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German Pages [501] Year 2020
Lasma Pirktina
Das Ereignis
KONTEXTE
Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Jean-Luc Marion
ALBER PHÄNOMENOLOGIE https://doi.org/10.5771/9783495820544
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B
ALBER PHÄNOMENOLOGIE
A
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Das Ereignis stellt ein bedeutsames Thema der gegenwärtigen Philosophie dar. Wir alle kennen Ereignisse – sie ereignen sich mit uns. Doch was ist das Ereignis? Was kennzeichnet es, wie ereignet es sich? Wie ist es denkerisch zu beschreiben? Es stellt sich heraus, dass die Ereignisse genau das sind, wovon man nicht fragen kann, was sie sind, wie sie sind und wie man sie denken kann. So verfolgt das Buch in der Philosophie Martin Heideggers, Emmanuel Levinas und JeanLuc Marions drei – mit Jacques Derridas Worten: »wahnsinnige« – Versuche, das Undenkbare zu denken.
Die Autorin: Lasma Pirktina studierte Philosophie an der Universität Lettlands in Riga und der Technischen Universität Dresden; Promotion an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Lasma Pirktina
Das Ereignis Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Jean-Luc Marion
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler
KONTEXTE Band 28
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48995-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82054-4
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Danksagung
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um meine an manchen Abschnitten überarbeitete und insgesamt verbesserte Dissertation, die 2017 von der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt angenommen worden ist. An dieser Stelle möchte ich mich bei denjenigen bedanken, die bei ihrer Entstehung teilgenommen haben. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Walter Schweidler, der mit großem Interesse mein Dissertationsprojekt annahm, die Arbeit betreute und mit Vertrauen viel Raum für eigenständiges Denken ließ. Die Dissertation wurde durch ein Promotionsstipendium der Hanns-Seidel-Stiftung gefördert, für das ich mich hiermit bedanke. Ich danke Frau Prof. Gerl-Falkovitz für ihre Lehrveranstaltungen an der Technischen Universität Dresden, die mich erstmals zum Thema »Ereignis« brachten, sowie für ihre Bereitschaft, das Zweitgutachten zu übernehmen. Einen besonderen Dank möchte ich Herrn Dr. Rolf Kühn aussprechen, für seine Seminare an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und für die inspirierenden Gespräche. Ich bedanke mich bei allen Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums von Prof. Schweidler für den anregenden philosophischen Austausch und all denjenigen, die mit rührender Freundlichkeit das Korrekturlesen meiner Arbeit auf sich nahmen: Dr. Friedrich Hausen, Uwe Hübner, Beatrix Kersten, Martin Krebs, Dr. Anna Maria Martini, Christian Otto und Dr. Gabriele Werner aus der Arbeitsgemeinschaft Religionsphilosophie Dresden e. V., Dr. Raphael Bexten und Dr. Robert Meißner aus dem Doktorandenkolloquium von Prof. Schweidler, sowie Marcus Döller an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Ass.-Prof. Dr. Christian Rößner an der Katholischen Privat-Universität Linz. Schließlich bedanke ich mich bei Herrn Dr. Tobias Holischka an der Katholischen Universität Eich5 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Danksagung
stätt-Ingolstadt für die organisatorische und technische Hilfe in der Abschlussphase der Dissertation und bei der Vorbereitung der Disputation. Meiner Familie – meinem Mann und meinen zwei Söhnen – gilt mein Dank für die Unterstützung und die aufgebrachte Geduld mit mir in dieser Zeit. Berlin, im August 2018
Lasma Pirktina
In Dankbarkeit dem Andenken von Dr. Peter Przybylski gewidmet.
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Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
I.
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE: das gegenwärtige Denken des Ereignisses . . . . .
Martin Heidegger (1889–1976)
. . . . . . . . . . . . . . . .
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
37 39
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59
Emmanuel Levinas (1906–1995) . . . . . . . . . . . . . . . .
70
Gilles Deleuze (1925–1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
Jacques Derrida (1930–2004) . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Alain Badiou (1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
Jean-Luc Marion (1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138
Claude Romano (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
II. DIE LOGIK DES EREIGNISSES: Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Jean-Luc Marion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers . 1. Das Ereignis in der Philosophie Martin Heideggers . . . 2. Die Zweideutigkeit des Ereignisses: die Wesung und der Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155 155 160 7
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Inhaltsverzeichnis
3.
4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Das Ereignis als Austrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das Ereignis ist kein Denken . . . . . . . . . . . . 3.2. Das Ereignis ist kein Erlebnis . . . . . . . . . . . . Die Zeit, der Ort und der Zeit-Raum des Ereignisses . . . Der Anfang und der Untergang . . . . . . . . . . . . . Das Vergessen des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . Die Machtlosigkeit und Herrschaft des Ereignisses . . . . Der Anfang als Gründer der Geschichte . . . . . . . . . Der erste Anfang, der andere Anfang und der Zwischenfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verschenkung und Unberechenbarkeit des Ereignisses Die Wiederholung des Ereignisses: Ort, Sprache, Kunst . Die Fülle und das Sagen des Ereignisses . . . . . . . . . Die Jemeinigkeit und das verborgene Ereignis der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’ . 1. Die Philosophie Emmanuel Levinas’ und das Ereignis . . 2. Die Nicht-Phänomenalität und Nicht-Vorstellbarkeit des Ereignishaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Ereignis als Einbruch in die Welt des Selben . . . . . 4. Das Ereignis und die Innerlichkeit . . . . . . . . . . . . 5. Das Überschreiten des Denkens und die Undenkbarkeit des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Aus sich heraustreten: das Begehren . . . . . . . . . . . 7. Aus sich heraustreten: die Sensibilität . . . . . . . . . . 8. Aus sich heraustreten: die Nähe und die Verantwortung . 9. Das Ereignis als Zeitbruch . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die unvordenkliche Vergangenheit und die Unerinnerbarkeit des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Die Spur des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Das Ereignis als Anfang von etwas Neuem . . . . . . . . 13. Vom Ereignis sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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169 170 178 183 193 198 202 205 209 217 223 231 236 240 240 247 252 257 262 270 273 280 284 291 297 304 315
Inhaltsverzeichnis
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions 1. Das Ereignis in der Philosophie Jean-Luc Marions . . . 2. Die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses . . . . . . . . 3. Die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses. Zwei Probleme 3.1. Die Selbst-Gegebenheit und die Reduktion . . . . 3.2. Die Selbst-Gegebenheit und der adonné . . . . . 4. Das unmöglich mögliche Ereignis . . . . . . . . . . . 5. Die fünf Bestimmungen des sich selbst gebenden Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Die Anamorphose . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Das Eintreffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Das vollendete Faktum . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Der Vorfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das sättigende Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Die Idee des gesättigten Phänomens . . . . . . . 6.2. Unanvisierbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Unerträglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Absolut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5. Unbeobachtbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6. Die Sättigung der Sättigung . . . . . . . . . . . . 7. Das Jetzt des Ereignisses . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Erfahrung der Zeit im Ereignis . . . . . . . . . . 9. Das Ereignis und die Geschichte . . . . . . . . . . . . 10. Das Ereignis der Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . .
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322 322 328 334 334 342 349
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354 355 358 362 365 368 368 373 377 380 384 388 391 401 404 412
III. UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES: Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . 423 1.
Die Logik des Ereignisses . . . . . . . . . . . . 1.1. Das Ereignis und ein Etwas . . . . . . . . . 1.2. Das Ereignis und das, was sich ereignet . . . 1.3. Das Ereignis und die Spur . . . . . . . . . . 1.4. Das Ereignis und die Geschichte . . . . . . 1.5. Das Ereignis und das unvorhersehbare Neue 1.6. Das Ereignis und das Andere . . . . . . . .
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425 426 429 433 435 440 441
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Inhaltsverzeichnis
Das Ereignis und die Phänomenologie . . . . . . . . . . 2.1. Das Ereignis als Phänomen und Nicht-Phänomen . . 2.2. Das nicht-phänomenale Ereignis und das Andere der Erfahrung und des Denkens . . . . . . . . . . . . . 2.3. Das Ereignis und die Überschreitung der Bewusstsein-Phänomen-Struktur . . . . . . . . . . 2.3.1. Der Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Das nicht-vorstellende Denken . . . . . . . . 2.4. Die Nicht-Phänomenalität des Ereignisses . . . . . Das Ereignis jenseits der Phänomenologie und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das Ereignis und die Immanenz . . . . . . . . . . . 3.1.1. Die Nähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Der Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Das Ereignis als Aus-sich-Heraustreten . . . . . . .
444 445
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
477
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
490
2.
3.
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450 452 453 456 459 463 464 466 470 474
Siglenverzeichnis
A AQE AS B BPh BS BV
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BWD CC CN CV DE DEHH DI DL DR DS DW E Echo ED EE EeD EeE EI EM EN En EPh ET EU EW FG FM FV
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Heidegger: Über den Anfang, GA 70 Levinas: Autrement qu’être Levinas: Außer sich Heidegger: Besinnung, GA 66 Heidegger: Beiträge zur Philosophie, GA 65 Marion: La banalité de la saturation Heidegger: Bremer Vorträge, GA 79 (Bremer und Freiburger Vorträge) Heidegger: Bauen Wohnen Denken, GA 7 (Vorträge und Aufsätze) Levinas: Carnets de captivité Marion: Certitudes négatives Marion: La croisée du visible Marion: Dieu sans l’être Levinas: En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger Levinas: De Dieu qui vient à l’idée Levinas: Difficile liberté Deleuze: Différence et répétition Marion: De surcroît Deleuze: Differenz und Wiederholung Heidegger: Ereignis, GA 71 Derrida: Echographien/Échographies Marion: Etant donné Levinas: De l’existence à l’existant Derrida: L’écriture et la différence Badiou: L’être et l’événement Levinas: Ethique et infini Romano: L’événement et le monde Levinas: Entre nous Levinas: Eigennamen Marion: Das Erotische: ein Phänomen Romano: L’événement et le temps Levinas: Ethik und Unendliches Marion: The Essential Writings Derrida: Falschgeld Derrida: La fausse monnaie Heidegger: Freiburger Vorträge, GA 79 (Bremer und Freiburger Vorträge)
11 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Siglenverzeichnis G GdS GE GF GG GH GoS GS H HAH HAM HB HS ID IDE IeD IL IV JS KNS
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ÖS P PhE PhP PhS PhtW
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Derrida: Grammatologie/De la grammatologie Heidegger: Die Geschichte des Seyns, GA 69 Levinas: Wenn Gott ins Denken einfällt Derrida: Von der Gastfreundschaft Marion: Gabe und Gemeinwohl Marion: Givenness & Hermeneutics Marion: Gott ohne Sein Marion: Gegeben sei Derrida: De l’hospitalité Levinas: Humanisme de l’autre homme Levinas: Humanismus des anderen Menschen Heidegger: Humanismusbrief, GA 9 (Wegmarken) Levinas: Hors sujet Heidegger: Identität und Differenz, GA 11 Derrida: Une certaine possibilité impossible de dire l’événement Marion: L’idole et la distance Deleuze: Die Immanenz: ein Leben Deleuze: L’immanence: une vie Levinas: Jenseits des Seins Heidegger: Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem (Kriegsnotsemester 1919), GA 56/57 (Zur Bestimmung der Philosophie) Heidegger: Die Kunst und der Raum, GA 13 (Aus der Erfahrung des Denkens) Marion: Der Leib oder die Gegebenheit des Selbst Badiou: Logiques des mondes Deleuze: Logik des Sinns/Logique du sens Badiou: Logiken der Welten Derrida: Marges de la philosophie Heidegger: Mein Weg in die Phänomenologie, GA 14 (Zur Sache des Denkens) Heidegger: Nietzsche I, GA 6.1 Heidegger: Nietzsche II, GA 6.2 Levinas: Noms propres Derrida/Marion: On the Gift (Caputo/Scanlon: God, the Gift and Postmodernism) Marion: Die Öffnung des Sichtbaren Deleuze: Pourparlers Marion: Le phénomène érotique Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception Marion: Le phénomène saturé Heidegger: Phänomenologie und die transzendentale Wertphilosophie, GA 56/57 (Zur Bestimmung der Philosophie) Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung Deleuze/Guattari: Qu’est-ce que la philosophie? Marion: La rigueur des choses Marion: Réduction et donation
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Siglenverzeichnis RdD RG RoG RuG S SA SB Sch SD SE SG Sp SPh SS SU Sub SZ TA TI ThPh TU U UES
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Marion: La raison du don Derrida: Rundgänge der Philosophie Marion: The Reason of the Gift Marion: Ruf und Gabe Heidegger: Seminare, GA 15 Levinas: Die Spur des Anderen Marion: Sättigung als Banalität Derrida: Schurken Derrida: Die Schrift und die Differenz Badiou: Das Sein und das Ereignis Heidegger: Der Satz vom Grund, GA 10 Heidegger: Unterwegs zur Sprache, GA 12 Derrida: Die Stimme und das Phänomen Levinas: Vom Sein zum Seienden Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare Levinas: La substitution Heidegger: Sein und Zeit Levinas: Le temps et l’autre Levinas: Totalité et infini Foucault: Theatrum philosophicum Levinas: Totalität und Unendlichkeit Deleuze: Unterhandlungen Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, GA 5 (Holzwege) Heidegger: Die Überwindung der Metaphysik, GA 67 (Metaphysik und Nihilismus) Derrida: Voyous Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible Derrida: La voix et le phénomène Heidegger: Vom Wesen des Grundes, GA 9 (Wegmarken) Heidegger: Was ist Metaphysik?, GA 9 (Wegmarken) Heidegger: Das Wesen des Nihilismus, GA 67 (Metaphysik und Nihilismus) Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie? Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit, GA 9 (Wegmarken) Heidegger: Zollikoner Seminare, GA 89 Levinas: Die Zeit und der Andere Levinas: Zwischen uns Heidegger: Zeit und Sein, GA 14 (Zur Sache des Denkens)
13 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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»Niemand kann auf Dauer dieses Abenteuer wollen, dass aus der Leere unwahrscheinliche Namen auftauchen. […] Selbst dem, der an den Rändern der Ereignisstätten umherirrt und sein Leben für die Gelegenheit und des unmittelbaren Eingriffs riskiert, empfiehlt es sich am Ende, ein Wissenschaftler zu sein.« »[…] denn die Ereignishaftigkeit des Ereignisses ist alles andere als eine freudig-warmherzige Gegenwart.« Alain Badiou, L’être et l’événement
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Einleitung
Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass es ein Aus-sich-Heraustreten, eine Begegnung mit dem Anderen des Sich-Selbst gibt; dass es Überraschungen, unvorhersehbare Geschehnisse, Einfälle von neuen Ideen, Erschütterungen gibt; dass es Geburt, Sinnlichkeit, Hingabe, Liebe, Religion, Kunst, Musik, Geschichte, Aufopferung, Tod gibt. Damit geht diese Arbeit von einer »Sache« aus, nicht von einem philosophischen Begriff oder einem in der Philosophie schon etablierten Problem. Sie versucht, diese »Sache« philosophisch zu untersuchen; sie schaut zuerst darauf, inwiefern und wie diese »Sache« in der Philosophie schon behandelt worden ist; sie stellt kritische Fragen; schließlich will diese Arbeit eine Richtung für die Behandlung dieser »Sache« vorschlagen. Was ist die »Sache« der vorliegenden Arbeit? Sie wird hier Ereignis genannt. Aus zweifachem Grund: Erstens weist der alltägliche Gebrauch dieses Wortes auf ein besonderes und bedeutsames Geschehnis oder Erlebnis hin; zweitens hat es oft auch im philosophischen Diskurs diese Bedeutung, die dort entsprechend eine philosophisch herausgearbeitete Tiefe gewinnt. Wir sagen: »oft«, weil das Wort »Ereignis« in der Philosophie sehr unterschiedlich gebraucht wird. Und das ist einer der Gründe, warum wir uns hier gezwungen fühlen, von der »Sache« und nicht von einem Begriff oder einem Problem auszugehen. Wenn wir sagen, dass wir das Ereignis untersuchen wollen, können wir uns auf keinen Fall darauf verlassen, dass überall, wo im philosophischen Diskurs der Name »Ereignis« auftaucht, auch die uns interessierende »Sache« im Blick steht. Man kann – und dies ist in der philosophischen Literatur in der Tat beobachtbar – annehmen, dass, obwohl das Wort »Ereignis« in verschiedenen Texten unterschiedliche Bedeutungen aufweist, es sich immer noch um das Ereignis handelt, vielleicht um verschiedene seiner Aspekte. Man kann dann, entsprechend dieser Annahme, versuchen, eine systematische Ereignisphilosophie zu entwickeln, die alle diese Aspekte in sich ver17 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Einleitung
einen würde. Ein solches Unternehmen läuft aber Gefahr, ein gedankliches Monstrum zu schaffen, dem nichts entspricht, das sich an nichts mehr erinnert. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, eine »Sache« zu untersuchen, die wir Ereignis nennen, und nicht eine Sache, ausgehend vom Gebrauch des Wortes »Ereignis«, zu konstruieren. Obwohl diese »Sache« noch zu befragen ist, bestimmen wir sie im Voraus ungefähr als ein Aus-sich-Transzendieren, Mit-dem-Anderen-Sein. Dies könnte im Allgemeinen das Ereignishafte in seinen unendlichen Gestalten, wie zum Beispiel: Sinnlichkeit, Liebesbegegnung, Offenbarung, Inspiration etc., charakterisieren. Wir betonen: Man kann dem Wort »Ereignis« auch andere Bedeutung geben als wir hier es tun, man kann mit diesem Wort auch andere Sachen bezeichnen, was auch der Fall ist: In der angelsächsischen Philosophie wird das Ereignis als ein empirischer Prozess verstanden; in der Geschichtsschreibung geht es um geschichtliche Ereignisse, die datiert und in ihrer Faktizität untersucht werden; schließlich gibt es auch event management. Auch in der Philosophie spielt der Begriff des Ereignisses verschiedene Rollen. Das Ereignis Heideggers ist auf keinen Fall das Ereignis Deleuzes oder Richirs. Es wäre sehr unvorsichtig zu denken, dass es trotz dieses unterschiedlichen Gebrauchs dieses Wortes um ein und dasselbe geht, nämlich um das Ereignis, das gleichwohl zur Ontologie, Geschichte, Management und Philosophie von Heidegger, Deleuze und Richir gehören würde. Es gibt keine Philosophie des Ereignisses, es gibt Philosophien, in denen das Wort »Ereignis« auftaucht. Die vorliegende Arbeit spricht nicht von dem unterschiedlichen Gebrauch des Wortes »Ereignis« in der gegenwärtigen Philosophie und noch weniger versucht sie, ausgehend von diesem Gebrauch etwas zu konstruieren, das es gar nicht gibt. Sie spricht von einer ganz konkreten »Sache«. Sie wählt für diese »Sache« den Namen »Ereignis« – so wie es viele Denker, zum Beispiel Heidegger, Derrida, Romano auch tun. Sie berücksichtigt aber auch Denker, die diese »Sache« nicht Ereignis nennen, und trotzdem diese »Sache« behandeln, wie das zum Beispiel bei Levinas der Fall ist. Sie berücksichtigt nicht die Denker, die dasselbe Wort benutzen, aber von einer ganz anderen Sache sprechen. Wenn wir hier unter dem Ereignis eine bestimmte »Sache« verstehen und uns von anderem Gebrauch dieses Wortes abgrenzen, heißt es nicht, dass wir uns um eine, um die richtige Definition und dementsprechend um den richtigen Gebrauch dieses Wortes bemühen. Es geht hier nicht um ein Wort. Es geht ausschließlich um 18 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Einleitung
die Abgrenzung eines Problemfeldes der Philosophie, um in diesem Problemfeld systematisch arbeiten zu können. Was ist das für ein Problemfeld, worin sich das Ereignis als das Aus-sich-Heraustreten einschreibt? Es handelt sich zuerst ganz allgemein um die Infragestellung des rationalen Subjekts. Nun ist die Kritik des begrifflichen Denkens als Wahrheitssubjekts und damit des die Welt und sich selbst durchschauenden Subjekts, das vom Denken aus freie Entscheidungen trifft, überhaupt für das 20. und beginnende 21. Jahrhundert charakteristisch. Überall – sei es in der Philosophie, Kunst, Geschichte oder Wissenschaft – gibt es Versuche, das rationale und freie Subjekt aufzuheben, auf sein Konstituiert-Sein hinzuweisen, seine Abhängigkeiten von verschiedensten ihm unzugänglichen und unkontrollierbaren Prozessen zu bestimmen. Es sind vor allem die Phänomenologie des Leibes und der Passivität, die Psychoanalyse, der Strukturalismus bzw. Poststrukturalismus, die Geschichtsphilosophie von Nietzsche und Marx und Kojèves Interpretationen zu Hegel, in deren Nähe zum Beispiel die französische Ereignisphilosophie in ihren verschiedenen Gestalten entsteht. 1 Zu dieser Zeit scheint es nicht mehr möglich, das Subjekt einer transzendenten Macht unterzuordnen (»Gott ist tot«), dafür stellen aber diese Denkrichtungen zwei grundlegende Typen der Aufhebung des selbstmächtigen Subjektes dar: entweder weist man eine Tiefe im Subjekt auf (sei es seine Psyche, sein Gehirn, die Gesamtheit von inneren physisch-physiologischen Prozessen, nicht bewusst erlebte Erlebnisse), die es konstituiert, die im Verborgenen ein zweites Leben führt, von dem das seiner selbst bewusste Subjekt nichts weiß; oder es geht um die unWenn wir hier die französische Ereignisphilosophie besonders hervorheben, dann aus dem Grund, dass es sie ist, die das Ereignishafte am meisten thematisiert hat und immer noch thematisiert. Wie Marc Rölli in der Einleitung zum Sammelband Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze (2004) schreibt: »In keiner anderen Philosophietradition wurde auf so eindringliche und vielschichtige Weise über das Ereignis nachgedacht.« (Rölli(2004), 7) Von den ganz bedeutsamen Autoren und Werken zur Ereignisproblematik aus dieser Tradition zählen wir folgende auf: Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception (1945), Gilles Deleuze: Logique du sens (1969), Emmanuel Levinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (1974), Jacques Derrida: La voix et le phénomène (1967), Marges de la philosophie (1972) und La fausse monnaie. Donner le temps I (1991), Alain Badiou: L’être et l’événement (1988) und Logiques des mondes (2006), Jean-Luc Marion: Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation (1997), De surcroît. Études sur les phénomènes saturés (2001) und Certitudes négatives (2010), Claude Romano: L’événement et le monde (1998) und L’événement et le temps (1999).
1
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Einleitung
zähligen äußeren Bedingungen (seien es soziale, politische, ökonomische Umstände, kulturelle Regelungen und Praxen, ontologische Strukturen, Gesetze der Geschichte, herrschende Weltanschauungen, Sprache), die das Subjekt, seine Welt, seine Selbstidentität zu dem machen, was sie sind; die dem Subjekt zwar einen Freiheitsraum eröffnen, der aber immer vorgegeben und eingeschränkt ist. Das denkende und freie Subjekt in Frage zu stellen, das für es Uneinholbare zu behaupten – dies ist der Kontext, in den sich die Entstehung des gegenwärtigen Ereignisdenkens einschreiben lässt. Aber es lässt sich nicht mit ihm identifizieren. Die »Sache«, um die es uns hier geht, und die von Heidegger, Levinas, Derrida, Marion u. a. gesehen und beschrieben wird, ist nicht schlicht etwas, was die Bedingtheit des Subjekts bedeutet. Es gibt einen kleinen, aber wesentlichen Unterschied zwischen Aufhebung des allmächtigen und durchschaubaren Subjekts durch die Aufweisung seiner Bedingtheit und dessen Infragestellung im Ereignisdenken. Es ist vielleicht die NichtBeachtung dieses kleinen Unterschiedes, die es verhindert hat und immer noch verhindert, das Denken des Ereignisses als ein unterschiedliches Denken und den Begriff des Ereignisses als ein andersartiges Konzept zu sehen – sogar von den Ereignisdenkern selbst. Das Ereignis wird dann bloß zu dem, was neben anderen vielen, von der Philosophie, Wissenschaft, Kunst etc. schon aufgedeckten Sachen dem Subjekt nicht zur Verfügung steht und es bedingt. Und wir werden sehen, dass das Ereignisdenken in der Tat sehr oft die Konzepte und Argumente derjenigen Diskurse bedient, die ihre Aufgabe in der Auflösung des kristallklaren und durchschaubaren Subjekts sehen. Veranschaulichen wir diesen Umstand mit dem Beispiel von Derrida. 1968 versucht er im Vortrag La différance (erschienen 1972 in Marges de la philosophie) eins seiner zentralsten Konzepte – différance – zu erläutern. Die Einführung dieses Konzepts entwickelt sich aus folgendem Argument: Alles, was es gibt, bzw. alles, was es für uns gibt, ist zuerst das, was sich von allem anderen, was es gibt, unterscheidet – zuerst gibt es Differenzen, wir haben immer mit Differenzen zu tun. Die Differenzen sind aber bloß nicht da – sie setzen die différance voraus, die sie »produziert« (produire): »Die Differenzen werden also von der différance »produziert« – aufgeschoben (différées).« (RG, 43/MPh, 15) Wir haben mit den Sinneseinheiten zu tun, die wir verstehen, deren wir uns bewusst sind, aber sie werden zuerst überhaupt als solche ermöglicht. Für Derrida sind sie nicht vom Bewusstsein selbst ermöglicht (wie dies zum Beispiel in der Phäno20 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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menologie Husserls der Fall ist), sondern von der Sprache – von der Sprache als Prozess der Differenzierung, den Derrida in De la grammatologie (1967) »Urschrift« (archi-écriture) nennt. Während wir, wenn wir die Sprache gebrauchen, immer auf den Sinn gerichtet sind, differenziert die Urschrift nach ihren eigenen und uneinholbaren Gesetzen die Elemente des Sinnes. Selbstverständlich bleibt der Prozess der Urschrift für das Bewusstsein, das den Sinn versteht, uneinholbar – jeder Denkakt, der versuchen würde, die Urschrift zu denken, würde sie schon voraussetzen. Die différance ist niemals im Bewusstsein anwesend, sie erscheint niemals in der Präsenz des Bewusstseins: »Wenn aber die différance das ist (ich streiche auch das »ist« durch), was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich [se présente – L. P.] nie als solche. Sie gibt sich nie dem Gegenwärtigen hin. Niemandem.« (RG, 34/MPh, 6) Die différance stellt die Autonomie des Sinnes und damit des Bewusstseins in Frage – das Bewusstsein ist ein Derivat. In demselben Vortrag bringt Derrida seinen Denkansatz – und das ist auf den ersten Blick keine Überraschung – mit dem Denken von Heidegger, Nietzsche, Freud und Levinas zusammen. Und doch sollte dieser Bezug überraschen: Ist das, was Levinas denkt, grundsätzlich mit dem vereinbar, was Freud denkt? Oder handelt es sich hier um die Nicht-Beachtung eines kleinen, aber wesentlichen Unterschiedes? Oder vielleicht: Der Unterschied wird gesehen, aber er scheint nicht wichtig zu sein, sodass er besonders hervorgehoben werden sollte. Wie zeigt sich die Nicht-Beachtung dieser Differenz im Falle des Ereignisdenkens Derridas? So, dass das Ereignis (événement) – wie wir es später ausführlicher zeigen werden – nicht im Bewusstsein erscheinen kann, ohne dadurch aufzuhören das zu sein, was es ist. Kurz: Das Ereignis kann nicht im Bewusstsein erscheinen. Dies erinnert an die Argumentation hinsichtlich der différance der Urschrift, und doch ist die différance und das Ereignis (oder différance im Ereignis) in der Philosophie Derridas auf keinen Fall ein und dasselbe. Wo liegt der Unterschied? Er wird nicht von Derrida explizit untersucht. Wir können nur beobachten, dass es irgendwann in seiner Philosophie nicht mehr um die ziemlich strukturalistisch bzw. poststrukturalistisch verstandene Urschrift geht, sondern um Ereignisse: um »Gabe« (don), »Vergebung« (pardon), »Gastlichkeit« (hospitalité) u. a. Wird der Unterschied zwischen dem Denken der Bedingtheit des Subjekts und dem Ereignisdenken nicht untersucht, bleibt die Philosophie des Ereignisses fragmentarisch, zerstreut, unbedeutend; sie 21 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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verliert sich in einer Ontologie, die verschiedenste Prozesse beschreibt, die außerhalb des Subjekts, innerhalb des Subjekts, ohne das Subjekt geschehen und deren Konstrukt das Subjekt letztendlich ist. Im welchen Sinne sprechen wir hier von Ontologie? Die vorliegende Arbeit versteht sich als zugehörig zum gegenwärtigen phänomenologischen Diskurs. Wenn hier von der Ontologie die Rede ist, beziehen wir uns auf diesen Begriff, wie er zum Beispiel von Husserl oder Heidegger gebraucht wird, wobei ein Zweifaches bei diesem Gebrauch zu beachten ist. Von einer Seite spiegelt hier der Gebrauch dieses Begriffes seine schon etablierte Bedeutung wider. Die Ontologie – genauer gesagt: die Ontologien – sind für Husserl »apriorische Wissenschaften«, die »das Apriori der reinen »Wesen« der betreffenden Regionen der Objektivität oder ihnen zugehöriger Daseinsformen auseinanderlegen« (Hua XI, 220). Die Ontologien untersuchen die »Objektivität« und »Daseinsformen«, also das, was irgendwie ist, das Seiende in Modi seines Seins. Sie untersuchen es hinsichtlich des »Apriori« seines »Wesens«, also nicht empirisch, sondern »eidetisch« (Hua III, 23). »Reine Geometrie«, »reine Zeitlehre«, »reine Mechanik« sind zum Beispiel Ontologien (Hua XI, 221). Insofern eine Ontologie nicht an eine Region gebunden ist, sondern das Seiende im Allgemeinen (den »Gegenstande überhaupt« (Hua III, 27)) beschreibt, ist sie keine »materiale«, sondern »formale« »eidetische Wissenschaft« (Hua III, 23). »Reine Logik« und »reine Mathematik« sind zum Beispiel formale eidetische Wissenschaften (Hua III, 23, 27). Von anderer Seite tritt hier der Begriff der Ontologie in Verhältnis zur Phänomenologie und gewinnt so eine neue Bedeutungsdimension, die auch für uns äußerst wichtig ist. Der entscheidende Punkt ist, dass die Ontologie, indem sie das Wesentliche des Seienden untersucht, völlig »naiv« handelt – »naiv« streng im Husserl’schen Sinne, d. h. sie setzt das Sein des gegebenen Gegenstandes schon voraus, sie befragt es nicht. Es ist richtig, dass sie nach den Modi des Seins des Gegenstandes fragt (und oft sogar fragen muss), aber es ist nicht für sie fraglich, dass er überhaupt ist (insbesondere dann, wenn er sich als nicht-seiend, als Schein herausstellt). Noch allgemeiner formuliert: Die Ontologie befragt nicht das Sein der Welt, sie setzt die seiende Welt voraus, sie handelt in der Welt, sie handelt »auf dem Boden« der schon seienden Welt: »Dem Transzendentalphilosophen dienen sie [die Ontologien – L. P.], wenn wir annehmen, daß eine Ontologie naiv-dogmatisch ausgebildet vorliegt, als transzendentale Leitfäden. Der Physiker stellt sich theoretisierend auf den Boden der erfah22 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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rungsmäßig gegebenen Natur, er will sie nach ihrem wahren Sein theoretisch bestimmen. Der rationale Physiker, allgemein gesprochen, der reine Geometer und Mechaniker, der Ontologe der Natur stellt sich auf den Boden der Wesensgegebenheit der reinen Idee des Raumes, der Zeit, einer möglichen Natur überhaupt. Der Transzendentalphänomenologe aber nimmt die Natur und eine mögliche Natur überhaupt rein als Korrelat des Bewußtseins von ihr. Materielles Objekt bezeichnet ihm einen Typus von vermeinten und eventuell selbstgegebenen Gegenständlichkeiten, die er rein in dieser Korrelation und in phänomenologischer Reduktion betrachtet.« (Hua XI, 221) Wir brauchen uns hier nicht in Husserls Philosophie der vorgegebenen Lebenswelt zu vertiefen oder zu fragen, inwiefern die Betrachtung des Gegebenen als »Korrelat des Bewußtseins« die Naivität überwindet. Entscheidend ist, dass eine Ontologie das Sein bestimmter Gegebenheiten schlicht voraussetzt, um sie dann zu untersuchen und die Erkenntnisse zu produzieren. Das Wunder der Voraus-Setzung und damit die Setzung des Gegenstandes selbst sind ihr fremd. Sie nimmt Gegenstände als selbstverständlich, sie nimmt die Welt als selbstverständlich (sogar noch dann, wenn sie nach der Entstehung der Welt oder dem ganzen Weltall fragt!) – sie lebt in der »Selbstverständlichkeit der Weltgewißheit« (Hua VI, 99). In der Vorlesung zum Sommersemester 1922 hat Heidegger die Ontologie (hier verstanden als Wissenschaft und nicht als von ihm entwickelte Fundamentalontologie) genauso eingeschätzt: »Es wird als Vorzug der ontologischen Betrachtung angesehen, daß sie ohne Voraussetzung einfach anfangen kann; […] Das Gegenstandsfeld nimmt man als gegeben einfach hin: die seienden Dinge, das natürlich Gegebene in mehr oder minderer Klarheit, wo man sich sofort in allgemeinen Zusammenhängen bewegt, indem man zumeist an Gegenständen vom Charakter der Naturobjekte exemplifiziert.« (GA 62, 176 f) Wir sehen, dass Heidegger den Begriff der Ontologie breiter versteht als Husserl. Während für Husserl die Ontologie eine apriorische (und nicht empirische) Wissenschaft ist, ist für Heidegger jede Wissenschaft eine Ontologie, insofern sie ein »Gegenstandsfeld« »als gegeben einfach hinnimmt«, also insofern sie ein ον untersucht. Wir werden den Begriff der Ontologie auch sehr breit verstehen: überall, wo etwas in seinem Wesen, in seinen Strukturen, in seiner Gesetzmäßigkeit etc. mit dem Ziel einer Erkenntnis untersucht wird, haben wir mit einer ontologischen Betrachtung zu tun. Jede Wissenschaft – noch breiter: jede -logie (auch Theo-logie) – ist in diesem Sinne eine Ontologie. 23 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Wir möchten von der Ontologie und nicht schlicht von der Wissenschaft sprechen, weil genau das Wort »Ontologie« die Kritik erlaubt, dass wir mit einem voraus-gesetzten, unbefragt gesetzten Sein zu tun haben, wenn wir also nicht vorher geklärt haben, was die Setzung selbst ist, die dann eine fortschreitende Erkenntnis ermöglicht; was vor der Setzung ist; wer die Setzung vollzieht u. dgl. Wenn wir also gesagt haben, dass das Denken des Ereignisses sich in der Ontologie verlieren kann, dann meinten wir damit, dass, wenn man nicht aufmerksam ist, es das Ereignis bloß als einen Gegenstand der Untersuchung setzen kann, was das Ereignis nicht ist. Die vorliegende Arbeit möchte also diesem Sich-Verlieren des Ereignisdenkens in der Ontologie ein wenig entgegensteuern. Es geht darum, das Ereignis als ein spezifisches Konzept jenseits dieses Diskurses zu etablieren, wie es zum Beispiel im Denken Heideggers ist. Es geht darum, zu zeigen, dass das Ereignis jenseits alles Ontischen und deswegen ontologisch uneinholbar ist. Es kann nie als ein Sachverhalt, Prozess u. dgl. beschrieben werden. Noch radikaler verstanden: Das Ereignis kann nie als ein Gegenstand thematisiert werden, ohne das thematisierende Subjekt, ohne die Thematisierung selbst zu befragen. Das heißt nicht, dass das Ereignisdenken eine transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie darstellt, die das konstituierende Subjekt ins Zentrum ihrer Betrachtung stellt. Es heißt nur: Das Ereignisdenken hat nie versucht, das Subjekt aufzulösen und es in einen ontischen Prozess zu integrieren. Es denkt immer von einem Subjekt aus und zwar so, dass es sich selbst angesichts eines Anderen verlassen muss. Es denkt eine Begegnung, ein Aus-sich-Heraustreten. Eine Ontologie kann niemals eine Begegnung denken, weil sie eine Seite der Begegnung, nämlich den Ontologen selbst immer vergisst – deswegen, weil sie so sehr auf seinen vorausgesetzten Gegenstand konzentriert ist. Wenn man das Ereignisdenken als Aus-sich-Heraustreten nicht klar von den ontologischen Denkansätzen abgrenzt, die die Bedingtheit des Subjekts durch die ihm inneren und äußeren Prozesse (auch Ereignisse genannt) denken, entsteht eine verwirrte Lage, in der sich die Ereignisforschung heutzutage ständig befindet. Die Verwirrung besteht vor allem darin, dass vom Ereignis gleichzeitig behauptet wird, dass es nicht erfahren (weil es ohne Subjekt als seine Bedingung geschieht) und doch erfahren (weil es ein besonderes Erlebnis für das Subjekt darstellt) wird. Man könnte denken, dass es genau das Eigentümliche des Ereignisses ist, dass es in sich diesen Widerspruch trägt. Wir nennen es aber vernachlässigte Unterscheidung, die dazu führt, 24 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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dass man eine Sache ausgehend vom Gebrauch desselben Wortes konstruiert und dass das Eigentümliche des Denkens der Begegnung, die wir Ereignis nennen, nicht beachtet wird. Die Nicht-Unterscheidung innerhalb des Ereignisdenkens hat vor allem zwei Gesichter: Entweder vermischt sich das Ereignisdenken mit einem außer-ontologischen Denkansatz, der das Ereignishafte im Außen des Subjekts verortet (dies haben wir bei Derrida aufgezeigt), oder mit einer Innen-Ontologie, die das Ereignis im Inneren des Subjekts sieht. Für den zweiten Fall wäre Levinas ein gutes Beispiel. Levinas denkt ohne Zweifel eine Beziehung, eine Begegnung zwischen dem Selben und dem Anderen (also das, was wir Ereignis nennen). Er nennt diese Beziehung, wo das Subjekt aus sich heraustritt und den Anderen begegnet »Nähe« (proximité): »Die Nähe ist das sich nähernde Subjekt und konstituiert so eine Beziehung […].« (JS, 184 f/AQE, 103) Gleichzeitig bezieht sich Levinas auf Husserls Analysen zur passiven Synthesis, auf seine Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, auf Merleau-Pontys Philosophie des Leibes und Henrys Philosophie der radikalen Passivität. Er integriert diesen innen-ontologischen Denkansatz in seine Philosophie der Beziehung mit dem Anderen, was dazu führt, dass die Beziehung mit dem Anderen als »Rückkehr« (retour) zum eigenen tiefsten und intentional uneinholbaren Inneren charakterisiert wird: »Das Menschliche heißt Rückkehr zur Innerlichkeit des nicht-intentionalen Bewußtseins […].« (ZU, 186/EN, 170) Da Levinas eigentlich eine erfahrbare Begegnung denkt, führt in seinem Fall die Behauptung von einer »Rückkehr« nicht zu einer Ontologie der inneren Prozesse, sondern zur Beschreibung des Ereignisses der Rückkehr zur leiblichen Passivität. Das Ereignis ereignet sich für Levinas also nicht im Inneren des Subjekts – es ist nicht das, worum es hier geht, Levinas macht aber keine explizite Unterscheidung zwischen Rückkehr und Ereignis der Rückkehr, und damit geht das Spezifische des Ereignisses und des Ereignisdenken verloren. 2 In die Richtung einer solchen klaren und deutlichen Unterscheidung geht vielleicht Françoise Dastur, wenn sie in Bezug auch Merleau-Ponty fragt: »Ist jedoch diese Phänomenologie der Ankunft, die eine Ontologie ist, welche im Inneren der Phänomenalität selbst bleibt und deren Aufgabe es ist, ihren prozeßhaften und dynamischen Charakter sichtbar zu machen, in sich schon eine Phänomenologie des Ereignisses?« (Dastur, 223/165) Sie ahnt also, dass es einen Unterschied zwischen der genetischen Phänomenologie des Ereignisses und der Phänomenologie der Erfahrung des Ereignisses gibt. Ihre Frage ist aber immer noch nicht radikal genug gestellt und deswegen bleibt auch eine klare und allgemeine Antwort aus.
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Nochmals: Wenn wir behaupten, dass die Beschreibung eines Ereignisses im Ereignisdenken von seiner tiefen- oder außen-ontologischen Beschreibung unterschieden werden soll, wollen wir damit nicht einen richtigen Wortgebrauch in dem Sinne fordern, dass nur das Denken, das die Begegnung nicht-ontologisch beschreibt, ein Ereignis thematisiert. Man darf auch die tiefen- oder außen-ontologischen Prozesse Ereignisse nennen, es ist aber inakzeptabel, sie gleichzeitig auch Erfahrung, Begegnung zu nennen – sie sind andere Ereignisse, die nicht unsere »Sache« sind. Sie sind die Sache der genetischen Phänomenologie, der Philosophie des Leibes, des Strukturalismus, der Geschichte, der Psychoanalyse, der Hirnforschung etc. Mehr noch: Das Ereignisdenken wird immer behaupten, dass das Ereignis überhaupt niemals zum Gegenstand einer Ontologie, einer -logie werden kann, nicht einmal zum Gegenstand eines Ereignisdenkens. Heidegger, Levinas, Derrida denken das Ereignis genau auf diese Weise: Das Ereignis ist nicht bloß das, was sich ereignet, es ist das, dessen Sich-Ereignen das Heraus-Treten aus der Ontologie in ihrer Naivität der Gegenstandssetzung ist. Das ist das Eigentümliche des Ereignisses, das die vorliegende Arbeit thematisiert. Die systematische Philosophie und Philosophieforschung hebt inzwischen das Ereignis als ein bedeutsames Thema der gegenwärtigen Philosophie hervor. Neben Marions, Romanos und Badious systematischen Ausführungen zum Ereignis erscheinen im französischsprachigen Raum immer wieder kleinere Aufsätze zum Ereignis. 3 Seit Dazu erwähnen wir: Caussat, Pierre: L’événement. Paris: Desclée de Brouwer, 1992; Zourabichvili, François: Deleuze: une philosophie de l’événement. Paris: PUF, 1994; Marquet, Jean-François: Singularité et événement. Grenoble: Jérôme Millon, 1995; Agacinski, Sylviane: Critique de l’égocentrisme. L’événement de l’autre. Paris: Galilée, 1996; Rouger, François: L’événement de monde. Essai sur les conditions pures de la phénoménalité. L’Harmattan, 1997; Dastur, Françoise: Pour une phénoménologie de l’événement: l’attente et la surprise, in: Études phénoménologiques, 25 (1997), S. 59–75; Gualandi, Alberto: Le problème de la vérité scientifique dans la philosophie française contemporaine. La rupture et l’événement. L’Harmattan, 1998; Bongiovanni, Secundo: Identité et Donation. L’événement du »je«. Paris: L’Harmattan, 1999; Gély, Raphaël: La question de l’événement dans la phénoménologie de Merleau-Ponty. In: Laval théologique et philosophique, 56/2 (2000), S. 353–365; Mehdi, Belhaj Kacem: Événement et répétition. Auch: Tristram, 2004; Boundja, Claver: Philosophie de l’événement. Recherches sur Emmanuel Lévinas et la phénoménologie. Paris: L’Harmattan, 2009. Außerdem weisen wir auf einige ganz bedeutsame Sammelbände hin: Dire l’événement, est-ce possible? Autoren: Jacques Derrida, Gad Soussana und Alexis Nouss. Paris: L’Harmattan, 2001; Repenser »événement«. In: Recherches de 3
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Jahren werden in deutscher Sprache Sammelbände zum Ereignis veröffentlicht. 4 Das Problem ist, dass es oft nicht klar wird, worum es eigentlich geht – das Ereignis ist so gut wie alles (geschichtliches und politisches Ereignis, leibliche und vor-bewusste Sinnbildung, ontologische Prozesse, das Unmögliche, das Unerwartete und der Einbruch, die Zeit und das Andere, die Erscheinung und das Unsichtbare, das Trauma und das Wunder der Heilung etc.) und so gut wie überall (in Geschichte und Politik, Leib und Psyche, Kunst und Literatur, Wissenschaft und Ethik, Zeit und Existenz etc.). Diese Unklarheit würde vielleicht verschwinden, wenn man darauf verzichten würde, in dem verschiedensten Gebrauch des Wortes »Ereignis« eine systematische Ereignisphilosophie vermuten zu wollen; wenn man dabei bleiben würde, die verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes nur aufzuzählen, statt hinter dem Wort immer dieselbe Sache nur unter verschiedenen Aspekten zu sehen. Dies ist aber nicht der Fall. Der 2004 von Marc Rölli herausgegebene Sammelband Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze ist einerseits ein sehr wichtiges Buch zur Ereignis-Forschung. Es versammelt Beiträge zu vielen (obwohl nicht allen: zum Beispiel Marion und Romano sind nicht vertreten) zentralen Autoren, die das Ereignis thematisiert haben: zu Nietzsche, Husserl, Heidegger, Bergson, Merleau-Ponty, Lacan, Levinas, Ricœur, Foucault, Derrida, Lyotard, Richir, Deleuze und Badiou. science religieuse, 102/1 (2014); Cabestan, Philippe (Hrsg.): L’événement et la raison: autour de Claude Romano. Série Philosophie Générale: Le cercle herméneutique, 2016. 4 Wir denken in erster Linie an: Müller-Schöll (Hrsg.): Ereignis: Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld: transcript, 2003; Rathmann, Thomas (Hrsg.): Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2003; Rölli, Marc (Hrsg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze. München: Fink, 2004; Staudigl, Michael und Trinks, Jürgen (Hrsg.): Ereignis und Affektivität. Zur Phänomenologie sich bildenden Sinnes. Wien: Turia + Kant, 2007; Gondek, Hans-Dieter, Klass, Tobias Nikolaus und Tengelyi, László (Hrsg.): Phänomenologie der Sinnereignisse. München: Fink, 2011; Alloa, Emmanuel (Hrsg.): Erscheinung und Ereignis. München: Fink, 2013; systematische Ansätze haben entwickelt vor allem: Bernhard Waldenfels (siehe zum Beispiel: Die Macht der Ereignisse. In: Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, hrsg. von Marc Rölli. München: Fink, 2004, S. 447–458; Radikalisierte Erfahrung. In: Phänomenologie der Sinnereignisse, hrsg. von Hans-Dieter Gondek, Tobias Nikolaus Klass und László Tengelyi. München: Fink, 2011, S. 19–36) und Dieter Mersch (siehe vor allem: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer »performativen Ästhetik«. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002 und Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink, 2002).
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Andererseits schreibt Rölli in der Einleitung zu diesem Band: »Der vorliegende Band enthält Aufsätze, die das brisante Thema des »Ereignisses« unter dem Blickwinkel der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts vor Augen kommen lassen. In keiner anderen Philosophietradition wurde auf so eindringliche und vielschichtige Weise über das [von mir hervorgehoben – L. P.] Ereignis nachgedacht. Es ist daher ein Gebot der Stunde, die Forschungsleistungen auf diesem Gebiet zusammenzutragen.« (Rölli(2004), 7) Damit wird der Eindruck erweckt, dass es ein Ereignis gibt, das von verschiedenen Philosophien unterschiedlich gedacht wird. Wir behaupten: Es handelt sich um unterschiedliche »Sachen«, die mit einem Wort bezeichnet werden. Ein solcher Eindruck einer allgemeinen Theoriebildung wird noch dadurch verstärkt, dass versucht wird, eine einheitliche, alle angegebenen Autoren umfassende Definition des Ereignisses zu geben: »Allgemein gilt, dass sich im Begriff des Ereignisses eine radikale Revision der Erfahrung kristallisiert: mit scharfer Spitze durchdringt er das transzendental oder geschichtlich unterfütterte Kontinuum empirischer Regelmäßigkeiten.« (ebd.) Nun kann dies auf keinen Fall alle Ereignisse treffen – schon deswegen nicht, weil nicht alle Denker des Ereignisses von der Erfahrung ausgehen. Die Begegnung mit dem Anderen in der Philosophie Levinas’ ist eine »Revision der Erfahrung«, das Ereignis Deleuzes kann dagegen nicht so beschrieben werden. Außerdem ist der Begriff der Erfahrung völlig unbestimmt: In der gegenwärtigen Phänomenologie kann er zum Beispiel sowohl eine intentionale, bewusste und erkennende als auch vor-intentionale, leibliche Erfahrung bedeuten. Der von Hans-Dieter Gondek, Tobias Nikolaus Klass und László Tengelyi 2011 herausgegebene Sammelband Phänomenologie der Sinnereignisse scheint auf den ersten Blick einen ganz konkreten Ereignisbegriff zu haben: Im Anschluss an die Phänomenologie Merleau-Pontys und Richirs handelt es sich um die Prozesse, die in der Tiefe und vor aller Aktivität des Bewusstseins einen Sinn konstituieren, den das Bewusstsein zuerst passiv empfängt. Doch es werden genauso auch die Ereignisse in Geschichte und Politik vermutet, die bewusst erfahren werden, die einen Teil der Existenz ausmachen. Dementsprechend ist auch der Ereignisbegriff zweideutig (wenn nicht sogar widersprüchlich): Einerseits ist es »eine Erfahrung, in der ein neuer Sinn dem Bewusstsein zugänglich wird« (Gondek/Klass/Tengelyi, 11); das Ereignis, andererseits, »widerfährt uns bereits, bevor es uns einen greifbaren Sinn zugänglich macht« (Gondek/Klass/Tengelyi, 12). Eine ähnliche Nicht-Unter28 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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scheidung findet man auch im Sammelband Ereignis und Affektivität. Zur Phänomenologie sich bildenden Sinnes (2007, hrsg. von Michael Staudigl und Jürgen Trinks). Wir wollen aber nochmals unterstreichen: Wie kann die Rede von einer Ereignisthematik sein, wenn die behandelte Sache nicht zuerst bestimmt worden ist? Und diese Bestimmung sollte damit anfangen, dass sie eine Unterscheidung macht zwischen dem, was wir nicht erfahren – nämlich dem Ontischen als Gegenstand der Ontologie –, und dem, was wir als unerfahrbar erfahren – dem jemeinigen Phänomen. Ohne diese Unterscheidung ist es unmöglich, von einem spezifischen und auch bedeutsamen Ereignisdenken zu sprechen. Die vorliegende Arbeit spricht vom Ereignis als der Begegnung mit dem Anderen. Als solches trifft es das Selbst, das Subjekt. Das, was das Subjekt trifft, kann nicht zum Thema einer Ontologie (weder der Exteriorität noch der Innerlichkeit) werden, sondern kann nur durch den Hinweis auf die Betroffenheit des Subjekts angezeigt werden. Mehr noch: Es geht hier nicht um einen philosophisch-begrifflichen Hinweis auf die Betroffenheit irgendeines oder formalen Subjektes überhaupt, sondern auf das »jemeinige« (im Heidegger’schen Sinne) Betroffen-Werden. Das Ereignis ist nicht das, was betrifft, sondern was mich betrifft. Und dies ist nicht seine Definition, sondern das, wie es ist. Es ist nicht in seiner Definition, sondern ausschließlich nur dort, wo es mich trifft. Wenn das Ereignis auf die Betroffenheit, auf die Erfahrung des Subjektes hinweist, ist es dann ein Thema der Phänomenologie, insofern Husserl – der Gründer der Phänomenologie – in seinen Logischen Untersuchungen (1900–1901, 2. umgearbeitete Auflage: 1913 und 1921) als Gegenstand der phänomenologischen Philosophie die »Erlebnisse« bestimmt hat? 5 Ist das »Ich setze also voraus, daß man sich nicht damit begnügen will, die reine Logik in der bloßen Art unserer mathematischen Disziplin als ein in naiv-sachlicher Geltung erwachsende Sätzesystem auszubilden, sondern daß man in eins damit philosophische Klarheit in betreff dieser Sätze anstrebt, d. i. Einsicht in das Wesen der bei dem Vollzug und den ideal-möglichen Anwendungen solcher Sätze ins Spiel tretenden Erkenntnisweisen und der mit diesen sich wesensmäßig konstituierende Sinngebungen und objektiven Geltungen. […] Es handelt sich dabei aber nicht um grammatische Erörterung im empirischen, auf irgendeine historisch gegebene Sprache bezogenen Sinn, sondern um Erörterungen jener allgemeinsten Art, die zur weiteren Sphäre einer objektiven Theorie der Erkenntnis und, was damit innigst zusammenhängt, einer reinen Phänomenologie der Denk- und Erkenntniserlebnisse gehören. Diese, wie die sie umspannende reine Phänomenologie der Erlebnisse überhaupt, hat es aus-
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Ereignis als das Uneinholbare eines ontologischen Denkens, als das Heraustreten-aus-der-Ontologie ein Phänomen: eine intentional nach Außen zum Anderen hin gerichtete subjektive Betroffenheit, die von der Phänomenologie behandelt wird? In der Tat ist es aktuell üblich, das Ereignis phänomenologisch zu behandeln. 6 Gehörte es mit schließlich mit den in der Intuition erfaßbaren und analysierbaren Erlebnissen in reiner Wesensallgemeinheit zu tun, nicht aber mit empirisch apperzipierten Erlebnissen als realen Fakten, als Erlebnissen erlebender Menschen oder Tiere in der erscheinenden und als Erfahrungsfaktum gesetzten Welt.« (Hua XIX/1, 5 f) Wir sehen, dass hier nicht nur die Erlebnisse als Gegenstand der phänomenologischen Forschung bestimmt werden, sondern auch, dass – wie wir es schon gesehen haben – eine solche Vorgehensweise einem »in naiv-sachlicher Geltung erwachsende[n] Sätzesystem«, d. h. einer Ontologie widersteht. Die Phänomenologie setzt nicht schlicht etwas voraus, um es dann als »reales Faktum«, ein Seiendes zu beschreiben, sondern zieht den Phänomenologen selbst – seine Erlebnisse – in die Betrachtung hinein. Und es ist auch kein Geheimnis, dass genau in einem solchen Sich-selbst-Durchschauen sowohl Husserl selbst als auch Heidegger eine selbstbegründete Philosophie und damit die Letztbegründung jeder Wissenschaft, jeder Ontologie, jeder –logie gesehen haben: »Also reine Psychologie in sich selbst ist identisch mit Transzendentalphilosophie als Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität. Daran also ist nicht zu rütteln.« (Hua VI, 261) Weiter: »Reine Psychologie kennt eben nichts anderes als Subjektives, und darin ein Objektives als Seiendes hineinlassen, ist sie schon preisgegeben.« (Hua VI, 262) Und noch ein wenig weiter heißt es: »[U]nd so ist reine Psychologie nichts und kann nichts anderes sein als dasselbe, was vorweg in philosophischer Absicht als absolut begründete Philosophie gesucht war und nur als phänomenologische Transzendentalphilosophie sich erfüllen kann.« (Hua VI, 263) »[…] und daß die reine Psychologie nichts als der unendliche mühselige Weg echter und reiner Selbsterkenntnis sei;« (Hua VI, 264) »Phänomenologische Transzendentalphilosophie« ist also »eine absolut begründete Philosophie«, indem sie »nichts anderes als Subjektives« kennt und »reine Selbsterkenntnis« ist. 6 In der Tat: Es ist das Jahr 2012, als Claude Romano bei der Behandlung vom Ereignis »le vif des analyses phénoménologiques« (ET, ix) fordert. Was heißt es für ihn? Folgendes: »Il exige d’abord de comprendre à quel niveau la question elle-même se pose. Non pas celui d’une analyse objective des phénomènes dans le monde physique objectif, mais celui d’une expérience des phénomènes tels qu’ils peuvent être décrits en première personne […].« (ET, ix) Man muss natürlich sehr vorsichtig sein: Ist jede Beschreibung »in der ersten Person« schon eine phänomenologische im Sinne Husserls? Wenn man die eigenen Erlebnisse als etwas Seiendes voraussetzt und keiner phänomenologischen Reduktion unterzieht, bedeutet dies – laut Husserl – einen Rückfall in die Ontologie. Und wenn wir ehrlich sind, wird dann die Philosophie zum bloßen Quatschen über die eigenen Erlebnisse. Und wer möchte so etwas lange anhören? Doch eine weitere Frage ist viel wichtiger: Wenn man vermutet, dass das Ereignis phänomenologisch-subjektiv (mit oder ohne phänomenologische Reduktion) beschrieben werden könnte, ist diese phänomenologische Vorgehensweise in der Tat die richtige für die Ereignisse? Das ist eine der Fragen, die die vorliegende Arbeit stellt.
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Einleitung
dem frühen Levinas (De l’existence à l’existent, 1947) 7 und mit Deleuze (Logique du sens, 1969) 8 und Derrida (Marges de la philosophie, 1972) 9 in den 60er und 70er Jahren zum ontologischen und post-strukturalistischen Diskurs, ist es seit den 90er Jahren – mit Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation (1997) von Marion und L’événement et le monde (1998) von Romano – ein Thema der Phänomenologie. Françoise Dastur formuliert dies sogar ganz radikal: »Im Gegensatz zu dem, was heute einige nahelegen möchten, daß nämlich das Denken der Andersheit und der Diachronie eine andere Denkweise als diejenige der Phänomenologie erfordert, muß man im Gegenteil betonen, daß es kein mögliches Denken des Ereignisses gibt, welches nicht zugleich und prinzipiell ein Denken der Phänomenalität ist.« (Dastur, 234/173) Jedes Denken des Ereignisses sei also Phänomenologie. Man kann das Ereignis gar nicht anders als phänomenologisch denken. Wir werden aber später sehen, dass das Gegenteil der Fall ist – das Denken des Ereignisses versucht, keine Phänomenologie zu sein. Zu diesem Moment fragen wir nur: Ist vielleicht damit jede Phänomenologie eine Philosophie des Ereignisses? Das ist natürlich zweifelhaft, aber das Ereignis ist ein »Grundthema« der neueren französischen phänomenologischen Philosophie. Die These von Hans-Dieter Gondek und László Tengelyi lautet: »An erster Stelle muss gewiss das Thema des Ereignisses genannt werden, das seit einigen Jahrzehnten allerdings nicht nur die Phänomenologie, sondern ebenso sehr auch andere Richtungen der zeitgenössischen Philosophie beschäftigt.« (Gondek/Tengelyi, 29) 10 Wenn die In diesem Werk entwickelt Levinas das Konzept von dem »Ereignis der Hypostase« (événement de l’hypostase). Es ist ein ontologisches Geschehnis im Geiste Hegels und Heideggers, durch das ein Seiendes sich von dem anonymen Prozess des Seins löst und zu sich selbst wird. Es ist ganz klar, dass dieser Prozess nicht erfahren wird, weil es sich vor der Erfahrung ereignet, macht es sie erst möglich – das Ereignis der Hypostase bildet die Innerlichkeit erst heraus. 8 Es geht hier um Deleuzes Logik des Sinnes (logique du sens) als Ereignisses (événement). Der entscheidende Punkt liegt darin, dass der Sinn nicht einem Bewusstsein gehört, sondern als eine ontologische Einheit definiert wird. Das bedeutet nicht nur, dass das Bewusstsein den Sinn nicht produziert, sondern auch, dass es selbst ein SinnEffekt ist. 9 Hier denken wir an die schon erwähnte différance, die zwar nicht Ereignis genannt, wohl aber zum Beispiel als »Operation des Differierens« (opération du différer) (SPh, 118/VPh, 98) gedacht wird. Während das Bewusstsein auf etwas im Bewusstsein Präsentes gerichtet ist, ereignet sich die nicht-präsentierbare différance, die diese Präsenz auf die Präsenz aufgeschoben hat. 10 Gondek und Tengelyi spezifizieren den Ereignisbegriff und sprechen in Bezug auf 7
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Einleitung
Phänomenologie das Ereignis untersucht, können wir nur aufgrund dessen unterschiedslos jedes zur phänomenologischen Thematik gezählte Werk nehmen und unsere »Sache« behandelt sehen? Natürlich nicht: Es gibt unterschiedliche Phänomenologien, die das Wort »Ereignis« unterschiedlich verstehen. Wenn wir annehmen, dass das Ereignis ausgehend von der Erfahrung behandelt werden muss und dass die Phänomenologie dafür am besten geeignet wäre, so impliziert diese Behauptung ein bestimmtes Verständnis von Phänomenologie, nämlich dasjenige einer »Wissenschaft von Erscheinung«, vom Erlebnis so, wie sie Husserl verstanden hat. Nun ist die Phänomenologie in ihrer Geschichte bei dieser Einstellung nie geblieben: Schon mit Husdie gegenwärtige französische Phänomenologie von »Sinnereignisse[n]« (Gondek/ Tengelyi, 29). Man kann also annehmen, dass sie damit die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks »Ereignis« vermeiden wollen und darunter etwas ganz Bestimmtes verstehen. In der Tat geben sie eine Definition des Ereignisses als Sinnereignisses: »Wir können feststellen, dass die zeitgenössischen Phänomenologen in Frankreich das Phänomen als ein Ereignis bestimmen, in dem etwas Neues ins Bewusstsein einbricht. Bei allen Unterschieden zwischen Begriffen wie »Sinnbildung«, »Sinneffekt« und »Offenbarwerden« verweist diese Neufassung des Phänomenbegriffs auf eine gemeinsame Grundlage heutigen Denkens in der Phänomenologie.« (Gondek/Tengelyi, 39) Doch bei dieser Definition wird außer Acht gelassen, dass das Bewusstsein in der gegenwärtigen Phänomenologie ein verschwommenes Konzept ist: Es kann sowohl mit Sich-bewusst-Sein als auch mit Vor-bewusst-Sein in Verbindung gebracht werden. In beiden Fällen geht es heutzutage darum, dass wir mehr erfahren als wir erfahren. Dieses Mehr ist dementsprechend zweideutig: Es ist vielleicht ein Mehr der Erfahrung (wenn vermutet wird, dass ich mehr erfahre als ich mir bewusst sein kann) oder auch ein Mehr des Erfahrenen (wenn ich sage, dass ich eine Unerfahrbarkeit erfahre). Der Unterschied wird noch bedeutsamer, wenn man darüber nachdenkt, dass es im ersten Fall ein Mehr von mir (und eigentlich geht es hier nur um mich, um meinen inneren Doppelgänger) gibt, während es im zweiten Fall um das Mehr des Anderen geht. Damit ist die angegebene Definition des Ereignisses mehrdeutig – das Neue kann genauso gut von mir (von verdeckten Prozessen in mir) als vom radikal Anderen kommen – und aus diesem Grund kann man das Konzept des Ereignisses nicht als »gemeinsame Grundlage heutigen Denkens in der Phänomenologie« genommen werden. Vielleicht sprechen Richir, Henry und Marion alle vom Ereignis, aber es sind unterschiedliche Ereignisse. Darauf, dass Gondek und Tengelyi als »Lösung« des Problems (der Bestimmung der gegenwärtigen französischen Phänomenologie) eigentlich einen problematischen Begriff, nämlich den des Ereignisses anbieten, weist auch Ingolf U. Dalferth hin: »Cette analyse est certes correcte, mais elle ne s’applique qu’au concept d’événement présupposé dans cette déclaration, et qui n’est pas sans soulever un certain nombre de problèmes bien connus de la philosophie et de la théologie du XXe siècle. Loin d’être la solution à ces problèmes, le concept d’événement est plutôt l’indice d’un problème sur lequel une discussion plus approfondie devra se focaliser.« (Dalferth, 13) In der Tat ist das Konzept des Ereignisses eher ein Problem als dessen Lösung.
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Einleitung
serls »Analysen zur passiven Synthesis« und noch mehr in seinen Untersuchungen zum Zeitbewusstsein geht es um Prozesse, die dem Bewusstsein nicht gegeben sind und es stattdessen konstituieren. Auch für Heidegger deckt die Phänomenologie das auf, »was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt« (SZ, 35). Merleau-Pontys »Wahrnehmung« (perception), Henrys »Immanenz« (immanence) oder Richirs »sich bildender Sinn« (sens se faisant) 11 nehmen einen expliziten Einfluss von Husserls genetischer Phänomenologie auf und sind genauso im Bewusstsein nicht präsentierbar – und dies nicht nur gelegentlich, sondern prinzipiell. Es handelt sich hier also um eine Richtung in der Phänomenologie, die die Tiefe des Bewusstseins, des Erscheinens, des Sinnes thematisiert; etwas, was ursprünglicher als das Bewusstsein ist – »Erscheinensapriori« (Kühn(2003b), 20) 12. Wenn in diesen Phänomenologien das Ereignis thematisiert werden sollte, wird es nicht als etwas verstanden, was ich erfahre, sondern als ein in der Tiefe liegender Prozess, der meine Erfahrung bedingt. Wenn wir also sagen, dass die Phänomenologie das Ereignis zu ihrem Thema machen kann, dann verstehen wir unter der Phänomenologie nicht ein Denken der ursprünglicheren und uneinholbaren Tiefe des Bewusstseins, sondern einen Versuch des Denkens des Anderen: des Anderen, das erscheint, das mich betrifft. 13 Als ein ganz zentraler Phänomenologe ist diesbezüglich Marion zu nennen, und, wenn wir kurz davon absehen, dass Levinas und Derrida sich auch kritisch gegen die Phänomenologie äußern, sind auch ihre Namen Wir nennen hier die grundlegendsten Werke dieser Autoren: das schon erwähnte Phénoménologie de la perception (1945) von Maurice Merleau-Ponty und: Michel Henry: L’essence de la manifestation (1963), Marc Richir: Méditations phénoménologiques (1992). 12 Vielleicht hat sich niemand anderer in Deutschland mit dieser Richtung der Phänomenologie so viel auseinandergesetzt wie Rolf Kühn. Das Denken der ursprünglichen und nicht erscheinenden Passivität ist auch das, was für ihn die gegenwärtige Phänomenologie im Allgemeinen charakterisiert, die deswegen eine »radikalisierte« gegenüber einer Phänomenologie des aktiven Bewusstseins und der Erscheinung ist. Dazu siehe zum Beispiel: Kühn, Rolf: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie. Freiburg/München: Alber, 1998; – Radikalisierte Phänomenologie. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2003; – (Hrsg.): Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. 13 Der Grund, warum wir denken, dass das Ereignis durch eine Phänomenologie des Erfahrbaren zu beschreiben ist, liegt einfach darin, dass wir das Ereignis schon im Voraus als Betroffenheit bestimmt haben – wir können jetzt nicht ohne Grund von etwas zu reden anfangen, was wir nicht erfahren. 11
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Einleitung
hier aufzuzählen. In dieser Phänomenologie geht es nicht mehr um die Setzung von Bedingung einer phänomenologischen Erfahrung (wenn auch diese Bedingung nicht als eine Form, sondern selbst als eine Erfahrung, eine nicht-intentionale Erfahrung, die eigentlich niemand erfährt, verstanden wird), die als Bedingung uneinholbar bleibt, sondern um die Erfahrung des Anderen, der als uneinholbar erscheint. Es geht hier nicht mehr um das Unsichtbare als Bedingung des Sichtbaren, sondern um die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, das seine Unsichtbarkeit zeigt. Es ist diese Phänomenologie, innerhalb deren die Begegnung mit dem Anderen, das Ereignis thematisiert wird. Ist es ein Phänomen, wenn das Ereignis als Begegnung in der aktuellen Diskussion von der Phänomenologie behandelt wird? Dies ist eine der Hauptfragen, die die vorliegende Arbeit stellt und zu beantworten versucht. In der Tat könnte es sich herausstellen, dass das Ereignis kein Phänomen ist. Es liegt nicht daran, dass es unsichtbar ist, sich nie völlig zeigt. Im Anschluss an Heidegger und Levinas versucht die vorliegende Arbeit zu zeigen, dass es gleichgültig ist, ob das Ereignis sichtbar (wie ein empirisches Ereignis zum Beispiel) oder unsichtbar (wie die Offenbarung bei Marion) ist: Sogar dann, wenn an dem Ereignis alles sichtbar wäre, wäre es kein Phänomen. Es ist jenseits der Ontologie und Phänomenologie. Es ist weder Sein noch Erscheinen, es ist genau das, was es ist, nämlich das Ereignis – das was geschieht, das was mit uns geschieht, wenn es geschieht. Die vorliegende Arbeit hat drei Teile. Der erste Teil widmet sich den zentralsten Denkern des Ereignisses als Begegnung mit dem Anderen. Er soll einerseits als eine Einführung in das jeweilige Ereignisdenken dienen – er soll aufzeigen, in welchem Kontext und wie das Ereignis gedacht wird. Er soll andererseits als eine Einführung in die Problematik des Ereignisses dienen und eine systematische Auseinandersetzung mit ihr vorbereiten. Die in diesem Teil behandelten Autoren sind: Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Levinas, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Alain Badiou, Jean-Luc Marion und Claude Romano. Es mutet wahrscheinlich merkwürdig an, dass wir in diesen Teil auch Deleuze und Badiou aufnehmen. Dies ist einerseits dadurch zu erklären, dass für sie der Ereignisbegriff eine ganz zentrale Rolle spielt. Andererseits sollen ihre ontologischen Ansätze der Phänomenalisierung des Ereignisses entgegengesetzt werden. 34 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Einleitung
Der zweite – der größte – Teil behandelt drei großartige Ereignisdenker: Heidegger, Levinas und Marion. In gewisser Hinsicht könnte man sagen, dass die Auswahl genau dieser Autoren willkürlich ist und keine besondere Begründung hat. In einer anderen Hinsicht haben wir es hier mit drei Generationen des Ereignisdenkens zu tun. Heideggers Ereignis als Anfang des Denkens entsteht in einer Zeit, wo die neukantianische und Husserl’sche Anstrengung unter anderem der Begründung der Wissenschaft und der Selbstbegründung der Philosophie gewidmet ist. Mit Levinas springen wir zu einer Philosophie der Nachkriegszeit in Frankreich über, die die Begegnung mit dem Anderen als den Anfang jeder möglichen Ontologie und Moralphilosophie denkt. Gleichzeitig finden wir hier eine äußerst originelle und wegbereitende Beschreibung der Erfahrung des Anderen. Marion ist der Hauptvertreter der aktuellen Phänomenologie des Ereignisses. Der zweite Teil soll auch der Meinung entgegentreten, dass Heideggers Ereignisphilosophie nur wenig mit dem französischen Ereignisdenken zu tun hat und dass wir von Heidegger als von einer bloßen »Inspirationsquelle« sprechen müssen. 14 Wir möchten dagegen zeigen, dass Heideggers Philosophie des Ereignisses eine unglaubliche systhematische Ähnlichkeit mit den Anstrengungen in Frankreich aufweist und in die heutigen Auseinandersetzungen mit der Ereignisthematik einbezogen werden sollte. 15 Der dritte Teil der vorliegenden Arbeit fasst zuerst die wichtigsten Ergebnisse des zweiten Teiles zusammen. Außerdem hebt er beSo behaupten Gondek und Tengelyi: »Gewiss ist die Spätphilosophie Heideggers mit ihren eigentümlichen Begriffen wie »Ereignis«, »Anspruch« und »Entsprechung«, »Gabe« und »Entzug« eine dauerhafte Inspirationsquelle für die Neue Phänomenologie in Frankreich. Gleichwohl ist der Abstand zwischen den beiden Denkformationen nicht nur unverkennbar, sondern auch unüberwindlich.« (Gondek/ Tengelyi, 40) 15 In diesem Sinne stimmen wir Rölli zu, wenn er schreibt: »Alle späteren Versuche, das Ereignis philosophisch auszuzeichnen, stehen gewollt oder ungewollt in der Tradition Heideggers und müssen vor diesem Hintergrund ihr kritisches Potential und ihre weiterführende Kraft unter Beweis stellen.« (Rölli (2004), 8) Es ist vielleicht übertrieben zu sagen, dass »alle späteren Versuche« des Ereignisdenkens »in der Tradition Heideggers« »stehen«. Weil trotz des großen Einflusses des Heidegger’schen Denkens, hat die französische Ereignisphilosophie auch andere Quellen ihres Ereignisdenkens und mit der Originalität ihres Philosophierens entwickelt sie ihre eigene Tradition des Ereignisdenkens, die allerdings – wie schon angesprochen – auf keinen Fall einheitlich ist. Aber wir stimmen zu, dass »alle späteren Versuche« »ihr kritisches Potential und ihre weiterführende Kraft« vor dem Ansatz Heideggers »unter Beweis stellen« »müssen«. Weil es hier vermutlich um ein und dieselbe Sache geht. 14
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Einleitung
stimmte äußerst entscheidende, explizite oder implizite, Thesen einzelner Ereignisdenker hervor, um sie kritisch zu befragen. Schließlich stellt er einen kleinen Versuch dar, das Ereignis als eine Begegnung mit dem Anderen philosophisch-systematisch zu befragen. Die Wichtigkeit der Behandlung eines Themas ist unmöglich zu begründen. Eine Begründung kann nur denjenigen überzeugen, der schon überzeugt ist. Mit der Ereignisthematik ist es nicht anders. Trotzdem liegt vielleicht in Bezug auf das Ereignis ein Unterschied vor. Ein Ereignis ist nicht etwas, von dem man überzeugt oder nicht überzeugt sein kann – es ist das Ankommen einer Überzeugung, gleichgültig wovon man überzeugt ist. Es ist nicht etwas, was manche betrifft und manche nicht betrifft, sodass sie es abweisen können – es ist das Betreffen selbst.
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I. DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE: Das gegenwärtige Denken des Ereignisses
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Martin Heidegger (1889–1976)
Als Martin Heidegger am Anfang des 20. Jahrhunderts seine philosophische Entwicklung beginnt, ist es der Neukantianismus, der die philosophische Szene in Deutschland beherrscht. Der Neukantianismus als Erneuerung und Weiterführung der Philosophie Kants in einem neuen geschichtlichen Kontext ist eine Transzendentalphilosophie, also eine Philosophie, die nach dem Grund, nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt. Sie ist demzufolge ein begründendes und selbstbegründendes Denken. Welche transzendentalen Voraussetzungen erfüllt die wissenschaftliche Erkenntnis, was sind die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Geltung – fragt die mehr auf eine transzendentale Logik gerichtete Marburger Schule des Neukantianismus. Welche sind die transzendentalen Gründe, die der Geltung aller Kulturgestalten (Ethik, Kunst etc.) zugrunde liegen; was sind die Bedingungen der Geltung der Erkenntnisse der Geisteswissenschaften – das ist die Frage, die die südwestdeutsche Schule des Neukantianismus stellt. Diese Richtung des Neukantianismus nennt die Gründe Werte und eröffnet so den Weg zu einer systematischen Wertphilosophie. Der junge Heidegger, was seine Begegnung mit der Philosophie betrifft, kommt aus der Tradition des neukantianischen Denkens. Auch wenn er sehr früh diese Philosophie verlässt, sind die Spuren dieser Denkweise noch sehr lange – auch in seinen originalphilosophischen Schriften – merkbar. Und wenn er später – am Anfang der 30er Jahre – das Ereignis zu denken beginnt, setzt er sich damit unter anderem auch vom neukantianischen Philosophieren ab. 16 Das will sagen: Wenn man das Ereignisdenken Heideggers und Damit unterstützen wir völlig die Thesen von Ernst Wolfgang Orth: »Im Hinblick auf Heideggers frühe Vorlesungen von 1919 bis 1923 lassen sich schon jetzt folgende Thesen bezüglich seines Verhältnisses zum Neukantianismus formulieren: / 1. Heidegger ist mit der philosophischen Bewegung des Neukantianismus durchaus vertraut. / 2. Der Neukantianismus ist ihm ein Paradigma ernsthaften Philosophierens der Gegenwart, in welchem sich die wichtigsten philosophischen Probleme der Zeit
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
den Weg zu ihm verstehen möchte, sollte man auch wissen, was es mit dem Denken des Grundes auf sich hat. 17 In seiner frühesten universitären Vorlesung, gehalten in dem sog. Kriegsnotsemester 1919 mit dem Titel Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, setzt sich Heidegger mit dem Selbstbegründungsproblem der philosophischen Erkenntnis auseinander und dies ganz im Geiste des Neukantianismus. In diesem Text weist Heidegger auf eines der grundlegendsten Probleme des neukantianischen Diskurses über die Begründung der Geltung der Philosophie hin, nämlich auf den unendlichen Regress und die »Zirkelhaftigkeit« (KNS, 95) der Begründungsführung. Die Neukantianer versuchen, die Begriffe der Philosophie, die philosophische Theorie durch andere Begriffe einer Erkenntnistheorie transzendentalphilosophisch zu begründen. Selbstverständlich führt ein solcher Versuch zur Notwendigkeit, diese Theorie der Begründung auch zu begründen und dies ad infinitum. Die Erkenntnis kreist so um sich selbst: »das Erkennen kommt nicht aus sich selbst heraus« (KNS, 96), und solange das so bleibt, gibt es keine ernste Begründung, keine ernste »Urwissenschaft«, wie Heidegger sie in dieser Vorlesung nennt, die alle Erkenntnis letztbegründen könnte. So kommt er zum Schluss, dass eine Urwissenschaft selbst nicht theoretisch sein darf: »Soll er [der Zirkel – L. P.] aber aufhebbar sein, dann muß es eine vor-theoretische oder übertheoretische, jedenfalls eine nichttheoretische Wissenschaft, eine echte Ur-wissenschaft geben, aus der das Theoretische selbst seinen Ursprung nimmt.« (KNS, 96)
Worin begründet Heidegger das Theoretische bzw. was denkt die Urwissenschaft? Die Antwort lautet: das Leben im Sinne des Erlebniskonzentrieren. / 3. Der Neukantianismus ist für Heidegger ein Ausgangsfeld für das, was er Urwissenschaft nennt (vgl. GA 56/57, 13 ff), die freilich für ihn zunächst im Phänomenologiebegriff Husserls ihre eigentliche Basis findet. / 4. Die erste Entwicklung von Heideggers eigenem Denken vollzieht sich in Auseinandersetzung mit Neukantischen Positionen.« (Orth, 18) 17 Damit widersprechen wir auch ein wenig der verbreiteten Interpretation von Heideggers Werk, die in ihm zuerst einen Denker des Seins sieht. Das ist er in der Tat, aber er denkt das Sein, weil er – ziemlich neukantianisch – eine begründete Philosophie sucht, also den Grund. Heidegger ist ein Denker des Grundes. Deswegen denkt er das Sein und deswegen denkt er später das Ereignis. Es ist schwierig das Ereignisdenken zu verstehen, wenn man von seinem Seinsdenken ausgeht; man kann aber diesen Schritt zum Ereignisdenken sehr gut nachvollziehen, wenn man die Frage nach dem Denken des Grundes stellt.
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ses. Mit der These, dass das Theoretische nur im Nichttheoretischen begründet werden kann, verlässt Heidegger gewissermaßen den neukantianischen Ansatz, es ist aber zu beachten, dass er diesen Gedanken von einem Neukantianer – Emil Lask – übernimmt und weiterentwickelt. 18 Doch noch wichtiger als das, dass das Nichttheoretische ab jetzt als Grund bestimmt wird, ist, wie es ein Grund ist und fungiert. Eine Erkenntnis zu begründen bedeutet ab jetzt nicht mehr, ihre transzendentalkategoriale formale Bedingung anzugeben, sondern zu verstehen, wie das Erkennen gelebt wird, wie es im tatsächlichen Leben ist und aus ihm erwächst. 19 Für Heidegger bleibt noch die methodologische Frage, wie man diese Erlebnisse aufdecken kann und wie sie zu beschreiben wären, ohne dass sie zu einem bloßen Gegenstand für eine theoretische Betrachtung würden und damit ihren Erlebnischarakter und somit ihre begründende Funktion verlieren würden. Es ist die von Husserl entwickelte Phänomenologie, die ihm eine Methode der Aufdeckung und Beschreibung der Erlebnisse anbietet: Die »Phänomenologie« ist die »vortheoretische Urwissenschaft« (KNS, 63). Als eine Urwissenschaft ist sie selbst kein »Standpunkt« (KNS, 110) 20, keine Theorie der Erlebnisse, aber auch kein Verschwinden im bloßen Erleben: Durch sie kann man »verstehend erleben« (KNS, 115). 21 Das Erlebnis, insofern es verstehend erlebt wird, nennt Heidegger – im Gegensatz zum psychischen »Vorgang« Heidegger würdigt Lasks Denken und bestätigt seinen Einfluss von ihm zum Beispiel in folgender Passage: »Emil Lask, dessen Untersuchungen ich persönlich sehr viel verdanke […]. […] Er war eine der stärksten philosophischen Persönlichkeiten der Gegenwart, ein schwerwiegender Mann, der nach meiner Überzeugung auf dem Weg zur Phänomenologie war, dessen Schriften überreich sind an Anregungen – allerdings keine Lektüre, die man nur so liest.« (PhtW, 180) 19 Diese Verschiebung von einer Theorie zum verstehenden Erleben des Theoretisierens charakterisiert wunderbar Markus Brach: »Heidegger formulierte damit jedoch nicht eine einfache Frage nach etwas, sondern er fragte nach der Frage selbst – er fragte eigentlich nach dem Fragen und seiner Erlebnishaftigkeit. Damit überschritt er aber alle Fragen nach Etwas auf eine Frage ganz anderer und neuer Qualität hin: die Seinsfrage. Denn die Frage nach dem Fragen des Fragens fragt nicht nach der Sache des Fragens selbst, sondern nach seinen Vollzugsbedingungen. Heidegger reduzierte dergestalt das wissenschaftliche Fragen nach einer Sache auf den Akt des Fragens selbst und damit auf die Vollzugsbedingungen der Wissenschaft bzw. der Theorie.« (Brach, 89) 20 Heidegger formuliert dies sehr extrem: »Und die Todsünde wäre die Meinung, sie selbst sei ein Standpunkt.« (KNS, 110) 21 Weil die Urwissenschaft die Erlebnisse verstehend, beschreibend und auslegend ist, spricht Heidegger hinsichtlich ihrer Methode von einer »hermeneutische[n] Intui18
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
als Gegenstand einer Wissenschaft – »Ereignis« (KNS, 75). 22 Das spätere Ereignis in Heideggers Philosophie unterscheidet sich aber wesentlich von diesem Ereignis als Mit-Vollzug des Lebens, und wir werden gleich sehen, in welcher Hinsicht. Was aber den frühen Heidegger von den Neukantianern wesentlich unterscheidet, ist die Art seines philosophischen Interesses. Die erkenntnistheoretische Fragestellung zur Begründung und Selbstbegründung, die Vermutung, dass der Grund des Theoretischen im Nicht-Theoretischen, im Leben zu suchen sei, verschiebt sich zur Frage nach dem Leben selbst. 23 So finden wir schon in der Vorlesung zum Wintersemester 1919/1920 – Grundprobleme der Phänomenologie – zwar die Beschreibungen, wie die Wissenschaft aus dem faktischen Leben erwächst, aber sie stehen im Schatten der Auslegung dieses faktischen Lebens. Und im Wintersemester 1921/1922 – in der Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles – wird der »Gegenstand« der Philosophie folgendermaßen bestimmt: »Philosophie ist historisches (d. h. vollzugsgeschichtliches verstehendes) Erkennen des faktischen Lebens.« (GA 61, 2)
Dabei interessiert sich die Philosophie nicht für das Leben, insofern es zu einem Gegenstand für die Erkenntnis geworden ist, sondern für das Wie des Lebens. Die Philosophie fragt nicht, was das Leben ist, sondern wie es an sich ist. Sie fragt danach, wie wir leben, wenn wir leben; wie wir das Leben vollziehen und vollziehend verstehen. Wenn man so fragt, fragt man – in Heideggers Terminologie des Wintersemesters 1919/1920 – nach dem »Sinn« (GA 58, 102). Noch ein wenig später – im Wintersemester 1921/1922 – wird die Frage nach dem Sinn zur Frage nach dem »Sein« bzw. »Seinssinn«. Diese begriffliche Verschiebung entsteht durch Heideggers Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte – insbesondere Aristoteles. 24 Die Philosotion« (KNS, 117) und ein wenig später – im Sommersemester 1919 – von ihr als einer »phänomenologische[n] Hermeneutik« (PhtW, 131). 22 »Das Er-leben geht nicht vor mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle, als Objekt, sondern ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich seinem Wesen nach. Und verstehe ich es darauf hinblickend so, dann verstehe ich es nicht als Vor-gang, als Sache, Objekt, sondern als ein ganz Neuartiges, ein Ereignis.« (KNS, 75) 23 Eine andere Möglichkeit wäre: Nicht dass aus den Begründungsversuchen das Interesse für das Leben erwächst, sondern das Interesse für das Leben ist schon da, muss aber, weil es die philosophiegeschichtliche Situation fordert, in die erkenntnistheoretische Problematik hineingezwungen werden und auf seine Befreiung erst warten. 24 Heideggers philosophisches Interesse widmet sich also dem faktischen Leben. Hei-
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phie ist für Aristoteles die Suche nach dem Grund, dem Prinzip des Seienden, das das Seiende zu dem macht, was es ist, sie sucht also sein Sein: »Was ist das, worauf es beim Seienden als solchem letztlich ankommen kann? Das Sein, oder bestimmter, im Hinblick auf die Weise, wie solches »Sein« faßbar ist: der »Seinssinn«. Es ist ausdrücklich im Auge zu behalten: das Sein, der Seinssinn, ist das philosophisch Prinzipielle jedes Seienden; es ist aber nicht sein »Allgemeines«, die oberste Gattung, was Seiendes als besondere Fälle unter sich hätte.« (GA 61, 58)
Wenn man das Leben untersucht, sucht man sein Sein bzw. den Seinssinn. Die Philosophie ist »die Frage nach dem Seinssinn faktischen Lebens« (GA 61, 172). Die Philosophie fragt, wie das Leben im Prinzipiellen ist. Des Weiteren ist es zu beobachten, dass Heidegger die Frage nach dem Seinssinn des faktischen Lebens, erstens, abkürzt und schlicht nach dem Sein fragt, wenn er nach dem Sein des Lebens fragt, und, zweitens, verallgemeinert und nach dem Sein verschiedener Seiender fragt, obwohl es immer die faktische Existenz des Menschen ist, die im Zentrum der Untersuchung steht und eine ausgezeichnete Stellung hat. Wird aber nach dem Sein gefragt, ist die Philosophie ontologisch: eine Ontologie. In der Tat nennt Heidegger in der Vorlesung zum Sommersemester 1923 seinen Ansatz »Ontologie«. Weil sie aber das faktische Leben auslegt, ist sie »Hermeneutik der Faktizität«. Eine ganz empfindliche Frage in diesem Kontext ist, ob diese Auslegung des Wie des Lebens immer noch eine Phänomenologie (im Husserl’schen Sinne) ist. Man kann diese Frage nur zweideutig beantworten. Von einer Seite: Heidegger hat zuerst die Philosophie zu Untersuchungen der Erlebnisse des Lebens bestimmt und Phänomenologie genannt, sie ist jetzt keine Phänomenologie mehr – diese Ontologie spricht nicht vom Bewusstseinsleben, davon wie wir in uns sind, sondern vom Leben, davon wie wir in der Welt sind; sie spricht nicht mehr von Bewusstseinsobjekten (Phänodegger nennt selbst vier Denker, die ihm geholfen haben, das faktische Leben auf seine Art und Weise auszulegen: »Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen mir Husserl eingesetzt.« (GA 63, 5) An dieser Stelle wollen wir nur darauf hinweisen, dass bei der Behandlung vom Leben die Terminologie und die Fragestellung Heidegger im großen Maß von Aristoteles übernommen hat. So ist die Rede in den Vorlesungen zum Wintersemester 1920/1921 und Sommersemester 1921 noch vom »Leben«, aber seit der Vorlesung zum Wintersemester 1921/1922 mit dem Titel Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles – vom »Sein«.
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
menen), sondern von dem, was ist, was in der Welt anwesend ist (vom Seienden). 25 Von anderer Seite: Zu dieser Zeit hat dies sich noch nicht herauskristallisiert, aber die Phänomenologie wird für Heidegger in Sein und Zeit zum »Methodenbegriff« (SZ, 27), die ganz allgemein Folgendes leisten kann: »Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.« (SZ, 34) Damit wird der Gegenstand der Phänomenologie noch nicht erstmals bestimmt, sie ist bloß eine Art des Denkens: eine »Möglichkeit des Denkens, dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen« (MWPh, 101), wie Heidegger es 1963 formulieren wird. Bei einem so verstandenen Begriff der Phänomenologie kann man behaupten, dass Heidegger in seinem ganzen Denken phänomenologisch bleibt. 26 Eine solche Behauptung hat aber nur dann Sinn, wenn sie die Abgrenzung des Denkens gegen jede Philosophie des Bewusstseins macht. In der früheren Ontologie, in der Fundamentalontologie von Sein und Zeit, und später im Denken des Ereignisses geht es nie um die Erscheinungen für das Bewusstsein, sondern um das, was ist bzw. sich ereignet und woraufhin das Bewusstsein transzendiert. Hier muss man aber wieder sehr aufmerksam sein: Es geht nicht um eine objektive Ontologie oder Ereignisphilosophie, die das beschreibt, was ohne das Bewusstsein ist bzw. geschieht, sondern um das, was das Denken das Seiende übersteigen lässt bzw. es (das Denken) das Zu-Denkende (das Sein) aufdecken läßt. Das ganz spezifisch Heidegger’sche und Originelle zu dieser frühen Zeit liegt aber nicht darin, dass Heidegger versucht, das NichtEs geht also um den Unterschied zwischen Bewusstsein und Sein. In dem kurzen biographischen Text – Mein Weg in die Phänomenologie (1963) – betont Heidegger diesen Unterschied: »Woher und wie bestimmt sich, was nach dem Prinzip der Phänomenologie als »die Sache selbst« erfahren werden muß? Ist es das Bewußtsein und seine Gegenständlichkeit, oder ist es das Sein des Seienden in seiner Unverborgenheit und Verbergung? / So wurde ich auf den Weg des Seinsfrage gebracht, erleuchtet durch die phänomenologische Haltung […].« (MWPh, 99). Damit sagt er unter anderem, dass die Phänomenologie ihn zur Seinsfrage gebracht hat, sie ist aber nicht mit ihr gleich. 26 Dies macht zum Beispiel Günter Figal, wenn er, erstens, von der »Universalisierung« und, zweitens, von der »Anonymisierung« (Figal(2007), 9) der Phänomenologie in Heideggers Philosophie spricht. Diese Bezeichnungen wollen sagen, dass die Phänomenologie bei Heidegger zu einer universalen Denkweise wird und als solche nicht mehr ständig genannt werden muss. Immer wenn wir versuchen, etwas zu denken, etwas so aufzuzeigen, wie es ist, sind wir phänomenologisch, und es braucht keine besondere Explizierung. 25
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Theoretische auszulegen, und statt einer Erkenntnistheorie eine Ontologie entwickelt, sondern im Wie der Bestimmung des Lebens bzw. Seins, was auch ein völlig neues Verständnis der Philosophie mit sich bringt. Es ist von Anfang an klar, dass das faktische Leben kein Denkobjekt ist und dass der Bezug zu ihm kein Erkennen ist. Das Leben erreicht man nicht, wenn man »sein Allgemeines, die oberste Gattung« angibt und eine Definition fixiert. Das Leben erreicht man, indem man lebt, aber nicht einfach lebt, sondern das Leben mit-vollzieht, so wie das Leben sich selbst vollzieht; indem man mit dem Leben verstehend mit-geht. Dieser verstehende Mit-Vollzug des Lebens in seinem Wie ist das Sein. Das Sein ist nicht die Existenz im Allgemeinen, die man einem Seienden als ein Prädikat zuschreiben kann, sondern es ist das Verstehen der Existenz, es ist im Vollzug des Verstehens der Existenz. Wenn das so ist, kann die philosophische Begrifflichkeit unmöglich das Sein (des Lebens) bedeuten – das Sein ist nicht der Gehalt eines Begriffes, es ist nicht im Begriff und durch den Begriff erreichbar, es kann nur vollzogen werden. Deswegen ist die philosophische Definition einer Ontologie nur »formal anzeigend« (GA 61, 20). Sie ist formal (nicht inhaltlich), weil ihr Gehalt nicht den definierten »Gegenstand« gibt, und sie ist anzeigend, weil sie durch die Forderung, das Definierte zu vollziehen, auf es hinweist: »Als anzeigende ist die Definition als eine solche zugleich charakterisiert, die den zu bestimmenden Gegenstand gerade nicht voll und eigentlich gibt, sondern nur anzeigt, als echt anzeigend aber gerade prinzipiell vorgibt. Es liegt in der Anzeige, daß die Konkretion nicht ohne weiteres zu haben ist, sondern eine Aufgabe eigener Art und Aufgabe für einen Vollzug eigener Verfassung darstellt.« (GA 61, 32)
Der durch den Begriff uneinholbare Vollzug des Lebens, also das Sein des Lebens, kurz: das Sein ist das Thema von Heideggers erstem und unglaublich einflussreichem Hauptwerk Sein und Zeit (1927). Dieses Werk grenzt das Sein gegenüber dem Seienden (dem Gegenständlichen, dem begrifflich Fassbaren) ab 27 – was gleich nach Sein und Zeit »ontologische Differenz« getauft wird 28 –, und es legt die Exis-
»Das Sein des Seienden »ist« nicht selbst ein Seiendes.« (SZ, 6) In der Vorlesung zum Sommersemester 1927 – Die Grundprobleme der Phänomenologie – heißt es: »Wir sagten: Ontologie ist die Wissenschaft vom Sein. Sein aber ist immer Sein eines Seienden. Sein ist wesensmäßig vom Seienden unterschieden. […] Wir bezeichnen sie [die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem – L. P.] als 27 28
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tenz des Daseins 29 aus. Die Auslegung des Seins ist Ontologie, die hier als »Fundamentalontologie« (SZ, 13) fungiert, da sie »eine apriorische Bedingung der Möglichkeit […] der Wissenschaften« und »die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien« (SZ, 11) aufdeckt. Da die Fundamentalontologie ihre gründende Aufgabe durch die Auslegung des Seins des Daseins erfüllt, entspringt sie der »existenzialen Analytik des Daseins« (SZ, 13), und wegen ihres »auslegenden« Charakters ist sie »Hermeneutik« (SZ, 37). Sein und Zeit weist aber noch einige Aspekte auf, die, von einer Seite, als eine Rückkehr zur neukantianischen Fragestellung betrachtet werden können und, von anderer Seite, einen entscheidenden Schritt in Richtung Ereignisdenken machen. Erstens gibt die Fundamentalontologie nicht nur das Fundament für die Wissenschaften des Seienden, sie arbeitet dazu auch noch transzendentalphilosophisch. Zweitens bemüht sich Heidegger ausdrücklich um die Allgemeingültigkeit der Aussagen und die Selbstbegründung der Geltung seiner Philosophie. Zum Ersten: Es ist bemerkenswert, dass schon auf der ersten Seite dieses Werkes die Begründung des Seinsverständnisses in der Interpretation der Zeit ihren Horizont zugewiesen bekommt: »Die konkrete Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von »Sein« ist die Absicht der folgenden Abhandlung. Die Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses überhaupt ist ihr vorläufiges Ziel.« (SZ, 1)
Wird in der Daseinsanalytik der Sinn des Daseins als »Sorge« 30 bestimmt, so ist der zweite Abschnitt des ersten Teiles der Frage gewid-
die ontologische Differenz, d. h. als die Scheidung zwischen Sein und Seiendem.« (GA 24, 22) 29 Mit dem Konzept »Dasein« grenzt sich Heidegger gegen die Untersuchungen des »Menschen« ab. Er fragt nämlich nicht nach dem allgemeinen Wesen des Menschen, sondern nach seinem Wie des Lebens, nach dem Sinn des Seins. So ist das Dasein ist nicht etwas, sondern »ist« insofern es ist, existiert: »Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz.« (SZ, 42) 30 »Auf dem Boden der Analyse dieser Fundamentalstruktur wird eine vorläufige Anzeige des Seins des Daseins möglich. Sein existenzialer Sinn ist die Sorge.« (SZ, 41) Die Charakterisierung des Seins des Daseins als Sorge erscheint schon in den Vorlesungen vor Sein und Zeit und ist auf Heideggers Auseinandersetzung mit Aristoteles zurückzuführen. Die Sorge bedeutet ganz allgemein, dass das Dasein immer
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met, wie die Sorge möglich ist. Ihr Grund liegt in der Zeitlichkeit des Daseins: »Der ursprüngliche ontologische Grund der Existenzialität des Daseins aber ist die Zeitlichkeit. Die gegliederte Strukturganzheit des Seins des Daseins als Sorge wird erst aus ihr existenzial verständlich.« (SZ, 234)
Das heißt: Das Dasein ist so, wie es ist, weil es zeitlich ist. Es kann aber auch bedeuten: Das Dasein versteht das Sein, weil es zeitlich ist. Zum Zweiten: Wie begründet Heidegger die Geltung seiner Philosophie, d. h. wie garantiert er, dass seine Aussagen über das Sein wahr sind? So, dass er behauptet, dass sie nicht von einer vom Sein abgehobenen Wissenschaft gemacht, sondern von der Existenz, dem Dasein selbst erschlossen werden. Die Fundamentalontologie denkt nichts aus, sie lässt nur das sehen, was sich schon zeigt; sie expliziert nur das, was schon verstanden ist. Daraus ergibt sich aber eine Schwierigkeit, mit der Heidegger kämpfen muss. Es ist ihm schon früher nicht entgangen, dass manche Menschen einfach nur leben, ihre Existenz vollziehen, während andere mit ihrem Leben mitgehen, es verstehend vollziehen. Das sind zwei Seinsweisen. Die erste nennt Heidegger die Alltäglichkeit bzw. Uneigentlichkeit, die andere: Eigentlichkeit. Das Problem liegt im Folgenden: Wenn Heidegger das Sein sich selbst zeigen lässt, so zeigt die Uneigentlichkeit nichts, weil sie nur lebt. Es ist die eigentliche Existenz, die für sich selbst sichtbar wird und sich selbst auslegt. Wenn wir aber die (uneigentliche) Existenz sich zeigen lassen und sie nichts zeigt, wie können wir dann die Ergebnisse, die aus einer abgehobenen (eigentlichen) Position kommen, noch auf diese Uneigentlichkeit anwenden? Streng genommen ist die Uneigentlichkeit nicht so, wie die eigentliche Existenz sie auslegt. Nur die eigentliche Existenz kann, weil sie sich selbst versteht, so sein, wie sie sich versteht. Angesichts dieses Problems bietet sich folgende Lösung an: Man muss annehmen, dass jede Seinsweise das Sein versteht, auch wenn sie dies tatsächlich nicht tut. 31 Auch die Uneigentlichkeit trägt das Seinsverständnis in sich: »[W]ir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis.« (SZ, 5)
um etwas besorgt ist – um das Leben in seiner nächsten Umwelt (alltägliche Existenz) oder auch um das Sein selbst (eigentliche Existenz). 31 Dazu siehe die schöne Auslegung dieser Problematik von Günter Figal: (Figal (2009), 19 f).
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Das Sein ist »je schon verstanden« (SZ, 6), obwohl das Sein für die Alltäglichkeit das ist, »was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist« (SZ, 35). Diese für die Selbstbegründung der Fundamentalontologie notwendige ontologische Annahme führt aber zu unbefriedigenden Konsequenzen. Vorher (in den früheren Vorlesungen) war der Seinsinn des Lebens etwas, was sich im Mit-Vollzug erschließt, etwas, was sich zeigen oder auch nicht zeigen kann, jetzt ist das Sein dieser Vollzug selbst: Das Sein ist das »Existenzial Gekonnte« (SZ, 143). 32 Vorher gab es einen Bezug zum Sein, jetzt ist es schon immer da im bloßen (uneigentlichen) Existieren. Vorher war das Verstehen ein Bezug, jetzt ist es ein bloßes Seinkönnen. Das Verstehen des Sinnes muss nicht unbedingt ausdrücklich und thematisch sein. Wer ist, versteht schon, wie er ist, weil er eben schon ist. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit, den Sinn des Seins zu verstehen, wird auf das Können des Daseins nivelliert. Das Dasein hat das Sein immer schon verstanden. Es ist nichts Besonderes, dass sich der Sinn des Seins plötzlich erschließen kann. Es ist nichts Besonderes, dass das Leben, die Welt, das Seiende plötzlich durchsichtig werden können. Heidegger hat aber in der Erschließung des Seins immer schon etwas ganz Besonderes gesehen. Das Sein ist für ihn nie ein bloßer Vollzug gewesen, der vom Dasein geleistet wird. Es soll ein Verhältnis zum Sein geben. Die Eröffnung des Sinnes des Seins soll etwas sein, was mit dem Dasein geschieht. Sein und Zeit ist ein zugespitztes Werk, das deswegen viele Probleme offenlegen kann. In den nächsten Jahren steht für Heidegger vor allem eine Frage im Zentrum – zwar keine neue, aber ab jetzt eine radikal neue Herausarbeitung fordernde. Es ist die Frage nach dem Grund. Konkret: Die Frage nach der Begründung der Wissenschaften und nach der Selbstbegründung. Worin liegt das Problem, das Sein und Zeit offengelegt? Es zeigte eine Fundamentalontologie, die das Fundament – das ursprüngliche Seinsverständnis – aller Wissenschaft zurückgibt, und es verortete dieses Seinsverständnis im Da-
Interessanterweise hat die französische Philosophie, die ja insbesondere Sein und Zeit gelesen hat, das Heidegger’sche Sein genauso auch interpretiert – als Verb »sein«, als Vollzug des Existierens. Man kann in der Tat das so lesen, aber nur in Bezug auf Sein und Zeit. Wenn das Sein später als das Ereignis bestimmt wird, ist diese Interpretation nicht mehr korrekt.
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sein, sodass das Sein zum Dasein gehört. Somit ist das Dasein der Grund des Seins. Jedes Verstehen, Erkenntnis und Wissen ist deswegen möglich, weil das Dasein so ist, wie es ist, und es ist zeitlich. Es ist aber genau diese Begründung, die Heidegger verdächtig erscheint. In seinen Vorlesungen zu Kant (Wintersemester 1927/1928), Leibniz (Sommersemester 1928), zum Deutschen Idealismus (Sommersemester 1929) geht es immer wieder um die Frage nach einer Fundamentalwissenschaft. Und in dieser Zeit geschieht in Heideggers Denken eine radikale Verschiebung, was die Frage nach dem Grund betrifft. Heidegger, als aus der neukantianischen Tradition kommend, hat schon immer einen letzten Grund gesucht: Er fand ihn zuerst im Erleben, dann im faktischen Leben, dann im Seinsverständnis, das wiederum in der Zeitlichkeit begründet war. Ab jetzt fragt er aber nicht mehr, was der Grund ist, sondern woher der Grund überhaupt ist, woher die Frage nach dem Grund kommt. Das ist die Frage Heideggers an sich selbst, warum er überhaupt einen Grund sucht. Diese Verschiebung ist sehr deutlich im Beitrag Vom Wesen des Grundes (1929) sichtbar. Er fragt nämlich nach der »Ermöglichung der Warumfrage überhaupt« (WG, 168). 33 Aber es ist genauso bemerkenswert, dass Heidegger diesen »Grund des Grundes« wiederum im Dasein verortet, nämlich in seiner »Freiheit«: »Die Freiheit ist der Grund des Grundes.« (WG, 174) 34 Siehe auch: ÜM, 60. Der Grund des Grundes ist die Freiheit. Die Freiheit wird als Transzendenz verstanden (»Die Freiheit als Transzendenz« (WG, 165)). Die Transzendenz ist der »Überstieg zur Welt« (WG, 163) und sie »meint solches, was dem menschlichen Dasein eignet […] als vor aller Verhaltung geschehende Grundverfassung dieses Seienden« (WG, 137). Die Möglichkeit des Grundes liegt also in der Grundverfassung des Daseins. Eine ganz ähnliche Argumentation finden wir in dem bekannten Vortrag Was ist Metaphysik? (1929): »Einzig weil das Nichts im Grunde des Daseins offenbar ist, kann die volle Befremdlichkeit des Seienden über uns kommen. Nur wenn die Befremdlichkeit des Seienden uns bedrängt, weckt es und zieht es auf sich die Verwunderung. Nur auf dem Grunde der Verwunderung – d. h. der Offenbarkeit des Nichts – entspringt das »Warum?«. Nur weil das Warum als solches möglich ist, können wir in bestimmter Weise nach Gründen fragen und begründen. Nur weil wir fragen und begründen können, ist unserer Existenz das Schicksal des Forschers in die Hand gegeben.« (WM, 121) Eine Wissenschaft (oder auch Fundamentalwissenschaft) sucht also Gründe. Die Frage nach dem Gründen entspringt dem Warum, das seinerseits durch die Erfahrung des Nichts möglich wird. Das Nichts ist aber eine Struktur des Daseins. In einem späteren Versuch, die Frage nach dem Grund des Grundes explizit zu stellen, – in der Vorlesung Der Satz vom Grund (Wintersemester 1955/ 56) – werden wir diese Begründung im Dasein nicht mehr finden: »Sein als gründen-
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Sein und Zeit hat noch ein Problem offengelegt, nämlich wie das Sein zu verstehen ist. Ist es das Wie des Seins des Seienden, ist es der Seinsvollzug des Daseins oder doch etwas ganz anderes? Im Kontext dieses Fragens ist Heideggers Auseinandersetzung mit der Problematik der Wahrheit zu betrachten. Die Frage nach Wahrheit, die erstmals mit dem Vortrag Vom Wesen der Wahrheit (1930) ihre erneute 35 Aktualität in Heideggers Denken bezeugt, ist die Frage danach, wie das Sein zu verstehen ist. Das, was Heidegger hier fest im Blick hat, ist die »Offenbarkeit von Seiendem« (WG, 131) – die Möglichkeit, dass das Seiende seiend, sichtbar in seinem Sein und So-Sein wird. In Vom Wesen der Wahrheit wird diese Offenbarkeit auf die »Entbergung« zurückgeführt und »Wahrheit« genannt: »Wahrheit ist nicht ursprünglich im Satz beheimatet.« (WW, 185) »[…] die Wahrheit ist die Entbergung des Seienden […].« (WW, 190)
Hier liegt die Aufbruchsstelle des Ereignisdenkens in Heideggers Philosophie – die sog. Kehre. 36 Am Anfang der 30er Jahre beginnt des hat keinen Grund, spielt als der Ab-Grund jenes Spiel, das als Geschick uns Sein und Grund zuspielt.« (SG, 169) Im Ereignisdenken ist das Dasein nicht mehr der Grund des Seins, sondern das Sein wird dem Dasein durch das Ereignis (»Ab-grund«) zugespielt. 35 Seine erste Interpretation der Wahrheit findet ihren Abschluss in Sein und Zeit. Die Wahrheit wird als »Erschlossenheit des Daseins« verstanden, die die »Entdecktheit des innerweltlichen Seienden« möglich macht (SZ, 220). Wir werden gleich sehen, dass dieses Verhältnis in der Ereignisphilosophie Heideggers umgedreht (obwohl nicht nur bloß umgedreht) wird. Ist in Sein und Zeit das Dasein der Träger der Wahrheit (»Sofern das Dasein wesenhaft seine Erschlossenheit ist […], ist es wesenhaft »wahr«.« (SZ, 221)), so wird es im Ereignisdenken zum Empfänger der Wahrheit – es wird zum Dasein, wenn es in die Wahrheit eintritt. 36 Pöggeler hat Recht, wenn er schreibt: »Man kann nicht übersehen, daß Heidegger in einer durchaus mehrdeutigen Weise von einer »Kehre« spricht.« (Pöggeler(1992), 18) Es ist aber schon üblich geworden, mit diesem Wort die Wandlung des Heideggerschen Denkens am Anfang der 30er Jahre zu bezeichnen. Heidegger Aussagen lassen dies in der Tat zu. Im Humanismusbrief 1946 schreibt er: »Versteht man den in ›Sein und Zeit‹ genannten ›Entwurf‹ als ein vorstellendes Setzen, dann nimmt man ihn als Leistung der Subjektivität und denkt ihn nicht so, wie ›das Seinsverständnis‹ im Bereich der ›existenzialen Analytik‹ des ›In-der-Welt-Seins‹ allein gedacht werden kann, nämlich als der ekstatische Bezug zur Lichtung des Seins. Der zureichende nach- und Mit-vollzug dieses anderen, die Subjektivität verlassenden Denkens ist allerdings dadurch erschwert, daß bei der Veröffentlichung von Sein und Zeit der dritte Abschnitt des ersten Teiles, Zeit und Sein zurückgehalten wurde (vgl. Sein und Zeit S. 39). Hier kehrt sich das Ganze um. Der fragliche Abschnitt wurde zurückgehalten, weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte und so mit
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Heidegger an einem Gedanken zu arbeiten, dessen Niederschrift zu seiner Lebenszeit weder vorgelesen bzw. vorgetragen noch veröffentlicht wird. Die erste und am meisten bekannte Abhandlung zu diesem Gedanken – Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938) – wird erst 1989 im Band 65 der Gesamtausgabe veröffentlicht. Den Beiträgen folgen noch viel zu wenig von den Forschern und Philosophen gelesene Abhandlungen: Besinnung (1938/39, GA 66), Die Überwindung der Metaphysik (1938/39, GA 67), Die Geschichte des Seyns (1938/40, GA 69), Über den Anfang (1941, GA 70), Das Ereignis (1941/42, GA 71) und Die Stege des Anfangs (1944, noch nicht veröffentlicht, geplant für GA 72). 37 Das thematische Zentrum dieser Abhandlungen ist das Ereignis. Das Denken des Ereignisses steht in einem direkten Zusammenhang mit dem vorher Gedachten, und doch eröffnet es eine ganz neuartige Thematik und fordert eine ganz andere Art des Philosophierens. Hat Heidegger nach der Offenbarkeit des Seienden gefragt, diese in der Entbergung begründet und Wahrheit genannt, so wird im Ereignisdenken die Wahrheit auch Sein genannt. Die Wahrheit ist immer die Unverborgenheit des Seins des Seienden. Wenn die Wahrheit ist, ist das Sein. Und wenn das Sein ist, ist auch die Wahrheit: »Die Wahrheit des Seyns ist das Seyn der Wahrheit.« (BPh, 95) 38 Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam. Der Vortrag Vom Wesen der Wahrheit, der 1930 gedacht und mitgeteilt, aber erst 1943 gedruckt wurde, gibt einen gewissen Einblick in das Denken der Kehre von Sein und Zeit zu Zeit und Sein.« (HB, 327 f) Es geht also um die Kehre vom Sein als »Leistung der Subjektivität« zur »Lichtung des Seins«, wo das Dasein eingelassen wird. Diese Kehre ist in Sein und Zeit gedacht, aber nicht gesagt. Sie wird zum ersten Mal in Vom Wesen der Wahrheit 1930 formuliert. Die Kehre, die dem Dasein seine Herrschaftsposition entzieht, dominiert das Heideggersche Denken seit den 30er Jahren. 37 Diese Abhandlungen sind miteinander verbunden – sie bilden einen Korpus (vielleicht mit der Ausnahme von Die Überwindung der Metaphysik). Mehr noch: Es zeigt sich im Laufe dieser Werke eine gedankliche Entwicklung – vieles wiederholt sich, aber es gibt auch wichtige Thesen zum Ereignis, die es noch nicht in den Beiträgen gibt, wohl aber in Das Ereignis. Aus diesem Grund ist es völlig unverständlich, warum ausgerechnet die Beiträge am meisten gelesen werden, wenn doch gerade die späteren Schriften zum Ereignis diese Denkrichtung viel entwickelter und klarer darstellen. 38 Es ist sehr wichtig, auf die neue Schreibweise von »Seyn« hinzuweisen. Sie bedeutet nämlich nichts weniger, als dass die ontologische Differenz von Sein und Seienden aufgegeben wird, um ursprünglicher denken zu können. Das Sein steht nicht mehr in der Differenz zum Seienden, sondern ist grundsätzlich das Sein des Seienden. Das will sagen: Das Sein ist das Geschehnis mit dem Seiendem, in dem es seiend wird, also die Wahrheit. Und dieses Geschehnis geschieht vor der Differenzierung von Sein und
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Die Wahrheit wird aber grundsätzlich als ein Geschehnis verstanden – das Seiende tritt in die Unverborgenheit. Schon in der Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit (Wintersemester 1931/32) sagt Heidegger: »Unverborgenheit ist Entbergsamkeit […]. […] Wo und wie ist sie, diese Entbergsamkeit? Wir sehen sie als ein Geschehen, – ein Geschehnis, das ›mit dem Menschen‹ geschieht. Eine gewagte These!« (GA 34, 73)
Und wegen dieses Verständnisses der Wahrheit wird es später in den Beiträgen Ereignis genannt: »Die Wahrheit des Seyns […] ist das Ereignis.« (BPh, 258)
Weil die Wahrheit die des Seins ist, ist auch das Sein Ereignis: »Das Seyn west als das Ereignis.« (BPh, 260)
Das Sein ist nicht mehr das Wie des Existierens, das nicht-thematisch oder thematisch verstanden wird, sondern das Ereignis der Wahrheit. Das Ereignis ist weder ein Erlebnis noch ein Begriff, weder ein Seiendes noch Sein als Vollzug gegenüber dem Seins-Begriff, sondern genau das – das Ereignis. Kein objektives und beobachtbares Ereignis, sondern das, was sich mit dem Dasein ereignet, das, worin das Dasein ist. Es handelt sich hier um die Einführung eines neuen philosophischen Konzepts. Mehr noch: Hat Heidegger nach dem Grund gefragt, hat er die Frage modifiziert und nach der Möglichkeit der Frage nach dem Grund gefragt, so wird für ihn dieses Ereignis der Wahrheit als Sein der Grund für die Möglichkeit, die Grund-Frage zu stellen. Das Ereignis der Wahrheit ist der Grund der Metaphysik, die den Grund zu bestimmen versucht. Wichtig ist aber, dass dieser Grund nicht mehr Seiendem, die die Metaphysik kennt und auf die sie gründet. Das so gedachte Sein wird nicht mehr metaphysisch gedacht: »Das seynsgeschichtliche Erfragen des Seyns ist nicht Umkehrung der Metaphysik, sondern Ent-scheidung als Entwurf des Grundes jener Unterscheidung, in der sich auch noch die Umkehrung halten muss. Mit solchem Entwurf kommt dieses Fragen überhaupt ins Außerhalb jener Unterscheidung von Seiendem und Sein; und sie schreibt deshalb auch das Sein jetzt als ›Seyn‹. Dieses soll anzeigen, daß das Sein hier nicht mehr metaphysisch gedacht wird.« (BPh, 436) Siehe auch: ÜM, 78. Wir werden hier und im weiteren Text die übliche Schreibweise des Wortes »Sein« beibehalten – als des Wortes für eine Sache des Denkens in Heideggers Philosophie und in der Philosophie überhaupt, die unterschiedlich gedacht werden kann. Da wir uns in Heideggers Philosophie des Ereignisses bewegen, verstehen wir unter »Sein« – wenn nicht anders angegeben – immer das Sein als Ereignis so wie es in Heideggers Philosophie nach der Kehre gedacht wird.
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als eine Bedingung der Möglichkeit verstanden wird, sondern als ein Anfang – ein geschichtlicher Anfang, der irgendwann angefangen hat. 39 Er bildet kein ständig anwesendes Fundament, sondern hat sich vor langer Zeit ereignet und die Möglichkeit zu der Frage nach dem Grund gegeben. Die Unverborgenheit des Seienden – die Wahrheit (ἀλήθεια) – ist der Anfang: »Die ἀλήθεια west als der Anfang.« (E, 9) 40
Das Entscheidende kommt aber erst jetzt: Das Wahrheitsgeschehnis mit dem Seienden, das das Sein ist, ist ein geschichtlicher Anfang. Es ist Ermöglichung schlechthin und wird nicht mehr im Dasein begründet. Der Anfang fängt nicht an, weil das Dasein so ist, wie es ist, sondern er fängt von sich selbst an und macht das Dasein erst zum Dasein. »Das ›Seyn‹ ist nicht ein Gemächte des ›Subjekts‹, sondern das Da-sein als Überwindung aller Subjektivität entspringt der Wesung des Seyns.« (BPh, 303) 41
Modern gesagt, ist das Ereignis das Andere des Daseins. Das Ereignis bei Heidegger ist eine unvorhersehbare Begegnung mit einem Anderen, die neue Möglichkeiten eröffnet und eine Geschichte anfängt – in Heideggers Fall die Geschichte der Metaphysik. Diese drei Momente: [Wahrheits]Ereignis, [geschichtlicher] Anfang und die Andersheit [des Seins] sind die Säulen, auf denen die Heidegger’sche Ereignisphilosophie steht, und sie machen Heidegger zum ersten Ereignisdenker »Demnach erweist sich unser Vorhaben, das Denken aus seinen Grundsätzen zu erfahren, als ein geschichtliches Wagnis. Dies bleibt weit entfernt von der Anmaßung, absolut gültige Gesetze ›des‹ Denkens zu verkünden.« (FV, 103) Die Frage nach dem Grund ist also nicht mehr eine Frage der Logik, die die »Gesetzte des Denkens« feststellt, sondern eine Frage der Geschichte – ein »geschichtliches Wagnis«. Es geht nicht mehr darum, was der Grund ist, sondern seit wann es Grund gibt und wie es dazu gekommen ist, dass es einen Grund gibt. 40 Es ist zu beachten, dass dieser Gedanke noch nicht in den ersten Abhandlungen zum Ereignis (zum Beispiel in den Beiträgen) da ist. Die Idee vom Anfang kommt ein wenig später. Die ersten Abhandlungen widmen sich mehr der Möglichkeit, das Sein mit der Wahrheit zu verknüpfen. 41 Schon im Wintersemester 1931/32 bei der Behandlung der Wahrheit heißt es: »Kann man das Wesen der Wahrheit dem Menschen überlassen? Allzu gut wissen wir um die Unverläßlichkeit des Menschen, – ein schwankendes Rohr im Winde! Daran das Wesen der Wahrheit hängen? Wir sperren uns sofort und wehren uns ganz natürlich gegen das Ansinnen, das Wesen der Wahrheit in ein menschliches Geschehen zu verlegen.« (GA 34, 74) 39
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– er ist nicht der erste, weil er diesen Begriff einführt, sondern weil er etwas Ereignishaftes philosophisch beschrieben hat. In den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts hat Heidegger zu einem Thema gearbeitet, das sich erst später vor allem in der französischen Philosophie herauskristallisierte und noch heute eine Wichtigkeit besitzt. Doch wahrscheinlich kann hier nicht ein direkter Einfluss von Heideggers systhematischer Ereignisphilosophie – so wie sie im in den 30er und 40er Jahren entstandenen Textkorpus zum Ereignis dargestellt wird 42 – auf das französische Ereignisdenken behauptet werden, da diese Abhandlungen erst später veröffentlicht wurden. 43 Man muss aber auf jeden Fall von einem indirekten, untergründigen und eher fragmentarischen Einfluss Heideggers auf das französische Ereignisdenken sprechen, und zwar durch seine veröffentlichten Schriften, da diese von der Ereignisthematik beherrscht und oft ohne diesen in den 30er und 40er Jahren entstandenen Textkorpus zum Ereignis nicht verstehbar sind. In der Tat werden wir in den Texten der französischen Ereignisdenker einzelne Spuren von Heideggers Überlegungen zum Ereignis finden, nicht aber eine umfassende Auseinandersetzung mit seinem ganzen systhematischen Werk zum Ereignis – hier gehen die französischen Denker ihre eigenen Wege. Deswegen ist es umso interessanter, dass zwischen Heideggers Entwurf einer allgemeinen Ereignisphilosophie und der französischen Tradition des Ereignisdenkens so viele Ähnlichkeiten bestehen. Eins der Ziele dieser Arbeit ist in der Tat, diese Ähnlichkeiten aufzuweisen. Während Heidegger bei sich das Ereignis denkt, erreichen vor allem seine Interpretationen zu Hölderlin und Nietzsche die Öffentlichkeit. Dabei geht es nicht nur um diese einzelnen Autoren, sondern um die Philosophie und Dichtung, Sein und Kunst, Sprache und Wahrheit, Anfang und Geschichte überhaupt – um die Themen, die in diesen veröffentlichten Schriften meistens nur im Hintergrund bleiben, während sie in der Ereignisphilosophie ihren systhematisch Wir behaupten in der Tat, dass Heidegger eine systhemtische Ereignisphilosophie entwickelt hat. Seine Texte zum Ereignis sind zwar sprachlich sehr anspruchsvoll, aphoristisch, sich ständig wiederholend und nicht systematisch (was die Form des Textes betrifft) und eher suchend und experimentierend (was den Inhalt betrifft), trotzdem eröffnen sie ein ziemlich klares Bild davon, was das Ereignis ist und wie es geschieht. Diese in den meistens undurchsichtigen Texten versteckte klare Vorstellung aufzudecken, ist wiederum eins der Ziele der vorliegenden Arbeit. 43 Die erste von diesen Abhandlungen – die Beiträge – wird, wie schon erwähnt, erst 1989 veröffentlicht. 42
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herausgearbeiteten Ort finden. Insbesondere die Nietzsche-Abhandlungen sind mit den Schriften zum Ereignis verbunden. 44 Dieses Verhältnis ist allerdings verwickelt, wir möchten hier erstmals nur auf eine Zusammenhangslinie hinweisen, die für die weitere Behandlung der Ereignisfrage von Bedeutung ist. Das Ereignis als Anfang löst für Heidegger eine Geschichte aus: »Sein ›ist‹ der Anfang und also Geschichte / (die Seynsgeschichte).« (A, 175)
Der Anfang, der eine Möglichkeit gibt, entzieht sich, wird vergessen. Wir leben diese Möglichkeiten, ohne zu fragen, wie sie entstanden sind, und ohne an den ereignishaften Moment zu denken, an dem sie uns gegeben worden sind. Es ist immer so: Jede Geschichte verläuft notwendigerweise als das Vergessen ihres Anfangs. Spricht Heidegger vom Anfang, der das Sein und somit das Denken des Grundes (also die Metaphysik) gibt, so spricht er von der »Seynsgeschichte«, die diesen Anfang hat. Das Denken des Ereignisses ist somit auch seinsgeschichtliches Denken, obwohl sie nicht dasselbe sind – sie gehören zueinander. Man kann nämlich das Ereignis auch ohne genaue Auslegung seiner Geschichte denken, sodass man nur sagt, dass es Geschichte hat, aber man erzählt sie nicht. Heidegger geht nicht so vor. Er versucht in der Tat, die Geschichte der Metaphysik, die aus dem Ereignis des Seins entsteht, genau zu erzählen. Es reicht also für ihn nicht, dass er nur feststellt, dass der Anfang eine Geschichte hat, sondern er zeigt auch den Ablauf dieser Geschichte. Genau in diesem Zusammenhang wird für ihn Nietzsche interessant. Nietzsche ist für Heidegger noch interessanter als andere Philosophen, die er ausführlich behandelt (Anaximander, Parmenides, Heraklit, Leibniz, Diese Verbundenheit stellt auch Harald Seubert fest: »Die Nietzsche-Vorlesungen können insofern nicht auf die Entfaltung der metaphysischen ›Leitfrage‹ nach dem Sein des Seienden begrenzt sein. Sie bieten vielmehr zuweilen – im Text und mehr noch in Zusätzen – jähe Ausblicke in die Grundfrage und treten insofern in einen Gesprächzusammenhang mit Heideggers esoterischen Aufzeichnungen während der Dreißiger Jahre – vor allem mit den Beiträgen (GA 65). Auch bergen sie ungelöste metaphysische und phänomenologische Problemzusammenhänge und werden so zur Zwiesprache mit Sein und Zeit und mehr noch mit den eigenen Anfängen der ersten Freiburger Jahre.« (Seubert, 4) Dies ist richtig beobachtet, allerdings mit zwei kleinen Anmerkungen: Erstens sollte man vielleicht doch nicht in Bezug auf Heideggers Ereignisdenken von einer »Esoterik« (oder Mystik oder wie auch immer) sprechen; zweitens stehen die Schriften nicht nur und nicht »vor allem« in Zusammenhang mit den Beiträgen, sondern zu dem ganzen Korpus der Abhandlungen zum Ereignis.
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Kant, Hegel etc.), aus einem zweifachen Grund. Erstens, weil Nietzsche für Heidegger »der letzte Metaphysiker des Abendlandes« (NI, 431) ist. Niemand hat den Anfang so vergessen wie Nietzsche. Warum? Weil mit seinem »Willen zur Macht« Nietzsche völlig den gebenden Anfang, der dem Menschen etwas schenkt, leugnet, stattdessen will er die ganze Macht des Gebens dem Menschen vorbehalten. 45 Es ist auch gleich glasklar, dass diese Einordnung von Nietzsche in die Philosophiegeschichte auch die gleiche Einordnung jeder Transzendentalphilosophie und seines eigenen Ansatzes der Fundamentalontologie ist. Zweitens ist Nietzsche für Heidegger deswegen interessant, weil er dasselbe tut wie er – Nietzsche versucht nämlich auch, eine einheitliche Geschichte des ganzen Abendlandes zu verfassen. In dieser Hinsicht ist Nietzsche für Heidegger ein Gesprächspartner. Ab der Mitte der 40er Jahre arbeitet Heidegger nicht mehr so intensiv am Ereignis selbst, doch er bleibt dieser neuen Denkweise (Wahrheit; Anfang und Geschichte; Unabhängigkeit des Seins vom Dasein) treu. In der Tat schreibt Heidegger 1949 zur Veröffentlichung des Humanismusbriefes, der 1946 an Jean Beaufret adressiert wurde: »Denn ›Ereignis‹ seit 1936 das Leitwort meines Denkens.« (HB, 316)
Und wiederholt dies 1957 im Vortrag Der Satz der Identität: »Das Wort Ereignis soll jetzt, aus der gewiesenen Sache her gedacht, als Leitwort im Dienst des Denkens sprechen.« (ID, 45)
Dieses »Leiten« bedeutet auch, dass die Ergebnisse des Gedankenweges ungefähr 15 Jahre in seinen späteren Werken immer noch präsent sind, obwohl oft nur thesenhaft oder überhaupt im Hintergrund, wo sie aber die ganze Weise des Denkens bestimmen und den ganzen Gedankengang organisieren. Dies bedeutet seinerseits, dass die späteren – seit der Mitte der 40er Jahre entstandenen – Werke Heideggers ohne diese Abhandlungen zum Ereignis nicht recht verstanden werden können. Die Bestimmung des Humanismus in dem bekannten Humanismusbrief von 1946, »daß es demzufolge gerade nicht auf den Menschen, lediglich als solchen, ankommt« (HB, 345), kann nur in dem Kontext interpretiert werden, wo der Mensch seine Stellung als Grund verloren hat. Wenn im Humanismus »das Wesen des MenDazu siehe: »Nietzsche treibe die idealistische Selbstermächtigung aber weiter in ein Äußerstes […].« (Seubert, 8) Und es ist nicht zu vergessen, dass die Gegenfigur zur Nietzsche für Heidegger Hölderlin ist, der, zwar als Dichter, dem Anfang ganz nahe stand.
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Martin Heidegger (1889–1976)
schen als wesentlich genommen sein möchte« (HB, 345), verlangt es, »das Wesen des Menschen anfänglicher zu erfahren« (HB, 345). Dies bedeutet, den Menschen so zu erfahren, dass »das Sein den Menschen als den ex-sistierenden zur Wächterschaft für die Wahrheit des Seins in diese selbst ereignet« (HB, 345). Das Sein ereignet den Menschen, sein Wesen ist nicht in ihm selbst begründet, sondern von einem Anderen ereignet. Das Wesen des Menschen besteht in der Wächterschaft dieses Anderen, in der Zugehörigkeit zu ihm. Im Humanismus kommt es auf dieses Andere an. Wenn Heidegger 1962 in dem bekannten Vortrag Zeit und Sein schreibt: »Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im »Es gibt Sein«, »Es gibt Zeit«, als das Ereignis« (ZS, 24), lässt sich dies auf das Denken des Anfangs, der das Sein und seine Geschichte schickt, zurückführen. Und wenn er weiter darauf hinweist, dass »wir das Ereignis nie vor uns stellen können, weder als Gegenüber, noch als das alles Umfassende« (ZS, 28), wiederholt er das schon vor 30 Jahren Gesagte – das Ereignis ist kein Gegenüber, es ist das, was ein Gegenüber erst möglich macht, es ist das »Beziehen, das die Bezogenen erst zu ihnen selbst bringt« (BPh, 470 f). Wird in den Beiträgen das Ereignis als solches als anfängliches Beziehen bestimmt, so wird auch der Satz aus dem Vortrag Der Satz der Identität (1957) verständlich: »Das Ereignis vereignet Mensch und Sein in ihr wesenhaftes Zusammen.« (ID, 47) Der Mensch kann dem Sein nur zugehören, weil das Ereignis sie zusammengehören ließ, weil es das Sein dem Menschen gegeben hat und umgekehrt. Durch ein solches Geben ist die Möglichkeit für die Metaphysik gegeben, die sich statt der Zugehörigkeit zum Sein als ein Denken über das Sein als einen ihr gegenüberstehenden Gegenstand vollzieht. Andererseits sollte man nicht denken, dass mit dem großen Textkorpus zur Ereignisthematik auch die Entwicklung dieses Gedankenweges aufhört. Die Notizen zum Ereignis hat Heidegger bis zum Anfang der 70er Jahre gemacht. 46 In den veröffentlichten Schriften Die Notizen sowohl zum früheren Ereignisdenken als auch die ganz späten sind im Band 73 der Gesamtausgabe unter dem Titel Zum Ereignis-Denken von Peter Trawny herausgegeben. Was verwunderlich ist, ist, dass diese Notizen nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet sind! Man kann zwar vermuten, dass innerhalb einer Thematik die Zitate chronologisch geordnet sind, es werden aber keine Angaben zum Jahr des jeweiligen Textabschnittes gemacht. Es wäre aber unendlich interessanter, die Entwicklung und Veränderung des Ereignisdenken Heideggers in einem Band (genauer gesagt: in zwei Bänden, da Band 73 aus zwei Bänden besteht) zu beobachten – auch was die Veränderung der Thematik betrifft.
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
findet man Sätze, die klarer und deutlicher eine These über das Ereignis als die früheren Ereignis-Texte ausdrücken, was bedeuten könnte, dass in ihnen bestimmte Gedanken zumindest vorläufig zum Abschluss gekommen sind. Aber in einer Hinsicht erlebt das Ereignisdenken Heideggers in der Mitte der 40er Jahre sogar eine bedeutsame Wandlung. Es geht um das Denken des Ortes. 47 Dieser Ort ist aber grundsätzlich als Ort des Ereignisses der Wahrheit zu verstehen. In dem Denken des Ortes wird das Ereignis verortet. Wo? Nicht mehr nur am Anfang einer Geschichte, nicht mehr nur im Verborgenen dieser Geschichte, nicht nur überall, wo ein Seiendes für das Dasein aufleuchtet (wenn auch unbedacht), sondern hier und jetzt. Das Ereignis ereignet sich dort, wo ein Krug (Das Ding, 1950), eine Brücke (Bauen Wohnen Denken, 1951) oder ein Kunstwerk (Die Kunst und der Raum, 1969) sind; oder wo ein Dichter in der Nähe des Ursprungs dichtet und ein Denker anfänglich denkt. Das Dasein wird seinerseits zum Eingelassen-Werden an einen Ort. Mit der Verortung des Ereignisses an einem konkreten Ort wird es auch selbst konkreter, »weltlicher«. Das Ereignis muss in der Tat immer nur als ein konkretes Ereignis verstanden werden. Es ist nicht etwas, es gibt keine allgemeine Definition von ihm: »Was bleibt zu sagen? Nur dies: Das Ereignis ereignet.« (ZS, 29)
47 Im Seminar in Le Thor 1969 teilt Heidegger seinen Denkweg in drei Abschnitte ein: »Drei Worte, die, indem sie einander ablösen, gleichzeitig drei Schritte auf dem Weg des Denkens bezeichnen: SINN – WAHRHEIT – ORT (τόπος).« (S, 344) Nach seiner Auseinandersetzung mit dem Sinn (des Seins), der Wahrheit (als Ereignis) folgt das Denken des Ortes. Die Frage bleibt allerdings, wann genau diese Wandlung zum Denken des Ortes geschieht. Man könnte nämlich vermuten, dass sie dann geschieht, wenn Heidegger die Wahrheit als Lichtung bestimmt und er macht dies schon in der Mitte der 30er Jahre (zum Beispiel in den Beiträgen). Wir vertreten hier aber die Meinung (die wir später begründen werden), dass das eigentliche Denken des Ortes dann beginnt, wenn Heidegger nicht mehr die Lichtung der Wahrheit, die überall west, denkt, sondern dann, wenn er einen konkreten Ort zu denken beginnt, und dies geschieht in der Mitte der 40er Jahre.
