissenen, mit der Gabe, über Haar und Schultern einer Frau so zu gleiten, daß auch sie davon elektrisiert werde (sagen sie), aber keine Spielematur (außer im Tennis), nebst anderen Schwächen - sucht Lebensgefährtin, - 118-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch die bis zur Zehenspitze feminin sein, deren Fraulichkeit von ausgeprägtem sexuellen Eros bis zu gütiger Mutterwärme alle Schattierungen durchmessen sollte. Womöglich noch ordentlich, tüchtig, gebildet, feinfühlig, schlank und attraktiv.« Der ehemals nationalistisch unterlegte Provinzialismus des gehobenen Bürgertums ist heute abgelöst durch fingierte Weitläufigkeit; der spießbürgerliche Mief ist mit dem Duft der großen weiten Welt vermengt. Nach wie vor ist die Hauptsache, daß die »Sachen« stimmen. Die Frau wird als Sexualobjekt und als Hausfrau taxiert. Und darüber elektrisierende RomantikGlasur! Unbestritten ist, daß die allgemeinen Kommunikationssch wierigkeiten der Industriegesehschaft, in der Massenbildung mit Entfremdung und Vereinsamung Hand in Hand geht, den Intimbereich sehr stark betreffen. Dort, wo mehr als die sexuelle Verbindung en passant (etwa als touristische Freizeitgestaltung, - »Sonne und amore«) gesucht, eine länger dauernde Bindung angestrebt wird, nämlich als Ehe in der konventionellen Form von »Nestwärme«, fehlen häufig die Möglichkeiten für gegenseitige »Prüfung«. Man hat keine Zeit und keine Möglichkeit, sich »kennenzulemen«. Dazu kommt, daß die Wünsche nach Ehe sehr früh einsetzen; viele akzelerierte Jugendliche wollen offensichtlich auf diese Weise möglichst rasch sich selbständig machen. Ferner werden mit »Ehewilligkeit« viele »Freundschaftswünsche« abgesichert, da die bestehenden Tabus vorläufig noch Alibis für eindeutig sexuelle Intentionen einfordem. »Heirat möglich« wird deshalb vielfach »Bekanntschafts- und Partnerwünschen« - 119-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch angehängt: »Dr. med. aus Forschungsgründen nachts tätig, wünscht für Tageszeit charmante Partnerin. Diskretion selbstverständlich... Junger Mann, 20 J. sucht attraktives und hübsches junges Mädchen zur Freizeitgestaltung (spätere Ehe nicht ausgeschlossen)... Bauingenieur wünscht Bekanntschaft eines netten, aufgeschlossenen Mädchens bis 25. Bei Zuneigung Heirat nicht ausgeschlossen...« Sehr umfangreich sind auch die Heiratswünsche der älteren Generation, die ihrer Einsamkeit, der inneren Leere, und wohl auch dem Altersheim, durch ein »spätes Glück« zu entkommen suchen: »... Welche reife Frau glaubt wie ich an ein tiefes Glück im Lebensherbst? Witwer und Ingenieur, groß. Haus- und Grundbes. Barverm. (ges. Verm. ca. 1/2 Mill.), sehne ich mich nach einer warmherzigen Frau. Ich habe viele Interessen und liebe das Leben.« Besitz ist nicht alles, aber er beruhigt. Wer seine Sehnsucht mit klarem Kontoauszug versehen kann, wird leichter sein Ziel erreichen. Man weiß, was man hat, wenn der andere hat. »11 Zimmer Villa, moderne Wohnblöcke bei hohem Reinverdienst. Großes Vermögen und hohes, bleibendes Einkommen. Über beides sowie über hohes geistiges Format müßte auch der Partner verfügen.« Geld soll zu Geld, Geist zu Geist. In den Heiratsanzeigen finden sich die Abbilder von dem, was in den Illustrierten und den Werbeanzeigen zur Ablenkung von zivilisatorischer Frustration propagiert wird: braungebrannte Muskelstärke; blondes Glück zwischen Dünen. Kaum ein Ehewunsch, der sich nicht urlaubsmäßig absichert: Skifahren im Gebirge; Baden, Segeln auf See und Meer; Wandern in allen Höhen; olympischer Geist: mens sana in corpore sano; - 120-

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch und dazu geistige Weihen: »Lieben Sie das Gespräch, Theater, Konzerte, Wandern, Ski, Tanz?« Ferner Pferde; Sie soll zudem »zum Pferdestehlen mit ihrem Lausejungen« bereit sein. Je anspruchsvoller die Zeitung, in der man inseriert, um so höher greift der sportliche Ehrgeiz. Die Reiselust nimmt mit der Größe der Inserate zu: »Nonchalanter Porsche - oder Alfa-Fan mit der Lässigkeit des Weltmanns... Akademiker, für den ein plötzlicher Trip nach Paris eine Bagatelle ist.« »Mit mir an der afrikanischen Küste zu baden, durch Rio bummeln, in Rom einen Aperitif nehmen, Pferde, Flugzeuge, schnelle Autos bevorzugen.« Solches Eheglück ist in Gazetten wie >Twen< oder >Jasmin< programmiert worden. Anders die Nesthockertypen: Weniger der rasante Porsche und die rassige Schönheit sind Erkennungszeichen der Sehnsucht - Küche wird bevorzugt, das »traute schöne Heim«. Der »kultivierte Ehepartner soll im schönen Heim verwöhnt werden.« Herzenswunsch ist es, ein Nest zu bauen mit einem »sympathischen Männchen, das Erfüllung in einer harmonischen und liebevollen Ehe sucht.« Erstrebt wird ein Oszillieren zwischen Nest und Welt; die Kultivierung von Geist und Magen. »Pagnol, Kennedy, Johannes XXIII. und trotz manchem auch Adenauer, Vivaldi, Greco, Matisse, Miro, Schwimmen, Tischtennis und Bundesliga, Garten, Kinder... und ganz besonders franz. Küche«. So signalisiert ein Akademiker seinen Wunsch nach »Schöner-wohnen«. Zur Charakterisierung der innerlichen Bedürfnisse werden Worte, Metaphern, Namen, Satzformen herangezogen, die in ihrer Stereotypie gerade das nicht erreichen können, was intentional - 121 -

Herrmann Glaser - Das öffentliche Deutsch erstrebt ist: individuellen, personalen Kontakt. Hier wird das Sprach-Kabarett der Heiratsanzeigen zur Tragödie: Ausdruck der verzweifelten Versuche, auf öffentlichem (veröffentlichtem) Wege, Enklaven der Intimität zu finden. - Es ist anzunehmen, daß die Sprache der Heiratsanzeigen nur die Spitze des Eisberges der Entfremdung und der Kommunikationsmisere darstellt; Liebe, durchschnittlich gesehen, soweit sie nicht überhaupt sprachlos ist, keine individuell-sprachlichen Nuancen kennt. Die Matrizen werden zu einem großen Teil von der Massenpublizistik geliefert. Von der Regenbogenpresse, der Magazin- und der Heftchen-Industrie. Ferner von der Konsumwerbung. Es ist nicht nur generell aufschlußreich, in welcher Sprachverpackung Sehnsucht gehandelt wird, sondern auch, wie die Börse - d. h. die betreifende Zeitung oder Zeitschrift - die Sprachverpackung beeinflußt. Wie lauten Heiratsanzeigen in der »Frankfurter Allgemeinem, wie in »Christ und Welt