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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
Wenn wir jetzt, was das Ereignis betrifft, aus der Philosophie Heideggers heraus in die französische Tradition des Ereignisdenkens hineinspringen, dann nicht deswegen, weil sein Denkansatz genau hier eine direkte Fortsetzung finden würde. Die Beiträge als die erste große, dem Ereignis gewidmete Abhandlung werden erst 1989 veröffentlicht und sind immer noch weder in Deutschland noch in Frankreich hinreichend rezipiert. Diese Tatsache mindert natürlich nicht den enormen Einfluss Heideggers auf die französische Philosophie seit dem Zweiten Weltkrieg, nur ist das nicht der Einfluss seiner systhematischen Ereignisphilosophie – zumindest nicht ein direkter. Man könnte natürlich versuchen, die flüchtigen Linien einer indirekten Einwirkung von Heideggers Ereignisdenken durch seine veröffentlichten und in Frankreich sehr wohl bekannten Schriften auf das dort allmählich und zerstreut entstehende Ereignisdenken aufzudecken. 48 Ein solches Unternehmen könnte aber auch zu falschen Vorstellungen führen. Es könnte zum Beispiel den Eindruck erwecken, dass es eine philosophische Richtung namens Ereignisphilosophie in Frankreich gibt und dass sie ihre Quelle im Heidegger’schen Konzept des Ereignisses hat. Es gibt aber keine solche philosophische Richtung 49. Man könnte zum Beispiel aufzeigen, wie Heideggers Denken der Differenz das Ereignisdenken von Deleuze und Derrida inspiriert hat; oder wie seine NietzscheBände, die eine besondere Art der Geschichtsschreibung darstellen, das Ereignisdenken von Deleuze und Foucault beeinflusst haben; oder wie seine Bestimmung des Menschen ihre, zwar veränderte, Fortsetzung im Ereignisdenken der französischen Phänomenologie (Merleau-Ponty, Levinas, Marion) findet; oder wie seine Überlegungen zur Gabe die gegenwärtige Gabe-Diskussion (Derrida, Marion), die ein Teil der Ereignisproblematik ausmacht, maßgeblich bestimmt hat. Jedes dieser Themen fordert eine philosophiegeschichtliche Forschungsarbeit für sich. Wir beschränken uns hier wirklich nur auf die ereignisphilosophisch systhematischen Aspekte dieser Zusammenhänge. 49 Wie Bernhard Waldenfels dies ausdrückt: »Einen ›Eventismus‹ hat es meines Wissens bis heute nicht gegeben.« (Waldenfels(2004), 447) 48
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Oft – auch in der Philosophie von Merleau-Ponty – wird das Wort »événement« gar nicht gebraucht. 50 Es handelt sich hier um zerstreute und unterschiedliche Denkansätze, die mit ihren jeweiligen Mitteln etwas umschreiben, was wir dann als Ereignis wiedererkennen können. Und ob die Inspiration für diese Annäherung an das Ereignishafte immer Heideggers Philosophie gewesen ist, darf bezweifelt werden. Dieses philosophiegeschichtlich gesehen nur indirekte Verhältnis von Heideggers systhematischen Ereignisdenken und der gegenwärtigen kontinentalen Philosophie des Ereignisses bedeutet allerdings nicht, dass in systematischer Hinsicht keine Vergleichsmöglichkeiten zwischen ihnen bestehen. Ganz im Gegenteil. Und mehr: Das heutige Ereignisdenken kann aus der alten und unbekannten Quelle der Heidegger’schen Ereignisphilosophie, so wie sie im Text-Korpus zum Ereignis dargestellt wird, neue Ideen schöpfen. Wenn wir jetzt Merleau-Ponty gleich nach Heidegger in die Liste der bedeutsamsten Ereignisdenker aufnehmen, dann nicht deswegen, weil er in der Nachkriegszeit im französischsprachigen Raum als erster eine Philosophie des Ereignisses entwickelt hätte. Das wäre eine völlig übertriebene Behauptung. Aber er ist in seiner Philosophie zu bestimmten Gedanken gekommen, die später eine bedeutende Rolle bei vielen Ereignisdenkern (zum Beispiel bei Levinas, Marion, Romano) spielen. Seine Bedeutung für das Denken des Ereignisses ist aber auf keinen Fall nur philosophiegeschichtlich zu bewerten. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass ohne die Ideen, die MerleauPonty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt und formuliert, das Ereignis heutzutage nicht so denkbar wäre, wie es gedacht wird. Von welchen seiner Ideen sprechen wir? In dem im Jahr 1945 erschienen Werk Phénoménologie de la perception – seinem Hauptwerk – versucht Merleau-Ponty, das Wesen der Wahrnehmung zu beschreiben. Dabei ist die Wahrnehmung für ihn auf keinen Fall nur ein Moment des Erkenntnisprozesses bzw. Bewusstseinslebens, sondern ein grundlegender Bezug des Menschen zur Welt. Man könnte sogar sagen, dass für Merleau-Ponty die Wahrnehmung die Existenzweise des Menschen ist. Sein heißt wahrnehmen. Insofern der Akteur der Wahrnehmung der Leib ist, wird die menschliche Existenz grundsätzlich als leiblich, als inkarniert beTed Toadvine schreibt diesbezüglich: »The inclusion of Merleau-Ponty in a history of the concept of the event may seem unusual, given that the term événement rarely occurs as a part of his technical vocabulary.« (Toadvine, 121)
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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
stimmt. Wir leben kein reines geistiges Leben, sondern ein leibliches Leben bei den Dingen der Welt. Das Verhältnis von Mensch und Welt wird nicht nur in Phénoménologie de la perception problematisiert – es ist das Kernproblem der Philosophie Merleau-Pontys. Noch 1942 – in La structure du comportement – bestimmt Merleau-Ponty dieses Verhältnis als »Verhalten«, später als Wahrnehmung, deren Verständnis ändert sich aber im Laufe seiner Philosophie. Wird sie in Phénoménologie de la perception noch phänomenologisch (also in Hinsicht auf ein Bewusstseinsleben) interpretiert, verwandelt sie sich zu einer ontologischen Kategorie in seinem späteren Werk: zum Beispiel in Le visible et l’invisible (unvollendet, postum erschienen 1964). Bei der Beschreibung der Wahrnehmung in Phénoménologie de la perception setzt sich Merleau-Ponty von zwei anderen Denkansätzen, die die Wahrnehmung zum Thema machen, ab: vom Empirismus und Intellektualismus. Eine empiristische Theorie der Wahrnehmung behandelt die Wahrnehmung als einen physiologischen Prozess, wo die äußerlichen Reize im Inneren des Körpers bearbeitet werden. Sie kommt ohne jeden individuellen Wahrnehmenden aus, d. h. sie schließt das Bewusstseinsleben von ihren Betrachtungen aus, mehr noch: Sie reduziert das Bewusstsein auf physiologische Prozesse, indem sie glaubt, es empirisch vollständig beschreiben zu können. Eine intellektualistische Theorie der Wahrnehmung glaubt dagegen nicht, das Bewusstsein und seine Objekte auf die Bearbeitung physischer Daten reduzieren zu können. Stattdessen setzt sie ein reines Bewusstsein voraus, das die Funktion hat, die Objekte erst zu konstituieren. Diese Funktion wird allerdings als eine erkennende, d. h. als begriffliche und logisch schließende bestimmt. Die Wahrnehmung wird somit zu einem Akt der Erkenntnis. Für die empiristische Position ist es charakteristisch, dass sie nur den physisch-physiologischen Körper sieht, für die intellektualistische Position: das Fokussieren auf die innere Tätigkeit und das Leben eines erkennenden Wesens, das sich von der Welt und seinem eigenen Körper distanzieren kann. Jede Theorie der Wahrnehmung verbirgt also in sich eine bestimmte Vorstellung vom Menschen und seiner Existenz. So ist für Merleau-Ponty die Phänomenologie der Wahrnehmung der Ort, wo der Streit um die Bestimmung des Menschen und seiner Seinsweise ausgetragen wird. Gegen den Empirismus behauptet Merleau-Ponty, dass die Wahrnehmung nicht die Aufnahme von physisch bestimmbaren Daten ist: 61 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
»Wahrnehmung ist nicht das Erleben einer Mannigfaltigkeit von Impressionen, die zu ihrer Ergänzung geeignete Erinnerungen nach sich ziehen, sondern die Erfahrung des Entspringens eines immanenten Sinnes aus einer Konstellation von Gegebenheiten […].« (PhW, 42/PhP, 30)
Wenn aber die Wahrnehmung die Erfahrung eines »Sinnes« (sens) ist, heißt es noch nicht, dass sie ein intellektueller Akt ist: »Wahrnehmung ist nicht den Synthesen des Urteils, der Akte oder der Prädikation zu assimilieren.« (PhW, 6/PhP, IV)
Wenn wir wahrnehmen, haben wir also mit einem Sinn zu tun, der nicht durch eine begriffliche und logische Erkenntnis konstituiert wird, sondern durch die Wahrnehmung, die ein »ursprüngliches Erkennen« (connaissance originaire) (PhW, 66/PhP, 53) darstellt. Als Subjekt einer so verstandenen Wahrnehmung bestimmt MerleauPonty den »Leib« (corps). Der Leib ist wiederum – einerseits – kein Gegenstand, keine Maschine, die irgendwelche Eingangsdaten bearbeitet und entsprechend eine Reaktion auslöst, und – andererseits – ist der von ihm gegebene Sinn nicht auf eine Objekterkenntnis reduzierbar: Der Leib hat eine »präobjektive Sicht« (vue préobjective) (PhW, 104/PhP, 94). Ein solches ursprüngliches Erkennen durch eine präobjektive Sicht ist für Merleau-Ponty nicht bloß ein Moment des menschlichen Daseins: Es ist sein grundlegendstes Geschehnis, sein »Zur-Welt-sein« (être au monde) 51. Ich bin mir »der Welt bewußt durch das Mittel des Leibes« (PhW, 106/PhP, 97). Ich existiere als Wahrnehmung. Und mein Leib ist nicht bloß ein Teil von mir oder sogar etwas, was ich als reiner Geist habe und nach Belieben transzendieren kann, sondern »ich bin mein Leib« (je suis mon corps) (PhW, 180/PhP, 175). Ich bin weder eine Maschine, noch mein inneres Leben, noch ein denkender Geist oder sogar ein transzendentales Subjekt, das in einem uneinholbaren Zentrum meines Inneren die Gegebenheiten konstituiert, sondern mein Leib. Ich bin mein Leib und ich bin zur Welt, was eigentlich dasselbe bedeutet. Die Leiblichkeit impliziert allerdings auch, dass ich die Welt durch die Bewegungen meines Leibes erkunde, dass ich ständig durch meinen Leib auf die Welt einwirke. Die Wahrnehmung ist nicht der Blick vom Inneren nach außen auf etwas, sondern immer ein Agieren in einer Situation. Ein Leib zu sein heißt, immer mittendrin in einer Situation der Welt In Le visible et l’invisible wird Merleau-Ponty von der »Öffnung zur Welt« (ouverture au monde) (SU, 57/VI, 57) sprechen.
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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
zu handeln. Diesen Aspekt nennt Merleau-Ponty die »Räumlichkeit des Leibes« (spatialité du corps). Für die Philosophie des Ereignisses als des Aus-sich-Heraustretens, der Begegnung mit dem Anderen sind besonders das Verhältnis von Wahrnehmung und Selbst-Bewusstsein und das von wahrgenommenem Sinn und einem Bewusstseinsobjekt wichtig. Wenn Merleau-Ponty das Ich als Leib und seinen Bezug zur Welt als Wahrnehmung bestimmt, dann bedeutet das keine Reduktion des Menschen auf das Körperliche. Der Leib nimmt Sinn wahr, der sich von einem gegenständlichen Sinn unterscheidet. Er ist auf etwas gerichtet, hat eine Intentionalität, er versteht etwas, aber völlig anders als das vorstellende und denkende Bewusstsein: »So meldet sich hier eine von objektiver Wahrnehmung sich unterscheidende Wahrnehmungsweise, eine von intellektueller Bedeutung verschiedene Bedeutungsart, eine Intentionalität, die nicht ein bloßes »Bewußtsein von etwas« ist.« (PhW, 188/PhP, 183)
Es geht um den Unterschied zwischen der Erfahrung, die ich mache, wenn ich in Bezug auf etwas feststelle, dass dies ein Stuhl ist, und der Erfahrung, die ich als Leib sitzend auf dem Stuhl mache, während ich in mir diese Feststellung über den Stuhl als Stuhl mache. Es geht nicht bloß darum, dass ich den Stuhl aus welchem Grund auch immer plötzlich sinnlich erfahren wollte und dass ich zum Beispiel versuchen würde, mit meinem Tastsinn seine Form, sein Relief etc. zu spüren. Das wäre immer noch eine objektive Wahrnehmung – vermittelt durch den Begriff; oder besser: verunreinigt durch den Begriff. Für Merleau-Ponty geht es aber um die Erfahrung vom Stuhl, die der Leib selbst macht, während ich gar nicht weiß, dass er diese Erfahrung macht, weil ich nämlich mit etwas anderem beschäftigt bin. Und natürlich: Sogar dann, wenn ich wissen wollte, was er erfährt (er erfährt ja keinen Stuhl durch einen Begriff!) und wie er das macht (wie weiß er, wie man auf einem Stuhl sitzt, wie man nicht herunterfällt, wo die Rückenlehne ist?), könnte ich in meiner Reflexion diese Erfahrungen nicht einmal annähernd so haben, wie sie mein Leib hat. Für Merleau-Ponty wäre es falsch, zu behaupten, dass der Leib nur irgendwelche physischen Einzeldaten bearbeitet und entsprechend reagiert. Nein, er arbeitet mit sinnvollen Einheiten, die er versteht und verstehend vollzieht. Während ich mit meinem Bekannten rede, nähert sich der Leib dem Stuhl (der Stuhl ist als ein sinnvolles Ganzes da), setzt sich hin (dies ist eine sinnvolle Bewegung und nicht mehrere 63 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
mechanische Operationen), macht sich bequem (wiederum nur eine sinnvolle Aktion und nicht eine Menge Reaktionen auf alle Kanten, Flächen und Winkel des gegebenen physischen Dinges). Der Leib sieht den Stuhl; er sieht, wo der Stuhl steht; er sieht, wie dieser konkrete Stuhl aufgebaut ist (zum Beispiel mit oder ohne Rückenlehne) und wie man auf ihm sitzen kann. Aber dies ist ein anderes als objekthaftes Sehen und das Gesehene ist nicht gegenständlich. Und dieses andere Sehen können wir mit unserem begrifflichen Denken nie mitvollziehen und in diesem Sinne begreifen: »Nichts ist schwerer zu wissen, als was wir eigentlich sehen.« (PhW, 82/ PhP, 71)
So deckt Merleau-Ponty in seiner Analyse der Wahrnehmung eine Dimension im Menschen auf, die zwar immer noch menschlich ist (sie ist nicht mechanisch oder organisch), aber sich vom für sich selbst durchsichtigen Bewusstsein unterscheidet und ihm nicht zugänglich ist. Mein Leib nimmt wahr, versteht und handelt, aber meinem begrifflichen Denken, mir als einem Subjekt der Reflexion, entzieht er sich. Ich bin mein Leib, aber für ein Ich, das alles und sich selbst denkt und begrifflich durchschaut, ist der Leib das dem Ich Andere mit seinem eigenen Leben: »Wollte ich infolgedessen die Wahrnehmungserfahrung in aller Strenge zum Ausdruck bringen, so müßte ich sagen, daß man in mir wahrnimmt, nicht daß ich wahrnehme. Jede Empfindung trägt in sich den Keim eines Traumes und einer Entpersönlichung […].« (PhW, 253/PhP, 249)
Mein Leib nimmt den Stuhl wahr, während ich hier sitze und schreibe, und sein wahrgenommener Stuhl ist nicht mein Stuhl, den ich jetzt denke, und er wird niemals meiner werden: es handelt sich hier um eine unauflösbare Differenz. Dass Merleau-Ponty Wahrnehmung und Reflexion, Intentionalität des Leibes und Intentionalität des gegenständlichen Bewusstseins, den wahrgenommenen und den gedachten Sinn unterscheidet, bedeutet nicht, dass er eine Art LeibSeele-Dualismus wiedereinführen will. Ganz im Gegenteil: Es geht bei ihm um die »Einheit [union – L. P.]) von Leib und Seele« (PhW, 114/PhP, 105), so allerdings, dass der Leib die Einheit bildende und ursprünglichere Funktion übernimmt – das Subjekt ist eins, indem es der Leib ist. Es geht um ein grundsätzlich »inkarniertes Subjekt« (sujet incarné) (PhW, 185/PhP, 180) – »es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt« 64 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
(PhW, 7/PhP, V). Als leibliches ist das Subjekt immer zur Welt, und sogar dann, wenn es bei sich ist, ist es auch bei der Welt: »Alles Bewußtsein ist in irgendeinem Grade Wahrnehmungsbewußtsein.« (PhW, 450/PhP, 452). Und das inkarnierte Subjekt ist zuerst zur Welt, und nur deswegen kann es auch bei sich sein: »»Ich bin zu mir«, indem ich zur Welt bin.« (PhW, 463/PhP, 466). Das Denken ist somit eine Möglichkeit des Zur-Welt-Seins, es ist nicht von der Welt abgehoben, es betrachtet sie nicht von außen und noch weniger konstituiert es sie. Die Welt ist »das Milieu [milieu – L. P.] und gleichsam die Heimat [patrie – L. P.] all unseres Denkens« (PhW, 44/PhP, 32). Wir denken in einer Welt und zu einer Welt, die uns durch die Wahrnehmung gegeben ist, und in diesem Sinne ist das denkende Subjekt passiv empfangend gegenüber der Wahrnehmung, die das Subjekt in seinem Bewusstsein überhaupt erweckt und belebt: »Jedes Bewußtsein ist in der Welt geboren, und jede Wahrnehmung ist eine Neugeburt des Bewußtseins.« (PhW, 25Anm.4/PhP, 13n.20) Hinsichtlich der Zeit entsteht bei einer solchen Betrachtung eine interessante Situation. Erstens ist die Zeit der Wahrnehmung, d. h. des tieferen und ursprünglicheren Bewusstseins, nicht die bewusste Zeit, die Zeit des Selbstbewusstseins, sondern die leibliche Gegenwart, wo das Sein und das Bewusstsein »eins sind«: »Doch dieses letzte Bewußtsein ist kein ewiges Subjekt, das seiner selbst in absoluter Durchsichtigkeit gewahr würde, denn ein solches Subjekt wäre auch schon für immer unfähig, je in die Zeit herabzusteigen, und hätte also mit unserer Erfahrung nichts gemein; jenes letzte Bewußtsein ist vielmehr das Bewußtsein der Gegenwart. In der Gegenwart, in der Wahrnehmung, sind mein Sein und mein Bewußtsein gänzlich eins […]. (PhW, 482/PhP, 485)
Das bedeutet: Im Moment der Wahrnehmung stehe ich nicht einem Objekt gegenüber, sondern bin das, dessen ich mir bewusst bin: »Ich, der ich das Blau des Himmels betrachte, stehe nicht ihm gegenüber als ein weltloses Subjekt […]; ich überlasse mich ihm, ich versenke mich in dieses Geheimnis, es »denkt sich in mir«, ich bin der Himmel selbst [je suis le ciel même – L. P.] […].« (PhW, 252/PhP, 248)
Zweitens bleibt für die bewusste Zeit die leibliche Gegenwart uneinholbar, weil sie »älter ist als alles Denken« (plus vieille que la pensée) (PhW, 296/PhP, 294). Sie ist älter als alles Denken nicht in dem Sinne, dass sie lange zurückliegt, sondern im Sinne, dass das Denken sie in ihrer Ursprünglichkeit überhaupt nie erreicht hat – es geht um »eine 65 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Vergangenheit nämlich, die niemals Gegenwart war« (un passé qui n’a jamais été présent) (PhW, 283/PhP, 280). Die Wahrnehmung ist so alt, dass es keine Erinnerung von ihr gibt und geben kann, insofern es eine Vergegenwärtigung (Erinnerung) nur davon geben kann, was gegenwärtig gewesen ist. Das Bewusstsein kann versuchen, zu dieser ursprünglichen Gegenwart zurückzukehren, das ist aber nicht möglich, weil sie immer schon vergangen ist, und das, was man sich dann später zum Bewusstsein bringt, ist nicht mehr sie: »[D]ie Gegenwart, die sie [die verallgemeinerte Zeit – L. P.] uns zuträgt, ist niemals volle Gegenwart, denn sie ist schon vergangen, sowie sie erscheint […].« (PhW, 514/PhP, 516) 52
Wenn es also um die Wahrnehmung geht, ist die Rede von geistiginkarnierten Prozessen des Menschen, denen gegenüber das Selbstbewusstsein in einer gewissen Passivität, Abgeleitetheit und dem Verzug steht. In der Tat entwickelt Merleau-Ponty diesen Gedanken in der Auseinandersetzung mit Bergson, Husserl und Heidegger, wobei besonders Husserl mit seinem Augenmerk auf den Leib, seiner Idee von der »passiven Synthesis« und seiner Analyse des »inneren Zeitbewusstseins« ihn diesbezüglich beeinflusst haben soll. 53 Es kommt hier aber noch ein wichtiger Aspekt hinzu, ohne den es eigentlich nicht berechtigt wäre, das Denken Merleau-Pontys im Kontext des Ereignisdenkens zu erörtern, und der vielleicht erklärt, warum diese und andere seiner Ideen und Formulierungen den Eingang in die Ereignisphilosophie gefunden haben. Um welchen Aspekt geht es hier? Wir verstehen schon, dass die den Sinn wahrnehmenden Prozesse »[L]e présent qu’il nous apporte n’est jamais présent pour de bon, puisqu’il est déjà passé quand il paraît […].« Noch mehr: Es ist nicht nur so, dass das, was das Bewusstsein erreicht, nicht mehr das ist, was es war. Das Bewusstsein hat die Tendenz, zu denken, dass das Erscheinende das ist, was es war, weil es überzeugt ist, dass es schon immer – bei allen seinen Bezügen zur Welt – dabei war und sich nur daran erinnern muss. Merleau-Ponty nennt diese Überzeugung »der Gipfel der Täuschung« (illusion des illusions) (SU, 58/VI, 59). Dieser Gedanke wird zum Kerngedanken Derridas werden. 53 Husserls Idee von der passiven Synthesis ist sehr bedeutend für die gegenwärtige französische Philosophie, die unter anderem oder sogar wesentlich das Denken der Passivität, der Ausgesetztheit dem Anderen gegenüber, des Ereignisses ist. Unter Kenntnis davon hat Rolf Kühn – ein Fachmann für die französische Philosophie – ein Buch veröffentlicht: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie. Freiburg/München: Alber, 1998. Als Anhang enthält es auch den Einblick in den Einflussbereich dieses Gedankens in der französischen Phänomenologie. 52
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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
keine mechanischen bzw. physiologischen sind. Sie betreffen uns als Menschen, sie sind sinnbildend, sie geben uns das menschliche Leben, das wir leben. Doch wir haben keinen Zugang zu ihnen. Ist dies eine Art unbewusstes Leben? Das Unbewusste? Die Tiefe? Nicht für Merleau-Ponty. Und das ist entscheidend. Das ist auch der Punkt, wo er sich von Bergson und teilweise auch von Husserl absetzt und mehr Gemeinsamkeiten mit Heidegger – insbesondere mit seinem Konzept von In-der-Welt-Sein – aufweist. Wir würden ihn nicht mit dem Ereignisdenken zusammenbringen, wenn er schlicht eine ursprüngliche Passivität in der Immanenz des Lebens behaupten würde. Solche Prozesse sind für uns keine Ereignisse. Das Ereignis ist nicht im Selbstbewusstsein zu finden, aber es geschieht auch nicht als ein unbewusster Prozess – es wird erfahren und es wird als die Störung des Selbstbewusstseins erfahren. 54 Die leibliche Konstitution meiner Handbewegung oder eines Briefkastens ist kein Ereignis, wohl aber ein plötzlicher Stich in meiner Hand, der die Bewegung hindert, oder ein Brief, der mich zusammenbrechen lässt. Die Wahrnehmung ist für Merleau-Ponty kein dem Leben immanenter Prozess, sondern die Begegnung mit der Welt: »Das Empfinden ist die lebendige Kommunikation [communication vitale – L. P.] mit der Welt […].« (PhW, 76/PhP, 64) Wenn wir wahrnehmen, haben wir nicht mit unserer »Innenwelt« (monde intérieur), den »Bewußtseinszuständen« (état de conscience) oder »psychischen Tatsachen« (fait psychique) (PhW, 81/PhP, 69 f) zu tun. Wenn wir leiblich wahrnehmen, sind wir nicht bei uns (weder im Sinne einer immanenten Passivität noch Reflexion), sondern bei den Sachen der Welt, wir sind zur Welt: Es geht hier also um einen Prozess, der weder vom Bewusstsein eingeholt werden kann noch sich ohne jedes Bewusstsein abspielt. Die Rede ist vom Transzendieren des Bewusstseins. Genau an diesem Punkt liegt Merleau-Pontys Kritik an Sartre. Sartre konnte den Bezug zum äußeren Sein nicht bestimmen, weil er das Bewusstsein, indem er es als ein Nichts bestimmen hat (während der Intellektualismus es als alles bestimmt hat), im Sein aufgelöst hat: »Eine Philosophie des Denkens und unserer immanenten Gedanken verfügt über keine Offenheit für das Sein – aber einer Philosophie des Nichts und des Seins geht es nicht besser, denn in diesem Falle wie auch im anderen ist das Sein nicht ernstlich fern, in Distanz. Das Denken ist zu sehr in sich selbst abgeschlossen, doch das Nichts ist zu sehr außer sich, als daß man von einer Offenheit für das Sein sprechen könnte, und in dieser Hinsicht unterscheiden Immanenz und Transzendenz sich nicht.« (SU, 122/VI, 122) Denken wir ein »Über-Sein« (sur-être) (SU, 104/VI, 105), wo das Sein und Nichts unterschiedlos werden, können wir die Wahrnehmung nicht verstehen. Das Ereignis geschieht nicht mit einem Man oder sogar mit einem Nichts, sondern immer mit jemandem.
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
»Meine Wahrnehmung bezieht sich auf keinen Bewußtseinsinhalt: sie bezieht sich auf den Aschenbecher selbst.« (PhW, 303/PhP, 301)
Obwohl ich in der Wahrnehmung eins mit dem Wahrgenommenen bin, behält es seine Andersheit: »Und doch haben wir den Sinn des Dinges nicht erschöpft, wenn wir es als Korrelat unseres Leibes bestimmen. […] Ein wahrgenommenes Ding, so sagten wir, sei nicht denkbar ohne einen es Wahrnehmenden. Und doch präsentiert sich das Ding auch dem noch, der es wahrnimmt, als Ding an sich, und stellt so das Problem eines echten An-sich-für-uns.« (PhW, 372/ PhP, 372)
Das heißt: In der Wahrnehmung sind ich und der Himmel nicht eins, weil der Himmel ich bin und ich in meiner Immanenz verbleibe, sondern weil ich der Himmel bin, woraufhin ich transzendiere. Die Phänomenologie von Merleau-Ponty richtet den philosophischen Blick nicht bloß auf die Tiefe der Immanenz, sondern bestimmt diese Tiefe als den Ort, wo das Andere uns berührt, welche Berührung wir Ereignis nennen. Natürlich ist nicht jede Wahrnehmung ein Ereignis als eine besondere Berührung von etwas Besonderem, aber wenn das Ereignis geschieht, ist es leiblich. Denn einzig der Leib ist zum Transzendieren fähig. Wir werden in der Tat sehen, dass Levinas die Leiblichkeit als den Ort der Begegnung mit dem Anderen bestimmen wird; dass er diesen Ort als die Innerlichkeit, Sensibilität vor dem die Objekte konstituierenden Subjekt charakterisieren wird; und dass die Zeit dieser Begegnung für ihn eine »unvordenkliche Vergangenheit« sein wird, »die älter ist als jede Gegenwart« und »niemals Gegenwart war«, und in Bezug auf die wir uns immer in einer »unaufholbaren Verspätung« befinden. Unter einem besonderen Einfluss von Heideggers Metaphysikkritik, die versucht, das vorstellende, d. h. gegenständliche Denken zu überwinden, wird Derrida das Ereignis als dasjenige bestimmen, das auf keinen Fall in der Präsenz erscheinen darf. Das Ereignis ereignet sich dann, wenn man nicht bei sich selbst ist und sich selbst durchschaut. Kommt etwas zur Erscheinung in der Gegenwart des Bewusstseins, ist es nicht mehr das, was es war – das Ereignis ist zerstört. Marion wird vor einem aktiv-konstituierenden und begrifflich denkenden Subjekt einen Empfänger des Ereignisses – den adonné – setzen und ihn unter anderem auch leiblich bestimmen; auch Marion wird sagen (hier allerdings auch unter Einfluss von Henry): »ich habe ihn [den Leib, chair – L. P.] nicht, sondern bin er« (je ne l’ai pas, mais la suis). Er wird behaupten, dass dieses leibliche 68 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)
Subjekt, so wie es bei sich ist, »sich ganz und gar aus dem empfängt, was es empfängt«, und dass es in Bezug auf das Ereignis, das es empfängt, in einer »Verspätung« steht. Genauso wird Claude Romano die Gegenwart des Ereignisses von der bewussten Gegenwart unterscheiden und von der »Verspätung« der Letzteren gegenüber der Ersteren sprechen. Das Ereignis des Seins bei Heidegger ist der Einbruch des Anderen, des Neuen in das Bestehende, es verwandelt den Betroffenen ins Dasein, es ist das Transzendieren des Daseins auf das Andere hin. Und es ist nie als ein Objekt für ein Subjekt denkbar – schon deswegen nicht, weil es der Anfang, die Möglichkeit eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses ist. So ist das Ereignis an sich schon die Kritik des vorstellenden und begrifflichen Denkens: es ist das, was sich diesem Denken entzieht; es ist das, was mit dem Dasein geschieht und nie sein Gegenstand sein kann. Für die französische Philosophie des Ereignisses gibt Merleau-Ponty unter dem Einfluss von Husserls Analysen der passiven Synthesis die Möglichkeit, das Ereignis auf der Ebene des Leibes zu beschreiben. Das Ereignis ist leiblich, das Andere trifft unseren Leib, der Leib transzendiert auf das Andere hin, das Ereignis ist denkerisch uneinholbar, weil sich vor dem Denken ereignend, weil das Denken überschreitend. Aber eine Philosophie des Ereignisses muss nicht unbedingt mit dem Konzept des Leibes arbeiten – weder Heidegger noch später Deleuze oder Derrida tun das. Doch – mit dem Leib oder ohne ihn – geht es im Falle des Ereignisses immer noch um die Uneinholbarkeit eines Anderen durch das gegenständliche Denken, zu dem dieses Ereignis in einer niemals auflösbaren Differenz steht.
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Emmanuel Levinas (1906–1995)
»Ma philosophie – est une philosophie du face-à-face. Relation avec autrui, sans intermédiaire. C’est cela le judaïsme.« (CC, 186) »Un élément essentiel de ma philosophie – ce par quoi elle diffère de la philo. de Heidegger c’est l’importance de l’Autre.« (CC, 134)
In diesen Sätzen drückt Levinas – der französische Philosoph litauisch-jüdischer Herkunft – wahrscheinlich das Wesentlichste seiner Philosophie aus. Seine Philosophie ist – erstens – »eine Philosophie des Von-Angesicht-zu-Angesicht«, der »Beziehung mit dem Anderen«, die grundsätzlich von der Subjekt-Objekt-Beziehung zu unterscheiden ist. Das Objekt ist immer das Objekt des Subjekts, es befindet sich im Machtfeld des Subjekts, es ist eine bloße Verlängerung des Subjekts, es ist das Subjekt selbst, nicht etwas anderes, sondern »das Selbe« (le Même). »Das/der Andere« (l’Autre, l’Autrui) 55 kann aber für Levinas nicht als ein Objekt gesetzt werden. Es ist nicht das Selbe wie das Subjekt, sondern das Andere. Damit setzt sich Levinas von der Philosophie des deutschen Idealismus (insbesondere von Hegel) ab, der alles in einem absoluten Subjekt zu versammeln versucht, sodass jede Andersheit in diesem Subjekt integriert wird. Und damit setzt er sich von jeder Philosophie ab, die ausgehend von einem Ich denkt und das Andere in das Denken dieses Ich integriert: auch von der Phänomenologie (sowohl Husserls als auch Heideggers in Sein
In seinen Texten verwendet Levinas zwei Wörter: »l’Autre« und »l’Autrui«. »L’Autrui« bedeutet für ihn den anderen Menschen. »L’Autre« kann kontextabhängig sowohl den anderen Menschen als auch – unbestimmt – das Andere bedeuten. Es gilt aber für Levinas, dass »das absolut Andere« nur »der Andere« sein kann (TU, 44/ TI, 9). Um aber mögliche Vorentscheidungen in Bezug auf die Bestimmung des Ereignishaften zu vermeiden (zum Beispiel, dass es unbedingt eine Begegnung mit einem anderen Menschen sein soll), werden wir uns im weiteren Text bei der neutralen Form »das Andere« halten. Das Ereignis ist für uns das Andere, nicht unbedingt der Andere, obwohl auch das möglich ist.
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Emmanuel Levinas (1906–1995)
und Zeit). Das müssen wir ganz radikal verstehen: Levinas distanziert sich von jeder Philosophie, die das Andere als Objekt für das Subjekt setzt; er distanziert sich weiter von jeder Philosophie, die im Anderen vielleicht kein Objekt sieht, aber es in einer Philosophie des Subjekts als einen Teil seiner Seinsweise betrachtet; und damit distanziert er sich eigentlich von jeder Philosophie, die das Andere thematisiert, weil jede Philosophie, die das Andere thematisiert, es zum Objekt des Denkers macht und so seine Andersheit verliert. Das Andere ist nicht denkbar. Man kann mit einem Anderen nur in eine Beziehung treten, nicht aber es denken. Mehr noch: Das Denken zerstört das Andere. Und genau wegen dieser These gilt Levinas als Ereignisdenker. Aber das heißt auch: Nicht jeder Philosoph, der das Andere denkt, kann als Ereignisdenker gelten. Es ist eigentlich ganz im Gegenteil: Jeder, der sagt, dass er das Andere denkt, ist ganz bestimmt kein Ereignisphilosoph, obwohl es ganz richtig ist, dass eine Ereignisphilosophie das Andere, die Begegnung mit dem Anderen denkt. Man könnte in der Tat fragen, warum sind Hegel mit seinem Denken des Anderen und Kojèves Hegelianer in Frankreich von den 30er bis 60er Jahren des letzten Jahrhunderts (darunter auch Sartre oder Lacan) und sogar Levinas selbst in seinen früheren Werken und teilweise sogar noch in Totalité et infini (1961) keine Ereignisdenker, da sie doch ganz explizit das Andere zum Thema machen. Genau deswegen, weil sie eine Ontologie treiben, die die Seinsweise eines Subjekts, in der auch das/der Andere vorkommt, beschreiben. Es ist Levinas (und Derrida und vor ihnen Heidegger in seinem Ereignisdenken), die die Unmöglichkeit, das Andere in einem vorstellenden Denken zu denken, behaupten. Das Ereignisdenken denkt das Andere in dem Sinne, dass es unmöglich ist, es zu denken. Sie behaupten eine Differenz nicht zwischen dem Ich und dem Anderen (im Denken), sondern zwischen dem Denker und dem Ereignis des Anderen. Dies unterscheidet das Denken des Ereignisses von jedem Denken des Anderen, sei dies das Denken Hegels oder seines Kritikers Buber; sei dies die Phänomenologie oder Soziologie, Psychoanalyse oder Theologie. Die Philosophie Levinas’ ist eine Philosophie der absoluten Andersheit des Anderen, d. h. seiner Undenkbarkeit. Das Denken kann eine Beziehung mit dem Anderen sein, aber es kann das Andere nicht denkerisch erreichen. Das Andere ist also kein Produkt des Selben und für es unerreichbar – transzendent. Das Von-Angesicht-zu-Angesicht ist eine Beziehung, in der ihre Mitglieder absolut getrennt voneinander blei71 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
ben. Damit ist es für diese Beziehung charakteristisch, dass das Andere unerwartet in die Welt des Selben einbricht, dass das Selbe nicht bei sich selbst bleiben kann und aus sich selbst transzendieren muss. Dieses Sich-Verlassen ist das Verlassen des Bewusstseins, des reflexiven Denkens – dadurch tritt das zerstörte Selbe in die sinnliche »Nähe« (proximité) zum Anderen, das nicht mehr als ein bestimmtes Objekt erfasst, sondern als niemals erreichbare Andersheit erfahren wird. Diese Begegnung und Beziehung zu dem Anderen wird von Levinas nicht mit dem Wort »Ereignis« bezeichnet, doch mit ihrer Beschreibung charakterisiert er etwas, was im gegenwärtigen kontinental-philosophischen Raum als Ereignis verstanden wird. Eine Philosophie des Ereignisses ist immer eine Philosophie der Begegnung mit dem nicht auf das Subjekt reduzierbaren Anderen. Deswegen wird die von Levinas aufgedeckte Logik der Beziehung zum Anderen in vielen Punkten von solchen Philosophen übernommen, die sich explizit mit dem Ereignis beschäftigen. Die heutige Philosophie des Ereignisses ist ohne Levinas nicht denkbar. Auch in diesem Sinne ist er ein Denker des Ereignisses. In der Tat finden wir Versuche, ihn als einen Philosophen des Ereignisses auszulegen – hier muss insbesondere das Buch von Claver Boundja – Philosophie de l’événement. Recherches sur Emmanuel Lévinas et la phénoménologie (2009) – erwähnt werden. Zweitens: In dem Punkt, wo die interpersonale Beziehung zu der Transzendenz, die ursprünglich die menschliche Existenz prägt, behauptet wird, treffen sich die Philosophie Levinas’ und das Judentum. Als die Philosophie eines Denkers jüdischer Herkunft trägt die Philosophie Levinas’ die Spur des Erbes des Judentums in sich. Es heißt nicht, dass diese Philosophie eine konfessionelle Theologie darstellt. Eher stellt das Judentum eine neuartige Quelle des Denkens dar, die, philosophisch ausgelegt, einen neuen Horizont für das bisherige Denken – die Transzendentalphilosophie, den Idealismus, die Phänomenologie – eröffnen kann. 56 Als einer, der aus der Quelle der jüdischen Weltanschauung schöpft und sich aktiv mit dem Judentum und spe-
Eine schöne Formulierung über den Einfluss des Judentums auf die Philosophie in Bezug auf das Werk Levinas’ finden wir bei Rachid Boutayeb: »Sie [die Philosophie Levinas’ – L. P.] hat dazu maßgeblich beigetragen, weil es ihr gelungen ist, ihre Grundwerte bzw. religiösen Intuitionen in eine philosophische Sprache zu übersetzen, mehr noch, der Philosophie ein anderes Gesicht zu geben, eine andere Frage oder eine andere Sprache, nämlich die des Anderen.« (Boutayeb 2013, 9)
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Emmanuel Levinas (1906–1995)
ziell Talmud beschäftigt 57, steht Levinas in der Reihe mit anderen bedeutsamen Denkern jüdischer Herkunft des 20. Jahrhunderts: Hermann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig, von denen vor allem die letzten zwei mit ihrer Philosophie des Dialogs Levinas bedeutend beeinflusst haben. Drittens denkt Levinas gegen Heidegger. Nach dem zweiten Weltkrieg, als Levinas seinen eigenen philosophischen Weg einzuschlagen beginnt, wird Heideggers Seinsphilosophie von Sein und Zeit für den jüdischen Denker zum Inbegriff des Denkens, das das Andere nicht kennt, nicht denken kann und das es im solipsistischen und totalen Subjekt auflöst und vernichtet. Ein solches Denken nennt Levinas ganz allgemein »Ontologie« und er ist der Ansicht, dass die ganze bisherige Philosophie ontologisch gewesen sei. 58 Die Heidegger’sche These aus Sein und Zeit: »Das Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht« (SZ, 191) wird für Levinas zur Formel des ontologischen Egoismus, der durch die Beziehung zum Anderen überwunden werden muss. Die Ontologie denkt das Sein, das immer das Sein des Subjekts ist. Levinas denkt das Andere dieses Seins: das Jenseits des Seins, die Relation mit dem Anderen. Interessanterweise bedeutet der Versuch Levinas’, gegen Heidegger zu denken, nicht, dass seine Philosophie des Anderen keine Gemeinsamkeiten mit Heideggers Ereignisdenken aufweist. Wie dies in der französischen Philosophie üblich ist, bezieht sich Levinas vor allem auf Heideggers Sein und Zeit, das in der Tat von Levinas’ Kritik getroffen werden könnte, doch er lässt Heideggers späteres Ereignisdenken außer Acht, das im Vergleich zu Sein und Zeit zu einem Denken des Anderen geworden ist. Wir werden in der Tat sehen, dass Levinas’ Denken des absoluten Anderen und Heideggers Ereignis-
Levinas’ Werke zum Judentum sind vor allem: Difficile liberté. Essais sur le judaïsme (1963 und erweitert 1976. Gekürzte deutsche Fassung: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Frankfurt am Main: Jüdischer Verl., 1992. Die neueste Auflage: 2017), Quatre lectures talmudiques (1968, dt.: Vier Talmud-Lesungen. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1993), Du sacré au saint: cinq nouvelles lectures talmudiques (1977, dt.: Vom Sakralen zum Heiligen: Fünf neue Talmud-Lesungen. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1998), L’Au-delà du verset: lectures et discours talmudiques (1982, dt.: Jenseits des Buchstabens. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1996), À l’heure des nations (1988, dt.: Stunde der Nationen. München: Fink, 1994), Nouvelles lectures talmudiques (1996, dt.: Neue Talmud-Lesungen. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 2001). 58 »Die Ontologie bringt das Andere auf das Selbe zurück […].« (TU, 50/TI, 13) 57
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
denken nicht gegeneinander denken, sondern beide auf sehr ähnliche Art und Weise die Logik des Ereignisses aufdecken. Die Philosophie Levinas’ versucht, das alles in sich versammelnde Subjekt, das Sein dieses Subjekts zu überwinden und den Weg zur Begegnung mit dem Anderen zu öffnen. Zu Levinas’ ersten philosophischen Werken, die in diese Richtung denken, gehören vor allem De l’existence à l’existant (1947) und Le temps et l’autre (1948). 59 Das Hauptanliegen dieser Überlegungen ist, wie man aus dem Sein »herauskommen« (sortir) (EU, 43/EI, 49) kann und wie man in die Beziehung mit dem Anderen eintritt. 60 Es geht um die Überwindung des Seins durch das Andere. Obwohl Levinas hier die Heidegger’sche Terminologie von »Sein« (être) und »Existenz« (existence, l’exister) 61 bedient, unterscheidet sich seine Interpretation dieser Konzepte von der Heidegger’schen, was zu beachten ist, um das Heraustreten aus dem Sein zu verstehen. Unter dem Sein versteht Levinas das bloße »es gibt« (il y a). Das il y a ist das Sein als solches, vor dem Sein eines Einzelnen, vor dem Seienden, dass seine Existenz vollzieht. Es ist deswegen anonym: das il y a ist »die anonyme Tatsache des Seins« (SS, 22/EE, 26). Von dieser These ausgehend beschreibt das Buch De l’existence à l’existant – wie dies schon der Titel verrät – den Prozess, in dem sich ein »Seiendes« (existant) von diesem »Sein« (existence) löst und sein eigenes Sein übernimmt. Diesen Prozess nennt Levinas »Ereignis der Hypostase« (événement de l’hypostase) (SS, 61/EE, 80). Das Seiende verlässt also das anonyme Sein, doch es ist eingerollt Von diesen beiden Büchern als Werken seiner frühen Philosophie spricht Levinas im Interview mit Philippe Nemo: EU, 34–56/EI, 34–66. 60 Es ist richtig, dass schon frühere Überlegungen Levinas’ dem Heraustreten aus dem Sein, das immer das immanente, das Selbst-Sein ist, gewidmet sind. Hier ist insbesondere De l’évasion (1935) zu nennen. Doch der Kontext, in dem diese Schrift, oder zum Beispiel noch früher Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl (1930), entsteht, ist grundsätzlich anders. Levinas denkt zu dieser Zeit ausgehend von Husserl und Heidegger, er ist kritisch gegenüber Husserl und Heidegger, aber er denkt noch nicht das Andere, er denkt noch nicht die Ethik. Die Ontologie ist noch nicht zur Unmöglichkeit des Ethischen geworden. Dies passiert nach dem Zweiten Weltkrieg. 61 Der Gebrauch von »être«, »existence« und »l’exister« ist in Levinas’ Texten nicht eindeutig. In den meisten Fällen schreibt er »être«, wenn es um das Sein im Allgemeinen geht, und »existence«, »l’exister«, wenn es um den individuellen Vollzug des Seins geht. Doch diese Bedeutungen können sich auch abweichen – zum Beispiel das Wort »existence« kann in manchen Kontexten auch das Sein im Allgemeinen bedeuten. Genauso kann »être« das Sein des Subjekts bezeichnen. 59
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Emmanuel Levinas (1906–1995)
in seinem Sein: Es kennt nur sich selbst. Wenn es auch in der Erkenntnis der Außenobjekte aus seinem Sein heraustritt, so kehrt es wieder zu sich zurück. Die Erkenntnis ist die Eroberung der Objekte und die Verwandlung des Anderen zum Selben des Subjekts. Gibt es einen Ausweg aus diesem Sein bei sich selbst? Das nächste Werk – Le temps et l’autre – versucht, diese Frage zu beantworten. In diesem Buch stellt sich heraus, dass die Zeit, die »Zukunft« (avenir) das Subjekt von ihm selbst lösen kann. Die Zukunft ist etwas, was das Subjekt nicht ergreifen kann, was auf es zukommt, was das radikal Andere ist: »[D]ie Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich unser bemächtigt. Die Zukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur Zukunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen.« (ZA, 48/TA, 64)
Die Zukunft ist das Andere, und das Andere ist wie diese auf es zukommende Zukunft strukturiert. Levinas unterscheidet drei Gestalten des Zukünftigen, d. h. des Anderen: den Tod (im Sein), das Weibliche (im Eros) und das Kind (in der Vaterschaft). Der Tod, das Weibliche und das Kind sind die Möglichkeiten des Zerbrechens der Vereinzelung im eigenen Sein. 62 Totalité et Infini (1961) – das große erste Hauptwerk Levinas’ – korrigiert, führt weiter, systematisiert und vollendet seine frühere Auch Derrida wird später (in La voix et le phénomène (1967)) in der Zeit die Möglichkeit des Einbruchs des Anderen sehen. Die Zeit – die präsente Zeit der »lebendigen Gegenwart« – ist das, was man hat, was man ist. Die Zeit ist aber auch das, was man nicht hat, was man nicht selbst ist, nämlich die vergangene und die zukünftige Zeit. Die Zeit ist deswegen ausgedehnt, sie ist »Verräumlichung« (espacement), sie ist die Richtung vom Selben zum Anderen, von innen nach außen. Die ausgedehnte Zeit trägt eine Differenz zwischen Selbstheit (Präsenz) und Andersheit (Nicht-Präsenz) in sich: »Da die Spur der Bezug der innigen Vertrautheit der lebendigen Gegenwart zu ihrem Draußen, die Offenheit für die Äußerlichkeit im allgemeinen, für das NichtEigene usw. ist, ist die Zeitigung des Sinns von Beginn an »Verräumlichung«. Sobald man die Verräumlichung zugleich als »Intervall« oder Differenz und als Öffnung nach draußen zugesteht, gibt es keine absolute Innerlichkeit mehr, hat sich das »Draußen« in die Bewegung eingeschlichen, durch die das Drinnen des Nicht-Raumes, das, was den Namen »Zeit« hat, sich erscheint, sich konstituiert, sich »gegenwärtigt«. Der Raum ist »in« der Zeit, er ist das reine Aus-sich-herausgehen der Zeit, er ist das Außer-sich als Selbstbeziehung der Zeit. Die Äußerlichkeit des Raumes, die Äußerlichkeit als Raum, überfällt nicht unversehens die Zeit; sie eröffnet sich als reines »Draußen« »in« der Bewegung der Zeitigung.« (SPh, 116/VPh, 96) Die Zeit kann allerdings – und dies zeigt Derrida blendend – nur dann als das Aus-sich-Heraustreten beschrieben werden, wenn sie nicht mehr ausgehend von ihrem Präsenz-Modus verstanden wird, wenn die Vergangenheit und die Zukunft nicht mehr als Teile (Retention und Protention) der Gegenwart angesehen werden.
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Philosophie. Es beschreibt die Entstehung des Seienden, des Selben (ohne das Andere) aus dem Sein, es untersucht sein Seinsgeschehnis und zeigt letztendlich, wie das Andere in sein Sein einbricht und das Andere des Seins ermöglicht: die Verantwortung gegenüber dem Anderen statt der Sorge um sein eigenes Sein. Die Entstehung des Seienden beschreibt Levinas diesmal als »Trennung« (séparation) des Selben von der »Totalität« (totalité), d. h. vom Ereignis des anonymen Seins, in dem alles unterschiedslos beisammen ist. Nach der Trennung bildet das Selbe in seinem Sein wiederum eine Totalität: die Totalität seines Seins, die das Andere nicht kennt. Der Bezug des Selben zum Anderen ist immer ein solcher, der das Andere zum Selben macht. Doch das Andere tritt in die Welt des Selben ein und zerbricht seine Totalität. Der Andere bricht in Gestalt des »Antlitzes« (visage), das spricht, ein. Der sprechende Andere, die »Sprache« (langage) ist das Verlassen der Totalität des Selben: »Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz. […] Das Antlitz drückt sich aus.« (TU, 63/TI, 21) »Die Sprache, durch die ein Seiendes für ein anderes Seiendes existiert, ist seine einzige Möglichkeit, eine Existenz zu existieren, die mehr ist als seine innere Existenz.« (TU, 266/TI, 158) 63
Totalité et Infini geht aber weiter als die früheren Werke Levinas’, indem es nicht nur den Einbruch des Anderen in die Welt des Selben zeigt, sondern behauptet, dass genau die Beziehung mit dem Anderen das Ursprünglichste überhaupt ist. Das Erste ist nicht das Sein des Selben, die absolute Subjektivität, sondern die Relation zum Anderen, das Ethische: »[F]rüher als die Ebene der Ontologie ist die Ebene der Ethik.« (TU, 289/ TI, 175)
Für die Religionsphilosophie ist sehr bedeutend, dass das Antlitz des Anderen der Ort ist, wo sich Gott offenbart. Die Begegnung mit dem Anderen ist die Erfahrung einer Andersheit, eines anderen Menschen, die das Verbot, diesen anderen Menschen zu töten, und Gebot, sich für ihn einzusetzen, mit sich bringt. Diese ethischen Anforderungen, die im Antlitz des Nächsten eingeschrieben sind, ist für Levinas die Weise, wie Gott sich in der Welt zeigt, wie er hier anwesend ist. »Im Nächsten ist reale Anwesenheit Gottes.« (»[…] en autrui il y a présence réelle de Dieu.«) (ZU, 140/EN, 128) Gott selbst ist absolut transzendent, das Ethische ist aber seine Spur, die er auf Erden hinterlassen hat.
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Emmanuel Levinas (1906–1995)
Nicht das Subjekt geschieht zuerst, sondern die Relation mit dem Anderen. Daraus folgt die fundamentale These der Philosophie Levinas’: »Die Erste Philosophie ist eine Ethik.« (EU, 59/EI, 71)
Sucht die Philosophie das Ursprünglichste, das Grundlegende, muss sie zuerst die Verantwortung des Selben gegenüber dem Anderen untersuchen. Das Subjekt ist nicht das Erste und Alles. Noch früher gibt es das Andere, das nicht im Subjekt ist, sondern ihm begegnet. Als das Andere bleibt es für immer das Andere – es wird nie zum Selben. Es wird nie zum einen bestimmten Objekt des Subjekts – es ist deswegen das »Unendliche« (l’infini): »Die Gegenwart eines Seienden, das nicht in die Sphäre des Selben eintritt, eine Gegenwart, die überfließt über diese Sphäre hinaus, fixiert den »Status« dieses Seienden als den eines Unendlichen.« (TU, 280/TI, 169 f)
Nicht das Subjekt, nicht ausgehend vom Subjekt, sondern das Andere des Subjekts zu thematisieren – dies ist die Umkehrung, die Levinas vollzieht. Doch das Denken stellt hier unmerklich eine Falle auf. Wenn eine Philosophie das Andere thematisiert, macht sie es nicht zu seinem Denk-Objekt, also zum Selben? Das ist übrigens die Frage, die Derrida in seinem Levinas gewidmeten Aufsatz Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Levinas (1964) stellt. 64 In der Tat verliert die Thematisierung das Andere, sobald sie es setzt. Wenn nicht das Schweigen hier als eine Lösung sich anbieten will, wie kann dann noch eine Philosophie dem Anderen näher kommen? Wie kann man über das Andere sprechen, ohne es zu setzen? In seinem zweiten Hauptwerk – Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (1974) – findet Levinas eine andere Möglichkeit einer Philosophie des Anderen, weswegen wir in Bezug auf die Philosophie nach Totalité et Infini von einer »Radikalisierung« des ontologiekritischen Ansatzes sprechen können. 65 In Autrement qu’être spricht Levinas nicht mehr Zu Derridas Frage an Levinas in Violence et métaphysique siehe auch die schöne Ausführung von Simon Critchley: Eine Vertiefung der ethischen Sprache und Methode: Lévinas’ »Jenseits des Seins der anders als Sein geschieht«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994) 4, S. 648 f. 65 In der Levinas-Forschung scheiden sich die Meinungen darüber, wie die Veränderung, die Levinas’ Philosophie zwischen Totalité et infini und Autrement qu’être erlebt, zu bezeichnen ist. In der deutschsprachigen Forschung hat zum Beispiel Strasser von der »Kehre« (Strasser(1978), 219), Krewani von der »Wende« (Krewani, 38), Wiemer vom »Alternieren« (Wiemer, 66) und Taureck von der »sprachbezogenen 64
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
vom Anderen, sondern davon, was mit dem Selben geschieht, wenn es dem Anderen begegnet. 66 Es spricht nicht mehr vom Selben und dem Anderen, sondern von der »Subjektivität« (subjectivité), die als »der Andere im Selben« (l’autre dans le même) definiert wird. Es heißt aber nicht, dass damit das Andere wieder ausgehend von einem totalen Subjekt untersucht wird. Die Subjektivität ist durch das Andere betroffen, durch seine Betroffenheit antwortet sie ihm, aber sie kann es nie zu einem Objekt konstituieren. Diese Radikalisierung der ontologiekritischen Philosophie, die jetzt versucht, das Andere nicht einmal zu thematisieren und nur sein Wirken auf die Subjektivität, das grundsätzlich ein Transzendieren aus sich heraus ist, zu beschreiben, formuliert Levinas im Jahre 1976 folgenderweise: »Die ontologische Sprache, deren sich noch Totalität und Unendlichkeit bedient hatte, um die rein psychologische Bedeutung der vorgebrachten Analyse auszuschließen, wird von nun an vermieden. Und die Analysen selbst verweisen nicht etwa auf Erfahrung, in der ein Subjekt stets nur das thematisiert, dem es gleicht, sondern auf die Transzendenz, in der es antwortet auf das, was über das Maß seiner Intentionen hinausgeht.« (EN, 114/ DL, 379)
Autrement qu’être und spätere Aufsatzsammlungen, von denen insbesondere De Dieu qui vient à l’idée (1982) und Entre nous (1991) zu erwähnen sind, geben uns eine Beschreibung davon, was mit der Subjektivität passiert, wenn sie das Sein verlässt 67 und vom Anderen beWende« (Taureck, 62) gesprochen. Stegmeier bezeichnet diese Wandlung als »Revision« (Stegmeier, 122). Wir – und dabei beziehen wir uns unter anderem auf Adriaan Peperzak in seiner Rezension zu Autrement qu’être (Peperzak, 95) und Rudolf Funk (Funk, 57 f, 60) – bevorzugen das Wort »Radikalisierung«, weil die hier beobachtbare Veränderung eigentlich keine Veränderung darstellt, als ob Levinas etwa Neues erproben würde, sondern ist eine konsequentere Durchführung des ontologiekritischen Ansatzes, der schon in Totalité et infini Levinas’ Anliegen ist. 66 Darauf weist schon Peperzak in seiner Rezension zu Autrement qu’être hin: »In Totalité et Infini nahm der Andere und sein Antlitz die zentrale Stelle ein; in Autrement qu’être besinnt Lévinas sich auf die »Position« und die Bedeutung des Subjekts: Ich, der ich dem Anderen begegne.« (Peperzak, 95) Dass es eine solche Verschiebung gibt, ist auch durch Levinas’ Text belegbar: »Seine Transzendenz – seine Exteriorität, die weiter außen, extremer anders ist als alle Exteriorität des Seins – vollzieht sich allein durch das Subjekt, das sie bekennt oder sie bestreitet. Umkehrung der Ordnung: die Offenbarung geschieht durch denjenigen, der sie empfängt, durch das inspirierte Subjekt […].« (JS, 341/AQE, 199) 67 Autrement qu’être ou au-delà de l’essence – der Titel dieses Werkes spricht wieder vom Verlassen des Seins. Es geht um »anders als Sein«, um das Andere des solipsisti-
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Emmanuel Levinas (1906–1995)
troffen wird. Das ist die Beschreibung eines Ereignisses, das grundsätzlich der Einbruch des Anderen ist, das ist die Herausarbeitung einer Logik des Ereignisses. Und diese Beschreibung enthält Ideen, die spätere Ereignisdenker (zum Beispiel Marion oder Romano) in ihr Denken aufnehmen. Diese ganz zentralen Gedanken, die wir später systematisch und ausführlich analysieren werden, sind vor allem: 1) die »Passivität« (passivité), die besagt, dass in der Beziehung mit dem Anderen das Selbe ihn nicht aktiv konstituiert, sondern passiv empfängt. Die Ebene der Passivität wird nicht im Bewusstsein gesucht, sondern in der Leiblichkeit, weswegen die Passivität von Levinas auch »Sensibilität« (sensibilité) genannt wird. Das Ereignis versetzt den Betroffenen in die leibliche Passivität, in die Nähe zum Anderen; 2) die »unvordenkliche Vergangenheit« (passé immémorial) – das, was sich im Ereignis der Begegnung mit dem Anderen ereignet, kann nie im die Vergangenheit vergegenwärtigenden Bewusstsein, in der Präsenz eingeholt werden. Das Ereignis ist ein Augenblick, der für das Bewusstsein immer schon vergangen ist; 3) die »Spur« (trace), die das uneinholbare Ereignis hinterlässt und die nicht zu ihm zurückführt. Es handelt sich darum, dass das uneinholbare Ereignis sich manifestiert und etwas in der Welt, zu der es selbst nicht gehört, hinterlässt – es verändert die Welt, ohne dass es in der Welt als ein Sachverhalt auffindbar wäre; 4) das »Überschreiten« (débordement) des Denkens, was bedeutet, dass das Andere unbegreiflich bleibt. Das Ereignis ist nie etwas im Denken Gedachtes.
schen Bei-sich-Seins. Es geht um »jenseits des Seinsgeschehnisses« als Verantwortung für den Anderen.
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Gilles Deleuze (1925–1995)
Wenn wir als Ausgangspunkt unserer Überlegungen die Ereignisse, die sich als das Andere mit uns ereignen, setzen, setzen wir auch voraus, dass das Ereignis immer auch die Betroffenheit durch das Ereignis ist. Das Dasein wird vom Ereignis des Seins betroffen, es wird in das Ereignis eingelassen. Es ist die passive Subjektivität, die dem Anderen begegnet, die aus sich transzendiert, in die sensible Nähe zum Anderen kommt. Man kann den Betroffenen natürlich nie als einen denken, der sich das Andere vorstellt, aber es gibt den Betroffenen. Aber muss es ihn unbedingt geben? Dies ist keine Entscheidung, die man innerhalb einer Philosophie des Ereignisses treffen kann – es handelt sich hier um eine Vor-Entscheidung. Wir haben von Anfang an ganz bestimmte »Untersuchungsobjekte« ausgewählt, sie Ereignisse genannt und das Ereignis als die Betroffenheit durch das Andere definiert. Man hätte auch andere »Forschungsobjekte« nehmen, sie Ereignisse nennen und das Ereignis anders definieren können. So unterscheidet sich die angelsächsische Philosophie schon hinsichtlich ihrer Vor-Entscheidungen von der kontinentalen Ereignisphilosophie, die auch wir hier vertreten. Diese gerade ausgeführten Anmerkungen waren deswegen notwendig, weil wir mit Gilles Deleuze zu einem Ereignisdenker kommen, in dessen Philosophie – als einem der Vertreter des Strukturalismus bzw. Poststrukturalismus – kein Subjekt und kein Betroffener vorkommen. Angesichts unserer Vor-Entscheidung – aber nur deswegen – weist sein Ansatz im Ereignisdenken eine leere Stelle auf, die nur angesichts unserer Vor-Entscheidungen erfüllt werden muss. Wenn man aber davon absieht, sind die Gedanken Deleuzes sehr nützlich, sogar unentbehrlich, um das Ereignis – so wie wir es bestimmen –, seinen philosophischen Status und seine Logik zu verstehen. Wenn Deleuze 1988 sagt: »In allen meinen Büchern habe ich die Natur des Ereignisses [événement – L. P.] gesucht,« (U, 206/P, 194) so heißt es noch lange nicht, dass seine Suche einen direkten Eingang in 80 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Gilles Deleuze (1925–1995)
unser Unternehmen finden kann – vielleicht geht es hier um etwas ganz anderes als das, was wir hier philosophisch zu begreifen versuchen. Nicht jede Philosophie, die »Ereignis« sagt, hat dasselbe im Blick wie wir, wenn wir von Ereignissen sprechen. Und auch umgekehrt: Das Fehlen des Wortes »Ereignis« heißt nicht, dass es keine Annäherung zu unserer Sache gibt. Auf den ersten Blick scheint es, dass das philosophische Werk Deleuzes eigentlich gar nichts mit unserem im gewissen (aber nur im gewissen) Maß phänomenologischen Ansatz zu tun hat. In der Tat ist es so und trotzdem eröffnen die Gedanken Deleuzes im Ereignis bestimmte Dimensionen, die unser Ereignis besser zu verstehen erlauben – und dies vor allem deswegen, weil Deleuze das Ereignis ganz genau von anderen Gegebenheiten unterscheidet: zum Beispiel von ontischen (von den Dingen), sprachlichen (von der Bedeutung) und phänomenologischen (von im Bewusstsein intendierten) Gegebenheiten. Wie im Falle Heideggers handelt es sich um die Einführung eines neuartigen und andersartigen philosophischen Konzepts. Damit wird nicht gesagt, dass Deleuze dasselbe denkt wie Heidegger, sondern nur, dass das Ereignis für Deleuze genauso wie für Heidegger etwas ist, was weder die Ontologie noch linguistische Analysen oder die Phänomenologie denken kann und was ein besonderes Denken des Ereignisses fordert. Deleuze hat dem Ereignis ein ganzes Buch – Logique du sens (1969) – gewidmet. Auch sein zusammen mit Félix Guattari verfasstes Werk – Qu’est-ce que la philosophie? (1991) – enthält ganz wichtige Hinweise zum Ereignis. Obwohl dieses Werk, einerseits, ohne Logique du sens völlig unverständlich bleibt, sind, andererseits, die hier formulierten Thesen über das Ereignis durch mehr Reife und Klarheit gekennzeichnet. In Logique du sens, unter Berufung auf die Stoiker, die er für die Entdecker des Ereignisses hält, lenkt Deleuze unsere Aufmerksamkeit unter anderem auf ein einfaches Beispiel: »Der Baum beginnt zu grünen …« (l’arbre verdoie) (LS, 21/15) Dieses »Beginnen zu grünen« oder einfach »Grünen« kann man nicht auf die Substanz »Baum« oder eine ihrer Eigenschaften (»grün« bzw. »grünen« gefasst als Eigenschaft) reduzieren. Es ist nicht dieser Baum mit seinem Grün so, als ob wir ihn auf einem Foto anhalten würden – es ist etwas anderes. Die Ereignisse sind keine Dinge, keine Eigenschaften, keine Dingzustände – in diesem Sinne existieren sie nicht, obwohl es sie trotzdem gibt:
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
»Es handelt sich nicht um physische Qualitäten oder Eigenschaften […]. Es handelt sich nicht um Dinge oder Dingzustände, sondern um Ereignisse. Man kann nicht sagen, daß sie existieren, sondern eher, dass daß sie subsistieren oder insistieren, da sie über jenes Mindestmaß an Sein [minimum d’être – L. P.] verfügen, das all dem zukommt, was kein Ding, was nicht existierende Entität ist. Es handelt sich nicht um Substantive oder Adjektive, sondern um Verben.« (LS, 19/13)
Das Ereignis ist nicht der grüne Baum und auch nicht der Baum, der grünt, sondern das Grünen des Baumes. Es ist eine Umstellung des Blickes notwendig, um nicht den Baum in seinem Zustand als einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit (einen Sachverhalt) zu sehen, sondern sein Grünen. Diese Umstellung des Blickes ist genauso »mystisch« wie die plötzliche Möglichkeit, nicht die Dinge, sondern Phänomene zu sehen. Phänomene existieren nicht (wie die Dinge), aber man kann sie sehen, wenn man den Blick ein wenig verschiebt. Genauso ist es mit dem Ereignis Deleuzes. Alle weiteren Bestimmungen – oder »Paradoxa« (paradoxes), wie Deleuze sie nennt – des Ereignisses bleiben sinnlos, wenn man nicht zuerst diesen Schritt weg von der Dingen zu ihren Ereignissen gemacht hat. Noch ein Hinweis: »Der Baum grünt« als Ereignis ist auch kein Prozess im Sinne einer Bewegung. »Der Bus fährt« ist nicht mehr ereignishafter als das Ereignis »der Baum grünt«, obwohl wir im Falle eines Busses mit mehr Bewegung, mit der Prozessualität zu tun haben. Es gibt nämlich das Ereignis der Bewegung. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder sehen wir die Bewegung als Bewegung oder das Ereignis der Bewegung. Im ersten Fall sehen wir den Bus, der fährt, im zweiten – das Fahren des Busses. Weil wir hier mit keinen Dingen, ihren Eigenschaften, ihren Zuständen oder Bewegungen, die wir beobachten können, zu tun haben, sagt Deleuze, dass die Ereignisse »unkörperlich« (incorporels) (LS, 19/13) sind. Sie sind zwar an dem Körperlichen gebunden (es gibt kein Grünen ohne den Baum), aber trotzdem schweben sie über dem Körperlichen. Die Ereignisse ereignen sich auf der »Oberfläche« (surface) des Körperlichen – es geht um »unkörperliche Ereignisse auf der Oberfläche« (LS, 21/15). Die Ereignisse sind »Wirkungen« (effets) (LS, 22/16), keine »Verwirklichung in einem Dingzustand« (effectuation dans un état de choses) (LS, 41/34). Es kann für den ersten Moment verwirrend klingen, dass Deleuze das so verstandene Ereignis (Baum grünt) mit dem »Sinn«
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(sens) des Satzes (»Baum grünt«) zusammenbringt. Mehr noch: In gewisser Hinsicht sind sie für ihn ein und dasselbe. Der Sinn eines Satzes ist auch ein Oberflächen-Effekt. Der Sinn liegt nicht in dem »äußeren Dingzustand« (état de choses extérieur), zu dem der Satz die Beziehung der »Bezeichnung« (désignation) hat (LS, 29/22). Den Sinn des Satzes »Baum grünt« erreichen wir nicht, wenn wir uns dem Dingzustand »Baum grünt« zuwenden. Zu dem Sinn gelangen wir auch dann nicht, wenn wir ihn als »Aussage der Wünsche und Meinungen« (énoncé des désires et des croyances) (LS, 30/23) sehen – also nicht, wenn wir denken: »Wenn er gesagt hat, dass der Baum grünt, hatte er den grünenden Baum vor Augen.« Wir gelangen zu dem Sinn eines Satzes, nicht dadurch, dass wir verstehen, was einer sagen wollte, was seine Intention war. Der Sinne eines Satzes ist auch nicht mit seiner »Bedeutung« (signification) (LS, 31/24) zu identifizieren – er ist nicht das, was der Satz sagt, insofern es als wahr oder falsch qualifiziert werden kann. Der Sinn des Satzes »Baum grünt« liegt nicht in seiner Möglichkeit, seine Wahrheit zu prüfen. Wenn ich diesen Satz so sehe, habe ich seinen Sinn verpasst. Der Sinn eines Satzes ist ganz schlicht das, was der Satz sagt – »das Ausgedrückte des Satzes« (exprimé de la proposition) – ohne Bezüge zu den Dingen, Subjekten oder zur Wahrheit und Falschheit: »Der Sinn ist die vierte Dimension des Satzes. Die Stoiker haben ihn zusammen mit dem Ereignis entdeckt: Der Sinn, das ist das Ausgedrückte des Satzes, dieses Unkörperliche an der Oberfläche der Dinge, irreduktibles komplexes Gebilde, reines Ereignis, das im Satz insistiert oder subsistiert.« (LS, 37/30)
Es ist wieder die Frage, ob wir einen Satz so hören können, dass wir nur auf das achten, was er sagt – jenseits der Wirklichkeit, Gedankenwelten und Wahrheit. Genauso wie das Ereignis als ein Unkörperliches sich auf der Oberfläche des Körperlichen abspielt, schwebt der Sinn über dem Satz – er »existiert nicht außerhalb seines Ausdrucks«, »jedoch vermischt er sich keineswegs mit dem Satz, er verfügt über eine völlig verschiedene »Objektität«.« (LS, 40/33) Der Sinn hat genauso wenig mit dem Körper des Satzes zu tun wie das Ereignis mit dem Körperlichen. Mehr noch: Sich einem Ereignis zuzuwenden heißt, sich in einen Sinn zu vertiefen. Das Ereignis ist der Sinn, oder – genauer gesagt – es ist der Sinn, insofern wir ihn auf der Oberfläche der Dinge sehen, aber es ist immer noch auch der Sinn des Satzes:
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
»Das Ereignis gehört wesentlich zur Sprache, es steht in einer wesentlichen Beziehung zur Sprache; doch die Sprache ist das, was über die Dinge gesagt wird.« (LS, 41/34) »Man soll also nicht fragen, was der Sinn eines Ereignisses sei: Das Ereignis nämlich, das ist der Sinn selbst.« (ebd.) 68 »Der Sinn ist das Ausdrückbare oder das Ausgedrückte des Satzes und untrennbar damit das Attribut des Dingzustandes. Eine Seite wendet er den Dingen zu, eine andere den Sätzen. Doch vermischt er sich ebensowenig mit dem Satz, der ihn ausdrückt, wie mit dem Dingzustand oder der Qualität, die der Satz bezeichnet. Er ist genau die Grenze zwischen den Sätzen und den Dingen.« (ebd.)
Auf diese Weise wird ein neuartiges »ontologisches« (wenn man das so vorsichtig bezeichnen könnte, da das Ereignis über einen »Mindestmaß an Sein« verfügt) Konzept gewonnen, das das Ereignis sowohl außerhalb der Objektität als auch des rein Sprachlichen und damit auch außerhalb des Bewusstseins verortet. Jedes Sinn-Ereignis ereignet sich so, dass es sich ins Unendliche verteilt – es bildet eine »Serie« (série) von Sinn-Ereignissen. Da das Sinn-Ereignis eine Seite den Dingen zuwendet und die andere den Sätzen, haben wir immer mit mindestens zwei Serien zu tun, die in gewissem Maße parallel zueinander laufen. Diesen Zusammenhang von zwei Serien nennt Deleuze auch »Struktur« (structure) (LS, 73/ 65). Alle Elemente dieser Struktur – also die Ereignisse, die sich auf der Oberfläche der Dinge abspielen, und den Sinn des Satzes – nennt er »Singularitäten« (singularités) (ebd.). Obwohl die beiden Serien parallel zueinander laufen, gibt es Singularität, die in beiden Serien vorhanden ist und sie so miteinander kommunizieren lässt. Ein solches Element der Struktur nennt Deleuze die »paradoxe Instanz« (instance paradoxale) (LS, 62/55). Es »zirkuliert« (ebd.) in beiden Serien, wobei es dadurch in einer – in der Serie des Ereignisses – ein »Fehlen« (défaut), in der anderen – in der Serie des Sinn des Satzes – ein »Überschuss« (excès) ist (LS, 72/64). Durch diese Instanz geschieht die »Verschiebung« (déplacement) beider Serien gegeneinander und das »Übermaß der einen über die andere« (LS, 61/54). Mit einem Beispiel: Auf der Oberfläche des Körperlichen ist immer ein Fehlen eines Sinnes festzustellen, der sich aber irgendwann dort als Oder umgekehrt: »Der Sinn ist dasselbe wie das Ereignis, diesmal aber auf die Sätze bezogen.« (LS, 209/195)
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sein Effekt verkörpern könnte. So wie, wenn vor der Entdeckung der Moleküle im heutigen Sinne, dem Ereignis des Grünen des Baumes, etwas gefehlt hätte, das erlaubt hätte, in ihm eine Zusammensetzung und Bewegung der Moleküle zu sehen. Dieses Fehlen muss nicht so verstanden werden, dass es früher eine falsche Interpretation des Baumes gab und dass die Wissenschaft es später richtig beschrieben hat, sondern als die Möglichkeit, in der gegebenen Welt einen neuen Sinn hineinzubringen. Die Serie der Ereignisse des Körperlichen enthält eine leere Stelle, einen »Platz ohne Besetzer« (place sans occupant) (LS, 73/65), die die Möglichkeit, dieses Körperliche neu zu deuten, ist – nämlich durch einen Sinn, der sich in der anderen Serie der Struktur ereignet. Und umgekehrt: Jeder Sinn muss als Überschuss über das schon Ausgesagte, das dem im Ding verkörperten Ereignis entspricht, verstanden werden, und wenn er einmal hinter dem Gesagten gedacht wird, dann erlebt er eine Verkörperung, die darin besteht, dass in der Welt ein neues Ding geschaffen wird, was natürlich nicht immer bedeutet, dass ein noch nie dagewesenes Ding hergestellt wird – auch die Interpretation des Grünen des Baumes durch die Moleküle ist das Schaffen eines neuen Dinges. Dieser Überschuss realisiert sich so, dass man den Sinn des Satzes hinterfragt, zum Beispiel so: »Der Baum grünt, aber was bedeutet das, dass der Baum grünt?« Und dann antwortet man irgendwann: »Er grünt, weil solche und solche chemische Prozesse sich dort abspielen.« Es geht nicht darum, ob diese Antwort wahr oder falsch ist, sondern nur darum, dass ausgehend von einem Sinn ein neuer Sinn geschaffen wird, und dieser kann wieder zu einen neuen führen. 69 Deleuze nennt dies »unbegrenzte Regression« (régression indéfinie) (LS, 57/50). Ein neuer Sinn muss nicht immer durch explizite und ausgeklügelte Fragen und Antworten geschaffen werden: Der Baum grünt, aber was wird danach sein? Bunte Blätter werden fallen. Durch einfaches Hinsehen kommt man von einem Ereignis (das ein »Fehlen« aufweist) zum anderen (das diesen leeren Platz sofort einnimmt): Grünen, Blätter, Schnee, Frühling, Jahr, Leben, Ewigkeit. Oder anders: Grünen des Baumes, Flattern der Blätter, Wehen des Windes, Sonne, Wiese, Erde, Genauer gesagt: Nicht der Sinn schafft einen neuen Sinn, sondern der »Unsinn« (non-sense). Der Unsinn ist die Instanz, durch die der Sinn zum Sinn wird: »Der Unsinn ist zugleich das, was keinen Sinn hat, sich aber als solcher der Abwesenheit des Sinns entgegensetzt, indem er die Sinnstiftung vornimmt. Und genau das hat man unter nonsense zu verstehen.« (LS, 98/89) Dies bedeutet auch: Jeder neue Sinn ist zuerst unsinnig, weil er neu ist.
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Kosmos. Zur Präzisierung: Ein neuer Sinn wird streng genommen nicht von uns – durch unsere Fragen und Antworten – geschaffen. Er schafft sich selbst: Urknall, Sonnensystem, Erde, Leben, Menschen, Explosion der Sonne. Oder philosophiegeschichtlich: Ding, Seiendes, Sein, Ursache, Gott, Selbstbegründung, Phänomen. 70 Jede Struktur wird also von mindestens zwei Serien und das paradoxe Element (»es gibt keine Struktur ohne leeres Feld« (LS, 75/ 66)) gebildet, und weil das paradoxe Element durch die Regression einen ständig neuen Sinn stiftet und »alles erst zum Funktionieren bringt« (LS, 75/66), hat die Struktur eine »Geschichte« (histoire): »Die Struktur umfaßt ein Register idealer Ereignisse, das heißt eine ganze, ihr innerst zugehörige Geschichte […].« (LS, 74/66)
Es ist die Geschichte der Sinnstiftung. In der Tat stellt Logique du sens die Struktur als dynamisch dar – es lenkt die Aufmerksamkeit auf die Prozessualität der Entstehung des Sinnes, auf die Ereignishaftigkeit der Singularität. Das nur ein Jahr zuvor erschienene Werk von Deleuze – Différence et répétition (1968) – stellt die Struktur eher statisch dar, nämlich als die topologische Verteilung der Singularitäten, die sich aktualisieren. 71 Différence et répétition stellt zwar auch ein Versuch dar, Nietzsches Gedanken von der »ewigen Wiederkunft« und damit die Geschichte zu denken, doch während dieses Werk die Geschichte als Wiederholung des Differenten (des Singulären, aber
Es ist für Foucault in seinen Geschichtsschreibungen charakteristisch, solche Reihen zu bilden. Im Grunde genommen versteht er die Geschichte im Allgemeinen als ein Sinnereignis, also als die Sinnproduktion. Und es ist genauso interessant, dass auch Heidegger, wenn er die Geschichte der Metaphysik auslegt, solche Serien zu bilden pflegt – und dies sogar völlig explizit, zum Beispiel hier: »Das Eigentliche am Seienden und daher selbst das für sich Seiende – Anwesende und Beständige, ὄντως ὄν der seiendste Grund – Sache – Ur-sache: θεῖον, Deus, creator, das Absolute, das Unbedingte; Apriori – Bedingung der Möglichkeit […].« (E, 21) In dieser Serie wird also aufgezählt, wie in der Philosophiegeschichte das Sein verstanden wird. Zuerst ist es die Anwesenheit und Beständigkeit. Es wird als Grund für das Seiende gesehen. Der Grund wird aber als ein Seiendes (Sache) ausgelegt und so grundsätzlich als Ur-Sache verstanden. Die Ursache erlebt folgende Transformationen: θεῖον, Deus, creator, das Absolute, das Unbedingte, Bedingung der Möglichkeit. Man kommt also von der Anwesenheit zur Bedingung der Möglichkeit. 71 »Die Struktur, die Idee, das ist das »komplexe Thema«, eine interne Mannigfaltigkeit, d. h. ein System nicht lokalisierbarer mannigfaltiger Bindung zwischen differentiellen Elementen, die sich in realen Relationen und aktuellen Termen verkörpern.« (DW, 234 f/DR, 237) 70
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nicht des Selben) denkt 72, fasst Logique du sens die Singularität selbst als Geschichte, nämlich als Ereignis auf. Die in Logique du sens gedachte Sinnstiftung ist nicht einfach ein geschichtlicher Übergang von einem Sinn zum nächsten. So zu denken würde immer heißen, dass man einen identischen (obwohl differenten) Sinn denkt, der dann in einen anderen übergeht. Nein, der Sinn ist schon Geschichte. Nichts hält je an. Das Ereignis ist eine ständige Dynamik. Es ereignet sich nur, er west nie an. Das paradoxe Element, das sich sowohl auf der Oberfläche des Körperlichen als auch auf der Oberfläche des Satzes als ihrer Grenze befindet, sorgt also dafür, dass ständig ein neuer Sinn produziert, d. h. verkörpert wird. Ein neuer Sinn entsteht aber in Verbindung mit dem Vorherigen, und aus einem Sinn können mehrere neue Sinne gestiftet werden. Das ganze Feld verzweigt sich ins Unendliche. Durch das paradoxe Element, also im Moment der Sinnstiftung (also ständig), werden alle Verteilungen, Verzweigungen, die ganze Geschichte durchlaufen. In diesem Sinne gibt es nur »das Eine Einzige Ereignis« (l’Unique événement): »Die Verwandlung oder Neuverteilung der Singularitäten stellen eine Geschichte dar; jede Kombination, jede Verteilung ist ein Ereignis; die paradoxe Instanz aber ist das Ereignis überhaupt, in dem alle Ereignisse kommunizieren und sich verteilen, das Eine Einzige Ereignis; alle anderen sind nur dessen Fragmente und Fetzen.« (LS, 81/72)
Man könnte vermuten, dass jede Singularität in die Funktion der paradoxen Instanz gesetzt werden kann, von der ausgehend die unendliche Verteilung beginnt. An einem (an jedem) Punkt entfaltet sich die ganze Vergangenheit und die unendliche Zukunft des Sinn-Ereignisses. Diese Zeit des Ereignisses, die nicht die Gegenwart (einen bestimmten vielleicht sogar zur absoluten Wahrheit erstarrten Sinn, der sich auf das Ding bezieht) hervorhebt, um sie dann gegen eine andere gleicht zu ersetzen, sondern in die Richtung der unendlichen Vergangenheit und Zukunft startet, nennt Deleuze – wiederum in Im Anschluss an Nietzsche schreibt Deleuze: »Das Subjekt der ewigen Wiederkehr [éternel retour – L. P.] ist nicht das Selbe, sondern das Differente, nicht das Ähnliche, sondern das Unähnliche, nicht das Eine, sondern das Viele, nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall. […] Weder das Selbe noch das Ähnliche kehren wieder, vielmehr ist die ewige Wiederkunft das einzige Selbe, die einzige Ähnlichkeit dessen, was wiederkehrt. […] Die ewige Wiederkehr ist das Selbe des Differenten, das Eine des Vielen, das Ähnliche des Unähnlichen.« (DW, 165/DR, 164 f) 72
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Anschuss an den Griechen – »Äon« (LS, 86/77). Die Zeit des Ereignisses ist Äon, nicht »Chronos«, der den Zeitlauf verkörpert, wo die Gegenwart in der Mitte steht. 73 Das Ereignis ist die ganze Zeit, die ganze Geschichte. Die Verteilung des Sinn-Ereignisses ist natürlich nicht nur zeitlich zu verstehen: Es verzweigt sich auch räumlich. In einem Moment ist eine unendliche Verzweigung der Sinn-Ereignisse gegeben. Deleuze nennt sie »nomadische Verteilung« (distribution nomade), die bedeutet: »sich in einem offenen Raum aufteilen« (LS, 101 f/93). Eine Verzweigung ohne eine gerade Hauptlinie, unauflösbar, Rhizom 74. Das Sinn-Ereignis kennt also kein Anhalten, es zieht immer weiter und sein Weg ist kein gerader Weg – es gibt kleinere Pfade, die unerwartet im Nirgendwo aufhören, es gibt große Autobahnen, mit vielen kleineren Auffahrten und Ausfahrten, die aber der Autobahn zugehörig bleiben, es gibt parallele Strecken, die unterschiedlich verlaufen, aber das gleiche Ziel erreichen etc. »Der gesunde Menschenverstand« (le bon sens) hat die Tendenz, sesshaft zu werden, also bei einem konkreten Sinn zu bleiben, seine Geschichte und Produktion auszuschalten, ihn zu einer Bedeutung zu verwandeln und so an einem Ding festzumachen, sodass er in dieser Verkörperung, in dieser Identität verhaftet bleibt. 75 So wie man denkt, mit der Erklärung des Grünens des Baumes durch die Bewegung der Moleküle die Wahrheit erreicht zu haben. Der Satz »Das Grünen des Baumes ist die Bewegung der Moleküle« wird als Aussage über die körperliche Wirklichkeit aufgefasst, die ihrerseits diese Aussage wahr oder falsch macht. Ist sie wahr, wird sie sesshaft. Es ist gleichgültig, woher sie kommt, weil die Vergangenheit keine Wahrheit besaß und deswegen ignoriert werden kann; oder sie wird geradlinig dargestellt, sodass es scheint, dass alles dazu geführt hat, zu dieser Wahrheit zu gelangen. Die Zukunft ist genauso ausgeschlossen, weil die Wahrheit sich nicht ändern wird. So wird, zumindest scheinbar, der Sinn angehalten. Es ist der Philosoph, der für Deleuze in das Ereignis des Sinnes einspringt. Er sieht das ganze Ereignis, die ganze Zeit, er verfolgt die Entstehung des Sinnes und ahnt seine Veränderung. Er weiß um die Verzweigungen. Er sucht nicht das Identische, sondern fragt nach
Zu dem Chronos (und Äon) siehe insbesondere: LS, 203 ff/190 ff. »Rhizom« ist ein von Deleuze und Guattari gebrauchtes Wort, um die Verteilung der Singularitäten einer Struktur zu charakterisieren. Sie haben auch ein gleichnamiges Buch – Rhizome (1976) – verfasst. 75 Zu den Charakteristika des gesunden Menschenverstandes siehe: LS, 102 ff/93 ff. 73 74
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dem Sinn und ihrer Geschichte – so wie das Heidegger oder Foucault machen. Weil der Philosoph nach dem Sinn-Ereignis fragt und es nicht an eine körperlichen Wirklichkeit bindet, die seine Aussagen bestätigen würde, ist die Philosophie »Gegen-Verwirklichung« (contre-effectuation) 76. In der Tat bestimmen Deleuze und Guattari im Buch Qu’est-ce que la philosophie? die Aufgabe der Philosophie als Befreiung des Ereignisses vom Körperlichen: »Stets ein Ereignis aus den Dingen und Wesen freisetzen [dégager – L. P.] – das ist die Aufgabe der Philosophie […].« (WPh, 40/QPh, 36)
Das Ereignis zu verfolgen, heißt, einen »Begriff« (concept) zu haben. »Die Philosophie beginnt mit der Schöpfung der Begriffe« (WPh, 48/ QPh, 43), »Begriff sagt [dit – L. P.] das Ereignis« (WPh, 27/QPh, 26). Zu dem Begriff zu gelangen, bedeutet aber, ihn zu gegen-verwirklichen: »Man aktualisiert oder verwirklicht das Ereignis immer dann, wenn man es wohl oder übel auf einen Sachverhalt verpflichtet, aber man gegen-verwirklicht [contre-effectue – L. P.] es immer dann, wenn man von den Sachverhalten abstrahiert, um aus ihnen den Begriff zu gewinnen.« (WPh, 186/ QPh, 150)
Wir haben gesehen, wie Deleuze das Ereignis als eine spezifisch ontologische Kategorie bestimmt und ihre Eigenschaften (zwei Serien, paradoxe Instanz, Regression, Geschichte, unendliche Verteilung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht) beschreibt. Wir können uns jetzt allmählich zur Frage bewegen, was dies alles mit unserem Ereignis zu tun hat, das wir als die Betroffenheit des Ich durch das Andere, als das Transzendieren aus sich heraus umgeschrieben haben. Dieser Zusammenhang ist in der Tat nicht leicht aufzudecken, da wir in der Philosophie Deleuzes kein Ich finden werden. Wir haben hier mit einer Ontologie zu tun, die fragt, wie etwas ist bzw. wie sich etwas ereignet. Und das, was Deleuze uns hier darstellt, ist ein Bild vom Ganzen, das an sich ein unendliches Ereignis ein »Chaosmos« (chaosmos) »und keine Welt mehr« (LS, 219/206) ist. Das Ich ist nur ein Punkt in diesem rhizomartigen Raum, wo sich das Ereignis verkörpern kann. Eine solche – wir können sagen: strukturalistisch-poststrukturalistische – Betrachtungsweise würde nie von einem Ich als Zentrum ausgehen. Nein, es ist sogar nicht entscheidend, dass sie nicht von einem 76
Zur »Gegen-Verwirklichung« siehe zum Beispiel: LS, 189/176, 202/188.
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Ich ausgehen würde – eine Ereignisphilosophie im unseren Sinne geht auch nicht von einem Ich als dem absoluten Zentrum und Grund aus. Das Entscheidende ist, dass eine Ontologie das Ich und seine Innerlichkeit nur von außen (als einen Punkt in der Landschaft) betrachten kann und nicht so, wie es sich selbst sieht, aber genau dort ereignet sich die Begegnung mit dem Anderen. Die Begegnung mit dem Anderen trifft mich, es ist unmöglich, dies von außen als ein Etwas – sei es auch das Ereignis im Sinne Deleuzes – zu verstehen. Es geht hier auf keinen Fall um ein und dieselbe Sache – nämlich ein Mich –, die von zwei Denkansätzen – einem struktural-ontologischen und phänomenologischen – thematisiert würde. Es geht hier um eine Sache – die Innerlichkeit –, die ein strukturalistischer Ansatz überhaupt nicht thematisieren kann, weil es in seiner Welt nicht existiert. Es existiert in seiner Welt auch dann nicht, wenn er es als ein Element der Struktur (zum Beispiel als den Ereignisbegriff bei Heidegger) bestimmt, weil dieses Element nicht als Element einer Struktur existiert. 77 In der Tat ist Deleuze, was das Persönliche, das Phänomenale betrifft, sehr streng: »Was ist das, ein ideales Ereignis? Es ist eine Singularität. Oder vielmehr eine Gesamtheit von Singularitäten […].« (LS, 76/67) »Die Singularität ist ihrem Wesen nach prä-individuell, nicht-persönlich, un-begrifflich. Sie ist dem Individuellen und dem Kollektiven, dem Persönlichen und dem Unpersönlichen, dem Besonderen und dem Allgemeinen – wie auch ihren Gegensätzen gegenüber vollkommen indifferent. Sie ist neutral. Andererseits ist sie nicht »gewöhnlich«: Der singuläre Punkt widersetzt sich dem Gewöhnlichen.« (ebd.)
Die Ereignisse sind weder etwas für mich Bedeutendes, noch Gleichgültiges (Gewöhnliches) – es gibt hier kein Mich, auch kein Mich der Darin, dass der Strukturalismus die Subjektivität des Subjekts in den Strukturen auflöst, liegt auch die Kritik von Levinas (und er ist hier nicht der einzige) gegenüber dem Strukturalismus: »Die neue Erkenntnistheorie mißt der menschlichen Subjektivität keinerlei transzendentale Bedeutung mehr zu. Die wissenschaftliche Aktivität des Subjekts wird interpretiert als ein Umweg, über welchen sich die verschiedenen Strukturen, auf die sich die Wirklichkeit reduziert, in ein System verstauen lassen und sich zeigen. Was man früher erfinderisches Streben eines Verstandes nannte, wäre demnach nichts anderes als ein objektives Ereignis des Verstehbaren selbst und in gewisser Weise eine rein logische Verknüpfung. Die wirkliche Vernunft wäre, im Widerspruch zu den Lehren Kants, bedeutungslos. Der Strukturalismus ist der Primat der theoretischen Vernunft.« (GE, 29/DI, 23)
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Passivität. Damit wird klar gesagt, dass seine Philosophie des Ereignisses nicht das Bewusstsein (aktive oder passive) untersucht, sondern etwas, was es überschreitet. Nicht das, was außerhalb des Bewusstseins als sein Objekt ist, sondern das, was vor dem Bewusstsein ist und es noch hervortreten lässt. 78 Das, was Deleuzes Denken des Ereignisses aufdeckt ist, das »Transzendentale«: »Nur eine Theorie singulärer Punkte ist in der Lage, sie Synthese der Person und die Analyse des Individuums, wie sie im Bewusstsein vorhanden sind (oder sich bilden) zu überschreiten. […] Wenn sich die von namenlosen und nomadischen, unpersönlichen und präindividuellen Singularitäten wimmelnde Welt öffnet, betreten wir endlich das Feld des Transzendentalen.« (LS, 135/125)
Dieses »transzendentale Feld« (champ transcendental) (LS, 130/120) ist transzendental, weil es nur jenseits der Erfahrung gedacht werden kann: Es ist nicht etwas, was das Subjekt hat und es ist nicht ein Objekt, das immer ein Objekt eines Subjekts ist, wenn auch ein transzendentes: »Was ist ein transzendentales Feld? Es unterscheidet sich von der Erfahrung, sofern es nicht auf ein Objekt verweist und nicht einem Subjekt zugehört (empirische Vorstellung).« (IL, 29/IV, 3)
Weil das transzendentale Feld sich weder in etwas (Subjekt, Welt etc.) noch außerhalb von etwas befindet und überhaupt keine Verhältnisse von Innen und Außen zulässt, ist es »absolute Immanenz« (immanence absolue): »Mangels Bewußtsein muß sich das transzendentale Feld als eine reine Immanenzebene definieren, da es sich jeder Transzendenz des Subjekts wie des Objekts entzieht. Die absolute Immanenz ist in sich selbst: Sie ist nicht in etwas, nicht einer Sache immanent, sie hängt von keinem Objekt ab und gehört zu keinem Subjekt.« (IL, 29 f/VI, 3 f) 79 Oder wie Marc Rölli schreibt: »In diesem Sinne ist es ein primärer und ichloser Bewusstseinsstrom, ein »unpersönliches transzendentales Feld«, das die prozessuale Voraussetzung jedes faktischen Bewusstseins ausmacht. (Deleuze/Guattari 1991: 56– 57 [bei uns ist es: WPh, 56 f/QPh, 48 ff – L. P.]) Diese Faktizität ist somit ein sekundäres Phänomen.« (Rölli(2011), 66) 79 »Interessiert man sich im Detail für eine Begriffsgeschichte der Immanenz, so wird man sich den Arbeiten von Gilles Deleuze zuwenden. Wie kein anderer Begriff steht ›Immanenz‹ im Mittelpunkt seiner Philosophie – und zwar nicht nur in den Entwürfen seines ›eigenen‹, z. B. als empiristisch, strukturalistisch, nomadologisch oder auch differenztheoretisch bezeichneten Philosophierens, sondern auch in den anderen 78
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Wenn das transzendentale Feld jenseits der Erfahrung zu suchen ist, heißt es nicht, dass es logisch-formal im Sinne Kants als Bedingungen des Urteiles und der Erfahrung zu verstehen ist – diese sind an ein Subjekt gebunden und überhaupt nur als Formen zu verstehen. Das transzendentale Feld ist ein Feld der Ereignisse, die sich ereignen. Im gewisse Maß könnte man sagen, dass sie sich wirklich ereignen – Deleuze sagt: »Das reale [réel – L. P.] transzendentale Feld« (LS, 143/133). Es geht natürlich nicht um eine materielle Wirklichkeit – es geht um das Unkörperliche, um die Oberfläche des Körperlichen. Diese Seinsart des Ereignisses nennt Deleuze das »Virtuelle« (virtuel). Die Ereignisse sind »Virtualitäten« (virtualités): »Was man Virtuelles nennt, ist nicht etwas, dem es an Realität gebricht, sondern das in einen Aktualisierungsprozeß eintritt gemäß der Ebene, die ihm ihre eigene Realität verleiht. […] Auch wenn sie von ihrer Aktualisierung nicht trennbar sind, so ist die Immanenzebene doch selbst ebenso virtuelle, wie die sie bevölkernden Ereignisse Virtualitäten sind.« (IL, 32/IV, 6)
Virtuell zu sein, heißt nicht irreal, eingebildet, trügerisch zu sein, es heißt genau: auf der Oberfläche zu sein, untrennbar von der Aktualisierung in einem Körper zu sein und doch ihn zu transzendieren, wobei durch das Transzendieren das Ereignis deswegen nicht zu einer Allgemeinheit wird – es ist »real, ohne aktuell zu sein, ideal, ohne abstrakt zu sein« (WPh, 182/QPh, 148) 80. Das Ereignis bewohnt also einerseits das Sinnliche – es ist eine »empirische« Gegebenheit (es gibt kein Grünen des Baumes ohne den Baum). Andererseits übersteigt es das empirische Datum, ist das »Unsinnliche« (l’insensible) (DW, 182/DR, 182). So nennt Deleuze seine Philosophie »transzendentalen Empirismus« (empirisme transcendantal) (DW, 187/DR, 187). 81 Der Empirismus wird transzendental, weil er vom sinnlich (klassischen) Philosophen gewidmeten Monographien. […] Tatsächlich ist es möglich, am Leitfaden einer Klärung des Immanenzbegriffs die eigentümliche Originalität und Radikalität der Deleuze’schen Philosophie zu rekonstruieren.« (Rölli(2011), 32) Wir werden gleich sehen, inwiefern die Immanenz wichtig für unser Verständnis des Ereignisses sein kann. Es geht darum, dass das Ereignis nicht ein Gegenüber zu einem Subjekt bildet und dass es nicht ausgehend von einem Pol (entweder vom Subjekt oder vom Objekt) betrachtet werden darf, sodass es dann immer eine Transzendenz zu dem anderen Pol darstellt. Es ist eher selbst ein Verhältnis, außerhalb dessen es nichts mehr gibt. Auch unser Verständnis des Ereignisses enthält das Moment der Immanenz, das allerdings, im Gegensatz zu Deleuze, nicht ontologisch verstanden werden darf. 80 »Réel sans être actuel, idéal sans être abstrait.« 81 Siehe auch: IL, 29/IV, 3).
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Gilles Deleuze (1925–1995)
Gegebenen zum in ihnen verkörperten Sinn kommt, der aber nicht ein abstrakter Begriff ist, sondern ein Ereignis, ein »Leben« (vie) 82: »Das transzendentale Feld definiert sich durch eine Immanenzebene und die Immanenzebene durch ein Leben.« (IL, 30/IV, 5)
Die sich immanent ereignenden Ereignisse, die weder im Subjekt als das Subjektive noch objektiv als das Objektive für das Subjekt ereignen – ist es nicht genau das, was auch Heidegger, Merelau-Ponty und Levinas über das Ereignis behaupten? In der Tat. Hier gibt es aber auch einen wesentlichen Unterschied. Für Heidegger, Merleau-Ponty und Levinas ist die Betroffenheit durch das Ereignis ein entscheidender Moment einer Ereignisphilosophie. Deswegen denkt eine solche Philosophie notwendigerweise zwei Pole: das Ich und den Anderen. Heidegger denkt das Dasein und das Sein, Merleau-Ponty den Leib und das Wahrgenommene, Levinas die Subjektivität und den Anderen. Diese Denker sind aber Ereignisdenker und das heißt: Das Sein ist nicht das Sein des Daseins, das Wahrgenommene steht nicht dem Leib entgegen, der Andere ist nicht das Objekt eines Subjekts. Und dies führt zur folgenden Konsequenz: Das Ereignis ist nicht das Sein, sondern das »Beziehen« der »Bezogenen« – des Daseins und des Seins. Das Ereignis ist somit dem Dasein und Sein äußerlich, etwas, was mit ihnen beiden geschieht – es ist die Beziehung selbst, die sich ereignet und worin das Dasein (und das Sein) eingeworfen sind. In diesem Sinne muss man vom Ereignis Heideggers so sprechen wie vom Ereignis Deleuzes, nämlich als von einer strukturimmanenten Relation und Bewegung zwischen zwei (und mehreren) Elementen, die in einer Struktur topologisch verteilt sind. Das Sein ist nicht das Sein des Daseins, sondern sie beide sind im Ereignis als seine Elemente; sie sind an einem Ort, wo sie sich zueinander beziehen. Übrigens ist es auch zu bemerken, dass man den Ort nur durch das Ereignis angemessen verstehen kann, nicht umgekehrt. Auch für MerleauPonty – in seinem Spätwerk – gibt es keinen Dualismus vom Leib und der wahrgenommenen Welt. Die Wahrnehmung gehört nicht einem Geist, der der Welt gegenübersteht, sondern ist selbst ein Ereignis der Welt: Sie ist »Rückkehr [retour – L. P.] des Sichtbaren zu Oder wie Friedrich Balke dies formuliert: »Der Empirismus ist transzendental, wenn er das Sinnliche aus seiner komplementären Beziehung zum Intelligiblen herauslöst und aus ihm kein neues erstes Prinzip macht.« (Balke(1998), 31) Siehe auch Marc Röllis Buch: Gilles Deleuze: Philosophie des transzendentalen Empirismus. Wien: Turia + Kant, 2003.
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sich selbst« (SU, 187/VI, 187). Unsere Aufmerksamkeit wird dann nicht mehr auf den Wahrnehmenden gelenkt, sondern auf eine Relation innerhalb des Geschehnisses der Welt. Und auch Levinas: Er denkt nicht bloß den Anderen für die Subjektivität, sondern die »Nähe«, wo ihr Ereignis der Begegnung stattfindet. Wenn man aber die Nähe denkt, denkt man nicht mehr die Betroffenheit durch das Ereignis, sondern zwei Elemente, die topologisch in einem virtuellen Raum verteilt sind und eine Relation miteinander haben. Andererseits sollte man nicht denken, dass, wenn eine Ereignisphilosophie als das Denken der Betroffenheit durch das Ereignis notwendigerweise auch strukturalistisch denken muss, sie damit strukturalistisch und der Strukturalismus zur Ereignisphilosophie wird; dass damit der wesentliche Unterschied zwischen zwei Denkansätzen verschwindet. Wenn das Ereignis die Begegnung mit der Transzendenz, das Bedeutsame des Lebens sein soll, dann ist es nie nur strukturalistisch zu fassen. Deleuzes transzendentales Feld der Ereignisse erlaubt nicht nur eine Möglichkeit, das Ereignis als das zu beschreiben, was sich mit jemandem ereignet statt für jemanden sich zu ereignen. Für das Verstehen des Ereignisses wäre es besonders wichtig, die Natur des Virtuellen, so wie es von Deleuze charakterisiert wird, zu untersuchen. Ein solcher Versuch ist schon von Claude Romano unternommen werden, obwohl ohne einen expliziten Bezug zu Deleuze. Unterscheidet Deleuze das Virtuelle von seiner Aktualisierung im Körperlichen, so unterscheidet Romano das reine Ereignis von einer »innerweltlichen Tatsache« (fait intramondain). Romano arbeitet aber durch und durch phänomenologisch, weswegen seine Unterscheidung vielleicht nicht hinreichend für das Verständnis des Ereignisses ist. Worin unterscheidet sich für ihn das Ereignis als Sachverhalt von einem wahren Ereignis? Dadurch, dass das wahre Ereignis mich betrifft, dadurch, dass es neue Möglichkeiten (Bedeutungen) in meiner Welt eröffnet. 83 Das Vorübergehen einer Passantin (vgl. Baudelaire) ist für einen eine Tatsache, für einen anderen aber ein Ereignis, weil er die Passantin liebt, weil sie die Liebe in seine Welt hineinbringt. Aber wenn man dies so beschreibt, entsteht eine für die Phänomenologie (und nicht nur für sie) typische Situation: Man stellt nämlich eine körperliche Realität vor (Passantin), auf die ein Sinn (meine Geliebte) aufgeschichtet wird. Dies trifft sogar noch auf (den frühen) Heideg83
Dazu siehe: EM, 40 ff.
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Gilles Deleuze (1925–1995)
ger zu, obwohl er Husserl für einen solchen Dualismus kritisiert. Es ist richtig, dass er (in seinen früheren Philosophie) behauptet, dass uns schon von Anfang an der Sinn gegeben ist und nicht zuerst das Sinnliche und danach der Sinn wie bei Husserl, aber für einen Dualismus macht es keinen Unterschied, ob die zwei Schichten gleichzeitig oder nacheinander gegeben sind. Die Phänomenologie kann nicht anders, als die Welt als dasjenige zu sehen, dem durch das Bewusstsein Sinn gegeben wird. Es ist vielleicht nicht falsch, aber für eine Philosophie des Ereignisses sind die Konsequenzen nicht akzeptabel: Wenn das Ereignis dadurch geschieht, dass ich einem Sachverhalt Sinn gebe, dann ist es kein Ereignis als Begegnung mit dem Anderen mehr, sondern mein Produkt. Außerdem wird es ins völlig Subjektive verortet. Was würde aber aus dem Ereignis der Offenbarung Gottes werden, wenn wir es als subjektiv bestimmen würden? Es würde absolut nichtig gemacht. Die Phänomenologie (Heidegger in seiner Ereignisphilosophie, Merleau-Ponty, Marion, Romano) rettet sich, indem sie sagt, dass Sinn nicht von einem Subjekt konstituiert, sondern einem Subjekt gegeben wird – vom Anderen. Aber dies ändert die Situation nicht, weil Sinn immer noch das ist, was der Empfänger verstehen muss. Er ist nicht an sich, er hat keine eigene Realität – seine Wirklichkeit hängt vom Empfänger ab. Dies kann man nicht vermeiden. Und deswegen wird es in der Phänomenologie immer so sein, dass Gott vom Menschen abhängt. Wir sehen: Für das Ereignis ist sehr entscheidend, dass es von einem Sachverhalt unterschieden wird, aber dies kann nicht so geschehen, dass man ihm einen Sinn (einen eigenen oder fremden) gibt. Das Ereignis als das Virtuelle von Deleuze kann hier eine Lösung anbieten. Das Vorübergehen der Passantin wäre dann nicht mehr als ein durch meine Sinngebung (ich liebe) konstituiertes ereignishaftes Faktum und auch nicht mir gegebenes (ich bin passiv) ereignishaftes Faktum, sondern als ein Fragment der virtuellen Realität, eine Relation zwischen Vorbeigehen, Begegnen, Lieben etc. zu verstehen. Damit entfällt, erstens, die Frage, was/wer den Vorrang erlebt und was/wen konstituiert – wir haben es einfach mit einer topologischen (also gleichrangigen) Relation verschiedener Elemente zu tun. In der Tat – und das haben wir schon gesehen – muss das Ereignis auch als eine Relation innerhalb einer Struktur beschrieben werden; zweitens – und das ist neu –, müssen wir nicht mehr eine Unterscheidung zwischen dem Körperlichen und Bewusstsein machen. Es ist nicht so, dass die Passantin ein Körper, das Vorbeigehen ein physisch beobachtbarer Prozess ist, und dass da95 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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gegen ihre Schönheit, der Blick, die Liebe dem Bewusstsein zugehören. Diese Unterscheidung wird mit der Einführung des Virtuellen ungültig gemacht. Sie alle sind Sinn-Ereignisse – unkörperlich, präsubjektiv. 84 Sie ereignen sich im Zwischen des Körpers (außen) und Geistes (innen), im Zwischen des Objektiven (Feststellbaren) und Subjektiven (Erlebbaren), auf der Oberfläche. Das Vorübergehen eines geliebten Menschen kann man nicht sehen und die Schönheit kann man nicht erleben – sie beide ereignen sich im Virtuellen als bestimmte Realitäten an sich. Und kann man nicht in der Tat die Ereignisse genau als das Virtuelle beschreiben? Dies würde vor allem bedeuten, dass man das Ereignis nicht als ein Gegenüber bestimmt und die Möglichkeit gewinnt, die Einbezogenheit des Subjekts ins Ereignis zu denken, was absolut entscheidend für das Ereignisdenken ist.
In der Tat sieht Foucault in der Vermeidung dieses Dualismus von Ereignis als Sachverhalt und Sinn und der Einführung eines körperlosen Ereignisses einen der Erfolge des Ereignisdenken Deleuzes: »Die Phänomenologie hat das Ereignis und den Sinn gegeneinander versetzt; entweder setzte sie das nackte Ereignis (den Felsen der Faktizität, die stumme Trägheit des Geschehenden) an den Anfang, um es dann der gewandten und durchdringenden Arbeit des Sinnes auszusetzen; oder sie setzte eine vorgängige Sinngebung voraus, das um das ich herum die Welt immer schon entworfen hat und dem Ereignis die Wege bahnt, die Plätze zuweist und die Gestalten vorgibt. Entweder geht die Katze mit gesundem Hausverstand dem Lächeln voraus oder der gemeine Menschenverstand des Lächelns greift auf die Katze vor. Entweder Sartre oder Merleau-Ponty. Für sie war das Ereignis niemals auf der Höhe des Sinnes. Die Folge ist eine Logik der Sinngebung oder Bedeutung, eine Grammatik der ersten Person, eine Metaphysik des Bewußtseins.« (ThPh, 32/892 f) Was bietet stattdessen Deleuze an? »Eine Metaphysik des körperlosen Ereignisses (das darum nicht auf eine Physik der Welt zu reduzieren ist); eine Logik des anonymen Sinnes (statt einer Phänomenologie der Bedeutungen und des Subjekts) […].« (ThPh, 33/893)
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Jacques Derrida (1930–2004)
»Immer wird man so tun können, als mache dies keinen Unterschied aus.« (RG, 31/MPh, 3) 85
Man wird nicht nur »so tun können«, sondern man wird es ganz bestimmt tun – so wie man es schon immer getan hat. Was wird man ganz bestimmt tun? Man wird so tun, als ob »dies keinen Unterschied ausmacht«. Was macht hier einen bzw. keinen Unterschied aus? Der Buchstabe a im Wort »différance«. Man hat hier zwei differente Wörter: ein bekanntes – différence –, das den Unterschied bedeutet, und eine von Derrida eingeführte Zusammensetzung von Buchstaben – différance –, die, streng genommen, »weder ein Wort noch ein Begriff« (ni un mot ni un concept) (RG, 32/MPh, 3) ist. Différance bedeutet nichts, man kann nicht fragen, was dieses Wort bezeichnet, was mit ihm gemeint ist. Weil es so ist, wegen diesem Unterschied »übersteigt« (passe) die différance »die Ebene des Verstandes« (ordre de l’entendement): »[E]r [der Unterschied – das a an der Stelle des e – L. P.] läßt sich schreiben oder lesen, aber er läßt sich nicht vernehmen. Er läßt sich nicht vernehmen, und wir werden sehen, worin er gleichfalls die Ebene des Verstandes übersteigt.« (RG, 32/MPh, 4)
Wozu braucht man ein anders geschriebenes Wort différence, wenn damit nichts gemeint wird? Um zu zeigen, dass man zwischen différence und différance keinen Unterschied sieht, sehen kann und will, und dies möglicherweise deswegen, weil différance nichts bedeutet. Würde différance etwas bedeuten, würde sie auf ein Seiendes hinweisen (sie ist aber »kein gegenwärtiges Seiendes« (étant-présent) (RG, 34/MP, 6)), müsste man sie nicht als différence auffassen, was sie nicht ist. Gilt also Derrida als ein Denker der Differenz, so könnte man vielleicht präzisieren: Er ist weniger ein Denker der Differenz 85
»On pourra toujours faire comme si cela ne faisait pas de différence.«
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als ein Denker der In-Differenz gegenüber der Differenz. Natürlich greifen wir damit nur einen von vielen Kontexten auf, in denen die différance bei Derrida erscheint und etwas zu denken gibt, aber auch einen wesentlichen – es geht um die »Dekonstruktion« (déconstruction) der »historischen Sinn-Bestimmung des Seins überhaupt als Präsenz« (détermination historiale du sens de l’être en général comme présence), die auch der »Phonozentrismus« (phonocentrisme) 86 ist, also um einen der zentralsten Gedanken in der Philosophie Derridas. Es wäre vielleicht nicht ganz falsch zu sagen, dass die »Metaphysik der Präsenz« (métaphysique de la présence) (SD, 348/EeD, 339), die gleichzeitig auch der Vorrang der »Stimme« (voix) gegenüber der »Schrift« (écriture) ist, dekonstruiert werden muss, weil sie keinen Unterschied sieht, und um diesen Unterschied zu sehen. Um dies zu vollbringen kommt die différance zum Einsatz. Einer von vielen Fällen, allerdings ein ausgezeichneter Fall der Dekonstruktion ist das Buch La voix et le phénomène (1967). Es setzt sich mit der Phänomenologie Husserls auseinander. Husserl fordert für die Phänomenologie – so Derrida – »Voraussetzungslosigkeit« (SPh, 10/VPh, 2). Das heißt: Will die Phänomenologie wahre Erkenntnis, muss sie von voraussetzungslosen Gegebenheiten ausgehen. Husserls »Prinzip aller Prinzipien« bestimmt diese »Rechtsquelle der Erkenntnis« als »originär gebende Anschauung« 87, die Derrida als »Gegenwart oder […] Gegenwärtigkeit des Sinns für eine volle und originäre Intuition« auslegt (SPh, 11/VPh, 3). »Die Sache selbst« – und die Erkenntnis, die Philosophie, die Weisheit begehrt nichts anderes als die Sache selbst – ist dann gegeben, wenn sie hier und jetzt im Bewusstsein angeschaut wird. Was Derrida in Frage stellt, ist genau die Voraussetzungslosigkeit dieser »Gegenwart« (présent) und »Gegenwärtigkeit«, Anwesenheit (présence) und den daraus folgenden Wahrheitsanspruch. Die Aufgabe der Dekonstruktion besteht darin, – von einer Seite – die Präsenz der Sache im Bewusstsein und – von anderer Seite – die Sache des Bewusstseins (den Sinn) als eigentlich abgeleitet aufzuweisen und so ihre Ursprünglichkeit (und damit ihre Voraussetzungslosigkeit) in Frage zu stellen. Die différance wird hier genau die Rolle der Einführung der Differenz in der Präsenz des Präsenten spielen, die ihrerseits genau diese Nicht»Man ahnt bereits, daß der Phonozentrismus mit der historischen Sinn-Bestimmung der Seins überhaupt als Präsenz verschmilzt.« (G, 26/23) 87 Siehe Husserls Ideen I: Hua III, 52. 86
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Jacques Derrida (1930–2004)
Ursprünglichkeit bedeuten wird. In La voix et le phénomène wird die Dekonstruktion »am bevorzugten Beispiel des Begriffs Zeichen« (SPh, 12/VPh, 3) durchgeführt. Derridas Analysen zeigen, dass in der Auffassung von »Zeichen« (signe) Husserl insbesondere an seinem »Ausdrucks«-Charakter interessiert ist (SPh, 28 f/VPh, 17 f). Ein Zeichen als Ausdruck drückt eine Bedeutung aus, hat einen Gegenstand, der sein »idealer Sinngehalt« (sens idéal) (SPh, 30/VPh, 19) ist. Mehr noch: Husserl ist nicht nur an dem Ausdruck interessiert – sein Vorhaben ist, die Sphäre der idealen Bedeutung von allem Sinnlichen (von physiologischen, psychischen Prozessen jeder Art, von subjektiven Akten des Ausdrückens etc.) zu befreien. Es ist »die Jagd nach der unangetasteten Reinheit [pureté – L. P.] des Ausdrucks« (SPh, 34/VPh, 22). Was ist charakteristisch für diese reine Sphäre des Ausdrucks? Es gibt hier drei wesentliche Aspekte, die miteinander verbunden sind. Erstens hat der Ausdruck nichts Sinnliches mehr an sich, er darf nicht mehr durch etwas Sinnliches (Worte, Schriftzeichen, Geste etc.) vermittelt werden, sich mit ihm vermischen. Dies ist aber nur – Derrida zitiert hier Husserl – im »einsamen Seelenleben« möglich (SPh, 58–60/VPh, 45– 47): »Im ›einsamen Seelenleben‹ sollte mir also die reine Einheit des Ausdrucks als solche endlich zurückerstattet werden.« (SPh, 58/VPh, 45)
Wo findet man also den Ausdruck in seiner Reinheit, der die ideale Bedeutung ist? Nur im Bewusstsein, im Inneren, dann, wenn man bei sich selbst ist. Die Bedeutung ist eine unvermittelte, zu sich selbst gekommene Bedeutung: das Bewusstsein. Die Gegenwart und Gegenwärtigkeit der Bedeutung bei sich selbst ist das Bewusstsein: »[…] wobei ›Bewußtsein‹ nichts anderes bedeutet als die Möglichkeit der Selbstgegenwart des Gegenwärtigen in der lebendigen Gegenwart.« (SPh, 17/VPh, 8) 88
In ihrer Reinheit und Idealität enthält die Bedeutung also nichts Sinnliches mehr und ist die Selbst-Präsenz des Bewusstseins. Aber wie – und damit kommen wir zum dritten Aspekt – realisiert sich diese Selbst-Präsenz der Bedeutung und des Bewusstseins? Die Ant-
»[…] »conscience« ne voulant rien dire d’autre que la possibilité de la présence à soi du présent dans le présent vivant.«
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wort auf diese Frage äußert gleichzeitig einen der zentralsten Gedanken in Derridas Philosophie: »Doch da sein Ideal-Sein nichts ist außerhalb der Welt, muß es in einem Medium konstituiert, wiederholt und ausgedrückt werden, das die Gegenwärtigkeit und die Selbstgegenwart der Akte, die es meinen, nicht antastet: ein Medium, das sowohl die Gegenwärtigkeit des Gegenstandes im Angesicht der Anschauung als auch die Selbstgegenwart, die absolute Nähe der Akte zu sich selbst, wahrt. Wenn die Idealität des Gegenstandes nur sein Sein-für ein nicht empirisches Bewußtsein ist, dann kann sie nur in einem Element ausgedrückt werden, dessen Phänomenalität nicht die Form der Weltlichkeit hat. Die Stimme ist der Name für dieses Element. Die Stimme hört sich, versteht sich (s’entend).« (SPh, 102 f/VPh, 84 f)
Die Bedeutung ist unvermittelt und ideal da durch die Stimme, die gleichzeitig spricht und hört, dass und was sie spricht. Dieses »Sichsprechen-hören« (s’entendre-parler), diese »Selbstaffektion« (autoaffection) (SPh, 106/VPh, 88) ist das Bewusstsein – »Die Stimme ist das Bewußtsein«. (SPh, 108/VPh, 89) 89 Idealität-Geist-Stimme gegen Materialität-Körper-Schrift: dieser Dualismus und der Vorrang des Ersteren sind zwei wesentliche Aspekte, die – nach Derrida – nicht nur den Husserl’schen Ansatz charakterisieren – sie sind typisch für die ganze Metaphysik. Durch das Beispiel von Husserl zeigt Derrida in La voix et le phénomène, wie die Metaphysik, die für ihn genauso wie für Heidegger die ganze bisherige Philosophie ist, im Allgemeinen denkt. Heidegger hat in seiner Metaphysikkritik besonders den »Idealismus« in Frage gestellt, er hat nämlich gefragt, ob wirklich alles, was es zu denken gibt, auf einen Begriff und seinen idealen Gehalt zu reduzieren ist. Nun, das Sein (schon in Sein und Zeit und später als Ereignis) war für ihn außerhalb der Begrifflichkeit und damit Idealität, außerhalb des vorstellenden und sich selbst vorstellenden Denkens. Levinas war derjenige, der auf die Einsamkeit des metaphysischen Geistes hingewiesen hat, auf sein Nicht-Wollen und auf seine Unfähigkeit, das Andere zu denken. 90 Derrida fügt der Diagnose über die Metaphysik noch ein Weil die Bedeutung in der Metaphysik eine tiefe Verbindung mit der Stimme hat, schlägt Derrida in La voix et le phénomène vor, das deutsche Wort »Bedeutung« als »vouloir-dire« zu übersetzten – die Bedeutung ist das, was ich sagen will, was ich meine (SPh, 29/VPh, 18). 90 Auch Derrida weist darauf hin, dass die Metaphysik, insofern sie das Ideale sucht, jede Andersheit ausschließen muss: »Die Beziehung zum Anderen als Nicht-Gegenwärtigkeit ist also die Unreinheit des Ausdrucks. Um die Anzeige in der Sprache zu 89
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Jacques Derrida (1930–2004)
weiteres Symptom hinzu: das Zeitalter der Metaphysik ist die »Epoche der phoné« (époque de la phoné) (SPh, 101/VPh, 83). »Die Geschichte der Metaphysik ist das absolute Sich-sprechen-hören-wollen.« (SPh, 138/VPh, 115)
Dieses wesentliche Merkmal der Metaphysik behandelt Derrida in seinem Werk De la grammatologie (1967). Dort heißt es, dass die »Geschichte der Metaphysik« »immer schon Erniedrigung der Schrift [écriture – L. P.]«, »Verdrängung der Schrift aus dem ›erfüllten‹ gesprochenen Wort [parole – L. P.]« gewesen ist (G, 11 f/11 f). Die Metaphysik bedeutet »Privileg der phone [phonè – L. P.]« (G, 18/17) und sie ist eine der »phonetischen Schrift« (écriture phonétique) (G, 11/11). Die Aufgabe der Dekonstruktion besteht darin, diese in der Tiefe liegenden und für die Metaphysik selbst unsichtbaren Strukturelemente ihres Denkens aufzuzeigen und gleichzeitig damit einen Ausweg zu eröffnen. Derrida hat also gezeigt, dass die Phänomenologie Husserls durch und durch die metaphysische Einstellung bewahrt. Sie sieht das Zeichen nur in seiner Ausdrucks-Funktion, also in seiner Funktion, eine ideale, geistige Bedeutung durch das gesprochene Wort im einsamen Seelenleben präsent sein zu lassen. Alles andere im Zeichen kann und muss reduziert werden, es spielt keine Rolle, es macht keinen Unterschied. Die ideale Bedeutung wird zu einer Totalität – es gibt nur sie, »alles spricht«, sein heißt sprechen, Bewusstsein heißt hören, was gesprochen wird, oder auch zum Sprechen bringen. Es gibt kein Außerhalb mehr von den Stimmen, die etwas sagen, die etwas präsentieren. Alles wird zum Zeichen, dessen Aufgabe es ist, etwas zu sagen, etwas zu präsentieren. Das durch das Zeichen Repräsentierte ist wiederum nur ein Zeichen, das zum Bewusstsein gehört und verstanden werden kann und so weiter ad infinitum. In De la grammatologie sieht Derrida in der Gegenwart eine »Inflation des Zeichens« (inflation du signe) (G, 16/15). Er nennt sie sogar »Krise« (crise) (ebd.). Sie bedeutet nichts anderes als dies: »Das Signifikat fungiert darin seit je als ein Signifikant. […] Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen.« (G, 17/16) reduzieren und endlich die reine Ausdrücklichkeit zurückzugewinnen, muß man also die Beziehung zum Anderen außer Kraft setzen.« (SPh, 57/VPh, 44)
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Jede Metaphysik ist der Vorrang der Stimme, des gesprochenen Wortes, das gleichzeitig spricht, also ein Zeichen gebraucht (Signifikant) und gleichzeitig hört, was es sagt (Signifikat). Diese Selbstaffektion ist die Gleichzeitigkeit und damit die Gleichheit von Signifikant und Signifikat. Es ist für die Metaphysik also unvermeidlich, dass sie letztendlich dazu kommt, dass es kein Außerhalb der Sprache gibt. Man könnte denken, dass diese postmoderne Ansicht, dass alles Zeichen ist, mit der Metaphysik bricht, aber für Derrida ist sie nur eine wesentliche Konsequenz der Metaphysik. Es geht um die Verlagerung jeder Gegebenheit in den Geist – in seiner lebendigen Gegenwart, in der er spricht und hört und auf diese Weise lebt – und um maximale Reduktion und sogar Erniedrigung des Nicht-Geistigen. 91 Die Reduktion des Zeichens auf die Präsentation des Gegenwärtigen im Bewusstsein, die Reduktion aller Gegebenheit auf die Gegebenheit für das Bewusstsein in seiner lebendigen Gegenwart – ist dieser Totalitarismus der Präsenz und die Bestimmung dieser Präsenz als »Quelle«, als Anfang (alles hat schon immer gesprochen) und Ende (alles kann und muss zum Sprechen gebracht werden) das letzte Wort? Kann man diese indifferente Totalität brechen? Das ist die Frage Derridas. Es ist die Frage danach, ob sich etwas der Präsenz im Geist entzieht; es ist die Frage nach der Schrift; es ist die Frage nach dem Anderen; und es ist die Frage nach dem Ereignis. Der Totalität kann man nur das entziehen, was sich von ihr unterscheiden kann. Die Dekonstruktion der Totalität ist die Frage nach der Differenz; es ist die Frage nach der Macht der Totalität, immer und überall, die Differenz abzuschaffen; es ist die Frage, ob die Philosophie sich dieser Macht entziehen kann, um die Differenz zu bewahren. Die reine Sphäre der »Gegenwärtigkeit des Sinns« und die Reduktion von allem Unreinen und Nicht-Gegenwärtigen –heißt so zu tun, als ob es keine Differenz gäbe. Gibt es aber Differenz in der PräIn der Tat ist für Derrida nicht alles Zeichen als die Anwesenheit der (abwesenden) Sache, die gelesen werden kann. Das Zeichen selbst ist nämlich kein Zeichen – es ist, wie wir später sehen werden, »Urschrift«. Und genauso wenig ist alles Metapher. Entzieht die Urschrift der Präsentation im Zeichen, entzieht der Begriff der Metapher seiner Bestimmung als Metapher: »Wollte man alle metaphorischen Möglichkeiten der Philosophie erfassen und klassifizieren, so bleibe mindestens eine Metapher immer ausgeschlossen, bliebe außerhalb des Systems: Zumindest diese, ohne die der Begriff der Metapher nicht konstruiert werden könnte, oder, um eine ganze Kette zu synkopieren, die Metapher der Metapher.« (RG, 240/MPh, 261) Es geht darum, dass immer ein Rest von der Präsenz übrig bleibt, der nicht in der Gegenwart des Bewusstseins angeschaut werden kann.
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senz? Oder ist sie in der Tat eine »ungeteilte Einheit« (unité indivise) (SPh, 83/VPh, 67), also nicht zusammengesetzt und so unabgeleitet, voraussetzungslos und ursprünglich? Man könnte einen Jetzt-Punkt annehmen, der nicht weiter geteilt werden kann, doch er wird immer als ein Punkt einer Zeitlinie gedacht, also als ein Teil eines Ganzen, wo er in Beziehung mit anderen Teilen tritt. Nur so kann auch die Präsenz der Bedeutung und die Selbst-Präsenz des Bewusstseins gedacht werden – als ein ausgedehnter Augenblick, wo das Jetzt das vergangene und zukünftige Jetzt in sich trägt: »Man wird dann sehr schnell gewahr, daß die Gegenwärtigkeit der wahrgenommenen Gegenwart als solche nur in dem Maße erscheinen kann, wie sie kontinuierlich mit einer Nicht-Wahrnehmung, nämlich der primären Erinnerung und der primären Erwartung (Retention und Protention), Verbindungen eingeht.« (SPh, 88/VPh, 72)
Trotzdem – und hier kommt die Nicht-Beachtung der Differenz zum Vorschein – wird diese zusammengesetzte Gegenwart als ein Jetzt gedacht: »Nichtsdestoweniger bleibt diese Extension von der Selbstidentität des Jetzt als Punkt – als »Quellpunkt« – her gedacht und beschrieben.« (SPh, 85/ VPh, 69) 92
Husserl – so Derrida – muss diese ausgeweitete Gegenwart trotzdem als ursprünglich gedacht haben, sonst könnte er nicht die lebendige Gegenwart der Bedeutung im Bewusstsein als Quelle der Erkenntnis setzen. Käme es aber dazu, dass sich diese lebendige Gegenwart nicht als eine »einfache« (simple) herausstellen würde, würde seine ganze Erkenntnistheorie zusammenbrechen: »Wenn die Punktualität des Augenblicks ein Mythos, eine räumliche oder mechanische Metapher, ein geerbter metaphysischer Begriff oder dies alles zugleich ist, wenn die Gegenwart der Selbstgegenwärtigkeit keine einfache ist, wenn sie sich in einer originären und irreduziblen Synthesis konstituiert, dann ist Husserls gesamte Argumentation in ihrem Grundsatz bedroht.« (SPh, 84/VPh, 68) Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Es geht nicht darum, dass Husserl das Jetzt als einfach und nicht-konstituiert betrachtet. Das tut er nicht – das innere Zeitbewusstsein wird konstituiert bzw. konstituiert sich selbst. Es geht darum, dass trotz dieser Konstitution das Bewusstsein das Bewusstsein des Jetzt ist, als ob es keine Konstitution gäbe. Mehr noch: Die Konstitution ist ja gerade dafür da, um etwas zur Gegenwart zu bringen. Die Konstitution des Zeitbewusstseins ist die Konstitution einer ausgedehnten Gegenwart, sodass das Vergangene und Zukünftige vergegenwärtigt werden können. Durch diese Reduktion der Differenz erscheint das Jetzt einfach. Das Bewusstsein fungiert für Husserls als Reduktion der Differenz, als der Prozess, den das Jetzt einfach macht. Wenn es sich herausstellen würde, dass die Synthese »originär und irreduzible« ist, wäre diese Einfachheit bedroht.
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Damit entsteht eine verkehrte Lage: Ist das Jetzt der Wahrnehmung als originär, ursprünglich, und gleichzeitig als nicht einfach, nicht originär, nicht identisch mit sich selbst bestimmt, so wird diese in sich ausgedehnte Gegenwart »originärer« als die phänomenologische Originarität selbst|«| (SPh, 92/VPh, 75). So fragt Derrida: »Daß diese Falte in der Gegenwärtigkeit oder in der Selbstgegenwart irreduzibel ist, daß diese Spur oder diese différance stets älter ist als die Gegenwärtigkeit und ihr ihre Offenheit verschafft, verbietet das nicht, von einer einfachen Identität-mit-sich »im selben Augenblick« zu sprechen?« (SPh, 93/VPh, 76)
Ist also die Präsenz eine einfache in sich abgeschlossene Totalität, der Ursprung ihrer selbst, die Identität, die Gleichzeitigkeit mit sich selbst? In der Tat nicht: Die Gegenwärtigkeit verbirgt in sich eine »Falte« (pli), die man nicht entfalten und zur Gegenwart machen kann. Sie ist »Nicht-Identität mit sich« (non-identité à soi) und als solche die »Spur« (trace) der Differenzierung, der différance: »Die lebendige Gegenwart geht aus ihrer Nicht-Identität mit sich und aus der Möglichkeit der retentionalen Spur hervor. Sie ist immer schon eine Spur.« (SPh, 115/VPh, 95)
Die Gegenwart selbst ist also abgeleitet, sie ist »Spur« (trace) von dem, was immer, also irreduzibel, »älter« (plus vieille) als sie ist und aus dem sie hervorgeht (jaillit). Somit hat die Gegenwart ein »Supplement« (supplément), oder, genauer gesagt: Sie hat ein Supplement, das ihr fehlt, das sie nicht erreichen kann und das auch ihr Sich-selbst-Fehlen bedeutet. Die différance ist aber nicht nur die Teilung der Gegenwart, sondern auch ihre Verzögerung; sie bedeutet, dass die Präsenz »aufgeschoben« ist – sie ist das, was danach kommt, irgendwann später: »So verstanden, ist die Supplementarität sehr wohl die différance, die Operation des Differierens 93, die in einem die Gegenwärtigkeit zerspaltet und 93 Zur Différance als »Operation des Differierens« (opération du différer): Die Différance ist ein komplexes Konzept. Für uns ist es in dem Kontext von Bedeutung, wo es die Differenz von Präsenz und Nicht-Präsenz und die Nicht-Beachtung dieser Differenz beschreibt; wo es nicht eine definierbare Differenz vom Präsenten und NichtPräsenten bedeutet, sondern nur das, dass das Präsente sich differenziert bzw. differenziert wird. Nun erinnert der Ausdruck opération du différer an Deleuzes Philosophie der Differenz. Der Ausdruck opération du différer erscheint 1967 in La voix et le phénomène. Différence et répétition von Deleuze erscheint 1968 und sagt Folgendes: »Von der Differenz muß also gesagt werden, daß man sie macht [fait – L. P.] oder daß
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verzögert und sie so im selben Zug der ursprünglichen Teilung und dem ursprünglichen Aufschub unterwirft. Die différance ist vor der Trennung zwischen dem Differieren als Aufschub und dem Differieren als aktiver Arbeit der Differenz zu denken. […] Die supplementäre Differenz vertritt die Gegenwärtigkeit in ihrem originären Sich-selbst-fehlen.« (SPh, 118/ VPh, 98)
Insofern die différance »Aufschub« (délai) 94 ist, macht sie in der Gegenwart ein »Intervall« (intervalle) auf; sie ist »Verräumlichung« (espacement). Nun ist die différance nicht als ein »Ursprung« (origine) zu denken: sie sich macht, entsprechend des Ausdrucks »einen Unterschied machen«.« (DW, 49/ DR, 43). Außerdem spricht Deleuze vom »Prozess« (procès) der »Differentiation« (différentiation) und »Differenzierung« (différenciation) (DW, 262/DR, 267) von der »Differenzierungszeit« (temps de différenciation) (DW, 267/DR, 272) o. Ä. Derrida und Deleuze fassen also beide die Differenz als einen Prozess auf, man könnte vielleicht sogar sagen: als Ereignis, obwohl das Ereignis sowohl für Derrida als auch für Deleuze etwas anderes bedeutet. Deswegen wäre es auch nicht richtig, zu sagen, dass jede Philosophie, die die Prozessualität, die Genese o. Ä. thematisiert, gleich eine Ereignisphilosophie in unserem Sinne ist. Die Philosophie des Ereignisses ist die Philosophie des Anderen, der Differenz zum Anderen, nicht die Philosophie des Prozesses, der Differenzierung o. Ä. Genauso wenig ist jede Philosophie der Differenz eine Philosophie des Ereignisses – man kann die Differenz sehr unterschiedlich auslegen. So ist das Denken der Differenz bei Derrida ein Denken des Ereignisses, aber das Denken der Differenz bei Deleuze ist es nicht. Aus folgendem Grund: Für Deleuze ist die Differenz das Sich-von-einander-Unterscheiden – in einer Struktur, topologisch, auf der Oberfläche ohne Tiefe; sie ist Verteilung auf einer Ebene und nicht Abfall von einem Ursprung. Eine der Hauptaufgaben von Différence et répétition ist es, die Differenz von ihrer Interpretation als Negation (Abfall) vom Identischen (Ursprung) zu befreien. Es gibt kein Identisches mehr, von dem sich etwas differenzieren würde. Differenz ist einfach Sich-von-einander-Unterscheiden – ohne das ursprüngliche Identische – und deswegen eine »negationslose Differenz« (différence sans négation) (DW, 12/DR, 2) Eine solche negationslose Differenz ist horizontal ausgerichtet. Sie ist aber vertikal ausgerichtet bei Derrida, genauso wie bei Heidegger oder Levinas. Deswegen, weil wir es hier nicht mit auf einer Ebene strukturierten differenten Elementen zu tun haben, sondern mit zwei Ebenen, von deren eine präsent sein kann, die andere dagegen nicht – sie ist das absolut Andere. Für Deleuze gibt es nicht das absolut Andere. Noch mehr: Das absolut Andere (absolute Negation) ist nur ein positiver Sinn auf derselben Ebene wie jeder andere Sinn. Die différance, die »Operation des Differierens«, die »die Gegenwärtigkeit zerspaltet und verzögert« ist aber genau die Einführung des absolut Differenten (der Präsenz), das nie positiv begriffen werden kann. 94 Bei der Bestimmung der différance sowohl als der »aktiven Arbeit der Differenz« (travail actif de la différence) als auch des »Aufschubs« beruft sich Derrida auf die zwei Bedeutungen des Wortes différer (RG, 36/MPh, 8).
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»Die différance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht etwa in einer einfachen und an sich unmodifizierten, in-differenten Gegenwart voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr Name ›Ursprung‹ nicht mehr zu.« (RG, 40/ MPh, 12)
Einen Ursprung zu denken, hieße, ihn als ein präsentes Seiendes zu setzen. Die Präsenz aber, wie es festgestellt wurde, ist nicht einfach, sondern eine in sich differenzierte und aufgeschobene Spur. Eine Spur ist aber kein Ursprung. Insofern also der Ursprung in der Präsenz (wo denn sonst?) gedacht wird, muss er als eine Spur gedacht werden – als eine in sich differenzierende Spur. Insofern aber diese Spur nicht als bloße indifferente Präsenz gedacht wird, sondern als die Differenzierung der Präsenz und damit ihre Ermöglichung, ist die différance nicht bloß Spur, sondern »Urspur« (archi-trace): »Und ich schlage vor, diese Konstitution der Gegenwart, als »originäre«, und in irreduzibler Weise nicht-einfache, also, stricto sensu, nicht-orginäre Synthese von Merkmalen (marques) […], Urschrift, Urspur zu nennen.« (RG, 42/MPh, 14) 95
Die différance ist somit nicht nur die Differenzierung und Aufschub der Präsenz, sondern sie – sofern sie in einem philosophischen Diskurs erscheint – differenziert sich von sich selbst und wird zur Spur. Die différance als Ursprung zu denken, wäre eine Nicht-Beachtung der Differenz, nämlich der Differenz zwischen der Präsenz und dem Ursprung; sie wäre die Totalität der Präsenz. Die différance in der Präsenz ist aber auch eine différance im Zeichen, insofern Zeichen vorzugsweise als Phonem, als gesprochenes Wort und nicht als schriftliches Zeichen gesehen wird; insofern das Zeichen auf das reduziert wird, was es bedeutet, was es zu sagen hat, insofern es die Anwesenheit der bezeichneten Sache in ihrer Abwesenheit ist. 96 Es geht um die différance in der Sprache (langage), insofern sie vorzugsweise als die gesprochen Sprache, als JemandemIn der Übersetzung fehlen hier die letzten zwei Wörter dieses Satzes. Im Original heißt es: »Et c’est cette constitution du présent, comme synthèse »originaire« et irréductiblement non-simple, donc, stricto sensu, non-originaire, de marques […] que je propose d’appeler archi-écriture, archi-trace ou différance.« 96 »Das Zeichen, so sagt man gewöhnlich, setzt sich an die Stelle der Sache selbst, der gegenwärtigen Sache, wobei »Sache« hier sowohl für die Bedeutung als auch für den Referenten gilt. Das Zeichen stellt das Gegenwärtige in seiner Abwesenheit dar. Es nimmt dessen Stelle ein.« (RG, 37/MPh, 9) 95
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etwas-Sagen, Jemandem-etwas-durch-das-Zeichen-Vermitteln verstanden wird. Ist aber das gesprochene Wort bloß Präsentation der Sache? Ist die gesprochene Sprache ursprünglich und die Schrift nur ein »Derivat« (G, 25/23), »Zeichen der Zeichen« (G, 53/45)? Das Werk De la grammatologie verfolgt diese Frage. Genauso wie es bei der Behandlung der Präsenz festgestellt wurde, ist auch das Zeichen noch nicht alles und nicht der Ursprung: »Wir werden zu zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge.« (G, 29/26)
Das Zeichen ist auch es selbst (nicht nur die präsentierte Sache) und es entsteht aus einem Differenzierungsprozess. Derrida nennt diesen Prozess »différance« – »Urschrift« (archi-écriture) – und weist darauf hin, dass sie als »Bedingung« (condition) für die Sprache kein Element dieser Sprache sein kann: »Die Urschrift, Bewegung der *Differenz 97, irreduzible Ursynthese, die in ein und derselben Möglichkeit zugleich Temporalisation, das Verhältnis zum Anderen und die Sprache eröffnet, kann, insofern sie die Bedingung für jedes sprachliche System darstellt, nicht selbst ein Teil davon sein und kann ihm folglich nicht als ein Gegenstand einverleibt werden.« (G, 105/88)
Ein Zeichen präsentiert, ihre materielle Seite – Signifikant – kann aber nicht auf die Präsenz des Signifikats reduziert werden. Und insbesondere das schriftliche Zeichen, die der Phonozentrismus als abgeleitet vom gesprochenen Wort sehen wollte, weist auf ein in sich differierendes System hin, das ein Zeichen auftauchen lässt, selbst aber nicht ein Zeichen für seine Präsenz ist, also nicht im Bewusstsein präsent sein kann: »Diese Urschrift, wenngleich ihr Begriff durch die ›Arbitrarität des Zeichens‹ und die Differenz thematisiert ist, kann nicht und wird niemals als Gegenstand einer Wissenschaft anerkannt werden können. Sie ist gerade das, was nicht auf die Form der Präsenz reduziert werden kann.« (G, 99/83)
Das Denken der différance weist also auf eine Grenze der Präsenz und des Zeichens und damit auf die Grenze des Denkens und der Philosophie hin. Das Denken will aber immer diese Grenze überschreiten und das Nicht-Präsent-ierbare, sein Anderes denken. Dies kann nur durch die Nicht-Beachtung von différance, durch die Nicht-Beachtung vom Buchstaben »a« geschehen. Das Denken sieht die Differenz 97
Im Original: différance.
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und trotzdem übersieht es sie. Es sieht sehr wohl, dass die vergegenwärtigte Vergangenheit keine Vergangenheit mehr ist, trotzdem will sie die Differenz nicht wahrhaben – es macht aus dem »a« ein »e«. Sie sieht sehr wohl, dass die Schrift ein merkwürdiges, an sich selbst seiendes System bildet, trotzdem versteht sie es bloß als Mittel für die Präsentation des Sinnes. Wird aber das Andere durch das Zeichen im Denken präsentiert, hat das Denken es schon verfehlt. So heißt es in Marges – de la philosophie (1972): »Indem man es [das Andere – L. P.] als solches denkt, indem man es als solches (an)erkannt, verfehlt man es. Man eignet es sich wieder an, man verfügt darüber, man verfehlt es – oder man droht es zu verfehlen, man versäumt, es zu verfehlen – was, im Hinblick auf das Andere, immer auf dasselbe hinausläuft.« (RG, 14 f/MPh, II)
Derrida stellt diese Indifferenz, diesen Versuch, die Grenze zu überschreiten, in Frage: »[…] wird es in diesem Buch fast ständig darum gehen, die Aufhebung (relevance) der Grenze einer Befragung zu unterziehen.« (RG, 14/MPh, II)
Nun ist das, was das Andere des Denkens bildet, nicht Eines. Das Denken stößt überall auf verschiedene Grenzen. Der Aufschub der Gegenwart, die urschriftliche Genese des Zeichens sind nur zwei Beispiele. Die Aufsatzsammlung (1967) L’écriture et la différence gibt noch andere Beispiele: den Wahnsinn (in Bezug auf Foucault), den anderen Menschen (in Bezug auf Levinas), das Leben (in Bezug auf Antonin Artaud), das Subjekt (in Bezug auf Freud) u. a. Will Foucault in seinem Buch Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge Classique (1961) die Geschichte des Wahnsinns »von seiner eigenen Instanz ausgehend« (SD, 58/EeD, 56) schreiben, so ist ein solcher Versuch »unmöglich« und »wahnsinnig«: »Indem er eine Geschichte des Wahnsinns schrieb, hat Foucault – und das ist der ganze Wert, aber auch die Unmöglichkeit seines Buches – eine Geschichte des Wahnsinns selbst schreiben wollen. Selbst. Des Wahnsinns selbst. Das heißt, indem er ihm das Wort gibt. Foucault hat den Wahnsinn zum Subjekt seines Buches machen wollen […].« (SD, 57 f/EeD, 55 f) »Es handelt sich also darum, der Falle oder der Naivität zu entgehen, die beide objektivistisch wären und darin bestünden, in der Sprache der klassischen Vernunft unter der Benutzung der Begriffe […] eine Geschichte des ungebändigten Wahnsinns selbst zu schreiben, so wie er besteht und atmet, bevor er in den Netzen eben jener klassischen Vernunft gefangen und pa-
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ralysiert wird. Der Wille, dieser Falle zu entgehen, besteht bei Foucault fortwährend. Er ist das Kühnste und Bestechendste an diesem Versuch. Er gibt ihm auch die bewundernswerte Spannung. Es ist aber auch, und hier handelt es sich nicht um ein Wortspiel, das Wahnsinnigste an seinem Vorhaben.« (SD, 58/EeD, 56)
Ein Buch des Wahnsinns selbst ist eine »Unmöglichkeit« (impossibilité), weil ein Buch immer ein Buch der Vernunft ist. »Ein Buch des Wahnsinns« heißt die Differenz zwischen der Vernunft und dem Wahnsinn nicht sehen, es heißt, den Wahnsinn für die Vernunft zu halten. Und ist dies nicht genau die Definition des Wahnsinns, nämlich etwas für etwas anderes zu halten als es ist? Und ist es nicht das »Wahnsinnigste« 98 überhaupt, dass sogar dann, wenn man den Unterschied anerkannt und der »Naivität entgehen« will, trotzdem den Unterschied nicht sieht? Eine ähnliche Frage stellt Derrida an Artaud und sein Projekt des »Theaters der Grausamkeit«. Will Artaud das Theater vom Autor, vom vorgeschriebenen Text, also vom führenden Geist, der das Leben von sich selbst entfremdet, befreien, kann er dies doch unmöglich durch eine Inszenierung, ein »Werk« (œuvre) tun: »Selbst wenn Artaud das Werk und das geschriebene Werk, wie er es getan hat, nicht wieder in ihre Rechte gesetzt hätte, weist sein Vorhaben überhaupt (die Reduzierung des Werks und der Differenz, der Geschichtlichkeit also) nicht auf das Wesen des Wahnsinns [folie – L. P.] hin?« (SD, 298/DeE, 289 f)
Das Wahnsinnige liegt darin, dass man das im Werk vollzogene Leben für ein nicht entfremdetes Leben hält – eben weil das Werk den reflexiven Geist angeblich reduziert hat. Aber hat es dies? In der Tat nicht. Der Wahnsinn ist die Nicht-Beachtung der Differenz; wenn man also »a« für »e« hält. Das Ereignis in der Philosophie Derridas stellt eine weitere Grenze der Präsenz, des Zeichens, des Denkens dar. Die Angaben Derridas zum Ereignis sind zwar in seiner ganzen Schaffensperiode zu finden (dabei mehr in der späteren Philosophie), sind aber eher knapp und hinweisend als ausführlich, eher in verschiedene Richtungen zeigend als definitorisch und systematisch, eher marginal als zentral; und dort, wo es um Ereignisse geht, geht es eher um bestimmte Der volle Satz lautet im Original: »Mais c’est aussi, je le dis sans jouer, ce qu’il y a de plus fou dans son projet.«
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Ereignisse (Gabe, Vergebung, Gastfreundschaft) als um Ereignisse überhaupt. 99 In diesem Sinne ist Derrida kein systematischer Ereignisphilosoph. Andererseits denkt er das Ereignis, dieses Denken muss aber im Kontext seiner Philosophie erst re-konstruiert (oder eher konstruiert) und vielleicht dann de-konstruiert werden. Auf jeden Fall ist sein Verständnis des Ereignisses nur im Kontext seiner Philosophie der différance, Dekonstruktion der Metaphysik der Präsenz, Grammatologie zu denken. 100 Deswegen haben wir hier eine längere Einführung vorausgeschickt, bevor wir zur Ereignisthematik bei Derrida kommen. Das »Ereignis« Derridas ist – wie wir schon gesagt haben – kein Begriff mit einer bestimmten Definition. Als Konzept bildet es eher ein Geflecht ohne ein Bedeutungszentrum, ein Geflecht verschiedener Aspekte, die nicht aufeinander oder auf eine Oberbestimmung reduzierbar sind. Außerdem ist dieses Geflecht nicht eingegrenzt – es kann immer noch ein neuer Aspekt dazu kommen. 101 Wir wollen hier versuchen, die wesentlichsten dieser Aspekte des »Ereignisses« in Derridas Denken aufzuweisen. Das Ereignis ist nämlich: singulär, unmöglich, jenseits der Ökonomie (bedingungslos), unvorhersehbar. Das Ereignis als Singularität erscheint in Verbindung mit dem Zeichen, das – wie wir gesehen haben – die Funktion der Präsentation des Präsenten in der Selbstpräsenz (im Bewusstsein) hat. Nun, ist Man kann auch Thomas Khurana zustimmen: »Das Wort »Ereignis« (événement) fungiert in den Texten Derridas von Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie (Derrida 1987; frz. Orig.: 1962) bis hin zu seinen jüngsten Texten (vgl. z. B. Derrida 2001a [Derrida: Une certaine possibilité impossible de dire l’événement – L. P.]) in sehr unterschiedlicher Weise, mal beiläufig, mal mit Gewicht, mal als attackierte, mal als heranzitierte oder auch deutlich in Anspruch genommene Kategorie.« (Khurana, 236) 100 Wir stimmen hier Khurana zu: »Ein erster Zug, der das Denken des Ereignisses in der Dekonstruktion zu situieren erlaubt, liegt darin, auf eine der beständigsten und elementarsten Bewegungen dieser Dekonstruktion zurückzukommen: die Dekonstruktion der Metaphysik der Präsenz und damit einhergehende Infragestellung der Werte der Gegenwart, der Präsenz, der Fülle und der Anwesenheit. Aus diesem Movens, das Derrida Philosophie bestimmt, rührt eine wesentliche Bestimmung des Ereignisbegriffs. Wenn dekonstruktive Unternehmungen diese Kategorie affirmativ in Anspruch nehmen, dann nur in dem Maße wie »Ereignis« gerade nicht die pure Präsenz einer erfüllten Gegenwart meint.« (Khurana, 236) 101 Auch hier können wir Khurana zustimmen: »Die Bestimmungsstücke, die man in den Texten Derridas finden kann, bilden ein unabgeschlossenes Geflecht von Elementen, die alle aufeinander bezogen sind. Sie stützen sich wechselseitig und lassen sich nicht in einen einfachen Ableitungszusammenhang einordnen.« (Khurana, 243) 99
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diese Präsentation genügend komplex. Das Zeichen kann nur so funktionieren, dass es als das gesehen wird, was immer das Selbe bezeichnet, also als eine »Identität« (identité). Diese Identität muss dann eine »Idealität« (idéalité) sein – eine Idealität in dem Sinne, dass sie unabhängig von ständig sich verändernden empirischen Umständen (das Zeichen kann zum Beispiel zu verschiedenen Zeiten, von verschiedenen Handelnden gebraucht werden) die gleiche bleibt. Die Identität und die Idealität des Präsenten ermöglichen dann die »Wiederholung« (répétition) des Zeichens 102: »Ein Phonem oder ein Graphem ist in einem gewissen Maße jedesmal, wenn es sich in einer Operation oder einer Wahrnehmung gegenwärtig, notwendig immer anders, aber als Zeichen und Sprache im allgemeinen kann es nur fungieren, wenn eine formale Identität erlaubt, es wieder in Umlauf zu bringen und es wiederzuerkennen. Diese Identität ist notwendig eine ideale. Sie impliziert also notwendigerweise eine Repräsentation: als Vorstellung, Ort der Idealität im allgemeinen, als Vergegenwärtigung, als Möglichkeit der reproduzierenden Wiederholung im allgemeinen und als Repräsentation, insofern jedes signifikante Ereignis Ersatz (ebenso für das Signifikat wie für die ideale Form des Signifikanten) ist.« (SPh, 70/VPh, 55 f)
Das Zeichen als Präsentation ist immer die Präsentation des Wiederholbaren. Als die Präsentation des Wiederholbaren wird sie selbst wiederholbar – sie wird zumindest als solches gesehen – und kann dann als Sprache überhaupt funktionieren. Man denkt, dass das Wort »Haus« immer das Selbe ist, ob es nun gesprochen oder geschrieben, ob es nun jetzt oder vor 100 Jahren gesagt wird. Das Entscheidende liegt aber darin, dass nicht nur die Bedeutung dieses Wortes als das Identische gesehen wird, sondern auch das Zeichen selbst. Es geschieht eine Reduktion der jeweiligen empirischen Umstände, die in der Tat nicht wiederholbar sind, sondern singulär. Und diese Singularität der Produktion eines Zeichens nennt Derrida »Ereignis«. Das Ereignis ist niemals das Gesagte oder das Geschriebene, sondern das Sagen und das Schreiben. Wollte man dieses Sagen und Schreiben bezeichnen und beschreiben, wäre dieses bezeichnete Sagen und Schreiben wiederum kein Ereignis mehr, sondern das Identische, Ideale, Wiederholbare. Das Ereignis wäre dann dieses Bezeichnen und Thematisieren, wenn man aber von diesen zu sprechen begänne, würden sie gleich ihre Ereignishaftigkeit verlieren und so ad infini102
Vgl.: SPh, 13/VPh, 4.
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tum. Kurz: Das Ereignis ist das, was sich dem Zeichen entzieht, die »Einmaligkeit« (unicité): »Ein Zeichen ist niemals ein Ereignis, wenn Ereignis unersetzliche und unumkehrbare empirische Einmaligkeit bedeutet. Ein Zeichen, das nur »einmal« stattfände, wäre kein Zeichen.« (SPh, 69/VPh, 55)
Dieses Zitat stammt aus 1967, aber noch 1997 im Vortrag Une certaine possibilité impossible de dire l’événement sagt Derrida: »Da das Sprechen an die Struktur der Sprache gebunden ist, ist es andererseits einer gewissen Allgemeinheit, einer gewissen Iterierbarkeit, einer gewissen Wiederholbarkeit unterworfen und muss schon deswegen die Singularität [singularité – L. P.] des Ereignisses verfehlen.« (UES, 21/IDE, 89)
Man kann viele Schlussfolgerungen daraus ziehen, zum Beispiel: Ist das Denken sprachlich, also denkt es einen idealen Sinn, ist das Ereignis undenkbar; ist das Zeichen die Repräsentation des Wiederholbaren, ist das Ereignis nicht präsentierbar – es kann nicht in der Präsenz des Denkens erscheinen, ohne seine Ereignishaftigkeit zu verlieren etc. Wir haben gesagt, dass das Ereignis nicht das Zeichen ist, sondern die Produktion des Zeichens. Dies wäre wahrscheinlich eine unberechtigte Einschränkung dieses Konzepts. Man kann zwar durch dieses Beispiel sehr gut demonstrieren, was die Singularität des Ereignisses bedeutet, damit schöpft man aber nicht alle Möglichkeiten des Ereignishaften aus. Es wäre vielleicht richtiger zu sagen, dass das Ereignis ganz allgemein das ist, was sich dem Zeichen entzieht. Es ist aber interessant, dass die Bestimmung des Ereignisses als der Akt des Sagens 103, des Schreibens Derrida in der Nähe zu Austins Sprechakttheorie bringt. In der Tat setzt sich Derrida mit Austin und später mit Searle auseinander. 104 Und 1997 sagt Derrida: 103 Wir möchten in diesem Zusammenhang auf das Werk von Dieter Mersch hinweisen, dessen Ereigniskonzept sehr nah zu dieser Idee von Derrida steht. Mersch versteht unter dem Ereignis das Auftauchen der Materialität des Zeichens (nicht des Sinnes), seine materielle Gegenwärtigkeit (nicht die ideelle Gegenwärtigkeit des Sinnes). Siehe zum Beispiel sein Buch: Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis. München: Fink, 2002. 104 Zu Austin äußerste sich Derrida im Vortrag Signature événement contexte (1971, veröffentlicht in Marges – de la philosophie). Derridas Auseinandersetzung mit Searle begann nach Searles Aufsatz Reply to Derrida: Reiterating the Differences (1977), wo er Derridas Interpretation von Austin behandelte. Derrida antwortet zu diesem Text in Limited Inc a b c … (veröffentlicht zuerst auf Englisch 1988 in der Aufsatz-
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»Wenn ich zum Beispiel etwas verspreche, spreche ich nicht über ein Ereignis, sondern mein Sprechakt ist das Ereignis, ich verspreche, indem ich spreche. Ich sage »ja«, ich habe vorhin mit diesem »Ja« begonnen: Das »Ja« ist performativ. Das ist das Beispiel der Eheschließung, das immer bemüht wird, wenn man vom Performativen spricht: »Wollen Sie X zum Mann/ zur Frau nehmen? – Ja.« Das »Ja« bezeichnet nicht das Ereignis, es ist oder konstituiert das Ereignis. Es ist ein Sprech-Ereignis, ein Rede-Ereignis.« (UES, 20/IDE, 88) 105
Wenn wir aber sagen, dass die Bestimmung des Ereignisses als der Akt des Sagens, des Schreibens Derrida in die Nähe zu Austins Sprechakttheorie bringt, dann meinen wir nur »in die Nähe«. Austins Sprechakt ist immer noch ein empirisches Ereignis, das zum Gegenstand einer Theorie werden kann. Eher als ein Wesen für eine Untersuchung zu sein, ist »Sprech-Ereignis« (parole-événement), ein Rede-Ereignis (dire-événement) für Derrida das, was eben diesem Wesen als sein »Symptom« (symptôme) existiert und nicht vergegenständlicht werden kann. 106 Wenn es also um die Singularität des Ereignisses geht, muss man unterscheiden: Es ist unmöglich, ein Ereignis zu sagen, ohne seine Singularität zu verfehlen, aber das Ereignis ist als ein Sprech-Ereignis, ein Rede-Ereignis möglich. Es ist möglich, aber es ist unmöglich, dieses Ereignis durch das Zeichen in der Präsenz des Bewusstseins, das nur das Identische, Ideale und Wiederholbare besitzen kann, zu repräsentieren. Wir haben aber schon darauf hingewiesen, dass es nicht richtig wäre zu behaupten, dass Derrida das singuläre Ereignis, das unmöglich für das Zeichen ist, ausschließlich in einem »Sprechsammlung Limited Inc, die neben der Antwort auf Searle auch Derridas früheres Essay zu Austin und ein Interview enthält). 105 Diese Übersetzung ist leider alles andere als präzise, insbesondere der erste Satz, der im Original lautet: »Quand je promets, par exemple, je ne dis pas un événement, je fais l’événement par mon engagement, je promets ou je dis.« Es geht hier also nirgendwo um einen »Sprechakt«, der ein philosophischer Begriff ist, sondern nur darum, dass »ich nicht ein Ereignis sage«, sondern »das Ereignis durch mein Versprechen schaffe«. Der letzte Satz bestätigt dies: »Le »oui« ne dit pas l’événement, il fait l’événement, il constitue l’événement.« Außerdem wird im ersten Satz des Originals kein Wort hervorgehoben, während in der Übersetzung »ist« hervorgehoben wird. 106 Das Ereignis ist das, »das sich weder in Form einer Feststellung, einer theoretischen Aussage oder einer Beschreibung vollzieht, noch in Form einer performativen Produktion, sondern nach Art eines Symptoms. Ich schlage dieses Wort als dritten Term vor, jenseits der wahrheitsfähigen Aussage und der Performativität, die das Ereignis hervorbringt.« (UES, 48/IDE, 104 f)
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Ereignis« sieht. Es gibt viele davon. Une certaine possibilité impossible de dire l’événement nennt folgende: »Geständnis« (aveu), »Gabe« (don), »Vergebung« (pardon), »Erfindung« (invention) und »Gastlichkeit« (hospitalité). Ein inzwischen sehr bekannt gewordenes Buch Derridas – La fausse monnaie. Donner le temps I (1991) – macht die Gabe und die Unmöglichkeit, die Singularität des Ereignisses einzuholen, zu seinem Thema. Es wird gefragt: »Warum und wie vermag ich zu denken, daß die Gabe das Unmögliche ist?« (FG, 20/FM, 22)
Die Antwort: »Denn darin liegt das Unmögliche, das sich hier zu denken zu geben scheint. Diese Bedingungen der Möglichkeit der Gabe nämlich (daß irgend »einer« irgend »etwas« irgend »einem anderen« gibt) bezeichnen gleichzeitig die Bedingungen der Unmöglichkeit der Gabe. Und das könnten wir von vornherein auch anders wiedergeben [traduire]: diese Bedingungen der Möglichkeit ergeben [produire] oder definieren die Annullierung, die Vernichtung, die Zerstörung der Gabe.« (FG, 22/FM, 24)
Das Unmögliche ist das, dessen »Bedingungen der Möglichkeit« (conditions de possibilité) »gleichzeitig« (simultanément) die »Bedingungen der Unmöglichkeit« (conditions de l’impossibilité) sind. Und dies bedeutet konkret: Die Bedingungen des Erscheinens der Gabe (oder eines anderen Ereignisses) sind die Bedingungen ihres Verschwindens: »[I]n jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr.« (FG, 26/FM, 28) 107
Nun ist diese Struktur durch das ganze Werk Derridas sichtbar. Wir haben gesehen, dass in Bezug auf Husserl die Vergangenheit nur durch ihre Vergegenwärtigung präsent (d. h. existierend) sein kann, aber so tritt nur eine vergegenwärtigte Vergangenheit zum Vorschein, während die Vergangenheit selbst völlig hinter der Indifferenz gegenüber der Vergangenheit und der Vergangenheit, die zur Präsenz gehört, verschwindet. Ein Buch über den Wahnsinn ist nur dann möglich, wenn man den Wahnsinn selbst sprechen lässt. Der Wahnsinn spricht aber nicht. Wird er zum Sprechen gebracht, verschwindet er. Ist es nicht merkwürdig, dass nach dem Erscheinen des 107 Im Original: »[…] en tout cas, le don n’existe pas et ne se présente pas. S’il se présente, il ne se présente plus.«
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Buches, das den Wahnsinn sprechen lässt, wir mehr von ihm entfernt sind als vor dem Erscheinen? Mit dem Buch des Wahnsinns gibt es keinen Wahnsinn mehr. In dem Moment, wo ein singuläres Ereignis im Bewusstsein reflektiert wird, verschwindet es. Es ist sehr wichtig zu beachten, dass die Unmöglichkeit nicht heißt, dass es etwas nicht gibt bzw. nicht geben kann. Es geht nämlich nicht um die Unmöglichkeit (logische, physische etc.), sondern um das Unmögliche. Das Unmögliche ist nicht einfach unmöglich: »Nicht unmöglich, sondern das Unmögliche, die Figur des Unmöglichen selber.« (FG, 17/FM, 19) 108
Das Unmögliche ist nicht unmöglich schon in dem Sinne, dass die Bestimmung von etwas als »unmöglich« schon die Klassifizierung und damit die Präsenz des Klassifizierten im Bewusstsein voraussetzt. Die Unmöglichkeit des Unmöglichen ist genau diese Unmöglichkeit der Präsenz – streng verstanden als die Gegenwart des Gegenwärtigen (des Sinnes) in der Selbstgegenwart des Bewusstseins, die wiederum durch die Vergegenwärtigung (Versammlung) des Vergangenen und des Zukünftigen in einem Jetzt möglich ist. Aber diese Unmöglichkeit zerstört auf keinen Fall das Ereignis selbst: »Doch das Unmögliche ist nicht nichts.« (Sch, 199Anm.37/V, 204n.1) 109
Das Unmögliche ist das, was unmöglich wird, wenn es in der Präsenz erscheint – nur in der Präsenz hört es auf zu existieren, nicht überhaupt. Es ist auch klar, dass damit jede Phänomenologie der Gabe und des Ereignisses überhaupt völlig unmöglich wird. Und sie wird nur dann möglich, wenn sie gerade unmöglich wird. Das Unmögliche der Präsenz muss in Derridas Fall nicht unbedingt wie bei Merleau-Ponty oder Levinas als eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war, gedacht werden, also als das, bezüglich dessen man immer mit der Verspätung kommt, bezüglich dessen man immer nur mit einer Spur (Spur wird ja als die Anwesenheit eines Weggegangenen verstanden) zu tun hat. 110 In anderen Hinweisen zum Ereignis – so zum Beispiel in Échographies – de la télévision (1996) oder Une certaine possibilité impossible de dire l’événement Im Original: »Non pas impossible mais l’impossible. La figure même de l’impossible.« 109 Im Original: »Mais l’impossible n’est pas rien.« 110 Obwohl in Derridas Texten auch das Motiv des Zu-spät-Kommens bezüglich des Ereignisses zu finden ist. Siehe zum Beispiel: GF, 91/H, 113. 108
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
(1997, veröffentlicht 2001) – betont Derrida seinen Charakter des »Kommens« (venue): »Das Kommen des Ereignisses ist etwas, was man weder je verhindern kann noch soll, ein anderer Name für die Zukunft selbst.« (Echo, 22/19)
Als die Zukunft (avenir) ist das Ereignis unvoraussagbar, unerwartet, überraschend: »Das heißt nur, dass das Ereignis als solches, als absolute Überraschung, über mich hereinbrechen muss. Warum? Weil ich es andernfalls kommen sehen würde und es einen Horizont seiner Erwartung gäbe. In der Horizontalen sehe ich es kommen, sehe und sage ich es voraus; das Ereignis aber ist das, was niemals vorausgesagt werden kann. Ein vorausgesagtes Ereignis ist kein Ereignis. […] Bevor es sich ereignet, kann das Ereignis mir nur als unmögliches erscheinen. Das heißt aber nicht, dass es nicht stattfinden kann, dass es nicht existiert; es heißt nur, dass ich es weder auf theoretische Weise aussagen noch es vorhersehen kann.« (UES, 35/IDE, 97) 111
Erscheint das Ereignis in der Präsenz, ist es nicht mehr Kommen, ist es nicht mehr unvorhersehbar, sondern schon »angekommen« (arrivé) und deswegen kein Ereignis mehr: »Ein vorhergesehenes Ereignis ist bereits gegenwärtig [présent], läßt sich bereits vergegenwärtigen [présentable], es ist bereits angekommen und in seinem Hereinbrechen neutralisiert.« (Sch, 192/V, 197)
Wenn ein angekommenes Ereignis schon neutralisiert ist, muss das Ereignis das sein, was niemals ankommt. Nicht das, was wirklich niemals ankommt, sondern als das, was, sogar dann, wenn es angekommen ist, d. h. in Präsenz erschienen ist, immer noch unmöglich bleibt: »Selbst wenn etwas als Mögliches eintritt, wenn ein Ereignis sich als möglich erweist, hört die Tatsache, dass es unmöglich hätte sein sollen […], nicht auf, die Möglichkeit heimzusuchen. […] Es bleibt unmöglich – auch wenn es vielleicht stattgefunden hat, bleibt es doch trotzdem unmöglich.« (UES, 37, IDE, 98 f) »Diese Heimsuchung ist die gespenstische Struktur der Erfahrung des Ereignisses, und sie ist absolut wesentlich.« (UES, 38/IDE, 99)
111 Aus irgendwelchem Grund sind in dieser Übersetzung einige wichtige Wörter ausgelassen. Der problematische Satz sollte folgendermaßen erweitert werden (siehe die von mir hervorgehobenen Stellen): »In der Horizontalen sehe ich es kommen, sehe und sage ich es voraus; und [et] das Ereignis ist das, was gesagt, aber niemals vorausgesagt werden kann [qui peut être dit mais jamais prédit].«
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Jacques Derrida (1930–2004)
Nach dem Eintreffen bleibt das Ereignis immer noch unmöglich, weil das in der Präsenz Erscheinende (das für das Bewusstsein Angekommene) es nicht ist. Das, was sich ereignet und sich ereignet hat, ist unbegreiflich. Das Singuläre kann nicht durch eine mit sich selbst identische Idealität repräsentiert werden und bleibt in diesem Sinne unmöglich – unmöglich für das Bewusstsein, unmöglich für die Sprache; unmöglich – das, was immer nur im Kommen ist, selbst dann, wenn es angekommen ist. Derridas Ereignisbegriff enthält aber noch einen wesentlichen Aspekt, der oft in den von Derrida beschriebenen EreignisBeispielen (Gabe, Vergebung, Gastfreundschaft etc.) auftaucht. Es geht darum, dass das Ereignis sich außerhalb der »Ökonomie« (économie) ereignet. Um diesen Aspekt zu verstehen, muss zuerst geklärt werden, wie Derrida das Ökonomische versteht. Nach der Aufklärung dieser Frage, werden wir auch sehen, dass die Bestimmung des Ereignisses als außerhalb der Ökonomie seiend, sehr wohl zu den anderen Bestimmungen des Ereignishaften passt. Es wundert nicht, dass es um die Ökonomie ausdrücklich und ausführlich dort geht, wo die Gabe thematisiert wird – es ist intuitiv verständlich, dass die Gabe etwas mit Geben, Dank, Erwiderung, Waren, Wert, Schuld, Schulden etc. zu tun hat. In der Tat wird es in La fausse monnaie sogar ganz explizit gefragt: »Was ist die Ökonomie?« (FG, 16/FM, 17). Sie hat laut Derrida drei wesentliche Merkmale: »Gesetz (nomos), »Haus (oikos)« und »die Idee des Tausches, der Zirkulation, der Rückkehr« (ebd./FM, 17 f), wobei das ganz wesentliche Charakteristikum das des »Kreises« (cercle), der »Zirkulation« (circulation) ist: »Ganz offensichtlich steht dabei, wenn man das von einem Kreis denn sagen darf, die Figur des Kreises im Zentrum. Sie steht im Zentrum jeder Problematik der oikonomia, ist zentral für den gesamten ökonomischen Bereich: zirkulärer Austausch, Zirkulation der Güter […].« (FG, 16/FM, 18)
Die Gabe als Ereignis hat Bezug zum Ökonomischen, indem sie es »unterbricht« (interrompt), außerhalb des Gesetzes und ohne die Rückkehr nach Hause ist: »Die Gabe jedoch, wenn es sie gibt, bezöge sich ohne Zweifel auf die Ökonomie. […] Aber ist die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auch gerade das, was die Ökonomie unterbricht?« (FG, 16 f/FM, 18)
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
»Gabe gibt es nur, wenn keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld.« (FG, 22 f/FM, 24) 112
Auch dies ist immer noch intuitiv verständlich: Die Gabe gibt es dann, wenn man sich mit der Gegengabe nicht rechnet; wenn man sie nicht erwartet oder sogar auffordert. Man spricht von der Gabe, wenn man gibt, ohne sich selbst dafür zu loben; wenn man den Anderen nicht sich schuldig fühlen lässt. Man gibt, wenn man den Wert der Gabe nicht kalkuliert, sondern großzügig gibt etc. Dies alles würde die Unterbrechung der Ökonomie bedeuten. Nun gehören solche Behauptungen zum üblichen, normalen, alltäglichen Gabe-Diskurs, und was dieser Diskurs hinterfragt, ist das Bewusstsein des Gebers (oder auch des Empfängers). Das heißt: Um die Reinheit – die Bedingungslosigkeit – der Gabe einzuschätzen, befragt man den Geber. Wenn er nicht gerechnet hat, wenn er keine Gegengabe fordert, dann hat er außerhalb des Ökonomischen gegeben. Man kann genauso gut auch den Empfänger befragen: Wenn er durch die Gabe sich nicht schuldig fühlt, hat es eine Gabe gegeben. Der übliche Gabe-Diskurs ist somit durch und durch phänomenologisch – es wird ausgehend vom Bewusstsein gedacht. Es gibt das Ereignis (der Gabe), wenn das Bewusstsein sagt, dass es diese und jene Bedingungen für ein Ereignis erfüllt sind; es gibt entsprechend keine Gabe (als Ereignis), wenn etwas diesbezüglich nicht stimmt. Das Ökonomische und auch das Nicht-Ökonomische werden ausgehend vom Bewusstsein definiert. Ganz kurz gesagt: Das Ereignis ereignet sich dann, wenn das Bewusstsein unter bestimmten Bedingungen etwas als Ereignis bestimmt. Hier kommt aber der entscheidende Punkt: Derrida bestimmt das Ökonomische und damit das Nicht-Ökonomische nicht ausgehend vom Bewusstsein als dessen Modi in dem Sinne, dass das Bewusstsein entweder kalkulierend oder selbstlos agieren kann; er bestimmt die Ökonomie (und damit auch die Gabe, die die Ökonomie 112 Oder in Bezug auf die Gastfreundschaft: »[D]ie absolute und unbedingte Gastfreundschaft, die ich ihm [dem absolut Anderen – L. P.] gewähren möchte, setzt einen Bruch mit der Gastfreundschaft im gängigen Sinne, der bedingten Gastfreundschaft, dem Recht auf Gastfreundschaft oder dem Gastfreundschaftspakt voraus.« (GF, 26 f/ H, 29) Dies bedeutet nichts anderes, als dass man den Fremden ohne jedwede Kalkulation, ohne jedwedes Gesetzte bedingungslos aufnimmt. Und bezüglich der Verzeihung gilt dasselbe: »Nur da, wo die Vergebung unmöglich bleibt, weil nur die Vergebung des nicht Vergebungsfähigen Sinn hat, nur da kann Vergebung statt haben, wenn sie überhaupt statt hat.« (UES, 46/IDE, 103 f) Die Verzeihung ist entweder bedingungslos (also unmöglich) oder es gibt nur das ökonomische Kalkül.
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unterbricht) nicht ausgehend vom Bewusstsein. Er bestimmt das Bewusstsein (und damit auch seinen Gabe-Begriff) ausgehend vom Ökonomischen, und seine These lautet: Das Bewusstsein selbst funktioniert ausschließlich ökonomisch, es stellt immer Bedingungen auf. Dies kann man nicht vermeiden. Wenn es etwas außerhalb des Ökonomischen geben sollte, sollte es außerhalb des Bewussteins geben. Folglich: Wenn das Ereignis sich ereignet, gibt es kein Bewusstsein, das es als Ereignis bestimmen würde. Diese Schlussfolgerung kommt, wie wir sehen, sehr nahe dem, was schon über die Singularität, Unmöglichkeit und Unvorhersehbarkeit des Ereignisses gesagt wurde. Was heißt aber, dass das Bewusstsein ökonomisch funktioniert, dass es etwas mit Geben und Zurückgeben, Kreis und Zirkulation zu tun hat, weswegen im und durch das Bewusstsein keine Gabe und kein anderes Ereignis möglich sind? Wenn das Bewusstsein als Selbstpräsenz des Präsenten verstanden wird, hat es den engsten Bezug zu der Zeit. Die Zeit wird aber als Kreis verstanden: »Eine der mächtigsten und unvermeidlichsten Metaphern, jedenfalls in der Geschichte der Metaphysik, ist die Vorstellung von der Zeit als einem Kreis. Demnach wäre die Zeit stets Prozeß oder eine Bewegung in der Form des Kreises, folgte der Kreisbahn.« (FG, 18/FM, 19)
Was heißt, dass die Zeit zirkuliert? Das heißt, dass das, was wegegeben ist, später zurück kommt. Jeder gegebene Zeitpunkt differenziert sich, schiebt sich auf, um in der Präsenz zurückerhalten zu werden. Genauso kann jeder Zeitpunkt damit rechnen, dass er den nächsten empfangen wird, den er wieder weitergeben wird, um ihn wieder zurückzubekommen. Das Zukünftige, das ich erwarte, wird zur Vergangenheit werden, die ich in der Präsenz wieder vergegenwärtigen werde und die wieder ein Zukünftiges in sich tragen wird. Ein Kreis. Die Präsenz gibt und nimmt, gibt und nimmt. Sie ist selbst das Geben (Erwartung) und Zurücknehmen: das Aufschieben und die Vergegenwärtigung. Etwas, womit man nicht rechnen kann, etwas, was nicht zurückkehrt, ist in diesem Kreislauf nicht möglich – auch keine Gabe. Sollte etwas diese Ökonomie unterbrechen, sollte man einen »Augenblick« (instant) denken, der nie in die Präsenz als Selbstpräsenz des Vergangenen zurückkommt, einen Augenblick, »für den man keine Zeit hat«: »Daß […] überall, wo die Zeit als Kreis herrscht (ihr »vulgärer« Begriff, wie Heidegger sagen würde), die Gabe unmöglich ist. Eine Gabe könnte nur möglich sein, Gabe kann es nur geben in dem Augenblick, wo ein Einbruch
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in den Kreis stattgefunden haben wird: in dem Augenblick, wo jede Zirkulation unterbrochen gewesen sein wird, und zu der Kondition dieses Augenblicks. Und überdies dürfte dieser Augenblick (der den Zeitkreis unterbricht, in ihn einbricht) nicht mehr zur Zeit gehören. […] Gabe gäbe es nur in dem Augenblick, wo der paradoxe Augenblick […] die Zeit zerreißt. So gesehen hätte man nie die Zeit für eine Gabe. Auf jeden Fall ist die Zeit oder die »Gegenwart« der Gabe, ihr »Präsent«, nicht mehr als ein Jetzt denkbar, das heißt als eine Gegenwart, die in die zeitliche Synthesis eingebunden ist.« (FG, 19/FM, 21)
Wenn sich ein Ereignis ereignet, dann ohne die Zeit, die als Präsenz und ausgehend von der Präsenz verstanden wird; also ohne Selbstpräsenz, ohne mich. Ich kann nur geben, wenn ich nichts davon weiß; ich kann nur etwas erfinden, wenn ich nicht weiß, wie es dazu gekommen ist, wenn es mir nicht möglich ist, dies zu wiederholen. Angenommen, ein Ereignis hat stattgefunden (es gab eine Gabe), oder wir hoffen, dass es stattfinden wird (wir warten auf die Vergebung). Aber das Ereignis – wie wir gesehen haben – ist unmöglich für die Präsenz oder ein Zeichen. Wenn es erscheint, verschwindet es hinter der Erscheinung, es wird zerstört: »[I]n jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr.« (FG, 26/FM, 28) 113
Das Bewusstsein ist also an sich ein Ökonom. Es ist nicht unüberlegt und verschwenderisch. Es ist rechnend und versammelnd. Hat es eine Gabe gegeben (hat es zum Beispiel ein Kind zur Welt gebracht), kehrt es zu diesem Moment zurück, nennt sie beim Namen und behält sie so. Oft belohnt es sich mit einer Anerkennung, oder eher immer, weil das Erkennen schon Anerkennen ist. Demzufolge: »Die bloße Identifikation der Gabe scheint sie zu zerstören.« (FG, 25/ FM, 26)
Gelangt das Ereignis zur Präsenz und Zeichen (was eigentlich dasselbe ist), gibt es es nicht mehr – es verschwindet in der Allgemeinheit des Zeichens, in dem Kreislauf des Tausches, in den Berechnungen und Rechnungen. Das Bewusstsein identifiziert, anerkennt, berechnet, tauscht gegen etwas anderes ein, stellt eine Rechnung, macht zum Schuldner. Wenn aber ein Ereignis sich ereignet, gibt es nichts, es wird nichts identifiziert, nichts wird behalten, um später 113 Im Original: »[…] en tout cas, le don n’existe pas et ne se présente pas. S’il se présente, il ne se présente plus.«
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Jacques Derrida (1930–2004)
gegen etwas anderes eingetauscht werden zu können. Das Ereignis ist reiner Verlust, allerdings ohne vorherigen Besitz. Das Ereignis ist das, »was man nicht hat« 114 und deswegen jenseits der Ökonomie, jenseits des Haushaltes. Das Ereignis ist das Bedingungslose – das, was ist, ohne bestimmt zu werden, ohne überhaupt gesetzt zu werden; das, was man nicht hat und deswegen auch niemals zurückbekommen wird. Reine Gabe, unbedingte Gastfreundschaft oder Verzeihung des Unverzeihlichen sind einige Fälle des Bedingungslosen, die Derrida analysiert. Aber seine Bedingungslosigkeit wird nicht vom Bewusstsein bestimmt, weil die Bestimmung eine Bedingung ist. Das bedeutet nicht nur, dass das Ereignis der Bestimmungen des Bewusstseins entzieht, nämlich, dass es ohne Identifizierung/Nicht-Identifizierung, Anerkennung/Nicht-Anerkennung, Schuld/Nicht-Schuld etc. verläuft, um überhaupt sein zu können. Das bedeutet auch, dass es – wenn es einmal stattgefunden hat bzw. vielleicht einmal stattfinden wird – für das Bewusstsein, das mit Verspätung kommt bzw. auf es wartet, völlig unbegreiflich und unlogisch erscheint. Warum und wie, und was überhaupt ist passiert? Das Nicht-Ökonomische, Alogische, Sinnlose, Unerklärliche, Absurde etc. des Ereignisses stellt eine Herausforderung für das Bewusstsein – den großen Ökonom – dar, die es nie bewältigen kann. In diesem Sinne wirkt das Ereignis auf das Bewusstsein zerstörerisch. Aber nicht nur auf das Bewusstsein. Angenommen, dass das alltägliche Leben eines Einzelnen, die normalen zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gesellschaft insgesamt durch mehr oder weniger bestimmte Regeln organisiert sind, so stellt das Bedingungslose immer eine Gefährdung der Ordnung dar. Und trotzdem ist genau es das Objekt des Begehrens. 115 Das Ereignis ist trotz allem genau das, was man am meisten begehrt, insofern man überhaupt begehrt.
Vgl. FG, 10–14/FM, 12–15. In der Tat gebraucht Derrida das Wort »Begehren« (désir) bezüglich der Gastfreundschaft: »im Begehren nach Gastfreundschaft oder im Begehren als Gastfreundschaft« (GF, 91/H, 113).
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Alain Badiou (1937)
Die »Sache« der vorliegenden Untersuchung ist das Ereignis als Betroffenheit im Sinne des Aus-sich-Heraustretens. Wir haben es in der Einleitung vorweggenommen und wir werden am Schluss die These aufstellen, dass dieses Ereignis kein Gegenstand der Phänomenologie (welche Erscheinungen sie auch immer behandeln würde) sein kann – obwohl es die Betroffenheit ist und kein Gegenstand der Ontologie (welches Seiende oder welches Sein sie auch immer behandeln würde) – obwohl es das Aus-der-Erfahrung-Heraustreten ist. Und wir behaupten – mit Levinas – schon im Voraus, dass dieses »Aus-der-Erfahrung-Heraustreten« keine Erfahrung des »Aus-der-ErfahrungHeraustretens« ist, sondern das, was geschieht. Was der Erfahrung gegeben worden ist, ist das Zu-spät-Kommen als Spur und Sehnsucht. Deleuze als ein strukturalistischer Ereignisdenker gab uns die Möglichkeit, das Ereignis jenseits der Phänomenologie zu denken. Genauso wie Heideggers Ereignisdenken bietet er eine Topologie an: Man erfährt nicht das Ereignis, man ist im Ereignis, das wesentlich eine topologische Verteilung der Elemente (als Sinneseinheiten) ist (diese Elemente sind zum Beispiel: Ich und Er und Ort der Begegnung; Worte, die wir einander sagen, Auftauchen eines Gefühls etc.). Obwohl Deleuze, in unseren Augen, zu ontologisch vorgeht, weil er – durch sein Konzept des »transzendentalen Feldes« – das Bewusstsein völlig ausschließt, behält er einen Anknüpfungspunkt zur Erfahrbarkeit des Ereignisses, nämlich weil er es als Sinn sieht. In diesem Kontext können wir einen weiteren nicht-phänomenologischen Ereignisdenker – Alain Badiou – einordnen. Um seiner spannenden Konzeption des Ereignisses näher zu kommen, ist es hilfreich, sie mit der von Deleuze zu vergleichen. Dies bereitet keine Schwierigkeiten, denn Badiou hat einen solchen Vergleich schon vielerorts 116 Dazu siehe insbesondere sein Buch: Deleuze. La clameur de l’être (1997) und das Kapitel »L’événement selon Deleuze« in Logiques des mondes (2006).
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Alain Badiou (1937)
selbst gemacht. Wir möchten davon einige für uns wichtige Punkte hervorheben. Erstens hat Deleuze versucht, »das Eine Einzige Ereignis« zu denken, das sich zwar in allen Richtungen und ins Unendliche erstreckt, aber trotzdem das Ziel der Philosophie ist. Für Badiou heißt es: »Das Eins ist nicht.« (l’un n’est pas) (SE, 37/EeE, 31) Oder: »Es gibt nicht »das Eine Einzige Ereignis, von dem alle anderen nur Fragmente und Fetzen sind«, und es kann es nicht geben.« (LW, 412/LM, 408)
Es gibt nur Vielheiten. Es gibt kein Ein Einziges Sein. Zweitens unterscheidet Deleuze zwar das Ereignis vom körperlichen Sein (darunter auch vom »körperlichen« Sein des Satzes), aber es hat trotzdem ein »Mindestmaß an Sein«. Das Ereignis bleibt also eine Seinsart oder – radikal formuliert – alles ist Ereignis, das Sein ist das Ereignis, während für Badiou das Ereignis genau das »Was-nicht-das-Sein-als-Sein ist« (ce-qui-n’est-pas-l’être-en-tant-qu’être) (SE, 28/EeE, 20) bedeutet. 117 Drittens ist das Ereignis für Deleuze wesentlich ein SinnEreignis, während es für Badiou in Verbindung mit der Wahrheit steht, und sie ist keine geistige, ideelle, sprachliche, verstandene Gestalt, sondern ein unendlicher Bearbeitungsprozess von dem, was aus dem Nichts – aus dem Ereignis – kommt: »Als lokalisierte Dysfunktion des Transzendentals einer Welt hat das Ereignis nicht den mindesten Sinn, noch ist es der Sinn. Wenn es nur als Spur bleibt, heißt das keineswegs, dass es auf die Seite der Sprache kippen muss. Es eröffnet nur einen Raum von Konsequenzen, in dem sich der Körper einer Wahrheit zusammensetzt.« (LW, 412/LM, 408)
Viertens gibt es aber eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen beiden Denkern, nämlich dass sie beide das Ereignis im Rahmen des Unpersönlichen untersuchen. Über seine Philosophie schreibt Badiou, dass »[…] das Motiv eines unpersönlichen transzendentalen Felds in meiner ganzen Großen Logik dominiert und darin bis ins feinste technische Detail als Logik des Erscheinens oder der Welten durchgeführt ist.« (LW, 407/ LM, 403)
117 Diesen Aspekt hat sehr schön Bruno Besana herausgearbeitet. Er schreibt in Bezug auf Deleuze: »Sein und Ereignis haben eine Bedeutung (Univozität).« (Besana, 323) Und in Bezug auf Badiou: »Badiou begreift das Sein und das Ereignis als getrennte Instanzen, als Sein und Außer-Sein (extra-être) […].« (Besana, 326)
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Das will sagen, dass Badiou eine Philosophie (an dieser Stelle die »Logik des Erscheinens« (logique de l’apparaître)) ohne das Subjekt (verstanden als Innerlichkeit) anstrebt. In der Tat schreibt er: »Man versucht hier eine kalkulierte Phänomenologie. Die in diesen Beispielen angewandte Methode steht in der Tat einer Phänomenologie nahe, aber einer objektiven. Darunter ist zu verstehen, dass man die Konsistenz dessen, wovon man spricht […], kommen lässt, aber nicht etwa, indem man wie Husserl seine reale Existenz, sondern ganz im Gegenteil seine intentionale oder gelebte Dimension neutralisiert. Man erprobt die Äquivalenz zwischen dem Erscheinen und der Logik durch eine reine Beschreibung, eine Beschreibung ohne Subjekt.« (LW, 56/LM, 48) 118
Damit haben wir die ersten Hinweise darauf gewonnen, wie das Ereignis bei Badiou zu verstehen ist: Es gehört nicht zum reinen Sein und es hat ein wesentliches Verhältnis zu der Wahrheit als einem vom Ereignis ausgelösten Prozess in der Welt, die als eine konkrete Erscheinung zu verstehen ist. Um dem Konzept des Ereignisses bei Badiou näherzukommen, müssen wir von seinem hier bereits mehrfach zitierten Werk – Logiques des mondes (2006) –, das die Wahrheit thematisiert, zu seinem Werk L’être et l’événement (1988) zurückkehren. Wir haben bereits gesehen, dass das Eins nicht ist. Das Sein, nämlich das, was ist – »das, was (sich) präsentiert« (SE, 38/EeE, 32) 119 – ist immer eine »Vielheit« (multiple), eine »Mannigfaltigkeit« (multiplicité), wobei gilt, dass »jede Vielheit […] eine Vielheit von Vielheiten ist« (SE, 43/EeE, 37) 120. Es gibt also nur Vielheiten, und jede solche Vielheit, die als eine Vielheit verstanden wird, nennt Badiou »Situation« (situation): »Ich nenne Situation jede präsentierte Vielheit. (SE, 38/EeE, 32)
Es gibt überall Situationen: alltägliche, geschichtliche, kleinere, komplexere, traurige, besondere etc. Eine Situation ist, so könnte man sagen, eine kleine konkrete Welt, etwas, was sich gerade in dem Moment gibt, sich präsentiert. Es ist wichtig, zu bemerken, dass die 118 In unserer Terminologie würden wir eine solche Phänomenologie bzw. Logik des Erscheinens »Ontologie« nennen, weil sie das Subjekt ausschließt. Wir weisen aber darauf hin, dass in der Philosophie Badious die Ontologie fest definiert ist – die Ontologie als Lehre vom Sein als Sein ist das, was die Mathematik tut: »die Mathematik ist die Ontologie«, da »die Mathematik das Sein-als-Sein bewacht« (SE, 29/EeE, 21 f). 119 »[…] l’être est ce qui (se) présente […].« 120 »[…] tout multiple est un multiple de multiples.«
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Alain Badiou (1937)
Situation als eine Situation existiert – sie bildet eine Einheit, sie hat ihre Elemente, die in einem Verhältnis zueinander stehen. Mit anderen Worten: »jede Situation [ist] strukturiert« (SE, 38/EeE, 32) 121. Jede Situation ist eine Vielheit, und jede Vielheit ist wiederum eine Vielheit. Trotzdem ist jede Situation eine Situation: Sie wird als eine »gezählt« (compter). Diese Eins, wie wir schon gesehen haben, ist nicht, präsentiert sich nicht, gehört nicht zur Situation, ist nicht ihr Element; es ermöglicht, die Situation als eine zu zählen, wird aber selbst nicht gezählt. Damit ist es in der Situation »das Nichts« (le rien). Uns wird also gesagt: »[…] dass das Nichts die Operation der Zählung ist, welche als Quelle des Eins selbst nicht gezählt wird […].« (SE, 72/EeE, 68)
Das Nichts nennt Badiou »Leere« (le vide). In terminologischer Hinsicht ist Folgendes wichtig: Das Eins zählt eine Vielheit zu einer Vielheit. Damit, so könnte man vielleicht sagen, umfasst es eine Vielheit. Wegen dieser Funktion nennt Badiou es »Sein«: das Sein der vielen Seienden. Aber das Eins ist nicht und damit ist auch das Sein nicht. Und genau in diesem Kontext müssen wir den folgenden Satz Badious interpretieren: »Die Leere ist der Name des Seins […].« (SE, 73/EeE, 69) 122
Wir befinden uns an diesem Moment mitten in einem ontologischen Unternehmen. Badious Beschreibung der gegebenen Lage ist ontologisch-mathematisch. Wenn wir aber diese formalen Analysen ein wenig veranschaulichen, können wir uns Folgendes vorstellen: Es ist eine konkrete Situation gegeben, zum Beispiel ein Zimmer. Hier gibt es einen Tisch, einen Stuhl, ein Fenster, einen Sonnenstrahl, der durch das Fenster einbricht etc. Wenn man im Zimmer steht, sieht man dieses Zimmer und alle diese Sachen, aber man sieht nicht das Eine dieses Zimmers – es ist nirgendwo, es wird nicht präsentiert. Wirft man den Blick auf den Tisch, so sieht man wiederum vieles: die Beine, die Oberfläche, die Sachen, die auf ihm liegen, aber nicht das Eine des Tisches. Es gibt Vielheiten aber nicht das Eine. Dieses Eine gehört nicht zum Sein, insofern das Sein nur als Vielheit ist, das Sein-als-Sein aber nicht ist. Und meistens bleibt es auch so. 123 »[…] toute situation est structurée.« »Le vide est le nom de l’être […].« 123 »Aber für den Moment genügt es festzuhalten, dass es innerhalb einer Situation niemals eine fassbare Begegnung mit der Leere gibt.« (SE, 73/EeE, 69) 121 122
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Jetzt können wir fragen, wie diese Analysen zum Konzept des Ereignisses führen? Auf folgende Weise: Es wird gezeigt, dass jede 124 präsentierte Vielheit die Leere an sich hat, die nicht präsentiert ist 125, die aber genau der Ort ist, an dem ein Ereignis als Überschuss (excès) über das präsentierte Sein einbrechen kann. Wenn man dies veranschaulicht: Durch das Fenster, das sich durch seinen weißen Rahmen, durch den Ausblick auf die Straße, durch das Licht der Sonne präsentiert, kann plötzlich eine leere Stelle auftauchen, durch die eine Handgranate ins Zimmer geworfen wird und mit einer gewaltigen Explosion alles zerstört. Nicht das Fenster selbst ist diese Stelle, sondern ein Punkt (point) 126 ohne Dimensionen in der Situation selbst. Er kann überall auftauchen: Deswegen spricht Badiou von seinem »Umherirren« (errance) (SE, 76/EeE, 70). Er kann auch im Türrahmen auftauchen und durch ihn kann ein Polizist eintreten und sagen, dass ich endlich für einen Mord verhaftet werde, den ich vor 11 Jahren begangen habe. Jede Situation enthält also die Leere, die nicht präsentiert ist – es gibt nur die Vielheiten. Die Vielheit wird bei Badiou nicht nur einmal als Eins, sondern doppelt gezählt: »Aus der Tatsache, dass das Chaos nicht die Form der Seinsgegebenheit ist, folgt notwendig, dass es eine Verdoppelung der Zählung-als-Eins [réduplication du compte-pour-un – L. P.] gibt.« (SE, 113/EeE, 110)
Das Resultat dieser Verdoppelung nennt Badiou »Repräsentation« (représentation) (SE, 114/EeE, 110) oder »Verfassung« (état) (SE, 115/EeE, 111). Was bedeutet das für das Denken des Ereignisses? Dass die Elemente einer Situation nicht nur da sind, sondern auch als Elemente dieser Situation erfasst werden. In jeder Situation – insofern sie zum ersten Mal als Eins gezählt wird – irrt unmerklich die Leere herum. Insofern die Situation zum zweiten Mal gezählt wird, stellt sich heraus, dass es in ihr Elemente – »Terme« (terme) – gibt, die da sind, die präsentiert sind, aber nicht repräsentiert werden: Es ist wichtig zu betonen, »dass jede [von mir hervorgehoben – L. P.] existierende Vielheit ohne Einschränkung die Leere als Teilmenge zulässt« (SE, 108/EeE, 102). Dies heißt nichts anderes, als dass das Ereignis überall – überall ohne Ausnahme – auftauchen kann. 125 Badiou schreibt, dass »die Leere in einer Situation das Nichtpräsentierbare der Präsentation ist« (SE, 74/EeE, 70). 126 Die Leere muss als »reiner Punkt« (pur point) (SE, 97/EeE, 92) gedacht werden: »Die Leere ist der unpräsentierbare Seinspunkt jeder Präsentation.« (SE, 97/EeE, 92) 124
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Alain Badiou (1937)
»Es gibt immer Teilmengen, die, obwohl sie in der Situation als Zusammensetzung von Vielheiten eingeschlossen sind, nicht als Terme gezählt werden können und also nicht existieren.« (SE, 117/EeE, 113)
Wenn wir also zu unserem Beispiel mit der Handgranate zurückkehren: In der Situation des Zimmers wandert eine Leere herum. Das besagt die ontologische Beschreibung der Situation. Die Leere hat keine bestimme Verortung. Wenn aber die Situation nach der Explosion der Granate erfasst wird, stellt sich heraus, dass sich in ihr vorher viele Elemente präsentiert haben und repräsentiert waren (Tisch, Stuhl, Fenster), aber einige (zum Beispiel die Granate) nur in der Situation da waren, ohne mitgezählt zu werden (jemand hat sich meinem Fenster mit der Granate in der Hand genähert, ich wusste das aber nicht). Die Granate gehörte nicht zur Verfassung, war unsichtbar. Und natürlich ist genau dieser nicht-existierende Term der konkrete Ort 127, durch die sich die Leere der Situation öffnet und durch die das Ereignis einbrechen kann: »Ein inexistenter Teil ist der mögliche Stützpunkt dessen, was die Struktur zerstören könnte […].« (SE, 117/EeE, 113)
Einen solchen inexistenten Term nennt Badiou »singulär« (singulier) (SE, 119/EeE, 115). Er unterscheidet einen solchen Term von einem »normalen« (normal) Term und einem »Auswuchs«: »Ich nenne normal einen Term, der zugleich präsentiert und repräsentiert wird. Ich nenne Auswuchs [excroissance] einen Term, der repräsentiert, aber nicht präsentiert wird. Ich nenne besonders (singulär) einen Term, der präsentiert, aber nicht repräsentiert wird.« (SE, 119/EeE, 115)
Und, wie schon darauf hingewiesen, ist ein solches singuläres, d. h. »anormales« (a-normal) Element einer Vielheit, das wiederum eine Vielheit ist, der Ort des Ereignisses, die »Ereignisstätte«: »Ich werde eine solche vollkommen anormale Vielheit, das heißt eine Vielheit, die so beschaffen ist, dass keines ihrer Elemente in der Situation präsentiert wird, eine Ereignisstätte [site événementiel] nennen. Die Stätte selbst ist präsentiert, doch »unter« ihr wird nichts von dem, was sie zusammensetzt, präsentiert, so dass sie kein Teil der Situation ist. Ich werde von einer solchen Vielheit – der Ereignisstätte – auch sagen, dass sie am Rand der Leere liegt bzw. dass sie grundlegend ist.« (SE, 200 f/EeE, 195)
127
Die Leere ist dagegen »Nicht-Ort des Ortes« (non-lieu du lieu) (SE, 130/EeE, 128).
127 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Achten wir darauf, dass dieses Zitat nicht nur eine Vielheit als Ereignisstätte definiert, sondern auch sagt, dass die Stätte selbst präsentiert ist, während ihre Elemente es nicht sind. Wir werden gleich sehen, inwiefern das sehr wichtig für das Verständnis des Ereignisses ist. Vorausgreifend können wir sagen: Die ins Zimmer eingeworfene Handgranate ist eine Ereignisstätte, aber sie bringt mit sich eine Vielheit, die völlig unsichtbar ist und sich erst entfalten muss. Diese Vielheit wird sich als Aussagen darüber entfalten, was eigentlich geschehen ist, warum es geschehen ist, was kann dies für die Zukunft bedeutet etc. Zuerst hat man nur ereignishafte Terme, die »die absolut ersten Terme sind« (termes absolument premiers) (SE, 201/EeE, 196) und »die Fragen nach der zusammenstellenden Herkunft unterbrechen.« (interrompent le questionnement selon la provenance combinatoire) (SE, 201/EeE, 196). In einer Situation taucht also eine Stätte auf. Es taucht entsprechend dem Gesetz der Leere, die umherirrt und ein »Nicht-Ort« ist, auf, also irgendwo – zufällig, unvorhersehbar. Sie taucht auf, während ihre Elemente nicht präsentiert sind. Diese Stätte in einer Situation ist »Seinsbedingung des Ereignisses« (condition d’être de l’événement) (SE, 206/EeE, 200) – ohne die Stätte, die aus Nichts auftaucht, gibt es kein Ereignis. Aber sie ist »nur« (SE, 206/EeE, 200) eine Seinsbedingung, trotz der Stätte: »Es kann immer noch sein, dass keines [kein Ereignis – L. P.] stattfindet.« (SE, 206/EeE, 201)
Was ist das Ereignis für Badiou? Er gibt ihm klare und deutliche Definition: »Ich nenne Ereignis der Stätte X eine Vielheit, die sich zum einen aus den Elementen der Stätte und zum anderen aus sich selbst zusammensetzt.« (SE, 206/EeE, 201)
Man muss diese Definition sehr genau lesen. Wir haben in einer Situation eine Vielheit, die die Stätte des Ereignisses ist. Diese Stätte wird in der Situation präsentiert, sie ist ein Teil der Situation: »Eine Vielheit ist allein in-der-Situation eine Stätte.« (SE, 202/EeE, 196)
Das heißt: Wenn das Ereignis geschieht, haben wir es eigentlich mit nichts anderem zu tun als mit einer Situation – wir sind nicht irgendwo anders als in der Welt. Aber wir sind natürlich nicht in einer normalen Situation, sondern in einer Situation, die eine Stätte – einen 128 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Alain Badiou (1937)
singulären Term – aufgewiesen hat. Diese Stätte ist erstmal nur eine Stätte, sie ist noch kein Ereignis – sie muss erst Ereignis genannt werden: »Der Akt der Benennung [acte de nomination – L. P.] des Ereignisses ist das, was das Ereignis herstellt [constitue – L. P.] […].« (SE, 231/EeE, 225)
Genau dies heißt, dass das Ereignis »aus den Elementen der Stätte und […] aus sich selbst zusammensetzt« ist. Das Ereignis ist einerseits nur, insofern etwas ist, etwas präsentiert ist: »Das Ereignis gehört zur Situation. Vom Standpunkt der Situation aus gesehen, ist es, insofern es präsentiert wird.« (SE, 208/EeE, 202)
Das Ereignis ereignet sich nicht an sich selbst. Es gibt keine Ereignisse, es gibt nur Situationen, Stätten in den Situationen, die präsentiert werden, sodass man bezüglich des Ereignisses sagen muss, dass: »außer der Stätte nichts stattgefunden hat« (SE, 209/EeE, 203). 128
Andererseits: »Ein Ereignis ist keine Ereignisstätte (es stimmt mit ihr nicht überein). Es »mobilisiert« die Elemente seiner Stätte, aber es fügt seine eigene Präsentation hinzu.« (SE, 209/EeE, 203)
Das Ereignis präsentiert also eine Stätte als ein Ereignis. Aber diese Ereignishaftigkeit bleibt nichtpräsentiert. Das bedeutet, dass man immer sagen kann, dass sich nichts ereignet hat. Man kann immer sagen: Es war nichts zwischen uns, das war nur Spaß. 129 Oder mit Badious Beispiel: »Und tatsächlich, sollten Sie behaupten, dass die »Französische Revolution« nur ein bloßes Wort ist, so werden Sie ohne Mühe beweisen, dass – im Hinblick auf die Unendlichkeit der präsentierten oder nicht präsentierten Tatsachen – nichts dergleichen jemals stattgefunden hat.« (SE, 209/EeE, 203)
Das Ereignis ist nicht, es ist Überschuss über das Sein. Deswegen bleibt es immer fraglich, ob sich in einer Situation etwas ereignet hat oder nicht – es ist »unentscheidbar« (indécidable) (SE, 229/EeE, 223), ob eine Vielheit als Ereignis zu benennen ist oder nicht. Man 128 Dieser Satz steht in Badious Text in Anführungszeichen, weil er hier – wie es sich später herausstellt (SE, 222/EeE, 215) – Mallarmé paraphrasiert. 129 Mit Badiou: »Am nihilistischen Felsen kann alles scheitern.« (SE, 252/EeE, 244)
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
kann nur – hier bezieht sich Badiou auf Pascal und Mallarmé – darauf »wetten« (parier) (SE, 226/EeE, 219), dass ein Ereignis stattgefunden hat. Oder mit anderen Worten: Man muss eine »Entscheidung« (décision) treffen. Man kann nicht wissen, man kann sich nur entscheiden und diese Entscheidung stellt eine »Wette« dar, die natürlich auch verloren werden kann, weil diese Entscheidung (wie wir gleich sehen werden) das Ereignis nicht produzieren kann, sodass es ab dem Punkt der Entscheidung sicher wäre: »Da das Ereignis in seinem Wesen eine Vielheit ist, deren Zugehörigkeit zur Situation unentscheidbar ist, stellt die Entscheidung darüber, ob es ihr zugehört, eine Wette dar, auf deren Gesetzmäßigkeit man nie hoffen kann, insofern jede Gesetzmäßigkeit auf die Struktur der Situation zurückverweist.« (SE, 229/EeE, 223)
Die »Prozedur« (procédure), durch die eine Entscheidung über die Ereignishaftigkeit einer Vielheit gefällt wird, nennt Badiou »Eingriff« (intervention) (SE, 230/EeE, 224). Es ist aber sehr wichtig, zu verstehen, dass der Eingriff, der eine Situation mit der Ereignisstätte Ereignis nennt, sie nicht wirklich herstellt. Ohne Eingriff, der eine Stätte als ereignishaft qualifiziert, bleibt das Ereignis unsichtbar: Es gibt es nicht. Wenn aber die Entscheidung das Ereignis wirklich entscheiden könnte, wäre das Ereignis nicht unentscheidbar, es wäre Sein und nicht Überschuss über das Sein. Das Ereignis muss immer unentscheidbar bleiben: »Denn wenn es das Wesen des Ereignisses ist, unentscheidbar zu sein, dann annulliert die Entscheidung dessen Ereignishaftigkeit.« (SE, 230/EeE, 224)
Wie müssen wir dann das Verhältnis von Ereignis und Benennung/ Eingriff/Entscheidung denken? Sodass die Benennung das Ereignis zwar konstituiert, aber nicht als »tatsächliches« (réel) – sie ist dem Realen »hinzugekommen« (advenu) und lässt es bloß als solches sehen, was eine Entscheidung fördern/fordern würde: »Der Akt der Benennung des Ereignisses ist das, was das Ereignis herstellt, und zwar nicht als tatsächliches – wir werden stets behaupten, dass diese Vielheit hinzugekommen ist – sondern als eines, das für eine Entscheidung bezüglich seiner Zugehörigkeit zur Situation empfänglich ist.« (SE, 231/ EeE, 225) 130 130 Wir haben also mit Folgendem zu tun: Einerseits gibt es tatsächliches ein Ereignis, das es eigentlich nicht gibt (es gibt nur die Situation), andererseits wird das Ereignis erst durch die Benennung seiend (obwohl er auch dann immer noch unentscheidbar
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Alain Badiou (1937)
Eine solche Konzeption kann den Verdacht erwecken, dass Vielheiten behauptet werden, die jenseits ihrer Konstitution durch die Sprache (Interpretation) gegeben werden. In der Tat wird ein solcher Verdacht auch gegen Marion erhoben, weil auch er der Meinung ist, dass, wenn alles durch den Eingriff des Subjekts entschieden wird, es keine Andersheit, kein Ereignis mehr gibt. Nun, im Gegensatz zu Marion, der in vielerlei Hinsicht den Hermeneutikern nachgegeben hat, stellt sich Badiou ausdrücklich gegen diese »konstruktivistische« (constructiviste) (SE, 326/EeE, 318) Position, die er »logische Grammatik« (grammaire logique) und »radikalen Nominalismus« (nominalisme radical) (SE, 323/318) nennt. Das heißt: Das Ereignis ist zwar ein Überschuss über das Sein, aber es heißt nicht, dass es eine bloße Konstruktion durch die Sprache ist. Wäre es so, gäbe es keine Ereignisse: »Im Übrigen, und dies ist ein kapitaler Punkt, gibt es in der konstruktivistischen Auffassung des Seins keinen Ort für das Stattfinden eines Ereignisses.« (SE, 326/EeE, 320)
Damit das unentscheidbare Ereignis sich ereignen kann, reicht es nie mit einer Stätte in der Situation, man muss noch eine Entscheidung darüber treffen, dass es stattgefunden hat. Steht plötzlich ein Polizist in meiner Tür, um mich zu verhaften, kann es bloß als die Folge meines vor 11 Jahren begangenes Verbrechen aufgefasst werden. Aber es kann auch der Anfang meiner Reue sein, es kann auch Anfang eines neuen Lebens, das durch Schuld, Vergebung und Frieden geprägt ist, werden. Um diese neue Möglichkeit (Situation), die vor der Eröffnung der Leere in der präsentierten Situation nicht da war und die bleibt). Damit ist das Ereignis »die Zwei« (le Deux) (SE, 239/EeE, 233). Es ist vor dem Eingriff, aber eigentlich nur nach dem Eingriff. Es ist zwischen sich selbst und dem Eingriff. Es ist also »eher ein Intervall als ein Term« (un intervalle plutôt qu’un terme) (SE, 235/EeE, 228). Der Eingriff steht somit zwischen dem Ereignis und seiner Benennung, durch die das Ereignis erst ist, und als solcher konstituiert er die Zeit: »Die Zeit ist […] der Eingriff selbst, als Abstand zwischen zwei Ereignissen gedacht.« (SE, 238/EeE, 232) Dass genau das Ereignis die Zeit konstituiert, mag vielleicht auf den ersten Blick seltsam wirken, der Gedanke geht aber schon auf Heidegger (in Sein und Zeit) zurück, wird von Levinas gedacht (zum Beispiel in Le temps et l’autre) und gründlich von Claude Romano in seinem Werk L’événement et le temps herausgearbeitet. Für Heidegger bringt das Verstehen des Todes das Verstehen der Zeit, der Zeitlichkeit, der Lebenszeit. Die Erfahrung des Anderen ist für Levinas die Erfahrung des Zukünftigen – wir erfahren, wie die Zeit (die Zukunft) einbricht, indem wir den Einbruch des Anderen erfahren. Zu Romanos Konzeption von Ereignis und Zeit werden wir noch kommen. Vorläufig sagen wir nur, dass für ihn genau das Ereignis alle Modi der Zeit konstituiert.
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
den Eingriff gewagt hat, Ereignis zu nennen, aufrechtzuerhalten, braucht man »Treue« (fidélité): »Man muss sich dem Ereignis anvertrauen […].« (SE, 247/EeE, 240) 131 Die Treue wird also folgenderweise definiert: »Ich nenne Treue die Gesamtheit der Vorgänge (Menge der Prozeduren), durch die man in einer Situation die Vielheit unterscheidet, deren Existenz von einer ereignishaften Vielheit abhängt, welche – unter dem überzähligen Namen, den ihr ein Eingriff zugewiesen hat – in Bewegung gesetzt worden ist.« (SE, 263/EeE, 257)
Mit dem Begriff von Treue sind wir noch weiter ins Verständnis des Ereignisses fortgeschritten. Wird das Eintreffen des Polizisten in mein Zimmer als Ereignis bestimmt, vollzieht die Treue die ganze Arbeit der Neuinterpretation der Situation: Sie »unterscheidet« nämlich die Vielheit, die dann als Ereignis gilt. Es ist die Treue, die sagen lässt: Dieser Tag (Element Nr. 1), dieses Zimmer (Element Nr. 2), dieses Eintreffen (Element Nr. 3), diese Verhaftung (Element Nr. 3), die darauf folgende Strafe (Element Nr. 5) ist ein Ereignis gewesen. Die Treue – als »Operation« (opération) (SE, 264/EeE, 258) – unterscheidet diese Elemente von anderen, die nicht zur ereignishaften Vielheit gehören, zum Beispiel das, was ich an diesem Tag zum Frühstück gehabt hatte. Obwohl in einem anderen Fall auch das zum Element eines Ereignisses werden könnte. Ich würde dann später sagen: Der Kaffee am Morgen dieses Tages war geschmacklos – verbraucht wie mein bisheriges Leben. Die Butter hatte ihr Gelb verloren und hoffte auf eine Veränderung. Und wiederum ist wichtig zu bemerken, dass durch diese Zusammenfügung der Elemente, die durch die Treue geleistet wird, das Ereignis deswegen nicht seiend wird. Genauso wie man in Bezug auf die Vielheit »Französische Revolution« immer noch behaupten kann, dass sie nie stattgefunden hat, kann man in Bezug auf die neu konstruierte Vielheit – auf die ereignishafte Situation also – nicht sagen, dass sie real ist: so real, wie die Bäume, Bänke und Wege eines Parks, die im Verhältnis zueinander stehen und topologisch beschreibbar sind. Die Treue macht nichts seiend, sie ist keine Verfassung, keine Operation der »Ontologisierung« (ontologisation) (SE, 269/EeE, 263). Das Ereignis ist nicht. Das Ereignis ist nur eine Vielheit, der das Ereignis seinen Namen gegeben hat, der es aber deswegen nicht seiender macht. 131
»Il faut se confier à l’événement […].«
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Wenn die Treue die Prozedur der Unterscheidung einer ereignishaften Vielheit ist, so ist die »Wahrheit« (vérité) ihr Ergebnis. 132 An diesem Punkt muss man sehr aufmerksam sein: Die Treue unterscheidet im Namen des Ereignisses eine Vielheit, die nicht präsentiert ist und in diesem Sinne ein »Ununterscheidbares« (l’indiscernable) (SE, 369/EeE, 361) darstellt – genauso wie sie vor der Entscheidung »unentscheidbar« war (und geblieben ist). Die Wahrheit bezieht sich also auf eine ununterscheidbare Menge, in Bezug auf die eine Unterscheidung vorgenommen worden ist. Weil es sich aber um ein Ununterscheidbares handelt, können sich die Ergebnisse der Unterscheidung – die Wahrheit also – nicht direkt auf es beziehen, d. h. sie kann es nicht »bezeichnen« (indiquer) (SE, 370/EeE, 362). Die Wahrheit sagt folglich etwas über etwas aus, aber das, worüber sie etwas sagt, ist nicht in der konkreten Welt aufzeigbar. Damit unterscheidet sie sich vom »Wissen« (savoir), das Badiou wie folgt definiert: »Das Wissen ist die Fähigkeit, in der Situation die Vielheiten zu unterscheiden, die diese oder jene Eigenschaft besitzen, welche ein expliziter Satz (oder eine Menge von Sätzen) der Sprache bezeichnen kann.« (SE, 370/ EeE, 362)
Damit hat die Wahrheit in der Philosophie Badious auf keinen Fall eine negative Konnotation. Es ist richtig, dass sie keinen Sachverhalt beschreibt – sie beschreibt nicht das, was ist (zum Beispiel mein Zimmer); sie produziert nicht »gültige« (véridique), sondern »wahre« (vrai) Aussagen (SE, 374/EeE, 367); sie generiert das, was sein wird (Reue und Vergebung); sie produziert das, was jetzt wahr und erst später gültig sein wird (wenn mir vergeben worden ist, aber jetzt bin bloß unterwegs zur Vergebung – die Vergebung ist zu diesem Zeitpunkt wahr, aber nicht gültig). Sie ist damit eine »generische Mannigfaltigkeit« (multiplicité générique) (SE, 401/EeE, 391). Es gibt noch einige ganz wichtige Punkte, die in Bezug auf die Wahrheit ge132 Obwohl Badiou genauso auch von der »Wahrheitsprozedur« (procédure de vérité) spricht. Siehe zum Beispiel: Badiou/Tarby, 17/19, 58/60. Es ist wichtig zu beachten, dass Badiou grundsätzlich vier Wahrheitsprozeduren zulässt: »Es gibt vier von mir so genannte generische Prozeduren: die Liebe, die Kunst, die Wissenschaft und die Politik.« (SE, 31/EeE, 23) Die Philosophie selbst stellt für Badiou keine Wahrheitsprozedur dar, sondern beschäftigt sich mit diesen vier in der Welt sich ereignenden Prozeduren. Deswegen sind sie für die Philosophie ihre »Bedingungen« (conditions). Dazu siehe Badious Werk: Conditions (1992) und die Gespräche mit Fabien Tarby: La philosophie et l’événement. Entretiens. Suivis d’une courte introduction à la philosophie d’Alain Badiou (2010).
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
sagt werden müssen. Erstens: Die Wahrheit beschreibt nicht die Elemente der Situation, sondern fügt verschiedene Elemente zu einer Vielheit zusammen. Damit produziert sie nicht wahre Aussagen über die einzelnen Elemente, sondern über die ganze Situation (sie gibt einer Situation den Namen): »Denn was die Treueprozedur auf diese Weise erreicht, ist nichts anderes als die Wahrheit der Situation insgesamt.« (SE, 382/EeE, 374)
Zweitens: Da die Wahrheit über das Ununterscheidbare spricht, kann ihr Prozess der Unterscheidung nie abgeschlossen werden. Sie wird unendlich lange die ereignishafte Situation ermitteln, ohne zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen. Sie ist also »unendlich« (infinie): »Zu sagen, eine Wahrheit sei unendlich, heißt zu sagen, dass ihre Prozedur eine Unendlichkeit von Ermittlungen enthält.« (SE, 376/EeE, 368)
Diese Eigenschaft der Wahrheit hängt natürlich direkt damit zusammen, dass der Konstruktivismus abgewiesen wird: Wenn die Auslegung die Situation konstruieren würde, könnte sie nie unendlich sein. Und eigentlich könnte die Tatsache, dass keine Auslegung endgültig ist, zur Überzeugung führen, dass nicht alles, was gegeben ist, konstruiert ist. Man würde also dann nicht mit der hermeneutischkonstruktivistischen These anfangen, sondern – wie Marion – mit der These über die Gegebenheit des Anderen. Es gibt das Andere – das sollte die erste These jedes Denkens sein. Mit anderen Worten: Es gibt das Andere des Denkens. Noch mit anderen Worten: Es gibt das Ereignis als die Gegebenheit des Anderen für das Denken und nicht als das Andere des Denkens. Die Wahrheit befindet sich also in einem unendlichen Prozess. Sie entfaltet sich erstmals als nicht-existenter Überschuss über die präsentierte Situation und kann nicht in Wissen übersetzt werden. Es gibt aber einen Prozess der Integration der Wahrheit in Wissen (oder umgekehrt), sodass die wahren Aussagen die neue Situation als gültige Aussagen beschreiben. 133 In diesem Zusammenhang 133 Die muss man sich folgendermaßen vorstellen: Die Wahrheit schöpft ihre Namen, ihre Beschreibungen einer ereignishaften Situation aus der Leere, sie bezeichnen im Sein dementsprechend nichts – diese Namen sind »leer« (vides) (SE, 446/EeE, 436). Aber sie können allmählich eine Bedeutung gewinnen. Durch den Einbruch des Ereignisses ändert sich die Situation, und das, was vorher in ihr nicht präsentiert war, kann jetzt präsentiert werden: »Der Glaube stützt darauf, dass ein Subjekt mit den Mitteln der Situation – ihren Vielheiten und ihrer Sprache – Namen generiert, deren
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spricht Badiou von »Erzwingung« (forçage) (SE, 385/EeE, 377). Dies bedeutet, dass »[…] die Wahrheit einer Situation […] die Situation dazu zwingt, sie aufzunehmen […].« (SE, 385/377)
Wenn die Situation die Wahrheit aufgenommen hat, hat sie sich auch ontologisch verändert – sie ist anders geworden, alles sieht anders aus, nichts ist so, wie es vorher war. Es geht also um »eine Inkorporation [incorporation – L. P.] des Ereignisses in der Situation« (SE, 441/ EeE, 431). Für diese Erzwingung und Inkorporation ist ein »Subjekt« (sujet) notwendig. Im Denken Badious haben wir es aber auf keinen Fall mit einem Subjekt der Erfahrung und Selbst-Erfahrung zu tun, sondern mit einem »Operator« (opérateur), der im Falle eines Ereignisses auftaucht, um es in die Situation zu inkorporieren. Den Prozess des »Auftauchens« (émergence) des Operators nennt Badiou »Subjektivierung« (subjectivation): »Ich nenne Subjektivierung das Auftauchen (Emergenz) eines Operators, der einer eingreifenden Benennung folgt. Die Subjektivierung ist in der Form der Zwei. Sie ist auf den Eingriff in die Umgebungen der Ereignisstätte ausgerichtet. Doch sie ist ebenfalls, aufgrund ihrer Übereinstimmung mit der Regel der Bewertung und der Nähe, welche die generische Prozedur begründet, auf die Situation ausgerichtet.« (SE, 440/EeE, 430)
Dementsprechend: »Ich nenne Subjekt jede lokale Konfiguration einer generischen Prozedur, auf die sich eine Wahrheit stützt.« (SE, 439/EeE, 429)
Es ist zu betonen: Die Wahrheit wird nicht von einem Subjekt konstituiert, das Subjekt hat nicht die Wahrheit. Stattdessen lässt der Prozess der Wahrheit ein Subjekt entstehen, das diesen Prozess vollzieht: »Es ist also irreführend zu behaupten, dass eine Wahrheit eine Erzeugung des Subjekts sei. Ein Subjekt ist vielmehr in der Treue zu dem Ereignis gefangen.« (SE, 455/EeE, 444)
Referent im Futur II steht. Diese Namen werden mit einem Referenten oder einer Bedeutung »versehen worden sein«, wenn die Situation vorkommt, in der das Ununterscheidbare, das nur repräsentiert worden ist, schließlich als eine Wahrheit der ersten Situation präsentiert wird.« (SE, 446/EeE, 436)
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
An dieser Stelle weisen wir darauf hin, dass das Konzept des Subjektes, seine Gebundenheit an die Wahrheitsprozedur und die Logik dieser Prozedur das zentrale Thema in Badious Philosophie ist. Dazu sind – neben L’être et l’événement und Logiques des mondes – solche bedeutende Werke zu nennen, wie zum Beispiel Théorie du sujet (1982) oder Conditions (1992). In dem 2010 von Fabien Tarby geführten Interview sagt Badiou, dass er an einem weiteren Buch in diese Richtung arbeitet, das L’immanence des vérités heißen soll (Badiou/ Tarby, 119/125). Wir können jetzt die Frage stellen, inwiefern Badious Konzeption des Ereignisses mit unserer, die eine der Betroffenheit ist, sich überkreuzen. In Bezug auf Deleuze haben wir insbesondere seinen ontologisch-topologischen Ansatz hervorgehoben, der erlaubt, das Ereignis nicht als ein Gegenüber eines Subjekts (egal ob es als aktiv oder passiv bestimmt wird) zu sehen, sondern als eine Verteilung. Das, was in Badious Ansatz faszinieren kann, ist die Herausarbeitung der Logik des Ereignisses. Er gibt eine sehr klare Definition des Ereignisses und beschreibt es sehr überzeugend (in phänomenologischer Hinsicht, d. h. seine Beschreibung der Logik des Ereignisses entspricht unseren Erfahrungen des Ereignisses), wie das Ereignis geschieht. Man kann in der Tat zustimmen, dass es eine Ereignisstätte gibt, die plötzlich irgendwo auftauchen kann; dass das Ereignis eine Vielheit von Elementen ist, die zu einem Zeitpunkt inexistent ist, um dann sich selbst den Namen des Ereignisses zu geben. Und es ist richtig, von der Ungewissheit des geschehenen Ereignisses zu sprechen, von Entscheidung, Treue, Wahrheit und Inkorporation des Ereignisses in die Welt, die die Veränderung der gegebenen Welt bedeutet. Das sind Punkte, die auch eine phänomenologische Ereignisphilosophie nicht umgehen kann. Es ist etwas, das zur Logik des Ereignisses gehört. Was aber in Frage steht, sind die Vor-Entscheidungen, die Badious Ereignisphilosophie trifft. Und die weitere Frage ist, ob – hinsichtlich dieser Vor-Entscheidungen – wir annehmen könnten, dass Badious »Sache« namens »Ereignis« auch unsere »Sache« ist. Von welchen Vor-Entscheidungen ist hier die Rede? Vor allem davon, dass der Name »Ontologie« der Mathematik vorbehalten ist und dass die Wissenschaften dementsprechend die konkreten Seinsregionen untersuchen. Unter einer solchen Voraussetzung wird das Ereignis als Überschuss über das Sein (über eine Situation), als inexistent bestimmt. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das Ereignis eigentlich doch als eine Vielheit (wenn auch als besondere) definiert wird und 136 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Alain Badiou (1937)
nur vorläufig inexistent ist, da das Ziel des Ereignisses die Inkorporation in die Welt ist. In unserer Terminologie heißt dies nichts anderes als dass das Ereignis als etwas Seiendes untersucht wird und deswegen der Gegenstand einer Ontologie ist, oder, wenn man so will: einer phänomenologischen Ontologie, insofern die Bestimmungen des Ereignisses ihre Quelle in der Erfahrung haben, auch wenn sie danach mathematisch-ontologisch darstellbar sind. Ein solches seiendes Ereignis ist genau das, wonach wir nicht fragen, auch wenn es Überschneidungspunkte gibt. Wir fragen auch nach dem, was ein Heraustritt aus dem Sein ist, aber es kann unmöglich – und das ist unsere These – eine Vielheit (als Objekt für ein Wahrheitssubjekt) sein, sondern eher die Zugehörigkeit zu einer Vielheit. Wir stimmen den von Badiou herausgearbeiteten Bestimmungen des Ereignisses (Entscheidung, Treue, Wahrheit etc.) zu, behaupten aber gleichzeitig, dass diese nur insofern stimmen, als das Ereignis schon zu einem Gegenstand geworden ist und damit eigentlich nicht mehr das ist, was es war, nämlich ein Ereignis.
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Jean-Luc Marion (1946)
Der französische Philosoph Jean-Luc Marion gilt heute vor allem als Phänomenologe und phänomenologischer Religionsphilosoph. Zu seinem Werk gehören aber nicht nur phänomenologische Abhandlungen – in Frankreich wurde Marion zuerst als Descartes-Forscher bekannt und hat bisher zahlreiche Bücher zu dessen Philosophie veröffentlicht. 134 Außerhalb von Frankreich, darunter auch in Deutschland, hat Marion zuerst mit seinen theologischen und religionsphilosophischen Ideen Ansehen erlangt. Marions Weg in die Phänomenologie führt über seine Überlegungen zur Theologie und Religionsphilosophie, in deren Kontext er eine Phänomenologie entwickelt, die durch zwei Konzepte geprägt ist – »die Gegebenheit« (donation) und »das gesättigte Phänomen« (le phénomène saturé), wobei die Idee des gesättigten Phänomens ganz im Zentrum steht, während die Gegebenheit ihr vorausgeht und sie erst verständlich macht. Marion ist ursprünglich kein Ereignis-Philosoph – zumindest nicht explizit. Das Wort »Ereignis« erlangt den Status eines philosophischen Konzeptes erst in Marions phänomenologischem Hauptwerk Étant donné (1997). Es spielt dort allerdings noch keine zentrale Rolle und ist mehrdeutig. Es charakterisiert die Gegebenheit, insofern sie als Prozess der Erscheinung des Phänomens als Gegebenem – sein »Anbruchsgeschehen« (processus d’avénement) (GS, 124/ED, 96) – verstanden wird. Es charakterisiert aber auch das Gegebene, Schon seine Dissertation ist der Philosophie Descartes’ gewidmet: Sur l’ontologie grise de Descartes. Science cartésienne et savoir aristotélicien dans les Regulae (1974, veröffentlicht 1975). Weitere Werke zu Descartes: Sur la théologie blanche de Descartes. Analogie, création des vérités éternelles, fondement (1981), Sur le prisme métaphysique de Descartes. Constitution et limites de l’onto-théo-logie cartésienne (1986), Questions cartésiennes I. Méthode et métaphysique (1991), Questions cartésiennes II. L’ego et Dieu (1996) und schließlich Sur la pensée passive de Descartes (2013). 134
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Jean-Luc Marion (1946)
insofern es sich selbst ohne einen anderen Geber außer sich selbst gibt – seine »Nicht-Ursächlichkeit« (incausabilité) (GS, 280/ED, 227). Schließlich bedeutet es auch das historische Ereignis als eine Art gesättigten Phänomens (GS, 383/ED, 318), das grundsätzlich als etwas Unbegreifliches definiert wird – als das, was mehr »Anschauung« (intuition) gibt als der »Begriff« (concept) begreifen kann; als das, bei dem »die Anschauung mehr, ja unermesslich mehr geben würde als das, was die Intention jemals angezielt oder vorhergesehen hätte« (GS, 336/ED, 276 f). Das gesättigte Phänomen ist aber genauso auch ohne Ursache, das, was deswegen unvorhersehbar eintritt und vor seinem Anbruch unmöglich ist. Das Konzept des Ereignisses gelangt aber in Marions späteren Werken – dies ist besonders in Certitudes négatives (2010) sichtbar – zur Selbstständigkeit und wird faktisch als Synonym zum »gesättigten Phänomen« gebraucht. Das heißt: Das Wort »Ereignis« wird nicht mehr als ein Charakteristikum für etwas gebraucht, sondern erschließt selbst eine Dichte philosophischer Ideen, die sich mit der des gesättigten Phänomens im großen Maße überlappt. Deswegen kann Marion rückblickend behaupten, dass seine Philosophie »letztlich von der Frage nach dem Ereignis beherrscht wird« (RC, 11). Das Ereignis bezeichnet ein Phänomen, das unvorhersehbar, ohne Ursache eintrifft, das etwas vorher Unmögliches möglich macht und unbegreiflich für den Menschen bleibt. Und solche Phänomene sind das Hauptanliegen seiner ganzen Philosophie, auch wenn sie anfänglich nicht so genannt werden. In der Tat macht Marion schon in seinen frühren Schriften auf außergewöhnliche Erfahrungen – zum Beispiel die der Offenbarung – aufmerksam, allerdings noch ohne sie als gesättigte Phänomene bzw. Ereignisse zu bezeichnen. Die Möglichkeit, sie als Phänomene zu analysieren, entsteht erst, wenn Marion sich mit der Phänomenologie auseinanderzusetzen beginnt, während seine ersten originell-philosophischen Ansätze (außerhalb der Descartes-Forschung) theologisch geprägt sind, wobei es Hans Urs von Balthasar ist, von dem Marion stark beeinflusst ist. In diesem Kontext müssen vor allem zwei seiner Werke genannt werden – L’idole et la distance (1977) 135 135 Dieses Werk – im Gegensatz zu Dieu sans l’être – ist noch nicht in deutscher Sprache erschienen, wohl aber ein Aufsatz Marion zu diesem Thema: Idol und Bild. In: Phänomenologie des Idols, hrsg. von Bernhard Casper. Freiburg/München: Alber, 1981, S. 107–132. Der Aufsatz erschien ursprünglich 1979: Fragments sur l’idole et l’icône. Revue de Métaphysique et de Moral, 84 (1979), S. 433–445. In der deutschen Fassung, wie es hier zu sehen ist, wird »icône« als »Bild« übersetzt.
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und Dieu sans l’être (1982). In L’idole et la distance zeigt Marion zwei grundsätzliche Weisen des Bezuges zum Göttlichen: Entweder ist das Göttliche für uns als ein »Idol« (idole) oder als eine »Ikone« (icône) da. Die Erfahrung eines Idols bedeutet, dass der Mensch nur das erfährt, was er selbst ins Idol hineingelegt hat. Also streng genommen erfährt er gar nicht die Andersheit des Göttlichen, sondern nur sich selbst: »nous nous éprouvons en situation dans le divin« (IeD, 22). Das Idol funktioniert so wie ein »Spiegel« (miroir). Die idolatrische Erfahrung wird Marion später als die Erfahrung charakterisieren, wo die Anschauung den menschlichen Begriff nicht übertrifft, sondern ihm entspricht – es wird das gesehen, was der Mensch begreifen kann. Es gibt hier nichts Unsichtbares als Unbegreifliches. Die Ikone dagegen eröffnet im Sichtbaren »Tiefe« (profondeur), die in das Unsichtbare und Uneinholbare führt. Sie lässt sich nicht begreifen, vermenschlichen – sie hält den »Abstand« (écart), die »Distanz« (distance) zwischen dem Menschlichen und Göttlichen aufrecht: »De quoi l’icône offre-t-elle le visage? »Icône du Dieu invisible« (Colossiens, I, 15), dit du Christ saint Paul. […] La profondeur du visage visible du Fils livre au regard l’invisibilité du Père comme telle. […] L’icône recèle et décèle ce sur quoi elle repose: l’écart en elle du divin et de son visage.« (IeD, 25)
Die Ikone wird später als die Erfahrung eines Phänomens beschrieben, das sich nicht auf das vom Bewusstsein Konstituierte reduzieren lässt, sondern als das Andere erscheint und einen »Überschuss« (excès, surcroît) an das Unsichtbare, eine »Sättigung« (saturation) des Unbegreiflichen über das Objekthafte bietet. Dieu sans l’être wird 1982 veröffentlicht und setzt einerseits den Gedankengang von L’idole et la distance fort. Doch das Hauptanliegen dieses Werkes ist – wie das schon der Titel verrät – die Befreiung des Göttlichen vom Sein. Diese Problematik ist eng mit dem Idol- und Ikonebegriff verbunden – das Absolute durch das Sein, gemäß dem Sein und in den Seinsbegriffen zu denken, heißt Idolatrie. Die Frage ist also, wie das Göttliche anders als durch das Sein gedacht werden kann? Zuerst muss aber geklärt werden, wie Marion das Sein versteht. Er versteht das Sein so, wie es in der Metaphysik gedacht wird – als das Sein des Seienden, als die Weise, wie das Seiende als das Seiende ist. Und das Seiende ist immer als ein präsentes und ständiges, distinktes und bestimmtes, zugängliches und griffbereites Ding der Welt. Dementsprechend ist das Sein die Präsenz (Anwesenheit), 140 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Jean-Luc Marion (1946)
Distinktion (Wesen) und Dauer (Beständigkeit). Solche fixierten Dinge der menschlichen Welt nennt Marion Idole. Sie fügen sich restlos in die Welt hinein und spiegeln den Menschen als Halter dieser Welt wider. Zu sein bedeutet also ein Idol zu sein. Das Göttliche ist kein Idol, es ist also »ohne das Sein«. Wie diese »Seins«-weise konkret gedacht werden könnte, darauf gibt Dieu sans l’être erst eine theologische Antwort – als sich selbst gebende Liebe 136 (GoS, 83 ff/DE, 73 ff). Doch Marion sucht noch weitere Möglichkeiten, wie etwas Nicht-Seiendes gedacht werden könnte und er findet eine solche Möglichkeit in der Phänomenologie. In einem Gespräch 1997 sagt er: »In meinen zwei ersten Büchern L’idole et la distance und Dieu sans l’être, die in mancher Hinsicht Bücher des Umbruchs waren, vertrat ich die Meinung, dass man Gott nicht erst vom Beginn seiner Existenz oder des Seins an vermuten darf. Was man jedoch statt dessen positiv denken sollte, legte ich in dieser Zeit noch nicht fest. Ich wollte ebenso nicht vom Verstand zum Glauben, vom Begriff zum Lobpreis kommen, indem ich die Rationalität verließ. Der weitere Weg war es also, zu der Frage zurückzukommen, ob man eine noch begriffliche Abhandlung, die jedoch nicht metaphysisch ist, verfassen kann. Dies schien mir nur im Rahmen der Phänomenologie möglich.« (RuG, 39 f.)
Wie kann die Phänomenologie die Offenbarung Gottes und auch andere außergewöhnliche Erfahrungen beschreiben? Als ein »gesättigtes Phänomen«, als ein Phänomen, dass das Unbegreifliche gibt: »Die Phänomenologie äußert sich nicht über die Wirklichkeit der Offenbarung. Sie kann nur auf folgende Frage antworten: Ist eine Offenbarung grundsätzlich möglich? Nun, ich denke, dass man versuchen kann, die Phänomenologie so zu definieren, dass die Offenbarung möglich und denkbar wird. Um dies zu tun, konstruiere ich – das ist meine Hypothese – das sogenannte »gesättigte Phänomen«. […] Meine Hypothese ist es, dass die
136 Die Liebe ist ein ganz besonderes Thema in Marions Philosophie, sodass Kevin Hart sogar behaupten kann: »Jean-Luc Marion is above all a philosopher of love […].« (EW, 359) Neben Marions Schriften zu Descartes, Theologie und Phänomenologie bilden seine Schriften zur Liebe einen vierten Teil seines Gesamtwerks. Zu diesen Schriften gehören vor allem: Dieu sans l’être (1982), Prolégomènes à la charité (1986) und Le phénomène érotique (2003). Einen fünften Tätigkeitsbereich Marions bildet die Thematik der Gabe, die Marion vor allen in der Auseinandersetzung mit Derrida aufnimmt. Marion hat mehrere Texte zur Gabethematik verfasst. Einige davon sind: Buch II in Étant donné – Le don – und Kapitel III und IV in Certitudes négatives – L’inconditionné ou la force du don und L’inconditionné et les variations du don.
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Offenbarung, phänomenologisch betrachtet, eine Form des Phänomens bietet, in der es mehr Intuition als Bedeutung gibt.« (RuG, 41)
Das Konzept des gesättigten Phänomens entsteht aber im Kontext einer speziell herausgearbeiteten Phänomenologie – »Phänomenologie der Gegebenheit« (phénoménologie de la donation), die Marion in einer »Trilogie« (wie er sie selbst nennt) seiner phänomenologischen Schriften entwickelt: in Réduction et donation (1989), Étant donné (1997) und De surcroît (2001), wobei Étant donné als das Hauptwerk gilt. Wie bekannt, benutzt die Phänomenologie die Methode der Reduktion, um das Gegebene auf das Phänomen für das Bewusstsein zu reduzieren und es so zu beschreiben, wie es sich selbst zeigt, wie es also ist. In der Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls und Heideggers stellt Marion allerdings fest, dass die Phänomene, die sie aufgedeckt haben, nicht die gesuchten »Sachen selbst« sein können, da ihnen – trotz der Reduktion – nicht erlaubt worden ist, sich so zu zeigen, wie sie sich eigentlich geben. Husserl schränkt die Gegebenheit auf die Gegenständlichkeit ein, was heißt, dass für ihn alle Phänomene objekthaft sind, und Heidegger sieht alles Gegebene im Horizont des Seins (des Seins – so wie es Marion versteht) (GS, 80/ ED, 59). Dementsprechend fordert Marion eine weitere Reduktion – »die Dritte Reduktion« (la troisième réduction) –, die endlich weder bei der Gegenständlichkeit noch beim Sein bleiben, sondern bis zur »Gegebenheit« fortschreiten würde (GS, 104/ED, 79). 137 Was ist also die Gegebenheit? Donation charakterisiert das Phänomen, bevor es zu einem Objekt bzw. Seienden verwandelt wird, also das Phänomen genau im Moment seines Erscheinens: sein »Anbruchsgeschehen«. Damit öffnet sich der Weg zur Idee des gesättigten Phänomens – während ein Gegenstand das ist, was von einem Ich durch einen Begriff konstituiert ist, ist das Gegebene viel mehr als das, was das Ich von ihm entnimmt und überhaupt entnehmen kann; es ist also gesättigt – gesättigt durch sich selbst gegenüber einem Begriff. Das durch die Begrifflichkeit des Ich eingeschränkte Phänomen nennt Marion dagegen entweder »armes Phänomen« (phénomène pauvre), wenn das Phänomen fast keine Anschauung aufweist und sich im Begriff 137 Die Forderung nach einer weiteren Reduktion entspringt einem von Marion formulierten Prinzip der Phänomenologie: »Wie viel Reduktion, soviel Gegebenheit« (autant de réduction, autant de donation) (RD, 303). Je radikaler also die Reduktion durchgeführt wird, desto mehr kommt die Selbst-Gegebenheit des Phänomens zum Vorschein.
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Jean-Luc Marion (1946)
ausschöpft, wie dies zum Beispiel bei den mathematischen und logischen Objekten der Fall ist (GS, 374 f/ED, 310 f.); oder »geläufiges Phänomen« (phénomène commun), wenn das, was angeschaut wird, einen Begriff erfüllt, aber nicht über seine Grenzen hinausgeht (wenn das, was ich sehe, ein Tisch ist und nichts mehr und nichts anderes) (GS, 375 f/ED, 311 f). In dem Moment der Begegnung mit dem Phänomen, bevor es zum Bewusstsein wird, ist das Ich nicht aktiv konstituierend, sondern passiv empfangend, sich dem Anderen hingebend. Diesem Empfänger gibt Marion den Namen »adonné«. Der adonné ist nicht nur einfach empfangend, sondern »derjenige, der sich ganz und gar aus dem empfängt, was er empfängt« (GS, 442/ED, 369). Der adonné empfängt sich selbst vom Ereignis, weil die Erfahrung der Andersheit ihn verändert – das Ereignis konstituiert den adonné, statt von ihm konstituiert zu werden. So ist das, was mit dem adonné geschieht, das, was er »hervorbringt« nur als »Antwort« (répons) auf den »Ruf« (appel) (Étant donné § 28) des Ereignisses zu verstehen. Da aber das Ereignis gesättigt ist, kann die Antwort dem Ruf nie vollständig entsprechen. Sie vollzieht sich deswegen als eine endlose Serie von Antworten, d. h. Auslegungsversuchen. Dementsprechend spricht Marion von einer »endlosen Hermeneutik« (herméneutique sans fin) (DS, 142) des Ereignisses. Es ist wichtig zu beachten, dass Marion genauso wie Heidegger und Levinas mit der Auslegung eines konkreten Ereignisses beginnt – in seinem Fall mit der Offenbarung Gottes. Aber im Gegensatz zu diesen beiden Philosophien entwickelt er schließlich einen Rahmen, in dem man viele und verschiedene Ereignisse beschreiben kann. Die Idee vom gesättigten Phänomen erlaubt, eine allgemeine und systematische Philosophie des Ereignisses herauszuarbeiten, ohne auf ein bestimmtes Ereignis fixiert zu bleiben. In der Tat schon in Etant donné unterscheidet Marion fünf Arten einer möglichen Sättigung, und zu jeder Art beschreibt er einen beispielhaften Fall des Ereignisses (ED, § 23). So wird gezeigt, wie durch die Phänomenologie des Ereignisses geschichtliche Ereignisse, Kunstwerke, besondere leibliche Erlebnisse, Begegnung mit einem anderen Menschen oder der Offenbarung begriffen werden können. Auch das Buch De surcroît ist diesen fünf Beispielen des gesättigten Phänomens gewidmet. Le phénomène érotique (2003) behandelt das Ereignis der Liebe, Le Visible et le révélé (2005) und Le croire pour le voir (2010) die Offenbarung, Courbet ou la peinture à l’œil (2014) das Kunstwerk. 143 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Wenn das gesättigte Phänomen das Unbegreifliche, das Unmögliche für den menschlichen Verstand ist, so ist es doch nicht eine Leere, die dem Menschen gegenübersteht. Es ist eine Fülle, die sich im Modus der Gewissheit von etwas Unbegreiflichem gibt, wenn dies auch zuerst widersprüchlich klingt. Diesen Modus der Gewissheit eines gesättigten Phänomens nennt Marion im Buch Certitudes négatives (2010) »negative Gewissheit« (certitude négative). Es handelt sich hier um eine Gewissheit von dem, was nicht zu einem »positiven« Objekt der Erkenntnis werden kann, nämlich um eine »certitude sans objet« (CN, 18). Es ist nicht der Fall, wenn man um seine Unwissenheit weiß, sondern der Fall, wenn man weiß, aber nicht weiß, was man weiß.
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Claude Romano (1967)
Claude Romano ist ein französischer Philosoph, dessen philosophisches Projekt genau das Ereignis als eine ausgezeichnete Erfahrung, die die Welt des Betroffenen und den Betroffenen selbst verändert, ins Zentrum seiner Thematik stellt. Er nennt seine Philosophie »eventiale Hermeneutik« (l’herméneutique événementiale) 138 und sie ist vor allem in zwei Werken – L’événement et le monde (1998) und L’événement et le temps (2012) 139 – festgehalten. 140 Seine Philosophie des Ereignisses ist systematisch ausgerichtet, sie setzt sich mit vielen Erkenntnissen anderer Ereignisphilosophen (zum Beispiel mit den Stoikern, mit der analytischen Ereignisphilosophie, mit Nietzsche, Heidegger, Levinas, Deleuze, Badiou und Marion) aus138 »L’herméneutique événementiale« ist nicht leicht zu übersetzen. Zuerst muss man darauf achten, dass »événementiale« im Vergleich zu »événementiele« – »ereignishaft« – ein Neologismus ist. Man könnte annehmen, dass es sich hier nur um eine unbedeutsame Ersetzung eines Buchstaben handelt, und »l’herméneutique événementiale« als »ereignishafte Hermeneutik« oder besser als »Hermeneutik des Ereignisses« übersetzt werden könnte. Das Wort »événementiale« deutet aber in erster Linie nicht auf das Wort »Ereignis« hin, sondern auf Heideggers Konzept der »Existenzialien« als »Seinscharaktere des Daseins« (SZ, 44). Heidegger untersucht den Menschen ausgehend vom Sein, von der Existenz und deswegen nennt er seine Strukturen Existenzialien. Romano setzt sich vom Ansatz Heideggers ab und untersucht den Menschen ausgehend vom Ereignis. Die Strukturen, die der Mensch aufweist, nennt er dementsprechend »événementiaux«, die sich als »Eventialien« übersetzen lassen. »L’herméneutique événementiale« wäre also als »Hermeneutik der Eventialien« oder »eventiale Hermeneutik« übersetzbar. 139 L’événement et le temps erscheint erstmals 1999, wird aber später durch neue Erkenntnisse, die im Buch L’aventure temporelle (2010) erscheinen, verbessert. Dazu siehe Bemerkung Romanos im Vorwort zur zweiten Auflage von L’événement et le temps 2012: ET, xii. 140 In Deutschland ist Romano kaum bekannt. Die Übersetzung eines seiner Texte – Ereignis oder Kann es eine Phänomenologie des Ereignisses geben? – ist im Sammelband Erscheinung und Ereignis (hrsg. von Emmanuel Alloa. München: Fink, 2013) erschienen. Dieser Text bildet das erste Essay im Buch L’aventure temporelle – L’événement et sa phénoménalité.
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einander. Doch – und dies ist ein wesentlicher Nachteil seines Ansatzes – zieht sie nicht Heideggers grundlegende Werke zum Ereignis in Betracht. So entsteht die Situation (wie oft in Frankreich), dass Heidegger nur in Gestalt seiner Philosophie vor der Kehre auftritt und zum Ziel einer unberechtigten Kritik wird. Die eventiale Hermeneutik arbeitet in mehreren Richtungen: »Or, cette herméneutique est, premièrement, une phénoménologie; deuxièmement, une interprétation de l’advenant, qui se distingue décisivement du concept classique de »sujet«; troisièmement, une herméneutique de la temporalité.« (EM, 69)
Diese Hermeneutik ist eine Phänomenologie, insofern sie das Ereignis als ein Phänomen untersucht. Sie ist eine Interpretation des Betroffenen durch das Ereignis – des advenant –, insofern sie die Betroffenheit durch das Ereignis untersucht. Und schließlich ist sie eine Hermeneutik der Zeitlichkeit, insofern sie untersucht, wie das Ereignis den Betroffenen zeitigt. Das Werk L’événement et le monde ist vor allem den ersten zwei Themen gewidmet, während L’événement et le temps die Zeit und die Zeitlichkeit behandelt. Hinsichtlich einer systematischen Logik des Ereignisses sind die Erkenntnisse aller dieser Richtungen der Untersuchung von Bedeutung. Wir werden versuchen, sie kurz zusammenzufassen. Im ersten Schritt seiner Phänomenologie des Ereignisses unterscheidet Romano das Ereignis von einem Objekt, wobei das Ereignis nicht nur kein Objekt, sondern auch keine Bewegung oder Veränderung eines Objekts ist. Das Ereignis ist ein reines Geschehnis: »pure »mobilité« – sans rien qui se meuve« (EM, 1). »Es regnet« oder »es dämmert« sind Beispiele für das Ereignis. Im zweiten Schritt unterscheidet Romano »innerweltliche Tatsachen« (fait intramondain) als Ereignisse von »Ereignissen im eigentlich eventialen Sinne« (l’événement au sens proprement événemential) (EM, 40). Der Tod eines nahen Menschen oder eine Begegnung sind Ereignisse im eigentlichen Sinne. Sie unterscheiden sich von innerweltlichen Tatsachen in vier Punkten. Erstens, im Gegensatz zu einem innerweltlichen Faktum, betrifft das Ereignis jemanden bzw. mich: »Tandis que le fait intramondain, en effet, ne s’adresse à personne en particulier et se produit indifféremment pour tout témoin, l’événement est toujours adressé, des sorte que celui à qui il advient est impliqué lui-même dans ce qui lui arrive.« (EM, 44)
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Zweitens: Die innerweltlichen Ereignisse sind »in der Welt« (dans le monde) (EM, 40), sie gehören zur Welt. Mit ihrer Aktualisierung bestätigen sie eine Welt, die als »Totalität des vorbestehenden Möglichkeiten« (totalité des possibles préexistants) (EW, 47 f) verstanden wird. Sie realisieren also eine vorgegebene Möglichkeit. Die Ereignisse dagegen richten eine Welt ein – sie sind »instaurateur-de-monde« (EM, 56). Das heißt, dass sie neue Möglichkeiten eröffnen, die vorher nicht da waren. Deswegen haben sie für Romano den Charakter der »possibilisation« (EM, 61). Weil diese Möglichkeiten erst durch das Ereignis möglich werden, nennt Romano sie »éventualités« (EM, 112). Drittens: Alle innerweltlichen Fakten befinden sich in der Kausalrelation, d. h. sie sind durch die Erkenntnis einer Ursache im Voraus vorhersehbar und im Nachhinein erklärbar. Das Ereignis dagegen »löst sich von jeder Kausalität ab« (s’absolve […] de tout causalité) (EM, 60). Das Ereignis ist unvorhersehbar im Kontext einer Welt, weil nichts in dieser Welt auf seine Möglichkeit hindeutet, ihm vorausgeht, also es »verursacht«. Weil es später im Horizont der schon existierenden Welt nicht erklärbar ist, ist es grundsätzlich durch »Unbegreiflichkeit« (incompréhension) (EM, 208) gekennzeichnet. Viertens sind die innerweltlichen Geschehnisse »datierbar«, d. h. sie geschehen für uns in der Zeit. Die Ereignisse sind dagegen nicht in der Zeit, sondern sie »zeitigen« die Zeit, d. h. sie machen die Erfahrung der Zeit erst möglich: »[T]andis que le fait se produit dans un présent définitif où tout es accompli – précisément comme »fait accompli« –, l’événement n’est pas datable: il ne s’inscrit pas tant dans le temps qu’il n’ouvre le temps, ou le temporalise.« (EM, 64 f)
Wie diese Zeitigung geschieht, wird eingehend in L’événement et le temps beschrieben. Das Ereignis ist also etwas, was eine unersetzbare Selbstheit, »Ipseität« (ipséité) betrifft, genauer gesagt: was die Ipseität entspringen lässt. Die primäre Aufgabe einer eventialen Hermeneutik ist also nicht, das Ereignis selbst zu charakterisieren, sondern das zu beschreiben, wie die Ipseität durch das Ereignis geschieht, zu sich selbst kommt, was aber genauso zu einer systematischen Ereignisphilosophie gehört. Dieser sich ereignenden Ipseität gibt Romano den Namen »advenant«. Es handelt sich um »participe présent substantivé« (EM, 2) und könnte als »der Sich-Ereignende« übersetzt werden. Die eventiale Hermeneutik fragt also, »comment s’advient l’advenant à 147 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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partir d’événements« (EM, 74). Genauso wie Marions Begriff vom adonné, setzt sich der advenant von der Idee des Subjekts ab. Der advenant entsteht nicht durch sich selbst, er ist nicht der letzte Grund, sondern wird durch das Andere – durch das Ereignis – vollzogen. Wenn der advenant zuerst als derjenige charakterisiert wird, der nicht sein eigener Ursprung ist, wird die Geburt zum ersten, beispielhaften Thema der eventialen Hermeneutik – die Geburt ist »événement premier en droit et en fait de tout herméneutique événementiale«. (EM, 96) Wie, auf welche »Weise« (manière) – d. h. durch welche Eventialien 141 – geschieht der advenant durch das unvorhersehbare und die Welt verändernde Ereignis? Vor allem durch das »Verstehen« des Ereignisses: »[…] la compréhension est une modalité de l’aventure, un événemential, c’est-à-dire une manière, pour l’advenant, de s’advenir […].« (EM, 84)
Um dies zu verstehen, muss Folgendes berücksichtigt werden. Erstens: Was ist überhaupt die Ipseität? Was bedeutet, dass der advenant selbst ist? Hier soll klar werden, dass unter der Ipseität Romano weder die Selbstidentität, die jemand in der Reflexion über sich selbst bildet, noch einen unveränderlichen transzendentalen Kern, die alle Erscheinungen des Bewusstseins gründet und begleitet, versteht. Man ist sich selbst, wenn man sich selbst erfährt. Man erfährt sich selbst, wenn man etwas erfährt. Man spürt sich selbst, wenn man zum Beispiel die Wärme spürt. Diese Empfindung bin ich. Die Erfahrung der Ipseität ist also »Ausgesetztheit« (exposition) dem Anderen gegenüber (EM, 196), »Erprobung« (épreuve) des Anderen (EM, 198). 142 Als solche ist die Ipseität durch »Passibilität« (passibilité) als »Offenheit für das Ereignis« (ouverture à l’événement) (EM, 125), »Verstrickung« (implication) »in dem, was sich ereignet« (dans ce 141 Die Eventialien sind mit Heideggers Existenzialen vergleichbar, weil sie sich von ihnen absetzen. Sie setzen sich von ihnen aber dadurch ab, dass sie im Gegensatz zu den Existenzialien nicht als Strukturen des Subjekts verstanden werden dürfen, weil dann die Möglichkeit eines Ereignisses in einem transzendentalen Subjekt begründet wäre. Stattdessen sind sie die »Modalitäten der Antwort des advenant auf den, was sich mit ihm ereignet« (modalités de réponse de l’advenant à ce qui lui arrive) (ET, 267). Die Eventialien sind also nicht im advenant, sondern geschehen mit ihm als seine Antwort auf ein Ereignis, wenn es sich ereignet. 142 »Car »je« ne m’adviens comme tel qu’en tant que quelque chose m’arrive, et quelque chose ne m’arrive qu’en tant que je deviens moi-même, dans l’épreuve de l’événement.« (EM, 124)
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qui lui arrive) (ebd.) und »Singularität« (singularité) als Unvergleichlichkeit (EM, 125 f) ausgezeichnet. Zweitens wird unter dem Verstehen nicht ein nachdenkliches Begreifen von etwas verstanden, sondern ein »comportement pré-réflexif et pré-théorique« (EM, 85). Wann verstehe ich auf diese Weise das, dem ich begegne, wann verstehe ich das Ereignis? Wenn ich es erfahre. In der Tat ist die Erfahrung der Sinn des Verstehens: »l’ex-pér-ience désigne le sens événemential du comprendre« (EM, 200). Wenn also gesagt wird, dass durch das Verstehen des Ereignisses der advenant zu sich selbst kommt, dann bedeutet dies, dass er durch die Erfahrung des Anderen, das das Ereignis ist, sich selbst erfährt, d. h. ständig zu sich selbst wird, da durch das Andere die Ipseität ständig verändert wird. Mit anderen Worten: Dies bedeutet, dass durch die Erfahrung der vom Ereignis eröffneten Möglichkeiten der advenant immer aufs Neue zu sich selbst und seiner Welt kommt. Ich bin nicht mein eigener Grund, ich werde ich selbst durch die Erfahrung des Ereignisses. Romanos zweites Buch zu einer systematischen Ereignisphilosophie – L’événement et le temps – eröffnet eine weitere Dimension des Ereignisses. Das Ereignis wird als »Zeitigung der Zeit« (temporalisation du temps) (ET, 168) bestimmt. Das Ereignis – im Gegensatz zu einer innerweltlichen Tatsache – ist nicht »in der Zeit«, sondern »entfaltet die Zeit«: »Dès lors, plus qu’il ne se produit dans le monde, l’événement ne survient davantage dans le temps; il déploie le temps dans la pluralité de ses dimensionnels en survenant lui-même comme sa propre temporalisation.« (ET, 148)
Das Ereignis ist also für Romano der Ursprung der Zeit. Damit setzt er sich sowohl von der Objektivierung der Zeit, die die Zeit in der Bewegung und Veränderung der innerweltlichen Objekte sieht (wie bei Aristoteles), als auch von der Subjektivierung der Zeit, die die Möglichkeit der Zeit im Bewusstsein begründet (wie bei Augustinus, Bergson und Husserl) ab. Der advenant ist also nicht der Grund, warum die Zeit vergeht, warum er die Zeit erfahren kann, sondern er wird selbst durch das Ereignis gezeitigt. 143 Wie schafft das Ereignis die Zeitigung der Zeit? Romano beschreibt dies folgendermaßen:
143 »L’advenant est originairement temporalisé, de telle manière qu’il ne peut jamais s’ériger en origine du temps.« (ET, 255)
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»[…] il [événement – L. P.] déborde originairement le fait des son effectuation en tant qu’il se précède lui-même, est prospectif, ouvre un avenir, et se reçoit lui-même de cet avenir qu’il ouvre, depuis lequel et par lequel il apparaît après coup dans la »présence« qui est la sienne […].« (ET, 168)
Dies bedeutet: Das Ereignis »geht sich selbst voraus«, »öffnet eine Zukunft« in dem Sinne, dass seine Gegenwart noch zu unserer Gegenwart werden wird – später, dann, wenn wir mit der »Verspätung« (retard) und »Verzug« (délai) (ET, 165) zum Ereignis kommen werden. Die Idee Levinas’ von der »unaufholbaren Verspätung«, mit der wir uns des Ereignisses bewusst werden, ist also auch bei Romano im Einsatz. Wir erfahren die Präsenz des Ereignisses im Bewusstsein als seine Zukunft, wir erfahren also die Zukunft. Aber genauso erfahren wir auch die Vergangenheit durch das Ereignis. Die Präsenz unseres Bewusstseins, die die Zukunft des Ereignisses ist, ist der Ort, wo das Ereignis »im Nachhinein erscheint«, wo es »sich selbst empfängt«. Wenn wir also das Ereignis in der Präsenz unseres Bewusstseins erfahren, ist es schon vorbei, aber, insofern es vorbei ist, gibt es uns die Vergangenheit unserer Gegenwart. Wir erfahren das Vergehen und die Vergangenheit, weil das Ereignis in der Präsenz schon vergangen ist. Die Präsenz enthält also nicht von sich selbst den vergangenen und den zukünftigen Moment, wie dies bei Husserl ist, sondern sie hat Zugänge zum Vergangenen und Zukünftigen durch das Ereignis, durch die Begegnung mit dem Anderen. So wie das Ereignis die Zeit zeitigt, hat es selbst »trois traits phénoménaux« (ET, 169). Erstens kann es die Zukunft eröffnen, weil es eine »nouveauté radicale« (ET, 169) ist. Wir sind seine Zukunft dadurch, dass wir es weder antizipieren noch entwerfen können. Wenn es für uns nicht radikal neu, sondern vorhersehbar wäre, wäre es in der Präsenz und könnte uns nie die Zukunft zeigen. Zweitens ist es durch »ancienneté« (ET, 169) gekennzeichnet, was bedeutet, dass das Ereignis älter als die Präsenz des Bewusstseins ist (wir erinnern uns gleich an Merleau-Ponty und Levinas). Drittens zeigt es sich – und hier schließt sich Romano wiederum an Merleau-Ponty und Levinas an – nie in der Präsenz, und die Erfahrung des Ereignisses hat schon immer den Index der Verspätung, durch die auch die Zukunft der Einholung dieser Verspätung gegeben ist (ET, 169, 179 f). Die nächste Frage, die Romano in Bezug auf das Ereignis als die Zeitigung stellt, ist nach dem Bezug des advenant zu der Zeit, d. h. nach den Eventialien, durch die er der Zeit antwortet und die er ganz 150 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Claude Romano (1967)
allgemein »Temporalität« (temporalité) (ET, 265 f) nennt. Wie wird die Vergangenheit des Ereignisses dem advenant zugänglich? Nicht durch das »Gedächtnis« (souvenir) (ET, 201) als die Fähigkeit des Bewusstseins, zu einer vergangenen Präsenz zurückzukehren. Da das Ereignis nie in der Präsenz war, kann man sich auch an es nicht erinnern. Die Rede ist also – mit Levinas’ Worten – von einer »absoluten Vergangenheit« und – mit Romanos Worten – von »einer Vergangenheit, älter als jede erinnerbare Vergangenheit« (un passé antérieur à tout passé remémorable) (EM, 212). Statt des Gedächtnisses, müssen wir von der Erinnerung (mémoire) sprechen, von »une mémoire de l’immémorial« (ET, 203). Die Erinnerung versucht nicht, das Unerinnerbare zu vergegenwärtigen, sondern behält es so, dass der advenant die Möglichkeiten realisiert, die vom Ereignis eröffnet worden sind. Die Erinnerung ist die »Ausübung des Möglichen« (exercice du possible) (ET, 206) und so als Verantwortlichkeit (responsabilité) (ET, 212) strukturiert. Sich an das Ereignis der Liebe zu erinnern, heißt nicht, zum unbegreiflichen Moment der ersten Begegnung zurückzukehren, sondern hier und jetzt zu lieben. Wie wird die Zukunft erfahren? Nicht durch die vom Bewusstsein geleisteten »Erwartung« (attente) des Zukünftigen, die es zu etwas Gegenwärtigem herabsetzt, sondern durch die »Überraschung« (surprise) (ET, 221). Der advenant ist aber zu einer Überraschung fähig, weil er nicht ein abgeschlossenes und solipsistisches Subjekt darstellt, sondern grundsätzlich durch die »Verfügbarkeit« (disponibilité) für das Andere gekennzeichnet ist. So ist die Verfügbarkeit die »ursprüngliche Er-fah-rung der Zukunft« (ex-pér-ience originaire de l’avenir) (ET, 227). Unser Bezug zu dem Zukünftigen erfolgt also nicht, wenn wir die Zukunft planen, sondern dann, wenn wir offen zu dem sind, was kommt. Die Gegenwart ist für den advenant nicht dann erfahrbar, wenn er zu sich selbst kommt, sondern dann, wenn das Ereignis mit ihm geschieht und ihn ohne seine Teilnahme vor seiner Präsenz transformiert. Die »Transformation« ist das Evential, durch das der advenant der Präsenz des Ereignisses, die nicht seine Präsenz ist, antwortet: »L’événemential selon lequel l’advenant se rapporte originairement au présent apertural où surgit l’événement est donc la transformation.« (ET, 239)
Im Moment der Transformation wird der advenant zu seiner »Singularität« der Erfahrung gebracht (ET, 247).
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DAS EREIGNIS IN DER PHILOSOPHIE
Entsprechend der Eventialien, durch die der advenant der Zeitigung des Ereignisses antwortet, hat die Ipseität »trois moments structurels« – Verantwortlichkeit, Verfügbarkeit und Singularität (ET, 248). Diese drei Strukturmomente entsprechen denjenigen, die in L’événement et le monde entwickelt worden sind. Die Verantwortlichkeit entspricht der Verstrickung, die Passibilität der Verfügbarkeit und die Singularität ist die Singularität der Transformation (ET, 248 f). Zum Schluss dieses einleitenden Teiles müssen wir festhalten, dass für Romano das Ereignis genauso wie für Marion ein Phänomen darstellt: »l’événement est toujours adressé«, ein Empfänger ist im Ereignis »impliqué«. Für Deleuze und Badiou gehörte das Ereignis eher zum Ontischen, während Heidegger, Levinas und Derrida es sowohl jenseits des Ontologischen und als auch jenseits des Phänomenologischen sahen. Wir werden später in der Tat sehen, dass die Bestimmung des Ereignisses als ein Phänomen und seine Behandlung innerhalb einer Phänomenologie sehr problematisch sein können. Es handelt sich dabei nicht um eine Kleinigkeit innerhalb des philosophischen Diskurses. Es geht um eine fundamentale Frage, ob solche »Sachen« wie Abgrund (Heidegger), der Andere (Levinas), bedingungslose Gabe (Derrida), Zur-Welt-Sein (Merleau-Ponty), Liebe (Marion), Tod und Geburt (Romano) – also die wichtigsten Dinge in unserem Leben – als Erscheinungen, als Phänomene zu verstehen und zu beschreiben sind.
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II. DIE LOGIK DES EREIGNISSES: Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Jean-Luc Marion
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
1.
Das Ereignis in der Philosophie Martin Heideggers
Wenn man den Ort und die Bedeutung des Ereignisses in der Philosophie Heideggers bestimmen will, ist es nützlich, in der ersten Annährung zur Aufklärung dieser Frage darauf aufmerksam zu werden, wie Heidegger seinen Weg des Denkens des Seins in drei Schritte einteilt. Im Seminar in Le Thor 1969 sagt Heidegger: »Drei Worte, die, indem sie einander ablösen, gleichzeitig drei Schritte auf dem Weg des Denkens bezeichnen: SINN – WAHRHEIT – ORT (τόπος).« (S, 344)
In dieser Aufzählung finden wir zunächst nicht das Wort »Ereignis«. Wo es auftaucht, zeigt sich aber, wenn wir Heideggers Erörterung seines Weges folgen. Der erste Schritt ist bekanntlich die Frage nach dem »Sinn von Sein« (S, 334) in Sein und Zeit, also danach, wie das Dasein im Vollzug seines Seins das Sein versteht. Nach diesem grundlegenden Werk, am Ende der 20er Jahre und Anfang der 30er Jahre, findet in Heideggers Denken eine »Kehre« statt, wird die Seinsfrage anders gestellt. Es wird nicht mehr danach gefragt, wie das Dasein in seinem Sein ist, sondern wie das Sein selbst »ist«. Das Schlüsselwort zum Seinsverständnis wird »Wahrheit«. 144 Das Entscheidende ist, wie Wahrheit verstanden wird. Die Kehre in Heideggers Denken bedeutet – nicht nur, aber auch –, dass Wahrheit auf eine ganz bestimmte Art ausgelegt wird. Es ist die Wahrheit als »ἀλήθεια«, als »Unverborgenheit«. 145 Sie ist das, durch das Seiendes (das 144 In den Beiträgen heißt es: »Die Seinsfrage ist die Frage nach der Wahrheit des Seyns.« (BPh, 6) 145 Im Vortrag Vom Wesen der Wahrheit 1930 heißt es: »Die so verstandene Freiheit als das Sein-lassen des Seienden erfüllt und vollzieht das Wesen der Wahrheit im Sinne der Entbergung von Seiendem. Die ›Wahrheit‹ ist kein Merkmal des richtigen Satzes, der durch ein menschliches ›Subjekt‹ von einem ›Objekt‹ ausgesagt wird und
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Beständige) anwest, ist. Weil in ihr das Seiende ist, weil in ihr das Sein des Seienden offengelegt wird, ist sie grundsätzlich die Unverborgenheit des Seins: »Die ›Wahrheit‹ ist des Seyns.« (A, 18) 146
Die Wahrheit ist immer die Unverborgenheit des Seins des Seienden. Wenn die Wahrheit ist, ist das Sein. Aber auch die Gegenrichtung – die Kehre – gilt: ist das Sein, so ist die Wahrheit. 147 Das Sein ist die Wahrheit, es ist dann, wenn Wahrheit ist: »Das Sein ist die Wahrheit […].« (A, 54) 148
dann irgendwo, man weiß nicht in welchem Bereich, ›gilt‹, sondern die Wahrheit ist die Entbergung des Seienden, durch die eine Offenheit west.« (VW, 190) 146 Was die Zitate von Heideggers Werken zum Ereignis betrifft, ist Folgendes zu beachten: 1. Wir setzen voraus, dass Heidegger seine Ereignisphilosophie zwischen etwa 1930 und 1945 entwickelt hat. Bei der Darstellung der Hauptthesen dieser Philosophie werden die Werke vor allem aus dieser Zeit zitiert. 2. Es ist klar, dass innerhalb dieser Zeit eine Entwicklung der Herausarbeitung der Ereignisfrage geschieht, d. h. manche Thesen wiederholen sich durchgängig, manche werden immer klarer und klarer ausgedrückt, manche werden mit der Zeit detaillierter dargestellt, manche aber verändert. Wir werden konsequent immer die »letzte«, d. h. »aktuell« gültige These zu einer Teilthematik zitieren. 3. Wir werden immer die kürzeste, ausdrücklichste und eindeutigste Formulierung auswählen. Manchmal wird das bedeuten, dass wir eine spätere Schrift Heideggers zitieren, wo die schon in den früheren Schriften entwickelten Gedanken klarer ausgedrückt werden. Dies betrifft insbesondere den Abschnitt über das Verhältnis von Ereignis und Sprache. 4. Das Ereignisdenken Heideggers erlebt eine bedeutsame Wende, wenn es an dem konkreten Ort gebunden wird. Hinsichtlich dieses Aspektes können wir nicht die Abhandlungen zwischen 1930 und 1945 zitieren, da diese Wende erst später geschieht. So werden wir im Abschnitt über die Ortshaftigkeit des Ereignisses spätere Texte zitieren. 5. Die unveröffentlichten Abhandlungen sind experimentierende Texte, was heißt, dass nicht jede Aussage eine geltende und durchdachte These darstellt. Wir vermuten hier, dass erst mehrmals sich wiederholende Aussagen den Charakter einer These aufweisen. Aus diesem Grund werden wie versuchen, zu einem Zitat immer mehrere Stellen aufzuweisen, wo dasselbe gesagt wird. 6. In Heideggers Schriften nach 1945 findet man oft Gedanken, die auf die Ereignis-Abhandlungen zurückzuführen sind. An vielen Stellen werden wir solche Gedanken besonders hervorheben. 147 Heidegger spricht sehr oft von der Kehre als »Widerwendigkeit« (BPh, 258) von Sein und Wahrheit im folgenden Sinne: »Die Wahrheit des Seyns ist das Seyn der Wahrheit.« (BPh, 95) Dies zeigt die grundsätzliche Zugehörigkeit und faktische (d. h. ereignishafte, nicht begriffliche) Selbigkeit von Sein und Wahrheit – das Sein ist die Wahrheit und die Wahrheit ist das Sein. Dazu siehe zum Beispiel: BPh, 20, 95, 185, 189, 258; B, 118; A, 43, 53, 59; E, 3, 9, 10, 19, 76, 139, 140, 150. 148 Siehe auch: ÜM, 22.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Damit sind wir aber unmerklich zum Konzept des Ereignisses gelangt. Weil die Wahrheit für Heidegger nicht wie ein Seiendes »ist«, sondern »west«, sich ereignet, ist sie ein (oder eher das) Ereignis: »Die Wahrheit des Seyns […] ist das Ereignis.« (BPh, 258) 149
Und damit ist auch das Sein das Ereignis: »Das Seyn west als das Ereignis.« (BPh, 260) 150
Die Frage nach der Wahrheit ist also die Frage nach dem Ereignis als dem, wie die Wahrheit und das Sein sind. Dazu weiter: Die Kehre in Heideggers Denken lässt ihn nicht mehr die grundlegenden Strukturen des Seins des Daseins – also die transzendentalen Gründe – für eine Metaphysik suchen, sondern den Grund der Metaphysik selbst. Heidegger findet diesen Grund der Metaphysik im ursprünglichen Ereignis der Wahrheit des Seins. Es handelt sich hier aber um keinen ontologischen oder transzendentalen Grund, sondern um einen geschichtlichen Grund als den Anfang einer Geschichte. Die Wahrheit des Seins als Ereignis ist der »Anfang«: »Die ἀλήθεια west als der Anfang.« (E, 9) 151
Die Frage nach der Wahrheit ist also einmal die Frage nach dem Ereignis als Geschehnis der Unverborgenheit des Seins (weil die Wahrheit sich ereignet) und ein andernmal nach dem Ereignis als dem Anfang (weil die Wahrheit als Ereignis der Anfang ist). Diese Zweideutigkeit des Ereignisbegriffes deutet, wie wir später sehen werden, nicht auf eine ungenaue Terminologie hin, sondern liegt in der Logik des Ereignisses selbst. Das heißt: Man kann nicht anders über das Ereignis sprechen als nur zweideutig, nämlich so, dass es ein Geschehnis, eine »Wesung« und der Anfang ist. Der dritte Schritt des Weges Heideggers ist die Frage nach dem Ort. Diese Verschiebung erklärt er dadurch, dass die Wahrheit nicht als »Richtigkeit« verstanden werden darf, sondern als »Örtlichkeit des Seins« (S, 335). Das bedeutet, dass der späte Heidegger den Ort der Wahrheit nicht im Urteil, wo die Wahrheit (oder Unwahrheit) über etwas ausgesagt wird, sieht, 152 sondern an einem Ort, wo die 149 150 151 152
Bereits im Teil I zitiert. Bereits im Teil I zitiert. Bereits im Teil I zitiert. Dies behauptet Heidegger schon in einer der ersten Abhandlungen, die in der
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Wahrheit des Seins geschieht. Wenn die Wahrheit in Heideggers Philosophie zuerst zum Ereignis wird, dann liegt ein weiterer Schritt darin, dass dieses Geschehnis an einen Ort gebunden wird – es schwebt nicht irgendwo, sondern an einem Ort: in der Lichtung. Die Wahrheit ist die Lichtung, wo das Ereignis der Wahrheit des Seins, d. h. des Seiend-Werdens des Seienden für das Dasein geschieht: »Wahrheit ist die zum Seyn als Er-eignis gehörige Lichtung.« (B, 314) 153
Was für ein Ort die Lichtung ist, muss allerdings zuerst noch erklärt werden. Eines muss man aber festhalten: Das Ereignis der Wahrheit geschieht an einem Ort. Noch genauer: Es ist ein Ort. Und dies ist faktisch das wichtigste Strukturmoment der Logik des Ereignisses. Damit sehen wir, dass wir auch vom Ort aus zum Ereignis gelangt sind. Der Ort ist der des Ereignisses der Wahrheit des Seins. In den letzten zwei Etappen auf dem Denkweg Heideggers wird also das Ereignis gedacht: das Ereignis der Wahrheit und diese Wahrheit als Ort. Deswegen kann man Friedrich-Wilhelm von Herrmann nur zustimmen, wenn er, Heidegger folgend, schreibt: »›Ereignis‹ ist seit 1936 das Leitwort für das Denken Heideggers. Das in diesem von ihm selbst gegebenen Hinweis angeführte Datum bezieht sich auf die Beiträge zur Philosophie, deren andere, wesentliche Überschrift Vom Ereignis lautet. […] Seit dem Durchbruch des Ereignis-Denkens bewegen sich alle Wege Heideggers in dieser neu gewonnenen Blickbahn, auch wenn diese in ihren Wesensbezügen und -zusammenhängen nicht Kehre entstanden ist, nämlich in Vom Wesen der Wahrheit: »Wahrheit ist nicht ursprünglich im Satz beheimatet.« (VW, 185) Oder noch früher in Sein und Zeit, wo die Wahrheit nicht als »Übereinstimmung zwischen Erkennen und Gegenstand« (SZ, 218), sondern primär als »Entdeckend-sein« und im zweiten Sinne als »Entdecktsein« verstanden wird (SZ, 220). Die Wahrheit ist also dann, wenn das Dasein ein innerweltliches Seiendes entdeckt, sieht. Und die Wahrheit ist dann, wenn das innerweltliche Seiende entdeckt und sichtbar geworden ist. Ohne Zweifel gibt es eine Parallelität zwischen dieser Auslegung der Wahrheit in Sein und Zeit und dem späteren, nach der Kehre entstandenen, Verständnis der Wahrheit. Aber es besteht auch eine Kluft zwischen diesen beiden Ansätzen, weil in Sein und Zeit die Wahrheit im Dasein – in seiner »Erschlossenheit« (SZ, 220 f) – gegründet ist, während nach der Kehre die Wahrheit der Grund ist, der das Dasein gründet. 153 Zur Wahrheit als Lichtung siehe zum Beispiel: BPh, 29, 350; ÜM, 22, 30 f, 63; E, 280; und später: S, 345. Zur Wahrheit als Ort des Ereignisses siehe auch: »Wo aber hat diese Begegnung zwischen dem, was anwest und dem Seienden, dessen Weise der Anwesenheit das Sichöffnen für den Empfang dieser Anwesenheit ist, ihren Ort? Wo, wenn nicht in der ἀλήθεια? Darum kann ἀλήθεια nicht durch »Wahrheit« übersetzt werden.« (S, 297)
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
immer selbst thematisch wird wie in den Beiträgen.« (Herrmann (1994a), 1) 154
Man muss aber beachten, dass das Konzept des Ereignisses das Denken Heideggers nach Sein und Zeit in der Tat bloß »leitet«. Das bedeutet nicht, dass es überall im Rampenlicht steht (sonst hätte vielleicht Heidegger gesagt, dass sein Thema das Ereignis und nicht die Wahrheit und der Ort ist), sondern dass es vor allem eine neue Weise des Denkens des Seins eröffnet und führt. Es wäre falsch zu sagen, dass Heidegger vom Denker des Seins zum Denker des Ereignisses wird – eher denkt er das Sein durch das Ereignis. Er denkt das Ereignis des Seins. Und durch das Ereignis denkt er die Wahrheit, Anfänglichkeit und Örtlichkeit des Seins. Wenn man also den Ort und die Bedeutung des Ereignisbegriffes bei Heidegger bestimmen möchte, müsste man sehen, dass die Frage Heideggers immer die Frage nach dem Sein ist und dass das Ereignis ein Rahmen für das Denken des Seins ab der Kehre anbietet. Es »leitet« – besser kann man es nicht ausdrücken – das Denken des Seins. 155 Damit stehen wir aber vor einer Schwierigkeit. Wir wollen mit Heideggers Hilfe die Strukturen des Ereignisses aufdecken. Nicht also die Strukturen des Ereignisses des Seins, sondern des Ereignisses überhaupt. Bei einem solchen Vorhaben stellt man bald fest, dass in Heideggers Denken das Ereignis mit dem Sein sehr stark verwoben ist, sodass es schwierig ist aufzudecken, worin die Ereignishaftigkeit des Ereignisses selbst im Ereignis des Seins liegt. 156 Dies fordert eine 154 Herrmann bezieht sich hier auf zwei von Heidegger 1949 gemachte Anmerkungen zum Brief über den Humanismus. Die erste sagt: »Das hier Gesagte ist nicht erst zur Zeit der Niederschrift ausgedacht, sondern beruht auf dem Gang eines Weges, der 1936 begonnen wurde, im ›Augenblick‹ eines Versuches, die Wahrheit des Seins einfach zu sagen.« (HB, 313) Die zweite lautet: »Denn ›Ereignis‹ seit 1936 das Leitwort meines Denkens.« (HB, 316) Siehe auch: Herrmann (1994b), 512. Man muss hier darauf achten, dass diese Anmerkungen 1949 gemacht werden und sich nicht ohne Weiteres auf Heideggers ganze spätere Philosophie beziehen lassen. Man kann aber hinzufügen, dass er 1957 nochmals vom Ereignis als seinem »Leitwort« spricht: »Das Wort Ereignis soll jetzt, aus der gewiesenen Sache her gedacht, als Leitwort im Dienst des Denkens sprechen.« (ID, 45) 155 In den Beiträgen – nach der Kehre also – schreibt Heidegger: »Die Frage nach dem ›Sinn‹ […], kurz nach der Wahrheit des Seyns ist und bleibt meine Frage und ist meine einzige, denn sie gilt ja dem Einzigsten.« (BPh, 10) Es ist immer die Frage nach dem Sein, nur unterschiedlich gestellt: zuerst als die Frage nach dem Sinn, dann nach der Wahrheit des Seins, d. h. nach dem Ereignis. 156 Der tiefste Grund dieser »Verwobenheit« liegt darin, dass es für Heidegger nur ein
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
grundsätzliche Unterscheidung von strukturellen und inhaltlichen Aspekten im Ereignis des Seins. Uns interessiert also nicht, wie Heidegger das Ereignis des Seins konkret beschreibt, sondern das, was das Sein ereignishaft macht, was das ist, was jetzt vom Sein als Ereignis zu sprechen erlaubt. Wir werden feststellen, dass das Ereignis zuerst den Geschehnis- bzw. Wesungscharakter des Seins bedeutet, der wiederum bestimmte Strukturen aufweist, zum Beispiel den Austragsoder Anfänglichkeitscharakter. Wir werden sehen, dass das Ereignis später als Anfang der Wesung des Seins verstanden wird, der das Geschehnis der Wahrheit des Seins erst möglich macht, also gibt. Das Ereignis als Anfang wird wiederum eine bestimmte Logik aufweisen, zum Beispiel, dass es sich als Anfang entzieht, aber auch eine Geschichte hinter sich lässt.
2.
Die Zweideutigkeit des Ereignisses: die Wesung und der Anfang
Das Ereignis in der Philosophie Heideggers ist wesentlich das Ereignis des Seins. Daraus folgt: Wollen wir das Ereignis verstehen, müssen wir zuerst das Sein verstehen, wir müssen also verstehen, was an dem Sein das ist, was es als ein Ereignis zu denken erlaubt. Es gibt vor allem zwei Kontexte, in denen das Sein mit dem Ereignis zusammengebracht wird. Einmal, wenn es um die Wesung des Seins geht, ein andernmal, wenn es um den Anfang der Wesung des Seins geht. Damit wird schon die »Mehrdeutigkeit« oder Zweideutigkeit des Ereignisbegriffes in Heideggers Philosophie angedeutet. Einerseits ist es der Wesungscharakter des Seins, es ist, wenn man das so ausdrücken könnte, im Sein. Andererseits ist das Ereignis etwas einziges Ereignis gibt, nämlich das des Seins. Vom Ereignis zu sprechen, ist dasselbe, wie vom Sein zu sprechen. Allerdings stellt Heidegger eine solche These nicht explizit auf. Sie stellt eher eine Vor-Entscheidung dar. Man kann diesbezüglich vermuten, dass für ihn alle anderen Ereignisse (Offenbarung, Liebe etc.) nur als Ereignisse innerhalb des Horizonts des Seienden geschehen und nicht den Titel des eigentlichen Ereignisses – des Seinsereignisses – verdienen. Dass Heidegger nur »ein einziges Ereignis des Seins« (un unique événement d’être) setzt, darauf weist auch Claude Romano hin (EM, 29). Jedes andere Ereignis wird in Heideggers Philosophie »zum Rang des bloßen innerweltlichen Faktums herabgesetzt« (ravalé au rang de simple fait intramondain) (EM, 29). Für eine Philosophie des Ereignisses gibt es selbstverständlich viele Ereignisse: »Si l’être peut bien être pensé, à la manière de Heidegger, comme un événement, tout événement n’est pas événement d’être (existence).« (EM, 32)
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
vom Sein Separates, nämlich der Anfang als Einbruch des Seins. Was die »Entwicklung« des Ereignisdenkens Heideggers betrifft, so finden wir die erste Bedeutung des Ereignisses als Wesung des Seins in seinen ersten seinsgeschichtlichen Abhandlungen (zum Beispiel in den Beiträgen). Das Ereignis wird vom Sein im späteren Ereignisdenken (zum Beispiel schon in Über den Anfang) unterschieden, wo es als Anfang der Wesung des Seins gedacht wird. 157 Man könnte fragen: Wenn wir sagen, dass das Ereignis als Anfang vom Sein unterschieden wird, wie können wir immer noch behaupten, dass das Ereignis nur im Zusammenhang mit dem Sein gedacht wird? Das Ereignis als Anfang muss immer zusammen mit dem Sein gedacht werden, weil der Anfang immer ein Anfang von etwas ist. Die Mehrdeutigkeit des Ereignisses bedeutet nicht einfach, dass das Wort »Ereignis« zwei Bedeutungen hat, sondern dass es an sich ein Vieles ist, nämlich der Anfang und das, was anfängt. Wir sagen also, dass das Ereignis die Wesung des Seins ist. Doch was bedeutet »Wesung«? Die »Wesung« ist zwar kein zentrales Wort in Heideggers Denken, kann aber helfen, das Ereignis zu verstehen. Das Wort taucht – besonders in den Beiträgen – auf, um das Sein gegen alle Vergegenständlichungsversuche abzugrenzen. Das Sein ist nämlich kein Gegenstand, kein Seiendes: »Doch Da-sein hat alle Subjektivität überwunden, und Seyn ist niemals Objekt und Gegenstand, Vor-stellbares; gegenstandsfähig ist immer nur Seiendes und auch hier nicht jedes.« (BPh, 252) 158 157 Auf diese Verschiebung weist Heidegger selbst im Seminar Le Thor 1969 hin: »Es wird einem nicht gelingen, das Ereignis mit den Begriffen von Sein und Geschichte des Seins zu denken; ebenso wenig mit Hilfe des Griechischen (über das vielmehr gerade ›hinauszugehen‹ ist).« Und weiter: »Mit dem Ereignis wird überhaupt nicht mehr griechisch gedacht.« (S, 366) Noch ein wenig später sagt er: »Sicherlich kann man sagen: das Ereignis ereignet das Sein […].« (S, 367) Es ist folgendermaßen zu interpretieren: Das ursprüngliche griechische Denken hat die Wahrheit als Unverborgenheit des Seins gedacht. Sie ist ein konkretes Geschehnis, das das Denken in Gang bringt und so eine Geschichte des Denkens auslöst. Aber das Ereignis ist nicht dieses Geschehnis und seine Umformungen in der Geschichte, sondern der Anfang dieses Geschehnisses und dieser Geschichte. Es ist das, was sich ereignet und in diesem Ereignen das Sein hervortreten lässt. Das Ereignis wird also als etwas vom Sein Unterschiedliches gedacht. Rudolf Wansing formuliert dies folgendermaßen: »Nun wird das ›Ereignis als Ereignis‹ ausdrücklich als etwas vom Sein Unterschiedenes prädiziert.« (Wansing(2004), 96). 158 Dass das Sein kein Seiendes, kein Gegenstand, nichts Vorstellbares etc. ist, besagt schon die ontologische Differenz in Sein und Zeit. Man muss aber merken, dass, obwohl die ontologische Differenz nach der Kehre aufgelöst wird und das Sein zum Sein
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Ein Seiendes ist etwas Beständiges, etwas ständig Anwesendes: »Seiend ist, was so, in Beständigkeit und Anwesenheit, sich zeigt.« (BPh, 191)
Die Beständigkeit wird »hier voll begriffen als das Bestehen auf (Insistieren) der Beständigung der Anwesung in die dauernde Anwesenheit« (E, 40) 159, und die Anwesenheit »ist Gegenwart im Sinne der Gesammeltheit der Ausdauer« (BPh, 192) 160. Das Seiende ist also das, was auf der dauernden Anwesenheit besteht. Deswegen ist es. Das Seiende ist also, und deswegen ist es ja auch das Seiende, weil es so – in ständiger Anwesenheit – ist. Die Wesung ist aber eine andere Seinsweise als die des Ist. Sie ist nichts ständig Anwesendes. Deswegen schreibt Heidegger: »Das Seiende ist. Das Seyn west.« (BPh, 30) 161 »Nicht ist es das Selbe: das im höchsten Sinne Seiende (Seiendste) und das, was als das reine Sein nie ein Seiendes ist und doch gerade deshalb die reine Wesung bleibt und anfänglich und einzig ›ist‹ […].« (E, 11)
Die »Wesung« ist also das Gegenwort zum »ist«, das ständige Anwesenheit bedeutet. Weil das Sein nicht (beständig) ist, ist es die Wesung. Es west, es »istet« stattdessen. Und weil es west und istet, ist es ein Ereignis, das »nicht immer ist«: »Das ist die Wesung des Seyns selbst, wir nennen sie das Ereignis.« (BPh, 7) 162 »Das Sein aber istet als das Er-eignis. Es ist nicht immer.« (E, 124) 163
Des Weiteren: Ein ständig Anwesendes ist etwas, wem man immer, wenn man nur möchte, begegnen kann – es ist da, als etwas Diskretes, mehr oder weniger Unveränderliches, das auf uns wartet. Die ständige Anwesenheit impliziert, dass das Seiende, insofern es ist, etwas ist und als dieses Etwas bleibt:
des Seienden wird, die Bestimmung des Seins als Nichts-Seiendes intakt bleibt: BPh, 29, 252, 263, 480; B, 199; A, 9 f, E, 214, 128 ff, 263. 159 Zum Begriff der Beständigkeit siehe auch: BPh, 192, 272; E, 56. 160 Zum Begriff der Anwesenheit siehe auch: BPh, 272. 161 Das Sein ist nicht, Sein west: BPh, 7, 74, 254, 260, 286, 342, 344. 162 Zur Wesung des Seins als Ereignis siehe auch: BPh, 8, 26, 30, 108, 183, 230, 247, 254, 260, 344; B, 91, 92, 98, 100, 268. 163 Zum »isten« siehe auch: A, 69; E, 263.
162 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
»Die Beständigung in das Verfestigte ist je in sich Abschnürung, Begrenzung, Vereinzelung, Losriß aus der wesenden Anwesung. / Darin liegt die Möglichkeit des Seienden vor dem Sein. Darin liegt aber auch die Möglichkeit der Versteifung auf Für-sich-stehende und so Ab-stehende und Abständige. Dieses Abständige ergibt die Möglichkeit des Gegenständigen.« (E, 71)
Das Seiende reißt sich von der Wesung des Seins und ist etwas Begrenztes, Für-sich-Stehendes, fast Gegenständliches. Es ist etwas Statisches und Bleibendes. Es ist also ein Wesen, es hat ein Wesen, das unabhängig von allen Umständen da ist. Die ereignishafte Wesung ist aber kein Wesen – es ist nichts Beständiges, dem man in der Welt immer begegnen kann oder im Denken immer als dasselbe vergegenwärtigen kann. Es ist nichts, was man denken und immer wieder erneut denken kann. Es ist also nichts Vor-stellbares, wenn das »Vorstellen: Gegenwärtigen von etwas als etwas« (E, 20) ist: »Das Wesen als Wesung ist nie nur vor-stellbar […]. Die Wesung jenes, worin wir einfahren müssen. Das meint hier ›Erfahrung‹ ; einfahren, um in ihr zu stehen und sie auszustehen, was geschieht als Da-sein und dessen Gründung.« (BPh, 287–289) 164
Damit ist uns gesagt: Die Wesung, also das Ereignis, lässt sich nicht auf ein Seiendes reduzieren. Das Ereignis hat nicht die Seinsweise der ständigen Anwesenheit und des Wesens. Mehr noch: Das Wesen ist »erstarrte« und »verhärtete« Wesung. 165 Das Wesen ist zum Stillstand gekommene Wesung, etwas, das die Ereignishaftigkeit verloren hat. 166 Man könnte auch sagen: Die Wesung ist nicht etwas, sondern ein Dieses, nicht etwas als etwas, sondern genau dieses, das sich hier und jetzt ereignet. Das Sein ist nicht etwas: »das Seyn ist nur das Seyn […]« (A, 23). 167 Es ereignet sich nur, ohne in die Relation, wo es als etwas bestimmt wird, zu kommen: »Was bleibt zu sagen? Nur dies: Das Ereignis ereignet.« (ZS, 24). Wenn also Heidegger das Sein als Ereignis charakterisiert, will er zeigen, dass das Sein kein beständiges Wesen ist. Das Ereignis ist die Die Wesung gegen das Wesen: BPh, 66, 287, 289, 354 f; ÜM, 23. Das Wesen ist erstarrte, verhärtete Wesung: BPh, 342, B, 203, E, 107. 166 Hier muss man darauf achten, dass Heidegger im seinsgeschichtlichen Denken nicht immer »Wesung« schreibt, sondern auch »Wesen«, meint aber genau die ereignishafte Wesung des Anfänglichen: »Der Grundsatz des anfänglichen Denkens lautet daher gedoppelt: alles Wesen ist Wesung. Alle Wesung bestimmt sich aus dem Wesentlichen im Sinne des Ursprünglich-Einzigen« (BPh, 66). 167 Siehe auch: A, 110. 164 165
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Wesung. Heißt das, dass das Ereignis ein Prozess, eine Bewegung, eine Veränderung u. Ä. ist? Nein, insofern auch ein Prozess etwas Andauerndes, Für-sich-Seiendes, Bestimmtes und Vor-stellbares ist. Dies alles ist das Ereignishafte nicht. Es ist stattdessen nicht beständig, augenblicklich, nur dieser Augenblick und, wie uns das oben angeführte Zitat sagt, etwas Erfahrbares. Die Wesung und somit das Ereignis ist kein beständiger, gegenüber uns stehender und in ihrem Wesen erkennbarer Gegenstand, sondern etwas Erfahrbares. Damit wird zuerst noch nicht viel gesagt, weil wir noch nicht wissen, was hier »einfahren«, »Erfahrung«, »in ihr stehen« und »ausstehen« in einem Dieses heißen. Trotzdem ist uns damit ein weiterer Hinweis gegeben, was das Sein und somit auch das Ereignis ist: Das Ereignis ist ein erfahrbares Dieses. Um dieser »Seinsweise« des Ereignisses ein wenig näher zu kommen, können wir uns vielleicht ein Beispiel erlauben. Der Schmerz oder auch das Todesverständnis sind keine Seienden. Und sie werden grundsätzlich als Diese hier und jetzt erfahren. Der Schmerz besteht im Schmerzen, das ich jetzt erfahre, und ist nicht mir gegenüber als etwas von mir Separates und Gegenständliches, von dem ich das Wesen kennen kann. Aus diesem Grund wäre es vielleicht nicht ganz falsch, von der Wesung und somit dem Ereignis des Schmerzes zu sprechen, nämlich in dem Sinne, dass der Schmerz nicht ist, sondern schmerzt. Allerdings muss man bei diesem Vergleich von der Wesung des Seins und der Wesung des Schmerzes beachten, dass Heidegger das Ereignis von jedem Erlebnis abgrenzt. 168 Und diese Abgrenzung ist äußerst wichtig für sein Verständnis des Ereignisses. Eher müssten wir sagen: Das Ereignis ist ein Dieses, in dem man steht.
168 Bekanntlich spricht der junge Heidegger in der KNS-Vorlesung 1919 über die Erlebnisse als Ereignisse: »Die Erlebnisse sind Er-eignisse, insofern sie aus dem Eigenen leben und Leben nur so lebt.« (KNS, 75) Doch der Kontext, in dem diese Aussage entsteht, und auch der hier verwendete Begriff des Ereignisses, hat mit Heideggers späterer Ereignisphilosophie nichts zu tun. In der KNS-Vorlesung wird das Wort »Ereignis« gebraucht, um den Gegenstand der »Urwissenschaft« zu bestimmen. Das, was die Urwissenschaft untersucht, sind nämlich nicht psychische »Vorgänge«, die als Objekte dem unbeteiligten Untersuchenden gegenüberstehen, sondern »Ereignisse« als thematisierte Erlebnisse, die man nicht als Objekte beschreibt, sondern auch weiterhin lebt: »Das »Er-leben geht nicht vor mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle, als Objekt, sondern ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich seinem Wesen nach. Und verstehe ich es darauf hinblickend so, dann verstehe ich es nicht als Vorgang, als Sache, Objekt, sondern als ein ganz Neuartiges, ein Ereignis.« (KNS, 75)
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Das Ereignis ist aber in Heideggers Philosophie nicht nur ein Charakteristikum des Seins, das das Sein gegen das Seiende abzugrenzen ermöglicht. Das Ereignis ist nicht nur das Sein, insofern es west, sondern als Nichts-Beständiges und deswegen Augenblickliches immer auch der Anfang, der Einbruch des Seins: »Das Sein beginnt und endet nicht, es besteht auch nicht ›fortwährend‹ in der Dauer des Seienden. Das Sein fängt an und dies wesenhaft: Es ist der eignende Anfang.« (E, 147) »Der Anfang ist das Seyn selbst als Ereignis, die verborgene Herrschaft des Ursprungs der Wahrheit des Seienden als solchen. Und das Seyn ist als das Ereignis der Anfang.« (BPh, 58) 169
Während in den früheren seinsgeschichtlichen Abhandlungen das Ereignis die Wesung des Seins bedeutet, die auch anfänglich ist, unterscheidet die spätere Ereignisphilosophie Heideggers die Wesung (das Ereignis) des Seins und den Anfang als Ereignis. Das Ereignis des Seins spaltet sich in Sein, das grundsätzlich als die Wahrheit geschieht, und Ereignis als Anfang. 170 In einem späteren Vortrag – Zeit und Sein (1962) – ist diese Verschiebung besonders deutlich zu sehen: das Geben (der Anfang) wird von der Gabe (des Seins) unterschieden: »Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im »Es gibt Sein«, »Es gibt Zeit«, als das Ereignis.« (ZS, 24) 171
Das Ereignis als Anfang gibt das Sein als eine Gabe. Doch wie sollte dieses anfängliche »Es«, das gibt, verstanden werden? Als ein »Geber« im weitesten Sinne des Wortes, zum Beispiel als eine Ursache, als eine Bedingung der Möglichkeit? Und wie sollten wir das Geben denken? Als eine Verursachung, einen Vorgang? Weder noch. Wenn wir einen Geber und einen Vorgang denken würden, würden wir
169 Das Ereignis der Wahrheit des Seins als Anfang: Beiträge, 17; Besinnung, 192, 313, 349, 405; A, 9, 11, 30, 54, 15, 16, Ereignis, 9, 14, 15, 16, 17, 18 f, 46, 56, 59, 67, 68, 69. 170 Es muss schon gefragt werden, warum die Wesung als Ereignis auch der Anfang ist, wobei der Anfang des Ereignisses als etwas anderes als die Wesung gedacht werden muss, obwohl er doch gleichzeitig unzertrennlich zum Ereignis gehört, sodass man sagen kann, dass der Anfang das Ereignis ist. Heidegger gibt keine Erklärung dafür. Er schreibt sogar: »Befremdlich muß es langehin sein, daß Ereignis und Anfang innig dasselbe ›sind‹.« (E, 227). Zur Selbigkeit vom Ereignis und Anfang siehe auch: A, 10 f, E: 147, 150. 171 Zum Ereignis, das gibt, siehe auch: S, 365. 1957 sagt Heidegger »Reichen« (FV, 168).
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
immer ein »Etwas« setzen, wir würden ein Seiendes, das ist, ein Wesen denken, doch: »Indes: Das Ereignis ist weder, noch gibt es das Ereignis.« (ZS, 29)
Wir können also dem Ereignis nicht als einem Seienden begegnen und es uns vorstellen. 172 Hier wird aber noch mehr gesagt: Wir können es auch nicht erfahren, so wie wir das Sein erfahren und verstehen können – das Ereignis »gibt es nicht«. Das Sein ist nicht, weil nur das Seiende ist, was das Sein nicht ist, doch es gibt es. 173 Aber das Ereignis gibt es nicht. Das Sein ist nicht, doch es west, aber das Ereignis west nicht: »Das Ereignis »ist« aber selbst nicht mehr in der Weise eines sonstwie noch wesenden Seins.« (A, 83) Wie »ist« der Anfang, wenn er nicht ist und nicht west? Vorausgreifend können wir sagen: Er ist Untergang. Das Fundamentalste des Anfangs ist, dass er nur anfängt. Er bleibt nicht. Er vergeht: »Der Anfang muß Untergang sein.« (A, 84)
Wenn der Anfang bleiben würde, wäre er kein Anfang. Wenn man den Anfang, nur ein kleines bisschen von ihm, behalten könnte, wenn man ihn nur ein wenig andauern lassen könnte, wäre das kein Anfang mehr, sondern ein Seiendes. Er »ist« aber nur, insofern er »sich immer entziehend« (BPh, 57) »ist«. Das Ereignis ist nicht, ist nichts, west nicht, sondern ereignet sich nur, indem es anfängt und gleich untergeht. Aber trotzdem – und dies ist wieder ein entscheidender Moment – fängt der Anfang an, er fängt etwas an. Wir stellen also fest, dass das Ereignis für Heidegger ein Zweifaches bedeutet: die Wesung als die Seinsweise des Nicht-Seienden und den Anfang als Untergang. Wir können auch noch genauer sagen, dass die erste Bedeutung das Wort »Ereignis« in den früheren seinsgeschichtlichen Abhandlungen hat und die zweite in den späteren. Doch weiter: Das gerade Gesagte betrifft das Wort »Ereignis« und seinen Gebrauch. Und es ist nichts Ungewöhnliches, dass man ein Wort benutzt, um zwei Sachen zu bezeichnen. Die Situation dieses Mal ist aber anders, wenn nicht umgekehrt. Eigentlich geht es um das Selbe (das Ereignis), das mit zwei Worten – nämlich Wesung und Anfang – bezeichnet wird. Das Wort »Ereignis« ist zweideutig, aber 172 Siehe auch: »Freilich darf das Ereignis nie unmittelbar gegenständlich vorgestellt werden.« (BPh, 263) 173 »Wir sagen nicht: Sein ist, Zeit ist, sondern: Es gibt Sein und es gibt Zeit.« (ZS, 9)
166 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
wir wollen hier nicht den Gebrauch dieses Wortes untersuchen, sondern das Ereignis selbst. Und dann müssen wir feststellen, dass es von Anfang an das ist, was zuerst als die Wesung und dann als Anfang der Wesung beschrieben wird, aber doch immer dasselbe bleibt, was durch diese beiden Aspekte beschrieben werden kann. Kurz gesagt: Das Ereignis ist beides – die Wesung und der Anfang der Wesung. Deswegen kann man auch sagen, dass die Wesung der Anfang ist und umgekehrt. Das Wort »Ereignis« ist zweideutig, aber es bezeichnet nicht zwei unterschiedliche Sachen, sondern das, was an sich zweideutig ist. Wir sagen »zweideutig« und nicht »zweifaltig«, weil dieses Eins nicht aus zwei Aspekten besteht, sondern man kann nur im Denken, im Sprechen, im Deuten zwei Aspekte in ihm unterscheiden. Diese zwei unterschiedenen Aspekte – die Wesung und der Anfang – sind aber im Ereignis dasselbe. Sie bedeuten nicht dasselbe (die Sprache über das Ereignis ist immer »zweideutig«), sie sind im Ereignis dasselbe. Das Ereignis, der Anfang, ist das Ereignis der Wesung: »Hier ist nicht Beginn von etwas innerhalb einer und für eine Folgeordnung von etwas. / Anfang ist nicht die Art eines Anhebens von etwas, was es eigentlich gilt. / Der Anfang selbst ist das wesende Sein – Dieses ist Anfang.« (A, 109) 174
Im Anfang, im Ereignis als Anfang, gibt es nicht den Anfang und auch noch das, was anfängt. Dann hätten wir ein typisches metaphysisches Schema, wo etwas ein anderes etwas verursacht oder anderes ermöglicht:
174 Wir bitten um die Beachtung dieser grundsätzlichen Struktur des Ereignisses. Sie findet man nämlich nicht nur bei Heidegger, sondern auch zum Beispiel bei Levinas (bei ihm ereignet sich das immer schon entzogene Unendliche als seine Spur im Antlitz des Anderen) und Marion (bei ihm ereignet sich die begrifflich uneinholbare Gegebenheit als das Gegebene hier und jetzt). Das Ereignis ist zweidimensional. Darauf weist auch zum Beispiel Claver Boundja hin, wenn er über das Ereignis bei Levinas spricht, obwohl er, wie es aussieht, nicht die enorme Bedeutung dieser Aussage für eine Philosophie des Ereignisses richtig einschätzt. Er schreibt also in Bezug auf den Ursprung, den er als Ereignis versteht: »Mais l’origine est le lieu où procède quelque chose. On peut donc distinguer deux dimensions dans l’origine: le pur jaillissement distinct de toute cause (événement) et le quelque chose qui procède de l’origine.« (Boundja, 109) Achten wir auf seinen Sprachgebrauch: Er sagt nicht, dass es zwei Sachen – den Ursprung und das, was entspringt – gibt, sondern dass diese zwei »Sachen« im Ursprung sind.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Und der Anfang ist nicht Anfang von etwas Anderem, als er selbst ist; der Anfang ist auch nicht der Anfang seiner selbst, als wäre da an ein Herstellen und Verursachen gedacht.« (A, 18) »Denn überall regt sich die Frage: ›Was‹ fängt da an? ›Was‹ ereignet sich? / Gibt es denn einen ›Anfang‹, ein Ereignis, da ›nichts‹ anfängt und nichts sich ereignet? / Diese scheinbar berechtigten Fragen gleiten unversehens in die Metaphysik zurück; genauer gesagt: sie kommen noch aus ihr her.« (A, 17)
Doch diese innere Logik der Zweideutigkeit impliziert noch einen Aspekt. Die Frage Heideggers ist die Frage nach dem Sein. Er kommt zum Gedanken, dass das Sein als Ereignis zu beschreiben wäre: als Wesung und Anfang. Der Anfang ist der der Wesung. Sie sind ereignishaft dasselbe, doch begrifflich lassen sie sich gegenseitig erklären (genau deswegen, weil sie im Ereignis dasselbe sind), sodass die Wesung etwas über den Anfang sagt und der Anfang über die Wesung aufklärt. Wenn die Wesung ein Geschehnis ist (als Ereignis also und nicht als irgendein seiendhafter Prozess, ein Seiendes), dann ist auch der Anfang eine Wesung, etwas, was geschieht: Der Anfang fängt an, er ist, mit Heideggers Worten, »Anfängnis des Anfangs«: »Die Anfängnis bestimmt und ›ist‹ die Wesung des Anfangs.« (A, 13) 175
Der Anfang erstarrt nicht zu einem Wesen. Und wenn die Wesung ein Dieses ist, so ist auch der Anfang ein Dieses: »das wesende Sein – Dieses ist Anfang«. Wenn aber der Anfang Anfang und Untergang ist, so ist auch die Wesung – anfänglich und untergänglich. In welchem Sinne ist die Wesung anfänglich? Wenn man die Wesung als Wesung der Wahrheit versteht, dann in dem Sinne, dass sie ein Seiendes ins Sein hervortreten lässt – das Seiende fängt an zu sein. Wenn wir vom konkreten Ereignis der Wahrheit abstrahieren, können wir sagen, dass jedes Ereignis etwas, was noch nicht war, hervortreten lässt (wir werden zu diesem Thema noch zurückkehren, wenn wir das Verhältnis von Ereignis und Geschichte behandeln werden). Und die Wesung ist untergänglich, weil sie hinter dem verschwindet, was sie hervortreten lässt (diesen Aspekt der Logik des Ereignisses werden wir unter dem Stichwort »Verweigerung« behandeln).
175
Die Anfängnis des Anfangs. Siehe zum Beispiel: A, 16, 37; E, 147.
168 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
3.
Das Ereignis als Austrag
Das Ereignis ist also die Wesung eines Dieses, auf die wir uns nicht, sie vorstellend, beziehen. Das heißt: Diese Wesung als Ereignis ist nicht ein Wesen, das man als etwas Beständiges – in der Welt oder im Denken – jederzeit finden bzw. vergegenwärtigen und immer wieder finden und vergegenwärtigen kann. Der Bezug zur Wesung, also zum Ereignis, ist anders, wenn überhaupt von einem Bezug die Rede sein kann. Aber wie ereignet sich das Ereignis mit dem Betroffenen, wie verhält sich der Betroffene zum Ereignis? Wir haben Heidegger zitiert und schon kurz darauf hingewiesen, dass das Ereignis für Heidegger »erfahrbar« ist. Doch wie ist das zu verstehen? Und darf man überhaupt eine These mit nur einem Zitat begründen? In der Tat nicht. Doch, wie schon erwähnt, war dies nur ein Hinweis auf den weiteren Gedankengang Heideggers. Das Ereignis wird also nicht gegenständlich erfahren und vorgestellt oder allgemein gedacht, wobei auch die Allgemeinheiten eigentlich Denkgegenstände sind. Es wird stattdessen »ausgetragen« 176, »erfahren« 177, »ausgestanden« 178, »ertragen« 179, »ausgehalten« 180, »erharrt« 181, »erlitten« 182 – bis zum Schmerz 183. Mehr noch: Das Ereignis ist nicht etwas, was dann ausgetragen, erfahren etc. wird, sondern es ist dieser Austrag, diese Erfahrung: »Seyn ist Er-eignis, austragsames Ereignis: Aus-trag.« (B, 15)
Heidegger denkt das Sein als Ereignis und das Ereignis als Austrag. Das ist ähnlich, wenn wir zum Beispiel das Brot nicht als ein Objekt, sondern als das Riechen und Schmecken des Brotes denken würden. Dann würden wir nicht sagen: Das Brot ist ein Nahrungsmittel, son176 Das Austragen, der Austrag des Ereignisses: BPh, 30; B, 61, 83, 84, 88, 93, 115Anm.a, 121, 167, 203, 307, 308, 350; E, 28, 49, 79, 132, 169, 233, 247, 255 ff, 330. 177 Das Erfahren, die Erfahrung des Ereignisses: BPh, 27, 37, 248, 309; B, 248; A, 118; E, 10, 28, 29, 30, 42, 49, 78, 92, 105, 122Anm.b, 123, 128, 129, 131, 132, 137, 144, 161, 169, 184, 194, 196, 214, 240, 248, 288. 178 Das Ereignis ausstehen: BPh, 27, 31, 44, 45, 61, 64, 227, 255, 256, 260, 301, 309, 318, 321, 331, 342, 352, 384, 390; B, 50, 121, 136, 210, 217, 238; E, 129, 278, 281. 179 Das Ereignis ertragen: BPh, 31, 298, 329, 331; B, 70; E, 68. 180 Das Ereignis aushalten: BPh, 23, 299, 369; B, 60. 181 Das Ereignis erharren, ausharren: BPh, 31, 370, 384; B, 121, 237, 245; A, 53. 182 Das Ereignis erleiden: BPh, 260; B, 64; E, 123. 183 Der Schmerz in der Erfahrung des Ereignisses: E, 49, 68, 78, 105, 129, 137, 144, 169, 181, 184, 190, 194, 210, 211, 218 ff, 233 ff, 242, 248, 250, 275, 276.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
dern: Das Brot ist das Schmecken des Brotes. Und: Das Brot ist nicht das Schmecken des Brotes (als ob es hier zwei Sachen gäbe, nämlich das Brot und das Schmecken) und nicht das Schmecken überhaupt, sondern dieses Schmecken hier und jetzt. Dieser Vergleich hat natürlich den Nachteil, dass das Sein nicht mit einem Objekt, das erlebt wird, gleichzusetzen ist, trotzdem kann dieses Beispiel ein wenig die Richtung, in die Heidegger denkt, aufklären – zuerst schon in dem Sinne, dass das Sein außerhalb des gegenständlichen Denkens verortet wird. Dass das Ereignis der Austrag, nämlich eine konkrete Erfahrung vom hier und jetzt, ist, richtet sich vor allem gegen zwei falsche Deutungen des Ereignisses – gegen die Deutung, dass das Ereignis ein Denken des Ereignisses als eines Objektes ist, und gegen die Gleichsetzung des Ereignisses mit dem Erlebnis. Versteht man also das Sein nicht seiendhaft, sondern als Austrag, muss noch klar gemacht werden, dass der Austrag weder ein Denkprozess ist, in dem das Sein als ein Denkobjekt gesetzt wird, noch ein innerliches Erlebnis.
3.1. Das Ereignis ist kein Denken »Wenn der Unterschied des Seins und des Seienden von der vorstellungsmäßig verstandenen ›Unterscheidung‹ her als deren Gegenstand genommen und wenn ›das Seiende‹ als das Wirkliche und dieses als das sinnlich Wahrgenommene verstanden wird, dann erscheint das Sein sogleich als das Unwirkliche, und dieses wird, da es nicht völlig ein Nichts ist, als ens rationis dem ›bloßen‹ Denken und Vorstellen als ›Gegenstand‹ zugewiesen; das Sein ist so ein bloßer ›Gedanke‹ oder nur ein ›Begriff‹, der Begriff des Unwirklichen. Und man versteht dann auch nicht recht, was dieses Unwirkliche noch ›im Unterschied‹ zum Wirklichen soll; man überläßt es ›der Philosophie‹. / Wenn man von diesem geläufigen Meinen aus das Seinsverständnis ›erklärt‹, dann ist das Sein der Gegenstand des Verstandes; es ist bloß im ›Verstand‹ – gedacht; und da ja ›das Denken‹ als die Tätigkeit des ›Subjekts‹ gilt, das von den Objekten und dem Objektiven unterschieden bleibt, ist das Sein etwas nur ›Subjektives‹.« (E, 126 f)
Schon in Sein und Zeit versucht Heidegger, das Seinsdenken vom setzenden, vorstellenden, auf die Wahrheit als Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand und als Richtigkeit des Schließens gerichteten Denken abzugrenzen. Eine solche Abgrenzung ist notwendig, da das Sein als nicht-gegenständliches in einem vorstellen170 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
den Denken nicht gedacht werden kann. Sein ist doch kein Seiendes! Doch achten wir auf das gerade angeführte Zitat: Es geht nicht bloß um den Unterschied zwischen dem Sein und dem Seienden und auch nicht bloß darum, dass ein Denken (nämlich das setzende) etwas (nämlich das Sein) nicht denken könnte, sondern um die Verortung des Seins und damit gewissermaßen auch um die Verortung des Denkens des Seins. Was wird hier gesagt? Es wird indirekt gesagt, dass das Sein nicht »bloß im Verstand ist«. 184 So wie wir dem Schmerz nicht näher kommen können, indem wir uns den Schmerz nur vorstellen, indem wir den Begriff vom Schmerz analysieren oder den Schmerz wissenschaftlich erforschen, so können wir nicht »wissen«, was das Sein ist, wenn wir es bloß im Denken setzen und etwas darüber aussagen. Das Sein ist Ereignis und Ereignis ist Austrag, Ausstehen, Erfahrung und nicht das Denken und Aussagen über etwas: »Die Grunderfahrung ist nicht die Aussage, der Satz, und demzufolge der Grundsatz, sei es ›mathematisch‹ oder ›dialektisch‹, sondern das Ansichhalten der Verhaltenheit gegen das zögernde Sichversagen in der Wahrheit (Lichtung der Verbergung) der Not, der die Notwendigkeit der Entscheidung entspringt […].« (BPh, 80)
Dass in Bezug auf das Ereignis des Seins als Austrag das Wort »Denken« verwendet wird, darf nicht zur Missdeutung führen, dass sich das Ereignis des Seins in unserem Denken ereignen würde, wenn wir das Sein setzen würden. Der Austrag ist Denken, aber Denken ist Erfahren: »Der Austrag ist Denken.« (E, 237)
Aber: »Das denkerische Denken ist Er-fahrung und zwar er-eignete Erfahrung des Ereignisses.« (E, 255)
Und: »Diese Er-fahrung ist das Wesen des seynsgeschichtlichen Denkens, das selbst wieder die Erfahrenheit gründet, in der das seynsgeschichtliche Wesen des Menschen das Un-heimische bewahrt, das die Ortschaft des Abgrundes ist für den Menschen.« (E, 235) 185 184 »Das Er-denken des Seyns ist niemals ein ›Erzeugen‹ des Seins, so daß dieses gar nur zu einer Gedachtheit würde.« (B, 131) 185 Zum Zusammenhang von Austrag, Denken und Erfahrung siehe auch: E, 211, 236, 255 f.
171 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Der Austrag wird aber nicht als der Austrag überhaupt verstanden, als ob wir einen Begriff vom Austrag hätten und dann durch diesen Begriff das Ereignis definieren würden. Wenn man im Ereignisdenken so vorgehen würde, würde man nie das vorstellende und begriffliche Denken verlassen. Deswegen geht Heidegger anders vor. Wenn das Ereignis Austrag ist, fragen wir natürlich, was der Austrag oder die Erfahrung oder das Ausstehen ist? Heideggers Antwort lautet aber, dass der Austrag das Ereignis ist: »Der Austrag ist Er-eignis.« (B, 84)
Wenn wir das Ereignis als Austrag definieren und den Austrag als Ereignis, befinden wir uns natürlich in einem Kreis. Und dies ist nicht der einzige Kreis, den wir im Ereignisdenken Heideggers finden. Das Sein ist Ereignis und das Ereignis ist das Sein. Die Wesung ist der Anfang und der Anfang ist die Wesung. Zeigt dieses »Kreisen« eine Verwirrtheit des Denkens, oder gehört es zur Logik des Ereignisdenkens? Vielleicht wird dadurch ein Hinweis gegeben, dass es gar nicht so wichtig ist, aus diesem Kreis herauszukommen, weil das, was wir suchen, nämlich das Ereignis, sich hier – in den Definitionen, in den Bestimmungen von etwas als etwas – gar nicht befindet. Das Ereignis ist kein Wesen, das Ereignis ereignet sich. Wir können das Brot denken und definieren und Zitate über das Brot sammeln und ein Buch darüber schreiben, doch das Brot ereignet sich außerhalb solcher Unternehmen: Es ist im Riechen, Anfassen und Schmecken. Im Denken gibt es aber nur Wesen, Definitionen und Kreise. Denkend und sprechend kann man nur höchstens das Brot anzeigen, indem man auszudrücken versucht, wie das Brot schmeckt, wie das Brot ertragen wird. Daraus folgt: Will das Denken das Ereignis nur annähernd begreifen, kann es nicht eine Definition des Ereignisses geben – es muss das Ereignis als eine konkrete Erfahrung, einen konkreten Austrag beschreiben. Mit anderen Worten: Es gibt kein allgemeines Ereignis. Dann wäre es ein Wesen und keine Wesung. Das Ereignis ist immer ein konkretes Ereignis. Deswegen gibt das Denken des Ereignisses keine Definition des Ereignisses, sondern beschreibt immer konkrete Ereignisse. Und deswegen ist die einzige »Definition« des Austrages, die wir bei Heidegger finden, der Ausdruck einer konkreten Erfahrung, die oft, aber nicht immer, als die Erfahrung des Abgrundes verstanden wird:
172 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
»Der Austrag ist der Schmerz (Schrecken und Wonne) der Erfahrung, die ausständig in die Anfängnis (Gewesenes – Kommendes) inständet im Abgrund.« (E, 246)
Damit ist gesagt: Ereignis ist Austrag, Erfahrung, doch der Austrag, die Erfahrung ist Dieses, »was« ausgetragen, erfahren wird. Das Sein ist kein Wesen, sondern Ereignis. Ereignis ist Austrag, aber Austrag ist Austrag des Seins (als der Anfängnis, des Abgrundes etc.). Das Ereignisdenken »definiert« alle »Begriffe« durch das Konkrete. Das Denken des Ereignisses fordert, zu einer Singularität, Einzigkeit zu kommen. 186 Wir können einen Schritt ins Ereignisdenken Heideggers gehen, um zu sehen, wie eine solche Weise des Philosophierens verläuft. Das Ereignis ist also Austrag. Was ist Austrag? Es gibt keine allgemeine Definition vom Austrag. Wenn man eine solche geben würde, würde man das Ereignis verlassen und es als ein Denkobjekt setzen. Stattdessen lautet eine von vielen Antworten: Austrag ist Austrag des Abgrundes: »Er-eignis ist Austrag. / Der Aus-trag trägt den Ab-grund.« (B, 307) 187
186 Es ist äußerst interessant, dass Derrida in seinem Levinas gewidmeten Aufsatz Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Levinas (1964) genau so vorzugehen vorschlägt. Derrida versteht, dass Levinas in dem Denken des Anderen das ontologische (also setzende und vorstellende) Denken aufgeben will. Doch wie kann man denken, ohne zu setzen, ohne zu definieren etc.? Die einzige Möglichkeit, sich der Ontologie einigermaßen zu entziehen, ist, in der Ontologie die Beziehung von der Ontologie und dessen, was sich ihr entzieht, zu thematisieren und zu beschreiben: »Gesetzt, man will durch den philosophischen Diskurs hindurch, dem man sich unmöglich ganz entreißen kann, einen Durchbruch zu seinem Jenseits versuchen, so hat man nur dann eine Aussicht, in der Sprache (Levinas gibt zu, daß es kein Denken vor der Sprache und außer ihr gibt) dahin zu kommen, wenn man das Problem der Beziehung zwischen der Zugehörigkeit und dem Durchbruch, das heißt das Problem der Geschlossenheit, formal und thematisch stellt.« (SD, 169/EdD, 163) Die Thematisierung der Differenz zwischen dem Denken und Jenseits des Denkens verläuft aber nicht als die Setzung des Jenseits (also logisch), sondern als die Beschreibung, Schilderung (»Graphik«) dessen, was die Begriffe nicht einholen können: »Formal, das heißt so wirklich und formal, so formalisiert wie nur möglich: nicht aber in einer Logik, in anderen Worten in einer Philosophie, sondern in einer eingeschriebenen Deskription, in einer Einschreibung der Verhältnisse des Philosophischen und des Nicht-Philosophischen, in einer Art unerhörter Graphik, in der die philosophische Begrifflichkeit nur noch eine Funktion erfüllt.« (ebd.) Dies ist eigentlich genau das, was Levinas teilweise schon in Totalité et infini und ausdrücklich in Autrement qu’être auch macht – er beschreibt die Begegnung mit dem Anderen in ihrer Einzigkeit und verweist unermüdlich darauf, dass sie undenkbar ist. 187 Das Ereignis und der Abgrund: BPh, 13, 29, 185, 269, 278, 379; B, 52, 58, 63, 64,
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Dieser Abgrund, der im Ereignis des Seins ertragen und ausgetragen werden muss, ist der Abgrund gegenüber dem Grund, der im Gegensatz zum Abgrund ein Seiendes ist – ein besonderes Seiendes, da es das Seiende erklärt. Dieser Grund ist der Gegenstand des metaphysischen Denkens. 188 So definiert dieses Denken ein Etwas als Etwas und gibt so eine begriffliche Form durch einen Grundbegriff. Oder es erklärt Etwas durch Etwas und liefert so diesem Etwas eine Ursache, es gibt die Antwort auf die Warum- und Wozu-Frage. Das vorstellende Denken, zum Beispiel in den Naturwissenschaften oder in der Metaphysik, denkt den Grund bzw. die Gründe und diese Gründe – materielle (als physische Ursachen zum Beispiel) oder nur denkbare (als Begriffe und Ideen zum Beispiel) – sind auch immer ein Etwas, etwas Bestimmtes, das man fassen und definieren kann. Dieses Wissen und die Erklärungen des gegenüberstehenden Seienden durch die ebenso gegenüberstehenden Gründe bringen Sicherheit und Halt ins menschliche Leben. Der Grund als ein Seiendes, aber auch das Seiende überhaupt, ist etwas, an dem man festhalten kann. Und dieses Festhalten geschieht durch das vorstellende Denken, d. h. durch die Einstellung, die Gegenstände konstituiert, um an sie festhalten zu können. Im Abgrund gibt es aber keine Gründe: »Der Ab-grund ist das Weg-bleiben des Grundes.« (BPh, 379)
Im Abgrund gibt es keine Antworten, Definitionen, Erklärungen 189. Wer sich hier befindet, muss den »Schrecken des Abgrundes« 190, das »Unheimische« 191 die »Stützenlosigkeit und Schutzlosigkeit« 192, »Unruhe« 193, »Anhalts- und Zufluchtslosigkeit« 194 und nie auflösbare
65, 66, 83, 84, 87, 88, 101, 229, 237, 270, 395; ÜM: 62; A, 11, 13; E, 49, 68, 124, 169, 237, 244. 188 »In der Metaphysik wurde das Seiende durch einen Grund (Ursache – Bedingung für das erklärende Vorstellen) bestimmt.« (B, 275) Siehe auch: B, 343, 388. 189 Mit anderen Worten: Das Ereignisdenken als Austrag des Abgrundes ist keine »Lehre« oder »Weltanschauung«, kein »Erklären«, »System« oder »Glaube«: B, 23, 50, 52, 77, 144. 190 Das Schrecken des Abgrundes: E, 170, 181, 211, 234, 235. 191 Das Unheimische des Abgrundes: E, 244, 280. 192 Die Stützenlosigkeit und Schutzlosigkeit im Austrag des Abgrundes: BPh, 300, 328, B, 60; E, 68. 193 Die Unruhe: BPh, 314, 400, B, 61, 274. 194 Die Anhaltslosigkeit und Zufluchtslosigkeit: B, 129, 131, 350; E, 68.
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Fragwürdigkeit 195 ertragen. Diesen Abgrund denkt man nicht, sondern erfährt ihn, weil es nichts gibt, was man denken könnte. In den Abgrund fällt man nicht, wenn man die Definition vom Abgrund kennt, sondern wenn man alle Definitionen aufgibt. Und wir sehen, dass der Austrag bei Heidegger nicht allgemein definiert, sondern durch die Einführung in das konkrete Austragen aufgezeigt wird. Doch es wäre falsch, das Ereignis mit der Erfahrung, die, nicht zu leugnen, zum Ereignis gehört – da das Ereignis grundsätzlich die Betroffenheit ist – mit dem Ereignis gleichzusetzen. Das, was sich ereignet, ist nicht bloß ein Austragen. Ohne den Austrag kommt man nicht ins Ereignis, aber es ist nicht das ganze Ereignis. Das Brot brotet im Schmecken, aber es ist nicht ganz so, dass das Brot nur dieses Schmecken ist. Das Brot bleibt immer noch auch das Brot. Wir werden diesen wesentlichen Aspekt des Ereignisses noch in den späteren Abschnitten behandeln. Hier wollen wir nur kurz durch das Konzept des Abgrundes, so wie Heidegger es entwickelt, zeigen, dass das Ereignis nicht nur eine Erfahrung ist, sondern auch ein Geschehnis. Nichts Seiendes und trotzdem Geschehnis. Etwas ereignet sich im Ereignis. Etwas geschieht da. Doch was geschieht im Ereignis? Im Austrag des Abgrundes west die Wahrheit: »Der Ab-grund ist aber auch zuvor das ursprüngliche Wesen des Grundes, seines Gründens, des Wesens der Wahrheit.« (BPh, 379)
Der Abgrund ist das Wesen des Wesens der Wahrheit. In welchem Sinne? Wenn man das Seiende verlässt, wenn man das Ausbleiben des Grundes austrägt, eröffnet sich ein Offenes: »Im Sichversagen bringt der Grund in einer ausgezeichneten Weise in das Offene […].« (BPh, 379 f)
Dieses Offene, die Lichtung, ist der Ort, wo die Wahrheit des Seins west. Die Wahrheit des Seins ist aber das Kommen des Seienden (das allerdings vorher noch nicht »ist«) in die Lichtung, wo es seiend wird. Das Ereignis ist das »Kommen in die Lichtung«, »Aufgehen«: »Wie aber kommt dann das Seiende zu diesem Namen des Seins (d. h. der Seiendheit)? / Weil es (was ›ist‹ es denn?) in den Umkreis der Lichtung des
195 Der Austrag von Fragwürdigkeit, Geheimnis, Rätsel: BPh, 78, 278, 347, 362; B, 77, 78, 219, 229, 269, 275, 358, 359, 361; E, 121, 132, 209, 237, 244, 249.
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Seyns kommt, die Lichtung aber nur als das Offene der Er-eignung west. / Dieses ›Kommen‹ in die Lichtung geschieht mit dem Er-eignis.« (B, 202) 196
Dieses Kommen und Aufgehen ist natürlich kein beobachtbarer Prozess, aber nur im Sinne, dass man darauf nicht zeigen kann und dass man es nicht jemandem anderen zeigen kann. Trotzdem wäre es nicht ganz falsch zu sagen, dass man es sehen kann – man kann es den Abgrund austragend sehen. Heidegger sagt auch, dass im Ereignis der Unterschied geschieht, in dem die Unterscheidung möglich wird: »Die Unterscheidung west im Unterschied. / Der Unterschied ist die Wesung des Seyns.« (A, 100)
Welcher Unterschied? Welche Unterscheidung? Es geht um die Unterscheidung, Differenzierung von Sein, das zur Seiendheit in der Metaphysik wird, und Seienden. Diese Unterscheidung geschieht im Unterschied als Ereignis, als Ereignis des vor der Differenzierung von Sein als Seiendheit und Seienden ursprünglicheren Seins. Der Unterschied heißt, dass das Ereignis des Seins das Seiende sein lässt, indem es sich vom Seienden unterscheidet, verabschiedet, entzieht: »Die Unterscheidung als Wesung des Seyns selbst, das sich unterscheidet und so das Seiende aufkommen läßt im Aufgang. Die Unterscheidung ist anfänglich der Unterschied.« (E, 127) 197
Der Unterschied im Gegensatz zur Unterscheidung ist aber nicht eine Operation des Denkens, sondern das Ereignis des Seins des Seienden. Mehr noch: Das Denken könnte keinen Gegenstand setzen, wenn mit dem Seienden die Wahrheit des Seins sich nicht ereignen würde: »Das Seiende ist nur möglicher Gegen-stand und Objekt (ἀντί) gegenüber, weil es im Offenen des Seins west. Gerade wo ein »Gegenüber« ist, da west Ursprünglicheres, die Lichtung des Inzwischen.« (E, 17) 198
Das Ereignis der Wahrheit des Seins kann man sich schon deswegen nicht als einen Prozess vorstellen, weil es sich vor jeder Setzung und jedem Vorstellen ereignet. Ist man auf ein Seiendes gerichtet, hat man schon das Ereignis verlassen. Es ist der Anfang der Möglichkeit Das Ereignis des Seins als das Aufgehen des Seienden: BPh, 258, 260; A, 119. Das Ereignis des Unterschiedes: A, 68, 71, 72 f, 76; E, 122 ff, 127 ff, 132, 147, 195, 247. 198 Die Gegenständlichkeit setzt das Ereignis des Seins voraus: Siehe auch: BPh, 197, 255, 264, 339, 344, 345, 360; B, 199, 235 f, 314; E, 175. 196 197
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der Setzung. Da es sich vor und mit dem Seienden als seine Ermöglichung ereignet, spricht Heidegger manchmal vom Ereignis des Seins als dem »Grund« oder, noch genauer, als dem »Grund des Grundes« 199 in dem Sinne, dass das Sein die Ermöglichung des metaphysischen Denkens ist, das wesentlich der Grund (als Seiendes) denkt: »Aber die Metaphysik wäre nicht die Metaphysik, d. h. die Wahrheit des Seienden als solchen, wenn sie nicht aus dem Seyn weste, da ja auch die Seiendheit noch vom Wesen des Seyns bleibt. Und deshalb sind in der Metaphysik, wenn wir einmal erfahrener geworden, überall doch Anklänge des Anfangs.« (E, 104) 200
Weil aber dieser Grund des Grundes kein Seiendes ist, ist er Abgrund – das Sein ist der »ab-gründige Grund« (B, 84) 201. Damit schließt sich wieder ein Kreis: Das Ereignis des Seins ist der Austrag, Austrag trägt den Abgrund, Abgrund ist das Ereignis des Seins.
Das Sein als Grund: B, 99. Das Sein als Grund des Grundes: B, 267, 274. Ohne die Wesung der Wahrheit gäbe es kein Seiendes und so auch keine Metaphysik: BPh, 145, E, 31. Folglich: Wenn die Metaphysik da ist, west auch das Sein, obwohl unmerklich: A, 160; E, 200. 201 Hier sehen wir, wie Heideggers Denken des Ereignisses mit der Suche nach dem »letzten Grund«, die ihn in seinen ersten philosophischen Bemühungen beschäftigt hat, zusammenhängt. Der letzte Grund ist kein Grund mehr, sondern der Abgrund, der Anfang des Grundes und der Metaphysik über den Grund. Mit diesem Gedanken setzt er sich von der ganzen bisherigen Tradition der Philosophie (und auch seinen eigenen Ansatz in Sein und Zeit zum Beispiel) ab. Denkt die bisherige Philosophie, d. h. die Metaphysik, den Grund des Seienden als ein Seiendes (Seiendheit), so denkt er keine Gründe mehr und damit den »Grund« der Metaphysik. Diese Absetzung von der Tradition ist besonders in der Vorlesung Der Satz vom Grund (gelesen im Wintersemester 1955/56) sichtbar. Am prägnanten Beispiel von Leibniz’ Satz vom zureichenden Grund macht Heidegger klar, wie wesentlich wir immer und über Gründe suchen: »Der Satz vom Grund lautet: Nihil est sine ratione. Man übersetzt: Nichts ist ohne Grund. Was der Satz aussagt, leuchtet ein. Das Einleuchtende verstehen wir, und zwar ohne weiteres. Unser Verstand wird nicht weiter bemüht, um den Satz vom Grund zu verstehen. Woran liegt dies? Daran, daß der menschliche Verstand selbst überall und stets, wo und wann er tätig ist, alsbald nach dem Grund Ausschau hält, aus dem das, was ihm begegnet, so ist, wie es ist.« (SG, 3) Sein Seinsdenken dagegen verlässt die Metaphysik – sie denkt das Sein als Abgrund: »Der Grund bleibt ab vom Sein. Im Sinne solchen Ab-bleibens des Grundes vom Sein ›ist‹ das Sein der AbGrund.« (SG, 76 f) Der Abgrund des Seins wird nicht als Seiendes, sondern als Ereignis gedacht. Es ist natürlich fraglich, ob Heidegger sich damit wirklich vom GrundDenken absetzt, weil er trotz allem denkt, woher alles kommt, wenn auch dieser Anfang kein Seiendes ist. Zum Sein als Abgrund siehe auch: BPh, 268 f; B, 46, 52, 54, 63, 66, 76, 84, 88, 99, 100, 101, 115, 116, 118, 130, 210, 242, 267, 270, 309; E, 48, 125. 199 200
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Das Wichtigste ist hier aber etwas anderes: Wenn wir das Ereignis verstehen wollen, nähern wir uns ihm zuerst dadurch, dass wir es aus dem Denken ausschließen. Jedes Ereignis muss nicht das Ereignis des Seins sein, aber kein Ereignis ist ein Seiendes, dass uns – wirklich oder denkerisch – gegenübersteht. Ein Ereignis ist grundsätzlich ein Ereignis mit uns, etwas, was uns – unser Denken, unsere Existenz – bewegt, was wir austragen. Und trotzdem ist es auch nicht auf den Austrag zu reduzieren. Jedes Ereignis ist nicht das Ereignis der Wahrheit des Seins, aber jedes Ereignis ist ein Geschehnis – sei es Gott, der zu dem Menschen spricht, sei es eine Passantin, die vorübergeht (Charles Baudelaire). Ein Geschehnis allerdings, das nie auf einen beobachtbaren, d. h. wirklichen Prozess zu reduzieren ist. Und es ist nicht auf einen beobachtbaren, d. h. wirklichen Prozess reduzierbar, weil es eine besondere Bedeutung für uns hätte, die subjektiv statt objektiv wäre, sondern weil es das ist, worauf wir nicht intentional gerichtet sein können – weder beobachtend, noch fühlend. Das Ereignis ist das, worin wir sind.
3.2. Das Ereignis ist kein Erlebnis Das Ereignis ist Austrag. Es ist nicht etwas (ein Wesen), dass dann noch zusätzlich ausgetragen wird, sondern der Austrag. Die Sterblichkeit des Menschen oder die Fragwürdigkeit der Welt sind keine bloße Ideen, sondern »etwas«, was nur insofern »ist«, als es tief erfahren, ertragen, ausgestanden, erlitten wird. Es sind Ereignisse. Der Abgrund des Ab-bleibens des Grundes ist keine Sache in der Welt, sondern Austrag dessen. Das Ereignis ereignet sich dann, wenn es ausgetragen wird. Es entzieht sich, wenn man es begrifflich fasst. Doch man könnte jetzt denken, dass das Ereignis so etwas wie ein Erlebnis vom etwas ist: ein Gefühl, ein innerer Zustand, der jemanden ergreifen kann. Doch das ist nicht der Fall. Ein erster Hinweis: »Man beruft sich auf die flachen Wasserlachen der ›Erlebnisse‹, unfähig, das weite Gefüge des denkerischen Raumes auszumessen und in solcher Eröffnung die Tiefe und Höhe des Seyns zu denken.« (BPh, 19) »Deuten wir aber die Stimmung nach unserer Vorstellung vom ›Gefühl‹, dann möchte man hier leicht sagen: das Sein werde statt auf das ›Denken‹ jetzt auf das ›Gefühl‹ bezogen. Aber wie gefühlsmäßig und äußerlich denken wir da über die ›Gefühle‹ als ›Vermögen‹ und ›Erscheinungen‹ einer
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›Seele‹ ; wie fern stehen wir dem Wesen der Stimmung, will sagen: dem Dasein.« (BPh, 256) 202
Das Ereignis besteht also nicht in einem Erlebnis oder einem Gefühl. 203 Doch es wird auch nicht ganz klar, was ein Erlebnis oder ein Gefühl ist. Vermutlich versteht Heidegger darunter einen Seelenzustand, eine innerliche, nicht-gegenständliche Erfahrung, so wie zum Beispiel Wärmeempfindung, Müdigkeit, Schmerz, Lust, Hoffnungslosigkeit etc. Wir sehen, dass Heidegger Abgrenzung von solchen Seelenzuständen sucht und einen Ausweg im Begriff von »Stimmung« 204 findet. Doch was ist »Stimmung« als die rechte Erfahrung des Ereignisses? »Ereignishaft ist die ›Stimmung‹ nicht ein Gefühlszustand des Menschen, sondern das Ereignis des Wortes als sich zueignende Aneignung.« (E, 171) »›Die Stimmung‹ als Wesung des Ereignisses – nicht ›Stimmungen‹ als Zustände.« (E, 217)
Die Stimmung ist also kein subjektives Erlebnis, sondern die »Wesung des Ereignisses«, obwohl sie irgendwie auch zur Innerlichkeit des Menschen gehört. Die Stimmung ist in Heideggers Denken nicht nur etwas, was eine gewisse Verwandtschaft mit Erlebnissen, Gefühlen etc. haben könnte, sondern »Stimmung« heißt auch »das ekstatische Sich-be-finden im Da als der Ortschaft des unheimischen Zeittums des Da-seins«: »Sofern »die Stimmung« in »Sein und Zeit« als »Befindlichkeit« begriffen ist, sagt das, sie muß aus dem Da-sein erfahren werden. »Befindlichkeit« meint hier nicht das psychologisch-zuständliche »Wohl«- und »Schlecht«befinden. »Befinden« sagt hier das ekstatische Sich-be-finden im Da als der
202 Heideggers Kritik gegen Gefühle, Erlebnisse, seelische Zustände: BPh, 21, 33, 495; B, 100, 147, 249, 252 f, 274, 320; A, 72, 109; E, 218 f, 220, 221, 234; ID, 8 f. 203 Auch Romano macht klar, dass das Ereignis, das er von einem beobachtbaren Faktum unterscheidet, kein innerer Zustand ist: »[I]l [événement – L. P.] n’est pas davantage une simple »expérience subjective« relevant de la sphère d’une intériorité psychologique.« (EM, 45) 204 Es kann der Eindruck entstehen, dass die Auseinandersetzung mit dem Konzept von Stimmung bei Heidegger hier zu kurz kommt. Die Stimmung ist schließlich einer der zentralen Begriffe in Heideggers Philosophie schon seit Sein und Zeit. Wir beabsichtigen aber nicht, dieses Konzept eingehend zu behandeln, da es nicht direkt mit der Logik des Ereignisses zu tun hat. Wir benutzen es nur, um auf die Spur der Räumlichkeit des Ereignisses zu kommen.
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Ortschaft des unheimischen Zeit-tums des Da-seins. Zeit als Zeit-tum ist das Wesen der »Zeitlichkeit« des Da-seins.« (E, 218) 205
Das »Sich-befinden-in …« eröffnet eine neue Dimension der Erfahrung des Ereignisses. Ohne diese Dimension ist das Ereignis als erfahrbare Wesung nicht verständlich. Das Ereignis ist kein Denkobjekt, sondern eine Erfahrung. Diese Erfahrung ist kein seelischer Zustand, sondern Stimmung. Die Stimmung ist aber unter anderem ein »Sich-befinden-in …«. Worin? In der Wesung des Ereignisses, das geschieht. In der Tat sehen wir, dass es bei Heidegger konsequent um den »Aufenthalt in …« 206, die »Inständigkeit in …« 207, »Innigkeit in« 208, das »Innestehen« 209, »Stehen in …« 210, »Sichhalten in …« 211, »Innebleiben in …« 212, den »Sprung in …« 213 geht. Und so ist auch die Erfahrung, die uns als die Erfahrung des Ereignisses schon beschäftigt hat, »Einstand«: »Er fahrung / nicht bloße Kenntnisnahme, / sondern Einstand.« (E, 42)
Dieses In-Sein im Ereignis bedeutet allerdings ein Zweifaches, was sich auch in der Mehrdeutigkeit der von Heidegger ausgewählten Wörter zeigt. Es geht darum, dass jemand sich in das Ereignis einbezogen hat, dass er von ihm betroffen ist und sich bleibend zu ihm verhält. Der Betroffene bewahrt durch sich selbst das Ereignis in seinem Geschehen. Das Ereignis ist kein neutrales Denkobjekt, sondern etwas, was mit ihm geschieht. Es ist in diesem Sinne innerlich. Es ist Austrag von Schmerz, Abgrund, Fragwürdigkeit etc. Das Ereignis ist nicht das Denken von Schmerz, Abgrund und Fragwürdigkeit, son205 Schon 1930 schreibt Heidegger: »Die Gestimmtheit (Stimmung) läßt sich jedoch nie als ›Erlebnis‹ und ›Gefühl‹ fassen […]. Eine Gestimmtheit, d. h. eine ek-sistente Ausgesetztheit in das Seiende im Ganzen […].« (VW, 192) 1938/39: »Die Rolle der Stimmung – Gestimmtheit – als (inständliche) Zugewiesenheit in die Wahrheit des Seyns.« (ÜM, 65) Siehe auch: ID, 25. 206 Der Aufenthalt in …, sich aufhalten in … : B, 78; A, 54, 78; Ereignis, 128, 263. 207 Die Inständigkeit in …, inständig in …, inständen: BPh, 158, 230; B, 78, 85, 88, 103, 113, 117, 118, 119, 120, 131, 135, 145, 210, 219, 229, 237, 276, 362; ÜM, 31, 59, 62, 81; GdS, 24, 61, 87; A, 14, 54, 71, 108, 112, 129; E, 4, 43, 55, 57, 78, 86, 102, 108, 183, 184, 195, 196, 197, 206, 234, 254, 310, 318. 208 Die Innigkeit in … : Ereignis, 275. 209 Das Innestehen: BPh, 34; B, 120, 121, 173; A, 54, 125; E, 28, 306, 312. 210 Stehen in … : BPh, 303, 341, 346, 352, 363; GdS, 37; Hereinstand: BPh, 413. 211 Sichhalten in … : BPh, 369; A, 70; E, 156. 212 Innebleiben in … : E, 213. 213 »Vor-sprung in …«: BPh, 75; »Einsprung in …«: BPh, 76, 80.
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dern deren Geschehen mit uns hier und jetzt. Doch das ist nur eine Seite. Das »Sich-befinden-in …« ist auch räumlich gemeint. Es geht nie nur um das Befinden des Betroffenen, sondern immer auch um das Sich-Befinden. Der vom Ereignis Betroffene befindet sich mitten drin, er ist zwischen denen, die sich auch an dem Ereignis beteiligen. Ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben könnte das veranschaulichen. Stellen wir uns folgende Situation vor: Jemand geht die Straße entlang. Er ist in seinen Gedanken versunken, ganz bei sich selbst. Er überquert die Straße und übersieht dabei ein Auto. Plötzlich hört er das Hupen und dieses Hupen reißt ihn aus seiner Welt heraus. Er ist überrascht, verwirrt, er befindet sich wieder in der Außenwelt, mittendrin in diesem Geschehnis, das auf ihn wirkt und von ihm eine Reaktion erwartet. Jetzt sehen wir, dass das Ereignis nicht seine Überraschung ist, seine Angst oder ähnliche Gefühle. Das Ereignis ist aber auch nicht dieses Geschehen, insofern es von einem Außerstehenden beobachtet werden könnte. Nein, es ist ein Geschehen, das ihn trifft, ein Geschehen, das um ihn ist, in dem er ist und das ihn zwingt, aus sich herauszutreten. Weil das Ereignis so schwierig zu verorten ist, sagt Heidegger, dass es sich weder innen, noch draußen, noch über oder um einen herum ereignet: »Das Seyn aber ›ist‹ weder über uns, noch in uns, noch um uns herum, sondern wir sind ›in‹ ihm als dem Ereignis. Die einfallende Dazwischenkunft des Seyns. Und wir sind nur eigentlich (dem Er-eignis ereignet) ›in‹ ihm als Inständige des Da-seins.« (GdS, 55) »Das Wesen des Menschen ist eingelassen in das Seyn. Das Seyn ist weder außerhalb noch innerhalb des Menschen. Eingelassenheit des Wesens des Menschen in das Seyn in der Weise der Er-eignung des Stimmens.« (E, 200) 214
Das Dasein ist im Sein, aber Sein war nicht vorher da als ein objektiver Ort in einem objektiven Raum. Doch es ist auch kein Inneres des Daseins. 215 Das Ereignis der Wahrheit geschieht nicht im Dasein, sondern das Dasein ist dort, wo das Ereignis geschieht. Doch dieser Ort wird durch das In-Sein des Betroffenen erst »konstituiert«. Diese Konstitution geschieht durch die Erfahrung, durch den Austrag. Oder 214 Siehe auch: »›Innen‹ und ›Außen‹ (des Menschen) sind gleichwenig der ›Ort‹ des Seyns, das doch wieder einzig den Menschen sich er-eignet, ohne ihm je zu gehören.« (SG, 60) 215 »Doch der Raum ist kein Gegenüber für den Menschen. Er ist weder ein äußerer Gegenstand noch ein inneres Erlebnis.« (BWD, 158)
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
eher: Der Ort des Ereignisesses in seinem Raum wird nicht durch die Erfahrung konstituiert, sondern man wird in den Raum eingelassen 216, wenn man auf gewisse Weise gestimmt ist. Und trotzdem sind der Raum und seine Orte nicht vorher da. Der Ort schlägt ein und der Raum schlägt sich auf, wenn sich das Ereignis ereignet. Und absolut gleichzeitig wird man für es gestimmt – weder das Sein noch das Dasein ist früher (im transzendentalphilosophischen Sinne). Wir haben es hier nicht mehr mit einer Transzendentalphilosophie oder transzendentalphilosophisch ausgerichteten Phänomenologie, die die Bedingungen der Konstitution vom Gegebenen untersucht, sondern mit einer Topologie 217 zu tun. 216 Oder wir kehren ins Ereignis ein – Heidegger spricht von ›Einkehr‹ (ID, 41; auch: ID, 45, 50) oder ›Einfahrt‹ (ID, 42) ins Ereignis. 217 Martin Nitsche in seinem sehr gelungenen Buch Die Ortschaft des Seins (2013) vertritt die äußerst interessante These, dass die Phänomenologie mit Notwendigkeit zur Topologie (wörtlich: die Lehre vom Ort) kommen muss: »Doch der Zusammenhang der Topologie mit der Phänomenologie, den ich in meiner Studie verfolge, zielt anderswohin. Im Denken zweier erstrangiger Phänomenologen kommt nämlich das Motiv des Ortes (griechisch topos) nicht nur im Kontext der Auslegung der topischen und räumlichen Hinsichten der alltäglichen menschlichen Erfahrungen vor, sondern auch als ein Mittel des präzisen Ausdrucks von ontologischen Konsequenzen der Phänomenologie. Konkret wird sowohl im Spätwerk von Martin Heidegger als auch von Maurice Merleau-Ponty auf eine ähnliche Weise die Notwendigkeit der Verkoppelung von Ontologie und Topologie proklamiert.« (Nitsche, 10) Wir sehen, dass es hier nicht darum geht, dass die Phänomenologie irgendwann dazu kommen muss, dass sie den Ort beschreibt, sondern darum, dass die ganze Phänomenologie zur Topologie wird! In welchem Sinne? Sodass durch die Topologie die Phänomenologie die Metaphysik überwindet, was auch ihr Ziel ist: »Eine Besonderheit des Heideggerschen Nachdenken über die Ortschaft und seiner Topologie ist, dass sie als Überwindung der Metaphysik konzipiert wurden.« (Nitsche, 95) »Topologie ersetzt die Ontologie.« (Nitsche, 91) Wie überwindet die Topologie die Metaphysik? Sodass sie nicht mehr ein Gegenüber denkt, sondern den Ort, den Boden, wo die konkrete und bodenhaftige Begegnung mit einem Gegenüber geschehen kann: »Im Blickfeld der Ontologie sind somit das Sein, das Seiende und ihr […] Verhältnis […]. Die Ortschaft ist nicht nur das Verhältnis von Sein und Seiendem, welches durch und als das Durchdringen strukturiert ist. Die Topologie betrachtet die Ortschaft methodisch als ursprünglichen Boden der Begegnung mit dem, was erst nachträglich als das Sein und das Seiende unterschieden werden kann (aber auch nicht unterschieden werden muss).« (Nitsche, 97) Und wenn der Ort der Begegnung gedacht wird, wird auch die Begegnung selbst nicht mehr als Subjekt-Objekt-Beziehung beschrieben, sondern als »Durchdringen«. Es ist also kein Zufall, dass das Denken des Ereignisses, das die Gegenständlichkeit und somit die Metaphysik zu überwinden versucht, zum Denken des Ortes kommt. Das, wem wir nicht gegenüber sind, ist das, worin wir sind und von woher wir ein eventuelles Gegenüber gewinnen können.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Durch die Analyse von Sein als Ereignis sind wir also zum Problem von Ort und Raum gekommen. Das Ereignis steht uns nicht gegenüber und ist auch nicht innerlich, sondern das, worin wir sind. Es ist richtig, dass schon Sein und Zeit den Raum und Ort (»Platz«) behandelt, aber dieser Raum ist »Räumlichkeit des Zeugganzen« (SZ, 104) und der Platz ist »›Dort‹ und ›Da‹ des Hingehörens eines Zeugs« (SZ, 102). Das bedeutet, dass wir hier mit dem alltäglichen Raum und seinen Plätzen zu tun haben. Und das Dasein ist in diesem Raum »im Sinne des besorgend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich begegnenden Seienden.« (SZ, 104) Im Kontext des Ereignisdenkens sprechen wir aber von einem ganz besonderen Raum und von ganz besonderen Orten. Die Besonderheit dieses Raumes liegt darin, dass er ein ursprünglicher Raum ist, ohne den die anderen Räume (der alltägliche, mathematische, virtuelle etc.) nicht möglich wären. 218 Das Ereignis ist grundsätzlich die Schaffung eines Raumes und somit unseres In-Seins in ihm. 219 Es mag sein, dass wir schon immer in der Welt sind, an ihren Orten und Plätzen, doch erst das Ereignis lässt dies erfahren.
4.
Die Zeit, der Ort und der Zeit-Raum des Ereignisses
Wir haben gesehen, dass das Ereignis eine gewisse unauflösbare Zweideutigkeit in sich trägt; es ist das Nicht-Gegenständliche, und es ist auch der Anfang dieses Nicht-Gegenständlichen. Um die Nicht-Gegenständlichkeit des Ereignisses näher zu kennzeichnen, 218 Der ursprüngliche Raum (das Offene) ist also »vor-räumlich« und ohne ihn gäbe es keinen uns bekannten Raum. Dazu siehe auch: BPh, 372, 383, 385, 386 f. Später heißt es: »Erst dieses Offene und nur es räumt dem uns gewöhnlich bekannten Raum seine mögliche Ausbreitung ein. Das lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart ist selber vor-räumlich; nur deshalb kann es Raum einräumen, d. h. geben.« (ZS, 19) 219 Wir haben darauf hingewiesen, dass zum Beispiel auch Romano das Ereignis nicht mit einem Gefühl gleichsetzt. Weil er aber, im Gegensatz zu Heidegger, nicht das InSein im Ereignis denkt, kann er nur bei der Bestimmung des Ereignisses als etwas Äußerem stecken bleiben. Er behauptet zwar, dass das Ereignis kein »innerweltliches Faktum« ist, das dem Betroffenen gegenübersteht, sondern etwas, was ihn trifft, doch, wenn er nicht das In-Sein aufdeckt, bleibt er beim Gegensatz vom Innen und Außen und muss dann das Ereignis zu etwas Äußerem machen. Dass es so ist, zeigt sich auch darin, dass für Romano das Ereignis ein Phänomen darstellt – seine Philosophie des Ereignisses ist eine Phänomenologie.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
haben wir versucht zu zeigen, dass es einerseits eine konkrete Erfahrung hier und jetzt ist und dass andererseits zu ihm eine gewisse Außenheit gehört – es ist ein Geschehen, in dem man ist. Das Ereignis als der Anfang bricht unerwartet ein, überrascht und erschüttert. Es ist »jäh« 220, es wird bei Heidegger mit dem »Sturm« und »Erblitzen« verglichen 221. Das Ereignis ist: »Der Über-fall des Ungeheuren im Plötzlichen.« (E, 43) 222
Der Anfang, weil er etwas anfängt und nicht die bekannte Welt (den bekannten Zeit-Raum) fortsetzt, geschieht außerhalb von Raum (»nirgends« und »stättelos«) und Zeit (»niemals« und »stundenfrei«), sodass: »[…] die [Wahrheit des Seyns – L. P.], ledig aller Macht des Wirksamen und nicht verzwungen in die Ohnmacht des nur Vorgestellten, im Nirgends und Niemals des Seienden zum stättelosen Ort und zur stundenfreien Zeit des Kampfes der Ereignung sich gründen muß.« (B, 23)
Oder – genauer gesagt – der Anfang hat mit dem Zeit- und Raumbruch zu tun. Dies bedeutet, dass das Ereignis sich nicht ohne Zeit und Ort ereignet, sondern seine eigene Zeitlichkeit und seinen eigenen Ort schafft. Die Zeit des Ereignisses ist nicht die Zeit des Seienden und seiner Geschichte, sondern die Zeit des Anfangs, anfängliche Zeit: »Alle Anfänge sind in sich das unüberholbar Vollendete. Sie entziehen sich der Historie, nicht weil sie überzeitlich-ewig, sondern größer sind als die Ewigkeit: die Stöße der Zeit, die dem Sein die Offenheit seines Sichverbergens einräumen.« (BPh, 17)
Man muss den »Stoß der Zeit« als den Augenblick 223 denken. Das Ereignis als Anfang ist nichts Beständiges (und noch weniger Ewiges), sondern augenblicklich. Augenblicklichkeit ist die Zeit des Ereignisses. Es ist für einen Moment da und verschwindet sofort – es ist »Steile und Sturz« (GdS, 93). Warum aber ist das keine Zeit des Die Jähe des Ereignisses zum Beispiel: »Jeder Anfang ist ein Jähes.« (GdS, 27 f) Oder später: »Steil aus seinem eigenen Wesen der Verborgenheit ereignet sich Seyn in seine Epoche. Darum müssen wir beachten: Die Kehre der Gefahr ereignet sich jäh.« (BV, 73) 221 Der Sturm und das Erblitzen des Seins: BPh, 300, 315, 409, 412; B, 64; BV, 74; ID, 120 ff. 222 Siehe auch: Der Anfall des Seins: BPh, 118, 260, 280, 375, 400. 223 Die Augenblicklichkeit des Seins: BPh, 118, 252, 260, 349, 384, 415. 220
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Seienden? Wir können ja auch in Bezug auf das Seiende von einem Augenblick sprechen – jedes Seiende ist in der Zeit und im Augenblick, es geht von einem Augenblick in den nächsten über. Aber das ist genau der entscheidende Punkt: Der Augenblick des Seienden ist ein Punkt auf der Zeitlinie, er ist nie allein, weil noch viele andere da sind, er ist nie beendet in dem Sinne, dass nach ihm immer noch weitere Augenblicke kommen. Der Augenblick des Ereignisses, von dem wir hier sprechen, ist dagegen »vollendet«: Nichts ist vor ihm, nichts ist nach ihm. Er ist grundsätzlich allein – das Ereignis ist wesentlich durch, »Einzigkeit« 224 und »Einmaligkeit« 225 ausgezeichnet: »Die Einzigkeit und Einmaligkeit des Seyns sind nicht angetragene Eigenschaften oder gar Folgebestimmungen, die sich aus dem Verhältnis des Seins zur ›Zeit‹ ergeben könnten, sondern das Seyn selbst ist Einzigkeit, Einmaligkeit, die je ihre Zeit, d. h. den Zeit-spiel-raum ihrer Wahrheit entspringen läßt.« (B, 128) »Das Wort [›Ereignis‹ – L. P.] ist jetzt als Singulare tantum gebraucht. Was es nennt, ereignet sich nur in der Einzahl, nein, nicht einmal mehr in einer Zahl, sondern einzig.« (ID, 45) 226
Weil das Ereignis alleinig ist, weil es nur es selbst ist, ist es durch die »Unvergleichlichkeit« 227 gekennzeichnet. Mit anderen Worten: Einzig ist das, »was als dieses kein Anderes seinsgleichen kennt« (B, 328 f). Das Ereignis ist also »losgelöst« von allen Bezügen zu anderen Dingen, und ist in diesem Sinne »absolut«. Es ist unvergleichlich und deswegen absolut:
224 Die Einzigkeit des Ereignisses: BPh, 6, 62, 74, 77, 91, 97, 118, 122, 151, 177, 206, 221, 228, 249, 252, 255, 260, 314, 347, 375, 382, 385; B, 12, 50, 69, 96, 98, 113, 120, 128, 130, 235, 236, 241, 347; A, 123, 142; E, 48, 67, 88, 149, 150, 160, 161, 170, 177, 215, 285, 286, 302, 304, 318. 225 Die Einmaligkeit des Ereignisses: BPh, 151, 228, 385. 226 Um die Zeit des Ereignisses von einem individuellen Zeitpunkt in der Geschichte zu distanzieren, unterscheidet Heidegger in einer Passage die Einzigkeit von der Einmaligkeit: »Das Einmalige ist nicht schon das Einzige im Sinne des Wesenhaften eines Anfangs. / Das Einmalige gehört in das Vielmalige, wo von Mal zu Mal schon der Bogen der Berechnung und Rechnung und Erkundung gespannt ist. / Das Einmalige ist Gegenstand der Historie. Das Einzige aber ist die Einheit der Selbigkeit des je anfangenden Anfangs.« (A, 188) Der Zeitpunkt ist einmalig, aber einmalig unter vielen. Das Ereignis ist dagegen einzig im Sinne von »alleinig«. Es gibt nicht dieses besondere und dann noch dieses und jenes besondere Ereignis, sondern nur dieses Ereignis – nur es selbst. 227 Die Unvergleichlichkeit des Ereignisses: BPh, 252; E, 215.
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»Das schlechthin Unvergleichliche, durch jeden Bezug Untreffbare und daher im Wesen los-gelöste, in solchem Sinne Ab-solutum, ab-solut, aber weder das Höchste noch das Geringste, sondern nur einzig seines Wesens.« (GdS, 96 f) 228
Des Weiteren gilt, dass der Augenblick des Ereignisses »aus seiner Einzigkeit jene Seltenheit beansprucht« (B, 130) 229. Dies bedeutet, dass solche besonderen Stöße der Zeit, Zeitbrüche nur selten stattfinden können. Eines muss man also festhalten: Der anfängliche Augenblick ist nicht in der Zeit (es ist nicht eines von vielen Seienden in der Zeit), sondern es ist seine eigene Zeit. Das Ereignis ist seine eigene Zeit und die Zeit des Ereignisses ist das Ereignis selbst. Der Ort des Ereignisses ist nicht ein Ort unter anderen, sondern das Ereignis schlägt seinen eigenen Ort inmitten des Seienden auf: »Das Er-eignis ist übereignender Einfall, so zwar, daß es ereignend lichtend zwischen das (Seiende) sich ereignet als das Inzwischen für seine (des Seienden) Wahrheit.« (E, 183) 230 »[…] darin liegt aber, daß das Sein selbst den Zeit-Ort erwest, ohne je durch eine Stellenangabe darinnen selbst fest-gestellt werden zu können.« (E, 10) 231
Das Ereignis als Anfang geschieht also als Einfall des Seins ins Seiende. Es ist die Gründung eines Ortes. Dieser Ort wird von Heidegger »Lichtung« 232 genannt, aber genauso auch »Zwischen« bzw. »Inzwischen« 233, »Mitte« 234, »Eröffnung« 235, »Offene« bzw. »Offenheit« 236,
228 Wir werden später sehen, dass auch Marion das Ereignis als losgelöst und absolut charakterisiert. 229 Zur Seltenheit siehe auch: BPh, 118, 122, 231, 236, 255, 342, 347, 414; B, 99, 203, 224, 225, 360; A, 123. 230 Der Einfall des Seins und seine Wesung inmitten des Seienden: BPh, 244, 259, 317, 327, 329, 330; B, 53, 59, 63, 94, 145, 202, 309, 310; A, 52, 55, 79; E, 79, 183. 231 Die Zeit und der Ort des Ereignisses ist nicht in unserer Zeit und unter unseren Orten auffindbar: B, 116, 131; E, 13, 91, 128, 251. 232 Die Lichtung: BPh, 242, 350 ff, 380; B, 92, 93, 100, 112, 118. 233 Zum Inzwischen und Zwischen siehe: BPh, 26, 28, 86, 223, 263, 267, 285, 311, 312, 317, 322, 368, 371, 387, 415, 428; B, 22, 59, 83, 88, 94, 102, 108, 112, 117, 270; ÜM, 22, 30 f; A, 17, 76, 126; E, 79, 85, 133, 144, 183, 192, 210, 215, 222, 288, 331. 234 Die Mitte: BPh, 73, 223, 280, 289, 311, 312, 322, 331, 413, 414; B, 148. 235 Die Eröffnung: B, 109. 236 Das Offene, die Offenheit: BPh, 242, 259, 297, 306, 310, 333, 338 ff, 380; B, 109, 202; E, 13.
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»Riß« 237 oder »Da« 238. Die Lichtung ist der Ort, wo das Ereignis der Wahrheit des Seins geschieht: »Die Lichtung ist die Wesung des Offenen, das Offene ist der Durchlaß des Entgegen und Ankommen (Seienden) aus dem Seinslosen. / Die Lichtung ist dann doch »leer«; so scheint es, wenn wir vergessen und nie bedacht haben, daß die Lichtung lichtet und die Helle gibt und daß der Durchlaß als Lassen eine, ja die Gewahr der Wahrheit ist. Die Ge-wahr gehört zum Wesen der Wahrheit, sie ist ereignishaft.« (E, 208)
Die Wesung der Wahrheit schafft aber den ursprünglichen »ZeitRaum« bzw. »Zeit-Spiel-Raum« 239: »Der Zeit-Raum als entspringend aus dem und gehörig zu dem Wesen der Wahrheit«. (BPh, 371) 240
Dieses Entspringen geschieht so, dass die Wahrheit als das Aufkommen des Seienden verstanden wird. Sie ist die Erfahrung des Erscheinens, Verweilens und Verschwindens des Seienden, also gleichfalls die Erfahrung der Zeit. Die Zeit gehört zur Wesung der Wahrheit: »Zeit ist hier verhüllt erfahren als Zeitigung, als Entrückung und somit Eröffnung; und sie west als solche im Wesen der Wahrheit für die Seiendheit.« (BPh, 191 f)
Mit seiner Dreidimensionalität eröffnet die Zeit den Raum: »Die Zeit als entrückende-eröffnende ist in sich damit zugleich einräumend, sie schafft »Raum«. Dieser ist nicht gleichen Wesens mit ihr, aber ihr zugehörig, wie sie ihm.« (BPh, 192) 241 Der Riß: B, 53, 224. Das Da (verstanden auch als das Da des Daseins) als Ort des Ereignisses: BPh, 236, 239, 273, 330, 371; B, 108, 117; E, 211, 271; WN, 222 f. 239 Der Zeit-Raum, Zeit-Spiel-Raum für die Wahrheit des Seins: BPh, 5, 29, 30, 87, 271, 272. 240 Der Zeit-Raum entspringt der Wesung der Wahrheit: BPh, 372, 375, 376, 377, 379, 383, 386; ÜM; 135. 241 Siehe auch: BPh, 372, 383, 385, 386 f; ÜM, 136. Heidegger wiederholt diesen Gedankengang in Zeit und Sein. Dort heißt es zuerst: »Zeit-Raum nennt jetzt das Offene, das im Einander-sich-reichen von Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart sich lichtet.« (ZS, 18 f) Die Lichtung, das Offene ist also auch die Erfahrung des Zeit-Raumes – man erfährt die Zeit in seiner Länge. Und dies gründet den Raum: »Erst dieses Offene und nur es räumt dem uns gewöhnlich bekannten Raum seine mögliche Ausbreitung ein. Das lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart ist selber vor-räumlich; nur deshalb kann es Raum einräumen, d. h. geben.« (ZS, 19) 237 238
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Das Ereignis ist also seine eigene, nicht messbare Zeit; es schlägt an einem nicht in der Welt auffindbaren Ort seinen eigenen Ort ein und eröffnet einen Zeit-Raum, einen Raum, wo es geschieht und in den man hineingeworfen wird, wenn man aus sich heraustritt. Es macht durchaus einen Sinn, diese von Heidegger im Ereignis des Seins aufgedeckte Struktur auf andere mögliche Ereignisse zu übertragen. Es geht also um den Anfang, Einschlag eines Ortes und Eröffnung eines Raumes. Nehmen wir zum Beispiel die Liebe auf den ersten Blick. Wenn der Liebende die geliebte Person sieht, eröffnet sich an dem ansonsten üblichen Ort (sei es die Straße, der Hörsaal etc.) ein Riss, durch den die geliebte Person eintritt. Dieser Ort des Eintritts wird zur Mitte der Welt. Und es bricht ein anderer Zeit-Raum mit seinen eigenen »Gesetzen« ein. Die geliebte Person steht im Zentrum, das ganze Licht fällt auf sie, die anderen Menschen rücken von diesem Zentrum ab in den Schatten, man selbst rückt aber näher, ohne sich zu bewegen; aus sich selbst transzendieren, ohne jegliche Bewegung, Intentionalität. Die Geräusche werden leise. Die Zeit steht still, ein Augenblick dauert länger, diese Länge kann aber nicht ausgemessen werden. Ewigkeit. In diesem vom Ereignis der Liebe verzerrten ZeitRaum geschieht die Begegnung der Liebenden. Doch es ist falsch, hier von der »Verzerrung« zu sprechen – es ist einfach der Zeit-Raum des Ereignisses, so wie er vom Ereignis in den alltäglichen Zeit-Raum eingeschlagen wird. Es gibt keinen Grund, ihn mit dem physikalischen, geographischen, lebensweltlichen Zeit-Raum zu vergleichen und dann als Verzerrung zu bezeichnen; er ist keine subjektive Illusion oder Einbildung – er ist das Ereignis selbst. Das Ereignis geschieht genau dann, wenn sich die Welt plötzlich anders strukturiert. Das Ereignis geschieht nicht in der Zeit, sondern ist die Zeit – seine Zeit. Das Ereignis geschieht nicht an einem Ort, sondern es ist sein Ort, sein Zeit-Raum. Wir stellen also fest, dass zur Logik des Ereignisses der Ort, der Zeit-Raum und das In-Sein gehören. So lautet die These. In Bezug darauf müssen aber einige zusätzliche Hinweise gemacht werden. Erstens: Im letzten Abschnitt haben wir schon darauf hingewiesen, dass Ort und Raum schon in Sein und Zeit thematisiert werden, allerdings in einem ganz anderen Kontext. Sein und Zeit behandelt die alltägliche Räumlichkeit des Zeugganzen und die alltäglichen Plätze des Zeuges als im Dasein begründet – es gibt Raum, weil das Dasein räumlich (weltlich) und, schließlich, weil es zeitlich
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ist. 242 Es gibt Plätze, weil das Dasein sie einteilt. 243 Der Ansatz nach Heideggers Kehre ist wesentlich anders – es geht hier nicht mehr um die Begründetheit des Raumes im Dasein, sondern darum, dass das Dasein in einen (ursprünglichen) Raum eingelassen wird. Aber genau darin liegt ja die Heidegger’sche Kehre, dass der letzte Grund nicht im Subjekt (und auch nicht im Objekt) zu finden ist, sondern im Ereignis, wo sie beide erst möglich werden. Im Denken des Raumes spiegelt sich die Heidegger’sche Kehre wider. 244 Zweitens: Für die Logik des Ereignisses ist das Bedeutendste in diesem Fall nicht die Verwandlung des Daseins vom Grund der Räumlichkeit zum Gegründeten im Raum des Ereignisses, sondern, dass das Ereignis als nicht Seiendes ein In-Sein fordert. Wir haben absichtlich zuerst von Nicht-Seiendhaftigkeit des Ereignis gesprochen und danach vom In-Sein und von der Schaffung des Raumes. Das Ereignis ist kein Gegenüber – es ist räumlich. Dies ist der entscheidende Punkt. Weil es räumlich ist, befindet man sich an einem Ort in ihm. Man kann auch sagen, dass das Ereignis ein Ort ist. Es ist auf jedem Fall ein Wo. 245 242 »[…] das ontologisch wohlverstandene »Subjekt«, das Dasein, ist in einem ursprünglichen Sinn räumlich. Und weil das Dasein in der beschriebenen Weise räumlich ist, zeigt sich der Raum als Apriori. Dieser Titel besagt nicht so etwas wie vorgängige Zugehörigkeit zu einem zunächst noch weltlosen Subjekt, das einen Raum aus sich hinauswirft. Apriorität besagt hier: Vorgängigkeit des Begegnens von Raum (als Gegend) im jeweiligen umweltlichen Begegnen des Zuhandenen.« (SZ, 111) Und: »Dann muß aber auch die spezifische Räumlichkeit des Daseins in der Zeitlichkeit gründen.« (SZ, 367) 243 »Die Plätze selbst werden dem Zuhandenen angewiesen in der Umsicht des Besorgens oder sie werden als solche vorgefunden. Ständig Zuhandenes, dem das umsichtige In-der-Welt-sein im vorhinein Rechnung trägt, hat deshalb seinen Platz.« (SZ, 103) 244 »Raum muß aber auch hier ursprünglich als Räumung begriffen sein (wie sich diese in der Räumlichkeit des Da-seins anzeigen, aber nicht vollursprünglich begreifen läßt).« (BPh, 192) 245 Man darf auf keinen Fall versuchen, diese Radikalität des Heidegger’schen Denkens, die die Philosophie zur Topologie werden lässt, indem sie den Ort denkt, zu neutralisieren. Was zum Beispiel Pöggeler tut, wenn er schreibt: »Auch Heideggers späte Denkversuche sind Topologie, d. h. sie sind eine Ortbestimmung, ein Sagen des Ortes der Wahrheit des Seins anhand einer Stellen-Lese, einer Sammlung der Leitworte und Leitsätze abendländischen Denkens.« (Pöggeler(1983), 134) Das Denken des Ortes (des Ereignisses als Ort) ist nicht »Sammlung der Leitworte und Leitsätze«, es ist Verortung der Sammlung der Leitworte und Leitsätze, Verortung des Denkens, radikales Verlassen eines intentionalen Denkens, das irgendwelche Leitworte und Leitsätze denkt. Oder wenn Pöggeler schreibt: »Vielleicht ist das, was Heidegger die
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Drittens: Man muss aufmerksam das Verhältnis von Ort und Raum untersuchen, und noch aufmerksamer das Konzept des Ortes. Genau deswegen, weil es in Heideggers Denken sehr wichtig und gleichzeitig unklar ist. In diesem Abschnitt haben wir mit Absicht zuerst den Ort behandelt, indem wir behaupteten, dass das Ereignis einen Ort einschlägt und dass an diesem Ort ein Zeit-Raum eröffnet wird. Dies entspricht Heideggers Hinweis von 1962, wo es um die »Herkunft des Raumes aus dem zureichend gedachten Eigentümlichen des Ortes« (ZS, 28 f) geht. Dies entspricht auch Heideggers Einteilung seines Gedankenweges 1969, wenn er als dessen letzten Schritt den Ort nennt – der Ort ist noch vor dem Raum und erlangt die Priorität des Denkens. Aber wie soll hier der Ort verstanden werden? Es ist der Ort des Ereignisses. Man kann sagen, dass es der Ort ist, wo das Ereignis geschieht, obwohl das nicht genau formuliert ist – das Ereignis ist sein Ort, weil es von ihm geschaffen wird. Es gibt hier keine Doppelung von Ort und Ereignis: »Die Ortschaft des Ortes des Seins als solchen ist das Sein selber.« (WN, 222)
Wir haben schon gezeigt, dass für Heidegger dieser Ort die Lichtung ist. Das Konzept der Lichtung entsteht während Heideggers Kehre und charakterisiert die Wahrheit, die, wie bekannt, jetzt auch als Ereignis verstanden wird. 1930 wird die Wahrheit als »Entbergung des Seienden« (VW, 190) und folglich als Ereignis des Seins verstanden. 1936 wird die »Wahrheit als Lichtung« (BPh, 350) bestimmt. Das Ereignis des Seins, das die Wahrheit ist, west als die Entbergung des Seienden und ist Ort, wo das Dasein eingelassen und zum Teil des »Spieles« der Entbergung des Seienden und des Entzuges des Seins wird. »Lichtung« nennt, für das Denken, eine spekulative Mitte, die nur von den einzelnen Punkten einer Peripherie her angegangen werden kann (von den unterschiedlichen Sphären her, die sich aus der Lichtung ausgliedern), die sich zudem von jedem Punkt der Peripherie her anders zeigt und sich in ihrer Dynamik immer auch entzieht.« (Pöggeler(1983), 170) Die Lichtung ist nicht etwas, was »für das Denken« »sich zeigt« und »sich entzieht«, sondern das, worin das Denken ist. Die Lichtung ist nicht ein Thema der Philosophie, sondern ihr Ort. Deswegen ist sie undenkbar, und nicht deswegen, weil sie »abgründig« und »ungründig« ist: »Sofern das philosophische Fragen ein Ausfragen nach einem verfügbaren Grund ist, die Lichtung oder Ortschaft der Wahrheit des Seins aber als abgründig und ungründig erfahren wird, kann die Lichtung überhaupt nicht ›erfragt‹ werden.« (Pöggeler(1983), 162) Den Abgrund aber kann man immer noch denken, nur nicht mehr, wenn er als Ort verstanden wird.
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Wird aber die Lichtung wirklich als ein Ort verstanden beziehungsweise wird die Lichtung von Anfang an als ein Ort verstanden? Mit anderen Worten: Denkt Heidegger den Ort schon dann, wenn er die Lichtung zu denken anfängt? Interessanterweise lässt sich daran zweifeln. Es ist nicht ausgeschlossen, dass im späteren Ereignisdenken (d. h. am Ende der 40er Jahre und am Anfang der 50er Jahre) die Lichtung als ein Ort gedacht wird, doch man muss ganz genau beobachten, wie die Lichtung im früheren Ereignisdenken Heideggers gedacht wird – und dies eher implizit, nicht ausdrücklich. Die Lichtung als ein Ort und damit auch der Zeit-Raum, der um ihn schwebt, befinden sich »nirgendwo«, oder auch »überall« 246 – überall in dem Sinne, dass die Wahrheit überall dort wesen muss, wo ein Seiendes ist. Wo auch immer ein Seiendes wahrgenommen, gezeichnet, gedacht etc. wird, dort geschieht auch die Lichtung, wenn auch völlig unbedacht. 247 Die so gedachte Lichtung ist noch kein Ort. Die entscheidende Zuwendung zum Ort geschieht erst am Ende der 40er Jahre – wenn Heidegger das Ereignis an einem bestimmten Ort bindet, der zwar auch erst vom Ereignis geschaffen wird und nicht ein »realer« Ort ist, der aber konkret wird. Erst mit der Bestimmung der Ortschaft des Ereignisses kann von einem Denken des Ortes die Rede sein. Und man kann dann – zusammen mit Nitsche – in der Tat sagen, dass mit so gedachtem Ort die Metaphysik überwunden ist. Wie? Indem das Ereignis als eine Singularität gedacht wird – es ist das, was hier und jetzt geschieht. Es ist eine singuläre Situation, in die wir eingelassen sind und die uns nicht gegenübersteht. Hier gibt es 246 Noch 1949 sagt Heidegger: »Insofern die Gefahr das Seyn selber ist, ist sie nirgendwo und überall. Sie hat keinen Ort. Sie ist selbst die ortlose Ortschaft alles Anwesens.« (BV, 72) 247 Auch Nitsche weist auf diese Eigentümlichkeit des frühen Begriffes der Lichtung hin: »Die Betonung in dieser Bestimmung liegt darin, dass die Lichtung kein Raum ist, in den das Seiende als etwas Anwesendes oder Erfahrbares hineintritt, sondern ein Raum, der zwischen ihnen (quasi ›überall‹) west.« (Nitsche, 56; siehe auch: Nitsche, 57) Nitsche stellt auch fest, obwohl zum Beispiel in den Beiträgen von der Lichtung die Rede ist, es – begrifflich gesehen – nicht um den Ort geht: »Im Text der Beiträge wird von der Topologie gar nicht gesprochen, und auch das Wort ›Ort‹ fällt nur selten.« (Nitsche, 55) Damit ist uns gesagt, dass das Denken der Lichtung nicht gleich das Denken des Ortes (Topologie) ist, wie das zum Beispiel Pöggeler versteht, wenn er Heideggers Denkweg interpretiert: »Heidegger selber hat schließlich von drei entscheidenden Phasen seines Denkens gesprochen: der Frage nach dem Sinn von Sein, nach der Wahrheit als Geschichte oder der Seinsgeschichte, nach der Lichtung.« (Pöggeler(1992), 139)
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nicht mehr das Denken eines überall wesenden Grund-Geschehnisses, das in seiner Allgemeinheit fast schon vorstellend und damit es vernichtend gedacht werden muss. Es geht stattdessen um eine Konkretion und einem vorsichtigen Annährungsversuch, durch den sie in sich wirklich ein Ereignis aufschlagen könnte. Es ist richtig, dass auch das frühe Denken des Ereignisses bei Heidegger die Singularität des Anfanges und das In-Sein denkt, trotzdem wird dieses Denken erst mit dem Denken des Ortes konsequent durchgeführt. An welchem Ort geschieht das Ereignis? Die Frage ist natürlich falsch gestellt, weil sie meint, dass es zuerst einen Ort gibt, wo sich dann das Ereignis ereignet. Das Ereignis ist sein Ort. Wo ist das? Zum Beispiel ein Krug (Das Ding, 1950), eine Brücke (Bauen Wohnen Denken, 1951), ein Kunstwerk (Die Kunst und der Raum, 1969). Im Vortrag Bauen Wohnen Denken wird eine Brücke (ein Ding) als der Ort bestimmt, der, erstens, vor dem Raum ist und, zweitens, das Ereignis (das Ereignis des Gevierts 248) an-wesen lässt: »Die Brücke versammelt auf ihre Weise Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen bei sich. […] Versammlung heißt nach einem alten Wort unserer Sprache ›thing‹. Die Brücke ist – und zwar als die gekennzeichnete Versammlung des Gevierts – ein Ding.« (BWD, 155) »Diese Dinge sind Orte, die dem Geviert eine Stätte verstatten, welche Stätte jeweils einen Raum einräumt.« (BWD, 157)
Das Ereignis ereignet sich in der Brücke – in meiner bekannten Brücke, die mir nah ist, auf der ich stehe, über die ich gehe, zu der ich in meiner Erinnerung zurückkehre. Auf meiner Brücke stehend erfahre ich das Sein, die Zeit, die Sterblichkeit. Ich erfahre das Aufleuchten des Dinges und damit die Eröffnung der Welt. Ich spüre ihre Materialität, »Erdhaftigkeit« und ahne das Göttliche. Das Ereignis geschieht hier und jetzt mit mir, und nur wenn ich still, vorsichtig 248 Es ist bemerkenswert, dass das Orts-Denken bei Heidegger mit der Konkretisierung dessen, was sich ereignet, zusammenfällt. Es geht darum, dass das schlichte Ereignis der Wahrheit inhaltlich neue und vor allem viele Dimensionen gewinnt. Besonders bekannt ist diesbezüglich das Denken des Gevierts, dessen Gefüge die Erde, der Himmel, die Götter und die Sterblichen bilden. Das Ereignis der Wahrheit und das Ereignis des Gevierts sind in der Tat dasselbe Ereignis: »Das noch verborgene SpiegelSpiel im Geviert von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen weltet als Welt. Die Welt ist die Wahrheit des Wesens von Sein.« (BV, 48) Doch als Geviert ausgelegt ist das Ereignis der Wahrheit inhaltlich konkreter geworden. Ist das nur ein Zufall, dass die Verortung des Ereignisses mit der Fülle dessen einhergeht? Wir vermuten hier, dass dies kein Zufall, sondern eine Konsequenz ist.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
und aufmerksam bin. Es schwebt nicht irgendwo, nirgends und überall. Es ereignet sich nicht in dem unendlichen Raum des Denkens. Das Ereignis ereignet sich hier. Ich stehe in seinem geöffneten Zeit-Raum.
5.
Der Anfang und der Untergang
Das Ereignis bricht als ein Augenblick ein. Es lässt etwas ankommen, was davor nicht war. Es ist der Anfang. Doch als der Anfang kann es grundsätzlich nur anfangen, es kann nur für einen Augenblick da sein. Dieser Augenblick ist natürlich nicht feststellbar und er wird nie zur Präsenz im Geist gebracht. Er ist ohne Ausdehnung, reine Gegenwart, ohne Retention und Protention, bloße Vergänglichkeit. Sehr viele ereignisphilosophische Überlegungen Heideggers sind genau diesem Aspekt des Ereignisses gewidmet. So heißt es zum Beispiel, dass das »Wesen des Seyns« »Verweigerung« (B, 57) ist. Während das Seiende als beständig Anwesendes immer (relativ) da ist und sich sehen und begegnen lässt, verweigert das Sein sich selbst. Während das Seiende sein Wesen zur Schau stellt, nimmt das Sein sein Wesen zurück. Das Sein ist ursprünglich – es ist für einen Augenblick da, dann nimmt es sich zurück und verweigert sich: »Das Seyn ist nie ein Seiendes; dieses Nicht-Seiende ist gegenüber allem Seienden die Verweigerung, worin das Seyn sich in sein eigenstes Wesen zurücknimmt und sich als den Ur-sprung anwinkt […].« (B, 58) 249
Die Verweigerung »ist etwas wesentlich anderes als bloße Abwesenheit« (BPh, 411) – sie ist die Weise, wie sich das Sein als ein NichtSeiendes erfahren lässt. Das Sein lässt sich nämlich als das »Sichentziehende« 250 erfahren. Es lässt sich nicht als das beständige Wesen erfahren, sondern als solches, das sich solcher Erfahrbarkeit entzieht. Jedes Ereignis lässt sich nur so erfahren, dass es sich dem Versuch, ein Wesen in Bezug auf es zu denken, entzieht. Die Erfahrung des Ereignisses besteht genau in der Spannung zwischen dem Begehren, es einzufangen (weil sich etwas ereignet, weil doch etwas da ist), und 249 Die Verweigerung des Seins: BPh, 8, 20, 22, 27, 63, 91, 112, 128, 175, 228, 239, 244, 246, 280, 294, 405, 406, 411; B, 83, 84, 93, 96, 97, 112, 120, 130, 131, 135, 200, 203, 255, 277, 308, 311, 312, 313, 349, 358, 367; Ereignis, 227. 250 Das Sichtentziehende und der Entzug des Ereignisses: BPh, 8, 80, 91, 111, 241, 246, 293.
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der Unfähigkeit, es einzufangen (es ereignet sich doch nichts, es ist schon weg). Mit anderen Worten: Man erfährt das Ereignis nur, wenn es sich verabschiedet. Das Ereignis ist »Abschied« (E, 126), es hat »abschiedliches Wesen« (E, 67) 251. Der Abschied ist die Weise, wie das Ereignishafte ankommt, also da ist, ohne zu einem Wesen zu werden, und es kehrt sofort in sich zurück: »Der Abschied ist Ankunft, nicht in die Anwesung eines Vorhandenen, sondern anfängliche Ankunft, die in sich zurücktritt und ihre fernste Ferne innehält.« (A, 24)
Das Ereignis zu erfahren heißt also, zu erfahren, dass man es nicht als ein Wesen erfahren, begreifen, denken kann. Das Ereignis verabschiedet das Wesen und wird als dieser Abschied erfahren. Und weiter: Das Ereignis als augenblicklicher Anfang ist ein Geben dessen, was anfängt. Ist die Rede vom Ereignis der Wahrheit, so wird das Sein des Seienden gegeben, das Seiende wird seiend. Das Seiende wird entborgen, aber das Ereignis des Seins verbirgt sich – das Sein ist das »Sichverbergende«: »Seinsverlassenheit: daß das Seyn das Seiende verläßt, dieses ihm selbst sich überläßt und es so zum Gegenstand des Machenschaft werden läßt. […] daß das Sein das Seiende verläßt, besagt: das Seyn verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden. Und das Seyn wird selbst wesentlich als dieses Sichentziehende Verbergen bestimmt.« (BPh, 111) 252
Mit anderen Worten: Das Seiende kommt zur Offenbarkeit, aber das Ereignis seines Kommens »versagt sich« – das Sein ist »zögerndes Sichversagen« (BPh, 15) 253. Das Ereignis des Seienden verschwindet spurlos – das Sein ist »das Spurlose« (B, 202) 254. Es geht also nicht nur darum, dass der Anfang sich entzieht, weil er Anfang ist, sondern darum, dass er etwas hinterlässt, was völlig in den Vordergrund tritt, was die ganze Szene übernimmt. Er selbst aber entzieht sich in den Hintergrund, bleibt unmerklich, lässt sich nicht sehen – er »verlässt« das, was er selbst hervorgebracht hat. Im Seienden gibt es kein Ereig-
251 Das abschiedliche Wesen des Ereignisses: A, 15, 16, 18, 20, 25, 26; E, 129, 132, 147 f, 193, 194, 221, 234, 244, 247, 249, 250, 257, 277, 318. 252 Zur Verbergung des Seins siehe: BPh, 12,15, 80, 174, 252, 341, 342, 346, 385; E, 292 f, 301, 314. 253 Das Sichversagen des Seins: BPh, 29, 78, 80, 268, 341, 346, 375, 381, 382, 384, 385, 388, 411. 254 Das Ereignis als das Spurlose: B, 139, 200.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
nis mehr, keinen Anfang mehr – der Anfang hat sich hinter dem Hervorgebrachten verborgen: »Im Beginn des abendländischen Denkens wird das Sein gedacht, aber nicht das »Es gibt« als solches. Dieses entzieht sich zugunsten der Gabe, die Es gibt, welche Gabe künftighin ausschließlich als Sein im Hinblick auf das Seiende gedacht und in einen Begriff gebracht wird.« (ZS, 12) 255
Deswegen sagt Heidegger auch, dass die »Er-eignung« »Ent-eignung« ist (B, 319). Das Ereignis ist Enteignung, weil es sich vom Anfangenden entzieht. Das Anfangende fängt zwar an, aber verliert seine Anfänglichkeit, seine Ereignishaftigkeit: »Die Enteignung entzieht das Seiende der Zuweisung in den Anfang.« (E, 165) 256
Wird die Ereignishaftigkeit des Anfangenden noch vermutet, dann nur so, dass sie selbst zum Seienden, zu einem Wesen wird, zum Beispiel in Gestalt einer Ursache, eines Schöpfers o. Ä. Wenn der Anfang nur als ein (höheres) Wesen, d. h. Seiendheit gedacht wird, hat er sich völlig entzogen: »In diesem Wesen der Seiendheit ist erst dem Seienden das Anfängliche völlig entzogen. Die Enteignung hat die Seinsverlassenheit des Seienden ereignet.« (E, 166)
Das Einzige also, was nach dem Ereignis zurückbleibt, ist das Seiende, sei es ein »übliches« Seiendes, sei es die Seiendheit als Grund des Seienden. Und dieses Seiende erscheint so, als ob es nie durch den Anfang angefangen hat: »Was ist wovon verlassen? Das Seiende von dem ihm und nur ihm zugehörigen Seyn. Das Seiende erscheint dann so, es erscheint sich als Gegenstand und Vor-handenes, als ob Seyn nicht weste.« (BPh, 115) 257 255 In den früheren Abhandlungen zu Ereignis spricht Heidegger diesbezüglich von der »Überschattung des Seins durch das Seiende« (B, 391) oder davon, dass das Seiende alles andere »übermächtigt« (BPh, 179), dass es den Anfang »verdunkelt« (A, 173). In den Bremer Vorträgen heißt es: »Dies jedoch so entschieden, daß sogar die ἀλήθεια selber als solche frühzeitig in die Verborgenheit zurückfällt und zwar zugunsten des Anwesenden als solchen. Das Anwesende übernimmt den Vorrang gegenüber dem, worin es einzig west.« (BV, 50) 256 Zur Enteignung siehe auch: B, 311, 367; A, 122; E, 122, 132, 164 ff. 257 Auch Marion in seiner Phänomenologie der Gegebenheit, die grundsätzlich als Ereignis verstanden wird, weist auf diese Struktur des Ereignisses hin. Die Gabe des Ereignisses entsteht nur dadurch, dass sie im und durch das Ereignis gegeben wird,
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Zur Logik des Ereignisses gehört also grundsätzlich, dass es sich verweigert. Es gibt, fängt etwas an, zieht sich zurück – es »verlässt« das Gegebene. Damit sind wir zum Begriff der »Seinsverlassenheit« in Heideggers Philosophie gekommen. Dieses Begriffswort hängt mit einem anderen, nämlich dem der »Seinsvergessenheit« zusammen. Die Seinsvergessenheit ist nicht nur ein Begriffswort unter anderen in Heideggers Philosophie, sondern zugleich auch die Diagnose der Zeit, des Abendlandes, die Heidegger schon in Sein und Zeit aufstellt. Laut ihm leben wir im Zeitalter der Seinsvergessenheit – wir interessieren uns nur für das Seiende und erfahren und denken nie das Sein. Was aber in Heideggers früher Philosophie als ein Fehlverhalten vonseiten des Menschen gedeutet wird, wird später im Ereignisdenken umge-kehrt – es kommt zur Seinsvergessenheit, weil es zur Seinsvergessenheit kommen muss. Das anfängliche Ereignis wird vergessen, weil es so vor sich geht, dass das Sein als Ereignis das Seiende im Ereignis verlässt, damit es seiend wird, damit seine Seiendheit voll und ganz in den Vordergrund treten kann. Das Ereignis als Augenblick des Anfanges entzieht sich zugunsten dessen, was anfängt, und deswegen wird es vergessen. Kurz: »Seinsverlassenheit ist der Grund der Seinsvergessenheit.« (BPh, 114) 258
Der tiefste Grund dafür, warum die Geschichte der Philosophie und des Abendlandes so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist, liegt nicht in der menschlichen Vergesslichkeit, sondern in der Logik des Anfanges. 259 Diese Logik besagt, dass der Anfang sich entzieht, dass er aber sie übernimmt die ganze Szene und lässt das Geben (oder den Geber) nicht mehr hervortreten. Das Geben bleibt somit unsichtbar, und wenn es unsichtbar wird, kann auch die Gabe nicht mehr als Gabe erscheinen, da sie nur im Geben durch den Geber die Gabe ist. Die Gabe wird zum Besitz (so wie bei Heidegger das Seiende ohne das Ereignis des Seins zum Vorhandenen wird): »Die gegebene Gabe als solche (der Ring) nimmt auf Anhieb die ganze Sichtbarkeit in Beschlag und verurteilt den Geber dazu, aus dem Bereich des Sichtbaren zu verschwinden. Infolgedessen findet nicht nur der Bräutigam als Geber keinen Eingang mehr in das Phänomen der Gabe, sondern auch das, was die Gabe als gegebene kennzeichnet, wird dadurch ausgelöscht: Der Ring wird zum Besitz […].« (GG, 118 f/CN, 200) 258 Die Seinsvergessenheit aus der Seinsverlassenheit: BPh, 113, 115, 116, 219. 259 Zu dieser These siehe: BPh, 111; B, 219, 311; E, 111. 1949 heißt es: »Die ἀλήθεια gerät in die Vergessenheit. Diese besteht jedoch keineswegs darin, daß nur ein menschliches Vorstellen in der Erinnerung etwas nicht festhält, sondern Vergessenheit, das Entfallen in die Verborgenheit, ereignet sich mit der ἀλήθεια selbst zugunsten des Wesens des Anwesenden, das innerhalb der Unverborgenheit anwest.« (BV, 50) Und weiter: »Aber menschliches Denken ist nur deshalb in solcher Vergeßlichkeit
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
sich nicht fortsetzt, dass er »untergeht« und dass alles, was uns bleibt, sein Untergang ist, nämlich das verlassene Seiende: »Das Wesen des Anfangs liegt nicht im Beginn, sondern verbirgt sich als die unausgefaltete vorgreifende Entschiedenheit des Untergangs. Alles Anfängliche fängt mit dem Untergang an. […] Was verbirgt der Anfang, indem er sich verbirgt? Seinen – den in ihm als entschieden bereitgehaltenen – Untergang. […] Der höchste Anfang verschließt in sich und fängt daher an den tiefsten Untergang.« (B, 253) 260
Es ist die Logik des Ereignisses, die diesen Untergang des Anfanges und damit den Untergang des Abendlandes »notwendig« und »unumgänglich« 261 macht. Es ist die »Notwendigkeit aus der Verweigerung des Seyns« selbst (B, 226) 262. Und diese Notwendigkeit ist der Grund, warum das Sein als Ereignis vergessen wird. Mehr noch: Sie ist der Grund, warum am (ersten) Anfang das Ereignis des Seins überhaupt »ungefragt« 263, »unbedacht« 264, »unentschieden« 265 und »ungegründet« 266 bleibt: »Der Ur-sprung des Seyns ist die Er-eignung seiner Wahrheit und die mit ihr sich öffnende, aber noch unentschiedene Entscheidung zur Gründung dieser Wahrheit oder gegen sie oder ohne sie. Die Versäumnis der Gründung ist das notwendige Geschick des ersten Anfangs. Die Wahrheit verschwindet nicht und kann nicht verschwinden, solange das Sein west und Seiendes als ein solches ›ist‹. Aber die Wahrheit verirrt sich in die Irre des Unwesens als Wahrheit im Sinne der Richtigkeit, und das Sein verliert seinen Ursprung […].« (B, 67)
des Wesens des Seins, weil dieses Wesen selber sich als Vergessenheit, Entfallen in die Verborgenheit, ereignet hat.« (BV, 50) 260 Der Anfang ist schon der Anfang des Untergangs: B, 12, 96, 223, 273, 397; A, 19, 21, 24, 25, 84; E, 67, 108, 113, 142, 147, 195, 221, 250, 278, 279, 280, 285, 301, 304. 261 Die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit des Untergangs: BPh, 186, 297, 313, 360, 375; B, 66, 78, 90, 226, 340; E, 13, 15 f. 109. 262 Siehe auch: B, 340. 263 Der Anfang bleibt ungefragt: BPh, 186, 297, 333; B, 334 ff; A, 141; E, 129. 264 Der Anfang bleibt unbedacht: ÜM, 73; A, 141; E, 129. 265 Der Anfang bleibt unentschieden: B, 162, 207. 266 Der Anfang bleibt ungegründet: BPh, 198, 358, 360; B, 95, 96, 110, 135, 154, 184, 323, 391; ÜM, 43, 73; GdS, 9, 24, 62; E, 13, 24, 25, 28, 29, 32, 56, 71, 124, 125, 127, 129, 260; NII, 418.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
6.
Das Vergessen des Ereignisses
Das Ereignis als der Anfang ist von Anfang an Untergang seiner selbst. Gleich nach dem Anfangen zieht er sich zurück und überlässt den Platz dem, was anfängt. Diese Bewegung des Anfangs in sich selbst zurück ist der Grund, warum das Ereignis immer von seiten des Menschen vergessen wird. Die Vergessenheit bedeutet aber den Untergang einer möglichen Welt, einer Welt nämlich, die das Ereignis bewahren könnte. Auf den ersten Blick scheint es also, dass das Vergessen des Ereignisses grundsätzlich etwas Negatives an sich hat. Man könnte denken, dass die Seinsvergessenheit bekämpft werden muss, was auch Heidegger in seiner Frühphilosophie und dann in Sein und Zeit versucht. Doch in seiner späteren Philosophie finden wir einen doppelten Begriff der Seinsvergessenheit, der aus dem Bedenken des Ereignisses und seiner Logik entsteht und das rechte Verhältnis zum Ereignis thematisiert. Es gibt einerseits die Vergessenheit im üblichen Sinne des Wortes, wenn etwas ganz einfach außer Acht gelassen wird. Es geht in diesem Fall um das »Nichtbedenken des Seyns« (B, 219). Solches Nichtbedenken ist in der ganzen metaphysischen Tradition charakteristisch. Sie denkt nur das Seiende und das Sein auch als das Seiende – als den Grund des Seienden, nämlich als die Seiendheit. Für die Vergessenheit des Ereignisses in der Metaphysik ist es wesentlich, dass auch sie selbst vergessen wird – es geht um die Vergessenheit des Vergessens. 267 Die Metaphysik weiß nichts davon, dass sie etwas vergessen hat. Doch die Vergessenheit des Seins in der Metaphysik, wo etwas bloß aus der Erinnerung verschwunden ist, gilt als »gleichgültig« und »oberflächliche« (B, 219). 268 Sie ist gleichgültig und oberflächlich in dem Sinne, dass ihr das Vergessen und das Vergessene nicht als etwas Besonderes erscheint. Sie regt sich über ihre Vergesslichkeit nicht auf: Es ist normal, dass man sich nicht an alles erinnern kann. Und sie ist oberflächlich, weil es für sie keine große Sache ist, sich an etwas wieder zu erinnern, es zu vergegenwärtigen und zu denken, wenn es schon aus der Vergessenheit geholt werden soll. Es scheint leicht zu sein, etwas wieder zu vergegenwärtigen, was vergessen worden ist, was sich entzogen hat und nicht festgehalten wurde. Das vorstellende Denken macht dies schließlich ständig. Es ist an sich die Vergegen267 268
Zur Vergessenheit des Vergessens siehe zum Beispiel: BPh, 114; B, 217; BV, 75. Siehe auch: B, 217, 218.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
wärtigung von dem, was war. Es ist an sich die Erinnerung. Die Frage ist, ob diese Art Erinnerung dem Ereignis gemäß ist. Und wenn nicht – welcher ist der richtige Bezug zum Ereignis, welches ist das Denken, das das Ereignis denken kann? In den vorherigen Abschnitten haben wir schon gesehen, dass das Ereignis kein vorstellendes Denken, sondern der Austrag ist, der seinerseits nicht mit einem Erlebnis zu verwechseln ist. Wir haben gesehen, dass das Ereignis das Sich-Befinden-In, das Mitten-Drin in einem Geschehnis ist. Und wir haben behauptet, dass dieses Geschehnis nicht als vorstellbarer Prozess zu deuten ist. Und im vorherigen Abschnitt haben wir gesehen, dass dieses Geschehnis grundsätzlich Verweigerung ist. Die Verweigerung ist die Verweigerung, zu einem Wesen, zu einem vorstellbaren Seienden zu werden. Sie ist nicht Abwesenheit, als ob es nichts gäbe. Es ereignet sich etwas, bloß weigert es sich, zu einem Wesen zu erstarren. Wir haben es hier also mit einer doppelten Bewegung zu tun, nämlich mit dem Ereignis als »sich selbst verweigernde[r] Zuweisung« (B, 99) 269 – das Ereignis verweigert sich, aber weist sich auch zu. Genauer gesagt: Es ist die Zuweisung, die sich verweigert. Diese sich weigernde Zuweisung ist das, was vergessen wird, weil sie sich entzieht und untergeht. Aber kann man eine Verweigerung, weil sie sich auch zuweist, wieder vergegenwärtigen, als ob sie ein Beständiges wäre, dem man immer begegnen kann, das man im Denken als ein Wesen bewahren kann? Natürlich nicht. Deswegen ist das rechte Verhältnis zum Ereignis nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen. Aber nicht das oberflächliche Vergessen, das nicht um sich selbst weiß, das nicht versteht, dass die Vergessenheit zur Wesung des Ereignisses gehört und das leicht in die Einholung des Vergessenen umschlägt, sondern die »ab-gründige Vergessenheit« (B, 217): »Die Seynsvergessenheit. Sie ist die ab-gründige (d. h. dem Seyn zugekehrte) Vergessenheit. Was in ihr vergessen (in einem ausgezeichneten Unbehalten behalten) bleibt, ist zunächst Jenes, was ständig im Seinsverständnis behalten wird und vor allem anderen in einem eigentümlichen Behalt verwahrt bleiben muß […]. Die Zugehörigkeit in die Wahrheit des Seyns und ihr zufolge die Ausgesetztheit in das Seiende gründet mit in einer Vergessenheit des Seins.« (B, 217)
Das abgründige Vergessen weiß, dass das Ereignis nicht vorstellbar, vergegenständlicht und festhaltbar ist, es weiß, dass das Ereignis die 269
Zu diesem Charakteristikum siehe: Besinnung, 237, 248, 295, 312.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Verweigerung des Wesens ist und dass diese Verweigerung nur zu behalten ist, wenn man nicht versucht, sie als ein Wesen zu behalten. Das Behalten besteht im »Unbehalten«, im »Verzicht« 270. Das abgründige Vergessen vergisst, indem es nichts behält, aber es auf diese Weise behält und nichts vergisst. Es ist das vergessende Nichtvergessen. Das Verhältnis zum Ereignis ist das »wissende Nichtwissen des Anfangs« (E, 250). Es ist »Ver-eignung«, die das Ereignis nicht als ein Seiendes zur Entbergung führt, sondern es in seiner Verbergung bewahrt: »Die Ver-eignung ist die abschiedliche Verwahrung des Ereignisses in den Abgrund seiner Innigkeit mit dem Anfang. Die Ver-eignung verbirgt den Anfang in seiner Anfängnis so, daß die Verbergung gelichtet ist und dadurch in ihrem ereignishaften Wesen gewahrt, nicht etwa in eine Entbergung aufgelöst.« (E, 149)
Das Denken besteht also im Vergessen. Es zeigt, dass die Erinnerung als Einholung eines Wesens das Ereignis nicht bewahren kann. Das Ereignis muss »abgründig« vergessen werden, damit es das Ereignis bleibt: »Im seynsgeschichtlichen Denken wird nur die Oberflächlichkeit der Seinsvergessenheit durchbrochen, niemals jedoch die Vergessenheit selbst überwunden, sondern ›nur‹ in ihre Abgründigkeit eröffnet. Diese Vergessenheit gehört zur Inständigkeit in der Lichtung des Seienden.« (B, 219)
Es ist richtig, dass Heidegger das seinsgeschichtliche Denken als »erinnernd« (an den ersten Anfang) und (den anderen Anfang) »vordenkend« 271 bezeichnet, doch diese Erinnerung ist nie eine Re-Präsentation, eine bloße Geschichte von etwas, was war, sondern eher die »Bereitschaft« zu einer Möglichkeit eines Ereignisses, das vielleicht irgendwann kommen wird: »Das seynsgeschichtliche Denken ist Erinnerung in den ersten Anfang als Vordenken in den anderen. / Aber auch dieses seynsgeschichtliche Denken 270 Dazu siehe zum Beispiel folgende Stelle: »West aber das Seyn als die Verweigerung und soll diese selbst in ihre Lichtung hereinragen und als Verweigerung bewahrt werden, dann kann die Bereitschaft für die Verweigerung nur als Verzicht bestehen. Der Verzicht ist hier jedoch nicht das bloße Nichthabenwollen und Auf-der-Seitelassen, sondern geschieht als die höchste Form des Besitzes, dessen Hohheit im Freimut der Begeisterung für die unausdenkbare Schenkung der Verweigerung die Entschiedenheit findet.« (BPh, 22 f) Siehe auch: BPh, 62. 271 Zum seinsgeschichtlichen Denken als Erinnerung in den ersten Anfang und Vordenken in den anderen Anfang siehe zum Beispiel: A, 97, 174; NII. 448.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
denkt nie ›über‹ den Anfang, als sei die Aussage ›über‹ das Wesen des Anfangs sein Wesentliches -; die Bereitschaft zur Über-eignung in das Er-eignis ist das Einzige.« (A, 141)
In der seinsgeschichtlichen Erinnerung ist das Ereignis nicht anwesend als das Beständige. Die Erinnerung ist die Bereitschaft zum Kommen und Abschied des Ereignisses. Sie ist somit das Verlassen, das Vergessen der beständigen Anwesenheit, weil das Ereignis Verweigerung ist. Produziert das vorstellende Denken das Wesen, an das es sich ständig erinnern kann, besteht das erinnernde Denken des Ereignisses im Vergessen jedes Wesens, das immer vorhat, sein eigenes Ereignis zu beschatten. Das Ereignis besteht darin, dass immer ein Wesen anfängt, von dem es sich verabschiedet, und sich dem Denken entzieht. Das erinnernde Denken des Ereignisses liegt in ständiger »Destruktion« des vom Ereignis selbst produzierten Wesens. 272 Nur so werden Unbehalten, Nichtwissen und Verzicht des Ereignisses gewährleistet. Die abgründige Seinsvergessenheit bewahrt den Abschied des Ereignisses, indem sie jedes Wesen vergisst und nichts behält. Wir reden von einem Denken, das nichts hat, nichts. Wir haben zuerst das Denken des Ereignisses als Austrag und Austrag als den Abgrund bestimmt, in dem die Unruhe, Fragwürdigkeit, Schutzlosigkeit erfahren werden. Wir haben darauf hingewiesen, dass diese Erfahrungen daraus entstehen, dass man es mit einem Nicht-Seiendem zu tun hat. Bestimmen wir jetzt das Denken als Vergessen, vergessendes Nichtvergessen, vergessende Erinnerung so sagt dies: Das Denken ist das Vergessen des Wesens, wenn man nichts hat, an dem man sich festhalten kann – »nichts Bildhaftes, nichts, was dem Greifen und Handhaben unmittelbar faßlich sein könnte« (E, 236). »Dies ist die anfängliche Armut.« (E, 236) Aber genau dieses abgründige Vergessen bewahrt das abschiedliche Wesen des Ereignisses. Der Anfang wird im Vergessen ausgetragen. 273 272 »Das seynsgeschichtliche Denken ist das untergängliche Denken. Es denkt aus dem letzten Untergang. Ist es deshalb zerstörerisch? Im Gegenteil. Es ist destruktiv als Ab-bauen der Verschüttung des Anfangs durch die Metaphysik.« (A, 142) 273 Wir werden später sehen, dass Levinas eine ähnliche Struktur des Ereignishaften aufdeckt. Er bestimmt das Ereignis als »eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war«. Das heißt, dass das Ereignis nie präsent ist, sondern schon immer vergangen. Was aber nicht präsent gewesen ist, kann auch nicht in Erinnerung zurückgerufen werden – es ist absolut vergangen, es ist wesentlich in Vergessenheit geraten. Die Vergangenheit bzw. die Vergessenheit ist der Modus, in dem das Ereignis als Ereignis
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
7.
Die Machtlosigkeit und Herrschaft des Ereignisses
Das Ereignis bricht ein, es schlägt wie ein Blitz ein. Es bricht die Zeit und räumt seinen eigenen Ort ein, es fängt etwas an. Es scheint, dass das Ereignis etwas Mächtiges sei. In der Tat spricht Heidegger von der »Herrschaft« des Ereignisses (oder sogar von seinem »Königtum« (E, 168)), die er aber der »Macht« entgegensetzt. Genauer gesagt: Heidegger setzt die Herrschaft dem Verhältniszusammenhang von Macht und Ohnmacht im Allgemeinen entgegen und spricht stattdessen von der »Machtlosigkeit« des Ereignisses des Seins, die eigentlich das Jenseits der Machtverhältnisse bedeutet: »Das Seyn ist in seinem Wesensgrund niemals Macht und daher auch nie Ohnmacht. Nennen wir es dann das Macht-lose, so kann dies nicht meinen, das Seyn entbehre die Macht, vielmehr soll der Name andeuten, daß das Seyn seinem Wesen nach losgelöst bleibt von der Macht. Dieses Macht-lose ist jedoch Herrschaft, aber Herrschaft im anfänglichen Sinne bedarf nicht der Macht; sie waltet aus der Würde, jener einfachen Überlegenheit der wesenhaften Armut, die eines Unter-sich und Gegen-sich nicht bedarf, um zu sein und jegliche Abschätzung auf ›groß‹ und ›klein‹ hinter sich gelassen hat.« (B, 192 f) 274
Das Ereignis des Seins ist also »machtlos« und trotzdem herrscht und »waltet« es – »aus der Würde«, wie Heidegger hier schreibt, wobei die Würde des Seins mit seiner Frag-würdigkeit in Zusammenhang gebracht wird 275. Das Sein wird gewürdigt, wenn es nicht als ein Ding behandelt, sondern in seiner Verweigerung gelassen wird. Wenn es begehrt und nicht besessen wird. Wie ist aber diese machtlose Herrschaft zu deuten? Die Macht wird bei Heidegger mit der gewalttätigen Unterbindung zusammengebracht. 276 Als solche ist die Macht durch die Wirksamkeit möglich – das, was wirksam ist, was etwas bewirken kann, ist mächtig, hat die Macht:
west. Die Gegenwart bzw. die Erinnerung als Ver-gegenwärtigung ist nie der Modus des Ereignisses. 274 Zur Unterscheidung von Macht und Herrschaft und zur Machtlosigkeit des Seins aus seiner Würde siehe: BPh, 47, 76 f, 282; B, 23, 52, 83, 96, 97, 112, 130, 135, 139, 187 f, 192, 193, 200, 219. 275 Die Würde und Fragwürdigkeit des Seins: BPh, 5, 57, 76; B, 276, 338; E, 138, 168, 196, 201, 241 ff, 248, 249, 328. 276 Siehe zum Beispiel: B, 16 f, 19.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
»Macht – das Vermögen des Wirkens, Sicherstellung und Berechnung und Einrechnung der Erfolge. Die Wirkung als Wirkend, ohne unmittelbar zu wirken! Macht aus ›Wirkung‹ – gerade nicht aus Möglichkeit.« (B, 189)
Aber nur das »Wirkliche« hat Wirkung. Und das Wirkliche ist das Seiende: »Im höchsten Sinne ›seiend‹ ist, nach der gewöhnlichen Schätzung, das Seiende als wirkliches. Die ›Wirklichkeit‹ gilt am höchsten. Sie bedeutet das Vorhandensein des Wirkenden; Wirkendheit und nichts anderes.« (B, 187) »Wirklichkeit als Maßmitte der Modalität, das Mächtige – das Wirkende – das Seiende.« (ebd.)
Für das Sein dagegen gilt: »das Seyn – das Wirkungsunbedürftige« (B, 62) 277. Das heißt: Das Sein ist machtlos in dem Sinne, dass es nichts bewirkt, nichts zu bewirken braucht. Das Sein hat mit der Wirkung nichts zu tun, genausowenig wie mit der Wirklichkeit – es ist nicht das Seiende, es ist nicht. Genau als seiend hat das Seiende die Macht, sich selbst in seiner beständigen Anwesenheit und Wesen aufrechtzuerhalten und die Wirkung in seiner Umgebung auszuüben. Oder vielleicht auch umgekehrt: Nur weil es die Macht hat, kann es langfristig sein. Das Sein ist aber nicht so – es ist etwas wesentlich sich Entziehendes, weil es der augenblickliche Anfang ist. Es ist da in diesem Moment und dann verschwindet es. Es hat keine Macht, zu bleiben und zu wirken und auf diese Weise seiend zu sein. Das Sein ist das Machtlose, weil es sich als das Ereignis verweigern muss: »Das Macht-lose – was ist Macht, Un-macht? Wie verstanden das -lose? Aus der Verweigerung. Die Wesensfolge. […] Machenschaft als Grund der Übermacht des Seienden und der Macht selbst – Ohnmacht des Seins, aber diese Ohnmacht der Schein der Verweigerung.« (B, 188) 278
Die Machtlosigkeit des Ereignisses ist aber nicht von Anfang da. Das Ereignis als Einbruch und Blitzschlag ist sehr wohl mächtig, wird aber dann »entmachtet«: »Im ersten Anfang der Seynsgeschichte aber mußte das Sein (φύσις) als »Macht« erscheinen, weil die verborgene Verweigerung zuvor und überhaupt nur im Überfall offenbar werden konnte. Die Entmachtung der φύσις aber hat nicht etwa den Machtcharakter, das erstnotwendige Vorgründige Zur Wirkungsunbedürftigkeit des Seins siehe auch: B, 63, 83, 352. Zum Zusammenhang von Verweigerung und Machtlosigkeit siehe: B, 101, 136, 200, 203. 277 278
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
(Begegnishafte), beseitigt, sondern nur geschwächt, so daß es dann übergehen konnte in den Charakter der ἰδέα und der Gegenständlichkeit; […].« (B, 191) 279
Diese »Entmachtung« geschieht natürlich nicht von außen, als ob das Ereignishafte an irgendwelchen Machtspielen teilnehmen und dann an Macht verlieren würde, sondern liegt darin, dass das Ereignishafte Verweigerung ist und deswegen machtlos werden muss. Es übergibt seine Macht dem, was in ihm entsteht, nämlich dem Seienden: »Die φύσις wird nicht entmachtet, gleich als sei sie selbst im Wesensgrunde Macht; wohl aber entäußert sich das Seyn des Vorranges vor dem Seienden und überläßt diesem die Hervorkehrung des Machtcharakters in dem nur noch vordergründig begriffenen Sein.« (B, 194) 280
Der Einbruch des Ereignisses kann nicht ohne Macht geschehen – es ist ein Überfall. Aber genauso ist es auch unvermeidbar, dass das Ereignis sich entziehen muss und sich deswegen als das Machlose zeigt, dass nicht durch eine Wirkung von außen, sondern von sich selbst aus, seine Macht dem ständig Anwesenden überlässt. Aber das Ereignis hat sich schon ereignet, mit der Verweigerung wird es nicht rückgängig gemacht. Ganz im Gegenteil – das Ereignis initiiert eine Geschichte, die aber ihren Anfang notwendigerweise vergisst. Und genau diese vergessene Anwesenheit des Anfanges in der Geschichte wird bei Heidegger als die Herrschaft des Ereignisses verstanden. Die initiierte Geschichte trägt ihren Anfang immer noch in sich, obwohl er sich schon längst entzogen hat. Deswegen auch die Rede von der »stille[n] Herrschaft des Seyns« (B, 254) 281, von der Nähe der Geschichte zu ihrem Anfang: »Auch im Weltalter der Seinsverlassenheit, da der Wille zum Willen einzig den Vorrang des Seienden betreibt und das Sein vergessen ist, bleibt es doch in der wesenhaften Nähe, die zur Lichtung seines Bezugs zum Menschenwesen geborgen wird. Diese Nähe west aus der geheimnisvollen Wesung Zur Entmachtung siehe auch: BPh, 126; B, 188, 193. Das Seiende wird mächtig durch die Verweigerung des Seins: B, 188, 190 f, 194. 281 Die stille Herrschaft des Seins: BPh, 62; B, 112, 343. Das Ereignis hat wesentlich die Struktur, dass es immer noch da ist und wirkt, auch wenn es vergessen worden ist. Romano schreibt diesbezüglich: »Les événements ayant-eu-lieu, qu’ils soient oubliés ou non comme faits, n’en continuent pas moins à faire sens pour l’advenant, qu’il puisse se rapporter à ce sens pour le comprendre ou que celui-ci demeure enfoui se dérobant à lui et structurant son aventure elle-même à son »insu«. Le sens, en effet, n’a pas à être thématique […].« (ET, 217) 279 280
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des Seins, die, ereignishaft erfahren, als die Enteignung sich offenbart. So ist die Nähe des Seins unausweichlich. Sie muß daher auch noch in der Seinsverlassenheit erscheinen und in der Verhüllung sich bekunden.« (E, 79)
Für das Ereignis des Seins bedeutet die stille Herrschaft, dass auch dann, wenn der Anfang sich zurückzieht und in die Vergessenheit geriet und die ganze Macht dem Seienden überlässt, immer noch das Seiende als Seiendes herrscht – überall, wo das Seiende ist, west sein Anfang als Aufgehen in die Sichtbarkeit. Überall, wo eine Beziehung gepflegt wird, west die erste Begegnung. Überall, wo es religiöse Streitigkeiten gibt, west die Offenbarung Gottes als die anfängliche Ermöglichung jedes religiösen Streites unter den Menschen.
8.
Der Anfang als Gründer der Geschichte
Das Ereignis ist der Augenblick des Einfalles, der sich sofort entzieht. Es ist machtlos und behauptet sich nicht gegenüber dem Seienden, sondern lässt es mächtig werden. Doch das Ereignis ist auch unwiderruflich geschehen und etwas mit sich gegeben, etwas ermöglicht, in dem es als sein Anfang unmerklich herrscht – der anfängliche Augenblick gründet eine Geschichte. 282 Diesbezüglich spricht Heidegger vom Ereignis als »Grund der Geschichte« (B, 92) oder »Augenblick der Geschichte« (B, 98). Das Ereignis ist das, »dem jede künftige Geschichte entspringt« (BPh, 23), es ist die »ursprüngliche Geschichte selbst« (BPh, 32): »Sein ›ist‹ der Anfang und also Geschichte / (die Seynsgeschichte).« (A, 175) 283 282 Jedes Ereignis gründet eine Geschichte. Die Metaphysik ist die Geschichte des Ereignisses des Seins. Das Ereignis lässt das Seiende sein. Das Seiende kommt zum Vorschein. Das Ereignis entzieht sich. Das Seiende übernimmt die ganze Szene. Die Metaphysik entsteht durch das Aufkommen des Seienden – sie als das Denken des Seienden wird durch das Ereignis in Gang gesetzt. Durch seinen Entzug setzt das Ereignis aber noch einen Prozess in Gang, nämlich die Seinsvergessenheit. Die Metaphysik denkt nur das Seiende und so erhält es seine Machtstellung vor dem Ereignis aufrecht. Die Metaphysik ist die »Vormacht des Seienden« (NI, 429). »Die Metaphysik denkt das Seiende im Ganzen nach seinem Vorrang vor dem Sein.« (NI, 430) 283 Bereits zitiert im Teil I. Siehe auch: A, 64, 171; NII, 447. Jedes Ereignis eröffnet wesentlich eine Geschichte. Diesen Strukturmoment der Logik des Ereignisses behauptet auch Romano, wenn er zum Beispiel schreibt: »Ainsi, une rencontre ne serait
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Weil das Ereignis der Anfang ist, fängt es etwas an, ist Geschichte. Dies bedeutet, dass mit dem Einbruch des Ereignisses als dem Anfang ein Horizont bestimmter nacheinander folgender Möglichkeiten (»Epochen« 284) eröffnet wird. Es geht darum: »[…] was der Anfang, vorspringend seiner Geschichte, als Möglichkeiten setzt und entscheidet.« (B, 223) 285
Das Ereignis gründet also nicht irgendeine Geschichte, sondern seine – es ist seine Geschichte und die Geschichte ist ihr anfängliches Ereignis. 286 Das, was der Anfang gibt, ist von ihm beherrscht, »folgt« ihm, »ahmt« ihn »nach«: »Bedenken wir, daß einmal erst in der Geschichte des Seins dieses selbst Anfang wurde und ist und die Geschichte doch nur eine Nachfolge und Nachahmung des Anfangs […].« (B, 130)
Im welchen Sinne ahmt die Geschichte den Anfang nach? Indem sie – welche Gestalt sie auch annehmen würde – an sich das trägt, was sich am Anfang ereignet hat. Die Geschichte kann (und muss) den Anfang vergessen, aber trotzdem wiederholt sie die Möglichkeit, die vom Anfang geschaffen worden ist:
pas une rencontre si elle n’ouvrait un destin ultérieur, si elle ne trouvait son prolongement dans une histoire et s’épuisait dans l’initial face-à-face.« (ET, 178) Man kann wirklich soweit gehen, dass man behauptet, dass das, was keine Geschichte hat, kein Ereignis gewesen ist. Die »Geschichte« muss hier aber im breiten Sinne verstanden werden. Eine Begegnung zum Beispiel hat die Geschichte nicht nur dann, wenn sie zu einer langjährigen Beziehung wird, aber auch dann, wenn sie den Begegnenden einen besonderen Moment ihres Lebens ausmacht – eine solche Begegnung ist dann ein Ereignis, weil sie das Leben der Betroffenen verändert, mitkonstituiert und deswegen nicht aus dem Leben wegzudenken ist. Wenn sie aber in der Zukunft nach der augenblicklichen Begegnung nicht mehr wegzudenken ist, ist sie eine Geschichte – sie verlängert sich in die Zukunft, lebt weiter in der Auseinandersetzung der Betroffenen mit diesem Moment. 284 »Inwiefern ist dann Entbergung Geschichte? Weil die Lichtung des Seyns das Wesen der Geschichte erfüllt, die dem Er-eignis entstammt und als dieses je das Wesen der Wahrheit entscheidet und mit dieser Entscheidung eine ›Zeit‹ anhält und ›Epochen‹ gründet, die verborgener wesen und geschieden sind als die Zeitalter der ›Welt‹geschichte.« (E, 19) 285 Für Romano ist das Ereignis »possibilisation« (EM, 61), da es die Möglichkeiten eröffnet, sie möglich macht. Es ist an sich schon Fülle, »Reserve an Möglichkeiten« (réserve de possibilités) (ET, 178). 286 »Die Geschichte des Seins ist selbst Ereignis und alles in ihr ereignishaft.« (A, 173) Siehe auch: GdS, 20, 28, 101, 102.
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»Sogar in der Seinsvergessenheit der Metaphysik, der gemäß sie die Wahrheit des Seyns und in ihr das Seyn selbst nie erfahren kann, west noch das erstanfängliche Wesen des Seins.« (E, 105) 287
Das anfängliche Ereignis gründet seine Geschichte, die es bewusst oder unbewusst wiederholt, indem sie von ihm beherrscht bleibt. Man kann aber auch umgekehrt denken: Nicht nur jedes Ereignis hat seine Geschichte, sondern auch jede Geschichte ihren Anfang. Keine Geschichte ist lose, sondern immer an einem Horizont der Möglichkeiten gebunden. Doch die Geschichte ist nicht bloß ein Haufen verschiedener verwirklichter Möglichkeiten – sie ist zusammengefügt. Zusammengefügt aber nicht so, dass jede Etappe notwendig zu der nächsten führt, sondern durch die Zugehörigkeit zum Anfang. Der Ablauf der Geschichte ist also nicht determiniert und vorhersehbar, aber trotzdem auch nicht zufällig, sondern zugehörig: »Nach dem so zu denkenden Sinn von Geben ist das Sein, das es gibt, das Geschickte. Dergestalt geschickt bleibt jede seiner Wandlungen. Das Geschichtliche der Geschichte des Seins bestimmt sich aus dem Geschickhaften eines Schicken, nicht aus einem unbestimmt gemeinten Geschehen. / Seinsgeschichte heißt Geschick von Sein. […] Die Folge der Epochen im Geschick von Sein ist weder zufällig, noch läßt sie sich als notwendig errechnen.« (ZS, 12 f)
Wenn man also an einem Punkt in der Geschichte steht, so kann man nicht den nächsten Punkt errechnen oder erklären, wie der vorherige Punkt zu dem jetzigen gekommen ist, aber man kann alle Punkte aus einem Ursprung kommend sehen. 288 Mehr noch: Bestimmt man die Epochen einer Geschichte als aus einem Anfang kommend, so kann man behaupten, dass sie sich, zuerst zeitlich gesehen, vom Anfang 287 In der Geschichte sind immer noch die Spuren des Anfangs spürbar: E, 104, 105, 106, 125. Genau in diesem Kontext ist zum Beispiel die Behauptung zu verstehen, dass »das Ge-Stell«, das, wie bekannt »die vollendete Vergessenheit der Wahrheit des Seins« (BV, 53) verkörpert, »das Sein selber« ist (BV, 52). 288 »Die Geschichte des Seyns kennt keine Abfolge; die Fügung der Geschichte des Seyns ist anfänglich und in den Anfang zurück. Wo wir die Entwindung und den Fortgang zur Metaphysik erfahren, da ist dieses nicht Aufeinanderfolge von Stadien. Solches findet nur die historische Nachrechnung, die zuvor alles auf das Erklären gestellt hat, welches Erklären auch schon das bestimmt, woraus und wie abgeleitet wird. Die Historie kann nicht und nie das Anfängliche denken. Die Geschichte des Seyns ›ist‹ zumal stets der Anfang. Und der Anfang ist eh und je in jedem, was uns zunächst, bei der Bekanntmachung, wie eine Phase eines Ablaufes vorkommt.« (E, 76)
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entfernen. Dieses Sich-Entfernen ist aber nicht zufällig – es ist eine seinsgeschichtliche Notwendigkeit. In der Tat spricht Heidegger von der »Notwendigkeit der Seinsgeschichte« (E, 61). 289 Das heißt, dass die Geschichte als zu einem Ereignis zugehörig doch einer Gesetzlichkeit folgt, nämlich dem Gesetz des Ereignisses. Worin liegt diese Gesetzlichkeit? Ganz einfach: Weil das Ereignis sich entzieht, entfernt sich die Geschichte von ihrem Anfang. Sie muss sich entfernen, sie muss das Ereignis vergessen, weil sie zu ihm gehört. So ist die Geschichte des Abendlandes notwendigerweise die Geschichte der Seinsvergessenheit. Sie ist kein Zufall, sondern folgt der Logik des Ereignishaften – weil das Ereignis sich entziehen muss, ist die Geschichte die der Seinsvergessenheit. Mehr noch: Je weiter sich ein Zeitalter vom Anfang befindet, desto stärker die Seinsvergessenheit. Jedes weitere Zeitalter vergisst das Sein mehr als das Vorherige. 290 Am Ende weiß man überhaupt nicht mehr, woher man gekommen ist. Oder genauer gesagt: Das Ende ist dann, wenn man nicht mehr weiß, woher man gekommen ist. Der Untergang als die Entfernung der Geschichte von ihrem Anfang ist aber nicht die einzige Notwendigkeit der Seinsgeschichte, die aus der Logik des Ereignisses hervorgeht. Irgendwann schlägt der Untergang des ersten Anfangs in den Übergang zum einen neuen – anderen – Anfang um. Irgendwann schlägt die Metaphysik ins Seinsdenken um: »[M]an kann immer nur vergessen und sich vom Wissen ausschließen, daß eine Wahrheit des Seyns als Ereignis jeder Geschichte ihre Geschichtlichkeit bestimmt und über die Möglichkeit und Notwendigkeit der jeweiligen Art der Seinsfrage schon entschieden hat. Jetzt stehen wir, ob wir es erfahren oder nicht, ob wir das Erfahrene »wahr« haben wollen oder nicht, im Übergang von der metaphysischen zur seynsgeschichtlichen Seinsfrage. Dies deutet auf einen einzigen Augenblick der Geschichte des Seyns.« (B, 338)
Zur Logik des Ereignisses gehört also nicht nur der Untergang des Anfangs aufgrund seines Entzuges, sondern auch das Ende der GeDie Notwendigkeit(en) der Geschichte des Seins: BPh, 205, 208, 221; B, 283. Dazu siehe auch: »Der Wink dahin, daß solche Verweigerung sich ereignet, verbirgt sich im Geschick des Seins, welches Geschick sich in die Epochen der Seinsvergessenheit fügt, so zwar, daß diese Epochen gerade als diejenigen der Entbergung des Seienden in seiner Seiendheit die abendländische Geschichte bestimmen bis in ihre heutige Entfaltung zur planetarischen Totalität.« (BV, 51) 289 290
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schichte dieses Unterganges, der Übergang zum anderen Anfang, der allerdings nicht in der Macht des Menschen liegt.
9.
Der erste Anfang, der zweite Anfang und der Zwischenfall
Unvorhersehbar bricht das Ereignis in die Welt ein und gibt der Menschheit eine Gabe – die Möglichkeit, das Sein zu verstehen, die Möglichkeit in der offenen Lichtung zu stehen und den Abgrund zu ertragen. Eine solche Möglichkeit ist nicht natürlich, sie entspringt nicht den Gesetzen der Natur, sondern wird dem Menschen von außen geschenkt, sodass er das Natürliche verlässt und zum Dasein wird. Die vom anfänglichen Ereignis ausgelöste Geschichte (für Heidegger ist das die Metaphysik als das Denken der Seiendheit) ist ebenfalls kein natürlicher Vorgang, sondern daseinsmäßige Fortsetzung und Auseinandersetzung mit dem im Anfang Gegebenen. Der Verlauf dieser Geschichte folgt keinen Vorgaben der Natur. Dies bedeutet nicht, dass deswegen die Ereignisse der Geschichte zufällig sind. Nein, sie folgen einer anderen Logik – der Logik des Ereignishaften. Wir haben schon zwei Notwendigkeiten der Seinsgeschichte, die aus dieser Logik entspringen, erwähnt. Erstens ist die Geschichte des Abendlandes die Geschichte der Seinsvergessenheit. Zweitens vergisst jedes weitere Zeitalter das Sein mehr als das Vorherige. Es gibt aber noch eine weitere Notwendigkeit – die Notwendigkeit des anderen Anfangs. Es ist schon seit dem ersten Anfang (für Heidegger steht ganz in der Nähe des ersten Anfangs das Denken von Anaximander, Heraklit und Parmenides) 291 entschieden, dass »[…] der andere Anfang des Denkens immer nur das Geahnte aber doch schon Entschiedene bleibt.« (BPh, 4) 292
Es geht also um einen zweiten Anfang nach dem ersten. Man könnte denken, dass, wenn Heidegger von dem anderen Anfang spricht, dann von einem anderen diskreten Anfang spricht. So ist es aber nicht. Der andere Anfang steht im unzertrennlichen Verhältnis zu dem ersten – Siehe auch: E, 55, 56, 61, Der andere Anfang ist die Notwendigkeit des ersten Anfangs: BPh, 169, 328; E, 84 f, 110; NII, 444. 291 292
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er ist der andere gegenüber dem ersten, sie beide gehören zu demselben Ereignis, sie sind dasselbe Ereignis (allerdings nur im anderen Anfang): »Der erste und der andere Anfang sind nicht zwei verschiedene Anfänge. Sie sind das Selbe – aber sind es jetzt im Inzwischen, das sich als Vorbeigang dem Erfahren öffnet.« (E, 28)
Der erste und der andere Anfang sind nicht »das Selbe«, weil an ihnen beiden das Selbe geschieht, sondern weil sie zusammengefügt durch das Gesetz des Ereignisses sind – zum ersten Anfang gehört der andere und der andere ist der andere, weil der erste gewesen ist. 293 Noch genauer: Der erste Anfang schickt das, was zu seinem Anfang ungedacht, unangefangen bleibt und erst im anderen Anfang anfangen kann, allerdings nur deswegen, weil der erste Anfang es vorher gegeben hat: »Was der erste Anfang ist; was der Anfang ist; was der andere. Der andere Anfang ist die Anfängnis des unangefangenen (d. h. ersten Anfangs).« (E, 29) 294 »Der erste Anfang bedarf des anderen, sonst wäre er nicht der erste. Doch dieses Bedürfen ist nicht ein Mangel, sondern der unausgetragene Reichtum des Ersten, das einzig die Vor-läufigkeit des Anfangs in sich birgt.« (E, 67 f.)
Der erste Anfang bleibt nicht nur deswegen ungedacht und ungegründet und geriet in Vergessenheit, weil er sich entzieht, sondern auch, weil er das gibt, was für die Zukunft bestimmt ist – er ist »vorausgreifend«, niemand kann jetzt begreifen, was er gibt, bevor er in der Geschichte seine Möglichkeiten gezeigt hat. 295 Erst nachdem der 293 Heidegger sagt oft, dass etwas »das Selbe« wie etwas anderes ist. Die Selbigkeit denkt er nie als Identität: »Allein das Selbe ist nicht das Gleiche. Im Gleichen verschwindet die Verschiedenheit. Im Selben erscheint die Verschiedenheit.« (ID, 55) Er denkt sie als Zugehörigkeit zu einander: »Wir legen die Selbigkeit als Zusammengehörigkeit aus.« (ID, 36) 294 Zur These, dass erst im anderen Anfang der erste anfängt und erfahrbar wird, siehe auch: BPh, 128, 186, 187; GdS, 28; E, 27, 28, 30, 56, 68, 87, 96, 116, 137, 206, 228, 307. 295 Auf diesen Strukturmoment weist auch Romano hin, wenn er von »Aufschub« (sursis) (ET, 179) der Bedeutung des Ereignisses spricht. Das Ereignis an seinem Anfang gibt Bedeutungen, die sich erst später in der Geschichte entfalten. In diesem Sinne ist das Ereignis »prospectif« (ET, 179). Das Ereignis gibt also die Möglichkeiten, die für die Zukunft vorbehalten sind.
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erste Anfang seine Möglichkeiten erschöpft hat, d. h. an sein Ende gelangt ist, kann der andere Anfang sich mit der Geschichte auseinandersetzen, sie auf einen Anfang zurückführen und so den ersten Anfang »wiederholen«, d. h. eigentlich anfangen. 296 Aber es ist notwendig, dass es zu dieser »Wiederholung« genau deswegen kommt, weil der erste Anfang vorausgreifend ist: »Der Anfang ist das Sichgründende Vorausgreifende; sich gründend in den durch ihn er-gründeten Grund; vorausgreifend als gründend und deshalb unüberholbar. Weil jeder Anfang unüberholbar ist, deshalb muß er stets wiederholt, in der Auseinadersetzung in die Einzigkeit seiner Anfänglichkeit und damit seines unumgehbaren Vorgreifen gesetzt werden. Diese Auseinandersetzung ist dann ursprüngliche, wenn sie selbst anfänglich ist, dies aber notwendig als anderer Anfang. Nur das Einmalige ist wieder-holbar. Nur es hat in sich den Grund der Notwendigkeit, daß wieder zu ihm zurückgegangen und seine Anfänglichkeit übernommen wird. Wieder-holung meint hier nicht die dumme Oberflächlichkeit und Unmöglichkeit des bloßen Vorkommens desselben zum zweiten und dritten Mal. Denn der Anfang kann nie als dasselbe gefaßt werden, weil er vorgreifend ist und so je das durch ihn Angefangene anders übergreift und demgemäß die Wieder-holung seiner bestimmt.« (BPh, 55)
Der erste Anfang greift voraus, er greift bis zu seinem Ende voraus. Die Geschichte des ersten Anfangs ist von ihrem Anfang »still beherrscht«. Es kommt aber notwendig zum Ende dieser Geschichte, wenn der Anfang seine Möglichkeiten erschöpft hat 297 und wenn das Denken (und das ganze Menschentum) diese stille Herrschaft nicht mehr im Verborgenen spürt, d. h. wenn die »Not« erfahren wird. So 296 Genau wegen dieser in den früheren Abhandlungen zum Ereignis herausgearbeiteten Logik, kann Heidegger später – 1957 – sagen: »Sie [Geschichte – L. P.] ist Ankunft des Gewesenen.« (ID, 130) Die Geschichte als Entfaltung des ersten Anfangs, der unbemerkt blieb, lässt ihn irgendwann in der Zukunft noch einmal ankommen. Auch Badiou wird später sagen, dass das Ereignis wesentlich eine »Zwei« (Deux) (SE, 239/EeE, 233) ist, was nichts anderes heißt, dass es das ist, was absolut anfängt und nicht erfasst wird, und das, was später als Ereignis benannt wird. 297 »Was meint aber dann ›Ende der Metaphysik‹ ? Antwort: den geschichtlichen Augenblick, in dem die Wesensmöglichkeiten der Metaphysik erschöpft sind.« (NII, 179) Auch Romano definiert das Ende einer Geschichte auf diese Weise: »[U]ne histoire est ›finie‹, non pas quand sont complets les faits qui la composent, mais quand elle a épuisé ses possibles intrinsèques […].« (ET, 297) Romano – im Gegensatz zu Heidegger – schließt allerdings daraus nicht, dass nach dem ausgeschöpften Ereignis notwendigerweise ein anderes Ereignis kommen muss. Und es ist überhaupt fraglich, ob man eine Regel für das Ankommen des Ereignisses aufstellen kann, wie Heidegger dies tut, und ob die Ereignisphilosophie damit nicht in die Metaphysik zurückfällt.
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ist es mit dem ersten Anfang schon vorausbestimmt, dass irgendwann das Denken die Not des Ereignishaften spüren und es sich notwendigerweise in dieser Not an den Anfang als seinen Grund in der Besinnung erinnern und so den Übergang zum anderen Anfang, in dem der erste wiederholt werden wird, vorbereiten wird. Diese Notwendigkeit entstammt nicht der Natur oder dem logischen Denken, sondern dem Ereignis selbst, das zu der Not seiner selbst führt: »Woher aber kommt der künftigen Philosophie ihre Not? Muß sie nicht selbst – anfangend diese Not erst erwecken?« (BPh, 99) »Nur aus einer Not kann die Notwendigkeit stammen, und die Not selbst? Sie gehört dem unbefreiten Überfluß der Wesung des Seyns selbst.« (B, 317) 298
Wann wird die Not erfahren? In der Zeit völliger Seinsvergessenheit, d. h. am Ende des ersten Anfangs. 299 Für Heidegger ist aber die Erfah298 Aus der Not (des Seins) entsteht die Notwendigkeit (sich an den ersten Anfang zu erinnern): BPh, 28, 45, 46, 96, 97, 99, 412; B, 41, 307; E, 166, 177. 299 Für Heidegger ist das Ende und die Vollendung der Metaphysik die Philosophie Nietzsches. Wie aber ist genau Nietzsche der letzte Pfosten der Metaphysik? Weil er den Gedanken vom »Willen zur Macht« entwickelt hat: »Im Gedanken des Willens zur Macht vollendet sich zuvor das metaphysische Denken selbst. Nietzsche, der Denker des Gedankens vom Willen zur Macht, ist der letzte Metaphysiker des Abendlandes.« (NI, 431) Was denkt dieser Gedanke? Zuerst muss er im Kontext des Wertgedankens begriffen werden: »Der Wertgedanke ist ein notwendiger Bestandstück der Metaphysik des Willens zur Macht.« (NII, 83) Der Wert ist das, was als der Grund für ein Gegründetes verstanden wird: »›Wert‹ ist dann nur ein anderer Name für ›Bedingung‹ der Möglichkeit« […].« (NII, 208) Der Wert ist zwar die Bedingung, er wird aber selbst gesetzt, nämlich durch den Willen zur Macht: »Nietzsche bestimmt das Wesen des Wertes dahin, Bedingung der Erhaltung und Steigerung des Willens zur Macht zu sein, so zwar, daß diese Bedingungen vom Willen zur Macht selbst gesetzt sind.« (NII, 207) Dies ist der entscheidende Punkt: Der vermeintliche Grund wird selbst gesetzt – der Wert bedingt den Willen, aber er ist selbst vom Willen gesetzt. Darin liegt auch Nietzsches »Umwertung« – der Grund wird vom Gegründeten gesetzt, verliert damit seinen Wert und die Macht als die Setzung von allem (sogar einem Grund) wird selbst zum Wert – zum »einzige[n] Grundwert« (NII, 109). Der Wille zur Macht denkt also den Grund – das Sein – als gesetzt (er will es setzen) und das ist die höchste Seinsvergessenheit und damit die Vollendung der Metaphysik, da das Sein der Grund, die Ermöglichung, das Geben ist. Weil ab jetzt nichts mehr (dem Menschen) gegeben ist, sondern nur (von ihm selbst) gesetzt, d. h. gemacht, spricht Heidegger vom Zeitalter der »Machenschaft«: »Machenschaft (seynsgeschichtlich begriffen) / Dieses Wort nennt jenes Wesen des Seins, das alles Seiende in die Machbarkeit und Machsamkeit entscheidet. Sein besagt: Sicheinrichten auf die Machsamkeit, so zwar, daß diese selbst das Sicheinrichten in der Mache hält. / Metaphysikgeschichtlich erläutert sich die Machenschaft durch die Seiendheit als Vor-gestelltheit,
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rung der Not das erste Zeichen für die Möglichkeit des anderen Anfangs, weswegen das Zeitalter der Not zum Zeitalter des Überganges wird. Im Übergang fällt der Untergang des ersten Anfangs mit dem »Anklang« 300 des zweiten Anfangs zusammen – die »Verweigerung (das Nichthafte des Seyns) im Äußersten« ist dasselbe wie die »fernste Er-eignung« (BPh, 8); »die ›Seinsverlassenheit‹ ist ›Anklang des Seyns‹ (BPh, 141):« »So ist die abendländische Metaphysik an ihrem Ende der Frage nach der Wahrheit des Seyns am fernsten und doch zugleich am nächsten, indem sie den Übergang dahin als Ende vorbereitet hat.« (BPh, 201) 301
Heidegger nennt diese Situation »Vorbeigang« – wenn sich das Ende des ersten Anfangs und der Anklang des anderen Anfangs zu derselben Zeit ereignen (dasselbe sind), ohne jedoch von einander zu wissen – sie gehen einander vorbei: »Diese Zeit bestimmt sich dadurch, daß die äußerste Seinsverlassenheit als Herrschaft des Willens zum Willen vorbei geht am Anklang der Verwindung des Seyns in den anderen Anfang, welcher Anklang selbst in jener Verwüstung vorbei geht. Der Vorbeigang ist die höchste Konstellation der Seinsverlassenheit und der Seinsverwindung. Im Zeit-Raum dieser Kon-stellation ereignet sich die Geschichte des Beginns des eigentlichen Abend-landes.« (E, 92) 302
Dies bedeutet auch, dass es im Zeitalter des Vorbeigangs grundsätzlich zwei Haltungsmöglichkeiten gibt: Etweder hält man sich an dem »Alten«, oder ahnt und will das »Neue«. Der erste Anfang endet notwendigerweise irgendwann. Sein Ende ist aber die Notwendigkeit des anderen Anfangs. Diese Notwendigkeit wird dadurch realisiert, dass die Not des Ereignishaften aus dem Ereignishaften selbst herrscht, die am Ende des ersten Anfangs erfahren wird. In dieser Not »verlangt« (B, 57) und »fordert« (B, 310) das Sein vom Denken die Erinnerung an den Anfang; das Sein in der es auf Her-stellbarkeit in jeder Abartung abgesehen ist.« (GdS, 46) Die Machenschaft ist das Gegenteil zum Ereignis. 300 In den Beiträgen teilt Heidegger den Übergang zum anderen Anfang in sechs Etappen ein, die er »Fügungen« der »Fuge« nennt. Diese Fügungen sind: der Anklang, das Zuspiel, der Sprung, die Gründung, die Zukünftigen und der letzte Gott (BPh, 6). Der Anklang ist die erste Etappe und bedeutet »die Anerkenntnis der Not« (BPh, 107), wenn man dazu kommt, dass man ein Fehlen (des Anfanges) spürt. 301 Siehe auch: BPh, 228. 302 Zum Vorbeigang siehe auch: E, 84 f, 86, 92, 95, 138, 161, 248.
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»zwingt« (B, 197) zur Erinnerung. Die Not ist also durch und durch von der Wesung des Ereignisses selbst beherrscht. Trotzdem gibt es im Übergang zum anderen Anfang im Vergleich zum ersten Anfang eine wesentliche Verschiebung. In dem ersten Anfang gehört die ganze Initiative dem Ereignis, und der Mensch ist nur ein passiver Empfänger. Im anderen Anfang darf der Mensch aber nicht völlig passiv bleiben. Weil seine Passivität im ersten Anfang dazu beigetragen hat, dass das Sein ungefragt, unentschieden und ungegründet blieb. Der Mensch war zwar nicht der Grund der Ungegründetheit, sondern die Verweigerung selbst, aber genau durch ihn konnte die Verweigerung geschichtlich zur Vergessenheit des Vergessens werden: »Gegenwendig entspricht dem Da-seyn im Ereignis der Untergang dergestalt, daß im Da-seyn erst und hier allein der Untergang geschichthaft wird.« (E, 150) 303
Das zweite Ereignis, das Ereignis im Übergang zum anderen Anfang braucht einen Empfänger, der es bewusst aufnehmen kann, sonst bleibt es immer nur im Verborgenen: »Weil das Seyn als Verweigerung außerhalb von Macht und Ohnmacht zumal ist die Not der Nötigung in die Gottschaft der Götter und in die Wächterschaft des Menschen, muß ihm, anders denn je in seinem ersten Anfang, der Mensch entgegenkommen; nicht als ob er das Seyn und seine Wahrheit jemals an sich reißen könnte – die Entgegenkunft ist nur Vorbereitung der Bereitschaft für das kaum erzitternde Beben, mit dem der Abgrund sich zwischen alles Seiende legt und die Entscheidung zwischen den Göttern und Menschen fordert.« (B, 96 f)
Diesmal hat das Dasein nicht nur die Rolle eines passiven Ortes für das Geschehen des Seins. Im Übergang zum anderen Anfang hat der Mensch die wesentliche Rolle, der »Gründer der Wahrheit des Seyns« (B, 163) zu sein. 304 Die Gründung, wie wir noch später sehen werden, bedeutet nicht »Erschaffung« des Ereignisses, sondern – insofern das Sein der Grund ist – das »Grund-sein-lassen« (BPh, 31). Der Mensch muss ganz bewusst den Anfang Anfang sein lassen. Doch wie kommt 303 »Alle Ereignisse in der Geschichte des Seins, die Metaphysik ist, haben ihren Beginn und Grund darin, daß die Metaphysik das Wesen des Seins unentschieden läßt und lassen muß, sofern ihr eine Würdigung des Fragwürdigen zugunsten der Rettung ihres eigenen Wesens von Beginn an gleichgültig bleibt, und zwar in der Gleichgültigkeit des Nicht-Kennens.« (NII, 418) Siehe auch: E, 206. 304 Dementsprechend ist die vierte Etappe des Überganges in den Beiträgen »die Gründung«.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
er zum Anfang, der in der Not anklingt und nur entfernt erahnt wird? Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des ersten Anfangs, also mit der Metaphysik. 305 Diese Etappe des Überganges nennt Heidegger »Zuspiel«, und ihre Aufgabe ist, die Geschichte auf ihren Anfang zurückzuführen und so dem Anfang näher zu kommen, d. h. durch die Geschichte das Zuspiel des Anfangs aufzufangen. Weil aber eine solche Auseinandersetzung mit der Geschichte nach ihrer Herkunft und ihrem eigentlichen Wesen fragt, ist sie schon die Überwindung dieser Geschichte, weil die Metaphysik sich selbst nicht befragen kann – dazu braucht man eine andere, nämlich die seinsgeschichtliche, Denkweise. 306 Somit ist der Übergang, der sich im Denken des Ereignisses vollzieht, die Überwindung der Metaphysik: »Der Wandel ereignet sich im Übergang in den anderen Anfang, der die Überwindung der Metaphysik ist […].« (E, 164)
Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihre Überwindung, »springt« der zukünftige Gründer ins Ereignis. 307 Der Sprung in den Anfang und die Gründung sind also die Eröffnung der Möglichkeit, durch die der erste Anfang endlich anfangen kann, aber sie sind auf keinen Fall die Auslösung des anderen Anfangs – das Anfangen liegt nicht in der Macht des Gründers, sondern des Anfangs selbst. Der erste Anfang ist derjenige, der mit seiner Gabe vorausgreifend ist – er gibt das, was es noch nicht gibt, was es erst irgendwann in der Geschichte geben wird. Im Augenblick seines Anfangens bleibt er deswegen völlig unbegreiflich und ungedacht. Als Anfang entzieht er sich und verlässt seine von ihm ausgelöste Geschichte, die notwendig die Geschichte der Vergessenheit ist. Erst in der Geschichte, die in sich die Spuren seines Anfangs noch trägt, kann der Anfang geahnt werden, dies aber erst am Ende, in der Vollendung dieser Geschichte, die am weitesten von ihrem Anfang steht und erst durch das Spüren des völligen Weg-Seins vom Anfang, ihn denken lässt. Dieser Mo-
305 »Meines Erachtens kann die Einkehr in den Wesensbereich des Da-seins […] – jene Einkehr, die die Erfahrung der Inständigkeit in der Lichtung des Seins ermöglichen würde, – nur auf dem Umweg einer Rückkehr zum Anfang vollzogen werden.« (S, 394) 306 Das Denken des Anfangs der Metaphysik ist nicht mehr metaphysisch. Dazu siehe zum Beispiel: BPh, 171 f. 307 Diese Etappe des Übergangs nennt Heidegger in den Beiträgen »den Sprung«.
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ment der Not ist der Übergang zum anderen Anfang. Ist das Ende einer Geschichte, die ihren Anfang nicht kennt, notwendig, so ist auch der andere Anfang notwendig. Er ist der andere Anfang in dem Sinne, dass in ihm der erste Anfang als Anfang verstanden wird und zum ersten Mal anfangen kann. Dass etwas durch ein Ereignis angefangen hat, versteht man nur, wenn man sich nach seiner Vergessenheit irgendwann an es erinnert. Nur dann kann es als Ereignis bewahrt werden – nur im zweiten Anfang. 308 Das, was sich zwischen zwei Anfängen ereignet, nennt Heidegger »Zwischenfall«. Die Geschichte der Seinsvergessenheit, also die Metaphysik ist der Zwischenfall: »Die Metaphysik ist seynsgeschichtlich der Zwischenfall der Herrschaft des Seienden vor dem Seyn dergestalt, daß sich das Seyn in die Seiendheit des Seienden losläßt und in die Seinsverlassenheit des Seienden sich schickt.« (E, 103) 309
308 Diese Struktur ist auch bei Marion festzustellen. In dem ersten Gabeakt tritt das Gegebene vor das Geben (Ereignis), den Geber und vergisst, dass es gegeben worden ist. Das Geben fordert aber irgendwann seine Anerkennung. Die Gabe soll irgendwann später als gegebene Gabe anerkannt werden. Es soll irgendwann ein Prozess der Erinnerung gestartet werden, der dann zum ersten Mal verstehen lässt, dass damals eine Gabe gegeben worden ist, und durch den die Gabe zum ersten Mal für immer als die Gabe bewahrt werden kann. Der Prozess der Erinnerung kann laut Marion auf eine zweifache Weise geschehen: entweder als Opfer (Zurückgabe der gegebenen Gabe und so die Anerkennung der Gabe) oder als Vergebung (wenn der Geber die Gabe zum zweiten Mal gibt und so sie voll und ganz als Gabe erscheinen lässt). Also: »Das Opfer gibt die Gabe an die Gebung, aus der sie herstammt, zurück, indem es sie an die Verweisungsstruktur zurückweist, die sie in ursprünglicher Weise konstituiert. […] Es bewahrt die Gabe in ihrem Status als gegebene, indem es sie in einer Hin- bzw. Preisgabe reproduziert.« (GG, 122/CN, 203) Oder (am Beispiel der Rückkehr des verlorenen Sohnes): »Der Sohn hatte die Gabe (die Sohnschaft) dadurch unsichtbar gemacht, indem er sie sich als einen Fonds (ουσία) aneignete. Durch das Verzeihen, die wiedergegebene Gabe, erstattet ihm der Vater nicht nur zurück, was im Tausch verloren wurde (den Besitz), sondern er setzt ihn wieder in die Bewegung der gegebenen Gabe ein, so dass er ihm somit zum ersten Mal als gebender Vater (père donateur) erscheint und ihn selber zum ersten Mal als beschenkten Sohn (fils donataire) erscheinen lässt. Das Verzeihen lässt zum ersten Mal das vollständige Phänomen der Gabe zu Tage treten.« (GG, 160 f/CN, 236) Es ist interessant, dass auch Heidegger den anderen Anfang durch das Opfern der gegebenen Gabe (des Seienden) charakterisiert, wobei dieses Opfern (als Aufgeben des Denkens des Seienden) dazu führt, dass der Ursprung dieser Gabe (die Wahrheit des Seins des Seienden) sichtbar wird: »Im anderen Anfang wird alles Seiende dem Seyn geopfert, und von da aus erhält erst das Seiende als solches seine Wahrheit.« (BPh, 230) 309 Siehe auch: E, 174, 206.
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Warum ist sie Zwischen-Fall und nicht bloß ein von den beiden Anfängen getrenntes Zeitalter, das deswegen getrennt ist, weil es das Ereignis nicht kennt? Erstens weil die Geschichte der Seinsvergessenheit immer noch die Spuren des Entzuges ihres Anfangs in sich trägt. Weil der Anfang sich notwendigerweise entziehen muss, ist auch die Geschichte seiner Vergessenheit notwendig. Zweiten, weil es nur durch die Metaphysik irgendwann zum anderen Anfang kommen kann, eben weil sie auf den ersten Anfang zurückweist: »Der Zwischenfall ist zwischen dem ersten und dem anderen Anfang. Durch diesen Zwischenfall kommt die Anfängnis des Anfangs zum ersten Anklang.« (E, 103) 310
Die Vergessenheit des Anfanges ist die im vergessenen Anfang selbst liegende Möglichkeit und Notwendigkeit, sich selbst noch einmal zu geben.
10. Die Verschenkung und Unberechenbarkeit des Ereignisses Das Ereignis fängt an. Indem es anfängt, gibt es etwas. Indem es etwas, was sich verweigert, gibt, schickt es eine Geschichte der Vergessenheit des Anfänglichen. Das Ereignis ist »Verschenkung« 311, »Geschenk« (BPh, 248) und »Schickung« (E, 88), seine Geschichte ist »Schenkungsgeschichte« (B, 68). Diese Thesen und Bezeichnungen äußern den Gedanken, dass das Ereignis von sich aus etwas gibt. Es steht nicht in der Macht des Menschen, es ist das Andere gegenüber dem Menschen und sein Bezug zum Menschen ist das Geben, das für den Menschen unvorhersehbar und unberechenbar bleibt. Somit spricht das Ereignisdenken Heideggers als Philosophie des Anderen und der Gabe eine klare Kritik gegen das anthropo- und subjektzentrische Denken aus, das im Menschen den letzten Grund von allem Möglichen und Wirklichen sieht. So gesehen ist das Ereignisdenken auch Heideggers Selbstkritik an der Philosophie von Sein und Zeit, da hier das Dasein das Sein »schon immer verstanden hat«, was
Siehe auch: E, 257. Die Verschenkung des Ereignisses: BPh, 15, 158, 228, 268, 346, 384, 410; B, 12, 58, 93, 97, 113, 117, 129, 131, 138, 202, 219, 243, 277, 309, 312, 313, 337, 347; E, 58, 314. 310 311
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heißt, dass das Sein im Dasein gründet; dass es etwas ist, was wesentlich für das Dasein ist. Diese Einstellung ändert sich in der Philosophie des Ereignisses, weswegen Heidegger auch von der Kehre in seiner Philosophie spricht. Es geht um die Kehre vom im Dasein gegründeten Sein zum im Ereignis gegebenen Sein. Das Sein als Ereignis ist nicht etwas, was »immer schon« im Menschen liegt, sondern das, was an einem Moment vom außen unerwartet und unvorhersehbar geschenkt wird. Wenn das Ereignis als Gabe des Anderen bestimmt wird, müssen vor allem drei Punkte festgehalten werden. Erstens ist das Ereignis als Einbruch in die Welt, als Einfall ins Seiende frei von allen Bedingungen seiner Möglichkeit in dieser Welt – seien sie transzendental oder empirisch. Nichts in der Welt, nichts im Menschen kann dieses anfängliche Ereignis aufzwingen, fördern oder hindern. Das Ereignishafte hängt ausschließlich von sich selbst ab. Deswegen spricht Heidegger von der »Freiheit des Anfangs« (B, 209) 312. Die Freiheit hängt aufs engste mit der Unvorhersehbarkeit des Ereignisses zusammen – das Ereignis ist und bleibt für den Menschen ein Zufall: »Ob das Seyn als Dazwischenkunft im Offenen des Seienden ankommt und als Zufall dem Seienden einfällt, bleibt stets zu-fällig.« (A, 39) 313
Zweitens: Genauso wenig wie der Einbruch selbst ist das Denken und »seine Sache« vom Dasein abhängig. Das Dasein trägt keine transzendentalen Bedingungen für das Denken des Seins in sich, in ihm liegen keine Voraussetzungen für das Denken des Seins, die im Voraus erkannt werden könnten. Das Sein ist nicht das Ergebnis seines Denkens. Im Gegenteil: Das Dasein wird zum Denken des Seins, also zum Dasein, durch das Ereignis des Seins. Das Dasein ist nicht es selbst vor dem Ereignis, sondern wird zum Dasein durch das Ereignis verwandelt:
Siehe auch: B, 12. Später heißt es: »Es [Seyn – L. P.] wird nicht von anderem bewirkt, noch wirkt es selbst. Seyn verläuft nicht und nie in einem kausalen Wirkungszusammenhang. Der Weise, wie es das Seyn selber sich schickt, geht nichts Bewirkendes als Seyn voraus und folgt keine Wirkung als Seyn nach. Steil aus seinem eigenen Wesen der Verborgenheit ereignet sich Seyn in seine Epoche. Darum müssen wir beachten: Die Kehre der Gefahr ereignet sich jäh. In der Kehre lichtet sich jäh die Lichtung des Wesens des Seyns.« (BV, 73) 313 Siehe auch: A, 127. 312
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»Das ›Seyn‹ ist nicht ein Gemächte des ›Subjekts‹, sondern das Da-sein als Überwindung aller Subjektivität entspringt der Wesung des Seyns.« (BPh, 303) 314
Es ist zwar richtig, dass, wenn der Mensch gar nicht existieren würde oder anders beschaffen wäre, es auch kein Sein gäbe, kein Ereignis des Seins. Der Mensch ist derjenige, mit dem sich das Ereignis ereignet: »[D]as Seyn braucht das Da-sein, west gar nicht ohne diese Ereignung.« (BPh, 254) 315
Und es lässt sich gleich fragen: »Wird aber das Seyn nicht abhängig von einem Anderen, wenn dieses Brauchen sogar sein Wesen ausmacht und nicht nur eine Wesensfolge ist?« (BPh, 251)
Doch das Sein ist nicht vom Dasein genau deswegen abhängig, weil es das Dasein erst zum Dasein verwandelt: »Wie dürfen wir aber da von Ab-hängigkeit reden, wo dieses Brauchen gerade das Gebrauchte in seinen Grund umschafft und zu seinem Selbst erst überwältigt.« (BPh, 251)
Der Mensch ist also nicht der Grund für das Sein. Es ist umgekehrt – das Ereignis des Seins ermöglicht sich selbst und auch noch das Dasein, das dann das Sein erfährt und denkt. Wir haben hier also mit der Umkehrung desjenigen Verhältnisses zu tun, das wir aus der subjektzentrischen – unter anderem aus der transzendentalen – Philosophie kennen. In der Philosophie des Ereignisses liegt der letzte Grund nicht mehr im Dasein, sondern im Anderen. Und wenn das Ereignis dem Menschen das Sein schenkt und damit auch seine »Identität« und Geschichte, kann man in der Philosophie des Ereignisses von einer gewissen Passivität des Menschen sprechen – der Mensch ist derjenige, der (nur) empfängt, nicht aber aktiv schafft. Diese Passivität des Empfangens kann sowohl positiv als auch negativ bewertet werden. Man kann es ebenso als eine positive Möglichkeit ansehen, dass der Mensch durch die Gabe begabt wird. Man kann aber auch einwenden, dass der Mensch damit als einer charakterisiert wird, der
314 Bereits zitiert im Teil I. Zur Verwandlung des Menschen ins Dasein durch das Ereignis siehe auch: BPh, 14, 455; B, 22, 23, 42, 45, 57, 83, 108, 210; ÜM, 22; ZS, 23. 315 Das Sein braucht das Dasein: BPh, 44, 230, 233, 262, 265, 317, 342; B, 139; A, 13, 29, 30, 125; E, 144.
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etwas Äußerem ausgeliefert ist, seine Freiheit verliert und sein eigenes Leben nicht bestimmten kann. Trotz des Vorrangs des Seins ist das Dasein in Heideggers Philosophie nicht völlig passiv. Das Dasein kann und darf überhaupt nicht völlig passiv bleiben, da das Denken des Ereignisses eine Anstrengung ist, die mit vollem Bewusstsein ausgetragen werden muss. Heidegger stellt sogar die These auf, dass am ersten Anfang das Ereignis als Entzug in Vergessenheit geriet, weil das Denken sich nicht angestrengt hat, den Entzug als Entzug zu bewahren, sondern den leichteren Weg des Vergessens nahm. Wir haben schon gesehen, dass Heidegger deswegen am anderen Anfang fordert, dass das Dasein zum »Gründer« des Seins wird. 316 Nur durch die Gründung vonseiten des Menschen kann der erste Anfang endlich im anderen Anfang anfangen. Man könnte diesbezüglich gleich fragen, ob es damit das Dasein nicht wieder zum Grund des Seins gemacht wird, sodass die Möglichkeit des Seins im anderen Anfang vom Dasein und seiner Aktivität abhängt. Darauf ist ein Zweifaches zu antworten. Erstens ist der Begriff der »Gründung« für Heidegger »zweideutig«: »Gründung ist zweideutig: 1. Der Grund gründet, west als Grund. […] 2. Dieser gründende Grund wird als solcher erreicht und übernommen. Ergründung: a) den Grund als gründenden wesen lassen; b) auf ihn bauen, etwas auf den Grund bringen. Das ursprüngliche Gründen des Grundes (1) ist die Wesung der Wahrheit des Seyns; die Wahrheit ist Grund im ursprünglichen Sinne.« (BPh, 307)
Der ursprüngliche, der letzte Grund ist also das Ereignis. Das ist der Grund in erster Bedeutung. Wenn Heidegger sagt, dass das Dasein gründet, meint er nicht, dass es ursprünglich gründet – das Dasein gründet nur, indem es »den Grund als gründenden wesen lässt« und »auf ihn baut«. Das Dasein ist der Grund in zweiter Bedeutung. »Den Grund wesen lassen« ist das »Wesen« und »Bestimmung« des menschlichen Daseins: »Die Gründung – nicht Erschaffung – ist Grund-sein-lassen von seiten des Menschen ([…]), der damit erst wieder zu sich kommt und das Selbst-sein zurückgewinnt.« (BPh, 31) 317
316 Das Dasein als Gründer des Seins: BPh, 16, 23, 26, 31, 140, 170, 223, 240, 260, 263, 296, 395; B, 167, 210, 255, 322; E, 190. 317 Zu dieser Bestimmung des Daseins siehe auch: BPh, 16; B, 325, 326.
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Damit ist es nochmals gesagt, dass der Mensch nicht der letzte Grund des Ereignisses ist. Doch damit wird wieder bestätigt, dass das Ereignis nur wesen kann, wenn das Dasein den Grund wesen lässt. Wenn das nicht der Fall ist, kann das Ereignis immer noch »still herrschen«, aber es gibt es nicht in dem Sinne, dass es aus der Vergessenheit heraustritt und als es selbst bewahrt wird. Dies stellt selbstverständlich ein Problem dar. Deswegen die zweite Antwort: Die Möglichkeit, den Grund wesen zu lassen und den ersten Anfang anzufangen, liegt nicht in der Macht des Daseins – sie ist »Geschenk« (oder »Entzug«) des Ereignisses und deswegen nicht errechenbar: »Ob diese Umwerfung des bisherigen Menschen, d. h. zuvor die Gründung der ursprünglicheren Wahrheit in das Seiende einer neuen Geschichte glückt, ist nicht zu errechnen, sondern Geschenk oder Entzug der Ereignung selbst, auch dann noch, wenn die Wesung des Seyns bereits in der jetzigen Besinnung vorausgedacht und in den Grundzügen gewußt ist.« (BPh, 248) 318 »Der Eintritt des Menschen in die Seinsgeschichte ist unberechenbar […].« (BPh, 228) 319
Weil das Dasein nur dann den Grund gründen kann, wenn der ursprüngliche Grund schon gründet, nennt Heidegger es den »ge-gründete[n] Gründer des Grundes« (BPh, 239). 320 Diese Passage macht aber auch deutlich, dass die Aktivität des Denkens des Seins, der Besinnung grundsätzlich nur zum Übergang zum anderen Anfang gehört. Nichts davon, was der Mensch besinnt, vorausdenkt und weiß, kann den anderen Anfang auslösen. Die Möglichkeit zur Gründung des Ereignisses hängt vom Ereignis ab, aber auch diese Gründung des Ereignisses, die Entscheidung, es zu bewahren, bewirkt nicht den Eintritt des anderen Anfangs. Dieses Denken ist nur die Vorbereitung 321 auf die Möglichkeit des Kommens eines Ereignisses, und als Vorbereitung verwirklicht es sie nicht. Deswegen behauptet Heidegger 318 Siehe auch folgende Stelle: »Um den Anfang zu denken, müssen wir zum voraus schon in der Erfahrung des Seins von diesem zu ihr ereignet sein. Wir können uns des Anfangs nie bemächtigen. Der Anfang kann uns nur in das Da-seyn übereignen.« (E, 229) 319 Die Unberechenbarkeit des Ereignisses (des anderen Anfangs): BPh, 10, 20, 236, 242, 280, 396, 415, 416. 320 Siehe auch: BPh, 31, 32; B, 328. 321 »Ob und wie weit ein solcher Sprung [in den Abgrund, also in den Anfang – L. P.] des Denkens dem Menschen glückt, liegt nicht bei ihm. Dagegen obliegt uns die Vorbereitung des Sprunges.« (FV, 113)
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nie, dass der andere Anfang aufgrund seines Denkens schon eingetreten ist – wir befinden uns im Übergang zum anderen Anfang, unser Denken ist nur vorbereitend, und dies auch nicht im Sinne des Auslösens, sondern im Sinne des Bereit-Seins für das Unberechenbare: »Jene Entscheidung wird nicht als ›Akt‹ einzelner Menschen gefällt, sie ist der Stoß des Seyns 322 selbst, durch den die Machenschaft des Seienden und der Mensch als das historische Tier gegen den Abgrund des Seyns geschieden und der eigenen Ursprungslosigkeit überlassen werden. Deshalb bedeutet Vorbereitung der Entscheidung nicht Anbahnung dieser selbst, als sei sie ein und noch ein mögliches Gemächte des Menschen. Vorbereitet wird nur der Zeit-Spiel-Raum, in dem sich die Wesenswandlung (nicht eine bloße Höher- oder Umzüchtung) des animal rationale geschichtlich ereignen muß.« (B, 24) 323
Drittens zeigen sich die Unabhängigkeit des Ereignisses vom Subjekt und der Vorrang jenes vor diesem auf noch eine Art und Weise, die allerdings von Heidegger nicht allzu oft behandelt wird, die aber trotzdem ein charakteristischer Zug seines Ereignisdenkens ist. Wir haben festgestellt, dass die Möglichkeit des Seinsdenkens und damit des Daseins vom Ereignis selbst geschaffen wird. Es ist nicht der Mensch, der allein zu diesem Denken kommen kann. Er muss das Denken zwar vollziehen, aber er ist nicht dessen Grund. Diese These impliziert aber mehr: Das Ereignis ist nicht nur kein Produkt des (vorstellenden) Denkens, sondern es ist überhaupt etwas anderes als das (vorstellende) Denken. Wir haben schon gesehen, dass das Ereignis kein vorstellendes Denken ist, sondern ein Denken als Zugehörigkeit zu einem Geschehen, Sich-Befinden an einem Ort: »Das Er-denken des Seyns ist niemals ein »Erzeugen« des Seins, so daß dieses gar nur zu einer Gedachtheit würde. Das Er-denken ist das er-eignete Er-reichen der Lichtung der Verweigerung, welche Lichtung als Lichtung der Verweigerung anhalt- und zufluchtlos sich zum Ab-grund entbreitet, der die Wesung des Seyns selbst als seine Wahrheit ist.« (B, 131) 324 Die »Stöße des Seyns«: B, 242, 244, 245, 247, 275. Zur Entscheidung des Seins siehe auch: B, 46, 47 f, 93, 113, 236, 353; GdS, 59. 1973 im Seminar in Zähringen sagt Heidegger: »Die Einkehr in diesen Bereich [Bereich des Da-seins – L. P.] wird nicht durch das Denken bewirkt […]. […] dies Denken bereitet den Menschen vor allem darauf vor, der Möglichkeit solcher Einkehr zu entsprechen.« (S, 390) 324 Siehe auch: E, 312. 322 323
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Jetzt können wir unsere These erweitern: Würde das Denken das Sein erzeugen, wäre es Gedachtheit. Das Denken aber erzeugt nicht das Sein – es kann nur, wenn das Ereignis es erlaubt, das Sein denken, aber nur so, dass es in der Lichtung steht. Dass das Ereignis nicht erzeugt wird, dass es nicht in der Macht des Menschen liegt, impliziert, dass es mehr als Gedachtheit ist. Die Verschenkung und Unberechenbarkeit des Ereignisses bedeutet also, dass es sich nicht im vorstellenden Denken vollzieht. 325
11. Die Wiederholung des Ereignisses: Ort, Sprache, Kunst Das Ereignis ist kein beständiges Wesen, sondern Wesung. Als dieses ist es etwas Einziges, es ist Dieses, das sich ereignet. Als das Einzige, Einzigartige und Einmalige ist das Ereignis immer das Neue – es ist der Anfang. Der Anfang kann nie gegenständlich gedacht werden. Es ist nichts, es ist Zeit – seine eigene Zeit als Augenblick seines Anfangens. Das Ereignis ist »reine Gegenwart« (E, 234), die sich gleich nach dem Anfangen entzieht. Genauso wenig gegenständlich ist das, was im Ereignis und untrennbar vom Ereignis gegeben wird – es verweigert sich, die Verweigerung bedeutet: Es lässt sich nicht festhalten, ohne es zu etwas Seienden zu machen und so zu verlieren. Der vom Ereignis Betroffene muss ständig gegen die aufdringlichen Vergegenständlichungsversuche kämpfen. Die einzige Möglichkeit das Ereignis als Entzug zu bewahren, ist jedes entstandene Wesen zu destruieren und den Abgrund, das Wegsein des Grundes auszutragen. Das Ereignis ist kein Wesen, sondern der Austrag vom Nichts, wenn man nichts hat, wenn man in den Abgrund fällt. Es ist die Erfahrung und Austrag einer »anfänglichen Armut«. Das Ereignis schickt zwar etwas, doch es verabschiedet sich von seinem Geschickten, es lässt sich durch das Gegebene verdunkeln, sodass die ganze Aufmerksamkeit auf das Gegebene gerichtet wird, das jetzt ereignislos erscheint. Die Eigenartigkeit des Heidegger’schen Denkens besteht darin, dass dieses nicht-seiende Ereignis nicht im negativen Sinne uneinhol325 Wir werden später sehen, welche unglaublich große Rolle diese Struktur des Ereignisses in der Philosophie Levinas’ spielt. Seine These ist, dass, wenn es die Andersheit gibt, sie nicht gedacht werden kann, weil die Gedachtheit sie zum Besitz des Selben, das jede Andersheit ausschließt, macht. Mit anderen Worten: Die Andersheit im Kopf des Selben ist keine Andersheit mehr. Die Andersheit kann nur in der Nähe zum Selben sein, also nicht in ihm.
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bar bleibt, sondern wird im positiven Sinne als Raum gedacht, wo ein Denken erst entsteht und sich aufhält. Dieser Raum ist der Raum des Wahrheitsgeschehnisses, und es ist uneinholbar nicht deswegen, weil es keine klare und deutliche Idee von ihm gibt, sondern weil das Denken (und – breiter gefasst – die menschliche Existenz im Allgemeinen) in ihm steht. Um diesen Raum zu denken, reicht es nicht, sich einen leeren Raum (Weltraum) vorzustellen, in dem etwas ist, sondern man muss diesen Raum ausgehend vom Ort verstehen: Man kann den Raum als das In-Sein nur dann verstehen, wenn man es gelernt hat zu vollziehen, was es heißt, an einem Ort, um den herum der Raum »räumt« 326, zu sein. An einem Ort zu sein, ist nur augenblicklich möglich: Man kann dieses In-Sein nicht anhalten und halten. Man kann nicht dasjenige halten, was alles hält. Die Augenblicklichkeit des Ereignisses impliziert allerdings nicht, dass es hier um eine messbare kurze Länge der Zeit geht. Der Augenblick ist nicht messbar kurz – er ist eine Zeit, wo die Zeit stillsteht. Die Zeit entsteht dann, wenn man anfängt, etwas zu denken, aber damit wird der Raum des Denkens (nicht nur der Raum des Denkens, sondern der Raum überhaupt) gleich verdunkelt. Eins der entscheidenden Momenten in Heideggers Philosophie liegt in der Tat im Gedanken, dass es für die menschliche Existenz (gleich ob alltägliche oder wissenschaftliche, politische oder religiöse etc.) charakteristisch ist, dass sie in ihrer immerwährenden Gerichtetheit auf die konkreten Sachen und Probleme immer dasjenige verdunkelt und vergisst, wo sie sich eigentlich aufhält. In Sein und Zeit wird dieser Raum des Aufenthaltes als die menschliche Existenz überhaupt bestimmt. Das heißt: Während wir in unserem Leben besorgt um alles Mögliche herumrennen, haben wir keine Ahnung davon, wie das menschlichen Leben im Allgemeinen ist. Die Aufgabe von Sein und Zeit ist, dieses Sein des Daseins, in dem wir sind, wieder anzuzeigen. Aber nicht nur das: Wie schon darauf hingewiesen, ist sowohl Heideggers frühe Philosophie und Sein und Zeit als auch seine späteren seinsgeschichtlichen Ansätze vom Gedanken einer Selbstbegründung der Erkenntnis – und damit letztendlich der Phi-
326 Heidegger denkt den Raum nicht durch die Vorstellung des Raumes, sondern als »Räumen«: »Wir versuchen auf die Sprache zu hören. Wovon spricht sie im Wort Raum? Darin spricht das Räumen. Dies meint: roden, die Wildnis freimachen. Das Räumen erbringt das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen.« (KR, 206)
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losophie – getragen. Die Frage ist also immer auch: Wo bin ich, wenn ich denke? Wir fragen nicht also nicht nur, wo wir sind, wenn wir leben, sondern auch wo wir sind, wenn wir die Frage nach diesem Leben stellen. Die Antwort auf diese Frage lautet in Sein und Zeit: in der Existenz. Wenn ich denke, bin ich im Leben, und das Leben ist Sein-zum-Tode, und es ist in der Zeitlichkeit des Daseins begründet. Die Antwort in den Beiträgen ist wesentlich anders: Wenn ich denke, bin ich im Wahrheitsgeschehnis, und dieses Wahrheitsgeschehnis ist nicht meine, von mir, aus meinem Leben stammende Möglichkeit, sondern etwas, was mit mir passiert und was mein Leben bestimmen kann. Im seinsgeschichtlichen Denken Heideggers ist die Wahrheit nicht mehr die Möglichkeit der menschlichen Existenz, sondern das, was mit der menschlichen Existenz geschieht, insofern sie überhaupt menschlich ist. Die menschliche Existenz wird vom Aufleuchten des Seienden im Aufkommen der Welt getragen. Und dieses Geschehnis ist das, was verdunkelt wird. Wir sind mit den Sachen beschäftigt und sehen nicht ihr Aufleuchten. Der Grund dafür ist in Heideggers Philosophie zweifach: einmal die Seinsvergessenheit vonseiten des Menschen (thematisiert in Sein und Zeit), ein andernmal die Seinsverlassenheit (seit den Beiträgen), wobei – wie wir gesehen haben – die erste in der anderen begründet ist: Wir vergessen, weil sich das Wahrheitsgeschehnis entzieht, und es entzieht sich, weil es an sich selbst keine Beständigkeit aufbauen kann, weil es anders als das Seiende ist. Der Raum ist anders als das, was in ihm ist. Deswegen ist es unendlich schwierig, den Raum zu denken. Für das Denken eines Objekts genügen zwei Augen, die auf es gerichtet sind, für das Denken des Raumes bräuchte man noch zwei Augen hinten, oder die Möglichkeit einer Umdrehung, was für das Denken eine Unmöglichkeit ist – nur der Körper kann sich umdrehen. Man sollte also den Raum mit dem Körper denken, was natürlich absurd klingt, da wir sagen, dass man den Raum nicht durch das Körperliche, sondern mit dem Körper denken muss. Vielleicht ist es auch etwas Mögliches, aber wir werden dann, wenn es möglich geworden wäre, nicht dabei sein und werden nie erfahren, wie das war – das wird für uns immer eine uneinholbare Vergangenheit bleiben. Wie dem auch sei, in Heideggers Philosophie wird ein Nicht-Seiendes gedacht, das vergessen wird, weil es vergessen werden muss, weil es nur auf eine merkwürdige, ihm eigentümliche Art und Weise da ist. Dieses Nicht-Seiende – das Sein, das Ereignis – kann (und für Heidegger auch muss, da der Mensch ohne das Sein, ohne 225 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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das Offene, ohne den Rückgang auf seinen eigenen Ursprung seine Menschlichkeit verliert) ins Gedächtnis gerufen werden, allerdings ist dieses Ins-Gedächtnis-Rufen ein Zusammenspiel von willentlichen und schicksalhaften Faktoren. Es geht hier darum, dass – einerseits – das Wahrheitsgeschehnis, das im Verborgenen der menschlichen Geschichte herrscht, zu jedem Moment – und das heißt auch: von sich aus, unberechenbar – auftauchen kann. Andererseits kann es an die Oberfläche nur durch einen Menschen kommen, der es will. Er kann aber seinen ereignishaften Anfang nur deswegen wollen, weil er von diesem Anfang selbst angefangen worden ist. Alles ist schon im Voraus geschenkt worden. Es verhält sich ein wenig anders, wenn es um die Notwendigkeit des anderen Anfangs geht. Wir haben versucht zu zeigen, dass der andere Anfang notwendig nicht im geschichtlichen, sondern im ereignislogischen Sinne ist. Das heißt: Der andere Anfang wird nicht zu diesem oder zu jenem Zeit kommen, aber, wenn es dazu kommen sollte, dass der erste völlig verschwunden ist, dann wird der andere sich unbedingt aufzwingen. Veranschaulicht: In der unmenschlichsten Zeit, in der Zeit, wo die Menschen verdinglicht werden, wo sie wie Maschinen behandelt werden, wo sie wie Maschinen funktionieren müssen, wo die Organe ihrer Körper als Ersatzteile angesehen werden, wo sie massenweise vernichtet und im Labor erzeugt werden, wird die Frage nach dem Menschlichen unbedingt auftauchen und etwas verändern. Oder anders: Wo die Kunst das Hässliche (und auch die Wirklichkeit ist im Grunde genommen immer hässlich, d. h. nicht perfekt) zeigen will, kommt notwendigerweise die Frage nach dem Schönen. Der völlige Untergang ist der Anklang des anderen Anfangs. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse in Heideggers Philosophie seit den Beiträgen. In Bezug auf dasjenige, in dem wir sind und das sich im Verbogenen aufhält, unterscheiden wir also – Heidegger folgend – zwei Arten und Weisen, wie der Anfang, der immer auch Entzug ist, sich merkbar macht. Er taucht einerseits notwendigerweise dort auf, wo das, was er angefangen hat, faktisch verloren gegangen ist; und er kann andererseits zufälligerweise an jedem beliebigen Ort und zu jeder Zeit der Geschichte auftauchen. So ist zum Beispiel Dichter Hölderlin aus dem 18. Jahrhundert für Heidegger ein Ort, wo der Anfang gewest hat noch lange vor einem zukünftigen anderem Anfang, der mehr oder weniger eine ganze Gemeinschaft einbeziehen würde – genauso wie der erste Anfang die ganze griechische Gemeinschaft und Kultur umfasst hat. Und die Behauptung solcher Orte und 226 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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die Suche nach solchen Orten des Ereignisses ist ein wesentliches Motiv des Heidegger’schen Ereignisdenkens. Es geht also nicht nur um die Seinsweise des Ereignisses als Wahrheitsgeschehnis und die Logik seiner Geschichte, die die Geschichte eines Untergangs ist, sondern auch um die Orte einer zufälligen und unverhofften Begegnung mit dem Ereignis. Es geht also – wie schon vorher gesagt – nicht nur um die Wahrheit im Allgemeinen, die überall west, sondern auch um ihre Manifestation an konkreten Orten. Neben dem Denken, insofern es anfänglich denkt, sieht Heidegger insbesondere in der Sprache, insofern sie dichterisch ist, und in der Kunst, insofern sie das Seiende zum Aufleuchten bringt, solche Orte der Begegnung mit dem Sein. Es geht um Orte, um die herum der Raum des Wahrheitsgeschehnisses noch einmal räumt und den Menschen in sich wieder einlässt. Die Sprache als Sprache kann also dem Ereignis zugehörig werden, allerdings nicht immer. Die Sprache kann das Ereignis nur aussagen, wenn sie nicht mehr als ein Zeichen funktioniert. Dabei geht es nicht um eine andersartige Sprache, die sich gegen die Sprache als Zeichen, durch das etwas vorgestellt und dargestellt wird, absetzt. Die Sprache wird zur Sprache des Ereignisses, wenn sie anders als die zeichenhafte verstanden wird, obwohl es nicht ausgeschlossen ist, dass sie dann auch äußerlich anders wirken würde, nämlich wie – im Falle Heideggers – eine dichterische. 327 Sie darf nicht als das »vom Menschen betätigte Ausdrücken« (Sp, 12), dessen Zweck im »Vorstellen und Darstellen des Wirklichen und Unwirklichen« (ebd.) besteht, verstanden werden. Stattdessen muss Folgendes gedacht werden: »Die Sprache spricht.« (Sp, 16)
Was heißt es, dass die Sprache spricht? Die Sprache spricht für Heidegger in dem Sinne, dass sie sagt – sie ist »Sage«. Die Sage wird aber 327 Das Geheimnis einer Sprache des Ereignisses liegt also nicht darin, dass sie anders als die gängige vorstellende Sprache aussieht und wirkt (was eigentlich nicht möglich ist), sondern dass die Sprache überhaupt anders verstanden wird, nämlich – wie wir es noch später sehen werden – als zum Ereignis zugehörig, auf es hörend: »Mit der gewöhnlichen Sprache, die heute immer weitgreifender vernutzt und zerredet wird, läßt sich die Wahrheit des Seyns nicht sagen. Kann diese überhaupt unmittelbar gesagt werden, wenn alle Sprache doch Sprache des Seienden ist? Oder kann eine neue Sprache für das Seyn erfunden werden? Nein. Und selbst wenn dies gelänge und gar ohne künstliche Wortbildung, wäre diese Sprache keine sagende. Alles Sagen muß das Hörenkönnen mitentspringen lassen. Beide müssen des selben Ursprungs sein. So gilt nur das Eine: die edelste gewachsene Sprache in ihrer Einfachheit und Wesensgewalt, die Sprache des Seienden als Sprache des Seyns sagen.« (BPh, 78)
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
als die »Zeige« verstanden und die Zeige wird ihrerseits als »Sichzeigenlassen« ausgelegt: »Das Wesende der Sprache ist die Sage als die Zeige.« (Sp, 242) »Im Blick auf das Gefüge der Sage dürfen wir jedoch das Zeigen weder ausschließlich noch maßgebend dem menschlichen Tun zuschreiben. Das Sichzeigen kennzeichnet als Erscheinen das An- und Ab-wesen des Anwesenden jeglicher Art und Stufe. Selbst dort, wo das Zeigen durch unser Sagen vollbracht wird, geht diesem Zeigen als Hinweisen ein Sichzeigenlassen vorauf.« (Sp, 242 f)
Das Anwesende ist das Sichzeigende. Es ist aber nicht der Mensch, der auf das Anwesende zeigt und so es erscheinen lässt, sondern es ist die Sprache, die das Sichzeigende sich zeigen lässt. Das Sichzeigen wird in der Sprache vollzogen. Nun ist es offensichtlich, dass die Sprache dasselbe vollzieht, was das Ereignis kennzeichnet. Das Ereignis ist das Aufkommen des Seienden. Und dasselbe geschieht auch in der Sprache. In der Tat: Wenn im Sprechen der Sprache etwas erscheint, sich sein Wesen zeigt, dann kommt es durch die Sprache zu seinem »Eigenen«. Dieses »Eignen« ist aber genau das, was man unter dem Ereignis versteht: »Das Regende im Zeigen der Sage ist das Eignen. / Es erbringt das An- und Abwesende in sein jeweilig Eigenes, aus dem dieses sich an ihm selbst zeigt und nach seiner Art verweilt.« (Sp, 246 f) »Das erbringende Eignen, das die Sage als die Zeige in ihrem Zeigen regt, heiße das Ereignen. Es er-gibt das Freie der Lichtung, in die Anwesendes anwähren, aus der Abwesendes entgehen und im Entzug sein Währen behalten kann.« (Sp, 247)
In der Sprache ereignet sich also das Ereignis. Die Sprache spricht nicht über das Ereignis, sondern ist Ereignis. Sie lässt das Anwesende anwesend sein – sie »heißt kommen« (Sp, 26), »versammelt« (Sp, 203), »be-dingt« (Sp, 220) das Ereignete. »Die Sprache ist das Haus des Seins.« (HB, 313) Diese bekannte Aussage Heideggers soll genau in diesem Kontext interpretiert werden, nämlich dass die Sprache das Ereignis ist: »Die Sprache wurde das ›Haus des Seins‹ genannt. Sie ist die Hut des Anwesens, insofern dessen Scheinen dem ereignenden Zeigen der Sage anvertraut bleibt. Haus des Seins ist die Sprache, weil sie als die Sage die Weise des Ereignisses ist.« (Sp, 255)
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
Die Sprache und das Ereignis ist ein und dasselbe. So ist die Sprache ein Ort der Wiederholung des Ereignisses. Dies bedeutet nicht nur, dass die Sprache Ereignis ist, sondern auch gleich, dass das Ereignis grundsätzlich »sagend« ist. Die Sprache ist Ereignis des Seins des Seienden und das Ereignis ist die Sprache: »Die im Ereignis beruhende Sage ist als das Zeigen die eigenste Weise des Ereignens. Das Ereignis ist sagend.« (Sp, 251) 328
Die Sage versteht Heidegger allerdings nicht als die Verlautbarung, sondern als die Stille. Die Sprache als das Sichzeigenlassen und Eignen ist still. Das Ereignis ereignet sich grundsätzlich still. Möglicherweise ist es deswegen so, weil es nicht etwas ansagt – es informiert nicht über sich selbst, über sein Wesen (es hat kein Wesen), es wirbt nicht für sich (nur das Seiende wirbt für sich, wenn es das Ereignis überschattet), sondern geschieht nur. Es ereignet sich still, weil es nichts ist, weil es einfach ist. 329 Da es aber das Seiende als seiend und so-seiend erscheinen lässt, weil etwas geschieht, bringt es mit sich die Möglichkeit der Verlautbarung. 330 Mehr noch: Es bringt nicht nur die Möglichkeit des Aussprechens, sondern es ist auch das Aussprechen, es »braucht« es, es gehört zu seiner Wesung: »Die Sage braucht das Verlauten im Wort. 331 Der Mensch aber vermag nur zu sprechen, insofern er, der Sage gehörend, auf sie hört, um nachsagend ein Wort sagen zu können.« (Sp, 254)
328 Siehe auch: »Die Sage ist er-eignishaft. Worin liegt: das Ereignis ist sagenhaft. […] Die Sage »des« Anfangs ist Anfängnis als Sagen. Das Sagen ist Er-eignen in die Wesung der Wahrheit als entbergende Verbergung. Dieses Er-eignen enthält die Wesensfülle dessen, was das Er-eignis zu denken fordert.« (E, 297) 329 »Die verborgene erstanfängliche Sprach-losigkeit ereignet sich in der Erfahrung dessen, daß das Seyn ist.« (E, 68) Dass das Sein ist, ist abgründig und einfach, ohne Wesen, ohne Schrei des Seienden. 330 Deswegen ist die Sprache nicht einfach nur Stille als Seinlassen, sondern, indem sie das Seiende sein lässt, ist sie auch dessen Sagen. Wird etwas seiend, wird es als etwas seiend und in diesem Sinne fängt es an zu sprechen. Die Sprache ist dementsprechend »das Geläut der Stille« (Sp, 27). Es geht um die »Stimme des Seyns« (E, 172) oder – umgedreht – um die »lautlose Stimme des Wortes« (E, 170). Das Ereignis sagt nichts und doch sagt es etwas. Das Ereignis ist sagend, aber zuerst nichts sagend, obwohl die Verlautbarung schon in der Sage anwesend ist. 331 Siehe auch: »Der Weg zur Sprache gehört zu der aus dem Ereignis bestimmten Sagen.« (Sp, 249)
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Man kann also das Ereignis nicht verschweigen, es zwingt gerade dazu, es auszulegen. 332 Und diese Auslegung – wie wir aus dem Zitat entnehmen können – ist nicht vor allem das Werk des Menschen, sie entstammt nicht einer willkürlichen Interpretation 333, sondern dem »Hören« und »Nachsagen« des Ereignisses. 334 In der Sprache als das Sichzeigenlassen ist das stille Ereignis beheimatet. Und in der Sprache als das Sichzeigenlassen des Seienden spricht das Wesen des Seienden aus, das die Verlautbarung ist. Wenn die Sprache so verstanden wird, kann sie zum Ort des Ereignisses werden. Auch die Kunst, indem sie ein Seiendes aufkommen lässt, wiederholt das Wahrheitsgeschehnis. So schrieb Heidegger schon 1935/ 36 im Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks, dass »die Kunst das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit« ist (UK, 21), dass im Kunstwerk die Wahrheit »geschieht« (UK, 23) und dass das Kunstwerk »das 332 Dies gehört zur Logik des Ereignisses, dass es durch sich seine Artikulation fordert. Es ist gerade nicht das, »worüber man nicht reden kann«. Es will gesagt werden. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz formuliert diesen Sachverhalt, indem sie den bekannten Satz aus Wittgensteins Tractatus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen,« umwendet: »Wovon man nicht schweigen kann, davon muss man reden.« (Gerl-Falkovitz, 7) Heideggers Begründung dafür wäre also, dass das Ereignis gesagt werden muss, weil es das Sagen (diesmal im Sinne der Verlautbarung) ist. Die Auslegung ist nicht die Initiative des Menschen. 333 Doch man darf sich die Situation auch nicht so vorstellen, als ob das Ereignis dem Menschen diktieren würde, was er sagen muss. Eine solche Vorstellung würde das Ereignis vergegenständlichen und die Sprache in eine vorstellende Sprache verwandeln. Das Ereignis sagt nicht, was gesagt werden soll, weil es hier nichts gibt, was gesagt werden soll. Es fordert nur zur Wiederholung seines Ereignens, die sehr unterschiedlich ausfallen kann. Kurz: »Jede Sprache ist geschichtlich […].« (Sp, 253) Die Auslegung ist immer anders. Und sie kann auch das Ereignis sogar völlig verlassen – dann sprechen wir von der Seinsvergessenheit. Doch, sogar diese Auslegung ist vom Ereignis inspiriert worden und in diesem Sinne ist sie auch eine Auslegung des Ereignisses. 334 Dass der Mensch zuerst hörend ist, ist eine fundamentale These in Heideggers Philosophie. Sie drückt selbstverständlich auch die Kritik gegen das subjektzentrierte Denken aus. Der Mensch kann nur deswegen sprechen und das sprechen, was er spricht, weil die Sprache zuerst sagt. Deswegen ist die Sprache durch das Hören konstituiert: »Das Sprechen ist als Sagen von sich aus ein Hören. Es ist das Hören auf die Sprache, die wir sprechen. So ist denn das Sprechen nicht zugleich, sondern zuvor ein Hören. […] Wir sprechen nicht nur die Sprache, wir sprechen aus ihr.« (Sp, 243) Deswegen ist jedes Sprechen schon Antwort auf das ursprüngliche Sagen: »Das entgegnende Sagen der Sterblichen ist das Antworten. Jedes gesprochene Wort ist schon Antwort: Gegensage, entgegenkommendes, hörendes Sagen.« (Sp, 249; siehe auch: E, 156, 262)
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Offene der Welt offen hält« (UK, 31). Im Vortrag Die Kunst und der Raum 1969 heißt es: »[…] die Kunst sei das Ins-Werk-Bringen der Wahrheit und Wahrheit bedeute die Unverborgenheit des Seins […].« (KR, 206) 335
Obwohl die dichterische Sprache und die Kunst als bevorzugte Orte des Ereignisses angesehen werden können, wäre es vielleicht nicht falsch anzunehmen, dass das Ereignis doch ausnahmslos überall einschlagen kann – in jedem Ding, zu jeder Zeit. 336
12. Die Fülle und das Sagen des Ereignisses Wir haben es mit einem Nicht-Seienden zu tun, das im Grunde genommen undenkbar ist – undenkbar, weil es nicht als Gegenstand des Denkens gesetzt werden kann, weil das Denken in ihm ist. Es entzieht sich anfänglich, es wiederholt sich zufällig, aber in diesem Momenten wird es deswegen nicht mehr denkbar als sonst – es geht nicht darum, dass es undenkbar bleibt, weil es abwesend ist, sondern darum, dass es sogar dann, wenn es voll und gar geschieht, sich nicht einfangen lässt. Und trotzdem versuchen wir das Ereignis zu sagen, zu beschreiben, was sich in ihm ereignet. Weil es immer das Ereignis von etwas ist, weil es sagend ist. Aber an sich einfach 337 und arm zeigt das Ereignis für eine mögliche Auslegung seine »Fülle« 338, »Unerschöpflichkeit« 339 und »Reichtum« 340, die keine Beschreibung einholen kann. »Seine [des Seins – L. P.] Nichtigkeit ist seine Armut und diese Armut ist der Reichtum des Einfachen des Anfangs.« (A, 175) 341 »Das ist die Wesung des Seyns selbst, wir nennen sie das Ereignis. Unausmeßbar ist der Reichtum des kehrigen Bezugs des Seyns zu dem ihm ereigneten Dasein, unerrechenbar die Fülle der Ereignung. Und nur ein Geringes 335 Siehe auch: »Die Plastik: die Verkörperung der Wahrheit des Seins in ihrem Ort stiftenden Werk.« (KR, 210) 336 Dazu siehe zum Beispiel den Aufsatz Das Ding (1950), wo ein Krug als Ort des Ereignisses behandelt wird. 337 Die Einfachheit des Ereignisses: BPh, 16, 18, 20, 59, 137, 151, 197, 241, 401; B, 97; A, 17, 18, 114; E, 79, 149, 163, 173, 177, 200, 213, 235. 338 Die Fülle des Ereignisses: B, 97, 99; E, 59, 241, 297, 308, 328. 339 Die Unerschöpflichkeit des Ereignisses: BPh, 278, 382. 340 Der Reichtum des Ereignisses: B, 254; E, 50, 58, 68, 170, 182, 261. 341 Siehe auch: GdS, 110.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
kann hier in diesem anfänglichen Denken »vom Ereignis« gesagt werden.« (BPh, 7)
Diese Eigentümlichkeit des Ereignisses hängt mit seiner Seinsweise zusammen – sie bestätigt seine Nicht-Seiendhaftigkeit. Für die Auslegung ist das Ereignis ein Reichtum, durch den es seinen AbgrundCharakter bestätigt – das Ereignis zeigt sich als das, was man durch das Wesen nicht einholen kann. 342 Man kann tausend Seiten über das ereignishafte Geschehnis schreiben und doch nichts davon sagen, was geschehen ist. Nichts davon ist geschehen. 343 Und durch diese Erfahrung bestätigt das Ereignis seine Andersheit, seine Abgründigkeit: »Hieraus können wir […] entnehmen, dass das Seyn gerade niemals endgültig und deshalb auch nie nur »vorläufig« sagbar ist, wie jene Auslegung (die das Seyn zum Allgemeinsten und Leersten macht) vortäuschen möchte. Dass das Wesen des Seyns nie endgültig sagbar ist, bedeutet keinen Mangel, im Gegenteil: das nichtendgültige Wissen hält den Abgrund und damit das Wesen des Seyns gerade fest.« (BPh, 460)
Das Ereignis ist nie »endgültig sagbar«, es wird immer »zu wenig« 344 gesagt – so muss die Auslegung des Ereignisses in die Länge gezogen werden. Sie endet nie. Wir werden später bei Jean-Luc Marion sehen, dass auch er bei der Auslegung des Ereignishaften (und das ist für ihn das »gesättigte Phänomen«) eine »endlose Hermeneutik« vermutet, die genau aufgrund der ereignishaften und nicht-seiendhaften Seinsweise dieses Phänomens endlos ist. Es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Ereignis nicht irgendeine beliebige Fülle darstellt – jedes Ereignis weist eine inhaltliche Struktur auf, die Heidegger »Gefüge« nennt. Das Ereignis ist 342 Und weil sich im Ereignis nichts Gegenständliches ereignet, sind die Wörter und Sätze »mannigfach« (E, 302), »vielsinnig« (E, 315), »mehrdeutig«: »Das Wort des anfänglichen Denkens hat die Mehrdeutigkeit des Anfangs […]. […] Ein seynsgeschichtliches Wort, das stets Anfängliches und das Ereignis nennt, kann seinem Wesens nach nicht und nie eine einzige Bedeutung haben.« (E, 294; siehe auch: B, 23) Wenn es nichts gibt, was man mit einem Begriff bezeichnen kann, wie kann ein Wort etwas Bestimmtes bezeichnen? Es muss vielsinnig bleiben. 343 »Weil der Anfang seinem Wesen nach nie sich ergibt und ausliefert in die Aussagbarkeit, sondern entgänglich in der Verbergung sich fängt, deshalb ist (ob dieses Sichnichtergebens des Anfangs) das Denken ergebnislos.« (E, 318) 344 »[…] weil alle Auslegung zu wenig erreicht von dem, was im anfänglichen Wissen anfänglich sich entborgen. / Die Auslegung ist in der Tat ungemäß, aber nicht weil sie zu viel, sondern weil sie zu wenig, immer noch zu Unanfängliches dem Anfang zu sagt.« (E, 65)
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
zwar unerschöpflich, doch es gibt Elemente, die ein Ereignis inhaltlich bestimmbar machen, die in der Auslegung immer wieder auftauchen. 345 Mehr noch: Das Ereignis ist die Zusammenfügung dieser Elemente, es ist ein »Beziehen«, das das im Ereignis Ereignete versammelt, zueinander bezieht und zu ihrem Eigenen bringt: »Das Seyn ist das Er-eignis. Dieses Wort nennt das Seyn denkerisch, gründet seine Wesung in ihr eigenes Gefüge, das sich in der Mannigfaltigkeit der Ereignisse anzeigen läßt. […] So reich gefügt und bildlos das Seyn west, es ruht doch in ihm selbst und seiner Einfachheit. Wohl möchte der Charakter des Zwischen […] dazu verleiten, das Seyn als bloßen Bezug zu nehmen und als Folge und Ergebnis der Beziehung der Bezogenen. Aber das Er-eignis ist ja doch, wenn schon die Kennzeichnung noch möglich ist, dieses Beziehen, das die Bezogenen erst zu ihnen selbst bringt […].« (BPh, 470 f) 346
Wir müssen also hier in dieser Logik des Ereignisses bei Heidegger mehrere Momente festhalten. Erstens: Wir haben mit einem uneinholbaren Anfang zu tun, von dem wir im Grunde genommen nichts sagen können – alles über ihn Gesagte muss gleich auch verneint werden. 347 Zweitens: Jeder Anfang ist ein Anfang von etwas, das – obwohl es von einer vorstellenden Sprache nicht erreicht werden kann – doch etwas insofern Greifbares ist, dass man von ihm sprechen kann (und muss). Doch – drittens – führt jeder Versuch einer 345 Siehe dazu auch: »Niemals läßt sich das herrschaftliche Wissen dieses Denkens in einem Satz sagen. Aber ebenso wenig kann das zu Wissende einem unbestimmten flackernden Vorstellen überlassen bleiben.« (BPh, 64) 346 Dieses Beziehen nennt Heidegger auch »Zueignung« und »Übereignung« (BPh, 26, 280, 311, 317, 357; B, 83, 307). In Zeit und Sein heißt sie »Sach-Verhalt« (ZS, 24). Da das Ereignis Ort ist, kann Heidegger in Freiburger Vorträge sagen: »Wesen ist das Währen als gewähren und dieses das Ereignen. Das Wesende der Sprache als des Sagens ist der Be-reich. Dieses Wort wird hier als Singularetantum beansprucht. Es nennt etwas Einziges, Jenes, worin alle Dinge und Wesen einander zu-gereicht, überreicht werden und so einander erreichen und einander zum Heil und Unheil gereichen, einander ausreichen und genügen.« (FV, 168) Das Ereignis ist also Bereich und: »Der Bereich ist die Ortschaft, in der Denken und Sein zusammengehören.« (FV, 168) Weiter heißt es: »Die Ortschaft ist selber das Ver-hältnis beider [des Denkens und des Seins – L. P.].« (FV, 168) 347 In der Tat schreibt Heidegger: »Es mag auffallen, daß überall im seynsgeschichtlichen Denken das Verneinen spricht. Oft lautet die Rede, das ist nicht … ; diese Verneinung hat ihre wesentliche Notwendigkeit im Austrag, der dem Abschied folgt.« (E, 257) Wird etwas behauptet, was kein Wesen, sondern Abschied vom Wesen ist, muss ständig gesagt werden, dass es etwas nicht ist. Die Verneinung ist ein wesentlicher Bestandteil der Sprache des Ereignisses.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
adäquaten Auslegung dieser Spur des Anfanges ins Vieldeutige und Unendliche. Beim Festhalten dieser Momente müssen wir – viertens – unterscheiden: zwischen der Sprache, die an sich das Ereignis wiederholt, und der Sprache, insofern sie das auslegt, was sich ereignet. Ging es vorher um die Möglichkeit der Wiederholung des Ereignisses an dem Ort der Sprache, so geht es jetzt um die Sprache, die die Sprache als Ereignis beschreibt. Und es ist schon von Anfang an klar, dass diese Sprache, die das Ereignis auslegt, keine vorstellende ist – sie ist also paradox, da sie einerseits sagend und nicht verneinend ist und andererseits nichts sagt, weil sie nichts einholt. Noch einmal: Die Sprache als Sprache ist immer das Wahrheitsgeschehnis. Da das Wahrheitsgeschehnis ein Seiendes sein lässt, spricht in der Sprache das Aufleuchten eines Seienden, das von diesem Moment an sein Wesen behaupten kann. Die Sprache dieses Wesens ist aber anders – sie spricht von einem Seienden. Mehr noch: Sie ist in der Lage und sie hat den Willen, das Ereignis selbst zu thematisieren und sein Wesen auszulegen, allerdings – wie wir gesehen haben – erfolglos. Es lässt sich fragen, ob wir es wirklich mit einer Verdoppelung von Sprache zu tun haben? Gibt es eigentlich zwei Sprachen? Nun, wir haben gesehen, dass es für Heidegger nur eine Sprache gibt, die aber auf zweifache Weise verstanden werden kann. Sie kann entweder als Zeichen und damit als vorstellend verstanden werden, oder sie kann als Ereignis angesehen werden. Es ist immer eine und dieselbe Sprache, die ein Seiendes sagt und das Sagen selbst sagt (wiederholt), indem sie das Seiende sagt. Es gibt keine Sprache als reines Sagen, und es gibt keine Sprache, die nicht auch das Sagen selbst wiederholen würde. Genauso wie das Ereignis ist die Sprache zweideutig. Doch dies bedeutet noch nicht, dass jeder sprachliche Ausdruck schon deswegen das Ereignis sagen würde, weil er sprachlich ist. Wenn es um die Auslegung der Fülle des Ereignishaften geht, könnte man fragen, ob nicht ein Sagen möglich wäre, das in seinem Sagen des Seienden nicht gleich das Sagen als solches verdunkeln würde (so wie das normalerweise der Fall ist), die also durch das Gesagte hindurch noch zum Sagen selbst führen könnte? Wir vermuten, dass Heidegger eine solche Sprache für möglich hält, und sogar in zweifacher Ausführung: als die denkerische und als die dichterische Sprache. 348 348 Die Unterscheidung und Zusammenführung von Denken und Dichten in Heideggers Philosophie fordert eine gesonderte Untersuchung. Wir verbleiben hier nur beim
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Worin unterscheidet sich eine ereignishafte Sprache von einer vorstellenden? Darin, dass sie das Wahrheitsgeschehnis nicht unbewusst in sich trägt, sondern sich als seine Spur, seine Verlängerung, die ihm wesentlich zugehört, versteht und so das Ereignis bewusst wiederholt. Sie versucht das Ereignis nicht zu begreifen, sondern nur zu wiederholen, zu verlängern, eine neue Dimension seiner Fülle zu eröffnen. 349 Eine ereignishafte Sprache steht dem Ereignis nicht gegenüber, sondern in ihm, ist ihm zugehörig: »Hier wird nicht beschrieben und nicht erklärt, nicht verkündet und nicht gelehrt; hier ist das Sagen nicht im Gegenüber zu dem zu Sagenden, sondern ist dieses Selbst als die Wesung des Seyns. Dieses Sagen sammelt das Seyn auf einen ersten Anklang seines Wesens und erklingt doch nur selbst aus diesem Wesen.« (BPh, 4) 350
Dementsprechend ist eine solche Sprache nur ausgehend vom Ereignis verständlich: »Dieses Sagen verstehen heißt aber, den Entwurf und Einsprung des Wissens in das Ereignis vollziehen.« (BPh, 80)
Wenn also der Betroffene das Ereignis auslegt, will er nichts sagen, will er nicht eine Aussage über das Sein und So-sein von etwas treffen. Der Sagende versucht das Ereignis selbst zu sagen. So ist sein Hinweis, dass die Sprache des Denkens »bildlos« ist: »Das Sagen der Denker redet nicht in ›Bildern‹ und ›Zeichen‹, versucht sich nicht an mittelbaren Umschreibungen, die alle gleich untriftig sein müßten.« (B, 299; siehe auch: BPh, 470; B, 22, 49, 51; ÜM, 135; A, 92, 161; E, 43, 283, 286, 309, 311, 327). Während »[l]eichter als andere verhüllt der Dichter die Wahrheit in das Bild und schenkt sie so dem Blick zur Bewahrung« (BPh, 19). 349 Man kann das Ereignis gar nicht begreifen: Jede konkrete Auslegung wird erst durch das Ereignis möglich, und als solche kann sie ihren Ursprung nicht einholen. Die Auslegung kann nicht wissen, was sich eigentlich ereignet, weil sie Teil des Ereignisses selbst ist. Das, was sie sagt, ist das, was sich ereignet, weil sie zum Ereignis gehört, aber sie holt das Ereignis damit nicht ein, sondern sagt es nur vermittelt (vermittelt durch sich selbst), also nicht »unmittelbar«: »Wir können das Seyn (Ereignis) nie unmittelbar sagen, deshalb auch nicht mittelbar im Sinne der gesteigerten »Logik« der Dialektik. Jede Sage spricht schon aus der Wahrheit des Seyns und kann sich nie unmittelbar bis zum Seyn selbst überspringen.« (BPh, 79) Man kann das Ereignis wiederholen, aber nicht unmittelbar bzw. mittelbar sagen. 350 Siehe auch: »Die Philosophie handelt nicht ›über‹ etwas, weder ›über‹ das Seiende im Ganzen noch ›über‹ das Seyn. Sie ist die bildlose Sage ›des‹ Seyns selbst, welche Sage das Seyn nicht aussagt, als welche Sage es vielmehr west. Die Philosophie ist solche Sage oder sie ist überhaupt nichts.« (B, 64) Bildlich gesprochen: »Die Sprache ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.« (HB, 364)
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Sagen das Ereignis, es gehört zu ihm, es ist die Weise, wie das Ereignis sich selbst an diesem Ort ausdrückt.
13. Die Jemeinigkeit und das verborgene Ereignis der Gemeinschaft Das Ereignis ist paradox. Das Paradoxe an ihm weist mehrere Momente auf: Es ist der Anfang und das, was anfängt; es ist äußerst innerlich und doch räumlich; es ist der Anfang und der Untergang; es ist der Anfang und die zukünftige Geschichte; es folgt einer Logik und ist doch stets unvorhersehbar; es ist überall und doch nur an seinen Orten; es ist unsagbar, fordert aber eine endlose Auslegung. In diesem letzten Heideggers Ereignisdenken gewidmeten Kapitel möchten wir auf noch eine paradoxe Situation innerhalb des Ereignisses hinweisen, die sich auch in einer gewissermaßen widersprüchlichen Rede vom Ereignis widerspiegelt. Heidegger folgend legen wir das Ereignis als Austrag, Erfahrung bis zum Schmerz aus. Dies impliziert die Jemeinigkeit. Die Jemeinigkeit charakterisiert die Erfahrung des Seins schon in Sein und Zeit 351 und bleibt – wenn auch auf veränderte Weise – auch für die Erfahrung des Ereignisses gültig: »Da-sein ist je meines; was will das sagen? Daß die Inständigkeit im Da – jene Entäußerung zu aller Äußerlichkeit des Innern des Subjekts und des ›Ich‹ – rein und nur im Selbst zu übernehmen und zu vollziehen ist; […] Da-sein ist das je meine; die Gründung und Wahrung des Da ist mir selbst übereignet. Selbst aber heißt: Entschlossenheit in die Lichtung des Seyns.« (B, 329 f)
Dies bedeutet ganz einfach: Ich stehe in der Lichtung; das Ereignis ist mein Ereignis, ich trage es aus, ich falle in den Abgrund des Seins. Das Ereignis braucht mich, um wesen zu können, weil es eine Wesung mit mir ist. Ich bin sein Ort des Einschlags. Es gibt kein Ereignis, wenn niemand es austrägt. So könnte man in der Tat solche Textstellen interpretieren. Doch wir lesen auch, wie Heidegger – erstens – über das unbedachte, nicht gegründete und unentschiedene Ereignis spricht – im ersten Anfang ereignet sich das Ereignis, doch es wird als Ereignis
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Dort heißt es: »Das Sein dieses Seienden [des Daseins – L. P.] ist je meines.« (SZ,
41)
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
nicht erfahren. Und zweitens wird für Heidegger das Ereignis nicht nur als ein Augenblick des Einfalls verstanden, der als Ereignis erfahren bzw. nicht erfahren wird, sondern auch als seine Geschichte, in der es sich im Verborgenen ereignet. Wir sprechen also von einem Ereignis, das überall und doch nirgendwo ist – jenseits aller Jemeinigkeit. Wir sprechen von der Spur des Ereignisses, in der man zwar lebt, die aber nicht als Spur angesehen wird und dementsprechend nie zu einer jemeinigen Explikation kommt. In der Geschichte des Vergessens des Ereignisses wird das Ereignis nicht als Ereignis ausgetragen, es wird aber das In-Sein im Ereignis behauptet – man ist im Ereignis einmal in dem Sinne, dass das Gegebene des jeweiligen Welthorizontes aus dem Ereignis entsprungen ist, und ein andernmal in dem Sinne, dass man das Ereignis vergessen hat, was seine Verweigerung bestätigt. Diese paradoxe Situation wird noch komplexer, wenn man bemerkt, dass mit dem Ereignis als Verborgenen der Geschichte die Rede nicht mehr von »den Seltenen« 352, »den Einzelnen« 353, »den Einzigen« 354 und »den Ausgezeichneten« (B, 147) 355 ist, die zur »unbedingten Einsamkeit« 356 verdammt sind, sondern von allen (einer Gemeinschaft) im gleichen Maße: »Weil der geschichtliche Mensch im Unterschied des Seienden und des Seins inständet, auch wenn er den Unterschied als solchen und in seinem Wesen nicht erfährt […].« (E, 282)
Das in der Geschichte verborgene Ereignis wird also von allen ohne Jemeinigkeit ausgetragen. Die Situation spitzt sich zu, wenn man am Anfang dieses verborgenen Ereignisses einen Augenblick seines Einschlags vermutet, den auch niemand in seiner Person empfangen hat. Ist das überhaupt möglich? Und wenn ja, was ist das für ein Ereignis, um das es sich hier handelt? Wird damit nicht höchst spekulativ eine andersartige Wirklichkeit behauptet, die jenseits der sichtbaren
352
Die Seltenen, die Wenigen: BPh, 11, 28, 96 f, 227, 236, 400; B, 60, 230, 231; E, 54,
99. Die Einzelnen: BPh, 96 f, 414; B, 147, 237, 243, 272, 273, 277. Die Einzigen: BPh, 43; B, 231, 272, 273. 355 »[…] dieses Erstaunen je nur in den Einzelnen und Einzigen der seltenen Denker seine stimmende Macht entfaltet und niemals ein gewöhnlicher Durchschnittszustand aller werden kann […].« (B, 273) 356 Die Einsamkeit des Denkers des Seins: BPh, 11, 13, 47, 110, 177, 409; B, 55, 56, 100, 139, 243, 247, 361; E, 162. 353 354
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
menschlichen Welt abläuft und sie bedingt? Ein derartiges Ereignis wäre nur schwierig mit der Phänomenologie und Metaphysikkritik zu vereinbaren – mit der Denktradition also, zu der Heidegger gehört. Doch statt diesen Gedanken gleich zu verwerfen, könnte man durch ihn zu einem grundsätzlichen Problem einer Ereignisphilosophie kommen, das teilweise nur im Verborgenen viele Ereignisdenker beschäftigt. Die erste annähernde Frage ist, ob wir das, was mit uns geschieht, darauf reduzieren können, was wir davon, was geschieht, erfahren? In der Tat nicht. Wir werden später sehen, dass sogar eingeschworene Phänomenologen einen Rest im Phänomen sehen, der dem Betroffenen den Gedanken aufzwingt, dass dieses Phänomen eine Spur eines uneinholbaren Anfanges ist. Nun, wenn er zu keinem Bestandteil der sichtbaren Welt werden kann, an welchen Nicht-Ort der Welt ist er dann? Existiert er nur in der sichtbaren Spur? Er existiert in der Tat nur in der Sichtbarkeit – hier wird keine zweite Realität behauptet (man fällt nicht in die Metaphysik zurück), aber ereignet er sich ausschließlich als die Spur? Ereignet er sich doch nicht anders als die Spur, als das Sichtbare, das Seiende? Und wenn es ist in der Tat eine Differenz vom Ereignis und Seienden gibt, hat dann nicht Heidegger Recht, wenn er von einem verborgenen und uneinholbaren Ereignis spricht, das nur manchmal an einem Ort einschlägt, um wieder aus dem Sichtbaren zu verschwinden? Eine andere Frage betrifft das Verhältnis von Jemeinigkeit und Gemeinschaftlichkeit hinsichtlich des Ereignisses. Diese Frage eröffnet ein riesengroßes Forschungsfeld für die Philosophie, und Heideggers Denken trägt zweifellos zur Beantwortung dieser Frage bei. Seine These ist, dass eine geschichtliche Gemeinschaft in ihrem So-Sein auf ein anfängliches Ereignis zurückzuführen ist; und dass, während für die Gemeinschaft im Allgemeinen dieser Anfang verborgen bleibt und unwissend vollzogen wird, es Orte gibt, wo das Ereignis einschlägt und wo eine neue Geschichte angefangen wird. Diese Orte sind jemeinig. Das Ereignis als Geschichte ist gemeinschaftlich – es ist überall. Als Anfang ist er aber jemeinig – an einem konkreten Ort. Was könnte man daraus schließen? Nicht unbedingt, dass es die einzelnen Persönlichkeiten sind, die die Geschichte lenken, sondern eher, dass es für eine ereignishafte Erfahrung unmöglich ist, nicht gemeinschaftlich zu sein – es kann kein jemeiniges Ereignis geschehen, ohne die Bedeutung auch für die anderen zu gewinnen. Das Ereignis ist schon ursprünglich etwas nicht nur für einen. Wenn es so ist, wenn ein einzelnes Subjekt solche gemeinschaftliche und sogar gemein238 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Martin Heideggers
schaftsstiftende Erfahrungen in sich austragen kann, sollten solche Erfahrungen zum Thema der Phänomenologie werden, die grundsätzlich jede Erfahrungen schon im Voraus individuiert hat? Man könnte einwenden, dass es der Phänomenologie – unter großem Einfluss von Hermeneutik – nicht entgangen ist, dass die Erfahrungen niemals rein individuell sind, sondern gemeinschaftlich konstituiert und ausgelegt werden. Nun im Falle eines Ereignisses sprechen wir nicht von einer durch die Sprache, Kultur, Geschichte und andere Formen der Gemeinschaftlichkeit konstituierte Erfahrung eines Einzelnen, sondern von einer höchst individuierten Erfahrung eines Einzelnen, die die Erfahrungen der Gemeinschaft verändert. Und die Möglichkeit solcher Erfahrungen stellt eine Herausforderung sowohl für jede Phänomenologie als auch für jede Philosophie dar, die ihren Ausgangspunkt in den gemeinschaftlichen Strukturen nimmt. Für die Phänomenologie stellt sie eine Herausforderung dar, weil sie etwas an sich hat, was auch alle anderen haben werden – sie ist nie nur subjektiv. Und für die Gemeinschaftsforschung ist sie eine Erfahrung, die es im öffentlichen Raum gar nicht gegeben hat – sie ist immer zuerst jemeinig. Eine Philosophie des Ereignisses versucht, dieses paradoxe Element der menschlichen Welt so zu beschreiben, wie es sich ereignet – und nicht wie es als Phänomen subjektiv erfahren wird oder als ein gemeinschaftliches Phänomen existiert. Im Ereignisdenken Heideggers ist das Ereignis also etwas, was es nicht gibt, bis es an einem Ort jemeinig ausgetragen wird, um dann überall zu sein – als Spur eines uneinholbaren Ankommens.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
1.
Die Philosophie Emmanuel Levinas’ und das Ereignis
Im Vergleich zu Heidegger ist das Wort »Ereignis« (événement) in der Philosophie Levinas’ kein philosophisch entwickelter Begriff, um den sich eine Ereignisphilosophie bilden würde. Das Wort »Ereignis« kommt zwar vor und auch im Zusammenhang mit den wichtigsten Thesen seiner Philosophie, doch es gelangt nicht zur mehr Wichtigkeit und inhaltlicher Dichte als im allgemeinen Sprachgebrauch, wo »événement« – ähnlich wie im Deutschen – ein singuläres, unerwartetes und bedeutsames Vorkommnis oder bloß einen Prozess bedeutet. Nur wenn Levinas sich auf die Philosophie Heideggers bezieht, verwendet er das Wort »Ereignis« als Begriff und spricht vom »Ereignis des Seins« (événement de l’être). Unter dem Ereignis des Seins versteht Levinas allerdings etwas anderes als Heidegger, auch wenn er in diesem Zusammenhang eine Interpretation des Heidegger’schen Denkens vornimmt. Für Levinas ist das Ereignis des Seins – besonders in seinem früheren Werk De l’existence à l’existent – der Vollzug des Existierens eines Seienden. In Autrement qu’être nennt Levinas dieses Ereignis des Seins »essence« und zum Beispiel in De la déficience sans souci au sens nouveau (1976, enthalten im Band De Dieu qui vient à l’idée) »essance« (DI, 78): mit »a«, um »den verbalen Sinn des Wortes Sein zu bezeichnen« (GE, 79Anm.1/DI, 78Anm.1). Es ist das »Sich-Vollziehen des Seins« (l’effectuation de l’être) (ebd.). Das Ereignis des Seins bedeutet für Levinas aber noch deutlich mehr als nur den Vollzugscharakter des Seins, der es vom Seienden unterscheidet. Das Sein eines Seienden ist die Sorge um eigenes Sein, »Egoismus« (égoïsme): »Die verbale Form des Wortes ›sein‹, aus der gewiß keine Substantive hervorgehen, drückt das Geschehen oder die Tatsache oder das Ereignis des Seins aus; sie sagt, daß es im Sein darum geht, zu sein, sich zu erhalten […].
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Daher, im Sein, sofern es Leben bedeutet, ein Zusammenschrumpfen auf sich selbst, auf ein Für-sich, ein Selbsterhaltungsinstinkt, der schon ums Überleben kämpft, und, im denkenden Wesen, ein Seinswille, Inter-essiertheit, Egoismus.« (ZU, 257 f/EN, 237)
Es ist offensichtlich, dass wir es in Levinas’ Philosophie – anders als bei Heidegger – mit einer ethischen Interpretation des Seins zu tun haben. Das Sein des bei sich Bleibenden, mit sich selbst Identischen (des Selben – le Même) ist grundsätzlich egoistisch: Es interessiert sich nur für sich selbst und würde sein Sein niemals aufgeben; das Selbe kennt keinen Anderen (l’Autre, l’Autrui) und würde sich niemals für ihn aufopfern. Weil Levinas mit seinem Denken des Anderen sich von Heideggers egoistischem philosophischen Ansatz absetzen will, spricht er in Bezug auf seine eigene Philosophie von einem »Ereignis der Ethik« (l’événement éthique) (ZU/EN, 8/10, 258/238), ohne damit dem Wort »Ereignis« eine bestimmte Bedeutung zu geben. Das ethische Ereignis ist schlicht das Gegenteil des Ereignisses des Seins. Es gibt zwei Kontexte, in denen Levinas mit dem Wort »événement« die Singularität, Unerwartetheit und Bedeutsamkeit eines Vorkommnisses hervorhebt, ohne dieses Wort selbst zu einem philosophischen Konzept zu erheben. Erstens spricht er – besonders in De l’existence à l’existent und Le temps et l’autre – vom »Ereignis der Hypostase« (événement de l’hypostase) (SS, 61/EE, 80). Das Ereignis der Hypostase ist ein besonderer »Augenblick« (instant) (SS, 80/EE, 111), in dem das Seiende entsteht, indem es sich vom anonymen Geschehen des Seins löst und sein eigenes Sein zu vollziehen beginnt: »Wir haben das Erscheinen selbst des Substantivs gesucht. Und um dieses Erscheinen anzuzeigen, haben wir den Terminus der Hypostase wiederaufgegriffen, der in der Geschichte der Philosophie jenes Ereignis bezeichnet, durch das der in einem Verb ausgedrückte Akt zu einem Seienden wird, das man mit einem Substantiv bezeichnet. Die Hypostase, das Erscheinen des Substantivs, ist nicht nur das Erscheinen einer neuen grammatischen Kategorie; sie bedeutet die Aufhebung des anonymen es gibt, das Erscheinen eines privaten Bereichs, eines Namens. Vor dem Hintergrund des es gibt taucht ein Seiendes auf. […] Dank der Hypostase verliert das anonyme Sein seinen Charakter des es gibt. Das Seiende – das, was ist – ist Subjekt des Verbs sein und übt daher eine Herrschaft über die Fatalität des Seins aus, das zu seinem Attribut geworden ist. Jemand existiert, der das Sein, von nun sein Sein, übernimmt.« (SS, 101 f/EE, 140 f)
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis der Hypostase wird später – in Totalité et infini – als die Loslösung des Seienden von der Totalität interpretiert und »Trennung« (séparation) (TU, 145/TI, 75) genannt. In noch späterer Philosophie Levinas’ ist aber das Heraustreten aus dem anonymen Sein kaum noch ein Thema – dort handelt es sich um das Heraustreten aus dem egoistischen Sein des schon gebildeten Seienden. Zweitens, um den Unvorhersehbarkeits- und Einbruchscharakter der Zukunft und damit auch des Zukünftigen schlechthin – des Todes – zu unterstreichen, spricht Levinas – besonders in Le temps et l’autre – vom Zukünftigen und Tod als einem Ereignis. Das Zukünftige ist ein unvorhersehbares Widerfahrnis, das nicht in der Macht des Subjekts liegt: »Das Objekt, dem ich begegne, wird begriffen, und, kurz gesagt, durch mich konstituiert, während der Tod ein Ereignis ankündigt, dessen das Subjekt nicht Herr ist, ein Ereignis, in Bezug auf welches das Subjekt nicht mehr Subjekt ist.« (ZA, 43/TA, 57) 357
Das Zukünftige, das auf das Subjekt zukommt und seinem Zugriff entzieht, ist für das Subjekt »das Unbekannte« (l’inconnu) – das »Geheimnis« (mystère) (ZA, 43/TA, 56). Es ist das absolut Andere: »Dieses Nahen des Todes zeigt an, daß wir in Beziehung sind mit etwas absolut anderem […], mit etwas, dessen Existenz als solche aus Andersheit [altérité – L. P.] gebildet ist. Meine Einsamkeit wird dergestalt durch den Tod nicht bestätigt, sondern durch den Tod zerbrochen.« (ZA, 47/TA, 63)
In Le temps et l’autre zeigt Levinas, dass die Beziehung mit dem Anderen – in diesem Fall: mit dem Weiblichen – genauso strukturiert ist, wie die Beziehung zu dem Zukünftigen (ZA, 51/TA, 68 f). Dementsprechend ist die Rede vom Anderen als einem Ereignis. Der Andere ist das Geheimnis, das auf mich zukommt und meine Einsamkeit zerbricht: »Indem ich die Andersheit des anderen als Geheimnis setze, […] setze ich es nicht als Freiheit, die mit der meinigen identisch ist und mit der meinigen im Kampf liegt, setze ich nicht ein anderes Seiendes mir gegenüber, sondern ich setze die Andersheit. Ganz wie beim Tod haben wir es nicht mit einem Seienden zu tun, sondern mit dem Ereignis der Andersheit [événement de l’altérité – L. P.], mit der Entfremdung.« (ZA, 58/TA, 80)
357
Siehe auch: SS, 51/EE, 68; ZA, 47/TA, 62, ZA, 49/TA, 65.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Das Wort »Ereignis« dient also zur Charakterisierung bestimmter »Phänomene«, aber es selbst bleibt eher unbestimmt – wie im allgemeinen Sprachgebrauch: ungefähr und ohne tiefere Dimension. In diesem Sinne kann es in Bezug auf Levinas’ Denken von einer Philosophie des Ereignisses keine Rede sein. Es ist eine Philosophie des Anderen des Seins, und dieses Andere des Seins wird manchmal – nur um sich vom Ereignis des Seins bei Heidegger abzusetzen – Ereignis genannt. Bei der Auseinandersetzung mit dem Ereignisbegriff in der Philosophie Levinas’ deckt auch Pascal Delhom zuerst einige wichtige Kontexte auf, in denen das Wort »Ereignis« bei Levinas auftaucht. Es geht um das Ereignis des Seins 358, das Ereignis der Trennung vom Sein 359 und das Ereignis der Beziehung mit dem Anderen 360. Doch er bezweifelt, dass ausgehend von diesem Sprachgebrauch des Wortes »Ereignis« in Levinas’ Werken von einer Ereignisphilosophie bei Levinas die Rede sein kann:
358 Dies belegt er mit folgender Stelle aus Levinas’ Texten: »Also! Ich denke, dass der neue philosophische ›Schauer‹ (›frisson‹), den Heideggers Philosophie gebracht hat, darin besteht, Sein und Seiendes zu unterscheiden und die Beziehung, die Bewegung, die Wirksamkeit, die bisher im Existierenden lagen, in das Sein zu verlegen. Der Existenzialismus [damit meint Levinas ausdrücklich Heidegger] bedeutet, die Existenz – das Verb-Sein – als Ereignis zu empfinden und zu denken. Ereignis, das das, was existiert, nicht produziert, das nicht die Wirkung (l’action) dessen, was existiert, auf einen anderen Gegenstand ist. Das reine Faktum des Existierens ist Ereignis.« (Emmanuel Levinas: Intervention dans »Petite Histoire de l’Existentialisme« de Jean Wahl. In: Les imprévus de l’histoire. Montpellier: Fata Morgana, 1994, S. 112.) Die Übersetzung stammt von Delhom selbst: Delhom, 153. 359 Hier zitiert Delhom unter anderem folgende Passage: »Der Psychismus stellt ein Ereignis im Sein dar […]. Er ist schon eine Seinsweise, der Widerstand gegen die Totalität. Das Denken oder der Psychismus öffnet die Dimension, die von dieser Weise gefordert wird. Die Dimension des Psychismus öffnet sich unter dem Druck des Widerstandes, den ein Seiendes seiner Totalisierung entgegensetzt, er ist die Tatsache der radikalen Trennung.« (TU, 68/TI, 24): Delhom, 157. In der Übersetzung von Nikolaus Krewani, die Delhom hier zitiert, wird événement nicht als »Ereignis«, sondern als »Geschehen« übertragen. Delhom schreibt aber »Ereignis«. Dazu siehe seine Bemerkung in der Fußnote: Delhom, 157. 360 Dies wird zum Beispiel mit folgender Stelle aus Totalité et infini (TU, 247/TI, 145) belegt: »Der Rückzug in der Bleibe impliziert ein neues Ereignis. Ich muß mit etwas in Beziehung gewesen sein, von dem ich nicht lebe. Dieses Ereignis ist die Beziehung mit dem Anderen, der mich im Haus empfängt, die diskrete Gegenwart des Weiblichen.«: Delhom, 160. Auch hier übersetzt Krewani événement mit »Geschehnis«, Delhom schreibt aber »Ereignis«.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Nach diesem Parcours durch Levinas’ Philosophie, vom Ereignis des Seins über das Ereignis der Trennung bis hin zum Ereignis der Transzendenz und der Sprache, scheint die Frage berechtigt, ob diese Philosophie nicht eigentlich eine Philosophie des Ereignisses darstellt oder zumindest ein wichtiges Denken des Ereignisses beinhaltet, auch wenn dieser Aspekt seines Werkes bis jetzt kaum berücksichtigt wurde. Ich glaube allerdings, dass eine solche Behauptung irreführend wäre.« (Delhom, 163)
Man könnte aber denken, dass, wenn Levinas es für berechtigt hält, bestimmte Geschehnisse mit dem Wort »Ereignis« zu bezeichnen, es möglich wäre, ausgehend von diesem Gebrauch ein Levinas’sches Konzept des Ereignisses zu entwickeln und mithilfe dieses Konzepts nach der Ereignishaftigkeit dieser Geschehnisse zu fragen und so von einer Philosophie des Ereignisses bei Levinas zu sprechen. Einen solchen Versuch macht Claver Boundja in seinem Buch Philosophie de l’événement. Recherches sur Emmanuel Lévinas et la phénoménologie. 361 Aufgrund der von Levinas verwendeten Sprache in wichtigen Thesen seiner Philosophie schließt er, dass das »Ereignis« ein »fundamentales Konzept in der Phänomenologie von Levinas« darstellt: »Les recherches, dont nous présentons ici les résultats, visent à analyser l’événement comme le concept fondamental de la phénoménologie d’Emmanuel Lévinas.« (Boundja, 9) 362 361 Strategisch ähnlich geht Étienne Feron in seinem Aufsatz L’événement (in: Emmanuel Lévinas et l’histoire, hrsg. von Nathalie Frogneux und Françoise Mies. Paris: Namur, 1998, S. 103–131.) vor. Auch er will hinter dem bloßen Wortgebrauch ein entwickeltes Konzept des Ereignisses bei Levinas sehen. Levinas hat aber nur ein entwickeltes Konzept von der Beziehung mit dem Anderen, die er manchmal als Ereignis bezeichnet. Auch Delhom weist darauf hin, dass »Levinas nicht vom Ereignis als solchem, sondern immer von etwas als Ereignis« (Delhom, 163) spricht. 362 Ähnlich sieht es Bernhard Casper, aber er misst dem Ereignisbegriff bei Levinas nicht so große Bedeutung wie Boundja bei: »Überblickt man die Schriften von Levinas, so fällt auf, wie früh das Wort ›Ereignis‹ in das Zentrum seines Denkens tritt und welches semantisches Gewicht es dort durch alle Phasen seines œuvres hindurch behält. Bereits 1935, also noch vor Heideggers Kehre und der darin geschehenden Hinwendung zu dem »Ereignisdenken« wird in De l’évasion événement zu einem Leitwort […].« (Casper(2009), 164) Dass dieses Wort so früh bei Levinas erscheint, erklärt Casper durch den Einfluss Rosenzweigs, der von dem »ereigneten Ereignis« spricht, und durch den frühen Heidegger (Casper(2009), 164 f). Was Casper allerdings nicht ausführt, ist die Bedeutung, sogar unterschiedliche Bedeutungen und Verwendungen dieses Wortes. In diesem Zitat geht es zum Beispiel um das Ereignis der Hypostase als Trennung von der Totalität, das aber nicht die einzige Bedeutung des Ereignisses in Levinas’ Philosophie ist. Man kann aber auf jeden Fall vermuten, dass Casper der Ansicht ist, dass dieses Konzept einen philosophischen Hintergrund im
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Auch Boundja klärt zunächst die verschiedenen Kontexte auf, in denen Levinas vom Ereignis spricht. Zum einen ist das Ereignis das Ereignis der Hypostase. 363 Zum anderen ist das Ereignis der Einbruch der Zukunft, die aber noch eine reine Zukünftigkeit der Zeit bedeutet und keine besondere Bedeutung für das Subjekt darstellt. 364 Und zum dritten ist es das Ereignis des Einbruchs des Anderen. 365 Außerdem sieht er eine »Entwicklung« des Ereignisbegriffes bei Levinas, deren Höhepunkt die Bedeutung des Ereignisses des Anderen darstellt: »Ainsi, Lévinas passe d’une acception du concept d’événement à une autre, mais le sens ultime de l’événement, c’est l’irruption de l’autre.« (Boundja, 17)
Boundja sieht die Philosophie Levinas’ als eine Beschreibung des Weges vom Ereignis des Seins (wie bei Heidegger) zum Ereignis des Anders-als-Sein, und die anderen Ereignisse – das Ereignis des Hypostase und des Zukünftigen – sind Stationen dieses Weges. Wenn Heidegger eine Philosophie des Ereignisses des Seins entwickelt, so entwickelt Levinas eine Philosophie des Ereignisses des Anders-alsSein. In seinem Werk versucht Boundja, den Weg zu diesem Ereignis zu beschreiben und das Ereignis des Anders-als-Sein strukturell zu fassen. Obwohl wir grundsätzlich der These von Boundja zustimmen, dass die Philosophie Levinas’ eine Philosophie des Ereignisses des Ankommens des Anderen ist, unterscheidet sich unser Versuch, von einer Philosophie des Ereignisses bei Levinas zu sprechen, wesentlich von Boundjas Ansatz. Erstens ist es umstritten, dass man ausgehend vom bloßen Gebrauch des Wortes »Ereignis« von einer Philosophie des Ereignisses bei Levinas sprechen kann. Noch weniger gibt es hier eine Entwicklung des Ereignisbegriffes. Wir behaupten stattdessen, dass es in Levinas’ Philosophie durchaus um das Ereignis geht, jedoch nur, insofern wir seine Philosophie unter dem Aspekt unseres Ereignisbegriffes betrachten. Das heißt: Wenn wir uns mit unserem – Sinne einer Philosophie des Ereignisses aufweist. Dies entspräche nicht unserer These. 363 Boundja, 16. Dabei zitiert er folgende Stelle aus Le temps et l’Autre: »L’événement de l’hypostase c’est le présent.« (TA, 32) 364 Boundja, 16. Boundja belegt dies mit folgendem Zitat: »L’avenir, c’est l’autre.« (TA, 64) 365 Boundja, 17. Er zitiert Totalité et infini: »L’événement propre de l’expression consiste à porter témoignage de soi en garantissant ce témoignage.« (TI, 176)
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
mehr oder weniger bestimmten – Ereignisverständnis seiner Philosophie nähern, nur dann kann behauptet werden, dass seine Philosophie vom Ereignis spricht – vom Ereignis der Begegnung mit dem Anderen – und dass seine Philosophie die Logik, die Struktur dieses Ereignisses aufdeckt. Wenn wir also vorwegnehmend vermuten, dass es etwas Unvorhersehbares, Außergewöhnliches, Erschütterndes, alles Verwandelndes etc. gibt, was wir ein Ereignis nennen, dann finden wir es in der Philosophie Levinas’. Es handelt sich hier um ein Ereignis. 366 Doch es geht bei uns nicht darum, seine Philosophie als bloße Bestätigung unseres Ereignisbegriffes zu sehen, um dann das Ereignis in seinem Denken mit unserem Ereigniskonzept zu vergleichen und eventuelle Verschiedenheiten festzustellen. Es geht darum, dass wir die Philosophie Levinas’ unter einem bestimmten Aspekt – nämlich dem des unseren noch eher unbestimmten, eingeschränkten Ereignisbegriffes – betrachten, um dann durch die Philosophie von Levinas mehr über das Ereignis – über diese »Sache«, die wir Ereignis nennen, – zu erfahren. Streng genommen sind wir hinsichtlich Heideggers Ereignisdenken genauso vorgegangen: Wir fragten nicht, was er überhaupt über das Ereignis geschrieben hat, wie er es bestimmt hat, sondern was wir über das Ereignis, so wie wir es als eine »Sache« sehen, von Heidegger erfahren können. Der zweite Unterschied besteht darin, dass Boundja das konkrete Ereignis der Beziehung mit dem Anderen analysiert. Wir suchen dagegen die allgemeinen Strukturen des Ereignishaften überhaupt und versuchen sie mithilfe von Levinas’ Philosophie herauszuarbeiten. Um dies zu erreichen, müssen wir zwischen dem Inhalt des konkreten Ereignisses und dessen allgemeinen Strukturen, die jedes Ereignis aufweist, unterscheiden, wobei für uns nur diese Strukturen von Interesse sind. Boundja bleibt also bei dem konkreten Ereignis des Einbruches des Anderen, wir dagegen abstrahieren davon und suchen das für alle Ereignisse Gemeinsame. Auch in Bezug auf Heideggers Ereignisdenken sind wir so vorgegangen. Deswegen weil ungeachtet Es ist nicht ausgeschlossen, dass eigentlich auch Boundja auf dieselbe Weise vorgeht, nur sucht er eine Rechtfertigung seines Ansatzes in der Philosophie Levinas’ (was wir nicht machen). Darauf könnte zum Beispiel folgende Stelle hinweisen: »C’est le concept d’événement qui convient pour interpréter et traduire ce que Lévinas dit du visage, car événement, c’est ce qui s’annonce de soi-même comme l’origine de son propre sens.« (Boundja, 111) Das heißt: Das Konzept des Ereignisses, so wie Boundja es versteht, ist einfach dazu geeignet die Philosophie Levinas’ zu beschrieben. Wir teilen diese Auffassung. 366
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
dessen, dass Heidegger – im Vergleich zu Levinas – eine explizite Ereignisphilosophie hat, er nicht vom Ereignis im Allgemeinen, sondern nur von einem Ereignis, nämlich dem Ereignis des Seins spricht. Drittens fassen wir das Ereignisdenken Levinas’ nicht von vornherein als den Gegensatz zu Heideggers Ereignisdenken auf. Zwar ist das Heidegger’sche Ereignis das Ereignis des Seins und das Ereignis bei Levinas das Ereignis des Anders-als-Sein, aber diese Entgegensetzung stammt von Levinas selbst. Es ist sein Anspruch, einer der größten Kritiker des Heidegger’schen Denkens zu sein, sein Anspruch, anders und ursprünglicher als Heidegger zu denken. Damit ist es aber noch nicht entschieden, ob seine Interpretation des Ereignisses des Seins, dem gegenüber er das Anders-als-Sein stellt, dem entspricht, was Heidegger unter dem Ereignis denkt. Es könnte sich sogar herausstellen, dass hinsichtlich der allgemeinen Logik des Ereignishaften, die wir hier herauszuarbeiten versuchen, Heidegger und Levinas denkerisch ziemlich nah zueinander stehen. Dies soll nicht heißen, dass hier als Hauptziel gesetzt wird, die Ähnlichkeit des Heidegger’schen und Levinas’schen Denken unbedingt zu behaupten. Es geht ausschließlich nur um das Ereignis selbst, um die Logik, nach der es sich ereignet. Und indem wir unter dem Aspekt unseres Ereignisbegriffes gezielte Fragen an die Texte Levinas’ stellen und indem wir von den inhaltlichen Motiven des Levinas’schen Ereignisses absehen, werden wir auf den nächsten Seiten versuchen, die Ereignishaftigkeit des Ereignisses aufzudecken und seine Logik zu verstehen.
2.
Die Nicht-Phänomenalität und Nicht-Vorstellbarkeit des Ereignishaften
In der Analyse des Ereignisbegriffes bei Heidegger wurde gezeigt, dass das Ereignis einmal das im Ereignis Gegebene und ein andernmal der Einbruch des im Ereignis Gegebenen ist. Diese Zweideutigkeit gehört wesentlich zum Ereignis in dem Sinne, dass ein Ereignis nur als ein konkretes Ereignis existiert und nicht von seinem Gehalt zu lösen ist, und dass der Gehalt nur deswegen ereignishaft sein kann, weil er wie ein Ereignis einbricht. Ein Ereignis ist beides – der Einbruch und das, was einbricht, oder wie Heidegger fragt: »Gibt es denn einen ›Anfang‹, ein Ereignis, da ›nichts‹ anfängt und nichts sich ereignet?« Das Ereignisdenken kann diese beiden unzertrennlichen Aspekte voneinander zu lösen versuchen und zum Beispiel das Ereignis 247 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
im Allgemeinen – ohne konkreten Gehalt – beschreiben (so wie wir das hier machen) oder auch nur den Gehalt ausdrücken (so wie die Kunst es tut). Doch in jedem Denken des Ereignisses spiegelt sich diese der ereignishaften Wirklichkeit zugehörige Zweideutigkeit wider: Es ist unmöglich, das Ereignis im Allgemeinen als einen Einbruch, Anfang zu denken, ohne konkrete Beispiele zu nennen oder ohne zumindest von einem konkreten Ereignis auszugehen. Es ist sogar notwendig für ein Ereignisdenken, immer auf das Konkrete hinzuweisen, wenn es nicht das Ereignis in bloßen Begriffen verlieren möchte. Und es ist unmöglich, etwas Ereignishaftes auszudrücken zu versuchen, ohne etwas über seinen Einbruch zu berichten. Es gibt nur eine Beschreibungsweise: diejenige, die beide Aspekte gleichzeitig in Betracht zieht. Dies ist ein Charakteristikum, das alle unseren weiteren Ausführungen in sich tragen. Wenn wir gesagt haben, dass in der Philosophie Heideggers das Ereignis – entsprechend der Zweideutigkeit des Ereignisses – das im Ereignis Gegebene ist, dann haben wir gemeint, dass das Sein das Ereignishafte im Ereignis als Geben, als Anfang ist und dies im Sinne, dass das Sein kein Seiendes, sondern ein Ereignis ist. Das Seiende in der Philosophie Heideggers ist das Anwesende und Beständige. Die Anwesenheit und die Beständigkeit bedeuten, dass das Seiende greifbar ist. Es ist greifbar im weitesten Sinne des Wortes: man kann es im Sehen fixieren und nicht mehr aus den Augen lassen, man kann es in die Hand nehmen und von allen Seiten betasten, man kann es in der Praxis gebrauchen wie ein Zeug ohne eine besondere wissenschaftliche Interesse, man kann es mit einem allgemeinen Begriff bezeichnen und naturwissenschaftlich erforschen, man kann es auch in seiner Konkretion vorstellen, d. h. denkerisch »abbilden« und in der Vorstellung mit ihm manipulieren, man kann sich daran zu beliebiger Zeit und beliebig oft erinnern, es vergegenwärtigen, da es als etwas Beständiges, nämlich als eine Vorstellung, im Gedächtnis »gespeichert« ist. Das Seiende kann auch eine Vorstellung von einer Idee oder einem allgemeinen Begriff sein, die als etwas Beständiges und Anwesendes nur im Denken existiert. Im Denken und für das Denken ist also das Seiende genauso etwas Anwesendes und Beständiges – nämlich als Vorstellung, d. h. als etwas Gegenständliches, wenn es auch kein äußerer Gegenstand ist. Wenn es in der Philosophie Heideggers heißt, dass das Sein kein Seiendes ist, dann bedeutet es, dass das Sein nichts Anwesendes und Beständiges ist. Es ist ereignishaft, was aber nicht heißt, dass es ein 248 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Prozess ist, weil ein Prozess, eine Bewegung, ein Vorgang genauso etwas Anwesendes und Beständiges und in diesem Sinne etwas Seiendes ist. Das Sein ist ereignishaft in dem Sinne, dass es ein Geschehnis mit dem Dasein ist, das es in seine »surreale«, immer sich bewegende und sich entziehende Situation führt, die sich nicht vorstellen und erkennen lässt, weil man in ihr ist. Das Ereignis ist ein In- und Betroffen-Sein. So wie eine Sommernacht, die uns einnimmt, uns ein- und ausatmet. Sie ist kein Seiendes. Aber sie ist auch kein bloßes subjektives Erlebnis, weil sie geschieht. Das Ereignishafte bei Levinas – der Andere als »das Unendliche« (l’infini), das sich im menschlichen »Antlitz« (visage) manifestiert, weist eine ähnliche Struktur auf. Das Antlitz als Ort des Einbruchs des Andern, wo die Situation der Nähe und Verantwortung geschieht, ist kein Etwas, es ist nichts Greifbares. Die Begegnung mit dem Anderen ist keine Begegnung mit einem bestimmten und beständigen Etwas. Das Antlitz erscheint nicht als etwas für das Ich. Es ist kein Phänomen, das in einem Bewusstsein erscheinen würde: »Es entgeht der Vorstellung [représentation – L. P.]. Das Gesicht ist gerade das Ausbleiben der Phänomenalität [phénoménalité – L. P.]. Nicht weil es für das Erscheinen zu roh oder zu heftig wäre, sondern weil es in einem bestimmten Sinne zu schwach ist, Nicht-Phänomen, weil ›weniger‹ als das Phänomen.« (JS, 199/AQE, 112)
Das Phänomen als etwas, als etwas Gegenständliches, worauf das Bewusstsein intentional gerichtet ist, hat einen Umriss, eine Form, an der das Erscheinende festgehalten wird, durch die es sichtbar, greifbar und erkennbar ist. Im Fall eines Ereignisses wird diese Form aufgelöst: »Während das Phänomen bereits Bild ist, Manifestation, die gefangen ist in ihrer plastischen und stummen Form, ist die Epiphanie des Antlitzes lebendig. Sein Leben besteht darin, die Form [forme – L. P.] aufzulösen, in der sich jedes Seiende, sobald es in die Immanenz eintritt, d. h. sobald es sich als Thema darstellt, bereits verbirgt«. (SA, 221/DEHH, 271) 367
Das Antlitz, das Ereignishafte erreicht also nicht den Status eines Etwas, was erscheint. Es erscheint, ohne zu erscheinen. Und dies konstituiert sein Eintreten als »Rätsel« (énigme):
367
Siehe auch: ZU, 181 f/EN, 166.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»[…] diese Weise, in Erscheinung zu treten, ohne zu erscheinen, nennen wir […] Enigma, Rätsel.« (SA, 246/DEHH, 291) 368
Wenn das Ereignis geschieht, flimmert etwas vor unseren Augen, aber wir können nicht identifizieren, was es ist. Oder genauer gesagt, nichts flimmert vor unseren Augen – durch alle deutlichen oder undeutlichen Erscheinungen werden wir in das Nicht-Erscheinende schlechthin geführt. Es ist so, als ob wir durch das Sichtbare des Antlitzes – seine Merkmale und Mimik – in etwas hineingezogen würden, das keine Rückseite hat, die doch am Ende erscheinen könnte. Es ist so, als ob wir in eine Leere eingesaugt würden. Levinas zitiert diesbezüglich Sartre: »[D]er Andere sei ein bloßes Loch [pur trou – L. P.] in der Welt.« (SA, 227/ DEHH, 276)
Doch die Nicht-Phänomenalität heißt nicht, dass nichts geschieht: Das Ereignis des Antlitzes ist die Begegnung mit dem Anderen. Das Antlitz ist bloß nicht ein Etwas, worauf man sich intentional beziehen könnte, was man vorstellen, festhalten, begrifflich erkennen könnte. Mit anderen Worten: Es ist eine Bedeutung (signification), die nichts bedeutet, ein »nichtontologisches Bedeuten« (signifiance non-ontologique) (GE, 165/DI, 184) oder – genauer gesagt – eine Bedeutung, die nichts anderes als nur sich selbst bedeutet. Es bedeutet, nur was? Es ist herausgerissen aus den Sinnzusammenhängen der Welt, in der alle Sinngebilde auf einander hinweisen und sich so bestimmen lassen; es ist eine Bedeutung »ohne Kontext« (sans contexte): »Aber die Epiphanie des Anderen trägt ein eigenes Bedeuten bei sich, das unabhängig ist von dieser aus der Welt empfangenen Bedeutung. Der Andere kommt uns nicht nur aus dem Kontext entgegen, sondern unmittelbar, er bedeutet durch sich selbst.« (SA, 220 f/DEHH, 270) »Das Antlitz ist Bedeutung, und zwar Bedeutung ohne Kontext.« (EU, 65/ EI, 80) 369
Siehe auch: SA, 252 ff/DEHH, 296 ff. In der früheren Philosophie spricht Levinas in Bezug auf die Erfahrung des Anderen vom »Geheimnis« (mystère). In Le temps et l’autre schreibt er: »Das Verhältnis zum anderen ist ein Verhältnis zu einem Geheimnis.« (ZA, 48/TA, 63) Aber das Wort »Geheimnis« ist natürlich zu unkonkret, um die Weise des Geschehens des Antlitzes zu explizieren, es lässt diese Struktur nur intuitiv erahnen. Die Nicht-Phänomenalität des Antlitzes erklärt mehr. 369 Das Antlitz, das sich selbst, ohne Kontext bedeutet: SA, 282/DEHH, 320; HAM, 40/HAH, 50 f. 368
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Das Antlitz als das Ereignishafte erscheint nicht als etwas und kann nicht gedeutet werden. Es kann nicht festgehalten werden – es entzieht sich durch das Sichtbare hindurch, bleibt immer abwesend. 370 Würde ein anderes Ereignis als das des anderen Menschen geschehen, könnte man dieselbe Struktur aufweisen. Wäre das ein Ereignis eines Duftes, so würde der Betroffene den ganzen Duft in sich hineinziehen wollen, um das Ende dieses Duftes zu erreichen, mit der Hoffnung, am Ende ihn verstehen zu können. Doch eher wird der Duft aufhören, als man dieses Ende erreichen wird. Der Duft, der seine Phänomenalität hier und jetzt hat, führt den Betroffenen durch sich hindurch in eine unerreichbare Zukunft, in der er verstanden werden könnte, die aber niemals ankommt. Er ist für immer mehr als diese konkrete Phänomenalität und deswegen nicht als ein Etwas greifbar. Der Duft ist als etwas da und doch führt er weiter; er entzieht sich und bleibt uneinholbar. Es ist bemerkenswert – d. h. wichtig im Kontext der vorliegenden Arbeit –, dass, während Levinas solchen nichtgegenständlichen »Sachen« wie zum Beispiel dem Antlitz die Phänomenalität abspricht, Marion von ihnen als »gesättigten Phänomenen« (phénomènes saturés) spricht. In der Tat behandelt das Kapitel V des Buches De surcroît das Antlitz als ein gesättigtes Phänomen. Was sagt uns das? Erstmal, dass das Ereignishafte grundsätzlich kein bestimmtes Etwas ist. Wir werden aber sehen, dass das, ob es als ein NichtPhänomen oder als ein gesättigtes Phänomen beschrieben wird, nicht die entscheidende Frage eines Ereignisdenkens ist. Ein mit der Nicht-Phänomenalität verwandter Begriff, mit dem Levinas das Ereignis beschreibt, ist der der Vorstellung im Sinne einer Gestalt im Ich: Das Ereignishafte ist nicht auf die Vorstellung zu reduzieren: »Das Antlitz, in dem der Andere sich mir zuwendet, geht nicht auf in der Vorstellung des Antlitzes. Seine Not, die nach Gerechtigkeit schreit, vernehmen, besteht nicht darin, sich ein Bild vorzustellen, sondern sich als verantwortlich zu setzen, gleichzeitig als mehr und als weniger denn das Seiende, das sich im Antlitz präsentiert.« (TU, 311/TI, 190)
Doch mit dem Vorstellungsbegriff wird nicht nur angezeigt, dass das Ereignishafte grundsätzlich kein Etwas ist. Dieser Begriff weist auch auf die Dimension der Zeitlichkeit des Ereignisses hin: eine Vorstellung ist etwas Statisches, etwas Beständiges, das man deswegen re370
Die »Abwesenheit« (absence) des Anderen: SA, 283 f/DEHH, 321 f.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
produzieren, d. h. immer wieder vergegenwärtigen kann. 371 Das Ereignis kann man aber nicht vergegenwärtigen. Dieser Aspekt wird noch später behandelt, wo wir über die Zeitlichkeit des Ereignisses sprechen werden. Das, was wir jetzt betonen möchten, ist, dass die Beziehung mit dem Anderen heißt, »sich als verantwortlich zu setzen« (se poser comme responsable). Das Ereignishafte ist keine Vorstellung, der Bezug zu ihm ist nicht das Vorstellen, sondern das InBeziehung-Treten, Antworten, Nähe, Verantwortung. Dem Anderen bzw. dem Ereignis begegnet man nicht in der eigenen Welt der Vorstellungen. Es ist eine Beziehung mit einer radikalen Exteriorität, die in meine Welt einbricht, mich aus mir wirft und in eine Beziehung mit ihr eintreten lässt.
3.
Das Ereignis als Einbruch in die Welt des Selben
Die Nicht-Phänomenalität und Nicht-Vorstellbarkeit des Ereignishaften behauptet Levinas nicht nur deswegen, weil es kein erkennbares Etwas, keine bestimmte Bedeutung für das Wissen ist, sondern auch deswegen, weil eine Vorstellung, ein Phänomen grundsätzlich jemandes Vorstellung bzw. Phänomen ist: eines Subjekts bzw. eines Ich, sodass diese Vorstellung bzw. dieses Phänomen sich vollständig im Besitz des Subjekts bzw. des Ich befindet. Das Subjekt produziert die Vorstellung, sie ist seine Vorstellung. Das Subjekt hat etwas außer sich Seiendes in sich aufgenommen, angeeignet, zu sich selbst verwandelt. Durch die Aneignung gibt es nicht mehr das Andere des Subjekts, sondern nur das Selbe: »Als vorgestelltes kommt das Andere dem Selben gleich, obgleich es sich von ihm abzusetzen scheint.« (SA, 149/DEHH, 197)
Weil das Andere in der Vorstellung und Erkenntnis das Selbe ist, kann hier von einer Beziehung keine Rede sein: das Subjekt bestimmt das Andere, ohne selbst durch das Andere bestimmt zu werden. 372 Wenn es das Andere, das Ereignishafte geben soll, so kann die Bezie-
371 Im französischen Wort »représentation« ist die Vergegenwärtigung schon im Begriff mitgedacht. 372 Zur Einseitigkeit der Beziehung zum Anderen, wenn das Andere dem Bewusstsein angepasst wird, das Bewusstsein selbst aber unberührt, identisch mit sich selbst bleibt, siehe: SS, 106/EE, 148; ZA, 37 ff/TA, 47 ff; TU, 246/TI, 145; SA, 209 ff/DEHH, 161 ff.
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hung zu ihm nicht als Vorstellung, Konstitution, Erkenntnis und Wissen beschrieben werden: »Die metaphysische Beziehung 373 kann nicht im eigentlichen Sinne des Wortes eine Vorstellung sein; denn dann würde sich das Andere im Selben auflösen: Alle Vorstellung läßt sich wesentlich als transzendentale Konstitution deuten.« (TU, 43/TI, 8) »Was die Erkenntnis betrifft: Sie ist von ihrem Wesen her eine Beziehung zu dem, dem man gleicht und das man umschließt, dessen Andersheit man aufhebt, das immanent wird, weil es meinem Maß und meinem Maßstab entspricht. […] letztlich liegt im Bereich der Erkenntnis eine Unmöglichkeit, aus sich herauszutreten; von daher kann die Sozialität (socialité) nicht die gleiche Struktur haben wie die Erkenntnis.« (EU, 46/EI, 52) 374
Wenn das Ich bei sich ist, sich in der Identität mit sich selbst befindet und von seiner Sphäre aus um das Andere weiß, ist es mit dem Anderen in keinerlei Beziehung, weil es kein Anderes gibt. Das Andere ist also kein Etwas, das durch die Vorstellung und Erkenntnis zur Sphäre des Subjekts gehört – es ist die »Exteriorität« (extériorité) gegenüber dem Subjekt und seiner Immanenz, seinem immanenten Bewusstseinsleben. Es ist das Außen. Das Ich kann sich nicht von sich aus dieser Exteriorität nähern, weil seine Annährungsversuche schon mit der Entscheidung, sich anzunähern, das Andere zum Selben machen. Nicht das vorstellende, erkennende Subjekt nimmt eine Beziehung mit dem Anderen auf, indem das Andere als Ziel seiner Annährung gesetzt und somit zum Selben gemacht wird, sondern es ist immer das Andere, das in die Welt des Selben einbricht. Das Andere, das Ereignis ist an sich »Heimsuchung« (visitation): »Die Bewegung der Begegnung tritt nicht zu dem unbeweglichen Antlitz hinzu. Diese Bewegung ist in diesem Antlitz selbst. Das Antlitz ist durch sich selbst Heimsuchung und Transzendenz.« (SA, 235/DEHH, 282) »Seine [des Anderen – L. P.] Gegenwart besteht darin, auf uns zuzukommen, einzutreten. Dies läßt sich so ausdrücken: Das Phänomen, das die Bei dem Gebrauch vom Wort »Metaphysik« bei Levinas ist zu beachten, dass er damit nicht in einer kritischen Einstellung die Wissenschaft vom objekthaften Seienden meint, wie dies zum Beispiel Heidegger und auch wir in dieser Arbeit tun. Metaphysik ist für Levinas das Gegenteil von Ontologie – dem Denken des Seins – und sie bedeutet das Denken des Anderen, das Überschreiten des Seins durch die Annäherung zu dem Anderen (dazu siehe: TU/TI, 35/3, 38/5, 49/12, 66/23, 109/51). 374 Die Erkenntnis führt nicht aus der Immanenz des Selben heraus: EU, 43 ff/EI, 49 ff. 373
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Erscheinung des Anderen ist, ist auch Antlitz, oder auch folgendermaßen (um dieses Eintreten, das in jedem Augenblick in der Immanenz und Geschichtlichkeit des Phänomens stattfindet, zu zeigen): Die Epiphanie des Antlitzes ist Heimsuchung.« (SA, 220 f/DEHH, 271)
Diese Passagen bestätigen die vermutete Zweideutigkeit des Ereignisses: Das Ereignis ist das, was ankommt – das Unbegreifliche –, und das Ankommen. Das Unbegreifliche kommt an, ist an sich ein Ankommen. Diese beiden Aspekte sind unzertrennlich miteinander verbunden. Wenn das Ereignishafte sich ereignet, geschieht ein Einbruch in die Welt des Ich. Es ist so, als ob sich eine andere Welt durch die Störung dieser Welt eröffnen würde: »Der Eintritt des Antlitzes in unsere Welt geschieht im Ausgang von einer absolut fremden Sphäre – d. h. aber gerade im Ausgang von einem Absoluten, was übrigens der eigentliche Name der tiefen Fremdheit ist. In ihrer Abstraktheit ist die Bedeutung des Antlitzes im buchstäblichen Sinne des Wortes außergewöhnlich.« (SA, 222/DEHH, 271 f)
Allerdings darf man diese andere Welt nicht als eine Welt, als den Horizont aller bestimmten Bedeutungen denken. Das, was sich eröffnet, ist das Jenseits aller Welten: »jenseits der ›Welt‹« (SA, 226/ DEHH, 275) 375. Es ist nur eine plötzliche Tiefe dieser Welt, die kein Etwas aus dieser Tiefe ankommen lässt. Das, was einbricht, hat keine eigene Realität – es existiert nur als die »Störung« (dérangement) (SA, 241/DEHH, 287) 376 der Realität, der Ordnung dieser Welt, und ist in diesem Sinne »an-archisch« (an-archique) (JS, 224/AQE, 128) 377. Die Störung durch den Anderen bedeutet für das Selbe die »Unterbrechung« (interruption) des Bei-sich-Seins und den Identitätsverlust: »Nicht-Identität« (non-identité), »Unterbrechung der unumkehrbaren Identität, die dem sein zugehört« (JS, 47/AQE, 16). 378 Gestört und unterbrochen, findet die »Subjektivität« (subjectivité), die von dem selbstzufriedenen Subjekt zu unterscheiden ist, keine Ruhe mehr: »L’au-delà est précisément au-delà du »monde« […].« Siehe auch: SA, 228/ DEHH, 276; HAM, 51/HAH, 62. 376 Zur Störung siehe auch: SA/DEHH, 244/289, 248/293. 377 Siehe auch: SA, 248 f/DEHH, 292 f. 378 Zur Nicht-Identität, »Nicht-Übereinstimmung« (non-coïncidence) mit sich selbst siehe auch: HAM/HAH, 42/53, 92/102 f; JS/AQE, 35/10, 47 f/16 f, 50/18, 119/, 135/ 72, 157/86, 207/117, 245/140 f, 255/147, 305/177, 318/184, 255/247, 278/160, 310/ 180, 318/184, 335/195; GE, 100/DI, 131. 375
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»Der Andere-im-Selben der Subjektivität ist die Beunruhigung [inquiétude – L. P.] des Selben durch den Anderen.« (JS, 69/AQE, 32) 379
Wenn es das intentionale Bewusstsein ist, das das Andere anzielt und vereinnahmt, und deswegen keine Beziehung mit dem Anderen hat, so kehrt das Ereignis als Einbruch des Anderen die Intentionalität um, was die Beziehung zum Anderen ermöglicht. Levinas spricht von der »Umkehrung der Intentionalität« (inversion de l’intentionnalité) (JS, 115/AQE, 61) und dies heißt: Wenn das Bewusstsein auf das Andere stößt, kann es nicht mehr bei sich bleiben und aus eigener Sphäre heraus auf das Andere intentional gerichtet sein – mit dem Ziel, es in das Bewusstsein aufzunehmen und so zu seinem Phänomen zu konstituieren. Es passiert das Gegenteil: Das Ich wird aus sich herausgeworfen, es wird passiv, dem Anderen, das sich aufdrängt, ausgesetzt: »Das durch alle Anderen besessene 380, alle Anderen ertragende Ich ist die Umkehrung der intentionalen Ekstase.« (JS, 196Anm.24/AQE, 110Anm.24) 381
Das Ereignishafte gehört also nicht zur Sphäre des Subjekts. Es ist eine radikale Exteriorität, die sich nie auf eine Vorstellung, ein Thema, ein Erkenntnisobjekt reduzieren lässt. Es ist immer mehr als das, was wir von ihm denken können, weil es es selbst ist und bleibt. Jede Begegnung mit dem Ereignishaften ist deswegen ein Einbruch in die Welt, die niemals aufhört, ein Einbruch zu sein, weswegen die Zweideutigkeit des Ereignisses, nämlich dass es gleichzeitig das Ereignishafte und der Einbruch des Ereignishaften ist, unauflösbar ist. Würde 379 Zur Beunruhigung des Selben durch den Anderen siehe auch: SA, 284/321; HAM/ HAH, 43/53, 100 f/109 f; JS/AQE, 35/9 f, 135/72, 157/86, 170/95, 238/136, 255/147, 312/181; ZU, 114/104. In De Dieu qui vient à l’idée lautet es: »Das Hauptanliegen, das hinter all diesen Bemühungen steckt, besteht darin, das Andere-im-Selben zu denken, ohne dabei das Andere als ein anderes Selbes zu denken. Das im bedeutet keine Assimilierung: das Andere stört oder erweckt das selbe, das Andere beunruhigt das Selbe oder inspiriert das Selbe, oder das Selbe begehrt das Andere oder wartet auf es […]. […] Das Selbe ist folglich nicht in Ruhe […].« (GE, 98/DI, 130) 380 Das Ich wird von einer Exteriorität besucht und außer sich geworfen. Diese Situation wird von Levinas noch radikaler beschrieben: Es ist eine Situation der »Besessenheit« (obsession), der »Verfolgung« (persécution), wo ich die »Geisel« (otage) des Anderen bin. Der Andere drängt sich auf, hat mich im Griff, fordert von mir eine Antwort als Verantwortung. 381 Zur Umkehrung der Intentionalität siehe auch: TU, 180/TI, 101; SA, 223/DEHH, 273; HAM, 44/HAH, 54; JS/AQE, 118/62, 128 f/69, 247/142.
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das Ereignishafte aufhören einzubrechen, würde er im Selben verschwinden. In der Situation dieses Einbruches wird das Subjekt aus sich geworfen und transzendiert auf das Andere hin. So findet das Ereignis weder im Selben, das das Andere zum Verschwinden bringt, noch im Anderen, mit dem sich das Selbe vereinigt, statt: Die Stätte des Ereignisses ist das Ereignis selbst. Das Ereignis ist eine Stätte, ein Ort, τόπος. Wo und wann begegnen sich laut Levinas das Selbe und der Andere so, dass das Selbe den Einbruch des Anderen erfährt und aus sich für den Anderen heraustritt? Im Werk Totalité et infini findet diese Begegnung in der »Sprache« (langage), »Rede« (discours) statt, in der Situation also, wenn der andere Mensch spricht. Es ist nicht wichtig, was er sagt, sondern dass er es tut 382, dass er sich mit seiner Rede als eine von mir unabhängige Quelle eines anderen inneren Lebens zeigt, dass er meine eigene Vorstellungsfolge zerbricht und in sie einbricht, dass er mich unterbricht. Der Unterschied zwischen der Vereinnahmung des Anderen und der Rede zeigt sich zum Beispiel in der Situation, wenn man sich auf ein Gespräch mit jemandem vorbereitet. Man hat eine bestimmte Meinung über die andere Person, man versucht sich vorzustellen, wie das Gespräch verlaufen wird. In allen diesen Überlegungen ist man bei sich, gefangen in eigenen Gedanken, völlig in sich immanent, man kennt nichts außer sich, obwohl man an eine andere Person denkt. Aber wenn dieses Gespräch dann wirklich stattfindet, verläuft es anders, als man gedacht und geplant hat. Es ist so, weil der andere Mensch nicht in meiner Macht liegt – er redet nicht das, was ich mir vorgestellt habe, er macht alles anders. Wenn ich von Weitem den Anderen beobachte oder nur an ihn denke, passt er zu meiner Welt, ist ein Teil davon. Wenn ich aber mit ihm rede, zeigt er sich als eine andere Welt, die die meine berührt, unterbricht, aber keineswegs zum Teil meiner Welt wird. Im Gespräch ist der Andere nicht in mir, sondern wir befinden uns in »Von-Angesicht-zuAngesicht« (le face à face): »In der Tat, das Seiende, das zu mir spricht und dem ich antworte oder das ich befrage, liefert sich mir nicht aus, es gibt sich mir nicht derart, daß ich diese Erscheinung übernehmen könnte, sie meiner Innerlichkeit anmessen und so aufnehmen könnte, als käme sie aus mir selbst. […] Die Exteriorität der Rede konvertiert sich nicht in Innerlichkeit. […] Die Beziehung zwi382 Nicht das »Gesagte« (das Gesagte ist grundsätzlich meins), sondern das »Sagen« selbst eröffnet die Andersheit des Anderen: TU/TI, 265 f/157 f, 295/179 f.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
schen den getrennten Seienden totalisiert die Seienden nicht, sie ist »Beziehung ohne Beziehung«, niemand kann sie umfassen oder thematisieren. […] Die Beziehung zwischen den »Abschnitten« des getrennten Seins ist ein Von-Angesicht-zu-Angesicht, eine irreduzible und letzte Beziehung.« (TU, 427/TI, 271) 383
Später – in Autrement qu’être – ist bei Levinas, entsprechend seiner Radikalisierung des nicht-ontologischen Ansatzes, nicht mehr die Rede vom sprechenden Anderen, sondern von mir, der spricht. Im »Sagen« (le Dire), das Levinas vom »Gesagten« (le Dit) unterscheidet (um wiederum zu zeigen, dass es nicht darauf ankommt, was man sagt, sondern dass man sagt), nähere ich mich dem Anderen: »Das Sagen ist eine Annäherung an den Nächsten.« (AS, 191/HS, 211) 384
Es ist diese »Nähe« (proximité) zu dem Anderen, die den Einbruch des Anderen und das Außer-sich-Sein der Subjektivität bedeutet; die die Antwort und Verantwortung dem Anderen gegenüber ist. Sie stellt eine radikale Exteriorität dar und hat deswegen keine Phänomenalität. Das Ich erreicht das Ereignis nicht, indem es dieses Ereignis vorstellend in sich aufnimmt, sondern nur, indem es, in Passivität versetzt, das Ereignis empfängt, das selbst auf das Ich zukommt. Das Ereignishafte wirft das Ich aus sich heraus – nach draußen, wo die wirkliche Begegnung eines Von-Angesicht-zu-Angesicht stattfinden kann.
4.
Das Ereignis und die Innerlichkeit
Wenn Heidegger die Nicht-Seiendhaftigkeit des Seins behauptet, bedeutet das für ihn unter anderem, dass das Sein keine Vorstellung, kein Denkobjekt ist, dem gegenüber der Denkende steht, um es aus einer »neutralen« Position zu beschreiben und zu erkennen. Das Sein 383 Die Rede als die Beziehung mit dem Anderen, in der die Andersheit des Anderen nicht aufgehoben wird: TU/TI, 44 ff/9 f, 57 f/18, 87 f/37 f, 99/45, 106/50, 138/71, 249/ 147, 278 f/168 f, 426 f/271, 429/272 f. 384 Man muss aber beachten: Es ist richtig, dass ich zum Anderen hin im Sagen geöffnet bin. Aber nicht einfach dadurch, dass ich denke: »Ich rede jetzt mit ihm.« Weil ich kann ja den Anderen immer noch beim unseren Gespräch als ein intentionales Objekt im meiner Immanenz auflösen. Diese Zuwendung zum Anderen ist tiefer: Das Sagen als solches, noch vor meinem Ich denke, ist eine Voraussetzung des Anderen und so ein Gespräch mit ihm. Dazu siehe insbesondere: ZU, 198 f/EN, 180 f.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
ist in Heideggers Ereignisdenken der »Austrag«. Es geht darum, dass das Sein als Ereignis jemanden trifft, betrifft und vom jeweiligen Betroffenen in eigener Person erfahren wird. Das Sein ist kein allgemeiner Begriff in einer über-persönlichen Vernunft, an der alle vernünftigen Menschen teilhaben, sondern meine Erfahrung des Seins, wenn sich das Geschehnis des Aufleuchtens des Seienden, d. h. das Geschehnis der Wahrheit ereignet; es ist mein In-Sein im Ereignis, mein An-dem-Ort-Sein des Ereignisses. Das Ereignishafte für Levinas ist genauso wenig eine Vorstellung, ein Phänomen – es gehört nicht zum Selben –, sondern bricht als eine absolute Exteriorität in seine Welt ein. Aber – von anderer Seite – kann sich das Ereignishafte laut Levinas nur in der und durch die Subjektivität ereignen, d. h. es braucht einen jeweiligen, unersetzbaren Menschen, der es aufnimmt, um geschehen zu können. Auch in Heideggers Ereignisdenken kommt das Sein von außen auf den Menschen zu, der es durch sich geschehen lässt. Es ist zwar kein »Gemächte des »Subjekts««, aber das »Seyn braucht das Da-sein«, um wesen zu können. Das Ereignis des Antlitzes wie jedes Ereignis geschieht nicht für sich – es ist wesentlich ein Verhältnis, eine Begegnung zwischen denen, die sich in dieser Begegnung nicht vereinen, sondern auch getrennt bleiben. Wie in jedem Verhältnis verlangt auch das Antlitz sein Gegenüber, doch dies kann nicht das Bewusstsein sein, das das Andere seiner Andersheit beraubt, indem es das Andere zum Inventar seiner eigenen Welt macht. Die Subjektivität, die das Andere empfangen vermag, steht jenseits des Bewusstseins, jenseits des seins. Sie ist nicht das Bewusstsein, das das Zentrum seiner Welt ist, zu der auch das Andere mitgehören soll. Sie ist eher ein »Nicht-Ort« (nonlieu) (JS, 35/AQE, 9) 385 als eine totale Welt, wo alles seinen Platz findet. Aber die Subjektivität als Nicht-Ort und jenseits des Bewusstseins, das das Sein und in der Reflexion auch sich selbst erscheinen lässt, also identisch mit sich selbst ist, und das alles zum Selben macht, ist auch nicht anonym. Das Jenseits des Bewusstseins ist zwar das Jenseits der Identität des in der Reflexion mit sich selbst identischen Bewusstseins, aber es ist keine Anonymität. Um eine solche individuelle und unersetzbare Subjektivität zu bezeichnen, verwendet Levinas das Wort »Innerlichkeit« (intériorité). Das Andere kann nur in der und durch die Innerlichkeit empfangen werden. Die Innerlichkeit der Subjektivität geschieht zwischen dem ano385
Der Nicht-Ort der Subjektivität: JS/AQE, 40/12, 49/17, 55/21.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
nymen Prozess des Seins und dem mit sich selbst identischen Bewusstsein. Sie ist »später« als das anonyme, totale Sein, weil von ihm getrennt, und sie ist »früher« als das Bewusstsein, weil sie noch keine Freiheit, kein Ursprung, sondern »Passivität« (passivité) ist – sie empfängt, ohne zu sich selbst zu kommen und alles zu besitzen: »Das ›Diesseits‹ oder das ›Vor-Ursprüngliche‹ oder das ›Prä-Liminare‹ bezeichnen – zwar durch Mißbrauch der Sprache – diese Subjektivität, die früher ist als das Ich, früher als seine Freiheit und seine Nicht-Freiheit. Vor-ursprüngliches Subjekt, außerhalb des Seins, in sich. Die Innerlichkeit wird hier nicht mit irgendwelchen räumlichen Ausdrücken als das Volumen einer umschlossenen und dem Anderen versiegelten Sphäre beschrieben […]. […] Die Innerlichkeit ist die Tatsache, daß es im Sein etwas gibt, was dem Anfangen vorausgeht […]. […] Es handelt sich hier um eine unübernehmbare Passivität, die sich nicht nennt oder die nur durch Mißbrauch der Sprache genannt wird, Pro-nomen 386 der Subjektivität.« (HAM, 72 f/HAH, 82) 387
Wenn das Ereignis geschieht, wird das Ich auf seine Innerlichkeit, seine Passivität zurückgeworfen – es verliert die Identität des reflexiven, mit sich selbst identischen Bewusstseins, um von dem Anderen betroffen zu werden. Diesen Prozess nennt Levinas »Rücklauf« (ré-
386 Mit dem »Pro-nomen« meint Levinas hier »Sich« (soi) – den Akkusativ der Passivität der Subjektivität, der vor dem Nomen – dem Subjekt – geschieht. Levinas verwendet oft das Wort »Akkusativ«, um die Subjektivität in der Begegnung mit dem Anderen zu beschreiben. Der Akkusativ bedeutet, dass nicht Ich das Andere meint, wodurch es zu einem Objekt wird, sondern das Andere meint Mich, bricht in mich ein, zerstört meine Identität: »Das Subjekt wird beschreibbar als Sich, von vornherein im Akkusativ (oder unter Anklage!) […].« (JS, 129/AQE, 69) 387 Dieses Früher-als-das-Ich wird bei Levinas unterschiedlich genannt. Wir ziehen hier den Begriff »Innerlichkeit« vor, aber es kann auch genauso »das Vor-Ursprüngliche« (le pré-originaire), »Passivität« (passivité), »Subjektivität« (subjectivité), »der Andere im Selben« (l’autre dans le même), »Sensibilität« (sensibilité), das Ich »im Akkusativ« (à l’accusatif) u. a. genannt werden. Es ist interessant, dass Levinas, trotz seiner grundsätzlich kritischen Einstellung gegenüber Husserl, der für ihn ein Denker der Selben und der Totalität ist, bei ihm auch diese Idee des Vor-Bewussten, wo das Andere begegnet wird, sieht. Auf der einen Seite nimmt Husserl alles im Selben auf (GE/DI, 48/38, 133/159, 199/235; ZU, 105/EN, 97), aber, auf der anderen Seite, durch die Aufdeckung des Lebens eröffnet er auch den Ort für das Andere vor dem Bewusstsein (GE/DI, 68 f/53 f, 196 f/232 f; ZU, 108 f/EN, 99 f). »Die Lebhaftigkeit des Lebens« (GE, 72/DI, 56), »die passive Synthese der Zeit« (GE/DI, 92/87, 145/169), die Levinas seinerseits »Geduld« (patience) nennt, »die lebendige Gegenwart« (ZU, 111/EN, 101) sind Husserls Ideen, die seine Philosophie einer Philosophie des Anderen näher bringen, indem sie einen »Bruch des Selben der Immanenz« (ZU, 111/EN, 102) andeuten.
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currence) 388. Hier kann eine Frage entstehen: Wie kann das Transzendieren aus sich auf das Andere hin, von dem wir vorher gesprochen haben, mit dem Rücklauf zum Sich des Akkusativs vereinbart werden? Sind das nicht entgegensetzte Richtungen? Handelt es sich hier nicht um einen Widerspruch des Ereignisdenkens? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre: Die Passivität der Innerlichkeit ist das Sich-Öffnen zum Anderen hin, sie ist das Transzendieren aus sich heraus. Nur wer sich vor seiner Selbstheit befindet, kann den Anderen in sich aufnehmen. Das Zurücklaufen und das Hinlaufen sind zwei Seiten einer Medaille – zwei Seiten des Ereignisses. Man ist gleichzeitig in sich und außer sich. Diese an das individuelle und unersetzbare Sich gebundene Innerlichkeit ist also notwendig für das Ereignis des Anderen: »Das Individuelle und das Persönliche sind notwendig, damit das Unendliche sich als Unendliches ereignen kann.« (TU, 316/TI, 193) »Das Menschliche heißt Rückkehr zur Innerlichkeit des nicht-intentionalen Bewußtseins […].« (ZU, 186/EN, 170) 389
Eine weitere Frage kann entstehen, nämlich ob das Ereignis auf ein Erlebnis reduzierbar ist, das eine Phänomenologie beschreiben könnte. Wenn die Philosophie des Ereignisses dazu kommt (und sie kommt unausweichlich dazu), eine Situation zu beschreiben, in der sich der vom Ereignis Betroffene vor oder jenseits der Subjekt-Objekt Beziehung, der Noesis-Noema-Korrelation, des Verhältnisses von Erkenntnis und Sein befindet, lässt es sich fragen, ob es sich hier um ein Erlebnis handelt. Wir erinnern uns, dass schon Heidegger in seinem Ereignisdenken dieses Problem behandelt hat: Wenn das vorstellende Denken das Sein nicht denken kann, ist das Sein dann vielleicht ein Erlebnis, ein Gefühl, ein seelischer Zustand? Heideggers Antwort auf diese Frage lautete: Das Sein als Ereignis wird gedacht, aber von einem Denken, das sich nicht gegenüber dem Sein, sondern in ihm aufhält und aus ihm spricht. Für Levinas wäre die Einführung eines neuartigen Denkens allerdings keine Lösung, weil jedes Denken thematisiert, und indem es thematisiert, macht es das Thematisierte zu einem Objekt für das Selbe. Aber auch ein Gefühl, der Genuss oder auch die Unterbrechung des Genusses – Schmerz – sind genauso an 388 Die Rekurrenz: SA, 295–330/Sub; JS/AQE, 227 ff/130 ff, 251/144 f, 253/145 f. Oder auch »Rückkehr« (retour) (ZU, 186/EN, 170). 389 Bereits in der Einleitung zitiert.
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das Ich gebunden: Sie sind egoistisch, sie kennen das Andere nicht. Das Ereignis der Begegnung mit dem Anderen ist also weder Erkenntnis noch ein präreflexives Erlebnis: »Bedeutung [d. h. der Andere – L. P.], die dem Thema unangemessen bleibt, obschon sie sich, um sich zu zeigen, in ihm ausbreitet. Man darf sie deshalb doch nicht als »erlebte Bedeutung« [signification vécue – L. P.] auffassen.« (JS, 309/AQE, 180) »Man ist sogleich geneigt, eine solche Bedeutung Erlebnis zu nennen. Als wäre die Bipolarität der Erlebten und des Thematisierten – die uns von der Husserl’schen Phänomenologie her vertraut ist – nicht schon Ausdruck einer bestimmten Weise, allen Sinn in Abhängigkeit vom Sein und vom Bewußtsein zu interpretieren. Als könnte die Verantwortung des der-Einefür-den-Anderen nichts anderes ausdrücken als die Naivität eines unreflektierten Erlebten, dem aber die Thematisierung verheißen ist.« (JS, 362/ AQE, 212) 390
Wenn die Begegnung mit dem Anderen als Ereignis weder ein Thema für das Denken noch ein Erlebnis im subjektiven Erlebnisstrom ist, wobei in beiden Fällen das Andere das Selbe ist, wie ist sie dann zu beschreiben? Als Transzendieren aus sich selbst zum Anderen hin, als die Passivität der Innerlichkeit – so wurde die Frage beantwortet. Aber man darf nicht verwechseln: Das Ereignis ist das Außer-Sich, aber nicht das Gefühl von Außer-Sich-Sein. Es ist die Versetzung in die Passivität, aber nicht das Gefühl der Passivität in der Innerlichkeit. Die Passivität ist nicht »Bewusstmachung dieser Passivität« (ZU, 162/ EN, 148). Genauso wenig ist es ein Gedanke vom Außer-Sich-Sein oder der Begriff der Passivität. Ich erlebe nicht das Transzendieren aus mir selbst: Ich transzendiere wirklich. Ich erlebe nicht die Passivität: Sie geschieht mit mir als eine Wirklichkeit. Das Ereignis ist eine Wirklichkeit, die mit mir geschieht: Es geschieht nicht in mir. Deswegen ist auch eine Phänomenologie des Ereignisses nicht möglich. Ich bin nur ein Teil eines Geschehnisses, die meine unersetzbare Innerlichkeit als Passivität in Anspruch nimmt. Ich – genau ich – bin der Betroffene. Es gibt kein Ereignis ohne ein Ich – ein Ich, verstanden nicht als ein Bewusstsein, sondern als Einbruchstelle für das Andere; verstanden als dasjenige, was anders sein kann als es ist.
390 Die Bedeutung ist weder etwas Objektives noch ein subjektives Erlebnis: SA, 200/ DEHH, 241; JS/AQE, 289/167, 391 f/231.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
5.
Das Überschreiten des Denkens und die Undenkbarkeit des Ereignisses
Der Andere in Levinas’ Philosophie ist kein Phänomen: Er ist keine Vorstellung, sondern Heimsuchung. Das heißt: Er ist nur dort, wo wir ihm begegnen. Diese Begegnung mit dem Anderen wird nie zu einem Thema, Objekt eines Subjekts, weil sie nicht im Selben geschieht – weder als sein Gedanke, noch als sein Erlebnis –, sondern vor dem Bewusstsein, draußen bzw. drinnen, wo die Subjektivität auf das Andere so trifft, dass sie es nicht zu ihrem inneren Besitz machen kann. Die Begegnung mit dem Anderen ist ein Ereignis, weil sie nicht ein Geschehnis des Selben ist, sondern ein Geschehnis mit ihm. Aus diesem Grund ist sie »Unmaß« (démesure) gegenüber dem Denken, »Überschreiten« (débordement) des Denkens, die »Unvergleichlichkeit« (incommensurabilité) des Ereignisses mit dem Denken. Wir müssen diesen Aspekt des Ereignisses nicht wie ein Merkmal unter anderen aufnehmen: Er sagt, dass, wenn das Ereignis das Denken überschreitet, keine Philosophie des Ereignisses möglich ist. Sie ist unmöglich im Sinne Derridas; sie ist ein wahnsinniges Unternehmen im Sinne Derridas. Das Ereignishafte, die Beziehung mit dem Anderen, die Levinas als »Sprache«, »Begehren« und »Nähe« denkt, ist also ein »Überschreiten« des Denkens, »Unmaß« gegenüber dem Denken: »Die Gegenwart des Anderen oder der Ausdruck, die Quelle aller Bedeutung, ist nicht Gegenstand der Betrachtung wie ein intelligibles Eidos, sondern wird verstanden wie die Sprache; darin entfaltet sich die Gegenwart des Anderen nach außen. Der Ausdruck oder das Antlitz geht über die Bilder hinaus, die meinem Denken immer immanent sind, als kämen sie von mir. Dieses Überschreiten, das nicht auf ein Bild des Überschreitens zurückgeführt werden kann, ereignet sich nach dem Maß – oder Unmaß – des Begehrens und der Güte als die moralische Asymmetrie zwischen mir und dem Anderen.« (TU, 430/TI, 273) »Die Nähe erscheint als Beziehung zum Anderen, die sich weder in ›Bilder‹ auflösen noch als Thema darstellen läßt; als Beziehung zu dem, was im Verhältnis zur ἀρχή der Thematisierung nicht übermäßig ist, vielmehr ohne gemeinsames Maß [incommensurable – L. P.] mit ihr, zu dem, was seine Identität nicht vom kerygmatischen Logos erhält und was jeden Schematismus zum Scheitern bringt.« (JS, 221/AQE, 126)
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Und weil das Ereignishafte das Denken überschreitet bzw. unvergleichlich mit ihm ist, ist es »undenkbar« (impensable): »Der Wille, der sich gegen den fremden Willen wehrt, muß diesen fremden Willen als unbedingt äußeren, als unübersetzbar in die eigenen immanenten Gedanken anerkennen. Der Andere kann nicht in mir enthalten sein, wie groß auch immer der Umfang meiner Gedanken sei; meine Gedanken werden daher durch nichts begrenzt: Der Andere ist undenkbar – er ist unendlich und wird als solcher anerkannt.« (TU, 336/TI, 206 f) 391
Das Überschreiten und die Undenkbarkeit des Anderen werden von Levinas auch so beschrieben, dass das Denken in der Immanenz des Ich mehr denkt, als es eigentlich denkt: »Die Andersheit des Anderen wird nicht annulliert, sie schmilzt nicht dahin in dem Gedanken, der sie denkt. Indem es das Unendliche denkt, denkt das Ich von vornherein mehr, als es denkt. Das Unendliche geht nicht ein in die Idee des Unendlichen, wird nicht begriffen; diese Idee ist kein Begriff. Das Unendliche ist das radikal, das absolut Andere. Die Transzendenz des Unendlichen mir gegenüber, der ich davon getrennt bin und es denke, stellt das erste Zeichen seiner Unendlichkeit dar.« (SA, 197/DEHH, 239) 392
Doch was genau bedeutet dieses Überschreiten des Denkens und damit die Undenkbarkeit des Ereignisses? Was genau wird damit gesagt? Diese Fragen sind schwer zu beantworten, weil wir damit von etwas zu sprechen versuchen, was nicht thematisierbar ist, zumindest nicht so, dass es auch im Denken das wäre, was es vorher war. Wollen wir auch nur den Unterschied zwischen dem Denkbaren und dem Undenkbaren aufzeigen, kann es uns nicht gelingen, weil mit diesem Denkakt schon alles zum Denkbaren verwandelt worden ist und damit jeder Unterschied verschwunden ist. Mit anderen Worten: Stellt das Selbe etwas vor, thematisiert es etwas, so nimmt es dieses Andere in seinen Besitz, verwandelt es zu sich selbst, sodass alles zum Selben wird. Levinas spricht in diesem Zusammenhang von der »Differenz« (différence) (JS, 65 f/AQE, 29 f) zwischen dem Thematisierten und der Exteriorität. Es gibt eine solche Differenz, aber man kann sie nicht denken und zeigen, wo sie liegt. Aus folgendem Grund: Um einen Vergleich zu machen, um einen Unterschied feststellen zu können,
391 Das Überschreiten des Denkens: TU/TI, 29 f/XV, 31/XVII, 58/18, 64/22, 81/33, 181/101 f, 320 f/196, 429 f/273; HAM, 44/HAH, 54; JS, 302/AQE, 175. 392 Das Denken, das mehr denkt als es denkt: SA/DEHH, 201/242, 225/274, 257/300; HAM, 44/HAH, 54; TU, 81/TI, 33.
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müssen die Verglichenen schon einander ähnlich, einander angeglichen sein, zu einer Dimension gehören: in diesem Fall zum Denken. Wir können also keine Differenz dort aufweisen, wo es sich um ein Denkobjekt und ein Nicht-Denkobjekt handelt. Wir können um diese Differenz wissen, aber der Begriff dieser Differenz bleibt leer. Möchten wir ihn erfüllen, so müssen wir die Differierenden zu Denkobjekten machen, womit jeder Unterschied verschwindet. 393 Es gibt also das Denkbare, das Undenkbare und die Differenz. Es geht für Levinas – als einen Denker des Anderen, des Ereignisses – nicht einfach um das Andere als das Undenkbare. Anders gesagt: Es geht nicht darum, das Andere zu thematisieren und zu sagen, dass es das Denken überschreitet und undenkbar ist. Es geht auch, oder eher vielmehr, darum, dass es für das Denken des Anderen nie reicht, das Andere als das Andere, als etwas vom Selben Unterschiedliches, d. h. als etwas Undenkbares zu setzen, weil das Denken, das immer das Denken des Selben, des Ich ist, die Differenz zwischen den Unterschiedlichen verschwinden lässt. Mehr als das Andere zu setzen und zu denken, versucht Levinas das Denken selbst zu denken, um zu zeigen, dass zuerst die verschwindende und undenkbare Differenz im Denken zu denken ist, um dem Anderen wirklich und nicht nur illusorisch näher zu kommen. Nicht das Denken des Anderen bringt uns zum Anderen, sondern das Denken der Differenz zwischen dem Denkbaren und dem Undenkbaren. Nur durch das Denken der Differenz kann man verstehen, inwiefern das Andere – das Ereignis – das Denken überschreitet und undenkbar ist. Welche Erkenntnisse ergeben sich aus diesem Denken des Denkens für das Verständnis der Begegnung mit dem Anderem als einem Ereignis? Es wird also behauptet, dass das Andere, das Unendliche keine Vorstellung im Selben ist, kein Thema, kein Denkobjekt für das Selbe. Es wird behauptet, dass es sich hier um eine radikale Exteriorität handelt, die undenkbar ist. Diese These als solche sagt vielleicht sogar nichts Besonderes. Sie scheint etwas sogar Plausibles zu äußern: Natürlich ist das Andere nicht unser Gedanke von ihm. Selbstverständlich geschieht alles nicht in unserem Kopf, sondern
393 Die nicht aufzeigbare Differenz: JS/AQE, 66/29 f, 105 f/55 f. Die Differenz zeigt also nicht die Differenz zwischen zwei im Selben gedachten Sachen, weil diese keine Differenz mehr aufzeigen: »Die absolute Differenz kann nicht von sich aus den in Differenz Stehenden die gemeinsame Ebene angeben.« (GE, 41/DI, 32) Und deswegen kann man auch sie selbst nicht denkerisch einholen.
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auch draußen, im wahren Leben – auch die Begegnung mit anderen Menschen. Und doch erliegt das Selbe, bei sich seiend, vorstellend, fühlend, denkend einer merkwürdigen Täuschung, die vielleicht leicht zu bekämpfen ist, die aber nur schwierig sich aufzeigen lässt, um dann bekämpft zu werden. Levinas versucht diese Täuschung aufzudecken und endlich aufzulösen. Worum geht es bei dieser Täuschung? Darum, dass ein Bild für das Abgebildete, für das Wirkliche, Reale gehalten wird, oder, eher gesagt, darum, dass überhaupt die Welt durch den Bild-Abbild Dualismus betrachtet wird, ohne zu merken, dass sowohl das Bild als auch das Abgebildete beides nur Bilder vom etwas sind, das radikal different zu ihnen beiden ist. Wenn man denkt, dass das Bild und das Abgebildete unterschieden werden können (und es ist auch möglich), übersieht man, dass in diesem dualistischen Schema auch das Abgebildete nur ein Bild ist. Das Selbe denkt, dass es diese beiden Gegenteile und die Differenz zwischen ihnen kennt, obwohl es hier keine Differenz mehr gibt. Die Täuschung liegt darin, dass das Abgebildete, das Reale für ein Abgebildetes, für etwas Reales gehalten wird, was es nicht ist. Um nochmals zu betonen: Die Täuschung liegt nicht darin, dass das Bild für das Wahre gehalten würde 394, sondern darin, dass das Wahre für das Wahre gehalten wird, weil es als das Wahre gesetzt worden ist. 395 Das Problem liegt also nicht darin, dass das Selbe das Andere für das Selbe halten würde, sondern darin, dass das Selbe das Andere als das Andere bestimmt hat und das so Bestimmte für das Andere hält. Wir können das Erläuterte mit einem Beispiel veranschaulichen. Wenn man jemandem einen Würfel zeigen würde und fragen würde, was das ist, so würde er antworten, dass das ein Würfel ist. Wenn man danach eine Zeichnung eines Würfels zeigen und wieder fragte würde, was das ist, so würde er wahrscheinlich wieder antworten, dass dies ein Würfel ist. Man könnte ihn bitten, diesen zweiten Würfel zu würfeln. Das ist natürlich nicht möglich. Es ist gleich zu merken, dass diese beiden Würfel sich wesentlich voneinander unterscheiden. Man kann den ersten Würfel zum Beispiel nicht wegradieren oder zusammen394 Aber auch diese Täuschung ist durchaus real und lebendig, zum Beispiel, wenn in der Schule die Schüler die Sonnenfinsternis, die gerade draußen stattfindet, auf der Leinwand beobachten und denken, dass sie die Sonnenfinsternis sehen. 395 Eine philosophische und kulturkritische Analyse des Verhältnisses zwischen dem Zeichen und der Wirklichkeit und unserer Auffassung diesbezüglich siehe in den Werken von Jean Baudrillard, zum Beispiel in seinem Werk Simulacres et Simulation (1981).
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falten oder ausschneiden; mit dem zweiten kann man kein Würfelspiel spielen oder ihn mit einer bestimmen Fläche nach unten in den Regal stellen. Und obwohl diese gravierenden Unterschiede zu erkennen sind, werden diese beiden so unterschiedlichen Sachen mit ein und demselben Wort bezeichnet. Und das ist scheinbar berechtigt, weil trotz aller Unterschiede eine wesentliche Ähnlichkeit zwischen beiden Würfeln besteht. Hier handelt es sich nicht um die Homonymie, sondern wirklich darum, dass scheinbar dieselbe Sache mit gleichem Wort bezeichnet wird. Es ist durchaus möglich, dass man irgendwann zum Schluss kommt, dass der Unterschied zwischen einem Würfel, mit dem man eine Sechs würfeln kann, und einem Würfel, den man ausschneiden kann, so gravierend ist, dass man sie nicht mit ein und demselben Wort bezeichnen darf. Also, einer der Würfel ist kein Würfel. Wenn man den ersten Würfel als »Würfel« bezeichnen möchte, dann müsste man unter den anderen schreiben: »Dies ist kein Würfel.« So hat das René Magritte in seinem berühmten Werk La trahison des images (1926) mit dem Abbild einer Pfeife gemacht. Kein Bild einer Pfeife, so perfekt es auch sein mag, ist eine Pfeife. Wenn man Levinas’ Texte liest, dann scheint es, dass er unermüdlich auf die Abbildungen des Anderen in uns – sei es eine Vorstellung, ein Begriff, ein Gedanke – zeigt und sagt: »Dies ist nicht das Andere.« Doch damit ist die Täuschung noch nicht aufgelöst. Wie gesagt, liegt sie nicht darin, dass ein Bild für das Abgebildete gehalten würde. Es ist leicht einzusehen, dass man mit einem Bild nicht würfeln kann, dass es nur ein Bild ist. Und man könnte vielleicht alle diese Überlegungen für Haarspalterei halten und vorschlagen, dass, wenn schon jemand so akribisch ist, er immer zu einem Bild sagen kann: »Das ist ein Bild von …« Als handle es sich hier nur um den Sprachgebrauch, nämlich um eine Abkürzung im Sinne, dass man sagt: »Das ist …,« aber denkt: »Das ist ein Bild von …« Die Täuschung bleibt, weil diese dualistische Bild-Abbild-Weltansicht nicht in Frage gestellt wird. Es gibt Bilder und es gibt das, was abgebildet wird, abgebildet auf unterschiedlichste Art und Weise – gezeichnet, bezeichnet, vorgestellt, begrifflich gedacht etc. Man weiß und versteht, dass das so ist. Es wird stillschweigend angenommen, dass man, wenn man darum weiß, leicht und ohne Probleme, wann immer man es will, vom Bild zum Abgebildeten überspringen kann: so wie in diesem Fall mit dem Würfel. Wenn man den realen Würfel möchte, muss man sich ihm nur zuwenden. Aber genau hier liegt die Falle. Der wirkliche Würfel, der 266 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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als Gegensatz zum im Bild dargestellten Würfel erscheint, ist nur ein Bild von einem Würfel – er ist ein schon im vorstellenden Denken begrifflich bearbeiteter Würfel, dem solche Merkmale wie »real«, »mit viereckigen Flächen«, »rot« etc. zugeschrieben werden. Es ist nur ein Bild, weil nur ein Bild mit einem Bild verglichen werden kann, und die Absicht war, einen Vergleich zu machen, die Differenz herauszuarbeiten. Diesen Sachverhalt kann man wieder mit einem Werk von Magritte veranschaulichen. Auf seinem Gemälde Les deux mystères (1966) ist eine Staffelei abgebildet, die sich in einem Zimmer befindet und auf der das Werk La trahison des images steht. Über dieser Staffelei schwebt eine Pfeife in der Luft. Sie könnte eine Zeichnung auf der Wand sein. Andererseits könnte sie – im Vergleich zum auf der Staffelei stehenden Bild – den gleichen Realitätsgrad wie das Zimmer haben, in dem diese Staffelei steht. Man könnte das Werk Les deux mystères so auffassen, dass es die Idee des Werkes La trahison des images zeigt – zeigt, dass es eine reale Pfeife gibt und ein Abbild von dieser Pfeife und dass dieses Abbild keine Pfeife ist. Hier kann man deutlich sehen, dass wir zu sagen neigen, dass die Pfeife, die in der Luft schwebt, eine reale Pfeife ist – im Vergleich zur Pfeife, die als ein Abbild dargestellt wird. Doch sie ist auch nur ein Abbild auf einem Gemälde (die Zweideutigkeit dieser Pfeife wird dadurch gezeigt, dass es nicht klar ist, ob sie wirklich oder nur abgebildet ist). Aber das merkt man erst später, wie kurz auch die Verzögerung sein möge. Zuerst wird die schwebende Pfeife als eine solche aufgefasst, die mehr real ist als die Pfeife im Kunstwerk auf der Staffelei. Es gibt noch andere Werke von Magritte, die diese Eigentümlichkeit unserer Auffassung illustrieren können, zum Beispiel La condition humaine (1933 und 1935). Im Gemälde La condition humaine von 1933 ist wieder eine Staffelei zu sehen, auf der ein Bild von einer Landschaft zu betrachten ist. Dieses Kunstwerk steht vor einem Fenster, aus dem diese Landschaft zu sehen ist. Und das Bild passt perfekt zu dieser Landschaft, als ob es ein reales Stück von ihr wäre. Das zeigt, erstens, dass wir das Bild für die Realität halten, aber das zeigt auch, dass, wenn wir diese Täuschung auflösen, wir einer neuen Täuschung erliegen, nämlich, dass wir ein Bild für realer halten als ein anderes. Im Werk La condition humaine von 1935 ist wieder ein Kunstwerk zu sehen, das die Realität – diesmal einen Strand – ergänzt, ein Stück von ihr ist, sie ersetzen kann. 396 396
Eine äußert interessante philosophische Interpretation zum Werk Magrittes gibt
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Für eine Philosophie des Anderen, des Ereignisses, reicht es also niemals zu sagen, dass das Andere nicht eine Vorstellung im Selben ist, es muss auch noch gesagt werden, dass das Denken, das diese Unterscheidung macht, das Andere nicht erreicht, weil es wieder ein Denken des Selben ist, in dem alles aus dem Denken, aus dem Selben gemacht worden ist. Wie auf einem Bild alles Unterschiedliche aus Farbe besteht, so besteht im Denken alles aus Denken: Es gibt keine Differenzen. Alles ist ein und dasselbe, das Selbe. Wenn es aber die Exteriorität gibt, überschreitet sie das Denken, bleibt undenkbar und dies in zweifacher Bedeutung: Sie ist nicht nur undenkbar, sondern so undenkbar, dass man sie nicht als undenkbar setzen kann. Wenn Levinas über das »Mehr als Denken« spricht, dann definiert er nicht das Andere als undenkbar, weil es das Andere gegenüber dem Selben ist, sondern, indem er die Eigentümlichkeit des Denkens des Selben thematisiert, zeigt, dass das Andere auch undenkbar in der Gegenüberstellung vom Selben und Anderen ist. Es ist radikal außerhalb jedes Denkens. Das Andere, das im Denken als das Andere im Gegensatz zum Selben gesetzt wird, ist nichts anderes als das Selbe. Die abgebildete wirkliche Pfeife ist nicht wirklicher als die abgebildete Pfeife. Das ist es, was Levinas in seinem Denken des Denkens zu zeigen versucht, um dem Ereignishaften in seiner radikalen Exteriorität näher zu kommen. Aber die Undenkbarkeit des Ereignisses heißt nicht, dass es keine Beziehung zu dem Anderen gibt. Und dies zu sagen, ist genauso wichtig, wie die Undenkbarkeit und die Undenkbarkeit der Undenkbarkeit zu behaupten ist. Unermüdlich wiederholt Levinas, dass es eine Beziehung zu dem Anderen gibt, dass sie kein Wissen ist, sondern dessen Überschreitung; und dass das Außer-sich der Immanenz etwas »Besseres« als das Denken ist: »Das Unendliche, das Transzendente, den Fremden denken, heißt also nicht, einen Gegenstand denken. Aber das zu denken, was nicht die Konturen des Gegenstandes hat, heißt in Wirklichkeit, mehr oder Besseres zu tun als zu denken.« (TU, 61/TI, 20)
Der philosophische Diskurs muss also zuerst die Differenz zwischen dem Denkbaren und Undenkbaren denken, aber dieses Denken besteht nicht einfach darin, etwas Undenkbares zu setzen, sondern zuMichel Foucault in seinem kleinen Buch Ceci n’est pas une pipe (1968) (deutsche Übersetzung von Walter Seitter: Dies ist keine Pfeife. München: Hanser, 1974).
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letzt darin, auf die »irreduzible Struktur des Psychismus« (DI, 193), auf das Lebendige des Lebens zu verweisen. 397 Das Bessere als das Denken ist das Leben: Es ist die Überschreitung des Denkens. Dem Anderen begegnet man im Leben. In Autrement qu’être heißt es: Wir transzendieren aus uns, wir tun etwas mehr und besseres als zu denken, wenn wir durch unsere Sinnlichkeit die Welt in ihrer Lebendigkeit erleben, wenn wir in der Nähe zu den Anderen sind. Hinsichtlich des Ereignisses muss man also festhalten, dass das Ereignis mehr als das Denken ist. Es geschieht nicht im Denken und dies im radikalen Sinne des Wortes: Das Ereignis wird nicht nur als Überschreiten des Denkens gesetzt, sondern geschieht auch wirklich nur dann, wenn das Ich aus sich heraus geworfen wird. Und es wird aus sich geworfen, wenn es der Gegenwärtigkeit ausgesetzt wird und sich nicht in die Repräsentation bei sich zurückzieht. 398 Die Undenkbarkeit des Ereignisses ist also nicht formal, sie definiert es nicht, sondern geschieht wirklich. Das Überschreiten des Denkens und die Denkbarkeit sind selbst ereignishaft: Sie sind keine Eigenschaften, sondern Geschehnisse, die mit jemandem geschehen. Und weil sie keine Eigenschaften sind, sondern Ereignisse, kann man über sie nicht sprechen. Man kann nur etwas über den Begriff des Ereignisses sagen, nicht aber über das Ereignis selbst: Es ist undenkbar. Das Denken des Ereignisses ist kein Ereignis. 399 Und genauso wenig ist das
397 Ein Denken, das alles nicht gleich macht, ist – erstens – »das von einer irreduzierbaren Differenz beherrschte Denken« (GE, 209/DI, 243). Und es ist – zweitens – ein »[…] Denken, in dem die Nähe des Nächsten, das auf die Erfahrung nicht reduzierbare Verkehren mit dem Anderen, die Annäherung an den ersten Besten bedeutet.« (GE, 211/DI, 244) 398 Das Andere ist die »Gegenwart« (présence) des Anderen, also nicht etwas, sondern der Moment, in dem es da mit mir ist. Dazu siehe zum Beispiel: TU/TI, 88/38, 93/41; SA, 283/DEHH, 321. 399 Das Ereignis ereignet sich, man kann es nicht ins Denken verlagern. Trotzdem passiert es immer wieder, dass man das Ereignis in seinem Abbild zu finden glaubt: in der Kunst, in der Dichtung oder auch in der Philosophie. So schreibt zum Beispiel Boundja, der die Philosophie des Ereignisses bei Levinas behandelt: »Les recherches, dont nous présentons ici les résultats, visent à analyser l’événement comme le concept fondamental de la phénoménologie d’Emmanuel Levinas. Cette phénoménologie ellemême se présente comme un événement. Phénoménologie qui laisse advenir la différence de l’autre: la venue de l’autre dans sa différence est un événement, et la pensée qui tente de dire cette venue est aussi un événement. […] La pensée de l’événement est, en même temps, un événement de la pensée.« (Boundja, 9) In diesem Kapitel haben wir versucht zu zeigen, dass dies unmöglich stimmen kann. Das Denken des
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Ereignis in der Kunst darstellbar. Es kann höchstens nur wiederholt werden, um es selbst bleiben zu können.
6.
Aus sich heraustreten: das Begehren
Das Andere ist kein Objekt für ein Subjekt, sondern eine wirkliche Beziehung zum Anderen. Die Philosophie Levinas’ stellt keine Philosophie des Anderen dar, die das Andere als eine Substanz thematisieren würde, sondern eine Philosophie der Beziehung zum Anderen, die auffordert, diese Beziehung nicht nur zu thematisieren und zu denken, sondern wirklich zu vollziehen. Im gewissen Maße findet diese Beziehung schon immer statt, weil jedes Denken ein Sichdem-Anderen-Zuwenden, ein Gespräch ist, das die Anderen schon immer vorausgesetzt hat. Doch nur als eine Beziehung, die nie aufhört einzutreten, ist sie ein Ereignis. Das Ereignis ist die wirkliche Beziehung mit dem Anderen, oder – wenn wir von dem inhaltlichen Aspekt des Levinas’schen Ereignis absehen – das Sich-Befinden in einer Situation, in einem Zusammenhang der Dinge und Geschehnisse. Die Beziehung zu dem Anderen als Ereignis ist das Überschreiten des Denkens, mehr als das Denken, weil sie ein Transzendieren aus sich heraus zum Anderen hin ist. Um diese Art der Bewegung des Selben zu beschreiben, verwendet Levinas – vor allem in Totalité et infini – den Begriff »Begehren« (désir). Im Jahr 1957 schreibt er: »Die Idee des Unendlichen ist ein Denken, das in jedem Augenblick mehr denkt, als es denkt. Ein Denken, das in jedem Augenblick mehr denkt, als es denkt, ist Begehren.« (SA, 201/DEHH, 242)
Im Vergleich zu den späteren Versuchen, die Beziehung zu dem Anderen außerhalb der Immanenz des Ich zu verorten, beschreibt das Konzept des Begehrens diese Bewegung aus dem Selben heraus eher negativ, d. h. als die Unmöglichkeit, das Andere als ein Objekt im Selben zu beinhalten. Weil es nicht im Selben ist und weil die Relation zu ihm nicht im Selben stattfindet, ist es unendlich 400 und absolut. Diese Unmöglichkeit, die radikale Exteriorität zu erreichen, wird als Ereignisses ist nie dasjenige Ereignis, das gedacht wird: Es kann höchstens ein anderes Ereignis sein, zum Beispiel der Einfall einer genialen Idee. 400 Der Andere ist unendlich, das Unendliche – hier bezieht sich Levinas auf Descartes und seine Idee von der unendlichen Substanz, die nicht im Ich enthalten werden kann.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
eine ontologisch-ethische Situation des Selben charakterisiert und vom inneren »Bedürfnis« (besoin) unterschieden. Die Ursache des Bedürfnisses ist innerlich und es ist auf der Suche nach seiner Befriedigung, die es auch findet. Die Ursache des Begehrens ist dagegen das Andere, weil es radikal anders ist und weil es ständig dem Zugriff des Selben entzieht. Das Begehren ist eine unaufhörliche Bewegung zum Anderen hin, das keine Befriedigung findet: »Das Begehren ist ein Streben, das vom Begehrten belebt wird; es entsteht von seinem ›Gegenstand‹ her, es ist Offenbarung. Das Bedürfnis dagegen ist eine Leere des Seele, es geht vom Subjekt aus.« (TU, 81/TI 33) »Das Begehren ist Begehren des absolut Anderen. Unabhängig vom Hunger, den man sättigt, vom Durst, den man löscht, von den Sinnen, die man befriedigt, begehrt die Metaphysik das Andere jenseits aller Befriedigung.« (TU, 37/TI, 4) 401
Dieses Begehren hat nicht nur etwas Negatives an sich im Sinne, dass es einen Bezug charakterisiert, in dem es unbefriedigt bleibt. Dieses Verhältnis ist positiv als die Beziehung zu der Andersheit zu verstehen, in der die Andersheit als Andersheit verstanden und bewahrt wird: »Begehren ohne Befriedigung, das gerade darum das Wachsen der Ferne, die Andersheit und die Exteriorität des Anderen versteht [entend – L. P.]. Für das Begehren hat diese Andersheit, die der Idee inadäquat ist, einen Sinn. Sie wird verstanden als die Andersheit des Anderen und des Erhabenen.« (TU, 37/TI, 4) 402
Das Begehren heißt, zu verfolgen und nicht im Selben als ein Besitz – in der Art einer Vorstellung, eines Phänomen oder eines Themas – aneignen zu können; immer auf dem Weg zum Anderen zu sein, ohne je ankommen zu können. In der Tat bewahrt das Begehren nicht nur die Andersheit des Anderen, sondern fühlt sich auch nicht »unbefriedigt«. Das Begehren unterscheidet sich vom Bedürfnis dadurch, dass es seine Nicht-Erfüllung nicht negativ wahrnimmt. Ganz im Gegenteil: »[D]ie soziale Beziehung ist besser als das Sich-selbst-Genießen.« (GE, 147/GI, 171) Das Begehren ist »besser« (vaut mieux) als ein Bedürfnis zu befriedigen. Einen Anderen zu begehren ist besser, als ihn zu haben. 401 Das Begehren, das Begehren im Gegensatz zum Bedürfnis: TU/TI, 35 ff/3 ff, 260 f/ 154, 433 f/275; SA, 201 f/DEHH, 242 f; HAM, 37 f/HAH, 48 f; EU, 71/EI, 86 f. 402 Das Begehren als Beziehung mit dem Anderen: TU, 260 f/TI, 154; EU, 71/EI, 86 f.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Verhältnis im und zum Ereignis im Allgemeinen kann als ein Begehren charakterisiert werden. Das Begehren heißt, das zu verfolgen, was verfolgt werden will, und das sich doch immer entzieht. Wenn man zum Beispiel einen Satz hört und ihn im Gedächtnis behalten will, so ist es ohne Probleme möglich: Man »kopiert« das Gesagte und »speichert« im Gedächtnis. Man besitzt diesen Satz. Wenn ein Bedürfnis besteht, sich an ihn zu erinnern, ruft man ihn einfach ins Gedächtnis zurück. Dies stellt die Grundstruktur des Selben da: anzueignen, was anzueignen ist, zu besitzen, nach Belieben zu vergegenwärtigen, auf seinen Besitz zurückzugreifen. Im Gegensatz zu einem Etwas fällt das Ereignis aus diesem Schema heraus. Wenn jemand von einer Landschaft beim Sonnenuntergang überwältigt wird, will er selbstverständlich diesen Moment für immer behalten. Um ihn behalten zu können, muss er diesen Augenblick, diese Situation, dieses Ereignis begreifen, d. h. auf eine gegenständliche Bedeutung zu reduzieren. Aber dadurch gewinnt man nur Bruchstücke des Ereignisses: die Berge, den Wald etc. Dieser Augenblick selbst als ein Ganzes, als ein Ereignis entzieht sich dagegen diesem Zugriff. Aber man will ihn haben. Und das ist die Situation des Begehrens: das haben zu wollen, was nicht zu haben ist, was von sich selbst einbricht, sich nicht begreifen lässt und sich jeder Vergegenwärtigung entzieht. Auch der andere Mensch äußert sich auf sichtbare und verständliche Art und Weise: durch Worte, Gestik, Verhaltensweise etc. Aber seine radikale Andersheit liegt darin, dass er die nicht erreichbare Quelle dieser Ausdrücke ist, dass er eine unauslotbare Tiefe hinter der Sichtbarkeit ist. Man kann die Worte des Anderen besitzen – im Sinne, dass man sie versteht, weitergibt oder sogar aufzwingt – aber diese Tiefe ist nicht zu begreifen und zu besitzen – sie ereignet sich wie ein Ereignis. Das Ereignis des Anderen ist die Begegnung mit dieser Tiefe des Anderen und diese Tiefe ist das, was das unerreichbare Ziel des Begehrens darstellt. Jedes Ereignis hat hinter dem Sichtbaren, hinter dem Greifbaren diese Tiefe, die ein Begehren auslöst, das unstillbar bleibt. In der Philosophie nach Totalité et infini versucht Levinas, den Bezug zum Anderen nicht nur negativ als Unerreichbarkeit zu bestimmen, sondern positiv: Er sucht die Möglichkeit, irgendwelche Situationen aufzuzeigen, in der das Selbe und das Andere miteinander sind, ohne dass das Andere seine Andersheit im Selben verloren würde. Eine solche Situation ist die der Sinnlichkeit (sie trifft aber nicht das Andere als den anderen Menschen), eine andere – die der Nähe 272 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
(der zwischenmenschlichen Nähe). In dieser Gedankenentwicklung gewinnt auch der Begriff des Begehrens eine positive Bedeutung und entwirft den Gedanken von solcher Art der Beziehung zu dem Anderen, die dann als Nähe, Verantwortung und Stellvertretung ausgelegt wird. Im Aufsatz La trace de l’autre (1963) ist diese Veränderung des Begriffes des Begehrens und seine Ähnlichkeit mit dem Begriff von Nähe und Verantwortung deutlich zu erkennen. Hier ist das Begehren nicht mehr die Unmöglichkeit, den Anderen zu vereinnahmen, sondern die Bewegung zum Anderen hin: »[D]em Subjekt, dem es nach der Formel Heideggers ›in seinem Sein um dieses Sein selbst geht‹ ; dem Subjekt, das sich derart als Sorge um sich selbst bestimmt – und das im Glück sein ›Für-sich‹ vollzieht –, stellen wir das Begehren des Anderen entgegen, das von einem schon erfüllten und unabhängigen Seienden ausgeht und das nichts für sich selbst verlangt. Bedürfnis dessen, der keine Bedürfnisse mehr hat, gibt es sich zu erkennen in dem Bedürfnis nach dem Anderen, dem Anderen als Mitmensch;« (SA, 218 f/DEHH, 269)
7.
Aus sich heraustreten: die Sensibilität
Das Verhältnis zum Ereignishaften ist kein Subjekt-Objekt Verhältnis, in dem das Ereignishafte unser durch das Denken gesetztes Thema ist und seine Exteriorität und Andersheit schon verloren hat. Das Ereignishafte überschreitet das Denken, die Prozesse der Immanenz. Es ist in einer Differenz zur Immanenz des Bewusstseins, in einer Differenz, die so radikal ist, dass man sogar nicht sagen kann, worin sie liegt, weil jedes Differieren ein Denken ist, das alles zum Denkobjekt verwandelt. Das Denken selbst kann die Differenz also nicht feststellen, nur das Ereignishafte selbst kann sich von ihm differieren. Und es differiert sich, es geschieht. Kann es ein Bezug zu diesem Ereignis des Ereignishaften geben, der es nicht zerstört? Eine Möglichkeit ist das Begehren, obwohl es noch fraglich ist, ob das Begehren ein wirkliches Im-Ereignis-Sein und nicht bloß eine Bewegung der Intentionalität in Richtung seines Gegenübers ist. Eine andere Möglichkeit für das Geschehen des Ereignisses, ist die »Sensibilität« (sensibilité), die grundsätzlich an die Leiblichkeit gebunden ist. 403 Genau 403 Dass das Ereignis bei Levinas zumindest teilweise in der Sensibilität zu verorten ist, behauptet auch Boundja: »Cette recherche nous permettra de comprendre commet
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
durch den Leib ist uns die Exteriorität in ihrer Transzendenz, Gegenwärtigkeit und Wirklichkeit gegeben. Der Leib gibt uns ursprünglichere Erfahrung von der Welt als die Erkenntnis. Man muss natürlich beachten, dass das Konzept des Leibes bei Levinas – genauso wie in der ganzen phänomenologischen Tradition seit Husserl und insbesondere bei Merleau-Ponty – nicht dem traditionellen Begriff des Leibes entspricht. Für die Phänomenologie ist der Leib nicht bloß ein Organ der Sinnlichkeit, das Daten sammelt, die dann zu den Sinnesobjekten konstituiert werden und als Vorstufe des Wissens oder dessen Material gelten. 404 Die Sensibilität des Leibes hat nichts mit der Erfahrung oder Erkenntnis zu tun, sondern ist das Transzendieren nach außen, Passivität, Ausgesetztheit dem Anderen, Unmittelbarkeit, Nähe. Das denkende Subjekt tritt aus sich heraus nicht durch das Denken, sondern durch den Leib. Durch den Leib ist die Subjektivität bei dem Anderen, in ihm: »Der Sprung der Transzendenz, der von der Seele zum Körper geht, ist absolut. In einem ›bestimmten Augenblick‹ ist der Springer wahrhaftig nirgends; Die Transzendenz geschieht in der Kinästhese 405; in ihr überschreitet sich das Denken nicht dadurch, daß es einer objektiven Realität begegnet, sondern indem es eine leibliche Bewegung vollzieht.« (SA, 149/DEHH, 196) »Das Denken geht nicht über sich hinaus, indem es auf eine objektive Realität trifft, sondern indem es in diese vermeintlich weit entferne Welt eintritt. Der Leib, Nullpunkt der Vorstellung, ist jenseits dieses Null; er ist schon in der Welt, die er konstituiert, sie sind ›nebeneinander‹ und gleichzeitig ›gegenüber‹ ; er bildet die Mischung, die Merleau-Ponty fundamentale Geschichtlichkeit nennen wird.« (SA, 180/DEHH, 221 f) »Fühlen, das heißt, darinsein […].« (TU, 192/TI, 108) 406
la relation avec autrui se réalise dans la sensibilité, comme événement du sensible.« (Boundja, 38; siehe auch: Boundja, 110 f) 404 Dazu siehe: JS, 142 ff/AQE, 77 ff. 405 Levinas interpretiert hier Husserl. Für Husserl sind die Kinästhesen die Bewegungen des Leibes, durch die ein sinnliches Objekt konstituiert werden kann. Kinästhesen können zum Beispiel die Bewegungen der Augen sei, um einen großen Gegenstand zu fassen, oder das Betasten eines Gegenstandes mit den Händen, um seine Form zu erkunden. Siehe auch: SA, 177/196. 406 Der Leib als das Aus-sich-Heraustreten, das In-Sein: SA/DEHH, 95 f/166 f, 145/ 193 f, 148 ff/195 ff, 174/217, 179/221; TU/TI, 186 f/104 f, 195 f/111; HAM, 19/HAH, 27.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Die Sensibilität bedeutet, unmittelbar am Anderen zu sein. Die Unmittelbarkeit bedeutet, etwas so zu erfahren, wie es hier und jetzt ist, wie es wirklich ist 407, nicht wie es später durch ein Bild im Denken vermittelt wird. Das Ereignishafte ist nur in einer solchen Unmittelbarkeit möglich: durch die Passivität, die die Leiblichkeit ist, die das Einzige ist, das in die Wirklichkeit eintritt und so das Ereignis geschehen lässt. Eine abgründige Differenz besteht zwischen einer schönen Frau, an die man denkt, und dieser Frau, wenn man sie sieht, wenn man ihr gegenübersteht. Es ist die Differenz zwischen dem Denken und der Wirklichkeit, die sich durch die Unmittelbarkeit der Sensibilität des Leibes ereignet. Die Sensibilität – von Levinas auch »Genuss« (jouissance) oder »Genießen« (le jouir) genannt 408 – wird allerdings auch nicht als Gegenstück zum Bewusstsein, zum Denken aufgefasst, sondern eher als ein einverleibtes, inkarniertes Denken, das anders als begriffliches Denken »denkt« und seine eigene Intentionalität hat. In der Sensibilität, im Genuss oder Schmerz, wird die Exteriorität anders »angezielt« und »verstanden« als im vorstellenden Denken – sie wird genossen oder auch schmerzhaft erfahren, aber auf diese Weise als Exteriorität bewahrt: »Die Intentionalität des Genusses kann durch den Gegensatz zur Intentionalität der Vorstellung beschrieben werden. […] Sie [Intentionalität des Genusses – L. P.] besteht darin, an der Exteriorität, die von der in der Vorstellung implizierten transzendentalen Methode aufgehoben wird, festzuhalten. An der Exteriorität festzuhalten, ist nicht einfach gleichbedeutend damit, die Welt zu bejahen, sondern besteht darin, sich in ihr leiblich zu setzen. Der Leib ist die Erhebung, aber auch das ganze Gewicht der Setzung.« (TU, 179/TI, 101) 409
Aber das, was die Sensibilität genießt, ist kein Etwas. Sie ist keine Objektbezogenheit: »Im Augenblick kommt es uns darauf an zu zeigen, daß die Sinnlichkeit dem Bereich des Genusses angehört und nicht dem Bereich der Erfahrung. Die so verstandene Sinnlichkeit ist nicht identisch mit den noch schwan407 Die Unmittelbarkeit, Hier und Jetzt, Wirklichkeit: SA/DEHH, 94 f/165 ff, 172/ 215, 274 ff/314 f, 279/317 f. 408 Zum Zusammenhang zwischen Sensibilität und Genuss siehe zum Beispiel: TU, 190, JS, 146 ff. 409 Zur Intentionalität der Sinnlichkeit siehe auch: SA/DEHH, 93/165, 95/166, 145/ 193.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
kenden Gestalt des ›Bewußtseins von‹. […] Die Sinnlichkeit intendiert keinen Gegenstand, auch nicht einen noch unausgebildeten Gegenstand. […] aber ihre eigentliche Leistung besteht im Genuß, der jedes Objekt im Element, in dem der Genuß badet, auflöst.« (TU, 194 f/TI, 110)
Mit anderen Worten: Das, was die Sensibilität liefert, ist keine sinnliche Anschauung. Levinas ist der Ansicht, dass die sinnliche Anschauung, so wie sie in ihrer klassischen Interpretation als Vorstufe oder Gegensatz zum begrifflichen Denken gedacht wird, die Exteriorität in ihrer Unmittelbarkeit nicht erreicht, weil sie schon eine »begriffliche Bearbeitung« erlitten hat, weswegen sie bereits gegenständlich ist. 410 Diese Interpretation setzt voraus: Wenn wir anschauen, etwas sehen, fühlen, hören etc., ist dieses Sehen, Fühlen, Hören schon ein Sehen, Fühlen und Hören von etwas, von einem Objekt, das aber vom Denken gesetzt wird. Das Gesehene, Gefühlte, Gehörte wird nur zur sinnlichen Qualität eines Objekts, das gedacht wird. Bei der sinnlichen Anschauung geht es also letztendlich um ein Objekt für ein
410 Die »sinnliche Anschauung« (intuition sensible) ist schon eine begrifflich bearbeitete Erfahrung, weswegen sie die Exteriorität nicht erreicht: SA, 275 f/DEHH, 315, JS/ AQE, 145 f/79, 151 f/83, 154/84. Zu der »klassischen« Interpretation der Sinnlichkeit zählt Levinas auch Husserls und Heideggers Ansatz. Genauer gesagt: Levinas ist der Auffassung, dass sie das Unmittelbarste nicht erreicht haben und dem Intellektualismus verhaftet geblieben sind (zum Husserl siehe: SA, 263 f/305 f; JS/AQE, 89 ff/45 ff, 150 ff/82 ff, 181/101; zu Heidegger siehe: JS/AQE, 155/85, 181/101, ZU, 14 f/EN, 16). Levinas Bezug zu Husserl ist in diesem Punkt allerdings nicht eindeutig. Auf der einen Seite ist er der Meinung, dass die Husserl’sche Phänomenologie nur das Bewusstsein, das Objekthafte für das Bewusstsein analysiert. Diese Interpretation geht auf seine erste Auseinandersetzung mit Husserl in seinem ganz frühen Werk Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl (1930) zurück. Auf der anderen Seite sieht er – wie das in seiner Auseinandersetzung mit Husserl in En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger (1949) und in späteren Werken zu beobachten ist – in solchen Konzepten Husserls wie Urimpression, Vor-Prädikative, Leib und Kinästhese, Horizont die Eröffnung zum Vor-Objekthaften, zu dem, was geschieht, bevor das Objekt konstituiert wird (siehe zum Beispiel: SA, 93 ff/164 ff, 99 f/170, 132 f/183 f, 144 ff/192 ff, 165 f/210 f, 172/215, 176/218 f). Levinas schreibt in Bezug auf Husserl: »Was alle Analysen geprägt hat, ist diese rückschreitende Bewegung vom Objekt weg, hin zur konkreten Fülle seiner Konstitution, in der die Sinnlichkeit die erste Rolle spielt.« (SA, 88 f/DEHH, 161) Auch Boundja weist darauf hin, dass genau durch die Auseinandersetzung mit Husserls Konzept der Sensibilität Levinas die Möglichkeit einer nicht-objekthaften Begegnung mit dem Anderen entdeckt bzw. explizieren kann: »C’est en analysant Husserl que Lévinas découvre le sensible comme lieu de l’individuation du sujet, en deçà de la représentation, qui permet de fonder l’éthique sur une intentionnalité non théorétique; irréductible au savoir.« (Boundja, 31n.42)
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Subjekt, das es konstituiert. Jede Transzendenz einer Exteriorität, ihre Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit ist damit schon verlorengegangen: die sinnliche Anschauung ist dasselbe wie das Selbe. Die Sensibilität konstituiert dagegen keine Objekte, sie geschieht vor dem Bewusstsein, sie ist ursprünglicher als es. Die Sinnesempfindungen sind kein subjektiver Aspekt eines Objekts, sondern ursprünglicher als das Objekt und wirklicher als es, näher der Wirklichkeit als das Bewusstsein es je könnte, in der Wirklichkeit, das Genießen: »In der Geschmacksempfindung ereignet sich nicht eine Art Überlagerung des anvisierten Sinns durch seine Illustration, durch eine ›leibhafte‹ Präsenz. In der Geschmacksempfindung wird ein Hunger gestillt. Erfüllen, befriedigen – der Sinn des Schmeckens – das meint gerade die Bilder überspringen, die Ansichten, die Spiegelungen oder die Abschattungen, die Phantomerscheinungen, die Phantasmen, die Schalen der Dinge, die dem Bewußtsein von … genügen. […] Dieses Überspringen der Bilder ›frißt‹ die Distanz auf radikalere Weise, als sie zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden ist.« (JS, 165/AQE, 91)
Solche vor-bewußten Empfindungen sind keine »Bilder« für das Bewusstsein und deswegen können sie auch nicht vergegenwärtigt werden. Sie existieren nur in dem Moment, in dem sie geschehen, dann fließen sie weg und können nicht mehr durch die Vergegenwärtigung eingeholt werden. Wir haben gesehen, dass das Andere, verstanden als die Exteriorität, statt vom Bewusstsein vorgestellt zu werden, leiblich vor jedem Bewusstsein und außerhalb jedes Bewusstseins in seiner lebendigen Gegenwärtigkeit, d. h. Wirklichkeit begegnet. Wobei die Leiblichkeit, die Sensibilität nicht als das Sammeln irgendwelcher Sinnesdaten verstanden werden darf, sondern als die Anwesenheit in der Wirklichkeit, an dem Ort, wo die Exteriorität geschieht. Sie muss nicht unbedingt auf einen leiblichen Kontakt reduziert werden. Damit ist gesagt, dass, wenn das Ereignis außerhalb des Denkens geschieht, es durch die Sensibilität geschieht, die die Leiblichkeit voraussetzt. Die Leiblichkeit als meine leibliche Präsenz in der Exteriorität und meine passive Ausgesetztheit dem Anderen durch den Leib garantieren die Wirklichkeit des Ereignisses, also das Ereignis selbst. Dem Anderen zu begegnen heißt, sein Gesicht zu sehen, ihn reden zu hören, sich ihm durch die Antwort auszusetzen, sich für ihn einzusetzen etc. Wenn ich nur seinen Begriff denke und ihn definiere, begegne ich ihm nicht. Genauso wenig begegne ich ihm, wenn ich, ihn nicht ken277 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
nend, ihm anonym Geld spende. Ich spende das Geld nur meiner Vorstellung. Sogar das Heidegger’sche Ereignis des Geschehnisses der Wahrheit kann ohne Leiblichkeit nicht erfahren und gedacht werden. Das Da-sein in seiner Jemeinigkeit steht in der Mitte der Lichtung, die sich um es bildet. Diese Mitte ist aber durch sein Da definiert, das seinerseits nur durch den Leib definiert werden kann: Ich, mein Leib ist da, ich existiere, ich bin ein Seiendes, ich stehe in der Lichtung, ich sehe, wie die Wahrheit geschieht. Im jeden Ereignis geschieht das Transzendieren nach Außen. Dies geschieht wesentlich als leibliche Erfahrung: Etwas wird gehört, gesehen, gespürt etc. Dies muss nicht eine physische Realität sein, aber es ist auch nicht ein Geschöpf des Bewusstseins. Das Ereignis ist keine Halluzination: Es ist eine körperliche Begegnung mit einer Exteriorität. Heideggers Geschehnis der Wahrheit, wo das Seiende als das Seiende und als das, was es konkret ist, in Erscheinung tritt, ist keine physische Erscheinung, die man mit den Augen als Organen sehen könnte. Aber es ist auch nicht eine Einbildung und deswegen eine völlig subjektive Vorstellung. Eher ereignet sich dieses Ereignis mit einem Seienden, bei dem ich bin, und ich kann es irgendwie sehen und so sehen, als ob es außer mir geschehen würde: in seinem eigenen, vom Ereignis gegründeten Zeit-Raum. Wenn jedes Ereignis die Sensibilität voraussetzt, könnte man fragen, ob jede leibliche Erfahrung ein Ereignis ist? Nun, jede leibliche Erfahrung könnte ein Ereignis sein, oft aber verschwindet sie hinter dem Gegenstand oder wird mit der Rückkehr des Bewusstseins zu sich selbst annulliert. Die Aufnahme des Wassers im Akt des Trinkens wird zum Beispiel funktionalisiert, d. h. vergegenständlicht: Es ist etwas, was man tut, um Durst zu löschen. Wenn man trinkt, achtet man darauf, ob das Wasser seine Funktion erfüllt. Man kann auch den Trinkakt genießen, aber auch in diesem Fall reflektiert das Bewusstsein diesen Akt und so verliert es ihn: Es ist bei sich. Aber die Wasseraufnahme kann auch ein Ereignis sein. So wie sie zum Beispiel von Antoine de Saint-Exupéry in seinem Roman Terre des hommes (1939) beschrieben wird. Nach mehreren in der Wüste verbrachten Tagen, ohne Wasser, mit kaum Hoffnung auf die Rettung, ist die plötzliche und unverhoffte Möglichkeit, wieder zu trinken und zu leben, mehr als eine Möglichkeit der Befriedigung eines Bedürfnisses: Sie ist die Öffnung einer anderen, davor nicht erahnten Welt. Der Durst und das Löschen des Durstes, die an sich völlig sinnlich sind,
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
können mehr als das Sinnliche bedeuten; durch sie kann etwas Transzendentes in die Welt einbrechen, und dann geschieht ein Ereignis. 411 Eines müssen wir aber noch festhalten. Zwar ist die Sensibilität für Levinas die Passivität, durch die das Andere aufgenommen und in seiner Andersheit vor dem Bewusstsein erfahren wird, doch der leibliche Bezug zur Exteriorität wird von Levinas vor allem in Bezug auf die äußere Welt erwähnt. Wenn es um die Beziehung zu dem anderen Menschen geht, dann spricht Levinas von der »Nähe« (proximité), in der ich dem Anderen antworte, ohne den körperlichen Abstand zwischen uns aufzuheben. Auch die Nähe hat ihre sensible Seite, aber sie kann nicht auf sie reduziert werden: sie wird grundsätzlich durch die Verantwortung konstituiert.
411 Wir beziehen uns hier auf die folgende Passage aus dem oben genannten Roman, in der die Rettung für die beiden in der Wüste verschollenen Hauptfiguren durch einen Araber geschildert wird: »Wir haben auf seine Rückkehr gewartet, die Stirn in den Sand gepreßt. Und nun trinken wir, auf dem Bauch liegend, den Kopf im Becken wie die Kälber. Der Beduine erschrickt und zwingt uns alle Augenblicke einzuhalten. Aber kaum lässt er uns frei, so tauchen wir auch schon das ganze Gesicht ins Wasser. Wasser! Wasser, du hast weder Geschmack noch Farbe, noch Aroma. Man kann dich nicht beschreiben. Man schmeckt dich, ohne dich zu kennen. Es ist nicht so, daß man dich zum Leben braucht: Du selber bist das Leben! Du durchdringst uns als Labsal, dessen Köstlichkeit keiner unserer Sinne auszudrücken fähig ist. Durch dich kehren uns alle Kräfte zurück, die wir schon verloren gaben. Dank deiner Segnung fließen in uns wieder alle bereits versiegten Quellen der Seele. Du bist der köstlichste Besitz dieser Erde. Du bist auch der empfindsamste, der rein dem Leib der Erde entquillt. Vor einer Quelle magnesiumhaltiges Wasser kann man verdursten. An einem Salzsee kann man verschmachten. Und trotz zwei Liter Tauwasser kann man zugrunde gehen, wenn sie bestimmte Salze enthalten. Du nimmst nicht jede Mischung an, duldest nicht jede Veränderung. Du bist eine leicht gekränkte Gottheit! Aber du schenkst uns ein unbeschreiblich einfaches und großes Glück. Du aber, unser Retter, Beduine aus Libyen, du wirst mir aus dem Gedächtnis schwinden! Deines Gesichtes kann ich mich nicht entsinnen. Du bist der Mensch und erschienst mir mit dem Antlitz aller Menschen! Du hattest uns nie zuvor gesehen und hast uns doch erkannt! Du bist mein geliebter Bruder, und ich werde dich in allen Menschen wiedererkennen! Du erscheinst mir voll Adel und Leutseligkeit, ein großmächtiger Herr, in dessen Macht es stand, Wasser zu reichen. Alle meine Freunde, alle meine Feinde kommen mir in deiner Person entgegen, und ich habe keinen einzigen Feind mehr auf der Welt.« (Antoine de Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne. Übersetzt von Henrik Becker. Düsseldorf: Karl Rauch, 1956, S. 205 ff)
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
8.
Aus sich heraustreten: die Nähe und die Verantwortung
In seiner Philosophie versucht Levinas, eine Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen aufzudecken, in der der Andere nicht im Selben aufgelöst würde. Weder die Erkenntnis noch die Einfühlung kann dieses Kriterium erfüllen. In Totalité et infini wird diese Beziehung als Begehren charakterisiert, das sich in der Situation der Rede vollzieht. Im Gespräch tritt das Selbe aus sich, weil es den Anderen nicht vereinnahmen kann. Und indem es den Anderen will, aber nicht haben kann, begehrt es ihn. Später spricht Levinas von der Nähe als die Situation, in der sich die Beziehung zur Andersheit stattfindet. 412 Wie man das schon vermuten kann, versteht Levinas unter der »Nähe« keine messbare Nähe zwischen zwei Objekten innerhalb eines homogenen Raumes: die Nähe »setzt die Menschlichkeit voraus« (JS, 182/AQE, 102). Mit der Nähe wird auch nicht die Tatsache beschrieben, dass der Mensch sich in seiner Welt zusammen mit anderen Menschen aufhält. 413 Die Nähe ist mehr als Faktum, dass man auf der Welt nicht allein ist, dass man immer von andern Menschen umgeben ist, dass man mit ihnen hier zusammen ist. Die Nähe geschieht nämlich nicht dann, wenn man einen anderen Menschen vorstellt, an ihn denkt, ihn erkennen und verstehen möchte, also wenn man intentional auf ihn gerichtet ist, oder wenn man denkt, dass man zu ihm nah ist, bloß weil man irgendeine Beziehung mit ihm hat: »Die Maßlosigkeit der Nähe ist zu unterscheiden von der Verbindung, die Subjekt und Objekt in der Erkenntnis und der Intentionalität eingehen.« (JS, 202/AQE, 114) »Die Nähe löst sich nicht in das Bewußtsein auf, das ein Seiendes von einem anderen Seienden gewinnen mag, das es für nah erachtet, insofern dieses andere sich vor seinen Augen oder in seiner Reichweite befindet und insofern es ihm möglich ist, dieses anderen Seienden habhaft zu werden, es zu halten oder sich mit ihm zu unterhalten, in der Gegenseitigkeit des Hände-
412 Dies bedeutet nicht, dass das Konzept der Rede keine Rolle mehr in der Beschreibung der Beziehung zum Anderen spielt. In der Rede geschieht die Nähe: »Man muß also zugestehen, daß in der Rede eine Beziehung zu einer Singularität stattfindet, die außerhalb des Themas der Rede steht und nicht in der Rede thematisiert wird, der man sich aber nähert. Die Rede und ihr logisches Werk wurzelten also nicht in der Erkenntnis des Anderen, sondern hielten sich in seiner Nähe.« (SA, 274/DEHH, 313) 413 Vgl.: JS, 183/AQE, 102 f.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
drucks, der Liebkosung, des Kampfes, der Zusammenarbeit, des Handels, des Gesprächs.« (JS, 186/AQE, 104) 414
Wir haben schon gesehen, dass die Vorstellung, die Erkenntnis, das Denken oder auch die Einfühlung die Aneignung des Anderen im Selben, die Verwandlung des Anderen zum Objekt für das Selbe bedeutet und dass es deswegen keine Beziehung zum Anderen gibt. Das Ich kann auch äußerlich die unterschiedlichsten Beziehungen zu dem Anderen haben, aber sofern diese Beziehungen über Vorstellungen gepflegt werden, kommt das Ich dem Anderen nicht näher. Einen in einer Beziehung vorzustellen, heißt in sich verschlossen zu bleiben, seinen inneren Kern zu bewahren, unerschütterlich zu bleiben und ein Bild des Anderen in sich zu tragen, das das Ich nicht berührt, nicht beunruhigt. So ist einer der Vermieter, einer ist der Kollege, der sich immer verspätet, ein anderer ist jemand, mit dem man gerne am Feierabend ein Bier trinkt, mit einem anderen kann man über die Kunst reden. Und man pflegt entsprechende Beziehungen: Man zahlt die Miete, man arbeitet zusammen, man trinkt zusammen, man redet über die Kunst. Das Ich bleibt bei sich, es pflegt nur irgendwelche nach bestimmten Regeln verlaufenden Beziehungen, in denen auch er selbst für die Anderen nur eine Vorstellung ist. In solchen Beziehungen, die über Vorstellungen nach bestimmen Regeln verlaufen, gibt es keine wahre Nähe. 415 Wenn die Nähe nicht geschehen kann, wenn ich den Anderen nur denke und bei mir abgesichert bleibe, dann muss ich mich – damit die Nähe möglich wäre – dem Anderen aussetzen, ich muss ihn mich als entblößt sehen lassen. Ich muss das Zentrum meines inneren Königreichs zersprengen, das mir die Sicherheit gibt, das mir die Möglichkeit zur Kontrolle über mich selbst, über diese Beziehung und sogar über den Anderen gibt. Ich muss zum Mitglied dieser Beziehung werden, statt an ihr nur formal teilzunehmen und ständig die Macht über die Geschehnisse zu haben. Ich muss zulassen, dass der
414 Die Nähe, die Beziehung mit dem Anderen ist keine Beziehung der Vorstellung oder Erkenntnis: SA, 274/DEHH, 314; SA/Sub, 296/488, 298/489; JS/AQE, 120Anm.35/63n.35, 180/101, 195/110, 217/123, 270Anm.26/156n.26; EU, 74/EI, 93 f. 415 Es gibt natürlich auch solche Beziehungen, die von Anfang an nicht auf der Ebene des Vorstellens, der Erkenntnis geschehen, zum Beispiel die erotische Beziehung oder die Beziehung in der Vaterschaft. Levinas hat viel über diese Beziehungen zum Beispiel in Le temps et l’autre und Totalité et infini geschrieben.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Andere mich berührt und von mir eine Antwort einfordern kann, ob ich sie geben will oder nicht: »Die Nähe ist das sich nähernde Subjekt und konstituiert so eine Beziehung, an der ich als Beziehungsglied teilnehme, in der ich jedoch mehr – oder weniger – als ein Beziehungsglied bin.« (JS, 184 f/AQE, 103 f) 416 »[…] Nähe, die nur möglich ist als ein Sich-Öffnen, als unvorsichtige Ausgesetztheit für den Anderen, rückhaltlose Passivität bis hin zur Stellvertretung und folglich als Aussetzung der Ausgesetztheit 417, eben als Sagen, Sagen, das nicht etwas sagt, das bedeutet, Sagen, das als Verantwortung die Bedeutung selbst ist, der-Eine-für-den-Anderen [l’un-pour-l’autre – L. P.], Subjektivität des Subjekts, das sich zum Zeichen macht, aber das man mißverstände, hielte man es für den stammelnden Ausdruck eines Wortes, denn es bezeugt die Herrlichkeit des Unendlichen.« (JS, 330 f/AQE, 192)
Mit anderen Worten: Die Nähe geschieht dann, wenn ich verantwortlich bin: »Die Nähe des Anderen wird in diesem Buch als die Tatsache präsentiert, daß der Andere mir nicht nur räumlich oder als Verwandter nahe ist, sondern sich mir wesentlich dadurch nähert, daß ich für ihn verantwortlich bin.« (EU, 73 f/EI, 93) 418
Die »Verantwortung« (responsabilité) muss hier in spezifisch Levinas’schen Bedeutung verstanden werden, nämlich durch den Begriff der »Antwort« (réponse), die der Andere von mir fordert und die nicht meine Wahl ist. Das Antlitz bricht in meine Welt ein, spricht mich an, führt mich zu meiner Passivität zurück, wo ich nicht frei bin, wo ich nichts kontrolliere: Ich soll ihm antworten. Es geht nicht um die Antwort auf eine irgendeine Frage, sondern er selbst ist die »Frage« (question). 419 Und weil ich dem Anderen ausgesetzt bin und antworten soll, bin ich verantwortlich. 420 Die Nähe wird also durch meiVerkürzt bereits in der Einleitung zitiert. Unter »Aussetzung der Ausgesetztheit« versteht Levinas die »Aussetzung« (exposition), die nie mehr zu sich zurückkehrt, sondern sich immer weiter aussetzt. 418 »[D]as Andere ist der Andere; das Herausgehen [sortie – L. P.] aus sich selbst ist die Annäherung an den Nächsten; die Transzendenz ist Nähe, die Nähe ist Verantwortung für den Anderen, Stellvertretung für den Anderen, Sühne für den Anderen […].« (GE, 43/DI, 33) 419 Insbesondere in De Dieu qui vient à l’idée beschreibt Levinas den Anderen als die Frage. 420 »Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir einen Befehl erteilt […]. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu antworten. Das Ich macht sich diese Notwendigkeit zu antworten nicht bloß bewußt, als ob es 416 417
282 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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ne Ausgesetztheit und Passivität der Antwort konstituiert. Ich bin dem Anderen nah, wenn ich antworten soll, ohne zu mir selbst zurückzukehren. Wenn die Nähe keine Vermittlung durch die Erkenntnis oder Einfühlung zulässt, wenn sie grundsätzlich Nicht-Identität, Entblößung und Verantwortung ist, dann bietet sie – genauso wie die leibliche Sensibilität – eine Möglichkeit, unmittelbar bei der Exteriorität da zu sein. Mehr noch: Sie ist die Sensibilität. 421 Sie ist die Berührung. 422 Und genauso wie die Unmittelbarkeit der Sensibilität kann auch die Nähe nur außerhalb jeder Thematisierung, jeder Setzung und jedes Denkens geschehen: »Die Nährung ist nicht die Thematisierung irgendeiner Beziehung, sondern diese Beziehung selbst, die als an-archische der Thematisierung widersteht. Diese Beziehung zu thematisieren heißt schon, sie zu verlieren, heißt schon, aus der absoluten Passivität des Sich herauszutreten.« (SA, 323/Sub, 504)
Weil die Nähe eine solche Unmittelbarkeit, ein solches Aus-sich-Heraustreten und In-Beziehung-Treten ist, ist sie ereignishaft und unsich um eine Verpflichtung oder um eine besondere Aufgabe, über die es zu entscheiden hätte, handeln würde. Es ist in seiner Stellung selbst durch und durch Verantwortlichkeit […].« (HAM, 43/HAH, 53) 421 Die Nähe hat ihre sensible Seite. Wir haben schon gesehen, dass die Subjektivität als solche, die den Anderen empfängt, grundsätzlich leiblich ist, und dass die Begegnung sich grundsätzlich durch die Sensibilität ereignet: durch das Sehen, Hören etc. Die Begegnung geschieht durch die »Berührung« (contact). Oder man kann auch sagen (und Levinas tut dies), dass die Nähe Sensibilität, Berührung ist, aber dann muss die Sensibilität so verstanden werden, dass sie nicht nur den leiblichen Kontakt, sondern auch das spezifisch Menschliche bedeutet, nämlich die Verantwortung. In der Tat schreibt Levinas: »Die Berührung ist Zärtlichkeit und Verantwortung.« (SA, 275/ DEHH, 314) Auch Boundja weist auf den grundsätzlichen Zusammenhang von Nähe, Sensibilität, Sprache (Rede) und Verantwortung hin: »Le langage originel est proximité, mais la proximité, entendue comme événement originel du langage, définit la signification de la sensibilité. C’est la sensibilité qui révèle le sens premier du langage.« (Boundja, 85) Oder: »La relation de proximité qu’établit le sensible, en tant que langage sans mots ni propositions, se comprend comme relation éthique.« (Boundja, 87) Oder: »L’événement éthique s’enracine dans le sensible.« (Boundja, 88) 422 »Als Bedeutung, als der-Eine-für-den-Anderen ist die Nähe keine Konstellation, die in der Seele entsteht. Sie ist Unmittelbarkeit, älter als die Abstraktion der Natur; auch keine Vereinigung. Sie ist Berührung des Anderen. In Berührung sein: weder den Anderen einsetzen und damit seine Andersheit zunichte machen noch mich selbst im Anderen aufheben. In der Berührung genau sind Berührendes und Berührtes getrennt, als entfernte sich das Berührte, das immer schon Andere, als hätte es mit mir nichts gemeinsam.« (JS, 193/AQE, 108 f)
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
denkbar. Die Verantwortung als der Bezug zum Anderen vollzieht sich in der Nähe, ist die Nähe, konstituiert sie und stellt deswegen ein Ereignis dar. Diese Struktur der durch die Verantwortung konstituierten Nähe könnten alle zwischenmenschlichen Ereignisse teilen, obwohl sie auch auf alle Ereignisse anwendbar wäre. Man könnte zum Beispiel an eine Begegnung zweier Liebenden denken, die die Betroffenen aus ihnen selbst herauswirft, sodass sie nicht mehr versuchen, den Anderen und die Situation selbst unter ihre Kontrolle zu bringen, indem sie den Anderen und die Situation manipulieren. Der Liebende tut, manchmal sogar gegen seinen Willen, das, was die Liebe ihm befiehlt. Er fügt sich passiv in die Situation ein, er antwortet den Worten und Taten des Anderen, ohne nachzudenken, als ob er nur ein Medium der Liebe wäre. Der Satz »Ich liebe dich« wird nicht als eine Mitteilung aufgefasst, mit der man frei umgehen könnte, sondern als Aufforderung, dasselbe zu sagen, und der Liebende folgt passiv dieser Aufforderung, ohne in sich zu verweilen und darüber zu reflektieren. Damit macht er sich natürlich verwundbar. Wer sich nicht in sich zurückzieht und sich offen hält für das, was mit ihm geschieht, macht sich verwundbar, aber gleichzeitig ist das die einzige Möglichkeit, in etwas zu sein, was einen übersteigt. Das Ereignis des Anderen übersteigt die Identität des Einzelnen und es lässt ihn die Nähe des Anderen spüren, die durch das Antworten auf die Aufforderung des Anderen entsteht.
9.
Das Ereignis als Zeitbruch
In den vorherigen Abschnitten haben wir versucht, den Ort des Ereignisses zu bestimmen. Wir haben festgestellt, dass das Ereignis nicht im Selben, im Ich geschieht – es lässt das Ich aus ihm transzendieren und ereignet sich draußen. Dieses Draußen ist nicht die Außenwelt in ihrer physischen Objektivität, sondern der Zeit-Raum des Ereignisses selbst, die Nähe. Und weil das Ereignis nicht im Selben geschieht, ist es unsichtbar, unvorstellbar und undenkbar. In den folgenden zwei Abschnitten werden wir uns der zeitlichen Dimension des Ereignisses widmen. Es geht darum, dass das Ereignis in die Zeit des Bewusstseins einbricht, dass das Ereignis ein Zeit-Bruch, der Einbruch einer anderen Zeit als die des Bewusstseins, die »Diachronie« (diachronie) ist, in der sich ein anderer Ursprung als der des Bewusstseins selbst ereignet. 284 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Schon im Werk Le temps et l’autre eröffnet die Zeitanalyse die Möglichkeit des Verständnisses des Anderen. Levinas denkt die Zeit in kritischer Einstellung gegenüber den Theorien der Zeit von Bergson bis Sartre, einschließlich Husserl und Heidegger. Diese Theorien fassen die Zeit als etwas Einheitliches und Ununterbrochenes auf, in dessen Fließen alle Zeitmodi – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – miteinander verbunden sind, ineinander übergehen. So entwirft zum Beispiel das gegenwärtige Jetzt schon den zukünftigen Moment. Das Zukünftige ist schon da, vergegenwärtigt. Dieser Auffassung setzt Levinas sein Verständnis der Zeit entgegen, laut dessen die Zukunft nicht der Gegenwart folgt, sondern auf sie zukommt, einbricht. Als solche gehört die Zukunft nicht dem Erlebnisstrom des Ich, sondern ist das Andere dem Ich gegenüber: »Die Vorwegnahme der Zukunft, das Entwerfen der Zukunft, durch alle Theorien von Bergson bis Sartre als das Wesentliche der Zeit glaubhaft gemacht, sind nur die Gegenwart der Zukunft und nicht die authentische Zukunft; die Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich unser bemächtigt. Die Zukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur Zukunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen. Von Zeit zu sprechen in einem Subjekt allein, von einer rein persönlichen Dauer zu sprechen, scheint uns unmöglich.« (ZA, 48/TA, 64) 423
Und genauso wie die Zukunft in die Gegenwart, ausgehend von sich selbst, einbricht, so kommt auch das Andere unvorhersehbar von außerhalb auf uns zu und zwingt uns, ihn passiv aufzunehmen. Oder eher im Gegenteil: Dadurch, dass wir so die Ankunft des Anderen erfahren haben, können wir jetzt die Zeit anders verstehen, nämlich nicht als die Zeit des Selben, sondern als die Beziehung zu dem Anderen: »Ich definiere den anderen nicht durch die Zukunft, sondern die Zukunft durch den anderen, da gerade die Zukunft des Todes in seiner totalen Andersheit bestanden hat.« (ZA, 54/TA, 74) »Das Verhältnis zur Zukunft, die Anwesenheit der Zukunft in der Gegenwart, scheint sich allerdings zu vollziehen in der Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht mit dem anderen. Die Situation des Von-Angesicht-zuAngesicht wäre der eigentliche Vollzug der Zeit; das Übergreifen der Gegenwart auf die Zukunft ist nicht die Tat eines einsamen Subjekts, sondern das intersubjektive Verhältnis. Die Bedingung der Zeitlichkeit liegt im Ver423
Verkürzt bereits im Teil I zitiert.
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hältnis zwischen menschlichen Wesen oder in der Geschichte.« (ZA, 51/TA, 68 f) 424
Währen in Le temps et l’autre die Zeit des Anderen als die Zukunft bestimmt wird, tritt in der späteren Philosophie Levinas’ die Vergangenheit als die Zeitlichkeit des Anderen in den Vordergrund. 425 Weil das Ereignis als eine andere Zeit in die einheitliche Zeit des Bewusstseins einbricht, ist es nicht von diesem Bewusstsein einholbar: Es stellt eine »unvordenkliche Vergangenheit« (passé immémorial) dar, die von der Erinnerung durch die Vergegenwärtigung nicht erreicht werden kann. Der Zeitbruch vollzieht sich als das Schon-GeschehenSein eines absolut Vergangenen. Um die Eigentümlichkeit dieser Vergangenheit zu verstehen, muss zuerst nach dem Bewusstsein, das diese Vergangenheit nicht einholen kann, gefragt werden. Das Bewusstsein ist Zeit: die erlebte Zeit des Erlebnisstroms, der sich als ein Kontinuierliches, Ununterbrochenes und Ganzes darstellt. Alle Momente dieses Zeitflusses sind miteinander verbunden. So wie die Zukunft aus der Gegenwart entworfen wird, so kann auch das Vergangene durch die Gegenwart zurückgeholt werden: »Vom Bewußtsein zu sprechen heißt von der Zeit sprechen. Es heißt jedenfalls von der wiedereinholbaren Zeit sprechen.« (JS, 83/AQE, 41) »Die Immanenz meint zugleich diese Versammlung des zeitlich Verschiedenen in die Gegenwart der Vergegenwärtigung.« (GE, 202/DI, 237)
Das Bewusstsein ist also die Gleichzeitigkeit vom gegenwärtigen Jetzt, der erinnerten Vergangenheit und entworfenen Zukunft. Im 424 Die Behauptung, dass die Beziehung mit dem Anderen der Zeitlichkeit zugrunde liegt, kann wieder als ein Versuch, Heidegger weiter zu denken, aufgefasst werden. Während Heidegger den letzten Grund in der Zeitlichkeit des Daseins sieht, besteht er für Levinas in der zwischenmenschlichen Beziehung noch vor der Zeitlichkeit. 425 Die Zukunft wird aber als Thema in Levinas’ späterem Denken wieder aufgenommen. In einem Interview 1988 charakterisiert er die »Verpflichtung gegenüber dem Nächsten« als »Vergangenheit, die niemals Gegenwart war« (wir werden gleich sehen, was dies bedeutet) und das »Sterben für den Anderen« als »Zukunft, die niemals meine Gegenwart sein wird« (ZU, 278/EN, 264). In der Verantwortlichkeit gegenüber dem Anderen bis zum Sterben für ihn eröffnet sich für mich eine Zeit, die da sein wird, obwohl ich nicht mehr da sein werde, um diese Zeit in mir zu haben, um sie zu dem Selben zu machen. Diese Zukunft ist das Andere, dem ich in der Verantwortung zwar begegne, aber nicht zu meiner machen kann. Der Andere ist die Zeitigung der Zukunft als des Anderen. Der Andere ist unvordenkliche Vergangenheit und unerreichbare Zukunft.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Bewusstsein sind also alle Zeitmodi im gegenwärtigen Moment gegenwärtig. Das Bewusstsein ist somit synchron. Und alle diese Zeitmomente gehören zu demselben Bewusstsein: Sie tragen seinen Index und konstituieren so die Identität des Bewusstseins in seinem Fließen. Hier gibt es keine Transzendenz: »Die Gegenwart schließt letztendlich jegliche Transzendenz aus.« (GE, 206/ DI, 240)
Das Ereignis bricht in das synchrone und synchronisierende Bewusstsein ein als ein Augenblick, der zu diesem Bewusstsein nicht passt, als eine andere Zeit oder – besser – als der Bruch der Zeit, der sich nicht systematisch in die Identität des Bewusstseins einordnen lässt, das sich nicht vergegenwärtigen – synchronisieren – lässt und so eine »Diachronie« ist: »Die Andersheit, die unendlich verpflichtet, spaltet [fendre – L. P.] hier die Zeit durch eine unüberwindbare Zwischen-Zeit [entre-temps – L. P.]: ›der Eine‹ ist für den Anderen auf die Weise eines Seins, das sich losläßt, ohne sich in einer Synthese, die sich als Thema darstellt, an seine Seite stellen zu können;« (HAM, 5/HAH, 10) »[…] es muß in dieser wiedereinholbaren Zeitigung, in der Zeitigung ohne verlorene, ohne zu verlierende Zeit, in der das Sein der Substanz sich vollzieht – ein unwiederbringlicher Zeit-lauf [laps de temps sans retour – L. P.] sich ankündigen, eine Diachronie, die aller Synchronisierung gegenüber widerständig bleibt, eine transzendente Diachronie.« (JS, 37 f/AQE, 11) »Diese Diachronie der Zeit beruht nicht auf der Länge des Intervalls, so daß die Vorstellung es nicht umfassen könnte. Sie meint Auseinanderfallen der Identität, in der das Selbe nicht mehr das Selbe erreicht: Nicht-Synthese, Müdigkeit.« (JS, 126/AQE, 67) »Man kann dies apokalyptisch Zersplittern [éclatement – L. P.] der Zeit nennen. Doch handelt es sich um die verwischte und gleichwohl nicht zu bändigende Dia-chronie einer nichthistorischen, ungesagten Zeit, die sich nicht durch die Erinnerung und die Historiographie in eine Gegenwart hinein synchronisieren läßt und in der die Gegenwart nur die Spur einer unvordenklichen Vergangenheit ist.« (JS, 200/AQE, 113) 426
Wenn das Ereignis sich ereignet, wird die Zeit des Selbst, sein Beisich-Sein, sein Erlebnisstrom unterbrochen. Das Bewusstsein erfährt 426 Der Zeitbruch: SA/DEHH, 249 f/293 f, 256/299; JS/AQE, 200/113, 225 f/129, 308 f/179.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
diese Störung, es kann aber nicht zu diesem vergangenen Zeitpunkt zurückkehren, weil es nicht zu ihm gehört, nicht seiner ist und lässt auch nicht durch das »Abbilden« zu seiner machen. Es kann unmöglich wissen, was geschehen ist. Zum Ereignis gehört wesentlich die Frage: »Was war das, was mit mir geschehen ist?« Diese Frage bleibt aber für immer ohne endgültige Antwort. Das Geschehene gehört nicht dem Selben, es ist nicht von ihm konstituiert, vorgestellt, ausgelöst, vorhergesehen worden; es ist nicht sein Ursprung, sein Anfang, sein Prinzip, entsprechend dem das Ereignis geschieht. Deswegen beschreibt Levinas die diachrone Transzendenz als »vor-ursprünglich« (pré-originelle) (JS, 40/AQE, 13) 427 und »an-archisch« (anarchique) 428. Sie ist vor-ursprünglich, weil sie ihren Ursprung nicht in mir hat. Sie ist anarchistisch, weil sie ihr eigenes Prinzip ist, durch das sie meine Bewusstseinsordnung stört. Mit anderen Worten: Das Ereignis geschieht vor meiner Freiheit, wenn meine Freiheit als Ursprung meiner ganzen Existenz verstanden wird. Es geschieht vor-zeitig, wenn die Zeit meine Zeit ist, in der ich alles für mich haben kann: »Die Verantwortung für den Anderen – in ihrer Vorzeitigkeit [antériorité – L. P.] gegenüber meiner Freiheit […].« (JS, 50/AQE, 18) 429
Weil das Ereignishafte sein eigener Ursprung ist, geschieht es unabhängig von mir – es geschieht mit mir und vor mir. Versuche ich es zu begreifen, so kann ich es nicht: Ich bin schon zu spät gekommen. Das Ereignis ist schon mit mir geschehen – in Bezug auf das Ereignis befinde ich mich in einer »unaufholbaren Verspätung« (retard irrécupérable): »Er hat mich verlangt, bevor ich gekommen bin. Unaufholbare Verspätung. ›Ich öffnete … er war entschwunden.‹« (JS, 199/AQE, 112) 430 »Vom Nächsten bin ich befallen, bevor er mir auffällt, als hätte ich ihn vernommen, bevor er spricht. Was als Anachronismus eine andere Zeitlichkeit bezeugt als die, die dem Bewußtsein den Takt schlägt. Sie demonstriert die
427 Die Vor-Ursprünglichkeit: HAM, 72 ff/HAH, 82 ff; JS/AQE, 136/73, 150/82, 335 f/ 195. 428 Die An-archie: SA, 298 f/Sub; JS/AQE, 40/12, 125/66, 224 f/128, 227/129; GE, 225/DI, 255. 429 Die Vor-Zeitigkeit des Ereignisses: JS/AQE, 46/16, 198 f/112, 223/127, 272 f/157. 430 Levinas zitiert hier das Hoheslied: 5, 6.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
wiedereinholbare Zeit der Geschichte und der Erinnerung, in der die Vorstellung kontinuierlich weitergeht.« (JS, 198/AQE, 112) 431
Weil das Ereignis des Anderen sich selbst gegen meine Bewusstseinsordnung auftreten und mich immer zu spät kommen lässt, ist es unvorhersehbar: »Die Rede ist das Ereignis von Sinn [production de sens – L. P.]. Der Sinn ereignet sich nicht als eine ideale Wesenheit – er wird gesagt durch die Gegenwart, durch die Gegenwart wird man in ihm unterwiesen. Die Unterweisung [enseigné – L. P.] reduziert sich nicht auf die sinnliche oder intellektuelle Anschauung; diese ist das Denken des Selben. Ihrer Gegenwart einen Sinn geben ist ein Ereignis [événement – L. P.], das sich nicht auf die Evidenz zurückführen läßt. Dieses Ereignis geht nicht in eine Anschauung ein. Es ist gleichzeitig eine direktere Gegenwart als die sichtbare Erscheinung und eine ferne Gegenwart – die des Anderen. Gegenwart, die den, der sie empfängt, beherrscht. Sie kommt aus der Höhe, unvorhersehbar [imprévue – L. P.], und lehrt folglich ihre eigene Neuheit [nouveauté – L. P.].« (TU, 88 f/TI, 38) 432
Wenn das Ereignis vor-ursprünglich und vor-zeitig ist, kann ich mich für es auch nicht entscheiden. Das Ereignis ist schon mit mir geschehen, bevor ich eine Entscheidung hätte treffen können: »Ausgesetztsein dem Anderen, ohne dieses Ausgesetztsein selbst noch einmal übernehmen zu können […].« (JS, 50/AQE, 18) 433
Wenn ich mich für das Ereignis nicht entschieden habe, so ist es »gegen meinen Willen« (contre mon gré) (JS, 42/AQE, 14), (malgré soi) (JS, 123/AQE, 65) geschehen. 434 Doch diese Unfreiwilligkeit oder Widerwilligkeit des Ereignisses heißt nicht, dass ich vorher, vor dem Ereignis etwas gewollt habe, was nicht eingetroffen oder anders einge431 Zu der Verspätung siehe auch: SA, 250/DEHH, 294; JS/AQE, 200/113, 330/192. Der Gedanke Levinas’ von der Verspätung gegenüber dem Ankommen des Anderen wird mehrfach in der Ereignisphilosophie übernommen. Zum Beispiel bei Jean-Luc Marion in Certitudes négatives (CN, 249) oder bei Claude Romano in seinem Werk L’événement et le temps (ET, 169). 432 Siehe auch: TU, 327/TI, 200. Übrigens lässt diese Textpassage, wo der Sinn mit dem Ereignis zusammengebracht wird, an Deleuze denken. Wobei auch Levinas – genauso wie Deleuze – den Sinn nicht im Bewusstsein, sondern außerhalb dessen verortet. 433 Das Ereignis ist nicht meine Wahl, meine Entscheidung: HAM, 76 ff/HAH, 85 ff; JS/AQE, 40 f/12 f, 50/18, 136 f/73, 169 f/94, 248/142, 257/148, 272/157, 300/174. 434 Das Ereignis gegen den eigenen Willen: HAM, 82/HAH, 90; JS/AQE, 122 ff/65 ff, 131/70, 136/73.
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troffen ist, als ich es mir vorgestellt habe, und das ich jetzt alles so hinnehmen muss, wie es ist. Ich habe vor dem Ereignis nichts gewollt 435 – meine Unfreiwilligkeit ist das Vor-dem-Willen-Sein des Ereignisses. 436 Das Ereignis ist grundsätzlich etwas, was mit mir geschieht und nicht ein Resultat meiner Freiheit, meiner Aktivität. Es ist auch nicht Resultat eines bewussten Empfangens, für das ich mich entscheiden hätte können. Ich tue hier nichts, im Ereignis bin ich absolut passiv – ich empfange das, was mit mir geschieht: »Das Einstehen-für, die Stellvertretung, ist nicht ein Akt, es ist eine in den Akt nicht überführbare Passivität, das Diesseits der Alternative Akt-Passivität […].« (JS, 259/AQE, 149) »Diese Vorzeitigkeit der Verantwortung im Verhältnis zur Freiheit bedeutete die Güte des Guten: die Notwendigkeit für das Gute mich zuerst zu erwählen, bevor ich imstande bin, das Gute zu wählen, das heißt seine Wahl anzunehmen. Darin liegt mein vorursprüngliches Empfangen. Passivität vor aller Rezeptivität. Transzendent. Vorzeitigkeit vor aller vorstellbaren Vorzeitigkeit: unvordenkliche Vorzeitigkeit. Das Gute vor dem Sein. Diachronie: unüberbrückbare Differenz zwischen ungleichzeitigen, nicht zusammenpassenden Termini, zwischen dem Guten und mir. Doch auch Nicht-Indifferenz in dieser Differenz.« (JS, 272 f/AQE, 157)
Weil das Ereignis vor jeder meiner Aktivität geschieht, habe ich keine andere Wahl, als es aufzunehmen: »Die Wille ist frei, diese Verantwortung zu übernehmen, wie es ihm gefällt; er ist nicht frei, diese Verantwortung selbst abzulehnen, er hat nicht die Freiheit, die vernünftige Welt, in die ihn das Antlitz des Anderen eingeführt hat, nicht zu kennen.« (TU, 317/TI, 194) 437
Wegen seiner Vorzeitigkeit, die die Zeit des Bewusstseins unterbricht, wegen seiner Vor-Ursprünglichkeit, die in meiner Freiheit einen anderen Willen sein Werk tun lässt, wird das Ereignis immer als etwas Mächtiges erfahren. Diese Mächtigkeit wird vor allem dadurch erlebt, dass der Betroffene im ersten Augenblick des Ereignisses antwortet Es ist etwas, was »weder gewählt noch nicht-gewählt ist, zu dem das Subjekt vielmehr erwählt wird« (HAM, 78/HAH, 87). 436 Weil ich nichts gewollt habe, werde ich vom Ereignis auch nicht unterdrückt – die Unterdrückung gibt es nur dort, wo es Freiheit gibt, die gibt es hier aber nicht. Dazu siehe: HAM, 74 ff/HAH, 84 ff. 437 Die Unmöglichkeit, das Ereignis abzuweisen, sich der Verantwortung zu entziehen: TU, 289/TI, 175; SA, 224/DEHH, 273; JS/AQE, 48/17, 126/67, 129/69, 135/72 f, 190/107, 234/134, 249/143. 435
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und antworten muss, ohne seine Reaktion, seine Antwort vorher überlegen zu können. Er kann sich nicht kontrollieren, er ist außer sich: im Ereignis. Erst später, wenn sein Bewusstsein mit der Verspätung angekommen ist, kann er eine Haltung gegenüber dem Ereignis einnehmen. Er kann es zum Beispiel als einen Zwang gegen seine freie Entscheidung empfinden. Er kann das Ereignis als etwas auffassen, das ihn etwas tun ließ, was er nicht tun wollte. Er kann versuchen, das Ereignis unter Kontrolle zu bringen, und sich einreden, dass es doch seine (falsche) Wahl gewesen ist. Doch das ist nur die zweite Antwort nach der ersten, die nicht mehr als nicht geschehen verworfen werden kann. Das Ereignis ist geschehen so, wie es das wollte, und man kann da nichts mehr ändern. Man kann aber im Ereignis auch eine neue Möglichkeit sehen, die man weiter bewusst aufnehmen und verwirklichen kann, eine Neuheit, die unvorhersehbar durch den Zeitbruch eingebrochen ist.
10. Die unvordenkliche Vergangenheit und die Unerinnerbarkeit des Ereignisses Das, was in die synchrone Zeit des Ich einbricht und vor seiner Entscheidung geschieht, das, in Bezug worauf das Ich immer zu spät kommt, ist laut Levinas eine »unvordenkliche Vergangenheit«: eine »verlorene« und »uneinholbare« (irrécupérable) (JS, 19/AQE, 18), »unumkehrbare« (irréversible) (HAM, 54/HAH, 65) und »absolute« (absolu) (TU, 183/TI, 103) Vergangenheit. 438 Es handelt sich darum, dass das Ereignis für das Ich in einem Zeitmodus geschieht, den das Ich kraft seiner Erinnerung als Vergegenwärtigung nicht einholen kann: »Die Andersheit, ereignet sich als ein Abstand und eine Vergangenheit, die keine Erinnerung zur Gegenwart zu erwecken vermöchte.« (SA, 249/ DEHH, 293) »Eine lineare Rückwärtsbewegung – eine Retrospektive, die entlang der Zeitenfolge auf eine sehr weit entfernte Vergangenheit zuginge – wäre niemals in der Lage, die absolut diachrone Vor-ursprünglichkeit zu erreichen,
438 Eine unvordenkliche, uneinholbare, unumkehrbare, absolute Vergangenheit: SA/ DEHH, 229 f/277 f, 232/279, 234/281, 256/299, 259/301; HAM, 53 ff/64, JS/AQE, 114/60, 198/112, 298/172.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
die nicht wieder einholbar ist durch die Erinnerung und die Geschichte.« (JS, 39/AQE, 12) 439
Dass jetzt behauptet wird, dass die Zeit des Ereignisses eine durch die Vergegenwärtigung nicht einholbare Vergangenheit ist, steht nicht im Widerspruch zum vorher Gesagten, dass das Ereignis sich nur gegenwärtig ereignet. Das Ereignis ist uneinholbar für die Erinnerung, für das immer später ankommende Bewusstsein und Denken. Die Gegenwart, in der sich das Ereignis ereignet, ist dagegen nicht die Gegenwart als Zeitmodus des Bewusstseins, sondern die Gegenwart des Ereignisses selbst, die Unterbrechung des Bewusstseins. Und diese ursprünglichere Gegenwart ist eine absolute Vergangenheit für das Bewusstsein, das mit einer Verspätung das Ereignis noch festzuhalten versucht. Wenn die Unvordenklichkeit des Ereignisses seine Unerinnerbarkeit bedeutet, muss zuerst diese befragt werden. Der Grund dafür, dass das Bewusstsein sich nicht an das Ereignis erinnern kann, liegt nicht in seiner Schwäche; er liegt nicht in der Komplexität oder Verdrängung 440 des Erinnerungsinhaltes. Man kann sich nicht an das ereignishafte Geschehen erinnern, weil es niemals eine Gegenwart im Bewusstsein war. Es handelt sich um:
439 Die Unerinnerbarkeit des Ereignisses: HAM, 53/HAH, 64; JS/AQE, 209/118, 224 f/128. 440 Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Es ist in der letzten Zeit in der Tat üblich geworden, das traumatische Ereignis unter anderen Ereignissen (wie Liebe, Kunst, Tod, Geburt etc.) zu behandeln, als ob es dieselbe »Sache« wäre. Das ist aber nur dadurch möglich geworden, dass man bestimmte wesentliche Unterschiede nicht gesehen hat. Levinas versucht dagegen, den Unterschied zwischen einem ethischen Ereignis und einem traumatischen Ereignis auszumachen. Siehe zum Beispiel eine längere Fußnote: SA, 323 fAnm.19/Sub, 504n.18. Es geht hier selbstverständlich nicht darum, dass ein Trauma »schlecht«, das Ereignis dagegen »gut« wäre. Das Ereignis ereignet sich jenseits von Gut und Böse – schon aus dem Grund, dass es sonst das Gute (oder das Böse) nicht in die Welt einführen könnte. Es geht darum, dass das Trauma ein Ereignis des Bewusstseins ist, das verdrängt worden ist, während es Ereignisse gibt, die dadurch ausgezeichnet sind, »daß sie von der Totalität ausgenommen sind«. Streng genommen haben sie also mit dem Bewusstsein nichts zu tun. Sie sind kein Bei-sich-Sein, kein Leiden im Inneren, sondern »Passivität«, die »empfänglich für Schmerz, Schmach und Elend« ist. Diese »Empfänglichkeit« ist nach Außen gerichtet – als »Verantwortung«. Verdrängte Erfahrung des Missbrauchs in der Vergangenheit lässt niemals für den Anderen sterben – die Verdrängung ist egoistisch und würde lieber andere Menschen töten als für sie zu sterben.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
»[e]ine Vergangenheit [passé – L. P.], die älter [plus ancien – L. P.] ist als jede Gegenwart – eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war [qui jamais ne fut présent – L. P.] und deren an-archisches Alter niemals auf das Spiel von Verbergen und Offenbaren »hereingefallen« ist […]« (JS, 68/ AQE, 31). 441
Etwas kann im Bewusstsein nur als etwas Beständiges und dem Selben Zugehöriges – als ein Phänomen, eine Vorstellung, ein Thema o. Ä. – gegenwärtig sein. Sich an etwas zu erinnern, heißt, das schon einmal im Bewusstsein Präsente zu repräsentieren. Wenn das Ereignis, wie wir gesehen haben, kein Phänomen im Bewusstsein, kein Thema für das Denken ist, dann kann es auch nicht später, nachdem es schon geschehen ist, vergegenwärtigt werden. Doch man kann auch versuchen, sich an etwas zu erinnern, was nie etwas Präsentes im Bewusstsein gewesen ist, wie das der Fall ist, wenn der Betroffene sich in das Ereignis noch einmal hineinversetzen möchte oder zu verstehen versucht, was mit ihm geschehen ist. Die Frage ist, ob dies gelingen kann. Es kann nicht gelingen, weil, um sich zu erinnern, das Bewusstsein etwas zu seinem Inhalt machen muss; das Bewusstsein muss es thematisieren, vergegenwärtigen. Wenn aber das Ereignishafte als ein Bewusstseinsinhalt auftritt, hat es schon seine Ereignishaftigkeit verloren. Eine solche Erinnerung wäre also nur eine vermeintliche und keine Erinnerung an das wirklich Geschehene. Man kann das Ereignis denken, doch nur als einen Begriff, nicht als ein wirkliches Geschehnis. Deswegen sprechen wir von der Undenkbarkeit des Ereignisses. Und man kann sich an das Ereignis erinnern, aber das, was hier als der Bewusstseinsinhalt auftritt, ist kein Ereignis. Deswegen ist das Ereignis unerinnerbar. Es lässt sich vermuten, dass die Struktur der Undenkbarkeit mit der der Unerinnerbarkeit eng zusammenhängen. Gewissermaßen bedeuten die Undenkbarkeit und die Unerinnerbarkeit des Ereignisses sogar ein und dasselbe. Weil etwas zu denken und sich an etwas zu erinnern, wenn es um etwas schon Geschehenes (und ein Ereignis ist es immer) geht, heißt etwas sehr Ähnliches zu tun. Um etwas Geschehenes denken zu können, muss man es durch die Kraft der Erinnerung, d. h. durch die Vergegenwärtigung in die Gegenwärtigkeit des Denkens
441 Das Ereignis ist niemals eine Gegenwart gewesen: SA, 249 f/DEHH, 294; JS/AQE, 198 f/112, 217 f/124, 337/196 f. Levinas nennt diesen Umstand auch »Anachronismus« (anachronisme). Siehe zum Beispiel: SA, 249/DEHH, 294.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
bringen, wobei diese Vergegenwärtigung als das Abbilden, Sich-Vorstellen geschieht, das für das Denken charakteristisch ist: »Jede Vorgängigkeit des Gegebenen geht auf in der Augenblicklichkeit des Denkens, gleichzeitig mit dem Denken taucht sie in der Gegenwart auf. Dadurch erhält sie einen Sinn. Vorstellung, repräsentatio, das heißt nicht nur, »wieder« gegenwärtig zu machen, vorstellen heißt, eine aktuelle Wahrnehmung, die verfließt, auf die Gegenwart zurückführen. Vorstellen, das heißt nicht, ein vergangenes Geschehen in einem gegenwärtigen Bild wiederaufnehmen, sondern alles, was davon unabhängig scheint, auf die Augenblicklichkeit eines Denkens zurückführen.« (TU, 178 f/TI, 100)
In den beiden Fällen – im vergegenwärtigenden, vorstellenden Denken und in der vergegenwärtigenden, vorstellenden Erinnerung – wird das Wirkliche, das Wirkliche als das immer schon Geschehene, nie erreicht. Es kann auf diese Weise nie erreicht werden. Die Undenkbarkeit und Unerinnerbarkeit heißen hier Unerreichbarkeit durch Vorstellung. Das Ereignis ist unerinnerbar, weil die Erinnerung es sich vorstellen muss, um sich an es zu erinnern. Das Ereignis lässt sich aber nicht in der Vorstellung fangen. 442 Das Denken, Sich-Vorstellen, Sich-Erinnern und Vergegenwärtigen sind derselbe Prozess des Selben, durch den das Selbe das Andere zum Selben macht. Die Unerinnerbarkeit des Ereignisses ist die Undenkbarkeit des Ereignisses. Aber mit der Charakterisierung des Ereignishaften als undenkbar wollten wir einen bestimmten Aspekt akzentuieren, nämlich dass es eine radikale Exteriorität zum Denken ist, dass das Denken es nie denken kann, weil es das Denken mit seiner lebendigen Gegenwart überschreitet, während das Denken nur irgendwelche Denkobjekte denken kann, die »aus Denken« gemacht sind und die auf illusorische Weise vom Denken für wirklich gehalten werden. Mit der Charakterisierung des Ereignishaften als 442 Wenn die vorstellende Erinnerung das Ereignis nicht einholen kann, könnte es eine Erinnerung geben, die sich nichts vorstellt und die den Betroffenen wirklich zum Ereignis zurückbringen könnte, ohne es zu zerstören? Es wäre eine sehr merkwürdige Erinnerung. Erstens, weil ihr Ursprung nicht im Subjekt liegen würde, sondern in der Initiative der Erinnerung selbst. Dadurch wäre sie dem Ereignis ähnlich. Zweitens könnte man nach ihrem Stattfinden nicht mehr wissen, woran man sich erinnert hat. Man könnte sich also nicht mehr daran erinnern, woran man sich gerade erinnert hat. Könnte man es wissen, wäre das keine Erinnerung an ein Ereignis. Was könnte man also mit einer solchen Erinnerung anfangen? Sie geschieht selbst als ein Ereignis – als ein (unmögliches) Ereignis der Zeitreise, als eine Störung des Zeitablaufs.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
unerinnerbar möchten wir den Akzent darauf setzen, dass das Ereignis nicht durch die Erinnerung einholbar ist und das es wieder eine Täuschung ist, wenn man denkt, dass man dem Ereignis durch die Erinnerung näher kommen kann, dass man sich in das Geschehene nochmals und immer wieder hineinversetzten kann. Es ist unmöglich, weil die Erinnerung sich als die Vorstellung vollzieht, die die Exteriorität in das Selbe einsaugt, aus ihrem eigenen Gewebe nachmacht, bildlich, d. h. gegenständlich, darstellt, zu einem beständigen, überzeitlichen Objekt, zu einem Thema macht und der Illusion verhaftet bleibt, dass sie das Vergangene wirklich gefangen hat. Levinas schreibt diesbezüglich: »Das Historische definiert sich nicht nur durch das Vergangene, und das Historische und das Vergangene bestimmen sich als Themen, von denen man sprechen kann. Sie sind thematisiert, gerade weil sie nicht mehr sprechen. Das Historische ist auf immer von seiner eigentlichen Gegenwart abwesend. Wir wollen damit sagen, daß es hinter seinen Erscheinungen verschwindet – seine Erscheinung ist immer oberflächlich und zweideutig, sein Ursprung, sein Prinzip, sind immer woanders. Es ist ein Phänomen – Realität ohne Realität.« (TU, 86/TI, 36)
Im Gegensatz zum Thema ist das Ereignis nicht beständig, sondern sich nur gegenwärtig ereignend, ursprünglich und gleich nach dem Ereignen verfließend. Das Ereignis bricht ein, ohne dabei zu einem Phänomen, zu einem Objekt des Denkens zu werden und es vergeht, ohne als ein Objekt für die Erinnerung und Geschichtsschreibung zu bleiben. Denken wir an eine Situation, in der einer durch den Wald geht und plötzlich von dem Duft der Walderdbeere überrascht wird. Für einen kurzen Augenblick ist er außer sich, von dem Duft verschlungen, in der Zeit des Ereignisses. Doch gleich kehrt er zu sich zurück – er versucht, den Duft zu genießen; er denkt: »Sind das Walderdbeeren? Aus welcher Richtung kommt der Duft? Sie duften so schön« etc. Mit der Rückkehr zu sich ist das Ereignis schon vergangen – verlorengegangen. Und es geht immer verloren, weil man immer zu sich zurückkehrt. Doch man weiß, dass es eine Störung der Bewusstseinszeit stattgefunden hat – sie wurde erfahren. Man versucht, das Geschehene zurückzuholen. Man kann da stehen und den Duft ein- und ausatmen, doch das ist nicht mehr das, was den Betroffenen überrascht hat, sondern schon ein innerlicher, egoistischer Genuss oder auch ein identifizierter Duft als die sinnliche Qualität eines Objektes. 295 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis ist kein Erlebnis oder ein Denkobjekt, oder mit dem Denken schon vermischte sinnliche Wahrnehmung, sondern das, woran wir uns nicht erinnern können, was wir nicht durch die vorstellende Vergegenwärtigung einholen können, was wir nicht durch uns selbst – zum Beispiel durch unseren Genuss – produzieren oder wiederholen können. Das Ereignis ist nur der Augenblick, in dem der Selbe außer sich war. Das Ereignis ist für das Bewusstsein, das es anzuhalten, zu begreifen, wiederholen und kontrollieren versucht, immer schon vergangen. Das Bewusstsein kommt zu spät und findet nur sich selbst wieder und nicht das Geschehene. Es findet Erlebnisse, Vorstellungen, Wahrnehmungen eines Objekts, Begriffe, aber nicht das Geschehene. Es atmet den Duft ein, es hat eine Erdbeere vor sich, es erfährt ihr Aussehen, es tastet ihre Form etc., aber die ursprüngliche Begegnung ist schon vorbei. Was ist Geschehen, was hat man erfahren? Nichts Vorstellbares, also nichts. Nichts, was man jemals begreifen könnte. Es ist nichts passiert. Es ist alles und nichts passiert: »Die großen ›Erfahrungen‹ unseres Lebens sind nie im eigentlichen Sinne des Wortes erlebt worden.« (SA, 250/DEHH, 294)
Es ist alles passiert und man kann kein einziges Wort darüber sagen. 443 Nur die Erinnerung der Störung ist geblieben, die die Sehnsucht nach einem zukünftigen Ereignis in sich trägt – einem zukünftigen Ereignis, das aber genauso schon vergangen ist.
443 Das Ereignis wird bei Levinas (genauso wie bei Heidegger und später bei Derrida) nie zum etwas Präsenten, Sichtbaren, Beständigen. Deswegen produziert es diesen Effekt des Nicht-Seins – als ob nichts geschehen wäre. Man kann diesen Effekt auch anders – wie dies zum Beispiel Marion, Badiou und Romano tun – beschreiben. Das Ereignis geschieht, als ob nichts geschehen würde, weil es nicht auf einer Tatsache, einen (vorstellbaren) Sachverhalt zu reduzieren ist. Alles, was geschieht, ist – wenn wir es mit Badiou formulieren – die Situation, die Stätte (Wald, Duft etc.): »[…] nichts wird stattgefunden haben außer der Stätte […]« (SE, 222/EeE, 215) Das Ereignis bildet dagegen einen Überschuss über die Situation, die stattfindet – einen Überschuss, der völlig nichts ist. Geht man – wiederum mit Badiou – einen Schritt weiter, kann nur eine »Entscheidung« (décision) (SE, 229/EeE, 223) und kein Wissen bestimmen, ob eine Situation ereignishaft war oder nicht.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
11. Die Spur des Ereignisses Das Ereignis ereignet sich, ohne ins Bewusstsein zu gelangen, um dort als ein immer greifbarer Besitz für das Bewusstsein zu bleiben, denkbar und erinnerbar. Doch es ist nicht so, dass wir das Ereignis überhaupt nicht erfahren und das nichts von ihm bleibt. Wir erfahren die Bewusstseinsstörung, sie hinterlässt eine »Spur« (trace), die die Verbindung zum Vergangenen aufrechterhält, ohne es aber einzuholen: »Die Spur ist die Gegenwart dessen, was eigentlich niemals da war, dessen, was immer vergangen ist.« (SA, 233/DEHH, 280) »Wie aber sich auf eine irreversible Vergangenheit beziehen, d. h. auf eine Vergangenheit, die dieser Bezug selbst nicht zurückbringt, im Gegensatz zum Gedächtnis, das die Vergangenheit wiederholt, im Gegensatz zum Zeichen, das das Bezeichnete einholt? Es bedürfte einer Anzeige [indication – L. P.], die zugleich den Rückzug des Angezeigten bestätigt, statt eines Bezugs, der es einholt. Dieser Art ist die Spur dank ihrer Leere und ihrer Verlassenheit.« (SA, 243/DEHH, 289)
Die Spur, die das Sich-Entziehende anzeigt, ist auch die Manifestation des Ereignisses – nicht im Sinne, dass das Ereignis dadurch selbst sichtbar würde, sondern genau im Sinne, dass es eine sichtbare Spur hinterlässt. Das Ereignis manifestiert sich und das heißt – es geschieht immer in einer Konkretion: Es geschieht irgendwann, irgendwo, irgendwie, mit irgendjemandem. Und diese »Tatsachen« sind das, was bleibt, wenn das Ereignis zurückgezogen hat, ohne jemals gegenwärtig zu werden. 444 Bei Levinas geht es um das Ereignis der Begegnung mit dem Anderen als Spur des Unendlichen, also nicht um irgendeine Begegnung mit einem anderen Menschen, sondern um eine ethische Begegnung, in der das Ereignis des Unendlichen geschieht. Das Unendliche ist das Ereignishafte bzw. das Ereignis, von dem wir nichts wissen können, weil es nie zu einem Phänomen, zu einem Thema geworden ist und nicht werden kann. Aber wir können etwas von diesen »Umständen« sagen, in dem es sich ereignet, von der Spur, die es hinterlässt. Wir müssen nicht in bloße Negativität der Aussagen versinken: 444 Diese Struktur erinnert an Heideggers Ereignis als Anfang und Geben: das Ereignis ereignet sich, gibt das Sein und entzieht sich, weswegen es vergessen wird. Das Sein bleibt, aber schon als eine sichtbare Spur, nämlich als Seiendheit, die sich im Gegensatz zu Ereignis thematisieren lässt.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Als Aufklaffen eines Abgrundes in der Nähe unterscheidet sich das blinkende Unendliche, das sich den gewagten Spekulation versagt, vom bloßen Nichts, dadurch, daß es den Nächsten meiner Verantwortung aufträgt.« (JS, 209/AQE, 118) »Alle negativen Attribute, die das Jenseits-des-sein aussagen, werden zu Positivität in der Verantwortung […].« (JS, 43/AQE, 14) 445 445 Zur Positivität des Ereignisses siehe auch: HAM, 73/HAH, 83, JS/AQE, 44/14, 316/184, 328 f/191. Damit grenzt sich Levinas klar von der negativen Theologie ab. Ist das Ereignis des Unendlichen nie erreichbar, so hat uns doch die Spur erreicht. Wie stehen hier nicht vor etwas völlig Unerkennbarem und Unsagbarem: »Aber man darf nicht schweigen. Wir befinden uns nicht vor einem unsagbaren Geheimnis.« (GE, 131/DI, 157) Auch Dirk Westerkamp in seinem bekannten Buch Via negativa bestätigt dieses Verhältnis Levinas’ zur Negativität: »Lévinas’ Normativismus verschärft zwar einerseits die epistemische These der negativen Theologie, drängt auf der anderen Seite allerdings die negationstheoretische Frage durch deren positiv-moralphilosophische Umwandlung zurück.« (Westerkamp, 192) Doch das ist noch nicht alles. Und die genaue Aufklärung des Bezuges von Levinas zur negativen Theologie würde entscheidend zum Verständnis seines Ansatzes beitragen. Levinas behauptet also, dass das Ereignis undenkbar ist und in diesem Sinne folgt er dem negativen Weg. Andererseits verlässt er die Negativität, um die »Positivität der Verantwortung« (JS, 44/AQE, 14) zu behaupten. Westerkamp interpretiert dies so, dass Levinas eingesehen hat, dass auch die Verneinung eine Setzung und Prädikation ist und deswegen das absolut Andere schon verpasst hat: »Als Gestalt des theoretischen Wissens löst sich die negative Attributenlehre auf.« (Westerkamp, 193) In der Tat schreibt Levinas: »Verstehbarkeit, deren Ungewohntes sich nicht auf eine negative Theologie reduzieren läßt. Die Transzendenz des Unendlichen wird nicht in Aussagesätzen eingeholt, und seien diese auch negativ.« (GE, 168/DI, 186) Weil weder die Affirmation noch die Verneinung uns der Transzendenz näher bringt, braucht man – wie Westerkamp dies formuliert – einen »dritten Weg«, der die »Überwindung von Negation und Affirmation« ist (Westerkamp, 194). Und laut Westerkamp geht Levinas diesen dritten Weg der Negation der Negation: »In der Erkenntnis, daß sich das abwesende, nicht-seiende Eine allen Formen theoretischen Wissens verschließe und nur im Praktischen, als sittliches Handeln erfahrbar werde, ist eine doppelte Negation negativer Theologie beschlossen.« (Westerkamp, 200) Dies alles klingt sehr logisch. Und genau darin liegt das Problem. Es klingt logisch: Wenn man das Unendliche behauptet, kann es nicht im Denken gesetzt und als etwas gedacht werden. Folglich muss man alle es beschreibenden Prädikate, die im Denken entstehen, leugnen. Jede Leugnung ist aber auch Setzung, folglich funktioniert auch der negative Weg nicht. Also muss es einen negativ-negativen also positiven Bezug zum Unendlichen geben, der sowohl bloße Affirmation als auch bloße Negation verlässt. Das Problem liegt darin, dass damit der Eindruck entsteht, dass man zum Unendlichen bzw. zum Ereignis durch logische Überlegungen kommt. Was ist Ereignis? Es ist das, was man dann erreicht, wenn man in Bezug auf es nichts behauptet und nichts verneint, weil es nämlich undenkbar ist. Es ist also das, in Bezug worauf man ständig alles Gesagte negieren muss. Die Philosophie des Ereignisses wäre also eine Art via negativa, die alle positiven Behauptungen in Bezug auf Ereignis
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Die hier erwähnte Situation der Verantwortung ist aber nur eine Variante der Manifestation des Ereignisses des Unendlichen bei Levinas. Er spricht vor allem von zwei Weisen, wie das Unendliche sich manifestiert: einmal als das Antlitz des Anderen und ein andernmal als meine Antwort auf einen Befehl, meine Verantwortung dem gegenüber, was geschehen ist: »[…] als hinterlasse das Unsichtbare, das ohne Gegenwart auskommt, eben dadurch, daß es ohne Gegenwart auskommt, eine Spur. Eine Spur, die als Gesicht des Nächsten leuchtet […].« (JS, 44/AQE, 14) 446 »Das Unendliche zeigt sich durch seinen Befehl, sich dem Nächsten zuzuwenden, nicht einer Subjektivität an, die schon fertige Einheit wäre. Indem sie sich an die Stelle des Anderen setzt, bricht die Subjektivität in ihrem Sein das sein auf. Als der-Eine-für-den-Anderen – löst sie sich auf in Bedeutung, in Sagen oder Wort des Unendlichen.« (JS, 47/AQE, 16) 447 negiert und auch noch die Negation negiert. Aber – und das ist entscheidend – das gegenwärtige Denken des Ereignisses ist nicht logisch. Es beschäftigt sich nicht damit, einen logischen Weg zum Anderen einzuschlagen. Es verweist auf etwas, was jenseits aller Logik liegt – auf das Leben. Jede negative Theologie, wie ausgeklügelt und scharfsinnig sie auch wäre, ist nicht das, was das Denken des Ereignisses macht. Levinas setzt sich nicht einfach von der negativen Theologie ab, weil die Verneinung Setzung und eine Art Prädikation ist (wie das Westerkamp behauptet), sondern weil dieser Weg ein denkerischer, ein logischer Weg ist! Er weiß wohl, dass das Denken des Anderen mit den Negationen arbeitet, weil es auf das Jenseits des Denkens verweisen muss, aber er weist darauf hin, dass seine Negationen nicht logisch, formal arbeiten, sondern das Logische »widerrufen« müssen. Levinas (und auch andere Denker des Ereignisses) müssen die Negierungen verwenden, aber nicht im Kontext einer Logik, einer Rationalität, sondern um auf das Außerhalb dieses Kontextes zu verweisen. Deswegen nennt Levinas seine Verneinungen nicht – wie üblich – Negationen, sondern findet einen Begriff, der diese Art von Negation, die sich von der der negativen Theologie unterscheidet, bedeutet. Er spricht nämlich vom »Widerrufen«: »Alle Negationen, die in die Beschreibung dieses ›Verhältnisses zum Unendlichen‹ eingreifen, beschränken sich nicht auf den formalen und logischen Sinn der Negation, sie konstituieren keine negative Theologie! Sie sagen all das, was eine logische Sprache – unsere Sprache – durch das Aussagen und das Widerrufen [par le dire et le dédire – L. P.] von der Dia-chronie ausdrücken kann […].« (ZA, 10Anm.1/TA, 11n.1) Kurz gesagt: Levinas betreibt keine negative Theologie, weil er nicht aus logischen Gründen etwas negiert, sondern versucht, die Logik zu widerrufen. 446 Das Gesicht als Spur: SA, 228/DEHH, 276 f; JS, 217 f/AQE, 123 f. 447 Die Verantwortung als Spur: HAM, 77/HAH, 86. Hier fasst er fast sein ganzes philosophisches Werk zusammen: »Wir meinen, daß die Idee-des-Unendlichen-inmir – oder meine Beziehung zu Gott – mir in der Konkretheit meiner Beziehung zum anderen Menschen zukommt, in der Sozialität, die meine Verantwortung für den Nächsten ist: Verantwortung, die ich in keiner ›Erfahrung‹ vertraglich eingegan-
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Antlitz oder meine Antwort und Verantwortung sind nicht zwei Arten der Manifestation, sondern zwei Momente derselben Manifestation, wobei Levinas in der früheren Philosophie mehr das Antlitz als die Spur des Unendlichen in Betracht zieht, in der späteren Philosophie aber den Betroffenen selbst – als den Ort, wo das Unendliche sich ereignet, wo es als Verantwortung bedeutet. Das Antlitz und meine Verantwortung gehören zum ein und demselben Ereignis des Unendlichen. Doch die Spur verfolgend, kommen wir nie zu dem, was diese Spur hinterlassen hat. Bei der Analyse der Nicht-Phänomenalität des Ereignishaften haben wir gesehen, dass das, was geschieht (die Spur), in gewissen Maßen, aber nur in gewissen Maßen, erscheint – zum Beispiel als das Gesicht eines konkreten Menschen hier und jetzt. Es wurde aber behauptet, dass diese »Erscheinung« nie den Status eines Phänomens erreicht, weil sie durch die »Erscheinung« ins Unerreichbare führt. Die Nicht-Phänomenalität bedeutet genau das, dass dieses Nicht-Phänomen eine Spur ist. 448 Es ist eine Spur, indem es mehr als die Erscheinung hier und jetzt ist, aber es ist auch weniger als diese Erscheinung, weil es deswegen nie zu einem Phänomen wird. Die nicht-phänomenale Manifestation führt nicht zu ihrem Ursprung zurück. Die Beziehung zwischen der Manifestation und dem Manifestierten, d. h. die Beziehung zwischen der Erscheinung und dem Unendlichen, das sich in dieser Erscheinung manifestiert, ist kein Bezeichnen und die Spur ist kein »Zeichen« (signe). 449 Die Erscheinung des Antlitzes kann nicht das Unendliche bezeichnen und zu ihm führen, weil es sich entzieht, schon immer abwesend ist: »Das Wunder des Antlitzes rührt her vom Anderswo, von wo es kommt und wohin es sich auch schon zurückzieht. Aber diese Ankunft von Woanders verweist nicht symbolisch auf dieses Woanders als Zielpunkt. Das Antlitz stellt sich dar in seiner Nacktheit; es ist nicht eine Gestalt, die einen Hintergrund verbirgt und eben dadurch auf ihn verweist, nicht eine Erscheinung, die ein Ding an sich verhüllt und eben dadurch verrät. […] Der Andere kommt her vom unbedingt Abwesenden. Aber seine Verbindung mit dem absolut Abwesenden, von dem er herkommt, bezeichnet dieses gen bin, aber zu der das Antlitz des Anderen, aufgrund seiner Andersheit, aufgrund eben seiner Fremdheit, das Gebot spricht, von dem man nicht weiß, woher es gekommen ist.« (GE, 18 f/DI, 11) 448 Vgl. SA, 228/DEHH, 276. 449 Die Spur im Vergleich zum Zeichen: SA, 229 ff/DEHH, 277; HAM, 55 ff/HAH, 66 ff.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Abwesende nicht, enthüllt es nicht; und dennoch hat das Abwesende im Antlitz eine Bedeutung. Aber dieses Bedeuten des Abwesenden ist nicht eine Weise, in der Anwesenheit des Antlitzes qua Hohlform zur Gegebenheit zu kommen;« (SA, 227/DEHH, 276) 450
Dass die Spur nicht zum Unendlichen führt, heißt nicht, dass sie überhaupt nicht führt und bei sich bleibt, sondern dass »das Bedeuten der Spur darin besteht, zu bedeuten, ohne in die Erscheinung zu rufen« (SA, 230/DEHH, 278). Diese Struktur der Spur, nämlich, dass sie kein Phänomen, kein bestimmtes Zeichen für etwas, sondern das Bedeuten des Ereignisses selbst ist, weist auf eine der wichtigen Thesen der Ereignisphilosophie hin: Das Ereignis der Spur ist das Ereignis selbst. Wenn wir am Anfang über das Antlitz als ein Ereignis und dann über das Andere als das Ereignis und das Antlitz als die Spur dieses Ereignisses gesprochen haben, dann nur deswegen, weil es eigentlich ein und dasselbe ist. Das, was konkret geschieht, bedeutet mehr, als das, was geschieht, aber dieses »mehr« ist kein etwas, was man sich separat von dem Geschehnis vorstellen und festhalten könnte, weil es sich schon immer entzogen hat: »Das Jenseits, von dem das Antlitz herkommt, bedeutet als Spur. Das Antlitz hält sich in der Spur des Abwesenden auf, das absolut vergangen, absolut vorübergegangen ist;« (HAM, 53/HAH, 64) 451
Es gibt hier also keine Doppelung von dem Zeichen und Bezeichneten, der Wirkung (die Spur) und Ursache (das Unendliche), dem Gegebenen und Geber. Es gibt nur dieses Ereignis, das sich ereignet. 452 Das Ereignis des Unendlichen ist das Ereignis des Antlitzes bzw. meiner Verantwortung. Es gibt nur ein einziges Ereignis, das aber an sich als an etwas Zweifaches denken lässt: Es ist zweideutig, wie wir bei Heidegger gesehen haben. In diesem Kontext spricht Levinas von der »Zweideutigkeit« (ambiguïté) der Spur. Es scheint so, als ob das Ant450 Das Ereignishafte lässt sich nicht durch die Spur verfolgen: HAM, 53/HAH, 64; JS/AQE, 45/15, 257 f/149, 324/188, 328/191. 451 Dass das Ereignis das Ereignis seiner Spur ist, verbietet, verschiedenen Ereignissen eine und gemeinsame Bedeutung zu unterstellen, zum Beispiel jede Außergewöhnlichkeit als Offenbarung Gottes zu deuten. Jedes Ereignis bedeutet nur das, was seine Spur bedeutet, wenn auch diese Bedeutung uneinholbar ist. 452 Dieser Aspekt des Ereignisses, nämlich dass es sich nur ereignet und sich nicht in dem Gegebenen, Geber und Akt des Gebens spalten lässt, ist – wie wir später sehen werden – eins der Hauptmotive in Marions Ereignisdenken.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
litz die Spur von irgendetwas hinterlassen würde und dass es dieses irgendetwas ahnen lässt, aber gleichzeitig ist sie nur »Spur seiner selbst« (trace de lui-même) (JS, 211/AQE, 119). Die Spur bedeutet etwas anderes, aber auch nur sich selbst. 453 Die Zweideutigkeit des Ereignisses, nämlich dass es etwas Sichtbares ist und dass es über das Sichtbare hinaus noch etwas anderes bedeutet, und dass es doch nicht diese andere Bedeutung einholen lässt, zeigt sich immer darin, dass wir nicht verstehen, »was« sich ereignet, darin, dass es immer Zweifel gibt, ob überhaupt sich etwas ereignet. So wie wir immer zweifeln können, ob sich in dieser oder jener Beziehung wahre Liebe ereignet. 454 Diese Zweideutigkeit des Ereignisses wird von Levinas auch mit dem Konzept des »Zeugnisses« (témoignage) aufgewiesen. Die Spur bezeugt, ist ein Zeugnis dafür, dass sich etwas ereignet hat, was nie zu einer Gegenwart geworden ist und nie zu einer Gegenwart werden wird. Die Spur bezeugt nicht, indem sie das Ereignete aussagt und zum Thema werden lässt, sondern indem sie sich ereignet, indem sie selbst ein Ereignis ist. Meine Verantwortung ist Zeugnis dafür, dass im Antlitz des Anderen das Unendliche geschieht. Wäre nichts geschehen, wäre ich nicht verantwortlich geworden. In meiner Verantwortung thematisiere ich aber nichts, sondern setze mich für den Anderen ein. Meine Verantwortung ist nur eine Anzeige darauf, dass etwas passiert ist, es führt nicht zu ihm, holt es nicht ein:
Die Zweideutigkeit der Spur: JS, 209 ff/AQE, 118 ff. Marion schildert diese Situation perfekt: »Die Erfahrung des Rufs besteht genau darin, dass wir die Identität des Rufenden nicht kennen können. Wir können auch nicht wissen, ob es allgemein einen Rufenden gibt. Deshalb ist die Erfahrung des Gerufenseins so schrecklich. Es braucht eine Entscheidung. So ist es z. B. in der Erfahrung der Liebe. Auch sie ist eine Erfahrung des Rufes. Ich frage mich dann: Bin ich geliebt oder nicht? Habe ich Liebe oder nicht? Diese Erfahrung kann auch die Erfahrung einer vollkommenen Illusion oder ein Wahnsinn sein. Aber es kann auch die Wahrheit sein. Der Kern des Problems liegt in der Identität des möglichen Rufenden. Die Schwierigkeit besteht darin, dass ich mir nicht sicher sein kann, ob es einen Rufenden gibt. […] Sicher ist nur der Ruf selbst.« (RuG, 58) Aus diesem Grund spricht Badiou vom Ereignis als »Unentscheidbaren« (indécidable), auf dessen Wirklichkeit (also darauf, dass es wahr ist, dass es stattgefunden hat) man ausschließlich »wetten« (parier) kann: »Die Poesie ist die ›sterngeborene‹ Annahme jenes reinen Unentscheidbaren, das – auf leerem Grund – eine Handlung darstellt, von der man insofern wissen kann, ob sie stattgefunden hat, als man auf ihre Wahrheit wettet.« (SE, 220/EeE, 214) 453 454
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
»Das Unendliche gibt sich im Zeugnis nicht als Thema kund. Ich bezeuge das Unendliche – im Zeichen, das dem Anderen gilt […].« (JS, 326/AQE, 190) »Für den Anderen Verantwortung zu übernehmen ist für jeden Menschen eine Art und Weise, von der Herrlichkeit des Unendlichen Zeugnis abzulegen und inspiriert zu sein.« (EU, 87/EI, 111)
Wenn aber das, was sich ereignet, sich völlig entzieht und nicht selbst zum Thema wird, sondern nur in meinem Zeugnis besteht, muss ich – radikal gedacht – zugestehen, dass mein Zeugnis des Unendlichen nur meins ist, es ist meine Antwort, die die Frage nicht aufdecken lässt: »Gebot, das erhaben ist, doch ohne Zwang und Beherrschung und das mich außerhalb jeder Korrelation zu seiner Quelle läßt; es bildet sich keine ›Struktur‹ zu irgendeinem Korrelativ aus, derart eben, daß das Sagen, das mir zukommt, mir einfällt, mein eigenes Wort ist.« (JS, 329/AQE, 191)
Ich bin zwar vom Ereignis inspiriert worden, doch gleichzeitig auch der »Urheber« (auteur) des Sagens des Ereignisses. Das Zeugnis der Inspiration durch das Ereignis ist also zweideutig: Es bezeugt etwas anders als mich und doch nur mich. Ich bin von einer Seite der Inspirierte, »Vermittlung« (truchement) zur Quelle der Inspiration und auch der »Anfang« (commencement) meiner Antwort (JS, 326/AQE, 189). Levinas spricht diesbezüglich von der »Ambiguität der Inspiration« (ambiguïté de l’inspiration) (ebd.). Doch diese Ambiguität ist genau die Art und Weise, wie das Ereignis ohne Doppelung von Frage und Antwort geschieht: »Doch dieser einzigartige Gehorsam gegenüber dem Befehl, sich zu ergeben, ohne noch den Befehl zu vernehmen, dieser Gehorsam, der früher ist als die Vorstellung, diese Treuepflicht vor jedem Treueid, diese Verantwortung, die dem Engagement vorausgeht, ist genau der-Andere-im-Selben, Inspiration und Prophetie, ist das Sich-Vollziehen, das Passieren des Unendlichen.« (JS, 330/AQE, 192)
Die Spur, das Zeugnis ist die Art und Weise, wie sich das Ereignis des Unendlichen manifestiert, ohne sich zu manifestieren, da es uneinholbar bleibt. Doch was wir hier festhalten müssen, ist, dass die Spur, das Zeugnis ein konkretes Ereignis ist, das solche Erscheinungen auftreten lässt, an die wir uns später erinnern können, von denen wir später berichten können:
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»Daß dagegen das Gute in seiner Güte das durch es hervorgerufene Begehren von sich ablenkt, indem es das Begehren hinlenkt auf die Verantwortung für den Nächsten – wahrt die Differenz in der Nicht-Indifferenz des Guten, das mich erwählt, bevor ich es aufnehme; es wahrt seine Illeität 455 so weit, daß sie von der Untersuchung ausgeschlossen bleibt, mit Ausnahme der Spur, die sie in den Worten oder dem »Bedeutungsgehalt« in den Vorstellungen hinterläßt […].« (JS, 274/AQE, 158) 456
Dies heißt: Das Ereignis des Unendlichen, was auch das Ereignis des Guten ist, entzieht sich völlig der Thematisierung: »[E]s wahrt seine Illeität«. Das Ereignis wahrt die Differenz, die – wie wir schon gesehen haben – die Differenz zwischen dem Nicht-Thematisierbaren und Thematisierten ist. Das Nicht-Thematisierbare bleibt nicht-thematisierbar. Doch auch etwas »Fassbares« kommt zum Vorschein: die Verantwortung für den Nächsten. Auch dieses »Fassbare« ist ein Ereignis und in diesem Sinne nicht fassbar, aber es ist ein konkretes Ereignis, weswegen es von sich in gewissem Maße berichten lässt. Wenn die Rede zum Beispiel vom Ereignis des Duftes der Walderdbeeren ist, kann man vom Sommer, Wald, Spaziergang erzählen; man kann von der Überraschung der plötzlichen Begegnung, von der Süße des Duftes sprechen. Dieses Gesagte kann das Ereignis zwar nicht einholen, aber es thematisiert die Spur des Ereignisses, weist so die »Koordinaten« des Ereignisses in dieser Welt auf und bezeugt es.
12. Das Ereignis als Anfang von etwas Neuem Das Ereignis entzieht sich, hinterlässt aber eine Spur. Diese Spur ist etwas Greifbares, obwohl ihre Quelle völlig unbegreiflich bleibt. Die Spur ist etwas, was man erfahren, verstehen, formulieren und analysieren kann. Weil das Ereignis der Einbruch einer anderen Welt ist, bringt die Spur etwas Neues in die Welt ein, was weiterhin zu dieser Welt gehören kann. Es geht darum, dass das Ereignis eine fortwähDie »Illeität« (illéité) ist das, was auf mich zukommt, sich gleichzeitig entzieht und nur einen Befehl für mich hinterlässt: »Die Illeität des Jenseits-des-Seins aber meint: daß ihr Auf-mich-Zukommen ein Abschied ist, der mich eine Bewegung zum Nächsten ausführen läßt.« (JS, 46/AQE, 15) Siehe auch: HAM, 54/HAH, 65; JS, 329/AQE, 191. 456 Der letzte, für uns wichtigste Teil dieses Zitates lautet im Original: »sauf la trace qu’elle laisse dans les mots ou la »réalité objective« dans les pensées«. Zur Übersetzung dieser Passage siehe die Anmerkung des Übersetzers: JS, 274. 455
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rende Spur hinterlässt, die die bisherige Welt – sei es eine individuelle oder gemeinschaftliche Welt – verändert. Das Ereignis öffnet neue Möglichkeiten. In Heideggers Ereignisdenken ist dieser Aspekt des Ereignisses sehr ausgeprägt. Man könnte sogar behaupten, dass dies die wichtigste Struktur des Ereignishaften bei ihm darstellt. Der Einbruch des Seins, das erste Aufleuchten des Seienden ist der Anfang des Denkens, das sich gleich in die Metaphysik verwandelt, die im Laufe der Geschichte verschiedene Gestalten einnimmt und trotzdem die Spur des anfänglichen Ereignisses bleibt. Da die Metaphysik das Wesen der europäischen Kultur ist, ist das Ereignis des Seins der Anfang des Abendlandes selbst und seiner Geschichte. Das Ereignis entzieht sich, wird vergessen, aber es löst eine Welle aus, die durch die »sichtbare« Geschichte oder – besser gesagt – als diese Geschichte weiterzieht. Ohne dieses Ereignis wäre das Abendland nicht möglich gewesen. Es ist der geschichtliche Anfang dieser neuartigen Kultur, die sich als Spur des Anfangs in das Sichtbare äußert. Levinas spricht nicht von der Geschichte des Abendlandes, dessen Anfang im Ereignis des Seins liegt. Er spricht vom Einbruch des Ethischen, des Menschlichen ins egoistische Subjekt, aber dadurch auch über den Einbruch der Idee der Gerechtigkeit in die zwischenmenschliche Welt. 457 Es geht aber in beiden Fällen um den Einfall einer Andersheit in die Welt und Gründung einer neuen Welt. Wenn wir über den Einbruch des Ethischen ins egoistische Subjekt bei Levinas sprechen, dann muss man festhalten, dass die Beschreibung dieses anfänglichen Ereignisses unterschiedlich in Totalité et infini und Autrement qu’être erfolgt. In Totalité et infini stellt das Ethische eine Etappe der menschlichen Seinsweise dar, in der der Mensch das Stadium des Genusses verlässt und in die Beziehung zu dem Anderen eintritt. 458 Dieser Sprung von einer Etappe in eine andere ist ein on457 Aber in Humanisme de l’autre homme geht Levinas weiter, wenn er behauptet, dass die ganze Kultur die ursprüngliche Erfahrung des Antlitzes voraussetzt. Diese Erfahrung, von »oben«, von »Jenseits des Seins« kommend, bricht in das Seinsgeschehnis ein, gründet die menschliche Welt und bleibt als transzendent deren Maß: »Aus dem Vorhergehenden können wir schließen, daß sich die Bedeutung früher als in der Kultur und früher als im Ästhetischen im Ethischen ereignet; dieses Ethische wird von jeder Kultur und von jeder Bedeutung vorausgesetzt. Die Moral gehört nicht zur Kultur: sie erlaubt vielmehr, sie zu beurteilen, sie entdeckt die Dimension der Hoheit. Die Hoheit gebietet dem Sein.« (HAM, 47 f/HAH, 58) 458 Entsprechend dem Werk Totalité et infini können folgende Stadien bzw. Sprünge unterschieden werden: Zugehörigkeit zur Totalität des Seins als die bloße Tatsache des
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tologisches Ereignis – es ist horizontal, weil es ein Punkt auf einer Strecke ist, wenn auch die Quelle dieses Ereignisses transzendent, von oben kommend, ist. Der Einbruch des Anderen in Autrement qu’être ist dagegen von vornherein vertikal – etwas bricht in das horizontale Seinsgeschehen von oben ein. 459 Nichtsdestotrotz sprechen wir in beiden Fällen von außergewöhnlichen Ereignissen, die eine Veränderung mit sich bringen. Und diese Veränderung gilt nicht für eine kurze Zeit, sondern leitet eine ganze Geschichte ein, aus der diese anfängliche Veränderung nicht wegdenkbar ist und die nicht anders verlaufen kann als so, wie ihr Anfang es bestimmt hat. Wir haben schon bei Heidegger gesehen, dass der Umstand, dass der Anfang eine ganze Geschichte bestimmt, keinen Determinismus bedeutet, sondern nur, dass der Anfang einen bestimmten Horizont für das Weitere eröffnet. Wenn jemand eine Offenbarung erfährt, dann kann sein weiteres Leben nicht mehr so sein wie früher, und dieses weitere Leben trägt immer die Spur dieser Offenbarung, es trägt sie weiter auf welche Weise auch immer. Mit anderen Worten: Das Anfängliche wird zum Ursprünglichen, das jeder sichtbaren Gestalt in dieser Geschichte zugrunde liegt. Jedes ethische System zum Beispiel gründet sich in der Offenbarung des Ethischen im Antlitz des anderen Menschen. Versuchen wir, die Struktur des Ereignisses als Anfang einer Geschichte am Beispiel der Begegnung mit dem Anderen zu veranschaulichen, so wie sie in Totalité et infini geschildert wird. Die Seinsweise des Selben vollzieht sich so, dass es sich zuerst von der Anonymität des Seinsereignisses löst. Durch diese »Trennung« (séparation) gewinnt es seine Innerlichkeit, und in seinem Inneren genießt es das, was aus der Außenwelt zu ihm gelangt. Genauer gesagt: Indem das Selbe genießen kann, trennt es sich von der Totalität:
Existierens, Trennung von der Totalität als Herausbildung der Innerlichkeit, Stadium des egoistischen Genusses, Bleibe und Arbeit, Begegnung mit dem Anderen, die erotische Beziehung und Vaterschaft, in der das Selbe zum Anderen wird. 459 Diese Vertikalität wird hier ganz klar ausgedrückt: im Menschen selbst, in seiner weltlichen (horizontalen) Entwicklung gibt es das Ethische nicht. »Es ist klar, daß es im Menschen die Fähigkeit gibt, nicht zum Anderen hin zu erwachen; es gibt die Fähigkeit zum Bösen. Das Böse ist die Seinsordnung schlechthin – und im Gegensatz dazu ist Zum-Anderen-gehen das Einbrechen des Menschlichen ins Sein, ein »anders als Sein«.« (ZU, 145/EN, 132) Und weiter: »Das Menschliche ist ein Skandal im Sein […].« (ZU, 146/EN, 133)
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»Die Innerlichkeit des Genusses ist die Trennung an sich, die Weise, der gemäß ein Geschehen [événement – L. P.] wie die Trennung sich in der Ökonomie des Seins ereignen kann.« (TU, 210/TI, 121) 460
Im »Genuss« (jouissance) ist der Genießende bei sich selbst, aber er kennt auch das Andere – das, was er genießt, obwohl er das Andere nicht als das Andere anerkennt und es in sich auflöst: »Wenn der Genuß der eigentliche Wirbel des Selben ist, so ist er nicht Unkenntnis des Anderen, sondern seine Ausbeutung. Die Andersheit dieses Anderen wird vom Bedürfnis, das der Genuß als Erinnerung festhält und das seine Glut entfacht, überwunden.« (TU, 161/TI, 88)
Das Genießen wird aber von der »Unsicherheit« (insécurité) (TU, 202/TI, 115), von der »Sorge um das Morgen« (souci du lendemain) (TU, 215/TI, 124) betrübt. Um gegen diese Unsicherheit bestehen zu können, braucht das Selbe ein Zu-Hause, eine »Bleibe« (demeure), die es von der Außenwelt trennen würde. In der Bildung eines ZuHause, die Levinas die »Sammlung« (recueillement) nennt, begegnet das Selbe zum ersten Mal dem Anderen. Diese Beziehung mit dem Anderen ist noch keine ethische – das Selbe begegnet dem »weiblichen Antlitz« (visage féminin), das ermöglicht, dass das Selbe ein ZuHause haben und in der Trennung von der bedrohlichen Außenwelt wohnen kann: »Dieser Empfang des Antlitzes ereignet sich in ursprünglicher Weise in der Sanftmut des weiblichen Antlitzes; hier kann sich das getrennte Seiende sammeln, dank der Sanftmut wohnt es, und in seiner Bleibe vollzieht es die Trennung.« (TU, 216/TI, 124) 461
Wie schon erwähnt, ist diese Nähe zu dem weiblichen Anderen keine ethische Beziehung, es ist keine Beziehung mit einem Gesprächspartner, sondern eine Ich-Du Beziehung, Intimität ohne Worte (TU, 122/ TI, 129).
460 In der Tat kann man die Trennung als Bruch mit der Totalität und Herausbildung der Innerlichkeit als einen Sprung, also als ein Ereignis verstehen. In De l’existence à l’existent spricht Levinas in diesem Zusammenhang – wie wir wissen – von dem »Ereignis der Hypostase«. Dieser Ereignisbegriff entspricht aber nicht dem unsrigen. Die Trennung ist kein Ereignis, weil sie als ein unbeteiligter, ontologischer Übergang von einem Entwicklungsstadium zum anderen geschieht, während das Ereignis eine Erfahrung der Störung des Bewusstseins ist. 461 Über das Zu-Hause und das Weibliche als seine Voraussetzung siehe auch: TU, 217 ff/TI, 125 ff.
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Des Weiteren konstituiert sich das Selbe durch die »Arbeit« (travail), durch das Greifen in das »Element (élément)«, in das »Elementale« (l’élémental) 462 die Objekte und eröffnet so die Welt: »Die Elemente stehen dem Ich weiterhin zu Verfügung – es kann sie nehmen oder lassen. Unter dieser Voraussetzung entreißt die Arbeit den Elementen die Dinge und entdeckt so die Welt.« (TU, 225/TI, 130)
Doch auch hier gibt es noch keinen Anderen, da diese Objekte da sind, um durch die Arbeit zum Besitz des Selben zu werden: »In ihrer ersten Intention ist die Arbeit dieser Erwerb, diese Bewegung auf sich zu. Sie ist keine Transzendenz.« (TU, 229/TI, 133) 463
Im Vollzug jeder Etappe seiner Seinsweise – des Genusses, der Bleibe und der Arbeit – bleibt das Selbe bei sich, es kennt nur sich selbst. Doch dann kommt die Erschütterung des Selben durch den Anderen. Und sie kommt nicht nur als eine seiner Entwicklungsphasen, sondern als das Ereignis der Transzendenz. Dies geschieht genau dadurch, dass das Ich den Anderen als den Anderen erfährt, den es nicht zu seinem Besitz machen kann, den es nicht beherrschen und unterdrücken kann. Kurz: Der Andere bricht ein, indem er meinen Egoismus in Frage stellt; er ist »Infragestellung meiner Freiheit« (la mise en question de ma liberté) (SA, 202/DEHH, 243) 464. Die erste und grundlegende Weise, wie diese Infragestellung geschieht, ist das Gebot, das mir verbietet, den Anderen zu töten: »Er kann meinen Besitz nur anfechten, weil er sich mir nicht von Außen, sondern von Oben nähert. Das Selbe vermöchte sich dieses Andere nicht zu bemächtigen, ohne es zu vernichten. Aber die unüberbrückbare Unendlichkeit dieser Negation des Mordes kündigt sich gerade in dieser Dimension der Erhabenheit an, in der der Andere auf mich zukommt, und zwar konkret in der ethischen Unmöglichkeit, diesen Mord zu begehen.« (TU, 247/ TI, 145 f)
Das Elementale, die Elemente sind das, was der Genuss genießt. Der Genuss genießt – wie wir gesehen haben – keine Objekte, sondern »reine Qualitäten ohne Träger, ohne Substanz« (TU, 195/TI, 111). Der Genuss besitzt nicht die Elemente und steht ihnen auch nicht gegenüber, sondern »badet« (baigner) (TU, 185/TI, 105) in ihnen. 463 Zu der Arbeit und dem Besitz siehe: TU, 226 ff/TI, 131 ff. 464 Der Andere stellt meine Freiheit in Frage: SA, 202 ff/DEHH, 243 ff; TU/TI, 64/22, 103/48, 249/146, 280/169 f; HAM, 42 f/HAH, 53; JS, 246 f/AQE, 142. 462
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Als ein genießendes Subjekt möchte und könnte ich den Anderen, den ich nie als einen Anderen erfahren habe, vernichten, weil er neben mir einen Anspruch auf die Objekte meines Genusses oder meiner Arbeit erhebt. Da aber ein Ereignis geschieht, will und kann ich es nicht. Nach irgendeinem Ereignis, das schon vergangen ist, bleibt für mich das Antlitz des Anderen und das Gebot in mir, das mir verbietet, zu töten. Das Ethische besteht aber nicht nur im Verbot zu töten. Es geht im Allgemeinen darum, dass ich den Anderen bei mir aufnehme, dass ich für ihn verantwortlich bin, dass ich mich für ihn einsetze etc. 465 Das Ereignis des Anderen leitet also eine neue Phase ein – ich bin nicht mehr allein, ich bin nicht mehr frei im Sinne, dass ich alles – auch andere Menschen – als der alleinige König der Welt besitzen kann. Stattdessen soll ich mit dem Anderen reden, ihm antworten, auf ihn zukommen, mich für ihn einsetzen. In Autrement qu’être versucht Levinas die Entstehung des Ethischen nicht mehr mit der ontologischen Entwicklung des Selben zusammenzubringen. Es geht nicht mehr so sehr darum, zu zeigen, wann der Andere einbricht, sondern wie. Es geht um diejenigen Sinnzusammenhänge, die den Sinn des Ethischen, der darin besteht, die Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, konstituieren. Eine kurze und sehr aufschlussreiche Beschreibung dieser Logik des Einbruchs des Ethischen finden wir in einem Interview mit Levinas aus dem Jahre 1982 (abgedruckt im Sammelband Entre nous), wo Levinas sagt: »In meiner Analyse ist das Antlitz keineswegs eine plastische Form, etwa wie ein Porträt; das Verhältnis zum Antlitz gleichzeitig das zu einem absolut Schwachen – dem, das absolut entblößt, nackt und ausgesetzt ist, das Verhältnis zum Entblößtsein und folglich zu dem, was allein ist und die äußerste Vereinzlung erleiden kann, die der Tod gibt; es gibt daher im Antlitz des Anderen immer den Tod des Anderen und so, gewissermaßen, Anstiftung zum Mord […] und gleichzeitig, und das ist das Paradox, ist das Antlitz auch das »Du-wirst-nicht-Töten«, Du-sollst-nicht-Töten, das man Siehe zum Beispiel: JS/AQE, 47/16, 262/151; EU, 93/EI, 117. Bernhard Casper weist darauf hin, dass, entsprechend der talmudischen Einsicht, jede göttliche Weisung zwei Seiten hat: »Sie bestehe immer zugleich in einem Gebot und einem Verbot.« (Casper(2009), 21) So hat auch das von Levinas aufgedeckte Verbot eine positive Seite: »In der Grundbefindlichkeit der Verantwortlichkeit besteht das Verbot in dem Imperativ: »Töte den Anderen nicht!«. Die positive Seite dieser göttlichen Weisung aber besteht in dem Gebot: »Laß den Anderen in seiner Sterblichkeit nicht allein!«. (ebd.; er zitiert hier ein Interview mit Levinas) 465
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auch noch viel näher explizieren kann, es ist der Tatbestand, daß ich meinen Nächsten nicht alleine sterben lassen kann, es ist wie ein Appell an mich;« (ZU, 133 f/EN, 122)
Wie kommen wir also konkret zur Verantwortung für den Anderen? Wir haben schon gesehen, dass das Antlitz für Levinas kein Etwas, keine Bedeutung ist, es löst alle Formen auf – es führt in etwas Unbegreifliches und Uneinholbares. Weil das Antlitz keine deutbaren Eigenschaften, Attribute trägt, spricht Levinas von der »Nacktheit« (nudité) (TU, 102/TI, 7) des Antlitzes. 466 Wegen dieser Nacktheit erfahren wir die Verletzlichkeit, die Sterblichkeit des Anderen. Sie stiftet zum Mord an 467, aber lässt auch dem Du-sollst-nicht-Töten gehorchen, das die Verantwortlichkeit für den Anderen mit sich bringt. Aus dem eben oben angeführten Zitat wird es noch nicht klar, wie die Sterblichkeit, die im Antlitz des Anderen eingeschrieben ist, zur Verantwortung führt. Dies erklärt Levinas in einem anderen Text: »Der Tod des anderen Menschen bezieht mich ein und stellt mich in Frage, so als ob ich durch meine Indifferenz der Komplize dieses für den Anderen, der sich ihm aussetzt, unsichtbaren Todes würde; und so als ob ich, noch bevor ich ihm selbst geweiht bin, diesen Tod des Anderen zu verantworten hätte und ich den Anderen nicht dem Alleinsein überlassen dürfte.« (GE, 213/DI, 245)
Das heißt: Wenn wir das Antlitz in seiner Verwundbarkeit und Sterblichkeit sehen, erreicht dies uns nicht nur als Verbot, den Anderen zu verwunden. Wir haben auch immer das Gefühl, dass wir daran schuld sind. Wir sind nicht tatsächlich schuldig – es ist die Schuld, die der Andere uns gibt. Wir sind »für alles angeklagt, doch ohne Schuld« 466 Die Nacktheit des Antlitzes: TU, 100 f/TI, 46; SA, 222/DEHH, 271 f; HAM, 41/ HAH, 52. Diese Nacktheit nennt Levinas auch »Abstraktheit« (abstraction): SA/ DEHH, 222/272, 226 f/275; HAM/HAH, 41/52, 51/63. 467 Wir würden eher vermuten, dass nicht die Verletzlichkeit des Anderen zum Mord anstiftet, sondern das Unbegreifliche und Uneinholbare, zu dem die Nacktheit des Antlitzes führt (genauer gesagt: zu dem sie nicht führt). Man begehrt die Transzendenz (die Transzendenz ist überhaupt das Einzige, was man begehren kann, insofern man überhaupt in der Lage ist, zu begehren) im Anderen und manchmal wird dieses Begehren »krankhaft«: es wird, erstens, zum zwanghaften Willen, diese Transzendenz unbedingt zu besitzen, und, zweitens, denkt es, dass dieses Besitzen durch das körperliche Besitzen des anderen Menschen erfolgt: durch sexuellen Kontakt, der zum Vergewaltigung führt, durch Folter und Mord. Deswegen ist es richtig, wenn man sagt, dass zum Beispiel Folter nicht die Ent-Menschlichung des Anderen, sondern – im Gegenteil – die Bestätigung derer ist – leider nur eine gestörte Bestätigung.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
(GE, 225/DI, 255). Der Andere klagt uns an und macht so uns für ihn verantwortlich. Dies ist eine der wichtigsten Thesen in Levinas’ Ethik: Die Verantwortung, die man für den Anderen trägt, ist absolut. Ich bin »verantwortlich für alles und für alle« (JS, 253/AQE, 145). Wie? Weil ich auch dafür die Verantwortung trage, was ich gar nicht getan habe: »Verantwortung ohne Schuld, in der ich dennoch einer Anklage ausgesetzt bin, die weder das Alibi noch die Nicht-Gleichzeitigkeit entkräften können, ja in der es so scheint, als ob diese die Anklage begründeten.« (GE, 218/ DI, 249)
Hier wird es also noch radikaler ausgedrückt: Ich bin verantwortlich ohne schuldig zu sein, weil der Andere mich anklagt, und ich kann mich nicht rechtfertigen, indem ich sage: »Ich war nicht dabei, das war ich nicht.« Solche Rechtfertigungen machen genau die Anklage gültig: »Du bist schuldig, weil du nicht da warst, um das Übel zu verhindern.« Die Idee dieser absoluten Verantwortung wird von Levinas durch das Konzept »Stellvertretung« (substitution) gedacht. Es geht um die »Stellvertretung« als den »letztendlichen Sinn der Verantwortung« (sens ultime de la responsabilité) (GE, 98/GI, 130). Die Stellvertretung besagt, dass ich dafür verantwortlich bin, wofür jemand anderer verantwortlich ist – sie ist die Verantwortung für die Verantwortung eines anderen (GE, 41/GI, 32). Im Antlitz eines Häftlings im Konzentrationslager oder eines vor Hunger sterbenden Kindes in Afrika wird wie durch einen transzendenten Strahl die Anklage an mich eingraviert, die mich schuldig macht, obwohl ich dann und dort nicht gewesen bin und nichts damit zu tun habe. Trotzdem muss ich die Verantwortung übernehmen. Diese Verantwortung für den Anderen und meine Sorge um ihn, wenn ich ihn auch nicht kenne und ihm nichts angetan habe, ist das Ereignis des Ethischen in der Welt des Egoismus, es ist das Außer-Gewöhnliche in der gewöhnlichen Ordnung. Überraschung. Etwas Neues. Etwas anderes als das, woran wir und gewöhnt sind. Es ist auch deswegen gegen jede Ökonomie, gegen Vernunft und Logik – etwas Idiotisches, wenn wir an Dostojewskis Roman Der Idiot denken. Fürst Myschkin stellt für diese Welt einen Idioten dar. Warum? Weil er – wenn wir es mit Derrida ausdrücken wollen – im Gegensatz zum ökonomischen Kreislauf bedingungslos handelt. Er gibt eine reine Gabe in einer Welt, die bereit ist, nur vergiftete Gaben zu geben.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Wenn das Ereignis durch ein Verbot und Gebot einbricht und so verschiedene Anforderungen an das Subjekt stellt, lässt sich fragen, ob das Subjekt sich eingeschränkt vom Anderen fühlt, unfrei; ob dieses Ereignis einen Zwang ausübt. Vielleicht will ich gar nicht verantwortlich für die ganze Welt sein? Ist das Ereignis nicht eine Situation, die man sich nicht gewünscht hat, die aber doch eingetreten ist und jemanden zu solchen Handlungen zwingt, die er gar nicht ausführen will, die er aber ausführen soll, weil das Ereignis schon geschehen ist? Levinas’ Texte bieten uns mehrere Hinweise darauf, wie diese Fragen beantwortet werden könnten. Erstens übt das Ereignis keinen Zwang auf den Betroffenen aus: »[…] es [das Gute – L. P.] hat mich gewählt, bevor ich es gewählt habe. Niemand ist gütig aus freien Stücken.« »Und wenn niemand gütig ist aus freien Stücken, so ist doch auch niemand Sklave des Guten.« (JS, 41/ AQE, 13) 468
Dies bedeutet: Der Zwang besteht nur dann, wenn es vor dem Ereignis eine freie Wahl gibt und wenn durch das Ereignis das Gegenteil vom Bevorzugten eintritt, das man trotzdem hinnehmen muss. Da aber das Ereignishafte dem Selben transzendent ist, steht es ihm nicht zur Wahl, sondern bricht unvorhersehbar ein. Es verletzt nicht seine Sphäre der Freiheit, wo es frei wählen kann, sondern bietet etwas Neues an, was man vorher nicht wählen konnte. Deswegen – und das ist der zweite Punkt – wird das Ereignis als befreiend entgegengenommen. Das Ereignis zwingt nichts auf, sondern befreit eine Welt von ihr selbst, indem es einen neuen Horizont eröffnet: »In dieser Stellvertretung […] löst sich das Sich von sich selbst ab. Freiheit? Eine andere Freiheit als die der Initiative. […] In der unvergleichlichen Beziehung der Verantwortung begrenzt der Andere nicht mehr den Selben; was er begrenzt, das trägt ihn. […] In dieser passivsten Passivität wird das Sich auf ethische Weise von jedem Anderen und von sich selbst befreit. Seine Verantwortung für den Anderen – die Nähe des Nächsten bedeutet nicht Unterwerfung unter das Nicht-Ich, sie bedeutet die Offenheit, in der das sein des Seienden in der Inspiration überboten wird […].« (JS, 254/ AQE, 146) 469 Das Ereignis ist kein Zwang, keine Sklaverei: TU/TI, 247 ff/146, 440/279 f. Das Ereignis befreit mich von meiner Eingeschränktheit in mir selbst: TU, 249/TI, 146; JS, 277/AQE, 159 f. Übrigens hat auch Heidegger dies ähnlich gesehen. Das Ereignis »erzwingt« nichts, es schenkt nur eine Möglichkeit, die, wenn sie mal eröffnet worden ist, zum dem wird, was man will, was man begehrt, was als »Not« empfunden 468 469
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Drittens, indem das Ereignis von außen kommend mir eine Forderung stellt, liefert es damit einen Grund und eine Begründung für mich und meine Tat. Ich kann mich nicht aus mir selbst begründen. Wenn ich auf die Frage: »Warum tust du das?« antworte: »Weil ich es so will,« dann stellt meine Antwort keine Begründung dar: Meine Wahl und Handlung erscheinen willkürlich und sinnlos – sowohl für die anderen als auch für mich selbst. »Die Freiheit rechtfertigt sich nicht durch die Freiheit.« (TU, 441/TI, 280) Ein Grund kann nur von außen kommen – durch ein Ereignis. Nur wenn ich im Ereignis bin, das mir etwas befiehlt, finde ich eine Rechtfertigung: »Das Andere aber, das absolut anders ist – der Andere – begrenzt nicht die Freiheit des Selben. Indem der Andere die Freiheit zur Verantwortung ruft, setzt er sie ein und rechtfertigt sie [il l’instaure et la justifie – L. P.]. Das Verhältnis zum Anderen als Antlitz heilt von der Allergie. Es ist Begehren, empfangene Unterweisung und friedlicher Gegensatz der Rede.« (TU, 282/ TI, 171) 470
Wenn das Ereignis einbricht, fühlt man sich also nicht unfrei, als ob die freie Wahl eingeschränkt worden wäre; man fühlt sich nicht gezwungen etwas zu tun, was man nicht tun will. Eher wird das Ereignis als eine neue, überraschende Möglichkeit aufgefasst, sogar als eine Gabe, für die man sich als auserwählt sieht. Ein neuer Wille wird erweckt: das zu tun, wofür das Ereignis befähigt hat. Und die Taten, die man jetzt von sich aus vollbringt, erscheinen nicht sinnlos, sondern – dadurch, dass sie durch das Ereignis gestiftet worden sind, – begründet. Doch das, was das Ereignis des Antlitzes mit sich bringt, ist nicht nur eine neue und neuartige Beziehung mit dem Nächsten, sondern auch eine Beziehung zu allen Menschen. Diese Beziehung nennt Levinas »Gerechtigkeit« (justice). Was das Ereignis des Unendlichen hinterlässt, ist nicht nur die Verantwortung bis zur Stellvertretung gegenüber dem Nächsten, sondern auch die Gerechtigkeit gegenüber allen. Es ist so, weil man eigentlich nie nur einem Menschen, meinem Nächsten, begegnet – die Anderen, d. h. »der Dritte« (le tiers) ist auch immer schon dabei. Wie entsteht die Idee der Gerechtigkeit aus der Anwesenheit des Dritten, der schon immer hier ist? So, dass die Anwird: »Das Seyn versetzt in Not, ernötigt, nicht erzwingt einen Wesenswandel des Menschen;« (ÜM, 22) 470 Siehe auch: TU, 366/TI, 229.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
wesenheit des Dritten die Frage entwirft: Wie ich mich gegenüber solchen Menschen verhalten muss, die nicht meine Nächsten sind? Damit aber, dass, wie es sich herausstellt, mir ein Sollen auch gegenüber den anderen auferlegt ist, wird meine absolute Verantwortung gegenüber dem Nächsten eingeschränkt und gleichmäßig auf alle verteilt: »Wie kommt es, daß es Gerechtigkeit gibt? Ich sage darauf, daß das in der Tatsache der Vielzähligkeit der Menschen liegt, in der Gegenwart des Dritten neben dem Anderen, wo beide die Gesetze bedingen und das Recht begründen. Solange ich mit dem Anderen alleine bin, schulde ich ihm alles; aber es gibt den Dritten. Weiß ich, was mein Nächster im Verhältnis zum Dritten ist? Weiß ich, ob der Dritte mit ihm in Übereinstimmung ist oder ob er sein Opfer ist? Wer ist der Nächste für mich? Man muß daher abwägen, denken, beurteilen, indem man Unvergleichbares miteinander vergleicht. Die interpersonale Beziehung, die ich mit dem Anderen herstelle, muß ich auch mit den anderen Menschen herstellen; es besteht also die Notwendigkeit, dieses Privileg des Anderen einzuschränken; daher die Gerechtigkeit.« (EU, 68 f/EI, 84) 471
Mit der Entstehung der Frage nach der Gerechtigkeit ändert sich auch mein Status. Ich bin nicht mehr nur einzig und unersetzbar, der für den Anderen vorbehaltlos einzutreten hat, ohne vom Anderen dasselbe für mich einfordern zu können (Asymmetrie). Ich werde selbst zu einem Knotenpunkt in einem in der Reflexion gegebenen Beziehungsnetz und kann von Anderen die Gerechtigkeit für mich einfordern (Symmetrie). Die Gerechtigkeit darf aber die Verantwortung gegenüber dem Nächsten nicht aufheben. Levinas’ Vorstellung von einer Gemeinschaft enthält beide Momente: sowohl die Gerechtigkeit, die sich auf alle Menschen erstreckt und sie gleich behandelt, als auch die Beachtung des Rufes, der im Antlitz eingeschrieben ist und der mich betrifft: »Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Fernen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen; in der die Gleichheit aller getragen ist von meiner Ungleichheit, durch den Mehrwert meiner Pflichten über meine Rechte. Die Selbstvergessenheit bewegt die Gerechtigkeit.« (JS, 347/AQE, 203) 472
471 Zur Anwesenheit des Dritten und Entstehung der Gerechtigkeit: TU, 307 f/187 f; JS/AQE, 205Anm.33/116n.33, 285/165, 342 ff/200 ff; GE, 101 f/DI, 132 f; ZU, 132 f/ EN, 121 f. 472 Siehe auch: GE, 34 f/DI, 27.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
Das Ereignis, das selbst uneinholbar und unbegreiflich bleibt, hinterlässt eine sichtbare Spur, die die Welt verändern kann. Heideggers Ereignis des Seins setzt sich fort in Gestalt der Philosophie, Metaphysik und Wissenschaft. Levinas’ Ereignis des Jenseits des Seins begründet die Ethik und Politik. Die Geschichte als die Auseinandersetzung mit dem Anfänglichen, dessen Fortsetzung und Wiederholung sie ist, stellt eine wesentliche Struktur des Ereignisses dar.
13. Vom Ereignis sprechen Kann man vom Ereignis sprechen? Das Sprechen als solches – wie wir dies in der zwischenmenschlichen Beziehung bei Levinas gesehen haben – kann durchaus zum Ereignis gehören, doch welches Verhältnis besteht zwischen dem Ereignis und der reflexiven, philosophischen Sprache? Heideggers Antwort diesbezüglich lag darin, dass die Sprache sowie auch das Denken überhaupt selbst ereignishaft sind – sie sind Momente des Ereignisses. Mehr noch: Sie setzen das Ereignis voraus und dies im zweifachen Sinne. Einmal sind das Denken und damit die Sprache des Denkens durch ein Ereignis entstanden. Sie tragen dessen Spur, sie tragen es in sich, auch wenn sie scheinbar über diese Voraussetzung sprechen. Deswegen ist es ein falscher Eindruck, dass die Sprache über das Ereignis spricht und so sich von ihm absetzt, weil sie eigentlich aus ihm spricht und es nie verlassen kann. Ein andermal ist das Ereignis, insofern es nicht als der Anfang, sondern als eine konkrete Erfahrung gedacht wird, die Eröffnung der Möglichkeit, so zu sprechen, wie die Sprache über es spricht. Auf diese Weise ist die Sprache die Bestätigung und der Ausdruck des Ereignisses. In diesem Fall besteht zwar die Gefahr, dass die Sprache das Ereignis nicht richtig ausdrückt, aber wenn der Denker sich bemüht, wenn er auf eine objektivierende Sprechweise verzichtet, ist es möglich, die Worte ins Ereignis zu integrieren. Durch das Sprechen von dem, was mit ihm geschieht, gehört der Denker zum Ereignis hinzu. Das Ereignis und die Sprache des Denkens sind also bei Heidegger miteinander versöhnt. Wenn auch er die begriffliche Sprache der Metaphysik für ihre Unmöglichkeit, das Ereignis auszusagen, scharf kritisiert, so ist diese Kritik nur ein Zwischenschritt zum Verständnis der Sprache der Metaphysik als vom Ereignis kommend. Der Begriff kann in der Tat das konkrete Ereignis nicht erreichen (dafür braucht man eine dichterische Sprache), er spricht dem Ereignis vor315 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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bei, aber letztendlich gehört auch er selbst zum Ereignis als dessen geschichtliche Spur. Für Levinas, der, wie wir gesehen haben, die Undenkbarkeit des Ereignisses behauptet, sind das Ereignis und die Sprache der Philosophie grundsätzlich einander entgegengesetzt – zumindest auf den ersten Blick. Philosophie ist an sich Thematisierung. Indem sie thematisiert, hat sie schon das Ereignis verloren – sie hat es zum Thema verwandelt. Die Aussagen der Philosophie sprechen also nicht von oder aus dem Ereignis, sondern nur über ein Denkobjekt, das mit dem wirklichen Ereignis nichts mehr zu tun hat – das Ereignis ist schon geschehen, das, was die philosophischen Texte behandelt, sind nur objektivierte Überbleibsel eines wirklichen Geschehnisses. Diese Aussagen, die das Ereignis später, wenn es schon vergangen ist, als ein Thema behandeln, nennt Levinas das »Gesagte« (le Dit). Das wahre Geschehen ist dagegen das »Sagen« (le Dire). Das Sagen, wie wir es schon gesehen haben, heißt nicht, etwas zu sagen, egal ob in einer thematisierenden, teilnehmenden oder einer anderen Einstellung. Das Sagen heißt, im Ereignis, in der Nähe zu sein, dem Anderen zu antworten, die Verantwortung zu übernehmen. Das Sagen ist das Ereignis – es ist durch die »Unfähigkeit, im Gesagten zu erscheinen« (incapacité d’apparaître dans le dit) (HAM, 73/HAH, 83) gekennzeichnet. Das Gesagte ist seinerseits außerhalb des Ereignisses – ob über ihm in der Reflexion, nach ihm in der Geschichtsschreibung oder vor ihm in der Planung, dies spielt keine Rolle. Das Gesagte ist immer ontologisch, es spricht ontologische Sprache, es sagt etwas über etwas, objektiviert und prädiziert und spricht an dem Ereignis vorbei. 473 Doch: Wenn man etwas über das Ereignis sagen möchte, wenn man es sich zeigen lassen möchte, so gibt es keine andere Möglichkeit, als es sichtbar zu machen, d. h. zu thematisieren. 474 In der Thematisierung wird es aber unterdrückt und, indem das Thema vor ihm vorgezogen wird, »verraten« (trahir):
473 Wichtige Stellen zum Sagen, Gesagten und zu ihrer Unterscheidung siehe: JS/ AQE, 105 f/55, 110 ff/58 ff, 144/78, 390 ff/231 ff. 474 Dies trifft auch Levinas’ eigene Philosophie: »Die Philosophie wie die Wissenschaft wie die Wahrnehmung strebt nach einem Wissen: sie sagt, ›wie es damit ist‹, ihr theoretisches Wesen ist kaum zu leugnen. Das gilt auch für unseren eigenen Diskurs, von seinem ersten bis zu seinem letzten Satz.« (GE, 266/DI, 266)
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
»Wie dem auch sei, das vor-ursprüngliche Sagen wandelt sich in eine Sprache, in der das Sagen und Gesagtes sich wechselseitig bedingen, ja in der das Sagen seinem Thema sich unterordnet.« (JS, 30/AQE, 7) »Die Korrelation von Sagen und Gesagtem, das heißt die Unterordnung des Sagens unter das Gesagte, unter das linguistische System und unter die Ontologie, ist der Preis, den die Manifestation verlangt.« (JS, 30/AQE, 7) 475
Sobald man also über das Ereignis spricht, verschwindet es und sein Platz wird vom Denkobjekt »Ereignis« eingenommen. Wir erkennen hier gleich Derrida. Doch, wenn das vielleicht Derridas letztes Wort diesbezüglich ist, so nicht für Levinas. Er ist der Ansicht, dass das Sagen im Gesagten nicht völlig verschwunden ist, dass es eine Spur hinterlässt bzw. hinterlassen kann und jenseits des Gesagten bedeutet. 476 Diese Bedeutung des Sagens wäre dann nicht die Bedeutung einer Aussage, sondern das Ereignis selbst. Die Sprache, der Gedankengang eines Textes kann so gestaltet werden, dass er diese Spur enthält und verfolgen lässt. 477 Zuerst ist es aber notwendig, dass die Sprache überhaupt nicht als ein Zeichensystem aufgefasst wird, das etwas bezeichnet, was schon gesetzt und objektiviert worden ist, sondern als die Spur wirklicher Geschehnisse. Mit anderen Worten: Die Sprache muss so aufgefasst werden, dass sie nicht aus Nomen, sondern aus Verben besteht, wo die Verben direkt auf die Prozesse, die sich ereignen, hinweisen. In diesem Sprachverständnis stehen im Fokus nicht die Nomina, zum Beispiel »Stuhl«, den man sich vorstellt, sondern das Verb »sitzen«, das die wirkliche Erfahrung des Sitzens bedeutet. Mehr noch, die Entwicklung der Sprache könnte so interpretiert werden, dass die Sprache ursprünglich das Verb ist, das dann nominalisiert wird. Genauso wie Heidegger ist also Levinas der Meinung, dass zuerst das Verständnis der Sprache im Allgemeinen verändert werden muss, damit die Sprache des Ereignisdenkens richtig, d. h. ereignisgemäß gelesen werden könnte. 478 Die Sprache als das Gesagte, als das Nomen trägt also in sich die Möglichkeit, zum Sagen, zum Verb zurückzukehren. Diese Rückkehr 475 Das Gesagte verrät das Sagen, aber es ist auch die einzige Möglichkeit, wie das Sagen geschehen kann: HAM, 97/HAH, 106; JS/AQE, 32/8, 58/23, 160/88, 298/173, 303/176. 476 Das Sagen hinterlässt eine Spur im Gesagten, die jenseits der Bedeutung des Gesagten bedeutet: JS/AQE, 58/23, 89 ff/44 ff, 96/49, 112 f/59 f, 331 ff/193 ff. 477 Siehe zum Beispiel: JS/AQE, 334/194, 338 ff/197 ff, 367 f/215 f. 478 Zum Levinas’ Verständnis der Sprache siehe: JS/AQE, 87 ff/43 ff, 96 ff/49 ff.
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erfolg laut Levinas durch »Reduktion« (réduction) bzw. »Wider-Ruf« (le dédit): »Auf dieses Diesseits gilt es zurückzugehen, von der Spur aus, die das Gesagte, in dem alles sich zeigt, von ihm behält. Der Rückgang auf das Sagen ist die phänomenologische Reduktion, in der das Unbeschreibbare beschreibbar wird.« (JS, 129/AQE, 69) »Es gilt, auf ihre Bedeutung jenseits oder diesseits des Verständnisses von Aktivität und Passivität im Sein zurückgehen, jenseits oder diesseits des Gesagten, jenseits des Logos und jenseits oder diesseits der Doppeldeutigkeit von Sein und Seiendem. Die ›Reduktion‹ erfolgt in diesem Zurückgehen. Es umfaßt eine positive Phase: das Aufweisen der eigenen Bedeutung des Sagens, die diesseits der Thematisierung des Gesagten liegt.« (JS, 106/AQE, 56) 479
Diese Reduktion stellt im Gegensatz zu Husserls Reduktion keinen methodischen Schritt, keine intellektuelle Arbeit, keine logische Schlussfolgerung (wie in der negativen Theologie) 480 dar, sondern ist der Vollzug des Ereignisses. Wenn es um die Begegnung mit dem Anderen geht, dann ist die Reduktion vom Gesagten zum Sagen nicht der Übergang von einem Sinngebilde zum anderen, sondern das Indie-Beziehung-Treten mit dem Anderen: »Reduktion, die nicht durch Einklammerung erfolgen kann, ist diese doch Schriftarbeit; Reduktion, die aus der Kraft der ethischen Unterbrechung des sein lebt.« (JS, 107 f/AQE, 56) 481
Selbstverständlich kann die Reduktion auf das Sagen nicht im Gesagten stattfinden – sie muss mit dem Gesagten brechen. Der philosophische Text, wenn er beabsichtigt, der Spur des Sagens zu folgen, kann und muss die Bruchstellen aufweisen. Er muss zum Bruch führen, wenn er auch selbst den Bruch nicht durchführen kann. Er kann dies realisieren, indem er ständig sein Gesagtes als etwas dem Ereignis nicht Gemäßes zurückruft. Die Philosophie ist dementsprechend kei-
Zur Reduktion: JS/AQE, 107 f/56, 109 f/57 f, 117Anm.34/62n.34, 129/69, 153/84, 163/90. Der Widerruf: JS, 386/AQE, 228. GE, 111/DI, 141. 480 Hierzu siehe unsere Anmerkung über Levinas’ Verhältnis zur negativen Theologie in Abschnitt 11. 481 Eine ähnliche Struktur ist später bei Marion zu finden, wenn er in seinem Buch Le phénomène érotique (2003) über die »erotische Reduktion« (réduction érotique) spricht. Die erotische Reduktion wird nicht im Denken vollzogen, sondern heißt, in die Liebe einzutreten, zu lieben, in einer Liebesbeziehung zu sein. 479
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
ne Darstellung von Thesen, sondern Wider-Ruf des Gesagten, das sie selbst äußert: »Ich habe irgendwo vom philosophischen Sagen (dir) als von einem Sagen gesprochen, das unter der Notwendigkeit steht, sich ständig zu wider-rufen (se dédire). Ich habe aus diesem Wider-Ruf sogar einen eigenen Modus des Philosophierens gemacht. Ich stelle nicht in Abrede, daß die Philosophie eine Erkenntnis ist, insoweit sie das benennt, was nicht benennbar ist, und thematisiert, was nicht thematisierbar ist. Aber indem sie dem, was mit den Kategorien des Diskurses bricht, die Form des Gesagten gibt, drückt sie möglicherweise dem Gesagten die Spuren dieses Bruches auf.« (EU, 82 f/ EI, 103 f) 482
Wenn ein Text seiner Struktur nach unausweichlich das Gesagte ist, das uns etwas vorstellt, und wenn der Text doch die Möglichkeit hat, eine Bruchstelle zu eröffnen, durch die die Spur des Sagens des wirklichen Ereignisses verfolgt werden kann, dann bleibt noch die Frage: Zu wem genau führt diese Spur? Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten. Erstens kann das Gesagte über das Ereignis berichten, sodass der Adressat das Ereignis sich vorstellt. So wie, wenn jemand erzählen würde, wie er sich erschrocken hat und alle Zuhörenden sich diese Situation, darunter auch seine Angst, vorstellen würden. Zweitens kann das Gesagte, indem es das Sagen berührt, selbst ein Ereignis schaffen. So wie ein Kunstwerk, das eine ereignishafte Situation für den Betrachter eröffnet, indem es eine Landschaft abbildet. Drittens kann das Gesagte darauf hinweisen, dass es Ereignisse geben könnte, die sich jedem Gesagten entziehen. Ein philosophischer Text kann zum Beispiel ein solches Gesagte sein. Der erste und der dritte Fall sind gewissermaßen unproblematisch. Im ersten Fall erreicht die Sprache das Ereignis nicht, weil sie es thematisiert. Es gibt keine Spur, die das Gesagte transzendieren lässt. Im dritten Fall will die Sprache das Ereignis nicht erreichen, weil es unerreichbar ist. Der Text spricht von der Unerreichbarkeit durch das Gesagte und auf diese Weise verwischt er alle Spuren, die zu dem führt, was sich entzieht, hofft aber trotzdem, dass man dadurch dem Ereignis näher kommt. Aber im zweiten Fall geschieht die Hervorbringung eines Ereignisses mittels des Gesagten. Und die Frage ist, welchen Status dieses Ereignis hat. Ist es überhaupt ein Ereignis und nicht nur ein Pseudo-Ereignis, das 482 Über die Philosophie als Bruch mit der Thematisierung und Erkenntnis, als Widerruf des Gesagten angesichts des Sagens: JS/AQE, 107/56, 353/206, 358/210; GE, 270 f/DI, 270.
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nur vorgibt, ein Ereignis zu sein, während es nur ein Denken bzw. egoistischer Genuss ohne die Transzendenz ist? Levinas ist offensichtlich der Ansicht, dass auch der Text bzw. die Kunst überhaupt, der Ort der Begegnung mit dem Transzendenten sein kann. 483 Ein Beispiel solcher Texte ist die Bibel: »Gewiß kann ich auch den bezeugten Sinn als Gesagtes zur Sprache bringen. Doch als außer-ordentliches Wort, das einzige, das sein Sagen weder erstickt noch in sich aufsaugt, aber auch nicht bloßes Wort bleiben kann. Umstürzendes semantisches Ereignis des Wortes Gott, das die von der Illeität ausgehende Subversion bezwingt. Die Herrlichkeit des Unendlichen, die sich einschließt in ein Wort und sich darin zu Seiendem macht, aber schon ihre Wohnung auflöst und sich schon zurücknimmt, ohne sich in Nichts aufzulösen […].« (JS, 331/AQE, 193) 484
Mit der Vermutung aber, dass es solche Texte geben könnte, die ereignishaft sind, die etwas Anderes in die Welt des Selben einbrechen lassen, die das Selbe ansprechen, kehren wir zum am Anfang dieses Abschnittes erwähnten Verhältnis von Sprache und Ereignis zurück. Ein Text – die Kunst – kann mich wie ein Anderer ansprechen; ein Text und ich – wir können zu einem ereignishaften Gespräch kommen. Dies geschieht allerdings nicht mit jedem Text und nicht auf der Ebene des Gesagten, sondern dadurch, dass er hinter dem Gesagten eine Andersheit begehren lässt. Damit merken wir, dass sich Levinas’ Position über das Verhältnis zwischen dem Ereignis und der denkenden, aussagenden Sprache doch nicht wesentlich von der Heidegger’schen unterscheidet. Eine Aussage kann das Sagen verwischen, aber sie kann auch zu ihm führen; es kann einen Text geben, der selbst ereignishaft ist, der zum Ereignis gehört. Die Möglichkeit eines ereignishaften Sagens ist allerdings nicht der einzige Punkt, wo Heidegger und Levinas in Bezug auf das Verhältnis von Ereignis und Sprache einig werden könnten. Wir haben gezeigt, dass die begriffliche Sprache der Metaphysik für Heidegger erstmals gegen das Ereignis arbeitet: Sie verdeckt es, lässt es vergessen und führt das Denken immer in die falsche Richtung. Aber letztendlich gehört auch sie zum Ereignis – sie bestätigt es als ihren AnDie Kunst als Ereignis: JS, 100 ff/AQE, 51 ff. Siehe auch: EU, 15 f/EI, 13 f. Es ist nicht ausgeschlossen, das zumindest einige philosophische Texte Levinas’, genauso wie die philosophischen Texte Heideggers nach seiner sog. Kehre, beanspruchen, selbst ereignishaft zu sein, obwohl sie gleichzeitig auch die Uneinholbarkeit des Ereignisses im Text behaupten. 483 484
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Emmanuel Levinas’
fang. Ein ähnliches Kunststück vollzieht auch Levinas. Alles Sagen kann nur im Gesagten gesagt werden, das es verrät. Manches Gesagte trägt die Spur des Sagens, manches nicht. Die Ontologie zum Beispiel macht den Anderen zum Selben – ohne Widerruf. Wenn die Ontologie spricht, gibt es nicht den Anderen, gibt es keine Beziehung zu dem Anderen. Das ist richtig und doch nicht richtig. Weil – und dies ist Levinas’ These – jedes Sprechen, wie ontologisch es auch wäre, jemanden anspricht, ihn als einen Gesprächspartner schon voraussetzt: »[I]ch nenne die Person, mit der ich in Beziehung trete, Sein, aber indem ich sie ›Sein‹ nenne, appelliere ich an sie. Ich denke nicht bloß, daß sie da ist, ich spreche zu ihr. Sie ist mein Verbündeter geworden, in der Beziehung, die sie mir nur gegenwärtig machen sollte.« (ZU, 18/EN, 19) 485
Ich kann in meiner Ontologie den Anderen thematisieren, aber dadurch, dass ich überhaupt etwas sage, sage ich dies zu einem anderen Menschen, den ich nicht mehr als ein Thema fasse, sondern in dessen Nähe ich bin. Alles Sprechen ist Beziehung zum Anderen als Anderen.
485
Siehe auch: ZU, 198 ff/EN, 180 ff.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
1.
Das Ereignis in der Philosophie Jean-Luc Marions
»Me frappe aujourd’hui, rétrospectivement, la cohérence de l’ensemble, que dominent finalement la question de l’événement, l’approche de la présence à partir du présent entendu comme un don.« (RC, 11)
Wie diese 2012 gemachte Äußerung Marions in der Vorbemerkung zu den Gesprächen mit Dan Arbib zeigt, ist die Frage nach dem Ereignis ein ganz zentrales Motiv seines Denkens, der rote Faden, das, was seine Philosophie als »Ganzes« »beherrscht«. Dies könnte auf den ersten Blick verwunderlich klingen, da die Philosophie Marions vor allem durch seine Idee des gesättigten Phänomens bekannt ist. Diese mögliche Verwirrung verschwindet, wenn es klar wird, dass für Marion, insbesondere in seinen letzten Werken, diese beiden Wörter – das »gesättigte Phänomen« und das »Ereignis« – als Synonyme gebraucht werden. Das gesättigte Phänomen ist grundsätzlich Ereignis, es ist ereignishaft, weil die Sättigung von der Ereignishaftigkeit abhängt: »Plus un phénomène apparaît comme événement (s’événementialise), plus il s’avère saturé d’intuition.« (CN, 307) 486
Und das Ereignis ist das gesättigte Phänomen, insofern nur dieses ereignishaft ist. So teilt Marion zum Beispiel in Certitudes négatives (2010) alle Phänomene in »Objekte (geschwächte Phänomene)« und »Ereignisse (saturierte Phänomene)« ein (CN, 280). 487 Doch diese begriffliche Gleichsetzung vom gesättigten Phänomen und Ereignis erscheint erst nach dem Werk Étant donné (1997). In Étant donné bedeuten diese beiden Begriffswörter auf keinen Fall ein und dasselbe. Während das gesättigte Phänomen als solches GeSiehe auch: RC, 270. Siehe auch: »Nous l’avons vu, le phénomène saturé n’est pas un étant ni un objet par moi constitué, mais un événement qui advient et me surprend.« (RC, 157) 486 487
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
gebene 488 verstanden wird, das seine Gegebenheit uneingeschränkt und vollständig entfaltet und zeigt, wird das Ereignis als nur eine unter anderen »Bestimmungen« (détermination) 489 des Gegebenen definiert (ED, Buch III, § 17). Und während das gesättigte Phänomen als dasjenige Phänomen, dessen Anschauung die Intentionalität und den Begriff übertrifft, definiert wird, stellt das Ereignis nur einen bestimmten »Typus« (type) 490 des gesättigten Phänomens dar, nämlich den »der Quantität nach« (ED, Buch IV, § 23). Daraus lässt sich schließen, dass in Étant donné, in dem das Wort »Ereignis« überhaupt zum ersten Mal in Marions Philosophie eine für ihn charakteristische Bedeutung erhält und zum wichtigen Teil seines philosophischen Systems wird, vor allem in zwiefacher Bedeutung verwendet wird. 491 Streng genommen, müssen die Begriffe »das Gegebene« (donné) und »das Phänomen« (phénomène) auseinandergehalten werden. Das Gegebene ist das, was durch die Entfaltung seiner Gegebenheit, die ursprünglicher ist als Phänomenalität, gegeben wird. Das Phänomen ist aber das, was sich zeigt bzw. gezeigt wird. Da die Gegebenheit ursprünglicher ist als Phänomenalität, gilt die Formel »Was sich zeigt, gibt sich zuerst […].« (GS, 23/ED, 10) Die Gegenrichtung gilt aber nicht, weil das, was sich gibt, muss sich nicht unbedingt zeigen, d. h. zum Phänomen werden: »[L]a réciproque ne vaut pourtant exactement: tout ce qui se donne ne se montre pas pour autant – la donation ne se phénoménalise pas toujours.« (DS, 38) Die Phänomenalität kann sich auf zwei Weisen entfalten: Entweder wird das Gegebene gezeigt und zum Objekt konstituiert oder es zeigt sich selbst und kommt so als ein gesättigtes Phänomen zum Vorschein. In dem Phänomenalen gibt es also nicht nur objekthafte Phänomene, sondern auch solche, die ihre Selbst-Gegebenheit selbst manifestieren: »Il ne reste donc qu’une seule voie: tenter de cerner, dans l’espace de la manifestation, des régions où des phénomènes se montrent, au lieu de se laisser simplement montrer comme des objets.« (DS, 38) Wenn wir also vom Gegebenen sprechen, sprechen wir von dem, was sich selbst gibt, ohne unbedingt zu einem Phänomen zu werden. Wenn aber von dem gesättigten Phänomen die Rede ist, dann sprechen wir von einem Gegebenen, das sich selbst gibt und sich auch noch zeigt, aber nicht zu einem Objekt wird. Das Phänomen im Allgemeinen kann sowohl das objekthaft Sichtbare als auch das gesättigt Sichtbare bedeuten, aber es ist auf jeden Fall im Bewusstsein angekommen, also sichtbar geworden. Man muss aber beachten, dass Marion die Begriffe vom Gegebenen und (gesättigten) Phänomen oft ohne Unterscheidung verwendet. Meistens spricht er einfach vom Phänomen, meint aber damit das Selbst-Gebende und Selbst-Zeigende, das gegebenenfalls auch noch etwas Unsichtbares gibt. 489 Die anderen »Bestimmungszüge« sind: »Anamorphose« (anamorphose) (ED, Buch III, § 13), »Eintreffen« (arrivage) (§ 14), »vollendetes Faktum« (fait accompli) (§ 15) und »Vorfall« (incident) (§ 16). 490 Die anderen Typen des gesättigten Phänomens sind: »Idol« (idole) (ED, Buch IV, § 23), »Leib« (chair) (ED, § 23) und »Ikone« (icône) (ED, § 23). 491 Marion hat sich selbstverständlich auch mit Heideggers Ereignisbegriff auseinandergesetzt. Merkwürdigerweise sieht er in diesem Konzept Heideggers keine Ähn488
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Erstens wird das Ereignis als eine Bestimmung des Gegebenen 492, insofern es seine Gegebenheit entfaltet, verstanden. Das Ereignis charakterisiert das gegebene Phänomen genau hinsichtlich desjenigen Aspekts, dass es sich selbst gibt und zeigt und dass es auch noch sein »Sich« (soi), »sich selbst« (soi-même) im »Sich-Geben« und »Sich-Zeigen« zeigt: »Das Sich des Phänomens zeichnet durch seine Bestimmung, sich zu ereignen, aus. 493 Es kommt herbei, es kommt auf, es geht von sich selbst aus und zeigt bei seinem Sich-Zeigen auch das Sich, insofern dieses die Initiative, sich zu geben, ergreift (oder abtritt). Auf ein Ereignis kann ich warten (obschon es mich zumeist überrascht), ich kann mich seiner erinnern (oder es vergessen), doch ich kann es nie tun, hervorbringen, hervorrufen. Eine Beschreibung des Ereignisses, bei dem das Sich-Geben des Phänomens soweit gehen kann, dass es sich selbst zeigt, steht nun an.« (GS, 279/ED, 226) 494
lichkeit mit seinem eigenen Anliegen. Ganz im Gegenteil: Heideggers Ereignis, das das Sein und die Zeit gibt (ZS, 20), stellt für ihn das Aufgeben der Selbst-Gegebenheit (des Seins) dar. Würde Heidegger bei dem Sein bleiben, das sich schenkt oder entzieht (B, 248), würde er die Selbst-Gegebenheit bestätigen, die aber mit der Einführung eines Gebers, nämlich des Ereignisses, verloren geht: »Das Anwesen (Sein) auf eine der Gabe gehörige Gegebenheit zu reduzieren, diese erste Denkhandlung wird von einer zweiten vollendet (und aufgehoben), bei der Gegebenheit im Ereignis abgeschafft wird. Heidegger erkennt Gegebenheit jenseits des oder außerhalb von Sein nur an, um diese sogleich in der Annahme zu verkennen, diese gäbe (sich) nur noch diesseits des Ereignisses und unter seiner Ägide. Er spricht zwar von Gegebenheit, aber nur als Ort eines schnellen Übergehens vom Sein zum Ereignis, als simple Zwischenstation bzw. als Provisorium.« (GS, 78 f/ED, 58) Wir haben aber gesehen, dass Heidegger das Ereignis auf keinen Fall als einen Geber, also ein Seiendes versteht, weswegen seine Ereignisphilosophie nicht so leicht abgetan werden kann. 492 Es ist zwar richtig, dass im dritten Buch von Étant donné von jedem Gegebenen die Rede ist und nicht nur vom gesättigten Phänomen (also vom Ereignis), aber man muss beachten, dass Marion schon in Étant donné die These entwickelt, dass jedes Phänomen in irgendwelchem Grad gesättigt ist. Es geht also um die These von der »Banalität der Sättigung«, auf die wir noch später kommen werden. Das heißt aber, dass jede Rede vom Gegebenen überhaupt auch die Rede vom gesättigten Phänomen ist. Ereignis ist also die Bestimmung des gesättigten Phänomens, insofern es sich gibt. 493 Dass das Ereignis die Bestimmung des Gegebenen ist, in der es sein Sich zeigt, ist im Originaltext besser zu lesen: »Le soi du phénomène se marque dans sa détermination d’événement […].« Also wörtlich: »Das Sich des Phänomens zeichnet sich in seiner Bestimmung des Ereignisses an […].« 494 Zur Bestimmung des sich selbst gebenden Phänomens als Ereignis siehe auch De surcroît: »Il fixe du même coup le caractère originairement événementiel de tout phénomène en tant que d’abord il se donne avant que se montrer.« (DS, 64) Auch im Vorwort zur deutschen Übersetzung von Étant donné charakterisiert Marion 2014
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Mit anderen Worten: Die Selbst-Gegebenheit als Ereignis bedeutet, dass das Phänomen keinen vorausgehenden »Geber« zulässt, der seine Gegebenheit auslösen könnte. Es geht um die »Nicht-Ursächlichkeit bezüglich eines gegebenen Phänomens, insofern sich dieses ereignet« 495 (GS, 280/ED, 227), darum, dass die Initiative dem Phänomen selbst gehört. Das Ereignis ist das sich selbst gebende Phänomen, insofern es »ohne Ursache« ist. Es charakterisiert das Phänomen als ohne Ursache gebend. 496 Zweitens wird das Wort »Ereignis« nicht als eine der Bestimmungen des Gegebenen verstanden, sondern als ein konkreter Typus solches Gegebenen, insofern es ein gesättigtes Phänomen darstellt, nämlich als historisches Ereignis: »Gesättigte Phänomene bezeugen sich zunächst in Gestalt von Geschichtsphänomenen [phénomène historique – L. P.] oder Ereignissen, sofern man diese schlechtinnig versteht.« (GS, 383/ED, 318)
Aber schon in Étant donné wird dem Ereignisbegriff eine Bedeutung beigemessen, die es mehr als nur zu einem Teilaspekt des Gegebenen macht und so die spätere Gleichsetzung mit dem gesättigten Phänomen einleitet. Die Ereignishaftigkeit ist nämlich nicht nur eine von mehreren Bestimmungen des Gegebenen, sondern eine fundamentale, eine solche, die alle anderen in sich zusammenfasst: »Diese Bestimmungsgrößen gegebener Phänomene lassen sich schließlich in dem bündeln, was Ereignisse eben definiert, nämlich keine ›Begriffe von ihrer Ursächlichkeit‹ zu haben.« 497 (GS, 293/ED, 239) 498 das Ereignis als das, »das niemals von einem anderen, stets von sich her ankommt« (GS, 15). 495 Im Original: »l’incausabilité de l’événement du phénomène donné«. 496 Siehe auch: GS, 293 f/ED, 245 f. 497 Im Original: »Ces déterminations du phénomène donné se résument enfin en celle, qui définit proprement l’événement: »sans la notation des sa cause«.« 498 Siehe auch: GS, 283/ED, 229, wo Marion schreibt, dass »der Charakterzug von Ereignishaftigkeit alle zuvor dem gegebenen Phänomen zuerkannten Charakterzüge in sich vereint [rassemble – L. P.].« Hier geht es um das Ereignis auch als »äußerste [ultime – L. P.] Bestimmung gegebener Phänomene« (GS, 305/ED, 249). Auch in späteren Werken hebt Marion die Ereignishaftigkeit als ein grundlegendes Charakteristikum des Phänomens hervor. In De surcroît spricht er zum Beispiel von »le caractère essentiellement et originairement événementiel du phénomène« (DS, 43) oder von »déterminations canoniques du phénomène comme événement« (DS, 46). Da das »Ereignis« sowohl das historische Ereignis, eine Bestimmung des Gegebenen als auch seine »äußerste« Bestimmung bedeutet, spricht Shane Mackinlay von einem dreifachen Gebrauch des Wortes »Ereignis« in den Werken Marions: »So, three different
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Wenn also die grundlegendste Bestimmung des Gegebenen seine Selbst-Gegebenheit ohne Ursache ist, und wenn das Ereignis genau das ist, was ohne Ursache geschieht, dann wird verständlich, warum in den späteren Werken Marion unterschiedslos vom (gesättigten) Phänomen als Gegebenen, das sich selbst gibt, und Ereignis spricht 499, während die anderen Bestimmungen des Gegebenen zu Charakteristika dieses Ereignisses und entsprechend die anderen Figuren des gesättigten Phänomens (darunter auch das historische Ereignis) zu den Figuren des Ereignisses überhaupt werden. In der Tat bestätigt Marion diese Bedeutungsverschiebung in Certitudes négatives: »[…] l’événementialité ne caractérise pas seulement l’un des types de phénomène saturé (l’événement stricto sensu par opposition à l’idole, la chaire er l’icône): non seulement elle détermine chacun de ces types, qui la mettent tous en œuvre, mais elle définissait déjà le phénomène comme donné en général.« (CN, 307 f)
Das Ereignis ist also das, was sich selbst gibt. Das (gesättigte) Phänomen ist ein Ereignis, weil es als Gegebenes sich selbst gibt; und das Ereignis ist das (gesättigte) Phänomen, insofern dieses wesentlich sich selbst gibt – es gibt keine Ereignisse außerhalb der Selbst-Gegebenheit des (gesättigten) Phänomens. Das Ereignis als sich selbst Gebendes weist verschiedene Strukturen auf, d. h. sein Ankommen, Sich-Ereignen und Verschwinden uses of the two senses of event are evident in the structure laid out in Figure 1. First, Marion uses event in a narrow sense, where it refers to one type of phenomenon. Second, he uses event in a broad sense, where it refers to eventness as a characteristic of all phenomena. Third, he distinguishes this eventness from other characteristics of phenomena by assigning it priority over them.« (Mackinlay, 80) Was Mackinlay außer Acht lässt, ist, dass diese Gebrauchsweise faktisch nur Étant donné betrifft, ein wenig noch in De surcroît zu beobachten ist und völlig in Certitudes négatives verschwindet. 499 Der eigentliche Grund dieser Synonymie liegt also darin, dass die Ereignishaftigkeit zu der grundlegenden Bestimmung der Gegebenheit erklärt wird. Die Sättigung ist von den »Graden« (degrés) der Gegebenheit abhängig – je mehr Gegebenheit, d. h. je ausgeprägter die Bestimmungen (im Plural!) der Gegebenheit, desto gesättigter das Phänomen. Schon in Étant donné wird die Vermutung gemacht, dass die Gegebenheit verschiedene Grade aufweisen könnte und dass dementsprechend verschiedene Klassen von Phänomenen (vor allem arme und gesättigte Phänomene) unterschieden werden könnten (GS, 306/ED, 249 f). Und wenn die Bestimmungen der Gegebenheit auf die Ereignishaftigkeit reduziert werden, hängt die Saturierung von der Ereignishaftigkeit ab. Je mehr Ereignishaftigkeit, desto mehr Sättigung: »[L]’événementialité fixe le degré de la saturation et la saturation varie selon l’événementialité.« (CN, 307)
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geschieht nach einer bestimmten Logik, die wir jetzt untersuchen wollen. Doch bevor wir anfangen, müssen wir darauf aufmerksam werden, dass das Wort »Ereignis« in der Philosophie Marions neben seiner Bedeutung als Selbst-Gegebenheit, als das Sich-von-sich-ausGeben, noch eine andere Bedeutung aufweist, die allerdings ganz im Hintergrund bleibt, ohne die aber das Wesentliche des Ereignisses unerkannt bleibt. In den Texten Marions gibt es nur überall verstreute Hinweise auf dieses Wesentliche des Ereignisses, die wir im Abschnitt Das Jetzt des Ereignisses zusammenzufassen versuchen werden. Es geht darum, dass dieses Sich-von-sich-aus-Geben als der Augenblick des Auftretens (Geschehens) im Hier zu verstehen ist. Schon einige Textstellen in Étant donné bestätigen diese Verwendung des Wortes »Ereignis«, zum Beispiel: »Gegebenheit eröffnet sich als Zwiefalt [pli – L. P.] des Gegebenen, insofern sich die gegebene Gabe in dem ihr eigenen Sich-ereignen [événement – L. P.] gibt. Die sich ausfaltende Gegebenheit verbindet gelenkhaft die (möglicherweise ohne Ursprung, ohne Genealogie, Abhängigkeit etc.) gegebene Gabe mit ihrem Anbruchsgeschehen [processus d’avénement – L. P.] (das möglicherweise durch diese verdunkelt, zurückgehalten wird oder einfach unerkennbar bleibt).« (GS, 124/ED, 96) 500
Vielleicht geschieht mit dieser Bedeutung des Ereignisses – verstanden als das »Anbruchgeschehen« – in Marions Texten dasselbe, was er hier in Bezug auf das Verhältnis von Gabe und Gegebenheit sagt, nämlich dass die Gabe ihren Anbruch »verdunkelt« und »zurückhält«, dass das Anbruchsgeschehen »unerkennbar bleibt«. Das Verständnis von Ereignis als Anbruch von etwas hier und jetzt ist überall spürbar, doch es kommt nur selten wirklich zum Vorschein – im Vordergrund steht das Phänomen, das gesättigte Phänomen als Ereignis. Und sogar dann, wenn vom Ankommen des Phänomens die Rede ist, ist es das Ankommen dieses Phänomens. Aber immer, wenn es um das Ereignis als das Selbst-Gebende geht, wo die Ereignishaftigkeit die Selbst-Gegebenheit bedeutet, impliziert diese Selbst-Gegebenheit nicht nur die Selbst-Gegebenheit des Gegebenen, sondern auch sich selbst: pures Ereignis, das allerdings völlig uneinholbar ist. Es kann ja nur scheinbar durch das Phänomen, das es hervortreten lässt und das sein Ereignis gleich »verdunkelt«, eingeholt werden. Das Ereignis ist 500 Die Gegebenheit ist also das Ereignis des Gegebenen, wenn es sich gibt. Dazu siehe auch: GS/ED, 116 f/89 f, 121 f/95. In De surcroît beschreibt Marion die Gegebenheit als »mouvement par lequel le phénomène se donne« (DS, 38).
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also die Selbst-Gegebenheit des Phänomens bzw. das Phänomen, insofern es sich gibt, aber es ist auch die Selbst-Gegebenheit in ihrem eigenen Augenblick.
2.
Die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses
Das Ereignis ist das Phänomen, insofern es die Selbst-Gegebenheit, die grundsätzlich ereignishaft ist, entfaltet. Das Ereignis ist also vor allem und grundlegend sich selbst gebend. Die Selbst-Gegebenheit, außer der Tatsache, dass das Ereignis als es selbst gegeben ist, deutet darauf hin, dass das Ereignis sich ausschließlich ausgehend von sich selbst gibt: »Das Entspringen der Gegebenheit/Gebung bleibt dem Selbst 501 der Phänomene, ihrem reinen ohne Prinzip oder Ursprung zu denkenden Selbst, überstellt. So weist die Selbstgebung zum einen zwar darauf hin, dass sich Phänomene leibhaftig [en personne – L. P.] geben, doch zum anderen und vor allem auch darauf, dass sie sich selbst von selbst und von sich selbst aus geben.« (GS, 49 f/ED, 33)
Die Selbst-Gegebenheit bedeutet also, dass sie kein anderes »Prinzip« (principe) und keinen anderen Ursprung (origine) als nur sich selbst kennt. Anderswo spricht Marion davon, dass das Phänomen »ohne
Das »Selbst«/»Sich« (soi) des Phänomens gehört zu den Grundbegriffen der Phänomenologie Marions, oder eher: Es könnte zu ihnen gehören, wenn es mehr herausgearbeitet wäre. Mackinlay bemerkt aber völlig richtig: »Marion explicitly refers to such a »self« on many occasion, though he never specifies exactly what this ›self‹ is.« (Mackinlay, 17) Während das Konzept der Selbst-Gegebenheit die von sich selbst ausgehende Erscheinung des Phänomens ohne andere Ursache bedeutet, bleibt das Wort »Selbst« unbestimmt, obwohl Marion es sogar in Heideggers Philosophie zu finden glaubt – er behauptet sogar, dass das Sich etwas ist, »von dem Heidegger eingehenden Gebrauch macht, ohne es aber als solches zu denken« (GS, 132/ED 102). Ein Wesen, überhaupt ein Etwas unter dem »Selbst« zu vermuten, wäre aber mit Marions phänomenologischem Projekt nicht kompatibel. Dieser Begriff bezeichnet eher nur eine Funktion und stellt sie dem Selbst des aktiv konstituierenden Ich gegenüber (GS, 413 f/ED, 343 f). Deswegen kann man Mackinlay wieder völlig zustimmen, wenn er schreibt: »However, his concern is not so much with the phenomenon’s self per se, but rather with using this concept to reinforce his claim that ›in the appearing, the initiative belongs in principle to the phenomenon, not the look‹ (BG, 159/ED, 225). Ascribing a ›self‹ to phenomena is a way of excluding claims about the role of subjectivity in phenomenality.« (Mackinlay, 18; BG – Being Given, die amerikanische Übersetzung von Étant donné)
501
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definierbaren Vernunftgrund« (sans raison définie) (GS, 278/ED, 225), »ohne Ursache« (sans cause) (CN, 281), »ohne Begrenzung durch einen Horizont oder ohne sich auf ein Ich zu reduzieren« (sans les limites d’un horizon, ni la réduction à un Je) (GS, 368/ED, 305) oder dass es »ohne Bedingung« (sans condition) (CN, 274) erscheint. Die Ausdrucksweise Marions hängt vom jeweiligen Philosophen ab, den er in Betracht zieht und an dem er Kritik übt. Im Grunde geht es aber immer darum, dass das Ereignis, um gegeben zu sein und um als gesättigt zu erscheinen, nichts anderes braucht als nur sich selbst. Nichts und niemand gibt es. Es gibt sich selbst. Das bedeutet, dass seine Gegebenheit ihm »immanent« und »intrinsisch« ist (GS, 215/ ED, 169) 502 – sie wird nicht von außen bewirkt 503 und sie bestimmt es »für immer«, weswegen das Gegeben-Sein wesentlich zu seiner Definition gehört. 504 Wenn Marion über das Ereignis als »ohne bestimmten Grund« eintretend spricht, bezieht er sich vor allem auf Leibniz. Wenn Leibniz das principium rationis sufficientis formuliert 505, bedeutet dies für Marion, dass, laut dieser Auffassung, jedes Phänomen einen zureichenden Grund haben muss, um überhaupt erscheinen zu können. Die Möglichkeit zur Erscheinung liegt also nicht im Phänomen selbst, sondern in einer anderen Instanz: »[…] so reicht bereits der zureichende Vernunftgrund dazu aus, das, was ohne ihn unmöglich geblieben wäre, möglich zu machen.« (GS, 313/ ED, 254 f)
502 Es geht um »die immanente und intrinsische Zuweisung des Gegebenheitscharakters an Gabe« (BG, 119/ED, 169). Die deutsche Übersetzung ist aber ein bisschen irreführend. Im Original sieht es so aus: »en assignant au don le caractère immanent et intrinsèque de la donation«. Es geht also nicht um »die immanente und intrinsische Zuweisung«, sondern um den »immanenten und intrinsischen Gegebenheitscharakter«. Es ist die Gegebenheit, die immanent und intrinsisch ist. 503 »Allgemeiner gesprochen: Gegebenheit durchschreitet Gabe nicht in einem transitiven Sinne, sondern sie verbleibt in ihr auf Dauer. Die Zwiefalt von Gegebenheit ist zu eigen, die Gabe einzurichten und der von Manifestation, sie aufzuhalten. Gegebenheit wird so als die für Immanenz schlechthinnige Instanz aufgedeckt.« (GS, 210/ ED, 166 f) 504 »Immanente Gegebenheit bleibt in dem, was sie gibt, sie bestimmt es folglich für immer.« (GS, 217/ED, 171) 505 Marion zitiert hier (GS, 312/ED, 254) eine der Formulierungen dieses Prinzips aus Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade (1714): § 7.
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»In der Metaphysik gehört die Möglichkeit, zu erscheinen, niemals dem erscheinenden Was, gehört die Phänomenalität niemals den Phänomenen an.« (GS, 314/ED, 255)
Wie auch immer der zureichende Grund interpretiert wird – als Gott, die menschliche Vernunft, Ursache etc. –, gilt Folgendes: wenn er die konkrete Erscheinung schafft, konstituiert, verursacht etc., verliert das Phänomen sein Recht auf Selbst-Gegebenheit, die Marion dem Phänomen zurückgeben will. Wenn Marion vom Ereignis als »ohne Bedingung« spricht, bezieht er sich vor allem auf Kant. Auch hier liegt die Möglichkeit der Erscheinung nicht in ihr selbst – etwas kann nur erscheinen, wenn es mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinkommt. 506 So stellt Marion fest: »Im Klartext: Die Möglichkeit von Phänomenen resultiert nicht aus ihrer eigenen Phänomenalität, sondern aus einer versetzten, anderen, wenn nicht gar aus einer externen Instanz, nämlich derjenigen der Bedingungen der Erfahrung für und durch das Subjekt.« (GS, 311 f/ED, 253).
Das Ereignis ist dagegen bedingungslos. Es ermöglicht sich selbst. Es gibt sich selbst die Möglichkeit der Erscheinung. Aber die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung bei Kant bestimmen laut Marion nicht nur die Möglichkeit des Phänomens, sondern schränken es auch deutlich ein, sodass es seine Gegebenheit nicht vollständig entfalten kann. Es geht darum, dass für Kant jede Erfahrung objekthaft sein soll: »L’objet domine en effet la raison pure dans tous ses usages du début à la fin.« (CN, 277) 507 506 Marion zitiert hier (GS, 311/ED, 253) Kritik der reinen Vernunft: »Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.« (KrV A 218/B 265) 507 Marion zitiert hier (CN, 277) KrV A290/B346: »Ehe wir die transzendentale Analytik verlassen, müssen wir noch etwas hinzufügen, was, obgleich an sich von nicht sonderlicher Erheblichkeit, dennoch zu Vollständigkeit des Systems erforderlich scheinen dürfte. Der höchste Begriff, von dem man eine Transzendentalphilosophie anzufangen pflegt, ist gemeiniglich die Einteilung in das Mögliche und Unmögliche. Da aber alle Einteilung einen Eingeteilten Begriff voraussetzt, so muß noch ein höherer angegeben werden, und dieser ist der Begriff von einem Gegenstande überhaupt (problematisch genommen, und unausgemacht, ob er Etwas oder Nichts sei).« Nach dieser Äußerung schwächt Marion allerdings seine Kritik gegen Kant, indem er vermutet, dass Kant auch etwas Nicht-Objekthaftes zugelassen hat, nämlich das Ding an sich. Während die Bedingungen der Erfahrung und somit auch der Gegenständlich-
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Es geht hier also nicht nur darum, dass die Erscheinung selbst sich nicht geben könnte und dass sie etwas außerhalb ihrer selbst bräuchte, was sie in Gang brächte, sondern auch darum, dass es vorausbestimmt wird, was überhaupt erscheinen kann. Und in diesem Fall sind es nur Objekte. Alles, was erscheint, muss etwas Objekthaftes sein. Vielleicht ist das konkret gegebene Phänomen nicht objekthaft, dann wird es aber für überhaupt nicht erscheinend oder für bloß subjektiv erklärt oder auch auf ein Objekt reduziert. Diese Prozeduren sind genau das, was Marion unter Einschränkung versteht: Das Phänomen sich nicht so zeigen lassen, wie es sich eigentlich gibt, sondern es normativ behandeln entsprechend den im Voraus definierten Bedingungen. Wenn Marion das Phänomen als sein eigenes »Prinzip« 508 und seinen eigenen »Ursprung« denkt und es als »ohne Grenzen eines Horizonts« und »ohne Reduktion auf ein Ich« bestimmt, wendet er sich gegen die Einschränkungen, die dem Phänomen die Husserl’sche Phänomenologie auferlegt. Einerseits sieht er ein, dass Husserl das Phänomen von jedweden Einschränkungen zu befreien versucht, indem er auffordert, dass das, was originär in Anschauung gegeben ist, so hingenommen werden muss, wie es sich gibt. 509 Andererseits sieht Marion auch hier Einschränkungen der Gegebenheit des Phänomens – durch den Horizont und das Ich. Die Husserl’sche Phänomenologie – so Marion – besagt, dass jede lebendige Anschauung, die jetzt und hier stattfindet, sich in einen Horizont, der schon antizipiert ist, einschreiben lässt. Das keit nur im Bereich des Phänomens gelten, den sie auch eigentlich definieren, bleibt der Bereich des Noumenon frei von diesen Bedingungen (CN, 279 f). Dies heißt allerdings nicht, dass die nicht-objekthafte Gegebenheit des Phänomens bei Marion so wie das Ding an sich bei Kant interpretiert werden könnte. Vor allem deswegen nicht, weil das Ding an sich nicht erfahrbar ist, während die Gegebenheit das Reich des Phänomenalen erweitern soll. Es geht um etwas Erfahrbares, was doch kein Objekt ist. 508 Siehe zum Beispiel: »Denn Gegebenheit hält als Prinzip geradezu fest, dass den Phänomenen nichts vorangeht, es sei denn ihre eigene Erscheinung von sich selbst her. Dies läuft darauf hinaus, dass Phänomene ohne die weitere Hilfe eines Prinzips nur als sie selbst ankommen.« (GS, 44/ED, 29) Im Original lauten die letzten Worte: »le phénomène advient sans autre principe que lui-même«. Der französische Text lässt besser erkennen, dass das Phänomen sein eigenes Prinzip ist. 509 Marion zitiert oft das »Prinzip aller Prinzipien« aus dem § 24 in Husserls Ideen I: »[…] daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt […].« (Hua III, 52)
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heißt: Jede originäre Gegebenheit wird immer als ein »Teil« der Erfahrung von etwas aufgefasst. Die drei originär gegebenen Seiten eines Kubus werden als drei Seiten eines Kubus interpretiert. Der ganze Kubus, der nur intelligibel und begrifflich existiert, bildet den Horizont für das hier und jetzt Gegebene, wodurch das hier und jetzt Gegebene eingeschränkt wird – es muss die drei Seiten eines Kubes geben. Man fragt nicht, was es gibt, sondern was es geben muss. Und das, was es geben muss, besagt der jeweilige Horizont. 510 Marion schreibt diesbezüglich: »Damit sich jedes Phänomen nämlich einem Horizont einzuschreiben vermag (und darin seine Möglichkeitsbedingung findet), muss dieser Horizont (und so lautet seine Definition) begrenzt und das Phänomen somit endlicher Natur bleiben.« (GS, 336/ED, 276)
Mehr noch: Auch das, was noch nicht gegeben wird, wird schon im Voraus einem Gegebenen zugeordnet. Das heißt konkret: Die drei noch nicht gesehenen Seiten des Kubus werden vorhergesehen und als die drei Seiten des Kubus bestimmt. Nichts radikal Neues ist hier noch möglich. 511 In dieser Beschreibung ist es leicht zu erkennen, dass Marion Husserl wegen noch einer Einschränkung des Phänomens verdächtigt – das Phänomen wird durch den Horizont eines antizipierten Objekts bedingt, d. h. es muss als ein Objekt erscheinen. Das, was erscheint, ist immer etwas von einem schon antizipierten Objekt. 512 Der andere Schritt, den die Husserl’sche Phänomenologie macht und mit dem sie die Selbst-Gegebenheit des Phänomens unterbindet, liegt in der unbezweifelten These, dass das Phänomen vom Ich konstituiert wird. Das Phänomen gibt sich nicht selbst und zeigt sich nicht selbst – es wird konstituiert und gezeigt. 513 GS, 317 ff/ED, 259 f. GS, 319 f/ED, 260 f. 512 Marions Auslegung von Husserls Reduzierung der Gegebenheit auf Gegenständlichkeit und seine Kritik dazu: GS, 61–70/ED, 45–50. Für Marion schränkt sowohl Kant als auch Husserl die Erfahrung auf die Erfahrung eines Objekts ein. Vermutet er selbst eine nicht-objekthafte Erfahrung, so nennt er sie »Gegen-Erfahrung« (contre-expérience): »Gegenerfahrung bedeutet hier nicht das Gleiche wie Nicht-Erfahrung, sondern das Gleiche wie die Erfahrung eines Phänomens, das nicht beobachtet oder auf das im Sinne von Gegenständlichkeit nicht Obacht gehabt werden kann, ein Phänomen, das den Vergegenständlichungsbedingungen also widersteht.« (GS, 363 f/ ED, 300). Siehe auch: GS, 363 ff/ED, 300 ff; SB, 126 ff/BS, 182 ff; CN, 314. 513 GS, 321 f/ED, 262 f. 510 511
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Wenn das Ereignis selbst-gebend ist, gibt es kein Objekt in einem schon vorausbestimmten Horizont und es wird nicht von einem Ich konstituiert: »Allein gesättigte Phänomene erscheinen wahrhaft als sie selbst, von selbst und von sich selbst her, weil nur sie ohne Begrenzung durch einen Horizont oder ohne sich auf ein Ich zu reduzieren erscheinen, und weil nur sie sich selbst konstituieren, insofern sie sich als ein Sich geben.« (GS, 368 f/ED, 305)
Seine Selbst-Gegebenheit gegen einen schon vorausbestimmten Horizont und ein Ich verwirklicht das Ereignis, indem es diesen Horizont überschreitet und sich nicht vom Ich konstituieren lässt, sondern eher das Ich konstituiert. Die Überschreitung des Horizonts und die Bewegung gegen die Konstitution vonseiten des Subjekts sind genau das, was das gesättigte Phänomen charakterisiert. Wir werden diese zwei wesentlichen Strukturen des gesättigten Phänomens (den »Exzess« und die »Gegen-Intentionalität«) später noch ausführlich analysieren, hier geht es vorerst um die Bestimmung des Ereignisses als grundsätzlich sich selbst Gebendes. Während Kant und Husserl die Gegebenheit und damit die Phänomenalität laut Marion auf Gegenständlichkeit einschränken und so demjenigen verbieten, seine Gegebenheit zu entfalten und zu erscheinen, das nicht objekthaft ist, begrenzt Heideggers Phänomenologie die Gegebenheit auf eine andere Art und Weise. Sie lässt nämlich nur das zu, was seiend ist und »exclut donc ce qui n’a pas à être« (RD, 304). Es ist zwar richtig, dass Heidegger etwas zulässt, was kein Seiendes ist, nämlich das sich gebende Sein, aber mit der Einführung des Konzepts des Ereignisses, das das Sein gibt, wird auch das Sein – so Marion – zu etwas Gegebenem, also zum Seienden gemacht und in den einschränkenden Horizont der Seiendheit eingeschrieben. 514 Die Selbst-Gegebenheit des Phänomens kann sich dementsprechend nicht vollständig entfalten: »Heidegger und Husserl verfahren somit auf gleiche Art und kommen zum gleichen Endpunkt. Der eine wie der andere greift faktisch auf Gegebenheit zurück und gesteht ein, dass ihr die Funktion eines letzten Prinzips zukommt. […] Aber dem einen entgleitet die Gegebenheitsthematik, wenn er zur Gegenständlichkeitskategorie gelangt, während der andere sie preisgibt, indem er Seiendheit dem Ereignis gutschreibt.« (GS, 80/ED, 59) 514
GS, 70 ff/ED, 50 ff.
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Das Ereignis wird von Marion auch als »ohne Ursache« charakterisiert. Mehr noch: Wir haben schon gesehen, dass die Ereignishaftigkeit überhaupt die »äußerste Bestimmung gegebener Phänomene« ist und dass »keine »Begriffe von ihrer Ursächlichkeit« zu haben« grundsätzlich die Ereignisse definiert. Es lässt sich vermuten, dass unter »Ursache« Marion ganz allgemein alle möglichen »Bewirker« versteht, die dazu beitragen könnten, dass etwas eintritt – sei es eine Naturursache, ein subjektiver Grund, ein konstituierendes Ich, eine Inszenierung, Provokation, Produktion o. Ä. Marion plädiert für die absolute »Souveränität« (CN, 281) des Ereignisses: »L’événement n’a pas de cause et ne plaide aucune cause, surtout pas la sienne. Il n’a besoin que de soi pour s’accomplir: il passe et se passe, donc il se passe de ce qui n’est pas lui-même.« (CN, 282)
Es gibt also keinen Grund des Ereignisses, außer demjenigen, den es sich selbst gibt. Das Ereignis ist bedingungslos – keine Bedingungen der Möglichkeit müssen erfüllt werden, damit es sich ereignen könnte. Kein Ich konstituiert es – es kann nur empfangen werden, so wie es sich gibt. Man kann für das Ereignis keine Naturursache finden und man kann es auch nicht auf die Inszenierung durch ein Subjekt zurückführen. Das Ereignis ereignet sich von sich selbst und so wie es sich ereignen will – es duldet keine Einschränkungen seiner Erscheinung, zum Beispiel durch Gegenständlichkeit oder Seiendheit.
3.
Die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses. Zwei Probleme
3.1. Die Selbst-Gegebenheit und die Reduktion Man muss festhalten, dass die Behauptung, dass das Ereignis ohne Ursache (im weiten Sinne des Wortes) ist, eine phänomenologische und keine ontologische Aussage ist. Das heißt: Sie behauptet nicht, dass das Ereignis wirklich keine Ursache hat, sondern dass es so erscheint, als hätte es keine Ursache. Die Möglichkeit einer Ursache wird in diesem Fall »in Klammern gesetzt« und bleibt unentschieden. Wie erscheint das Ereignis ohne Ursache? Erstens: »Der natürlichen Einstellung nach gehört es notwendigerweise zur Wirkung, nach der Ursache zu kommen.« (GS, 285/ED, 231)
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»Der reduktiven Einstellung nach sieht man überdies, dass sich die Wirkung radikal gibt, wie ein in der Kausalbeziehung anhebendes, aufbrechendes Phänomen, während sich die Ursache bestenfalls in ihrem Erscheinen durchhält, dieses zumeist aber aufhebt.« (GS, 285/ED, 231)
Das alltägliche Bewusstsein bewegt sich ständig zwischen den Ursachen und Wirkungen oder eher – wenn man es breiter fassen möchte – innerhalb bestimmter Abläufe, in denen ein Vorausgehendes und ein Nachkommendes aufeinander bezogen sind, wenn auch zwischen ihnen keine Kausalität im strengen Sinne des Wortes besteht. Man sieht ständig voraus (ausgehend von einer »Ursache«) und kehrt ständig zu dem Vorangegangenen (zur »Ursache«) zurück. Wenn der Himmel wolkig ist, erwartet man Regen. Wenn man um die Ecke geht, erwartet man das Weiterlaufen der Straße. Gibt es unterwegs einen Stau, fragt man, warum. Sieht man einen schönen Garten, denkt man an denjenigen, der ihn eingerichtet hat, oder an die formalen Voraussetzungen, die einen Garten schön machen könnten. Man verweilt eher in der Vergangenheit (bei den Ursachen, die zu dem Jetzigen geführt haben) oder antizipiert die Zukunft (für die die Ursachen jetzt geschehen), aber man ist nicht jetzt. Für dieses Bewusstsein, das durch die Retention und Protention alle Phänomene synchronisiert, d. h. gleichzeitig macht, folgt die Wirkung der Ursache. Dies gehört zur Logik der natürlichen Einstellung. Diese Logik hat ihren Grund der Möglichkeit im synchronisierenden Bewusstsein, d. h. – in der Terminologie Husserls – im inneren Zeitbewusstsein. 515 Der phänomenologische Blick kann sich dagegen nur auf die Wirkung, die in diesem Moment erscheint, konzentrieren und nicht die Ursache beachten, die einfach da ist oder auch gar nicht erscheint oder die es vielleicht gar nicht gibt. Das Ereignis ist ohne Ursache, weil man nicht die Ursache sieht und nicht nach den Ursachen sucht, weil man schlicht nicht in der wissenschaftlichen Einstellung ist. So muss man in der phänomenologischen Einstellung schlussfolgern: »Ereignisse gehen ihrer Ursache (oder ihren Ursachen) voraus.« (GS, 287/ ED, 233).
Nur irgendwann nach dem Ereignis wird nach dem Vorangegangenen (und Zukünftigen) gefragt. Wenn jemand, der mich nicht kennt und 515 Oder man kann auch wie Kant vermuten, dass die Relation Ursache-Wirkung einfach zu den apriorischen Strukturen der Erfahrung gehört – man kann nicht anders, als überall die Ursachen und Wirkungen zu sehen.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
den ich nicht kenne, mich plötzlich so anblickt, als ob wir uns seit Ewigkeit kennen würden oder als ob wir geheime Verbündete wären, so bin ich völlig auf diesen überwältigenden Blick fixiert und nicht darauf, wie es dazu gekommen ist, dass er mich jetzt so anblickt. Ich könnte das auch gar nicht, weil dieses Ereignis für mich unvorhersehbar war. Der jetzige Moment ist und war von der Vergangenheit (und auch von der Zukunft) abgeschnitten. Deswegen erreicht mich dieses Ereignis – phänomenologisch gesehen – vor jeder Ursache und lässt mich nicht aus seinem Geschehnis heraustreten und nach Gründen, nach dem Vorausgegangenen, fragen. Die Logik der natürlichen Einstellung, die diesen Moment als Teil einer Kausalität sieht und als eine Wirkung (und dann als die Ursache vom Weiteren) bestimmt, wird unterbrochen. Das Ereignis unterbricht das synchrone Bewusstsein, die Phänomenologie unterbricht die Ontologie. 516 Des Weiteren: Wenn das Ereignis sich ereignet hat, beginnt man immer, die Gründe für seine Möglichkeit zu suchen. Warum? Genau deswegen, weil die natürliche Einstellung sich wieder einschaltet, aber die Gründe nicht gleich sichtbar sind, weil sie nicht erschienen waren. Wären sie offensichtlich, müsste man nicht nach ihnen suchen. Aber diese Situation der Unwissenheit setzt sich fort – die Ursache, das Vorangegangene ist nicht erschienen und jede Ursache, die man nachträglich findet, zeigt sich als »inadäquat« für das Geschehene. Und das ist die zweite These Marions: »Als gegebenes Phänomen hat ein Ereignis keine adäquate Ursache, es kann keine solche haben. (GS, 289 f/ED, 235)
Der Grund dafür ist der, dass immer mehr geschieht, als eine Ursache (oder eine begrenzte Zahl bestimmter Ursachen) erklären könnte. 517 Kann zum Beispiel nur ein Wunsch, mich anzusehen, diese überwältigende Kraft, diese Fülle des Augenblicks erklären? Er kann höchstens das erklären, dass er mich anblickt – er kann nur diese Tatsache erklären, nicht aber das Ereignis. Weil es durchaus möglich ist, dass er Wir sehen, dass Marion das Ereignis als das charakterisiert, was keine Vergangenheit (also keine Ursache) hat. Nichts hat es bewirkt. Aber wenn wir überlegen, dass das Ereignis überhaupt aus dem Zeitfluss heraustritt, können wir vielleicht vermuten, dass das Ereignis auch ohne Zukunft ist. Natürlich hat jedes Ereignis Folgen (das gehört sogar zu seiner Logik), aber es setzt sich selbst nicht fort. Es ist nur ein Augenblick, der keine Zukunft in dieser Welt hat. Das Bewusstsein antizipiert in diesem Augenblick nichts, ist unfähig etwas zu entwerfen. 517 GS, 290 f/ED, 235 f. 516
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mich anblicken möchte, was aber nur zum bloßen Anblicken ohne Ereignis führen würde. Kann zum Beispiel eine Körperbewegung in meine Richtung aufgrund dessen, dass etwas Auffälliges in dieser Richtung wahrnehmbar wird (zum Beispiel ein Schrei), diesen Blick erklären? Natürlich nicht. Es kann wiederum nur die Tatsache, dass unsere Blicke sich gekreuzt haben, erklären, aber nicht die lebendige Fülle dieses Ereignisses. Auf dieselbe Weise kann man unendlich viele Ursachen finden, die eigentlich keine Ursachen sind – hätte sein Freund nicht danebengestanden, hätte er nicht Hunger gehabt und nicht auf einen Eisverkäufer gezeigt, in dessen Nähe aber ich mich befand, so hätte er mich nie angeblickt. 518 Marion weist genau darauf hin, dass in solchen Fällen sehr viele, eine »Überfülle« (surabondance) von Ursachen sich vermuten lassen; da sie sich aber alle als inadäquat erweisen, zeigen sie um so mehr die Souveränität des Ereignisses: »So steht es also um die Interaktion und um die nicht weiter aufzulösende Verstrickung von unendlich ineinander übergehenden Ursachen. Dennoch lässt ihre Überfülle paradoxerweise durchscheinen, dass das Ereignis von absolut keiner Ursache abhängt.« (GS, 292/ED, 237)
Das Ereignis ist ohne Ursache in dem Sinne, dass das Phänomen sich zuerst gibt, keine Ursache ihm vorausgehen lässt und mit seiner Fülle jede nachträgliche Ursache leugnet, die zwar vermutet werden kann, das Ereignis aber nicht erklärt. Dies ist seine Selbst-Gegebenheit. Hier zeigt sich aber ein Problem. Achten wir auf die Ausdrucksweise Marions. Er schreibt nämlich: »Der reduktiven Einstellung nach …« 519 Das heißt: Normalerweise fassen wir die Erscheinungen als verursacht auf, also als solche, denen etwas vorausgeht, die eine Wirkung von etwas sind, aber in der phänomenologischen Einstel518 Den Gedanken, dass jede aufgedeckte Ursache nur den Sachverhalt, nicht aber das Ereignis selbst erklären kann, formuliert Romano im folgenden, sehr gelungenen Satz: »Non que l’événement ne serait préparé ni préfiguré par rien, non qu’il n’aurait point d’ancrage dans une histoire et surgirait mystérieusement sans aucun rapport à elle; de l’événement, au contraire, on peut dire qu’il a, tout comme le fait intramondain, ses causes: mais ses causes ne l’expliquent pas, ou plutôt, si elles l’»expliquent«, ce dont elles rendent raison ce n’est précisément jamais que du fait, et non point de l’événement en son sens événemential.« (EM, 38) Für Slavoj Žižek heißt es dann: »In einer ersten Annährung erscheint das Ereignis also als Effekt, der seine Gründe zu übersteigen scheint – und der Raum eines Ereignisses ist derjenige, der von dem Spalt zwischen einem Effekt und seinen Ursachen eröffnet wird.« (Žižek, 9) 519 Im Original: »Selon l’attitude de réduction …« (ED, 231)
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lung können wir sie als selbst gebend sehen. Für diese Interpretation spricht auch der Satzteil: »Als gegebenes Phänomen hat ein Ereignis …« 520, weil das Phänomen erst durch die (dritte) Reduktion (d. h. durch die Reduktion des Phänomens auf seine Selbst-Gegebenheit) als gegeben, als selbst gebend erscheint, während vorher es auch als ein konstituiertes Objekt, also als verursacht angesehen werden kann. Dass die Gegebenheit, d. h. die Ereignishaftigkeit von der Prozedur des Phänomenologen, d. h. von seiner frei gewählten Einstellung abhängt, besagt eine der grundlegendsten Thesen von Réduction et donation und Étant donné: »Wie viel Reduktion, soviel Gegebenheit.« 521
Wir können also das Erscheinende sowohl als verursacht als auch als ohne Ursache auffassen – dies hängt davon ab, ob wir das Phänomen auf die Gegebenheit reduzieren oder nicht. Also streng genommen hängt die Möglichkeit des Ereignisses als sich selbst Gebendes von uns und nicht von ihm ab. Damit wird aber seine Selbst-Gegebenheit in Frage gestellt. Wie kann das Ereignis noch als souverän gelten, wenn wir es zu dem machen, was es ist? Dieses Problem wird noch sichtbarer, wenn es um die sogenannte »Banalität der Sättigung« geht. Während in Étant donné noch deutlich zwischen armen und gesättigten Phänomenen unterschieden wird, entwickelt Marion in Im Original: »En tant que phénomène donné, événement …« (ED, 235) »Autant de réduction, autant de donation.« Erstmals formuliert in Réduction et donation (zum Beispiel: RD, 303). Siehe auch: GS/ED, 38/23, 44/27, 104/78 f; DS, 57. Noch radikaler formuliert Marion es in einem Gespräch 1998: »Die Antwort auf Ihre Frage, ob es eine Gegebenheit ohne Reduktion gibt, lautet deshalb meinerseits eindeutig: Nein.« (RuG, 66) Die Reduktion, von der Marion hier spricht, ist natürlich eine phänomenologische – sie reduziert mithilfe der phänomenologischen Epoché etwas auf ein Phänomen im Bewusstsein und lässt es so sich zeigen, wie es ist. Marion vermutet aber, dass sowohl Husserl als auch Heidegger dieses Sich-Zeigende nicht vollständig sich zeigen ließen, sondern nur in bestimmten Grenzen, nämlich als ein Objekt im Horizont der Gegenständlichkeit bzw. als ein Seiendes im Horizont der Seiendheit. Dies bedeutet für Marion, dass sie die Reduktion nicht genügend radikal vollzogen haben, also bis zu dem Punkt, wo das Phänomen sich selbst, ohne jede Einschränkung geben könnte. Damit die Selbst-Gegebenheit endlich erreicht würde, ist nach Husserls und Heideggers Reduktion noch eine »dritte« (la troisième) Reduktion notwendig: »Für die Gegebenheit gibt es nur eine einzige Bedingung, und das ist die Reduktion. In der Reduktion gibt es einen Dreischritt: Die Erste Reduktion ist die transzendentale Reduktion, die sich auf das Objekt bezieht. Die zweite Reduktion ist die ontologische, die sich auf das Seiende richtet. Die dritte Reduktion zielt schließlich auf das Gegebene (donné).« (RuG, 65). 520 521
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nachfolgenden Jahren die These, dass alle Phänomene als gesättigt begriffen werden können, wenn man sie nur als gesättigt ansieht, also wenn man sie auf ihre Selbst-Gegebenheit, d. h. auf ihre Ereignishaftigkeit reduziert. 522 In seinem bekannten Aufsatz La banalité de la saturation (2005) schreibt er: »Auch bedeutet es a contrario nicht, dass das gesättigte Phänomen unweigerlich als seltene Ausnahmeerscheinung vorkommt, die sich auf die Randgebiete gewöhnlicher, für die Norm gehaltene Phänomenalität zurückzieht. Wenn man von der Banalität des gesättigten Phänomens spricht, dann soll, in einem ganz anderen Sinne, nahe gelegt werden, dass die Mehrzahl der Phänomene, wenn nicht sogar alle zur Sättigung veranlassen können durch den ihnen innewohnenden Überschuss der Anschauung über Begriff und Bedeutung. Mit anderen Worten, die Mehrheit der Phänomene, die in einem ersten Zugang als anschauungsarm erscheinen, könnte man nicht nur wie Gegenstände beschreiben, sondern auch wie Phänomene, deren Anschauung sättigt und jeden univoken Begriff übertrifft« (SB, 109/BS, 169).
Die Sättigung, also die Ereignishaftigkeit des Phänomens hängt von unserer Einstellung zu ihm ab. Es gibt also innerhalb Marions Phänomenologie der Gegebenheit einen gewaltigen Widerspruch zwischen der absoluten Selbst-Gegebenheit des Ereignisses und der Rolle des Phänomenologen, der offensichtlich diese Selbst-Gegebenheit ermöglicht und somit vernichtet. 523 522 Es ist zwar wahr, dass in Étant donné zwischen armen und gesättigten Phänomen unterschieden wird, aber schon hier gibt es Hinweise darauf, dass für Marion die Sättigung mehr als nur ein Charakteristikum spezieller Phänomene bedeutet, dass sie das Phänomen im Allgemeinen kennzeichnen könnte. Marion schreibt zum Beispiel, dass das saturierte Phänomen als ein »Paradigma« (paradigme) für die Beschreibung des Phänomens im Allgemeinen dienen könnte: »Zwar sind nicht alle Phänomene als gesättigte Phänomene einzuordnen, doch erfüllt sich in allen gesättigten Phänomenen das Paradigma von Phänomenalität. Besser noch: Gesättigte Phänomene allein haben das Vermögen zu deren Veranschaulichung.« (GS, 381/ED, 316; siehe auch: GS, 368 f/ED, 304 f) Was genau kann das gesättigte Phänomen in Bezug auf die Phänomenalität überhaupt »veranschaulichen« (illustrer)? Natürlich die Selbst-Gegebenheit jedes Phänomens. Jedes Phänomen gibt sich, aber insbesondere das gesättigte Phänomen zeigt, dass es sich gibt. Später vermutet Marion, dass die Sättigung eigentlich von der Gegebenheit abhängt, d. h. sie sind eigentlich ein und dasselbe. So entsteht die These von der Banalität der Sättigung. Weil jedes Phänomen sich gibt, ist es auch gesättigt. Und weil jedes Phänomen sich gibt, ist es auch ereignishaft. So spricht Marion in De surcroît von »le caractère originairement événementiel de tout phénomène« oder von »l’universalité de l’acception du phénomène comme événement« (DS, 64). 523 Es ist verständlich, dass wegen dieses Problems Marion in die Kritik geraten ist.
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Möglicherweise als ein Versuch, die These, laut deren die Gegebenheit von der Reduktion abhängig ist, zu schwächen, könnten einige andere Ausdrücke von Marion gelesen werden. In einem Text von 2003 – La raison du don 524 – spricht Marion zum Beispiel von »von Natur aus reduzierten« (naturellement réduit), »immer schon reduzierten« (toujours déjà réduit) (GG, 60/RdD, 17) 525 Phänomenen, also von solchen Phänomenen, die schon an sich ereignishaft, gesättigt sind, ohne dass sie zu solchen reduziert werden müssen. Theoretisch kann man alle Phänomene auf ihre Ereignishaftigkeit reduzieren, aber einige brauchen das nicht und bestätigen somit ihre Selbst-Gegebenheit im vollen Maße. Und in diesem Fall verwandelt sich der Phänomenologe von demjenigen, der die Reduktion vollzieht, zu dem, der sie nur bestätigt. 526 Das Ereignis wäre somit das, was sich auch als Ereignis gibt, was seine Selbst-Gegebenheit nicht einer Reduktion verdankt. Solche völlig selbstgebenden Phänomene wären
Mackinlay zum Beispiel spricht hier von »unresolvable difficulties« (Mackinlay, 112). Er beschreibt diese Schwierigkeiten folgendermaßen: »Because of the role Marion gives to the perceiving subject in forcing a saturated phenomenon to appear as an unsaturated phenomenon – or in refraining from such a reduction – saturated phenomena must once more be regarded as dependent upon the subject. This undermines Marion’s own ambition to invert the constitutive relation of Kantian subjectivity, making the recipient’s interpretation part of the very structure of phenomenality, and perhaps even reinstating a form of constitution.« (Mackinlay, 105) 524 Diesen Text hat Marion auf mehreren Tagungen in verschiedenen Versionen vorgetragen. Die letzte Version wurde 2003 als The reason of the gift in Mater Dei Institute von Dublin City University gehalten und wurde im Sammelband Givenness and God (hrsg. von Ian Leask und Eoin Cassidy. New York: Fordham University Press, 2005, S. 101–134) veröffentlicht. Inzwischen war sie auch in Frankreich erschienen: La raison du don. In: Philosophie 78 (2003), S. 1–32. Vor Kurzem ist dieser Text auch in der deutschen Sprache zugänglich: geteilt in zwei Teile (mit den Titeln Der Grund und Un-Grund der Gabe und Gabe und Vaterschaft) im Sammelband Gabe und Gemeinwohl (hrsg. von Walter Schweidler und Émilie Tardivel. Freiberg/München: Alber, 2015, S. 21–35 und 53–83). 525 Die volle Textstelle, auf die wir Bezug nehmen, lautet: »Eine auf die Gegebenheit von Natur aus reduzierte Gabe also – ein Ausnahmefall, wo die Schwierigkeit nicht darin besteht, die natürliche Einstellung um der Reduktion willen hinter sich zu lassen (um mit Husserl zu sprechen), sondern wo es darum ginge, vor einem immer schon (von Natur aus) reduzierten Phänomen sozusagen dasjenige zu rekonstituieren, von dem her das Phänomen sich reduziert findet. Welches Phänomen könnte diesen auf den Kopf gestellten Kriterien genügen, nämlich nur als immer schon reduziertes Phänomen zu erscheinen? Unser Vorschlag: die Vaterschaft.« (GdG, 60/RdD, 17) 526 DS, 59.
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dementsprechend von »künstlich« reduzierten zu unterscheiden. In der Tat schreibt Marion in Certitudes négatives: »Tous les phénomènes ne se réduisent pas à des objets, mais certains adviennent comme des événements.« (CN, 276)
Das heißt: Kein Phänomen ist ein bloßes Objekt – jedes hat seinen Grad der Sättigung. 527 Aber während bei manchen diese Sättigung durch eine bestimmte Einstellung provoziert werden muss, sind manche Ereignisse schon von Anfang an Ereignisse. Diese These wird in Certitudes négatives auch dadurch verstärkt, dass Marion in Bezug auf die Unterscheidung von Objekten und Ereignissen zwar eine »doppelte Interpretation« (double interprétation) jedes Phänomens zulässt, ihren Grund aber in der Erscheinungsweise des Phänomens selbst sucht. Das heißt: Man kann ein Phänomen sowohl als gesättigt mit Anschauung (ereignishaft) als auch als objekthaft (anschauungsarm) auslegen, aber die Interpretation ist nicht ganz so frei – sie gründet darin, wie das Phänomen sich selbst zeigt. Und es kann sich entweder als ereignishaft oder als objekthaft zeigen. Die Ereignishaftigkeit bzw. Gegenständlichkeit ist also auch etwas, was zu dem Phänomen selbst gehört und nicht von außen aufgezwungen wird: »Il ne dépend que de mon regard que même une pierre puisse, parfois, apparaître comme un événement […] ou, inversement, que même Dieu puisse parfois apparaître comme un objet […]. La distinction des phénomènes en objets et événements trouve donc un fondement dans les variations de l’intuition. Plus un phénomène apparaît comme événement (s’événementialise), plus il s’avère saturé d’intuition. Plus il apparaît comme objet (s’objectivise), plus il s’avère pauvre en intuition.« (CN, 307)
Damit also das Konzept des sich selbst gebenden Ereignisses nicht in sich widersprüchlich wäre – wie das zum größten Teil in Marions Phänomenologie der Fall ist, da er alle Phänomene als selbst gebend charakterisiert –, sollten nur diejenigen Phänomene als Ereignisse anerkannt werden, die sich von sich aus ohne Ursache geben und ihr Selbst-Gegebenheit nicht der Reduktion verdanken, d. h. nur diejeni-
527 Dass Marion von natürlich reduzierten Phänomenen spricht, die er solchen Phänomenen gegenüberstellt, die zuerst als Objekte erscheinen, heißt nicht, dass er auf seine These über die Banalität der Sättigung verzichtet. Ganz im Gegenteil: Noch 2012 in den Gesprächen mit Dan Arbib sagt Marion: »C’est une chose, il est vrai, sur laquelle j’ai dû insister et que j’ai mis moi-même un certain temps à comprendre: il y a une grande banalité de la saturation.« (RC, 150)
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gen Phänomene, die bei ihrer phänomenologisch vermuteten SelbstGegebenheit diese auch selbst bestätigen und nicht darauf warten, bis es der Phänomenologe tut.
3.2. Die Selbst-Gegebenheit und der adonné Das zweite Problem betrifft die Rolle des Bewusstseins. Während das erste Problem die Reflexion über die Bewusstseinsgegebenheiten betrifft und die aktive Rolle der Reflexion bei der Ereigniskonstitution bezweifeln will, da das Ereignis sich selbst geben soll, wird hier nach dem Bewusstsein und seiner möglichen Aktivität bei der Ereigniskonstitution gefragt. Laut Marion ist das selbst gebende Phänomen weder von einem Ich konstituiert, noch duldet es die Bedingungen der Möglichkeit seiner Erscheinung, deren Träger das transzendentale Ich ist, noch lässt es sich durch eine von außen auferlegte Normativität (zum Beispiel, dass alles als ein Objekt, ein Seiendes oder eine Wirkung erscheinen soll) einschränken. Während eine in der Reflexion gewählte Norm für die Erscheinung noch zu vermeiden wäre, indem man – wieder in der Reflexion – auf sie verzichtet, sieht es anders mit dem Ich und den Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinung für das Ich aus. Kann man überhaupt daran zweifeln, dass das Ich (es muss nicht unbedingt ein bewusstes Ich sein – es geht hier bloß um einen Ort der Erfahrung, um einen Empfänger) das Phänomen in seine Strukturen hineinzwingt, damit es so sichtbar (also im Allgemeinen erfahrbar) wird, wie das Ich es überhaupt sehen kann? Man kann auf eine gewisse Interpretation des Ereignisses verzichten, sie in Klammern setzen, aber kann man dasselbe mit dem Ich und seinen Bedingungen der Möglichkeit tun? Man könnte wie vorher argumentieren, dass es hier nicht um eine ontologische, sondern um eine phänomenologische Beschreibungsweise geht und dass für die phänomenologische Einstellung das Ereignis als solches erscheint, das nicht vom Ich konstituiert wird und das nicht ein Ich braucht, um, auf welche Weise auch immer, möglich für das Bewusstsein bzw. Un-Bewusstsein (es ist in diesem Moment unwichtig, was für einen Empfänger man annimmt) zu werden. Doch dieses Argument ist nicht möglich, denn es ist genau die Phänomenologie, die ein Ich, ein Bewusstsein voraussetzt, indem sie Bewusstseinsgegebenheiten beschreibt. Das ist keine ontologische Annahme, die man phänomenologisch reduzieren könnte, sondern eine phänomenologische Voraus342 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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setzung. Deswegen ist dieses Mal umgekehrt: Die Ontologie könnte behaupten, dass es Ereignisse ohne ein Ich gibt, nicht aber die Phänomenologie. Für die phänomenologische Einstellung ist das Ereignis ein Ereignis für ein Ich, es braucht jemanden, damit es sich ereignen könnte. 528 Doch das Ich – wenn die These von der Selbst-Gegebenheit gelten soll – darf das Ereignis nicht aktiv konstituieren, sondern höchstens nur in sich so aufnehmen, wie es sich gibt. In der Tat ersetzt Marion das aktiv konstituierende Subjekt durch den passiven Empfänger des Phänomens, den er attributaire 529 oder adonné nennt: »Im Mittelpunkt steht also keinerlei ›Subjekt‹, sondern ein Hingegebener [adonné – L. P.]. Das ist derjenige, dessen Funktion darin besteht, das zu empfangen, was sich ihm ohne Maß gibt […]«. (GS, 526/ED, 442)
Der adonné wird als die Gegenfigur zum aktiven Subjekt gedacht 530 – er konstituiert das Phänomen nicht, er empfängt nur seine SelbstGegebenheit. Insofern behält das Phänomen seine Souveränität. Doch Marion geht weiter. Und er muss weitergehen, weil er – im Gegensatz zu Levinas zum Beispiel – seine Ereignisphilosophie innerhalb einer Philosophie des Bewusstseins, nämlich der Phänomenologie aufbaut. Um das Ereignis des Anderen der konstituierenden und vereinnahmenden Macht des Bewusstseins zu entziehen, hat Levinas den Anderen als solchen bestimmt, den das Bewusstsein nie erreicht, der nie erscheint und für das Bewusstsein schon immer vergangen ist. Wenn aber Marion das Ereignis als ein Gegebenes für das Bewusstsein bestimmt, so lässt er es wieder vom Bewusstsein abhängig werden, obwohl er keine Konstitution des selbst gebenden Phänomens im Sinne Husserls zulässt. Denn auch als passiv gesetztes Bewusstsein bleibt es aktiv. Zuerst – was noch relativ harmlos ist – ist der adonné als das passiv empfangende Bewusstsein in dem Sinne aktiv, dass er überhaupt das Phänomen aufnimmt, was schon eine Aktivität darstellt: 528 Diese Struktur des Ereignisses haben wir schon bei Heidegger und Levinas gesehen. Bei Heidegger impliziert dies die These »das Seyn braucht das Da-sein« und bei Levinas der Begriff der »Innerlichkeit«, die die absolute Individualität des Betroffenen bedeutet. Es ist aber zu beachten, dass weder das Dasein, das zum Ereignis des Seins gehört, noch die Innerlichkeit, die vor dem Bewusstsein geschieht, mit dem phänomenologischen Begriff des Bewusstseins gleichzusetzen ist. Trotzdem geht es immer noch um jemanden, den das Ereignis betrifft. 529 Thomas Alferi übersetzt dieses Wort als »Zuweisungsempfänger«: GS, 413. 530 Siehe: GS, 414/ED, 344.
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»L’adonné se caractérise donc par la réception. La réception implique certes la réceptivité passive, mais exige aussi la contenance active; car la capacité (capacitas), pour s’accroître à la mesure du donné et pour en maintenir l’arrivée, doit se mettre en travail – travail du donné à recevoir, travail sur soi-même pour recevoir.« (DS, 60)
Aber dann, indem der adonné das Phänomen aufnimmt, macht er das Phänomen sichtbar. Der adonné verwandelt das Unsichtbare, das, was das Bewusstsein noch nicht erreicht hat (das radikal Andere bei Levinas), in eine Erscheinung: »Cette opération – phénoménaliser le donné – revient en propre à l’adonné, en vertu de son difficile privilège de constituer le seul donné dans lequel il y aille de la visibilité de tous les autres donnés.« (DS, 60) 531
Um jeden Verdacht zu vermeiden, dass der adonné die Konstitution des Phänomens ausübt und um die Operation zu beschreiben, die er vollzieht, vergleicht Marion den adonné mit einem »Filter« (filtre) oder »Prisma« (prisme) (GS, 436/ED, 364) – »der Filter entfaltet sich zunächst wie ein Empfangsschirm« (GS, 437/ED, 365). Der adonné ähnelt einem »Bildschirm« (écran) in dem Sinne, dass er, anfangs inaktiv, zu leuchten anfängt, wenn Teilchen auf ihn treffen. Er konstituiert das Bild nicht, sondern macht nur das sichtbar, was an sich unsichtbar auf ihm explodiert. 532 Er funktioniert auch wie ein Prisma, indem er das unsichtbare, weiße Licht bricht und es in unterschiedli-
531 Siehe auch: »Für den Zuweisungsempfänger [attributaire – L. P.] bedeutet Empfangen also nichts weniger als Gegebenheit zu vollziehen, wobei er diese in Manifestation umwandelt […].« (GS, 436/ED, 364) Ohne diese Operation seitens des Bewusstseins könnte nichts erscheinen: »Wie könnte auch etwas Prä-Phänomenales diesseits von (Bewusstseins-)Immanenz, wie könnte es vor der Empfangsfläche und vor dem Prisma auftauchen, wodurch der Hingegebene anonym Gegebenes in SichZeigendes konvertiert? […] Den Phänomenen zuvor ist nichts zu sehen bzw. vorherzusehen.« (GS, 500/ED, 365) Siehe auch: DS, 61 f. 532 Marion vergleicht den adonné mit einem Bildschirm in Étant donné (GS, 437/ED, 365) und auch später in De surcroît (DS, 61). Mit diesem Vergleich möchte er nicht nur illustrieren, wie das rezeptive Bewusstsein das Gegebene sichtbar macht, sondern auch, wie das Bewusstsein selbst entsteht, wenn das Gegebene auf es aufprallt: »Dans cette ligne, on se risquera à dire que le donné, invu mais reçu, se projette sur l’adonné (la conscience, si l’on préfère) comme sur un écran; tout la puissance de ce donné vient comme s’écraser sur cet écran, provoquant une double visibilité d’un coup. a) Celle du donné bien sûr […]. […] b) Mais la visibilité surgie du donné provoque de pair la visibilité de l’adonné. En effet, l’adonné ne se voit pas lui-même avant de recevoir l’impact du donné.« (DS, 61)
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chen Farben sichtbar werden lässt. 533 Ist aber die Verwandlung in das Sichtbare keine Verwandlung des Gegebenen für das Bewusstsein? Ist das rote Licht nicht etwas anderes als das weiße? Marions These ist auch, dass das Bewusstsein nicht nur das Phänomen nicht konstituiert, sondern eher selbst vom Phänomen konstituiert wird – es empfängt sich selbst durch das, was sich gibt: »Allerdings geht der Zuweisungsempfänger seiner prismatischen Bedeutung entsprechend nicht dem voraus, was er formt. Er resultiert daraus. […] Er empfängt sich in exakt dem Augenblick, wo es das, was sich gibt, empfängt, um sich endlich, dank seines eigenen Empfangens, zu zeigen.« (GS, 437/ED, 365) 534
Das Bewusstsein also hätte nichts und wüsste nicht von sich selbst, wenn das Selbst-Gebende sich nicht gegeben hätte. Dies heißt allerdings nicht, dass deswegen der adonné das Gegebene nicht auf eine ihm eigentümliche Art und Weise sichtbar werden lässt. Wenn der adonné das Phänomen sieht, sieht er so, wie er das Phänomen sehen kann, also er konstituiert es gewissermaßen. Wenn wir uns an die Argumentation Levinas’ erinnern, hat er gezeigt, dass das, was im Bewusstsein gelandet ist, seine Andersheit verloren hat und zum Bewusstsein geworden ist. Das Bewusstsein ist an sich eine Institution, die verwandelt. Nichts im Bewusstsein hat noch seine Selbst-Gegebenheit. Es ist also unmöglich zu behaupten, dass der adonné als die Passivität und trotzdem das Bewusstsein, die das Selbst-Gebende sichtbar macht, noch etwas mit der Selbst-Gegebenheit zu tun hat und keine Einschränkungen dem Ereignis auferlegt. 535 Es legt dem Ereignis eine fundamentale Einschränkung auf, es bedingt es – damit
533 »On pourrait songer aussi au modèle d’un prisme qui arrête la lumière blanche, jusque-là invisible, et la décompose en un spectre de couleurs élémentaires, elles enfin visibles.« (DS, 61) 534 Siehe auch: DS, 61. 535 Aber Marion schreibt genau das Gegenteil: »Denn im Bereich von Gegebenheit hat das Phänomen des Anderen erstmalig nichts mehr von einer extra-territorialen Ausnahme gegenüber der Phänomenalität an sich, sondern es gehört ihr mit vollem Recht, wenn auch als Paradoxie (gesättigtes Phänomen) an. Den Anderen zu empfangen, dies ist zunächst gleichwertig damit, Gegebenes zu empfangen und sich daraus zu empfangen. Zwischen dem Anderen und dem Hingegebenen steht kein prinzipielles Hindernis mehr.« (GS, 527/ED, 442) Marion ist also der Ansicht, dass durch seine Einführung eines passiven Bewusstseins er dem Anderen ermöglicht, im Bewusstsein zu erscheinen und trotzdem unangetastet vom Bewusstsein zu bleiben. Genau dies ist äußerst fraglich.
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es das Ereignis für das Bewusstsein gibt (was davor geschieht, steht außerhalb der Betrachtung, insofern es sich hier um eine Phänomenologie handelt), muss es sichtbar werden. Sollte die Selbst-Gegebenheit sich vollziehen können, so musste sie auch von den Schranken des Sichtbaren befreit werden. Marion ist sich dieses Problems bewusst, deswegen schreibt er: »Denn die beiden in unseren Augen unstrittigen Thesen (Gegebenheit kennt keine Ausnahme, alles Sich-Zeigende gibt sich) 536 führen nicht zwangsläufig dahin, dass sich ein universelles Manifestieren, ohne Rest und ohne Einschränkung, einstellt. […] Soll sich alles Sich-Zeigende zunächst geben, dann tritt gelegentlich der Fall ein, bei dem Sich-Gebendes – trotz allem – nicht zu seinem Sich-Zeigen gelangt. […] Derjenige, der die Phänomenwerdung von Sich-Gebendem ins Werk setzt, muss nämlich ein Gegebenes beleuchten, das sich ausgehend von seinem irreduziblen Sich vollzieht und sich daher zuweilen, ja sogar oft, nicht auf die Empfangskapazität des Hingegebenen einstellen und dessen Grenzen überschreiten kann. […] Da Endlichkeit nun aber den Hingegebenen wesenhaft bestimmt, vermag er – per definitionem – Gegebenes, so wie es sich gibt, d. h. grenzenund restlos, nicht adäquat zu empfangen. Und deshalb kann auch die Endlichkeit, insofern sie auch in der vom Hingegebenen ins Werk gesetzten Phänomenwerdung liegt, zwangsläufig nicht all das, was an diesen herantritt, sichtbar machen.« (GS, 507/ED, 425)
Der adonné ist also per definitionem endlich und wenn er etwas fasst – wenn er also etwas sichtbar macht, d. h. wenn er sich etwas bewusst wird –, schränkt er dieses ein. Sollte die Selbst-Gegebenheit stattfinden können, so sollte sie eine solche sein, die ein Ich nicht sieht, die es nicht in sich, in seinem Bewusstsein, haben kann, die es nicht ein536 Die zwei hier erwähnten Thesen sind grundlegend für Marions Phänomenologie. Die eine (»Gegebenheit kennt keine Ausnahme«) besagt, dass alles, was uns erreicht, sich uns gegeben hat. Es gibt nichts, was nicht gegeben ist: »[…] nichts ist, kommt an, erscheint oder affiziert uns, es sei denn, es erfüllt sich jeweils und notwendig als Gegebenheit.« (GS, 105/ED, 79 f) Die andere (»alles Sich-Zeigende gibt sich«) besagt, dass alles was die Phänomenalität, d. h. das Bewusstsein erreicht, sich zuerst gegeben hat. Wir haben schon erwähnt, dass noch in Étant donné auch die Gegenrichtung gilt, nämlich dass das, was sich gibt, sich auch zeigt: »Sich geben kommt somit dem sich zeigen gleich. Was sich gibt, zeigt sich.« (GS, 131/ED, 101 f) In De surcroît gilt die Gegenrichtung nicht mehr (DS, 38). Auch im Vortrag 2008, veröffentlicht im Sammelband von Marions Vorträgen – The Reason of the Gift –, sagt Marion: »[…] everything that shows itself must first give itself (even if everything that gives itself nevertheless does not show itself without remainder) […].« (RoG, 19) Diese Verschiebung ist sehr wichtig, weil sie das Phänomen von den Schranken der Sichtbarkeit befreit.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
holen, ergreifen kann und die sich ihm trotzdem gibt. 537 Dieses Unsichtbare, diesen »Rest« (reste) der Selbst-Gegebenheit, den der Empfänger in seiner Eingeschränktheit nicht aufnehmen kann, nennt Marion in De surcroît l’invu (»das nicht Gesehene«): »Par ›invu‹, nous entendons purement et simplement ce qui, de fait, ne parvient pas ou pas encore à la visibilité, alors que je pourrais de droit l’expérimenter comme un possible visible.« (DS, 137)
Dieses Invu unterscheidet Marion vom Nicht-Gegenwärtigen und trotzdem Mit-Gegebenen, das schon die Husserlsche Phänomenologie kennt. Der Unterschied liegt darin, dass das Unsichtbare bei Husserl das Unsichtbare eines Objekts ist: Es ist die andere Seite eines Gebäudes, die schon das Bewusstsein erreicht hat bzw. die noch nicht im Bewusstsein gegenwärtig war: »Il s’agit donc de faire droit à un invisible qui ne se réduise pas à l’invu, s’en distingue et le préserve. Or, l’invu résulte de ce que l’intentionnalité de l’objet ne peut (et sans doute ne doit pas) donner sens à tous le vécus et toutes le esquisses pourtant à elle donnés.« (DS, 140)
Das Invu für Marion ist das Gegebene als solches, aus dem das Bewusstsein etwas herausgreifen und sehen kann. Das Invu bildet nicht einen Teil der Gegenstandskonstitution, sondern gibt sich vor jeder Konstitution eines Objekts und bleibt während des Sichtbarwerdens von etwas ein unerreichbarer und trotzdem gebender Hintergrund dieses Sichtbarwerdens, das allerdings nicht mit einer Konstitution 537 Dies ist der Streitpunkt in der Diskussion über die Grenzen der Phänomenologie und ihr Verhältnis zur Theologie – in der Diskussion, die vor allem seit Dominique Janicauds Buch Le tournant théologique de la phénoménologie française (1991) am Laufen ist. Die Frage ist: Wenn die Phänomenologie behauptet, dass es etwas Unsichtbares, ein unangetastetes Anderes gibt, ist dies dann nicht die Setzung einer ontotheologischen Transzendenz und damit die Überschreitung der Grenzen der Phänomenologie? In der Tat nicht unbedingt: Es geht um eine Erfahrung des Unerfahrbaren und nicht um seine ontologische Setzung. Es gibt Erfahrungen, die unbegreiflich sind, und insofern die Phänomenologie solche Erfahrungen beschreibt, überschreitet sie noch nicht die Grenzen der Phänomenologie. Das ist unser Standpunkt zu dieser Frage. Zu dieser Diskussion siehe u. a. folgende Literatur, die direkt dem Buch Le tournant théologique de la phénoménologie française folgte: Jean-François Courtine (Hrsg.): Phénoménologie et théologie. Paris: Criterion, 1992; Janicaud, Dominique: La phénoménologie éclatée. Paris: Éclat, 1998; Faulconer, James E. (Hrsg.): Transcendence in Philosophy and Religion. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press, 2003; Jonkers, Peter und Welten, Ruud (Hrsg.): God in France. Eight Contemporary French Thinkers on God. Leuven/Paris/Dudley(MA): Peeters, 2005.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
gleichzusetzen ist. 538 Da aber dieser Hintergrund unaufhörlich gibt, wird es mehr und mehr auch Sichtbares, sodass man vom »Sichtbaren in Überschreitung« (le visible en excès) (DS, 137) sprechen kann. Der Exzess des Sichtbaren zeigt unvergleichlich mehr als ein Objekt je zeigen kann. 539 Wenn auch im Falle eines Ereignisses ein Betroffener notwendig ist, um überhaupt die Betroffenheit feststellen und eventuell phänomenologisch beschreiben zu können, konstituiert er das Ereignis nicht, sondern empfängt es nur. Mehr noch: Er ist sogar nicht in der Lage, das Ereignis in sich aufzunehmen, es sich anzueignen und zu begreifen. Er wird von etwas Größerem betroffen als er selbst ist. Wenn das Ereignis geschieht, hat man immer das Gefühl: »Das ist Man muss aber beachten, dass das invu eine spätere Lösung des hier zu behandelnden Problems darstellt. Zu dieser Zeit wird auch behauptet, dass nicht alles, was sich gibt, sich zeigt. In Étant donné herrscht noch die These, dass beide Richtungen dieser Formel gelten – alles, was sich zeigt, gibt sich, und alles, was sich gibt, zeigt sich. Und obwohl Marion in der oben angeführten Passage zugibt, dass die Sichtbarkeit eine Einschränkung für die Gegebenheit sein könnte und deswegen von ihr befreit werden muss, entwickelt er trotzdem im nächsten Stritt die These, dass die Tatsache, dass die Gegebenheit nicht zur Sichtbarkeit gelangt, im Willen (vouloir) des Empfängers liegt, der die Gegebenheit nicht zur Sichtbarkeit bringen will (GS, 514/ED, 431). Das bedeutet, dass Marion den Grund einer eventuellen Unsichtbarkeit nicht in einem Befreiungsversuch des Phänomens, sondern in dem Nicht-Wollen des Empfängers sieht. Und das heißt wiederum, dass, theoretisch gesehen, alles Gegebene sichtbar werden könnte, wenn nur der adonné das wollte. Alles hängt vom adonné ab und damit wird die Selbst-Gegebenheit des Phänomens wieder in Frage gestellt. Sollte sie befreit werden, soll das Unsichtbare behauptet werden. 539 Dieses Nicht-Gesehene muss nicht nur vom Unsichtbaren eines Gegenstandes unterschieden werden. Es ist auch nicht dasselbe wie das Unsichtbare (l’invisible) eines Bildes, einer Ikone, mit dem sich Marion in L’idole et la distance (1977) oder Dieu sans l’être (1982) beschäftigt und das er auch später thematisiert, wenn er zum Beispiel vom Antlitz (als Ikone) spricht. Das Unsichtbare einer Ikone ist das, was über das Sichtbare hinausführt, es ist die Tiefe des Sichtbaren, die eine Dimension eröffnet, die nicht abgebildet werden kann. Das Invu dagegen ist etwas vor dem Sichtbaren, das Mehr des Sichtbaren, die Quelle, aus dem das Sichtbare schöpft, die Gegebenheit. In La croisée du visible (1991) unterscheidet Marion: »Das Ungesehene ist nicht gesehen, genau wie das Ungehörte nicht gehört, das Ungewusste nicht gewusst, das Unberührte nicht berührt und sogar wie das Ungenießbare nicht genießbar ist. Das Ungesehene rührt sicher vom Unsichtbaren her, lässt sich mit diesem aber nicht verwechseln, da es dieses übertreten kann, gerade indem es sichtbar wird. Während das Unsichtbare auf immer ein solches bleibt […], zeigt das Ungesehene – das nur provisorisch Unsichtbare – seinen ganzen Anspruch auf Sichtbarkeit, um darin manchmal auch zwangsläufig einzubrechen. Das Ungesehene gibt keine Ruhe, um nur im Sichtbaren aufzutauchen.« (ÖS, 48/CV, 51) 538
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nicht meines, das kommt nicht von mir; es ist etwas, was auf mich zukommt, was mir geschenkt wird«. Dieses Gefühl ist die Art und Weise, wie sich die Selbst-Gegebenheit des Ereignisses, insofern es nicht von einem Ich konstituiert wird, zeigt. Aber nicht nur das: Der Betroffene fühlt sich unfähig zu begreifen, was geschehen ist. Das Ereignis ist wie Sand, der zwischen den Fingern fließt und von dem man nur einzelne Körner in der Hand behalten kann, die aber nichts vom Ereignis als Ganzem verraten. Das Ereignis ist immer mehr, als man behalten, fest in der Hand haben kann. Es ist so, weil es sich nie den Einschränkungen unserer Erfahrungsfähigkeit, unserem begrifflichen Verständnis unterwirft – es sprengt jede Einschränkung, die wir ihm entweder in der Reflexion oder durch unsere natürliche Beschaffenheit auferlegen. Es gibt mehr, als wir mit unseren Einschränkungen fassen können. Deswegen sagt Marion, dass es im Exzess (excès)einen Zusatz (surcroît) gibt.
4.
Das unmöglich mögliche Ereignis
Dass das Ereignis ohne Ursache gibt, heißt, dass nichts es bewirkt. Nichts im weitesten Sinne des Wortes geht ihm voraus, das auch im geringsten Maße zu ihm führen könnte. Keine mögliche nachträgliche Ursache kann es erklären. Rückblickend, wenn man alles Vorausgegangene durchsucht, stellt das Ereignis etwas dar, was man – aufgrund der Erkenntnis des Vorausgegangenen – nicht vorhersehen konnte. Mit anderen Worten: Rückblickend erscheint es als unmöglich. Im Moment vor dem Ereignis, war es nicht möglich: »Ils ne peuvent pas se prévoir, puisque leurs partielles causes non seulement restent toujours insuffisantes, mais ne se découvrent qu’une fois le fait accompli de leur effet. D’où il suit que leur possibilité, ne pouvant se prévoir, reste à strictement parler une impossibilité au regard du système des causes antérieurement répertoriées.« (DS, 45) 540
540 Siehe auch: GS, 297 f/ED, 243 f. Oder: »Comment définir l’événement? Comme l’impossible, ce qui n’était pas possible ou pensable avant d’apparaître effectif, donc comme ce qui se fait effectif sans pour autant avoir été jamais pensable […].« (RC, 270) Oder auch: »Aussi bien nous apparaît-il au fond toujours comme impossible, voire comme l’impossible, puisqu’il n’appartient pas au domaine du possible, de ce que nous pouvons.« (CN, 282)
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Um die »Unmöglichkeit« (impossibilité) des Ereignisses zu verstehen, muss man zuerst fragen, was überhaupt »möglich« heißt. Üblicherweise und auch in der Metaphysik, gilt als möglich dasjenige, was unter Umständen wirklich werden kann. Es ist nichts Notwendiges, das unbedingt eintreffen muss, aber es kann zur Aktualität werden. Es ist sehr wichtig zu merken, dass das Mögliche etwas ist, von dem man weiß, dass es möglich ist. Es ist folglich etwas, was man kennt, was man schon begriffen hat, das aber noch nicht zur Wirklichkeit geworden ist: »Umgekehrt ließe sich Möglichkeit (im Wesen) als eine Existenz definieren, die bereits vollständig begriffen ist und nur noch auf ihre Bewirkung wartet.« (GS, 298/ED, 243)
Was möglich ist, kann man auf unterschiedliche Art und Weise bestimmen. Man kann sich auf bestimmte, schon entdeckte Gesetzmäßigkeiten, Präzedenzfälle, im Voraus definierte Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung o. Ä. stützen. Es ist möglich, dass irgendwann ein Meteorit die Erde trifft. Ein Baum ist möglich. Auch der Niedergang einer Kultur ist möglich, genauso wie die wahre Liebe. Wenn das Mögliche etwas schon Vorbegriffenes ist, was aktuell werden kann, so ist das Ereignis das Unmögliche. Diese Behauptung fordert allerdings einige Erläuterungen. Erstens ist es richtig, dass das Ereignis nicht schon im Voraus antizipiert werden kann, aber nur im Sinne, dass es den gewöhnlichen Ablauf der Dinge, in dem die Dinge einander folgen und zu einander führen, unterbricht. Das bedeutet, dass das Ereignis ganz allgemein doch als möglich gelten kann, sein konkretes Eintreffen bleibt aber reine Selbst-Gegebenheit und deswegen unmöglich. Der Ausbruch eines Bürgerkrieges war durchaus möglich, aber dessen Ausbruch in der Ukraine 2014 war vorher unmöglich. 541 Es kann natürlich auch geschehen, dass das Ereignis nicht etwas schon Mögliches unvorhersehbar eintreffen lässt, sondern mit seinem Auftauchen ohne Ursache eine ganz neue Möglichkeit eröffnet. Der erste Bürgerkrieg war ein Deswegen sagt Badiou, dass man das Ereignis »nur denken kann« – man kann nämlich um das Ereignishafte nur abstrakt wissen, die Vorhersage genauso wie die Beobachtung seiner Verwirklichung ist aber unmöglich: »Es ist das Ereignis, welches auf einer Begriffskonstruktion beruht, und zwar in dem doppelten Sinne, dass man es nur denken kann, indem man seine abstrakte Form antizipiert, und dass man es nur in der Rückwirkung einer eingreifenden und selbst vollkommenen reflektierten Praxis bewahrheiten kann.« (SE, 205/EeE, 199)
541
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Ereignis in diesem Sinne. Wenn Husserl vom Ursprung des Abendlandes durch die Entstehung der Philosophie oder Heidegger vom Ereignis des Seins als Ursprung der Metaphysik und somit auch der abendländischen Welt spricht, so geht es hier um ein solches radikales Ereignis, das eine Möglichkeit erst eröffnet. Wenn es also richtig ist, dass das Mögliche das schon Antizipierte, aber noch nicht Wirkliche darstellt, das Unmögliche dagegen das nicht Vorgreifbare ist, so kann das Ereignis als unmöglich im zweifachen Sinne des Wortes gelten. Entweder ist es radikal unmöglich, indem es mit seinem Auftauchen eine völlig neue Möglichkeit eröffnet, oder ist es unmöglich in dem Sinne, dass es das Mögliche unvorhersehbar wirklich werden lässt. Zweitens ist das Ereignis unmöglich noch in einer dritten Bedeutung. Das Ereignis kann unmöglich bleiben sogar dann, wenn es vorher antizipiert wurde. Wie ist das möglich? Dadurch dass die Vorhersage begrifflich geschieht, sie ist eine Operation des Denkens. Die Wirklichkeit, die geschieht, ist aber – wenn wir uns an Levinas erinnern – radikal vom Denken different. 542 Das, was das Bewusstsein vorgreifen kann, entspricht eigentlich nie dem, was wirklich geschieht, auch wenn es dieses Geschehnis vermeintlich vorhersieht. Ich kann vorhersehen, dass ich im nächsten Augenblick noch einen Schluck Tee zu mir nehmen werde, aber kann ich in meinem Bewusstsein das Trinkerlebnis selbst schon antizipieren, als ob ich in meinem Denken den Tee schon wirklich trinken würde? Ich kann nur die Tatsache, dass ich den Tee trinken werde, nicht aber diesen lebendigen Augenblick vorhersehen. Für das Denken, das aufgrund des Vorausgegangenen (nämlich, dass ich am Tisch sitze, eine Tasse Tee vor mir habe und schon ein paar Schlucke genommen habe) vorhersieht, dass ich noch einen Schluck trinken werde, bleibt die lebendige Gegenwart unvorhersehbar und in diesem Sinne unmöglich, auch wenn es einiges (nämlich dass ich den Tee trinken werde) vorhersehen kann. Dies ist damit zu erklären, dass das Ereignis immer mehr gibt, als die Tatsache enthalten kann, also als das Ich erfahren, begreifen und denken kann. 543 542 Deswegen wäre es eigentlich völlig falsch, das Mögliche mithilfe der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit mithilfe der Möglichkeit zu definieren, da sie radikal unterschiedlich voneinander sind. Das Mögliche ist nicht noch nicht aktuell gewordene Wirklichkeit, sondern das, dem als etwas Gedachtem die Wirklichkeit schon per definitionem entzogen ist. 543 In diesem Sinne ist laut Marion Gott (und eigentlich auch jedes gesättigtes Phänomen) für den Menschen unmöglich. Der Mensch hat den Namen »Gott«, kann ihn
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Das Mögliche ist noch nicht realisierte Aktualität. Dadurch dass das Ereignis sich dem jeweiligen Horizont des Möglichen entzieht, indem es entweder überhaupt etwas Neues anbietet oder in einem bestimmten Kontext nicht ahnen lässt, oder einfach etwas mehr und anders gibt, als man antizipieren kann, gilt es rückblickend als unmöglich. Doch merkwürdigerweise behält das Ereignis die Auszeichnung des Unmöglichen auch dann noch, wenn es gerade eintrifft, also möglich (und in derselben Zeit auch wirklich) wird, oder schon eingetroffen ist. Marion gibt uns ein äußerst spannendes Beispiel dafür: »Ainsi, les attentats du 11 septembre 2001 n’étaient (apparemment) pas prévisibles. Or, quand ce quelque chose d’imprévisible se produit effectivement, comme il paraît a priori que nos concepts ne peuvent pas le concevoir, il relève de l’impossible, puisque le possible équivaut au concevable, au cogitabile. Des lors, le principe métaphysique selon lequel ne devient pas effectif que ce qui est d’abord possible se trouve invalidé. Ici devient effectif quelque chose dont nous disons, même une fois qu’il est effectué: ›Ce n’est pas possible!‹ L’événement reste en dehors de l’horizon de notre possible, même et parce qu’il s’avère pourtant effectif. Le 11 septembre, quand les tours s’écroulaient (je me trouvais ce matin-là devant la télévision au milieu de mes étudiants à Boston College, dans la ville d’où les terroristes prirent leur vol), chacun voyait bien qu’elles s’écroulaient, rien n’était plus effectif et, en même temps, nous disions que cela était impossible. Pourquoi? Nous voulions dire: inconcevable, sans concept adéquat à l’énormité (en tant qu’absence de norme) de l’intuition. Dans un tel événement, il se passe donc une chose très étrange: une fois cet impossible devenu effectif, il reste impossible d’en concevoir la possibilité, mais il devient pourtant possible de redéfinir le champ du possible à partir de lui.« (RC, 145 f)
Wie wir aus dieser Passage entnehmen können, vermutet Marion für diese Situation, nämlich dass das Ereignis auch nach der Verwirklichung trotzdem unmöglich bleibt, zwei Erklärungen. Erstens liegt es an dem Exzess, an der Saturierung des Phänomens. In einem Moaber nie anschauen, oder begreifen, weil Gott mehr ist, als unsere eingeschränkte Erfahrung erfahren oder unser eingeschränktes Denken denken kann. Diese Unmöglichkeit bedeutet aber auf keinen Fall die Nicht-Existenz Gottes. Wenn es Gott gibt, muss er unmöglich für den Menschen sein. Vielleicht muss auch seine Existenz unmöglich für den Menschen erscheinen. Gott ist »das dem Menschen Unmögliche«. Siehe dazu Marions Aufsatz: L’impossible pour l’homme – Dieu (In: Conférence 18 (2004), S. 329–369). Die deutsche Übersetzung: Das dem Menschen Unmögliche – Gott ist im Sammelband Unmöglichkeiten (hrsg. von Ingolf U. Dalferth, Philipp Stoellger und Andreas Hunziker. Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, S. 233–263) zu finden. Siehe auch das zweite Kapitel von Certitudes négatives: Le propre de Dieu.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
ment geschieht so unfassbar vieles (nicht unbedingt im quantitativen Sinne), dass man es nicht begreifen kann. Das Mögliche ist, wie schon erläutert, per definitionem etwas im Denken begrifflich Erfasstes. Der Begriff des Möglichen lässt sich einfach nicht auf die Lebendigkeit und Fülle der Wirklichkeit anwenden. Das Denken begreift die Tatsache des Einsturzes und noch viele andere Tatsachen, nicht aber das Ganze des Moments, insofern es hier und jetzt geschieht. In diesem Sinne sollte man sagen, dass das Leben überhaupt für das Denken unmöglich erscheint. Das Leben versetzt das Denken in Erstaunen. Und je mehr man denkt, desto unmöglicher ist alles, weil genau in dieser Spannung zwischen dem Versuch, zu begreifen, und der Lebendigkeit die Lebendigkeit ihre Unbegreiflichkeit zeigt. Zweitens könnte die Erklärung darin liegen, dass man im Fall eines Ereignisses eigentlich mit zwei Begriffen des Möglichen manipuliert. Es gibt die metaphysische Möglichkeit und die des Ereignisses. Die metaphysische Möglichkeit ist vorausbestimmt. Tritt etwas unvorhersehbar ein, ist es unmöglich – also unmöglich im metaphysischen Sinne des Wortes. Doch man kann auch nicht leugnen, dass das Ereignis möglich und wirklich wird: »Selbstverständlich ist die Möglichkeit des Ereignisses prinzipiell anders als nach dieser metaphysischen Auffassung zu beschreiben.« (GS, 298/ED, 243)
Welche Art der Möglichkeit charakterisiert das Ereignis, wenn es doch metaphysisch unmöglich bleibt? Es ist nicht die Möglichkeit, die vor dem Wirklich-Werden vorausbestimmt ist, sondern solche, die erst dann entsteht, wenn das Ereignis schon aktuell geworden ist, eine solche also, die das Unmögliche möglich macht: »So findet die Phänomenologie am Leitfaden des gesättigten Phänomens zu ihrer äußersten Möglichkeit. Dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit, die die Wirklichkeit übersteigt, sondern auch um die Möglichkeit, die die Bedingungen der Möglichkeit selbst übersteigt, also: um die Möglichkeit unbedingter Möglichkeit oder, anders gesagt: um die Möglichkeit des Unmöglichen, um gesättigte Phänomene.« (GS, 368/ED, 304) 544 544 Siehe auch: GS, 299/ED, 243 f, CN, 288 f, RC, 271. Darauf, dass die Möglichkeit des Ereignisses anders als die klassische Interpretation der Möglichkeit zu denken ist und dass das Ereignis nicht ein Mögliches wirklich macht, sondern eine Möglichkeit erst schafft, weist auch Derrida hin. In demselben Jahr, in dem Étant donné veröffentlicht wurde, sagt er im Seminar Dire l’événement, est-ce possible? Folgendes: »Um zum
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
Das Ereignis macht sich selbst möglich, indem es unvorhersehbar und ohne Ursache wirklich wird. Also von einer Seite ist es unmöglich, von anderer Seite – möglich, wobei es nur dann als ein Ereignis möglich ist, wenn es für die Metaphysik als unmöglich erschient. Seine Möglichkeit liegt in seiner Unmöglichkeit: »Für denjenigen, der sich aber dem, was sich als Sich-Gebendes zeigt, aussetzt, bezeichnet diese Unmöglichkeit die Möglichkeit von Phänomenalität selbst.« (GS, 299/ED, 244)
Das Ereignis ist also unmöglich möglich, und als solches tritt es immer auf.
5.
Die fünf Bestimmungen des sich selbst gebenden Ereignisses
Das Ereignis ist das Sich-selbst-Gebende – keine Institution bringt es hervor. Es ist das Unmögliche des Grundes – kein begriffliches Voraus- oder Rückgreifen kann seine Fülle begreifen. Diese sind manche der Strukturen des Ereignisses, die wir in den Texten Marions aufdecken können. Aber auch Marion selbst gibt uns einige Strukturen des Gegebenen an, insofern es seine Selbst-Gegebenheit entfaltet. Diese Strukturen werden als »Bestimmungszüge« (déterminations) des Gegebenen im dritten Buch von Étant donné behandelt. Das Gegebene wird hier durch fünf solche Bestimmungen charakterisiert: Anamorphose (anamorphose) (§ 13), Eintreffen (arrivage) (§ 14), vollendetes Faktum (fait accompli) (§ 15), Vorfall (incident) (§ 16) und Ereignis (événement) (§ 17). Wir haben schon gesehen, dass die Ereignishaftigkeit als Selbst-Gegebenheit die anderen Bestimmungen »in sich vereint« und als die »äußerste Bestimmung gegebener Phänomene« gilt. Das heißt: Jede Bestimmung des Gegebenen ist die Bestimmung des Ereignisses, und immer, wenn wir das Gegebene beschreiben, beschreiben wir das Ereignis. Dementsprechend werden Schluss zu kommen und Ihnen das Wort zu überlassen, würde ich sagen, dass diese Reflexion über das Möglich-Unmögliche […] uns dahin führen müsste, den ganzen Wert der Möglichkeit, der die philosophische Tradition des Abendlands kennzeichnet, neu zu denken. […] Man muss hier vom un-möglichen Ereignis sprechen. Von einem Un-Möglichen, das nicht nur unmöglich, nicht nur das Gegenteil des Möglichen ist, sondern gleichermaßen die Bedingung oder die Chance des Möglichen. Von einem Un-Möglichen, das die Erfahrung des Möglichen selbst ist.« (UES, 40 f/IDE, 100 f)
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
wir weiter die ersten vier Bestimmungen des Gegebenen als die Bestimmungen des Ereignisses, dessen Hauptmerkmal – die Selbst-Gegebenheit – wir bereits behandelt haben, analysieren.
5.1. Die Anamorphose Das gegebene Phänomen vergleicht Marion mit einer Anamorphose. Der Begriff der Anamorphose, der ursprünglich ein ästhetischer Begriff ist und ein Bild bezeichnet, das nur unter einem bestimmten Blickwinkel zu sehen bzw. zu erkennen ist, kann uns Marions Meinung nach einiges über das gegebene Phänomen als solches verraten: »Diese ästhetische Vorlage bietet nun aber Analogien, um die Phänomene zu bestimmen, die sich nur insoweit zeigen, als sie sich geben.« (GS, 221/ ED, 175)
Bei der Anamorphose wird der Blick in eine Situation versetzt, wo er etwas sieht und gleichzeitig anerkennen muss, dass das, was er sieht, nicht das ist, was sich zeigen will. Die Anamorphose lässt den Blick nicht bei dem bleiben, was er sieht, sondern zwingt ihn, das zu suchen, was sich gibt und nicht von Anfang an sichtbar ist. Es ist eine Situation, wo sich die Selbst-Gegebenheit des Bildes vollzieht; wo das Bild den Blick seiner Macht unterwirft; wo es sichtbar wird, wenn es den Blick nicht mit sich selbst zufrieden sein lässt und zu seiner Selbst-Gegebenheit führt: »Wenn sie so in ihrer Endform eingefasst sind, dann erscheinen Phänomene nicht mehr ab dem Zeitpunkt, wo ich meine Augen öffne und sie darauf in der Weise richte, wie man einen Gegenstand vor den ihn herstellenden Blick zitiert. Das Umgekehrte ist der Fall: Phänomene treten auf, wenn mein Blick den Anforderungen der Perspektive, folglich dem Selbsterscheinen dessen, was sich von selbst her zeigt, genügt.« (GS, 223/ED, 176)
Folglich ist das Ereignis eine Anamorphose – es gibt sich selbst, es zeigt sich selbst und ist deswegen nie in einem Augenblick fassbar. Nur das, was das Bewusstsein selbst konstituiert hat, ist für es auch gleich erkennbar. Das Ereignis kommt dagegen von »anderswoher« (ailleurs) (GS, 223/ED, 176), d. h. von sich selbst und lässt sich somit suchen, und es wird erst (zumindest teilweise) sichtbar, wenn man ihm folgt. Das Ereignis ist immer eine Situation des Suchens, des Folgens dem, was geschieht. Wie vor einer Anamorphose der Be355 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
trachter sich bemühen muss, um das bestimmte Bild zu sehen, so bemüht sich der von einem Ereignis Betroffene zu verstehen, was mit ihm geschehen ist, was sich ihm gegeben hat. 545 Die Situation des Suchens entsteht aber dadurch, dass das Phänomen sich selbst gibt, d. h. dadurch, dass das Phänomen eine Macht über den Betroffenen ausübt. Als Anamorphose kommt das Phänomen selbst zum Betroffenen, es zwingt sich auf. Diese mächtige Gegebenheit nennt Marion »Kontingenz« (contingence) (GS, 223/ED, 177), die allerdings nicht direkt (wohl aber indirekt) die Zufälligkeit im Gegensatz zur Notwendigkeit, sondern eher die Auf-fälligkeit, wenn etwas (unvorhersehbar) auffällt und zu sich zieht, bedeutet: »Worauf weist eine solche Kontingenz hin? Bevor Kontingenz einfach den Gegensatz zu Notwendigkeit aussagt, spricht sie von dem, was mich berührt, was mich erreicht und somit was bei mir (im Sinne des lateinischen Ausdrucks) ankommt oder (im Sinne des deutschen) was ›einfach so fällt‹, also ›was auf mich drauf fällt‹.« (GS, 224/ED, 177)
Marion unterscheidet drei »Figuren« (figures) der Auf-fälligkeit, d. h. der Art und Weise, wie das Phänomen sich aufzwingt: »Entweder Phänomene treffen bei mir ein, oder sie kommen mir zu, oder sie stellen sich in mir ein (und imponieren mir).« 546 (GS, 224/ED, 177) Welche Weise der Auf-fälligkeit das Phänomen aufweist, hängt von seiner Beschaffenheit ab. Das, was einfach »eintrifft«, »ankommt« (arrive), ist jedes »Bewusstseinserlebnis« (vécu de conscience) und jeder »erlebniseigene Intentionalgegenstand« (objet intentionnel des 545 In Bezug auf diese Situation, wo der Betroffene sich gezwungen fühlt, dem Phänomen zu folgen und es aufzunehmen, spricht Marion von der »Annehmbarkeit« (recevabilité) (GS, 235/ED, 187). Die Annehmbarkeit des Phänomens heißt, »sich von sich selbst her annehmen zu lassen« (GS, 235/ED, 187). Genauso wie die »Gebbarkeit« (donabilité) (die die »intrinsische Eigenheit, sich von sich selbst und von sich allein ausgehend zu geben« (GS, 235/ED, 187) bedeutet) stellt sie eine »weitere, intrinsische Eigenheit« (autre propriété intrinsèque) (GS, 235/ED, 187) des Gegebenen dar. Man könnte vermuten, dass der Charakter der Anamorphose deswegen das Phänomen auszeichnet, weil es grundsätzlich »empfangbar« ist, d. h. weil es zwingt, es zu empfangen. Doch man muss auch beachten, dass Marion nur sehr wenig von dem Konzept der »recevabilité« Gebrauch macht – eigentlich nur in dem kleinen Abschnitt L’acceptabilité im § 11 über die Gabe. Eher muss sie als ein Teilaspekt der Gegebenheit angesehen werden – das Gegebene ist vor allem das, was sich selbst gibt, alle anderen Eigenschaften sind mehr oder weniger dieser einen untergeordnet. So ist auch die Anamorphose eine Ausdrucksform der Selbst-Gegebenheit. 546 Im Original: »[…] le phénomène soit m’arrive, soit m’advient, soit enfin s’impose (et m’en impose) […].« (ED, 177).
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vécus), der für den mehr oder weniger nicht beteiligten Blick konstituiert ist. 547 Das, was »sich ereignet« (advient), ist das, was auf mich »zukommt«, sich mit mir ereignet, mich einbezieht, um auf diese Weise sich geben zu können. Ohne dass ich mich mit ihm beschäftigen würde, könnte es nicht geschehen. Und es sind die »Gebrauchsgegenstände« (phénomènes ustensiles), die sich so geben. 548 Damit, d. h. mit der Behauptung, dass sowohl das Objekt als auch das Zeug auf-fallen, wird wieder die These bestätigt, dass alle Phänomene selbst-gebend, ereignishaft und gesättigt sind – die These von der »Banalität der Sättigung« also. Wir müssen uns aber daran erinnern, dass Marion immer besonders solche Phänomene hervorhebt, die – im Vergleich zu den Objekten für die theoretische oder praktische Behandlung – besonders ihre Selbst-Gegebenheit (oder ihren Charakter der Anamorphose, wie wir jetzt sagen können) bestätigen. Es gibt also drittens solche Phänomene, die »sich aufzwingen«. Ein Phänomen zwingt sich dann auf (s’impose), wenn es nicht direkt für uns – für unsere Erkenntnis oder unseren Gebrauch – da ist, sondern einfach für sich selbst da ist, also einfach da ist, sich selbst öffnet und uns in seine, uns immer unbekannte und fremde Welt einlädt (es »s’ouvre comme un monde«). Es wird nicht von unserem Interesse, unserem Voraus-Griff konstituiert, sondern zwingt uns sein Interesse, sich uns zu zeigen, wie es ist, auf. Weil wir uns damit in einer Situation befinden, wo wir uns dem Interesse und der Gegebenheit des Phänomens anpassen müssen, wo wir uns an es gewöhnen müssen, nennt Marion solche Phänomene »Gewohnheitsphänomene« (phénomènes d’habitude). 549 Das Ereignis als die Selbst-Gegebenheit weist die Struktur der Anamorphose auf. Das heißt: In der Reihe der »Bilder«, die das Bewusstsein automatisch für sich produziert, fällt etwas auf, was als eine andere Dimension durch eine Spalte in dieser Bilderreihe einbricht (sich selbst gibt) und zu sich zieht, sich suchen lässt. Eine solche Struktur kann auch ein ganz gewöhnliches, d. h. banales Phänomen aufweisen. Es kann passieren, dass man zum Beispiel beim Einkaufen, wo das Bewusstsein sich grundsätzlich in der praktischen Einstellung GS, 224 ff/ED, 177 ff. GS, 226 ff/ED, 179 ff. 549 GS, 229 ff/ED, 182 ff. Es ist wichtig zu beachten: »Der Ausdruck »Gewohnheit« verweist dabei keinesfalls zuerst darauf, dass deren Agieren von längerer Dauer als das anderer Phänomene wäre […], sondern dass wir uns an sie wesenhaft gewöhnen müssen.« (GS, 231/ED, 183 f) 547 548
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befindet und nur Objekte für seinen Gebrauch sieht, plötzlich von einem intensiven Rot (zum Beispiel einer Tomate) überrascht wird, sodass man die Tomate als etwas Essbares vergisst, sodass man das Einkaufen vergisst und mit dem Blick das Rote sucht und bei ihm verweilt und sich in seiner Welt verliert und sich dieser Welt anpasst. Beim Ereignis als Anamorphose geht es also immer um »zwei Phänomenalitätstypen in einem einzigen Phänomen« (GS, 221Anm.1/ED, 174n.1), d. h. um den Einbruch einer Phänomenalität, die die zuerst gegebene Phänomenalität unterbricht, die auffällt und sich für sich interessieren, sich suchen lässt. Wäre dieses Ereignis eine andere Person, so könnte man sagen, dass das Ereignis als Anamorphose nie das Gefühl gibt, dass man den Anderen anschaut und unter Kontrolle hat, sondern dass man angeschaut wird, dass man den Blick des Anderen spürt, diesen Blick sucht, findet und ihm antwortet. In De surcroît veranschaulicht Marion diese Struktur mithilfe der Freundschaft (von Michel de Montaigne und Étienne La Boétie). Die Situation der Anamorphose ist also folgende: »[J]e prends pour moi son point de vue sur moi, sans le réduire à mon point de vue sur lui[.]« (DS, 46)
Das Ereignis als Anamorphose schaut mich an, ich spüre sein Kommen zu mir von einem anderen Punkt als dem, den mein frontaler (angreifender) Blick sieht. Ich kehre mich um (ich kehre auch meine Einstellung um, ich werde passiv), um dieses Kommen zu empfangen, was ein Kommen von anderswoher ist. Und das ist der Moment des Ereignisses.
5.2. Das Eintreffen Das Ereignis ist eine Anamorphose, weil es auf-fällt, es ist ein Eintreffen, weil es zu-fällig ist. Das Ereignis als arrivage ist der Zu-fall. Aber die Zu-fälligkeit versteht Marion nicht im Gegensatz zur Notwendigkeit, sondern als eine »ursprünglichere Kontingenz« (contingence plus originelle) (GS, 234/ED, 186), die als »phänomenologisch höherwertig« (phénoménologiquement supérieure) (GS, 244/ED, 196) gilt und die in »compatibilité« (GS, 238/ED, 190) mit der Notwendigkeit steht bzw. sowohl die Zufälligkeit als auch die Notwendigkeit in sich »übernimmt« (reprendre) (GS, 244/ED, 196). Die »ursprünglichere Kontingenz« des Eintreffens bedeutet ein 358 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Zweifaches. Erstens geht es darum, dass das sich selbst gebende Ereignis unvorhersehbar, unerwartet, überraschend – also zufällig – ankommt: »Eintreffen [arriver – L. P.] muss hier im ganz buchstäblichen Sinne verstanden werden. Es geht um kein durchgehendes, gleichförmiges Ankommen, bei dem miteinander identische, voraussehbare Einzelelemente geliefert werden, sondern um unstetige, unvorhergesehene und völlig ungleichartige Ereignisse des Eintreffens. […] Statt vom Ankommen [arrivées – L. P.] sollte man also besser von ihrem Eintreffen [arrivages – L. P.] sprechen, und zwar von einem Eintreffen in seinem stoßweis-unstetigen, überraschend-unvermuteten, zerstückelten, windstoßartigen Rhythmus, dem immer etwas Zufälliges eignet.« (GS, 234/ED, 186)
Unter Berufung auf Aristoteles und seinem Konzept von συμβεβηκός unterscheidet Marion diesbezüglich zwei Arten dieser Zufälligkeit. Es kann passieren, dass etwas ankommt, was überhaupt nicht antizipiert wurde (es gab keine Ursache), zum Beispiel, wenn »man beim Graben im eigenen Garten einen Schatz auffindet« (GS, 267/ ED, 216). 550 Es kann aber auch sein, dass das zukünftige Ergebnis durchaus antizipiert wurde und sogar erreicht wird, aber anders als vorgestellt: wie zum Beispiel, wenn »ich in Ägina (das ich erreichen wollte) eintreffe, aber als Gefangener oder als ein von der Strömung Mitgerissener« (GS, 268/ED, 216). 551 In diesem Fall ist es ein Zufall, dass Ägina erreicht wurde, obwohl man dorthin wollte, weil es anders erreicht wurde. Der erwarteten Ursache-Wirkung-Kette kommt also etwas Unerwartetes hinzu, das sie damit eigentlich unterbricht und zu einem Zufall führt. Marion spricht in diesem Fall von einem »Zusammenfallen« (co-incidence) (GS, 268/ED, 217), wenn die ursprüng-
Marion zitiert hier Aristoteles: Metaphysik, V, 30, 1025a. An dieser Stelle modifiziert Marion ein wenig das Beispiel, das Aristoteles in Metaphysik, V, 30, 1025a angibt. Aristoteles spricht nämlich davon, dass »es ein Akzidens für jemanden war, nach Aigina zu kommen, wenn er nicht deshalb hinkam, weil er hinkommen wollte, sondern vom Sturme verschlagen oder von Räubern gefangen.« (zitiert aus der folgenden Ausgabe: Aristoteles: Metaphysik, griechischdeutsch, übersetzt von Hermann Bonitz. Hamburg: Meiner, 3. Aufl. 1989.) Für Aristoteles findet in diesem Fall ein Akzidens/Inzident deswegen statt, weil es für das Ankommen in Ägina eine zufällige Ursache gab. Marion erweitert das Beispiel so, dass es sehr wohl eine bestimmte Ursache geben kann (ich wollte und fahre schon nach Ägina), aber trotzdem kann noch etwas dazwischen kommen (ein Sturm oder ein Raubangriff), sodass mein Ankommen letztendlich doch ein Zufall ist, obwohl es meine Intention war. 550 551
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liche Intention, die letztendlich erfüllt wird, mit seinem Gegenteil, nämlich dem Zufall, zusammenfällt. 552 Zweitens ist diese Zufälligkeit »ursprünglicher« als der Gegensatz von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Die Zufälligkeit und Notwendigkeit sind metaphysische Kategorien zur Beschreibung der Modalitäten des Seins: dessen, was ist, was schon da ist. Die Phänomenologie der Gegebenheit dagegen beschreibt das, was sich gibt, um eventuell dann zu sein. Für diese Phänomenologie ist nicht manches in seinem Sein notwendig und manches zufällig, sondern alle Phänomene sind ursprünglich kontingent – weil sie sich selbst geben, weil sie auffallen, weil sie das Andere gegenüber uns verkörpern: »Die Kontingenz aller Phänomene bündelt sich nicht darin, dass einige unter ihnen ohne Notwendigkeit und Voraussicht eintreffen, sondern dass alle eintreffen.« (GS, 234/ED, 186)
Diese Kontingenz ist ursprünglich, weil das Phänomen sich zuerst geben muss – und es gibt sich zufällig und unvorhersehbar, weil es das Andere ist –, um dann in der Erkenntnis als zufälliges oder notwendiges Sein beschrieben zu werden. Das Andere ist immer ein unvorhersehbarer Zufall für das Selbe. Doch das Ereignis bringt mit sich nicht bloß die Erfahrung der Zufälligkeit, der Unvorhersehbarkeit und Überraschung. Wenn wir über die Möglichkeit und Unmöglichkeit des Ereignisses gesprochen haben, haben wir gesehen, dass das Ereignis sich in einem Spannungsfeld zweifacher Erfahrung befindet. Es ist unmöglich und doch überzeugt es mit seiner Möglichkeit, die möglich wird, wenn das Ereignis diese Möglichkeit durch die Wirklichkeit, Faktizität möglich macht. Es ist eine Erfahrung des unmöglich Möglichen oder des Unmöglichen, das möglich ist. Und eine solche Spannung ist auch hier der Fall: Das Ereignis als arrivage ist laut Marion gleichzeitig zufällig und notwendig. Die Rede ist von der Erfahrung einer »Notwendigkeitskontingenz« (contingence nécessaire) 553 (GS, 241/ED, 192), die im Gegensatz zur metaphysischen Kontingenz, die von der Notwen552 »Das Hinzu-/Vorfallen [incidence – L. P.] ließe sich – einzig in diesem Fall – als Zusammenfallen verstehen: Mit oder anstelle des Was, das eintreffen soll (sollte), trifft auch (etiam) ein, was gegen alle Erwartungen zu-fällt.« (GS, 268/ED, 217) 553 Die deutsche Übersetzung könnte hier ein wenig irreführend sein, als ob es hier darum ginge, dass die Notwendigkeit eigentlich kontingent ist. Aber es geht darum, dass die Kontingenz notwendig ist, d. h. dass es notwendig ist, dass alle Phänomene sich ohne Ursache geben, also zufällig sind.
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digkeit ausgeschlossen wird, als »phänomenologische Kontingenz« (contingence phénoménologique) (GS, 243/ED, 194) zu bezeichnen ist und die als »phänomenologisch höherwertig« gilt, da sie auf paradoxe Weise beide dieser Bestimmungen in sich zusammenhält. Die Erfahrung der notwendigen Kontingenz besteht darin, dass im Fall eines Ereignisses eine absolute Evidenz der Gegebenheit herrscht – das Ereignis ereignet sich und es ereignet sich so und nicht anders. Es ist notwendig, d. h. unvermeidbar da und an sich unanfechtbar. Aber es ist das Andere – es gibt sich selbst immer so, dass es auch nicht da oder anders hätte sein können, dass es sich immer, wann es nur wollte, entziehen oder verändern könnte. In einem Wort: Es gibt sich als zufällig: »[…] Gegebenheit (Notwendigkeit) schließt ›prinzipiell nie aus […]‹ 554, dass das von ihr Gegebene möglicherweise auch nicht sein könnte (Kontingenz). Um diese Paradoxien in ihr Recht zu setzen, wäre ein Phänomen daher folgendermaßen zu definieren: als das, was als Gegebenes stets so erscheint, als hätte es jedes Mal auch nicht erscheinen können.« (GS, 244/ ED, 195 f)
Mit dem Begriff des arrivage bezeichnet Marion diese paradoxe Bestimmung des Ereignisses 555, nämlich dass es notwendigerweise ein unvorhersehbarer Zufall ist, weil es sich ausgehend von sich selbst gibt; dass es zufälligerweise notwendig ist, da es sich unvermeidbar nur ausgehend von sich selbst und willkürlich gibt; dass es gleichzeitig notwendig und zufällig ist, weil es immer, wenn es ankommt, mit der Macht seiner Anwesenheit die Unbedingtheit ausstrahlt und doch nie das Gefühlt gibt, man hätte es in der Hand für immer und ewig. 556 554 Marion zitiert hier kurz Husserl. Die vollständige Stelle (zitiert in GS, 241/ED, 193) lautet: »Während ich die Welt wahrnehme und überhaupt erfahre, und in noch so großer Vollkommenheit wahrnehme, während sie also für mich in ungebrochener Gewissheit als selbstgegeben bewusst ist, als eine, an deren Existenz ich schlechthin nicht zweifeln kann, hat sie doch eine beständige Erkenntniskontingenz, und zwar des Sinnes, dass diese leibhaftige Selbstgegebenheit ihr Nichtsein prinzipiell nie ausschließt.« (Edmund Husserl: Erste Philosophie II, Hua VIII, § 33. Den Haag: Martinus Nijhoff, 1959, S, 50.) 555 Siehe: GS, 244 f/ED, 196. 556 Das Ereignis ist immer eine Erfahrung der Unerwartetheit, genauso wie es immer eine Erfahrung der Unmöglichkeit ist. Aber es ist auch möglich, wenn es selbst seine Möglichkeit schafft. So könnte man fragen, ob es notwendig nicht nur im Sinne seiner Unanfechtbarkeit ist, sondern auch so, dass es die Notwendigkeit im Sinne eines Sollens mit sich bringt. Das Ereignis könnte das Gefühl vermitteln, dass es unbedingt
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5.3. Das vollendete Faktum Das Ereignis ist Auf-Fall, Zufall und das, was der Fall ist, nämlich ein »Faktum« (fait): »Stets verlangt das Erscheinen der Phänomene i. A., dass letztlich auf das Faktum, mit dem etwas aufbricht, zurückgegangen wird, dass es faktisch zu einem Aufbrechen kommt.« 557 (GS, 248/ED, 198 f)
Mit der Charakterisierung des Ereignisses als Faktum will Marion vor allem zwei Erfahrungen des Ereignishaften hervorheben. Erstens, dass wir im Fall des Ereignisses mit der Gegebenheit eines Faktums konfrontiert werden, und zweitens, dass dieses Faktum unwiderruflich ist. Das Ereignis kommt ohne Vorwarnung an, überraschend. Es ist plötzlich da – evident, d. h. notwendig – und stellt uns vor die Tatsache seiner Gegebenheit. Wir haben uns nicht für seine Gegebenheit entschieden. Wenn es schon angekommen ist, können wir es weder akzeptieren noch ablehnen – wir stehen schlicht vor einer Tatsache, die vollendet ist: »Un tel événement se donne en effet d’un coup: il laisse sans voix pour le dire, il laisse aussi sans autre voie pour s’y soustraire, il laisse enfin sans choix pour le refuser ou même l’accepter volontairement. Son fait accompli ne se discute pas, ne s’évite pas, ne décide pas non plus. Il ne s’agit même pas là d’une violence, car la violence implique un arbitraire, donc un arbitre et
eintreffen sollte, obwohl es ganz bestimmt nicht unbedingt eintreffen sollte. So sagen doch die Liebenden, dass sie für einander bestimmt sind, d. h. dass sie sich unbedingt begegnen sollten, obwohl sie diese Begegnung auch als völlig unvorhersehbar beschreiben. Diese »Widersprüchlichkeit« in der Rede vom Ereignis könnte damit erklärt werden, dass das Ereignis zufällig eine Notwendigkeit schafft, die erst im Nachhinein für notwendig erklärt werden kann. Wenn also das Ereignis eine unmögliche Möglichkeit ist, könnte es auch eine zufällige Notwendigkeit sein. Allerdings nicht im Sinne, dass das Ereignis unbedingt zufällig eintreffen sollte (dies würde die Abschaffung aller Zufälle bedeuten), sondern nur so, dass, wenn es schon zufällig eingetroffen ist, es das Gefühl gibt, dass alles so sein sollte, wie es jetzt ist. Aber das, wie es jetzt ist, bleibt auch immer noch Zufall. So läuft die Logik des Ereignisses ab. 557 Im Original: »Apparaître demande toujours, pour le phénomène en général, d’en venir finalement au fait de surgir et de surgir de fait.« Also: »Stets verlangt das Erscheinen der Phänomene i. A., dass es letztlich zum Faktum des Aufbrechens und des Aufbrechens des Faktums kommt.« Kurz: Jedes Ereignis der Gegebenheit kommt letztlich dazu, dass das Phänomen da ist – als ein Faktum.
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déjà un espace de liberté. Il s’agit d’une pure nécessité phénoménologique […].« (DS, 55) 558
Das Ereignis als »vollendete Tatsache« (fait accompli) bedeutet für Marion durch seine »Faktizität« (facticité) (GS, 248/ED, 198) genau dieses Mit-einem-Faktum-konfrontiert-Werden – einem Faktum, das uns einfach gegeben ist, das ohne Wenn und Aber einfach der Fall ist. Die Faktizität des Ereignisses entspringt natürlich seiner Selbst-Gegebenheit – nur weil das Ereignis sich ausgehend von sich selbst ereignet, kann es uns vor eine vollendete Tatsache stellen. Ist ein Faktum einmal gegeben, kann nichts es nicht-gegeben machen – es ist »unwiderruflich« (irrévocablement) geschehen: »Was einmal geschehen ist, ist nicht wieder ungeschehen zu machen, und jedes künftige Losmachen vermag lediglich zu bestätigen, dass geschah, was geschah. […] Faktizität spricht dem Phänomen als Gegebenem sein Faktum zu, womit es als unwiderrufliches Geschehen-sein vorgefunden wird.« (GS, 249/ED, 199)
Es ist wichtig zu bemerken, dass Marion unter der Faktizität des Gegebenen nicht die Faktizität einer »bloßen Tatsache« (factum brutum, fait brut) versteht, nämlich dass etwas ist. 559 Um diese andersartige Bedeutung der Faktizität zu klären, beruft er sich zuerst auf Heidegger und sein Konzept von der Faktizität des Daseins, die nicht darin besteht, bloß vorhanden oder zuhanden zu sein, sondern im Verstehen des Seins, das nur das Dasein auszeichnet. 560 Doch diese Berufung auf Heidegger bedeutet nicht, dass das Gegebene die Faktizität des Daseins verkörpern würde. Sie stellt nur einen Zwischenschritt dar, um dann zu zeigen, dass die Faktizität nicht nur das Dasein charakterisiert, sondern alle Phänomene 561 und dass sie so beschaffen ist, dass 558 Erinnern wir daran, dass auch Levinas die Gewalt, den Zwang in Bezug auf das Ereignis leugnet. Die Gewalt kann nur dort stattfinden, wo man freie Wahl hat und wo man gezwungen ist, das Entgegengesetzte des Gewünschten zu akzeptieren. Wo man dagegen einfach mit einem vollendeten Faktum konfrontiert wird, kann man nicht von der Gewalttätigkeit dieses Faktums sprechen. Man muss einfach mit ihm leben lernen. 559 »Wir halten daran fest, dass Faktizität nicht auf die Tatsächlichkeit roher Fakten reduziert werden kann […].« (GS, 258/ED, 208) 560 GS, 252 f/ED, 202 f. 561 In diesem Zusammenhang spricht Marion von einer »erweiterten Faktizität« (facticité élargie) (GS, 258/ED, 208). Er schreibt: »Umgekehrt sind wir darum bemüht, Faktizität universal zu verstehen und auf die allgemeine Phänomenalität zu beziehen.« (GS, 250Anm.1/ED, 200n.1) Diese These ist natürlich im Zusammenhang
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durch sie erst die Faktizität des Daseins möglich wird. 562 Wie ist diese Faktizität des Gegebenen zu verstehen, vorausgesetzt, dass sie nicht die eines factum brutum oder des Daseins ist? Wenn man vor eine Tatsache gestellt wird, ist dies eine Situation, wo – erstens – erfahrbar wird, dass diese Tatsache vorher nicht da war, dass sie nicht bekannt war. Man erfährt genau diesen Moment des Auftauchens einer Tatsache. Man erfährt nicht, dass etwas (schon) vorhanden oder zuhanden ist, sondern das, wie etwas in die Welt einbricht, um von ihr ein Bestandteil zu werden. Zweitens ist es eine Situation, die man nicht schafft, sondern in der man sich plötzlich befindet – man stellt sich nicht selbst vor die Tatsache, sondern man wird vor die Tatsache gestellt. Das heißt: Die Faktizität des Phänomens ist die Faktizität der Gegebenheit in dem Moment, in dem sie geschieht. Sie ist die Faktizität des Ereignisses des Auftauchens und nicht die der Vorhandenheit. Und sie ist selbstverständlich die Faktizität der Selbst-Gegebenheit des Phänomens, wo das Phänomen noch einmal seine Initiative bestätigt – ohne das Phänomen wäre dem Phänomen nicht zu begegnen: »Wir können damit den Gedanken herausstellen, dass Faktizität, wenn sie entgegen geht, dazu führt, dass Phänomene sich begegnen […].« (GS, 258/ ED, 208)
Das Ereignis als fait accompli, als das, was der Fall ist, ist durch seine Faktizität als Gegebenheit das, was uns vor eine vollendete und unwiderrufliche Tatsache stellt.
mit der These von der »Banalität der Sättigung« zu betrachten. Alle Phänomene sind gesättigt, alle sind ereignishaft, alle sind mit der Faktizität ausgezeichnet etc. 562 GS, 257 ff/ED, 207 ff. Es geht um die schon erwähnte These Marions, dass erst das Phänomen das Bewusstsein bzw. die Erschlossenheit des Daseins möglich macht. Würde das Phänomen sich nicht geben, könnte die »Funktion« des Bewusstseins bzw. des Daseins nie »aktiviert« werden. Der erste Stoß für die Erschlossenheit kommt von außen. Siehe zum Beispiel folgende Stelle: »Phänomene können ihr Erscheinen nur vollziehen, wenn sie sich auf einen Empfangsschirm stützen, also diesen belasten können. Als vollendete Fakten treffen sie auf mich ein, sind sie Fakten für mich, nicht von mir, sondern auf meine Kosten. Sie gehen auf meine Rechnung. Durch sie werde ich zum Faktum geschaffen.« (GS, 257/ED, 207; der letzte Satz lautet im Original: »[P]ar lui, je suis fait.«)
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5.4. Der Vorfall Bei der Beschreibung des Ereignisses als incident – Vorfall – versucht Marion, die Logik des Verhältnisses des klassischen philosophischen Begriffspaares von οὐσία und συμβεβηκός (incident) – Seiendheit und Zufall/Zusammenfall, Zugrundeliegendes und Hinzukommendes, Substanz und Akzidens oder wie auch immer wir es hier verstehen wollen 563 – auf das Verständnis des sich selbst gebenden Phänomens zu übertragen. Man könnte ganz allgemein vermuten, dass die Begriffe οὐσία und συμβεβηκός eine zeitliche und eine dingliche Dimension in sich verbergen. Ist οὐσία die Anwesenheit und Beständigkeit, sogar Notwendigkeit von etwas, so ist συμβεβηκός der Zufall – von etwas, was nicht ist, aber sein könnte bzw. von etwas, was ist, aber auch nicht sein könnte; von etwas, was irgendwann unvorhersehbar auftreten bzw. verschwinden könnte. Würde dies auf das Phänomen übertragen, so könnte man sagen, dass das Phänomen ein Zufall ist. Es ist nichts Beständiges. Es gibt sich selbst und nimmt sich selbst zurück völlig unvorhersehbar und frei. Wir haben schon die Zufälligkeit des Ereignisses behandelt. Es ist nicht nötig, die These noch einmal zu wiederholen. Es ist nur wichtig darauf hinzuweisen, dass Marion, wenn er συμβεβηκός (und somit das Phänomen) thematisiert, zuerst seinen Zufallscharakter betont. 564 Fasst man οὐσία als Substanz, Zugrundeliegendes und συμβεβηκός als Hinzukommendes, Akzidens auf, so ist es möglich, neue Aspekte des Ereignisses zu enthüllen. 565 Marion spricht von einer besonderen Art der Zufälligkeit, die das Ereignis in diesem Kontext aufweist: »Was Vorfall bedeutet, dürfte hinsichtlich seiner dritten Gestalt überraschen, insofern diese gemeiner Akzidentialität nachdrücklich wider563 In dem kurzen Abschnitt, wo der Inzident behandelt wird (ED § 16), vertritt Marion – so scheint es – keine einheitliche Interpretation dieses Begriffspaares. Er greift verschiedene Motive auf, um mithilfe von ihnen bestimmte Aspekte der Logik des Ereignisses deutlicher zu machen. 564 GS, 264 ff/ED, 213 ff. 565 Natürlich schließt die Auslegung von οὐσία als Wesen die zeitliche Dimension nicht aus – das Wesen ist das Beständige. Und συμβεβηκός ist das, was zufällig hinzukommen und weggehen kann. Die zeitliche und dingliche Dimension sind in diesen beiden Begriffen unzertrennlich miteinander verbunden – das Beständige und die Beständigkeit, das Zufällige und die Zufälligkeit.
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spricht und dennoch Vorfälle als solche mit definitiver Bestimmtheit ans Licht hebt.« (GS, 269/ED, 217)
Wenn die ersten zwei Figuren von συμβεβηκός die übliche Zufälligkeit – den unvorhersehbaren Zufall und Zusammen-Fall, die wir vorher behandelt haben, – bestätigen, so geht es hier um eine Form von συμβεβηκός, die der gemeinen Akzidentialität sogar »widerspricht« (contredit). Was ist das Ereignis als ein Akzidens/Inzident? Fassen wir einige wichtige Punkte zusammen, auf die Marion in diesem Zusammenhang hinweist. Erstens: Das Wesentliche des Akzidens liegt darin, nicht in der Substanz enthalten zu sein: »Nicht der οὐσία, d. h. nicht der Wesenheit, nicht der Substanz, kurzum: nicht der seinsmäßigen Seiendheit angehörig zu sein, darüber definieren sich Vorfälle.« (GS, 270/ED, 218) 566
Zweitens: Obwohl das Akzidens nicht im Wesen ist, d. h. nicht ist, weil es keine Dauer aufweist, ist es gegeben – es kommt zufällig von sich aus (von außen) dem Wesen zu (adveniens extra): »Das adveniens extra impliziert von sich aus die Forderung nach der Möglichkeit von seinslosem Erscheinen.« (GS, 272/ED, 220)
Drittens: Weil es kein Wesen ist, ist das Akzidens nicht erkennbar: »Einerseits wird für den Hinzu-/Vorfall jeder theoretische Zugang abgewiesen […].« (GS, 266/ED, 215)
Viertens: Obwohl das Akzidens für den theoretischen Blick uneinholbar ist, ist es genau das, wodurch das Wesen überhaupt (unmittelbar) erkennbar wird, da nur es eine Phänomenalität besitzt: »Insofern sie sich zurückhält und sich so in sich verschließt, wird Substanz (substantia, οὐσία) keinesfalls zum Phänomen, für sie ist da keine Phänomenwerdung möglich.« (GS, 274/ED, 222) »Allein der Vorfall zeigt sich, weil er allein sich gibt – was sich zeigt, das gibt sich.« (GS, 276/ED, 223) »Denn tatsächlich lässt sich die Substanz nur indirekt und vermittels von Attributen (Vorfällen), die alleine als hier gegenwärtige Seiende wahrgenommen werden, erkennen.« (GS, 275/ED, 222)
566 Siehe auch später in De surcroît: »[C]ette sorte d’accident ne renvoie plus à aucune substance.« (DS, 46)
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Wie ist dies phänomenologisch im Hinblick auf das Ereignis zu interpretieren? Der entscheidende Punkt liegt darin, dass das Akzidens die Gegebenheit ohne Sein (Wesen) ist und deswegen unerkennbar. Was ist eigentlich das Wesen? Das Wesen ist das Beständige, das, was das aktive, repräsentierende, konstituierende, reflektierende Bewusstsein selbst schafft und ständig wiederholt. Das Wesen ist erkennbar, weil es von der Erkenntnis geschaffen worden ist. Laut Marion sind solche Wesen nicht die »Sachen selbst«, falls die Philosophie noch Wert darauf legt, nach den Sachen selbst zu suchen. Die Sache selbst ist für Marion die Selbst-Gegebenheit von »etwas«, das sich vor dem Eingreifen des konstituierenden Bewusstseins gibt. Somit ist das sich selbst Gebende nicht ein Etwas, kein Wesen. Trotzdem erreicht es uns, bleibt aber unbegreiflich, unerkennbar. 567 Dieses sich selbst Gebende entspricht dem, was in der Phänomenologie unter dem lebendigen Augenblick der Erfahrung (in dem passiven, nur aufnehmenden Bewusstsein) verstanden wird. 568 In der Tat ist das Wesen nicht ursprünglich gegeben – es besitzt nur eine sekundäre Phänomenalität im aktiven Bewusstsein. Das, was ursprünglich gegeben ist, ist das, was kein Wesen ist, was nur auf uns zu-kommt, was uns zu-fällt. Und es ist in der Tat so, dass ein Wesen nur dann vermutbar ist, wenn etwas sich gibt, nämlich seine Akzidenzien in der lebendigen, leiblichen Erfahrung. Das Ereignis als Akzidens/Inzident, als Vorfall ist die lebendige Selbst-Gegebenheit des Phänomens, die das Bewusstsein nur berührt, ohne zu seinem Produkt (beständigen Wesen) zu werden. Der Inzident ist jenseits des Wesens, d. h. jenseits des Denkens und der Erkennbarkeit. Er ist das Andere des Wesens. Für das Denken erscheint er als eine unbeherrschbare Fülle des Lebens, als das Mehr (Exzess) des Begreifbaren, als die Sättigung eines armen Denkobjekts: 567 Das Ereignis hat kein Wesen, nach dem es erkennbar sein könnte. Das, was es gibt, ist nur es selbst und nichts für die Erkenntnis: »[…] le phénomène qui se donne de la sorte ne donne rien d’autre que lui-même; son sens ultime reste inaccessible, parce qu’il se réduit à son fait accompli, à son incidence.« (DS, 46) 568 In De surcroît macht Marion dies deutlich: »Soit le donné obtenu par la réduction; il peut se décrire comme ce que Husserl nomme le vécu ou Erlebnis. Or – on méconnaît souvent ce point capital –, comme tel, le vécu ne se montre pas, mais reste invisible par défaut; on dira, faute de mieux, qu’il m’affecte, s’impose à moi et pèse sur ce que l’on ose nommer ma conscience (précisément parce qu’elle n’a pas encore la claire et évidente conscience de quoi que ce soit lorsqu’elle reçoit le donné pur). Le donné, à titre de vécu, reste un stimulus, excitation, à peine une information; l’adonné le reçoit, sans que, en aucun cas, il ne se montre.« (DS, 61)
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»Als Gegebene bewahren alle Phänomene in sich gleichsam einen Überhang gegenüber demjenigen, der sie empfängt. Sie mögen uns auch noch vollständig ausgeliefert worden sein – die Tatsache, dass sie sich im Exil gegenüber der οὐσία befinden, dass sie defizitär in Bezug auf Ursächlichkeit sind, belässt sie schließlich in einer Ungleichheit gegenüber dem adäquaten Erkennen. Doch diese Ungleichheit bedeutet für das Denken keine Pleite. Vielmehr bedeutet sie den Überschuss [excès – L. P.] des Denkbaren.« (GS, 277/ED, 224)
Das Ereignis als Inzident stellt eine Erfahrung des Unbegreiflichen dar, aber nicht eine denkerische und formale Erfahrung der Unerkennbarkeit, zu der man kommt, wenn man denkt, sondern die Erfahrung einer Fülle, eines Zu-Falls noch zu dem, was begreifbar ist. Das Ereignis als Inzident ist nicht bloß ein Zufall im Sinne eines unvorhersehbaren Ankommens, sondern auch Zu-Fall als das Mehr zu dem, was der Fall ist, als das Mehr zu einer bloßen, erkennbaren und begreifbaren Tatsache. Diese Struktur haben wir schon in der unmöglichen Möglichkeit des Ereignisses gesehen – das Ereignis in seiner exzessiven Selbst-Gegebenheit bleibt immer für das Denken unmöglich, auch dann noch, wenn das Denken die Tatsache, das, was der Fall ist, vorhersieht, begreift und wiederholt. Das Ereignis als die Selbst-Gegebenheit ohne jede Ursache und ohne jeden Grund ist also Auf-Fall (es zwingt seine Gegebenheit auf), Zufall (es ist unvorhersehbar), Fall (die vollendete Tatsache) und Zu-Fall (das Mehr zu dem, was der Fall ist).
6.
Das sättigende Ereignis
6.1. Die Idee des gesättigten Phänomens Die Idee eines »gesättigten Phänomens« (phénomène saturé) 569 entspringt in der Philosophie Marions der Vermutung, dass das im Bewusstsein gegebene Phänomen als ein Etwas (Wesen), von dem es das
569 Der erste Text Marions, der das saturierte Phänomen behandelt, erscheint 1992 im Sammelband Phénoménologie et théologie (hrsg. von Jean-François Courtine, Paris: Criterion, 1992) mit dem Titel Le phénomène saturé. Eine verbesserte Auslegung dieser Idee findet man später in Étant donné. In De surcroît erreicht dieser Gedanke einen vorläufigen Abschluss.
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Bewusstsein gibt, nicht das letzte (für die philosophische Erkenntnis) bzw. das erste (ursprünglichste) Phänomen, d. h. die Sache selbst ist. Hinter einem im Bewusstsein begrifflich erfassten Objekt will er ein nicht-objekthaftes Phänomen behaupten. Da das objekthafte Phänomen grundsätzlich dadurch gekennzeichnet ist, dass es vom Bewusstsein konstituiert wird, spricht Marion in Bezug auf das Phänomen von dem Objekt von der Gegebenheit, die grundsätzlich die SelbstGegebenheit des Phänomens bedeutet. Die Sache selbst ist für die Phänomenologie das Phänomen, das sich selbst gibt. Das Phänomen, insofern es sich selbst gibt, ist in der Terminologie Marions ein Ereignis. In den vorherigen Abschnitten haben wir schon in einigen Punkten gezeigt, wie das Ereignis mit dem Betroffenen »arbeitet«, wie es seine Logik vollzieht. Neben der Beschreibung des Phänomens durch den Begriff der Gegebenheit (d. h. Ereignishaftigkeit, die die fundamentalste Struktur der Gegebenheit darstellt), bietet Marion noch eine andere Beschreibungsweise dieses vor-objekthaften Gegebenen, dieses Ereignisses an: Er nennt es das gesättigte Phänomen. 570 Was ist das gesättigte Phänomen? In Marions üblicher Formulierung wird das saturierte Phänomen durch das Verhältnis von »Anschauung« (intuition) und »Begriff« (concept) definiert und so von einem »armen Phänomen« (phénomène pauvre) im allgemeinen Sinne des Wortes unterschieden. Man sieht, dass Marion hier die in der Kant’schen und Husserl’schen Philosophie etablierten Konzepte verwendet, um die Idee eines saturierten Phänomens deutlich zu machen. In der Philosophie Kants und Husserls sieht Marion zwei Möglichkeiten, wie sich die Anschauung zum Begriff verhalten kann. Entweder erfüllt sie einen Begriff vollständig oder sie kann auch den Begriff nicht vollständig erfüllen und weist ein Defizit auf. Es geht also um das Verhältnis zwischen dem intentionalen Blick, der auf etwas gerichtet ist, wobei dieses Etwas nur durch einen Begriff konstituiert werden kann, und der gegebenen sinnlichen, lebendigen Erfahrung. Intendiert der erkennende Blick, der in der Philosophie Kants und Husserls die ak570 Wir wiederholen noch einmal, dass es hier um eine Synonymie, um eine zweifache oder sogar dreifache Beschreibungsweise derselben Sache geht. Das sich selbst gebende Phänomen ist ein Ereignis, weil es sich selbst gibt. Und weil es sich selbst gibt und nicht ein Objekt des Bewusstseins ist, ist es gesättigt. Gegebenheit, Ereignishaftigkeit und Sättigung bedeuten ein und dasselbe. Und das heißt: Beschreiben wir das Gegebene, insofern es sich selbst gibt, beschreiben wir das Ereignis; beschreiben wir das gesättigte Phänomen, beschreiben wir wieder das Ereignis.
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tive und prioritäre Rolle übernimmt, etwas in der erfahrbaren Welt und erfährt es auch wirklich, sodass alles vom im Begriff Gedachten die Bestätigung findet, spricht man von einer vollständigen Erfüllung des Begriffes. Diese ist allerdings in ganz wenigen Fällen möglich: nur in Bezug auf die Begriffe, die eine geringe Anschauung benötigen, zum Beispiel in Bezug auf mathematische und logische Objekte, die aus diesem Grund als arme, »dürftige« (pauvres) Phänomene zählen. 571 Intendiert der Blick dagegen etwas, von dem er nur teilweise die Bestätigung im Erfahrbaren findet, spricht man vom Defizit der Anschauung. Und dies ist fast immer der Fall, wenn wir die Objekte der Welt erkennen möchten – das Ganze der Erfahrung eines Objekts ist nicht auf einmal gegeben, wir können die Objekte nur allmählich erkennen und auch nicht endgültig, da immer wieder neue Erfahrungen dazukommen. Heute haben wir immer zu wenig Erfahrung davon, was wir zu erkennen intendieren. Ein solches Erfahrungsobjekt nennt Marion »geläufiges Phänomen« (phénomène commun), »gemeinrechtliches Phänomen« (phénomène de droit commun), das gewissermaßen auch ein armes Phänomen ist, da es am Defizit der Anschauung leidet. Wir haben mit einem geläufigen Phänomen auch dann zu tun, wenn wir nicht nur die erfüllende Anschauung nicht erreichen können, sondern es auch nicht wollen, wenn wir auf das Objekt ohne lebendiges Erlebnis gerichtet sein wollen. Das ist der Fall zum Beispiel in der industriellen Herstellung der Produkte, wo nur ihre (immer re-produzierbare) Form zählt. 572 Aber das ist auch sehr oft in unserem alltäglichen Leben der Fall, wenn wir uns meistens auf die (begrifflich bestimmte) Funktion einer Sache (eines Zeuges) konzentrieren und ihr nicht erlauben, sich in ihrer Fülle zu geben. Marion bietet noch eine dritte Variante des Verhältnisses von Anschauung und Begriff an, wobei sich in diesem Fall auch die Beziehung von Bewusstsein und Phänomen umkehrt – es geht um die Situation, wo nicht mehr die Intention nach Bestätigung sucht und nur noch teilweise zufriedengestellt wird, sondern wo die Intention durch das Ankommen eines Phänomens überrascht wird und wo sie mehr Anschauung erhält als sie begreifen kann. 573 Das ist der Fall des gesättigten Phänomens, GS/ED, 327 f/268, 374 f/310 f. GS/ED, 328 f/269, 375 f/311 f. 573 »Mit dieser ersten Phänomenbestimmung liegen von Kant und Husserl her zwei Möglichkeiten vor, die Elemente Begriff und Anschauung ins Verhältnis zu setzen. 571 572
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»où certes demeure la dualité entre intention (signification) et intuition (remplissement), de même que la corrélation noético-noématique, mais où, au contraire des phénomènes pauvres et communs, l’intuition [se] donne en excédant ce que le concept (signification, intentionnalité, visée, etc.) peut en prévoir et montrer« (DS, 141). 574
Ein solches Phänomen nennt Marion auch »Paradox« (paradoxe), da es »entgegen der Erwartung einer Vorstellung, einer Intention oder, kurz gesagt, eines Begriffs eintrifft« (GS, 380/ED, 315). 575 Das gesättigte Phänomen im Allgemeinen wird also durch das Verhältnis von Anschauung und Begriff beschrieben, wo die Anschauung den Begriff übersteigt. Doch es kann seine Sättigung auf unterschiedliche Art und Weise entfalten. Hier verwendet Marion wieder einige Begriffe aus der Philosophie Kants, nämlich die der Verstandeskategorien (Quantität, Qualität, Relation, Modalität), um die vier »Typen« (types) (GS, 382/ED, 317) gesättigter Phänomene aufEntweder löst sich Wahrheit in der Erfahrung vollkommener Evidenz ein, wenn die Anschauung völlig den Begriff auffüllt und ihn so restlos gültig macht: Dabei handelt es sich um die musterhafte und gerade deshalb um die seltenste aller Situationen. Oder aber die Anschauung erfüllt, in einer teilweisen Ratifizierung, den Begriff nur unvollständig, aber sie würde immerhin so weit reichen, ihn zu sichern und zu verifizieren: Dabei handelt es sich um die geläufigste Situation (Wahrheit dem allgemeinen Sinnen nach als Verifizierung, Gültigmachung, Bestätigung), die gleichwohl unbefriedigend erscheinen mag. Das Neue, das wir [in diese Problematik] eingeführt haben, baut erst auf den ersten beiden Relationen auf: Es liegt darin, auf eine dritte Möglichkeit, wie das Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff zu bestimmen sei, aufmerksam zu machen. Gegenläufig zu der Allgemeinsituation, dass der Begriff die Anschauung übersteigt oder zu der Ausnahmesituation der Egalität beider, sollte die Anschauung nun über den Begriff hinausgreifen […].« (SB, 97 f/BS, 160 f) 574 Dieses Zitat stammt aus De surcroît, dessen Untertitel lautet Études sur les phénomènes saturés. Doch dieser Gedanke wird im schon erwähnten Aufsatz Le phénomène saturé (1992) entwickelt: »Au phénomène que caractérisent le plus souvent un défaut d’intuition, donc une déception de la visée d’intuition et, exceptionnellement, l’égalité entre intuition et intention, pourquoi ne répondrait pas la possibilité d’un phénomène où l’intuition donnerait plus, voir démesurément plus, que l’intention n’aurait jamais visé, ni prévu?« (PhS, 102 f) Eine sehr ähnliche Stelle finden wir später in Étant donné (GS, 336/ED, 276 f). Und in Certitudes négatives lautet es: »Il s’agit dès lors d’un phénomène saturé, où l’intuition déborde la capacité du concept, toujours manquant et tardif.« (CN, 287) Diese Idee vom Mehr des Ereignisses als man begreifen kann, übernimmt Romano, wenn er 1998 in L’événement et le monde von »infinité d’un sens« (oder auch »le surcroît absolu du sens«: EM, 209) des Ereignisses gegenüber der »finitude de la compréhension« (EM, 206) spricht. Weil das Ereignis unendlich viel mehr gibt als das Verstehen verstehen kann, ist es »das Unbegreifliche« (l’incompréhensible) (EM, 208). 575 Siehe auch: GS, 365/ED, 302; DS, 141 f.
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zuzeigen. 576 Die Natur des gesättigten Phänomens fordert aber, dass diese Verstandeskategorien »umgekehrt« werden. So zeigt sich das gesättigte Phänomen gemäß den vier Gruppen der Verstandeskategorien als »unanvisierbar« (invisable) der Quantität nach, »unerträglich« (insupportable) der Qualität nach, »abgelöst« bzw. »absolut« (absolu) der Relation nach und »unbeobachtbar« (irregardable) der Modalität nach. 577 Die Phänomenologie der Gegebenheit lässt neben diesen vier Typen der Sättigung noch eine weitere Möglichkeit der Sättigung zu, nämlich wenn ein Phänomen alle vier dieser Sättigungsarten in sich vereinen würde. Eine solche »paradoxe Paradoxie« (paradoxe des paradoxes) (GS, 394/ED, 327) könnte als ein »fünfter Typus« (GS, 393/ED, 327) der Sättigung angesehen werden, allerdings nicht im Sinne, dass damit eine neue Weise der Sättigung aufgedeckt würde, sondern so, dass man hier von einer »Sättigung der Sättigung« (saturation de saturation) (GS, 394/ED, 327) sprechen könnte. Diese Weisen der Sättigung, die mithilfe von Kants Terminologie charakterisiert und herausgearbeitet werden, können auch durch das Prisma der Phänomenologie Husserls angesehen werden, und zwar so, dass die ersten drei Weisen der Sättigung das beschreibt, wie das saturierte Phänomen den Horizont (d. h. den Begriff) überschreitet, und die vierte Weise zeigt besonders das, wie es sich der Konstitution durch das Ich entzieht, wie es also das Ich selbst überschreitet. 578 576 Das Ereignis durch die neu interpretierten Verstandeskategorien Kants zu beschreiben, hat schon Deleuze versucht. Siehe: LS, 133/123. 577 GS, 341/ED, 280. Genauso wird das gesättigte Phänomen auch in De surcroît beschrieben: DS, 141. 578 GS, 341/ED, 280. Diese Beschreibungsweise entspringt teilweise Kants Bestimmungen von Verstandeskategorien, bei denen Marion beobachtet, dass sich die ersten drei auf die Gegenstände und ihre Relationen beziehen, während die Kategorie der Modalität die Relation vom Gegenstand zum Ich beschreibt: GS, 359/ED, 296 f. Man muss einsehen, dass, obwohl sich Marion bei der Definition, Typisierung und Beschreibung gesättigter Phänomene auf Kant (und Husserl) bezieht, dieser Bezug als ziemlich frei angesehen werden muss. Das heißt: Er zwar zitiert und interpretiert zwar Kant (und Husserl), aber diese Interpretation ist sehr frei (wenn nicht »quite problematic« (Mackinlay, 59)) und dient vor allem dazu, die Idee des gesättigten Phänomens zu verdeutlichen. Natürlich beansprucht Marion auch, mit seiner Philosophie die vorherige Tradition zu revidieren und etwas Neues beizutragen. In dieser Hinsicht muss natürlich gefragt werden, wie adäquat er die Tradition auslegt und inwiefern er sich von ihr absetzen kann. Dies ist eine wichtige Frage, die wir hier nicht stellen. Uns interessieren in erster Linie die Strukturen des Ereignisses und nicht die Frage, wie
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Marions Beschreibung des gesättigten Phänomens, das genau deswegen gesättigt ist, weil es sich selbst gibt, also ereignishaft ist, gibt uns entsprechend eine weitere Möglichkeit, die Logik des Ereignisses herauszuarbeiten. Und obwohl die Beschreibung des gesättigten Phänomens sich zumindest teilweise mit den Bestimmungen des Gegebenen, die wir vorher behandelt haben, deckt und sogar sich decken muss, weil es immerhin um die Beschreibung derselben Sache geht, wird mit der Aufdeckung verschiedener Typen der Sättigung auch viele neue Aspekte des Ereignisses sichtbar. 579
6.2. Unanvisierbar Dass das Ereignis nicht anvisierbar ist, heißt, dass es nicht in den Blick genommen werden kann, dass man es nie vollständig überschauen kann. Mit keinem Begriff kann man alles – zuerst im quantitativen Sinne – erfassen, was sich ereignet, da wir es hier mit einer »immensité des vécus« (DS, 141) zu tun haben. Zum Vergleich: Ein Objekt kann man in einem Blick fassen. Dies geschieht so, dass man durch den Begriff, der die wesentlichen Aspekte einer Sache definiert, eine bestimmte Menge lebendiger Erfahrung herausfiltert und nur sie auch sieht. Ist man mit einem objektivierenden Blick auf ein Haus gerichtet, so konstituiert man es als ein Objekt und sieht nur seine entsprechende geometrische Form, die für die Bewohnbarkeit geeignet ist, Fenster, Türen und vielleicht noch einiges. Auch die einzelnen Aspekte, zum Beispiel die Tür, werden durch den Begriff anvisiert, sodass sie überschaubar werden. In Bezug auf die Tür sieht man nur ihre Form, die Türklinke, aber ihre Farbe, das Relief ihrer Oberfläche, Marion die Philosophie von Kant und Husserl interpretiert, ob er die von ihrer Philosophie übernommenen Konzepte richtig auslegt und inwiefern er Recht dazu hat, seine Phänomenologie als Umkehrung und Erweiterung der Philosophie von Kant und Husserl zu sehen. Dies wäre die Aufgabe einer anderen Arbeit. 579 Die Beschreibung des gesättigten Phänomens muss sich mit den Bestimmungen des Gegebenen überdecken, weil jedes gesättigte Phänomen ein Gegebenes ist. Das gesättigte Phänomen ist aber ein gesättigtes Gegebenes und deswegen bringt es neue Aspekte mit sich (GS, 404/ED, 337). Man darf aber nicht vergessen, dass auch die Bestimmungen des Gegebenen die Bestimmungen eines gesättigten Phänomens, d. h. Ereignisses sind, weil jedes Gegebene gesättigt ist, wie das die These von der Banalität der Sättigung besagt. Deswegen stellen wir sowohl die Aspekte des Gegebenen überhaupt als auch die Aspekte des gesättigten Phänomens in einer Reihe auf und definieren sie als Strukturen des Ereignisses.
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die Abnutzung etc. werden außer Acht gelassen. Aber nicht immer: Unter bestimmen Umständen kann auch die Farbe der Tür wichtig werden, doch wieder als ein Objekt, das durch den Begriff angeschaut wird, der seinen Farbton quantitativ bestimmt. Oder aber auch kann die Farbe zum Objekt des Gefallens bzw. Nichtgefallens werden. Dann wird nur eines bei der Farbe anvisiert, nämlich ob sie einem gefällt oder nicht. Ein Ereignis wäre aber dann der Fall, wenn es dem Blick verbieten würde, bestimmte definierte Aspekte herauszufiltern, wenn es stattdessen vor diesem Blick als eine Explosion unendlicher Einzelteile erscheinen würde, die er nicht überblicken kann. Stellen wir uns vor, dass sich ein Haus uns mit dem Gewicht der Gesamtheit aller seiner Einzelheiten – jeder Zier, jeder Spur eines Pinselstriches, jeder Geschichte jeder seiner Ecken (der Einrichtung des Esszimmers, des Farbwechsels der Außenwände, des Materials der Fenster, der Schnitzereien von Kindern auf den Möbeln) etc. – aufzwingen würde. Es wäre eine Überwältigung für den Blick, der dies alles auf seine übliche Art bewältigen wollte. Sein Begriff von diesem Haus würde mit all diesen Anschauungen überflutet, d. h. gesättigt, sodass er dieses Phänomen nicht mehr überschauen könnte. Man könnte natürlich einwenden, dass eine solche sättigende Erfahrung eines Hauses zwar durchaus möglich ist (wenn es zum Beispiel um das Haus der Kindheit oder ein geschichtlich bedeutsames Gebäude geht), aber sie muss nicht unbedingt als etwas Ereignishaftes im Sinne einer besonderen Erfahrung aufgefasst werden. Darauf könnte man antworten, dass in der Tat es sich hier um eher ein »künstlich« geschaffenes gesättigtes Phänomen handelt, doch das schließt nicht aus, dass es auch solche Ereignisse geben könnte, die diese Struktur, nämlich die Sättigung der Quantität nach, »naturgemäß« aufweisen würden und ereignishaft wären. Marion behauptet, dass ein geschichtliches Ereignis, zum Beispiel eine Schlacht 580, politische Revolution, Krieg, Naturkatastrophe, Sports- oder Kulturveranstaltung 581 ein quantitativ gesättigtes Phänomen darstellt. Im Falle einer historischen Schlacht zum Beispiel befindet man sich mittendrin im Geschehnis, über das man keine Übersicht hat, über das überhaupt niemand eine Übersicht hat; man kennt nur einige Einzelaspekte, die aus eigener Perspektive erfahrbar sind. Es geht um die
580 581
Das Beispiel in: GS, 383 f/ED, 318 f. Marion nennt diese Beispiele in: DS, 45.
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Begegnung mit etwas (quantitativ) zu Großem, als dass man es überblicken und dementsprechend kontrollieren könnte. Man ist mittendrin und hat keine Übersicht und keine absolute Kontrolle über das gewaltige Geschehnis. Was das »künstlich« reduzierte Phänomen eines Gebäudes nicht aufweist, wird hier deutlich sichtbar: Das Geschehnis geschieht aus sich selbst, man ist nur ein Teil davon, man ist ein Zahnrad in einem immensen Mechanismus, der sich von selbst dreht: »Die Schlacht zieht vorüber, sie geschieht von alleine, ohne dass irgendwer sie streng genommen macht oder über sie entscheidet. Sie zieht vorüber, und alle sehen, wie sie vorüberzieht, sich abzeichnet und dann wieder entschwindet, so wie sie eingetreten ist – von sich selbst aus. […] Für diejenigen aber, die sie in sich hineinzieht und umgreift, reicht kein mitgebrachter (Individual-) Horizont dazu aus, sie auf einen Punkt hin zu vereinheitlichen, sie als solche auszusagen und schon gar nicht, sie vorherzusehen.« (GS, 383 f/ED, 318)
Natürlich kann man einiges überblicken, vorhersehen und beherrschen, doch vielleicht ist es genau diese Möglichkeit, die später vor dem Hintergrund der unanvisierbaren Quantität diese eigentliche Unkontrollierbarkeit noch ausgeprägter erfahren lässt. Es geht darum, dass man versucht (später), das Phänomen zu rekonstruieren, es also nachträglich zu überblicken, aber ohne Erfolg, da seine Immensität eine unendliche Beschreibung – die Marion »endlose Hermeneutik« (herméneutique sans fin) (DS, 142) 582 nennt – fordert, die aber wegen seiner Unendlichkeit nicht erfüllbar ist. Insbesondere die Nachforschungen zeigen, dass es unendlich viele Perspektiven, unendlich viele Einzelaspekte des Geschehnisses gibt, sodass man es nicht als ein Objekt konstituieren und ihm gegenüber treten kann. Unzählige empirische Materialien, Berichte, Interpretationen überschwemmen den Namen eines Krieges, der nur dadurch definiert wird, dass er ein Weltkrieg war, der von 1939 bis 1945 gedauert hat. Und findet man seinen eigenen Namen auf einem der unzähligen Dokumente, die in diesem Krieg entstanden sind, versteht man, dass
582 Siehe zum Beispiel folgende Stelle: »En effet, devant l’événement, je ne puis assigner une seul signification à l’immensité des vécus qui m’adviennent – je ne puis qu’en poursuivre, par des significations sans cesse multipliées et modifiées, une herméneutique sans fin.« (DS, 141 f) Siehe auch: DS, 45. Vom Konzept der endlosen Hermeneutik in der Philosophie Marions wird noch später die Rede sein.
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man auch damals nur ein Knotenpunkt in einem unüberschaubaren Netzwerk gewesen ist. 583 Dieselbe Ohnmacht gegenüber dem Unanvisierbaren zeigt sich, wenn man die Ursachen für das konkrete Geschehnis im Nachhinein zu finden versucht. Ist das Phänomen quantitativ gesättigt, explodiert auch die Zahl der möglichen Ursachen. Explodiert die Zahl der möglichen Ursachen, von denen – wie wir es schon gesehen haben – keine für die adäquate erklärt werden kann, muss das Ereignis als unmöglich (nichts wies vorher auf seine Möglichkeit hin) und unvorhersehbar (kontigent und sich selbst gebend) qualifiziert werden: »Ils [événements – L. P.] ne peuvent pas se prévoir, puisque leurs partielles causes non seulement restent toujours insuffisantes, mais ne se découvrent qu’une fois le fait accompli de leur effet. D’où il suit que leur possibilité, ne pouvant se prévoir, reste à strictement parler une impossibilité au regard du système des causes antérieurement répertoriées.« (DS, 45)
Wenn für das Ereignis keine bestimmte Ursache gefunden werden kann, kann es auch nie identisch reproduziert werden, weswegen es durch die »Unwiederholbarkeit« (irrépétabilité) (DS, 45) gekennzeichnet ist. Das quantitativ gesättigte Ereignis ist also unanvisierbar (es gibt zu viel) und unkontrollierbar (es geschieht von sich selbst), wenn es sich ereignet; es ist unanvisierbar, wenn es zu Ende ist (die endlose Auslegung kann nie abgeschlossen werden); es ist unanvisierbar im Sinne der Unvorhersehbarkeit (keine Ursache ließ es vorhersehen); schließlich ist es unanvisierbar in dem Sinne, dass man nicht vor583 Das Beispiel mit der unüberblickbaren Schlacht gibt es übrigens schon bei Merleau-Ponty. In Phénoménologie de la perception schreibt er: »Fabrice wollte die Schlacht von Waterloo sehen, so wie man eine Landschaft betrachtet, und er sah bloß verworrene Episoden. Sah der Kaiser auf seiner Karte wirklich die Schlacht? Sie zog sich ihm auf ein keineswegs lückenloses Schema zusammen: Warum kommt jenes Regiment nicht von der Stelle? Warum treffen die Reserven nicht ein? Endlich glaubt der Historiker, der nicht in der Schlacht engagiert ist und sie von allen Seiten zugleich sieht, die mannigfaltigen Zeugnisse versammelt hat und ihren Ausgang kennt, sie in ihrer Wahrheit zu fassen. Doch er gibt nur eine Vorstellung von der Schlacht, er trifft sie nicht selbst, da im Augenblick ihres Geschehens ihr Ausgang eben noch ungewiß war, im Augenblick der Erzählung des Historikers aber es nicht mehr ist;« (PhW, 415/ PhP, 416) Und auch Deleuze greift auf dieses Beispiel zurück: »Wenn die Schlacht kein Ereignisbeispiel unter anderen ist, sondern das Ereignis in seiner Essenz, dann zweifellos deshalb, weil sie auf vielfältige Weise gleichzeitig abläuft und jeder Teilnehmer sie auf einer unterschiedlichen Verwirklichungsebene in ihrer Gegenwart erfassen kann […].« (LS, 132/122)
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haben kann, es zu wiederholen (dazu müsste man die Ursache kennen). Es vermittelt aber auf jeden Fall das Gefühl der Unfähigkeit, eine gewaltige Größe zu bewältigen.
6.3. Unerträglich Das Ereignis ist unerträglich, weil es sich qualitativ so intensiv gibt, dass man nicht mehr in der Lage ist, die Anschauung zu bewältigen, d. h. in Bezug auf sie einen Begriff anzuwenden. In diesem Fall geht es nicht mehr so viel darum, dass man quantitativ viele (inadäquate) Begriffe hat, sondern darum, dass man die Macht verliert, überhaupt welche zu suchen und anzuwenden. Mit anderen Worten: Man erträgt etwas nur, insofern man sich durch es nicht überwältigen lässt – in diesem Fall, insofern man mit dem Begriff gegen die Fülle der Anschauung noch kämpfen kann. Findet die Überwältigung statt, wird man von der Fülle des Phänomens überschwemmt. Dies kann man nicht mehr ertragen – so wie eine übermäßige Kälte ohne passende Kleidung oder die Hitze ohne etwas zu trinken ertragen kann. Die Unerträglichkeit entsteht also aus der Spannung zwischen dem, was sich gibt, und dem, was man aufnehmen bzw. nicht aufnehmen kann. Kann man etwas nicht mehr (kontrolliert) aufnehmen, in diesem Fall begreifen, wird es unerträglich. Man gibt irgendwann auf, wenn man nicht schon von Anfang an aufgegeben hat. Man ist dem sich aufzwingenden Phänomen ausgesetzt, man ist von ihm beherrscht. Die Unerträglichkeit des Ereignisses bedeutet also, dass man nicht mehr in der Lage ist, einen Begriff zu suchen und zu finden. Sollte die Anwendung eines Begriffes bedeuten, dass man etwas konstituieren und erkennen kann, so hat man in der Situation der Unerträglichkeit nichts mehr. Man sieht nichts mehr, konstituiert nichts mehr, erkennt nichts mehr. So ist das gesättigte unerträgliche Phänomen für Marion ein solches, das »blind macht«: »[D]ie Anschauung, die im Bereich dürftiger bzw. geläufiger Phänomene vermeintlich ›blind‹ ist, erweist sich – in radikaler Phänomenologie – vielmehr als blind machend [aveuglante – L. P.]. Der Blick kann sie ebenso wenig ertragen wie ein Licht, das blendet [éblouit – L. P.] und wie Feuer brennt.« (GS, 346/ED, 285)
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Aber es geht nicht darum, dass man tatsächlich nichts sieht, als ob man in einem dunklen Raum herumtasten würde. Man sieht nichts in dem Sinne, dass man kein Objekt sieht. Trotzdem gibt es hier ein Sichtbares: »ein Sichtbares, das von unserem Blick nicht ausgehalten werden kann« (GS, 347/ED, 285). Die Ereignisse sind also »zugleich unanschaulich und anschauungsgesättigt« (à la fois vides et saturés d’intuition) (GS, 408/ED, 340). Für diese Art des Ereignisses gibt Marion zwei Beispiele: das Idol im theologischen Kontext, das er sehr eingehend in seinen früheren Werken behandelt 584, allerdings ohne es als ein gesättigtes Phänomen zu bezeichnen, da dieses Konzept noch nicht entwickelt ist, und das Gemälde, das ein bedeutendes Thema in seiner aktuellen Philosophie darstellt 585. Bei der Behandlung dieser Beispiele wird es sehr deutlich, dass das unerträgliche Phänomen nicht nur verbietet, einen Begriff anzuwenden, und deswegen nichts sehen lässt, sondern auch sättigend, überwältigend ist. Dies lässt noch weitere Strukturen des Ereignisses aufweisen. Erstens ist das überwältigende Sichtbare 586 kein Objekt, sondern der Schein, die Erscheinung selbst, die unaufhörlich aus sich heraus strahlt, fließt, gibt. Das Sichtbare ist also nicht ein Etwas, sondern die »Sichtbarkeit« (visibilité) selbst. Marion erklärt die Möglichkeit eines solchen Sichtbaren dadurch, dass es alles Unsichtbare als das Mit-Gegebene eines Sichtbaren in einem eingeschränkten Horizont verloren hat. Das, was hier und jetzt ankommt, erlaubt nicht, hinter oder in ihm noch etwas zu vermuten, es erlaubt auch nicht, neben ihm noch was zu sehen, d. h. es in einen Kontext einzuordnen. Das Sichtbare, so wie es jetzt erscheint, wird zur einzigen Sache auf der ganzen Welt, ohne Dimensionen, ohne Tiefe, ohne Kontext. Nur es wird gesehen und es wird nur gesehen, es geschieht nichts Weiteres:
584 Siehe insbesondere L’idole et la distance (1977) und Dieu sans l’être (1982), sowie auch einen kürzeren Aufsatz Fragments sur l’idole et l’icône (Revue de Métaphysique et de Morale 84 (1979), S. 433–445), dessen deutsche Übersetzung als Idol und Bild in Phänomenologie des Idols (hrsg. von Bernhard Casper, Freiburg/München: Alber, 1981, S. 107–132) enthalten ist. In diesen Schriften entwickelt Marion eine ganze Theorie von Idol und Ikone, deren Thesen auch in späteren seiner Werke zu begegnen ist, zum Beispiel bei der Herausarbeitung des Konzepts vom gesättigten Phänomen. 585 Siehe zum Beispiel: Courbet ou la peinture à l’œil (2014). 586 Es geht natürlich nicht nur um das Sichtbare als das, was man mit den Augen sehen kann. Das Sichtbare muss hier als alles, was das Bewusstsein erreicht, was also erscheint, verstanden werden. In diesem Sinnen ist auch ein Duft etwas Sichtbares.
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»Voici le tableau: l’espace non physique où le visible seul règne, abolit l’invu (l’invisible par défaut) et réduit le phénomène à la visibilité pure.« (DS, 84) 587
Dieses Sichtbare jenseits des physischen Raumes, ohne Unsichtbares nennt Marion »bloß Gesehenes« (le vu pur) (DS, 93). 588 Wenn das Phänomen aber mit den Gesetzen der Räumlichkeit unserer Welt und der Wahrnehmung überhaupt bricht, erscheint es als nicht von dieser Welt kommend und diese Welt nichtig machend. Es ist alleinig, weil es von woanders kommt und die Objekte dieser Welt annulliert: »Elle [peinture – L. P.] ajoute au visible du monde un visible qui ne lui appartient plus, le transcende et l’annule.« (DS, 85 f) 589
Darin lässt sich – zweitens – noch eine weitere Struktur des Ereignisses ahnen. Wenn im bloß Gesehenen nichts Unsichtbares bleibt, so kann der Blick nicht mehr fortschreiten. Er bleibt stehen, er ist gefesselt an dem, was er sieht. Doch dieses Gefesselt-Sein ist nicht leer als eine bloße Unmöglichkeit, nicht weiterkommen zu können. Es sind die »Bewunderung« (admiration) und die »Faszination« (fascination), die den gefesselten Blick erfüllen: »En effet, l’admiration doit s’entendre ici comme le plus puissant exercice possible du regard, tel qu’il se fixe à demeure, quasi fasciné, sur de qu’il rencontre ou plutôt lui advient, au lieu de vagabonder à la manière de la simple vue, qui erre sans s’y attarder d’un visible à l’autre.« (DS, 75) 590
Der Blick bleibt also gefesselt und fasziniert, weil ihm dieses Sichtbare begegnet, das alles Unsichtbare um sich herum abschafft, das alles um sich herum verschwinden lässt und so zum alleinigen Sichtbaren, zur Sichtbarkeit selbst wird. 591 Schon seit seinen früheren Werken nennt Marion dieses Sichtbare »erstes Sichtbares« (premier Siehe auch: DS, 79. Dass man nur dieses Sichtbare sieht und dass man es ohne Weiteres – ohne Reflexion zum Beispiel – sieht, stellt eine Weise der Erfahrung dar, durch die Marion schon in Dieu sans l’être das Idol charakterisiert hat: »Das Idol verdient es zu keinem Zeitpunkt, dass man es als etwas Trügerisches abqualifiziert, denn es wird ja, zwangläufig, gesehen – eidōlon, das, was man sieht (*eidō, video). Es besteht sogar nur darin, dass man es sehen kann, dass man nur es sehen kann.« (GoS, 26/DE, 18) 589 Siehe auch: DS, 76. 590 Siehe auch: GS, 385/ED; DS, 74 f. 591 In Dieu sans l’être heißt es: »Das Idol fasziniert und hält den Blick gefangen, eben weil sich in ihm nichts finden lässt, was sich nicht zugleich auch schon dem Blick aussetzen muss, ihn anziehen, erfüllen und festhalten muss.« (GoS, 26/DE, 18) 587 588
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visible), weil es ein Sichtbares ist, das zum ersten Mal für den Blick wirklich sichtbar wird, d. h. ihm nicht mehr erlaubt, wegzusehen. 592 Die Unerträglichkeit des Ereignisses geschieht also als die Unmöglichkeit, einen Begriff auf die Anschauung anzuwenden, die diesmal nicht bloß zu viel gibt, sodass man nicht genügend Begriffe zusammentragen kann, sondern etwas gibt, was überhaupt keinen Begriff zulässt, nämlich die Erscheinung, die Gegebenheit selbst. Einerseits macht sie blind: Sie schlägt auf das Erkenntnisvermögen des Betroffenen zu. Andererseits sättigt sie, weil sie alles gibt, indem sie alles andere – jede andere Sache, jeden Kontext, jede Geschichte, jede Zukunft – einfach verschwinden lässt. Darin liegt auch die Faszination ihr gegenüber, die der Blick, der an sie gefesselt bleibt, spürt. Diese Strukturen des Ereignisses können natürlich nicht nur ein Idol oder ein Gemälde aufweisen, die an sich, erstens, mit den Augen sichtbar und, zweitens, inszeniert sind. Ein solches Ereignis kann sich auch in einer alltäglichen Situation ereignen. Es kann vorkommen, dass man sich an einem grauen und regnerischen Tag durch die Menschenmenge in der Stadt bewegt und plötzlich unter einer Überführung eine hohe Melodie einer Geige hört. In dem ersten Moment interessiert man sich nicht dafür, was, wie oder warum gespielt wird. Nur das Klingen der Melodie selbst zwingt sich vor jeder Erkenntnis auf. Für einen Augenblick gibt es nur sie, alles andere zieht sich in den Hintergrund. Man ist nicht mehr in der Lage, etwas zu denken, man kann sich nicht mehr konzentrieren, ist orientierungslos, so bleibt man stehen und ist wie gefesselt an die Erscheinung dieses Phänomens, die genau deswegen, weil man ihr gegenüber den Kopf verliert, unerträglich ist. Unerträglich – aber vielleicht auch nur für denjenigen, der sie bändigen will.
6.4. Absolut Was unter der »Absolutheit« oder in diesem Kontext zuerst eher unter der »Abgelöstheit« 593 verstanden wird, können wir schon aus den 592 »Statt über das Sichtbare hinauszugehen und es nicht zu sehen und es unsichtbar zu machen, entdeckt er sich selbst nun vom Sichtbaren überwältigt, eingenommen und zurückgehalten. Das Sichtbare wird für ihn endlich sichtbar, weil es ihn buchstäblich überwältigt. Das Idol, das erste Sichtbare, will als Erstes bei einem Blick Eindruck schinden, der bis dahin unersättlich war.« (GoS, 29/DE, 20 f) 593 Im Latein bedeutet absolutus sowohl losgelöst als auch vollendet, uneingeschränkt
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vorherigen Überlegungen erahnen. Wird die Unerträglichkeit dadurch definiert, dass man das Unbegreifliche nicht begreifen kann und von ihm überschwemmt wird, dass man blind und fasziniert ist, so bestimmt die Abgelöstheit näher das, was die Unbegreiflichkeit bedeuten könnte. Und sie hängt damit zusammen, wie Marion das besondere – erstmalige und alleinige – Sichtbare charakterisiert. Nur dieses Sichtbare wird nämlich gesehen und es wird nur gesehen: Es ist herausgerissen aus allen Relationen, d. h. abgelöst. Im Falle eines armen Phänomens wird die Anschauung als die Anschauung von etwas erkannt. Man erkennt etwas Wahrgenommenes zum Beispiel als einen Hund. Hier besteht also eine Relation zwischen dem Phänomen und dem Begriff, durch den es erkannt wird, dem Horizont, in den es eingeordnet wird. Durch diese erste und einfache Relation entstehen weitere Relationen – die erkannte Anschauung wird in das ganze Netzwerk der Begriffe und Horizonte aufgenommen. Aber – streng genommen – ist die Anschauung, der lebendige Augenblick der Gegebenheit mit der Aufnahme in die Anschauung-Begriff-Relation schon verlorengegangen: sie ist zum Objekt der Erkenntnis geworden, verarmt, intelligibel, wiederholbar. Eigentlich ist diese in die Begrifflichkeit aufgenommene Anschauung nicht nur eine veränderte (begriffene, verarmte etc.) lebendige Anschauung, sondern – wie wir das schon bei Levinas gesehen haben – etwas absolut anderes, das mit der lebendigen Anschauung überhaupt nichts mehr zu tun hat. Also: In den meisten Fällen, da wir in den meisten Fällen mit den armen Phänomene zu tun haben, begegnen wir Objekten, die in sich schon eine Relation von Anschauung und Begriff tragen und die sich in einem Netzwerk von Relationen zu anderen Objekten befinden. Aber stellen wir uns vor, dass wir einmal etwas erfahren könnten, das das Verhältnis zu einem Begriff, zu einem Horizont also und so auch zum ganzen Netzwerk der Begrifflichkeit verbieten würde. Dies wäre eine Erfahrung des von allen Relationen Abgelösten, des Unbegreiflichen also und damit des Ereignisses. Die Möglichkeit solcher Ereignisse muss nicht weit gesucht werden. Jede leiblich-lebenu. a. Thomas Alferi übersetzt das französische Wort absolu meistens als absolut, aber auch mit abgelöst (zum Beispiel: GS, 341). Dem Sinn nach ist die Übersetzung als absolut völlig richtig, aber die Bedeutung dieses Wortes ist ziemlich unklar und mehrdeutig. Die Übersetzung als abgelöst bringt dagegen den Gedankengang gleich in die richtige Richtung. Wir werden deswegen zuerst von der Abgelöstheit des Phänomens sprechen.
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dige Erfahrung hier und jetzt lässt sich nicht begreifen und verbietet ihre Einschreibung in einen Horizont, die sie als etwas definieren würde, als ob sie nur dazu wäre, eine Bedeutung zu erfüllen. 594 Jede Erfahrung des Leibes verbietet, eine Relation zwischen dem Angeschauten und dem Begriff, d. h. zwischen dem Erlebnis und dem Denken, das auf es gerichtet ist, zu entwickeln, weil es in dieser Erfahrung keinen Unterschied zwischen dem Erlebten und dem, der erlebt, gibt: »Comment peut-on définir la phénoménalité d’une telle chair qui me donne à moi-même? Évidemment, on ne le peut, si l’on s’en tient à une définition commune du phénomène – l’adéquation entre l’apparaître et l’apparaissant, l’intuition et la signification, la noèse et le noème, etc. Car dans la chair cette distinction ne peut précisément pas encore se repérer: puisque dans ce seul cas le perçu ne fait qu’un avec le percevant, la visée intentionnelle s’accompli forcément dans une immanence essentielle, où ce que je pourrais viser se confond avec le remplissement éventuel.« (DS, 124) 595
Es gibt hier keine Unterscheidung zwischen dem Wahrgenommenen und der Wahrnehmung, weil der Leib – hier bezieht sich Marion auf eine der Hauptthesen in der Philosophie Michel Henrys – gleichzeitig, ohne Unterscheidung von etwas (Heteroaffektion) und von sich selbst (Autoaffektion) affiziert wird (»l’hétéro et l’autoaffection« (DS, 126)). Das heißt: Man kann natürlich auch jede leibliche Erfahrung benennen und beschreiben, aber diese Erfahrung, die eine Relation in sich hat, ist nicht die einzig mögliche, mehr noch: Sie ist nicht die ursprüngliche Erfahrung, die Sache selbst. Es gibt die Möglichkeit einer Erfahrung, die vor der Relation geschieht, die dort geschieht, wo zwischen dem, was empfangen wird, und dem Empfänger keinen Unterschied sieht. 596 Wenn man einen Schmerz fühlt, kann man es natürlich auch objektivieren, aber wenn man diese Reflexion und damit die Beziehung zum Erlebnis verlässt, um nur zu erleben, sieht man die Unmöglichkeit, dieses Erlebnis, so wie es jetzt ist, zu begreifen. Es ist nur das, was es jetzt ist. Es ist nichts anderes, es ist nicht als etwas da, es ist nur da. Es gibt keine Bezeichnung für es. Mit 594 »Donc, dans l’hypothèse d’une phénoménalité du donné, la chair devient aussitôt le cas le plus simple et contraignant de ce que nous nommons par ailleurs un phénomène saturé ou paradoxe.« (DS, 124) 595 In Étant donné heißt es: »Leiblichkeit definiert sich nämlich als Identität […] des Affizierten mit dem Affizierenden […].« (GS, 387/ED, 321). Siehe auch: DS, 115, 142. 596 Zur Ursprünglichkeit des Leibes (auch bei Husserl): DS, 112.
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anderen Worten: Die leibliche Erfahrung bedeutet nichts, hat keine Bedeutung als etwas, sie bezieht sich nicht auf eine eventuelle Bedeutung, sondern bedeutet nur sich selbst – sie ist nicht etwas (als etwas für etwas), sondern nur sie selbst in der Identität von Erlebtem und Erlebnis, ohne Bezug. Diese Struktur haben wir auch bei Levinas gesehen – das Antlitz bedeutet nichts, es gibt keinen Übergang von ihm zu irgendeiner Bedeutung, die das Antlitz selbst vergessen ließe. Das Antlitz bedeutet nur sich selbst: Es ist das, was es ist. Es ist die »Bedeutung ohne Kontext«. Es ist zwar auch die Spur des Unendlichen, aber nicht so, dass es als ein Zeichen zu diesem Unendlichen führen würde. Seine Bedeutung ist ja genau die, dass es die Spur ist. Sie ist nur die Spur, von der aus man nicht weiterzieht. Und wir haben diese Struktur auch bei Heidegger gesehen: Das Ereignis ereignet sich nur, es gibt keinen Bezug zu ihm, es ist nicht etwas, zu dem man ein Verhältnis haben kann. Wenn aber etwas von der Relation zum Begriff abgelöst ist, ist es unbegreiflich – es gibt keinen adäquaten Begriff für es. Und es erscheint nicht nur als bloß abgelöst, sondern auch als absolut im Sinne der Vollendetheit, Vollkommenheit, Uneingeschränktheit etc. Das Ereignis gibt das Vollendete, weil die Zeit, die Geschichte, alle zeitlichen Zusammenhänge verschwunden sind. Das Ereignis gibt das Erste und das Letzte. Man kann ihm nichts mehr irgendwann in der Zukunft hinzufügen. Es ist schon immer vollkommen. Das Ereignis gibt das Unvergleichliche, weil keine Vergleiche mehr möglich sind. Das Ereignis gibt das Unendliche und Uneingeschränkte, weil das, was es gibt, das Einzige ist, was es überhaupt gibt. Es gibt keine Grenzen, auf den es stoßen könnte. Nur es wird gesehen, weil es nur es gibt. Und es wird nur gesehen, weil hier in diesem Moment alles vollendet ist. Es gibt keine Zeit mehr. Das geschieht, wenn sich das Ereignis ablöst. Und wir dürfen hier nicht denken, dass abgelöst und absolut nur ein göttliches Wesen sein kann. Das erste Lächeln des Kindes in dieser biologisch-ökonomischen Welt oder die Umarmung eines geliebten Menschen nach jahrelanger Einsamkeit und Verzweiflung sind genauso absolut und vollkommen. Das Ereignis ist die Erfahrung der Herausgerissenheit aus allen Verhältnissen: den begrifflichen, aber auch zeitlichen und räumlichen. Und diese Herausgerissenheit konstituiert seine Absolutheit. Was geschieht, wenn man von einem solchen abgelösten Ereignis sprechen will, da doch bekannt ist, dass es in keiner Relation zu einem Begriff steht? Laut Marion gibt es drei Möglichkeiten, die je383 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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weils dem entsprechen, wie das Phänomen den begrifflichen Horizont, den man ihm auferlegt, aufsprengt, d. h. sättigt. In der ersten Möglichkeit »vollzieht sich die Sättigung noch innerhalb eines Horizontes« (GS, 355/ED, 293). Das bedeutet, dass man für das Phänomen einen Begriff finden kann, obwohl er gleichzeitig auch als inadäquat disqualifiziert werden muss, weil die Anschauung ihn »überflutet« (déborde) (GS, 355/ED, 293). Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn man zwar feststellen könnte, dass man den Duft einer Schokoladentorte riecht, sollte man aber auch gleichzeitig zugeben, dass dieses Wort die lebendige Erfahrung nur absolut verarmt wiedergibt. Die zweite Möglichkeit ist, dass das Phänomen die Grenzen eines bestimmten Horizontes überschreitet und »in mehreren Horizonten … gleichzeitig« (GS, 356/ED, 294) gelesen werden muss. Das wäre wahrscheinlich dann der Fall, wenn man nicht festlegen könnte, mit was man es zu tun hat und müsste noch das passende Wort dafür finden, wobei sich die Suche nach einer adäquaten Beschreibung durch die Vielfalt von Ansichtpunkten, Auslegungen, Interpretationen vollziehen würde. Die dritte Möglichkeit liegt darin, »dass sich nämlich die Sättigung verdoppelt, indem sie die ersten beiden Fälle in sich zusammenlegt.« (GS, 357/ED, 295). Dass bedeutet, dass auch mehrere, sogar alle Horizonte das Phänomen immer noch nicht begreifen könnten: »Dann wäre aber nicht nur kein Horizont, sondern auch keinerlei Kombination aus Horizonten imstande, die Absolutheit des Phänomens zu ertragen […]. Kurz gesagt: Es würde ein Phänomen erscheinen, das in einem solchen Maße gesättigt wäre, dass die Welt (in allen Bedeutungen des Wortes) es nicht akzeptieren könnte.« (GS, 357 f/ED, 295)
Man könnte also sagen, dass das absolute Ereignis in seiner radikalsten Form etwas gibt, was nicht von dieser Welt ist, da es sich von den Zusammenhängen dieser Welt ablöst; andererseits gibt es eine ganz andere Welt: seine, nur von ihm, von seiner ihm immanenten Bedeutung beherrschte Welt, die allerdings nicht eine Welt an sich ist, sondern nur als die Störung dieser Welt besteht.
6.5. Unbeobachtbar Die ersten drei Typen des gesättigten Phänomens zeigen, wie die Anschauung den Begriff überschreitet: Die Anschauung gibt entweder 384 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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quantitativ zu viel für den Begriff oder qualitativ zu viel (zu intensiv), sodass man irgendwann nicht mehr in der Lage ist, einen Begriff anzuwenden, oder sie löst sich überhaupt von der Relation zu irgendeinem Begriff. Der vierte Typ des gesättigten Phänomens enthüllt seine Besonderheit nicht im Verhältnis zum Begriff, sondern zum Ich selbst. Das Ereignis ist nicht beobachtbar in dem Sinne, dass das Ich es nicht unter Kontrolle halten kann, sondern eher selbst dem Phänomen ausgesetzt ist. Hier ist es notwendig, zuerst auf Marions Unterscheidung zwischen »beobachten« (regarder) und »sehen« (voir) aufmerksam zu machen: »Phänomene zu beobachten bedeutet folglich nicht dasselbe, wie sie zu sehen. Vielmehr bedeutet es, dass man Phänomene im Verfolg einer stets dürftigen und geläufigen Phänomenalität in sichtbare Gegenstände umwandelt […].« (GS, 362/ED, 299)
Beobachten heißt also, einen Gegenstand zu konstituieren, und nicht etwas so zu empfangen (sehen), wie es sich gibt. Beobachten heißt, das konstituierte Phänomen unter der Kontrolle zu halten und ihm nicht die Initiative der Selbst-Gegebenheit zu übergeben: »[E]s geht um das Ausüben dieser Kontrolle, bei der man auf Sichtbares in seiner Sichtbarkeit Obacht hat – und dies, ohne ihm die Initiative des Erscheinens zu überlassen […].« (GS, 362/ED, 299)
Hält man das Phänomen unter Kontrolle, so hält man es in den Grenzen eines Begriffes. Es ist das, was ich will, dass es ist. Streng genommen sehe ich es gar nicht: Ich sehe nur das, was ich von ihm sehen will. Das ist ähnlich wie, wenn man von einem Menschen, den man noch nicht kennt, verschiedene Gerüchte gehört hat, und wenn man ihn dann kennenlernt, lässt man sich von den Gerüchten so beeinflussen, dass man buchstäblich nicht mehr hört, was er sagt, sondern überall nur die Bestätigung für das Vorurteil findet, das man über ihn schon gebildet hat. Welche Situation würde entstehen, wenn das Phänomen sich der Kontrolle des Ich entziehen könnte, wenn es also nicht beobachtbar wäre? Eine ähnliche Situation, wie wenn man den Anderen wirklich aussprechen ließe. Das Phänomen könnte sich endlich zeigen. Es wäre nicht mehr ein Objekt für das Ich, sondern ein gleichwertiger Gesprächspartner, der die Intention hat, mir etwas zu sagen und so zu sagen, dass es selbst in diesem Sagen manifest wird. Marion nennt 385 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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diese Situation »Gegen-Intentionalität«. Es ist die Situation, wo nicht das Ich das Phänomen zur Erscheinung bringt, sondern es sich selbst gibt und manifestiert und wo das Ich nicht befiehlt, sondern angesprochen wird: »En cette posture, le phénomène, qui nous advient et survient, inverse l’ordre de la visibilité, en ce qu’il ne résulte plus de mon intention, mais de sa propre contre-intentionnalité.« (DS, 142) 597
Wird das Ich vom Phänomen angesprochen, so ist das Phänomen als der »Ruf« (appel) und das Ich als die »Antwort« (réponse) bzw. »Responsum« (répons) konstituiert. 598 Die Unbeobachtbarkeit des Ereignisses vermittelt also die Erkenntnis, dass man es mit dem Anderen zu tun hat, das von sich ankommt, sich selbst konstituiert und schenkt. Es ist die Erfahrung des »Anderswo« (ailleurs) (GS, 219 f/ ED, 173 f). Ich bin nicht allein, was man denken könnte, wenn man alles Gegebene auf Objekte reduzieren würde, die zu meiner Welt gehören. Es gibt ein Anderswo, von woher das Andere zu mir kommt und seine eigene, für mich unbegreifliche Welt eröffnet. Ich bin nicht derjenige, der diese Welt konstituiert, sondern (nur) deren »Zeuge« (témoin): »[…] weit davon entfernt, dieses Phänomen konstituieren zu können, erfährt sich das Ich selbst von ihm konstituiert. Auf das konstituierende Subjekt folgt also der – konstituierte – Zeuge. Als konstituierter Zeuge bleibt das Subjekt aber bei der Auffindung von Wahrheit am Werk. Allerdings kann es deren Hervorbringung nicht mehr für sich selbst beanspruchen.« (GS, 365/ED, 302) 599
597 Wir haben gesehen, dass Levinas von der »Umkehrung der Intentionalität« gesprochen hat, wo das Subjekt mit seiner Intentionalität das Andere nicht mehr angreift, sondern sich ihm aussetzt, sich ansprechen lässt. Marion bezieht sich auf Levinas diesbezüglich: GS, 440/ED, 367 f. 598 Dazu siehe insbesondere: Étant donné § 28. In Certitudes négatives wird dies nochmals bestätigt: »Alors que l’objet apparaît pour répondre à question (»Que sais-je?«, »Que puis-je savoir?«), l’événement se constitue comme un phénomène exigeant une réponse.« (CN, 289) Und: »L’événement advient comme un appel.« (CN, 290) 599 Dazu siehe noch eine bedeutende Stelle: »Das ›Sich‹ des Phänomens – sobald es sich der Gegenständlichkeit entgegenstellt – wandelt das Ich […] entschieden in einen Zeugen [témoin – L. P.] um. Es kehrt nämlich den Nominativ […] in einen ursprünglicheren Dativ um, der […] das ›Wem oder Was‹ des Empfängers bezeichnet, dem es zugewiesen wird. Und ein solcher Zuweisungsempfänger tritt die Nachfolge dessen, was die Metaphysik unter ›Subjekt‹ verstand, natürlich nur an, weil es sich diesem radikal entgegenstellt.« (GS, 414/ED, 344).
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Die Rolle des Zeugen erschöpft sich aber nicht darin, bloß das Phänomen zu sehen, zu empfangen, insofern er da ist, wenn es geschieht, – er muss auch noch für das Gesehene Zeugnis ablegen und vielleicht sogar im Sinne der Verteidigung (damit wäre er ein Zeuge der Verteidigung), sodass er sich damit – sogar »gegen sein unmittelbares Interesse« – für das Gesehene, Gehörte etc. einsetzt. 600 Der Begriff des Zeugen ist allerdings ein spezifischer Begriff. Für den Empfänger im Allgemeinen behält Marion – wie wir gesehen haben – den Namen attributaire (Zuweisungsempfänger) oder adonné. 601 Ein wesentliches Charakteristikum des adonné ist, dass er nicht nur das Phänomen empfängt, sondern dadurch auch sich selbst: »So wird der Hingegebene geboren, der kraft eines Rufes auf das »Subjekt« folgt, nämlich als derjenige, der sich ganz und gar aus dem empfängt, was er empfängt.« (GS, 442/ED, 369) 602
Ein ganz prägnantes Beispiel dieser Art Ereignisse ist das Antlitz des Anderen, wo genau das geschieht, dass man das Antlitz des Anderen nicht beobachtet, d. h. als ein Objekt betrachtet, sondern seinen Blick, der anblickt, der mich anblickt, sieht. Noch genauer gesagt: Man sieht sogar den Blick nicht, sondern man erlebt bloß, wie man selbst angesehen wird. Man sieht ihn nur, insofern man sieht, dass er sieht:
600 Zum Begriff des Zeugen bei Marion siehe: SB, 135 ff. Insbesondere folgende Stelle: »Der Zeuge sieht das Phänomen, aber er weiß nicht, was er sieht und wird nicht erfassen, was er gesehen hat. Unstrittig sieht er es, in vollkommener Klarheit, in der ganzen erforderlichen Anschaulichkeit, oft mit einem Überschuss an Anschauung, der ihn tief und anhaltend affiziert, vielleicht verletzt hat. Er weiß, dass er gesehen hat und er weiß es so gut, dass er bereit ist, wieder und wieder, oft auch gegen sein unmittelbares Interesse, dafür Zeugnis zu geben« (SB, 136 f/BS, 189). Dass der Zeuge »oft auch gegen sein unmittelbares Interesse« handeln muss, bedeutet, dass er vom Phänomen selbst aufgefordert wird, das Zeugnis abzulegen. Es ist auch klar, dass die Rolle eines Zeugen nie leicht sein kann, weil der Zeuge immer etwas, wie wir gesehen haben, Unmögliches und Unbegreifliches bezeugen muss. 601 Zur Unterscheidung vom Zuweisungsempfänger und adonné, den Thomas Alferi als »der Hingegebene« übersetzt, siehe: »Bestimmt sich der Zuweisungsempfänger als ein Denken, das Gegebenes in Manifestes umwandelt und das sich aus dem empfängt, was es empfängt, oder, kurz gesagt, wird er aus dem Hervorbrechen selbst des Phänomens als einem Gegebenen geboren, d. h. aus einem Gegebenen, das den bloßen Einschlag seiner Ereignishaftigkeit vollzieht, was geschieht dann, wenn ein gesättigtgegebenes Phänomen hervorbricht? Antwort: Der Einschlag wird dann die radikale Form eines Rufes und der Zuweisungsempfänger die eines Hingegebenen annehmen.« (GS, 438/ED, 366) 602 Siehe auch: GS/ED, 437/365, 466/390; DS, 53, 56.
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»Le visage partage le privilège de la chair: de même que celle-ci ne sent qu’en se sentant sentir, celui-là ne se donne à voir qu’en voyant lui-même.« (DS, 143) 603
Man kann sagen, dass jedes Ereignis auf mich gerichtet ist, mich ansieht und anspricht (ruft) aber im Falle des Antlitzes muss dies auch im buchstäblichen Sinne verstanden werden. Aber nicht nur das: Wenn der Andere zu mir spricht, will er, fordert er mich auf, dass ich zuhöre, dass ich ihn verstehe (dass ich zu seinem Zeugen werde), und, wenn ich ihn verstehe, dass ich folglich mich für ihn einsetze (zuerst so, dass ich ein Zeugnis für ihn ablege). Wenn man dem Anderen wirklich zugehört hat, kann man ihn nicht mehr als ein Mittel (ein Objekt) für eigene Zwecke sehen, sondern nur als Zweck: also als einen solchen, dessen Person und Persönlichkeit durch mich (als Mittel), durch meine Einsatzkraft, realisiert werden muss. Aber die Möglichkeit für einen solchen Bezug zum Anderen kommt nicht von einer externen Autorität, die ihr Gesetz diktiert, und liegt auch nicht in mir (im vernünftigen Subjekt wie das bei Kant ist), sondern wird in einer ursprünglichen, vor-begrifflichen Erfahrung vom Anderen selbst gegeben und aufgezwungen (wie das bei Levinas und Marion der Fall ist). Das Ereignis ist also die Selbst-Gegebenheit, die nicht in einem Begriff verstummt, den das konstituierende Ich ihr auferlegt, sondern indem sie ihre eigene Intentionalität gegenüber dem Ich besitzt, es anspricht, spricht und es als ihren Zeugen aufruft. Für das Ich ist dies eine Situation des Angeblickt-, Gerufen-Werdens und schließlich auch die des Sich-für-das-Andere-Einsetzens.
6.6. Die Sättigung der Sättigung Wir haben schon erwähnt, dass neben den vier Typen des gesättigten Phänomens Marion noch einen fünften Typus vermutet, der allerdings nur darin besteht, dass er alle der vier Weisen der Sättigung 603 Siehe auch: GS, 389 ff/ED, 323 ff, wo unter anderem auch vom Antlitz die Rede ist. Ein anderes Beispiel für diesen Typ gesättigter Phänomene ist die Ikone (im Gegensatz zum Idol): »Wir nennen diesen letzten Typ gesättigter Phänomene Ikone, da er dem Blick keinerlei Schauspiel mehr darbietet, keinen Zuschauerblick duldet, sondern – gegenläufig dazu – sich ein eigener Blick an dem vollzieht, der ihm gegenübersteht. Der Beobachter tritt an die Stelle des Beobachteten.« (GS, 389/ED, 323)
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aufweist und so eine »Sättigung der Sättigung« darstellt. Eine solche Möglichkeit wäre an sich, d. h. phänomenologisch gesehen, überhaupt nicht problematisch. Was aber bestreitbar ist, ist Marions Behauptung, dass ausschließlich das Offenbarungsphänomen (in diesem Fall das Jesusereignis) alle Weisen der Sättigung in sich vereint: »Offenbarungsphänomen lässt sich nicht nur als Sättigung (als Paradoxie im Allgemeinen) einordnen, sondern allein in ihm [sur lui seul – L. P.] bündeln sich die vier Typen gesättigter Phänomene, sodass es sich zugleich als Geschichtsereignis, Idol, Leib und Ikone (Antlitz) gibt.« (GS, 393/ED, 327) 604
Wir wollen hier nicht die Möglichkeit eines Offenbarungsphänomens bestreiten, da es selbstverständlich eine phänomenologische Möglichkeit bleibt. Was wir fragen, ist nur, ob es wirklich das einzige gesättigt gesättigte Phänomen ist, ob es nicht eher so ist, dass eigentlich die meisten (zumindest sehr viele) gesättigten Phänomene mehrere oder sogar alle Sättigungsweisen aufweisen und dass nur wenige bloß eine Sättigungsform für sich beanspruchen. Nehmen wir ein ganz banales Beispiel eines Geschmackserlebnisses. Es wäre vielleicht schwierig, es als ein historisches Ereignis, in dem quantitativ sehr viel geschieht, zu beschreiben. Aber es könnte durchaus als unerträglich, absolut und unbeobachtbar gelten – schon deswegen, weil es ein leibliches Phänomen hier und jetzt ist. Es könnte als unerträglich bezeichnet werden, wenn es so viel Genuss anbietet, dass man es nicht mehr bewusst genießen kann. Wer nach dem Fasten ein erstes Stück Braten in den Mund nimmt, der genießt nicht einfach den Braten, nimmt also nicht eine Anschauung durch einen bestimmten Begriff auf, sondern erlebt die ganze Existenz und Güte, also eine Fülle, die man nicht mehr beherrscht, die so gut ist, dass man es nicht ertragen kann. Aber auch ein Schmerz könnte sättigend und unerträglich sein. Dieses Geschmackserlebnis ist natürlich auch absolut: Es gibt keinen Begriff, keine Beschreibung dafür, es geschieht hier und jetzt in meinem Leib, wo ich es bin und es ich bin. Es ist auch absolut in dem Sinne, dass es alleinig und vollkommen ist. Und es ist unbeobachtbar, weil ich es nicht produziere – es kommt zu mir und lässt mich genießen, was 604 Siehe auch: »Das Offenbarungsphänomen (§ 24) definiert sich also als Phänomen, das als Einziges [en soi seul – L. P.] die vier Bedeutungen gesättigter Phänomene (§ 23) in sich bündelt […].« (GS, 395/ED, 328) Über die Unvorhersehbarkeit des Jesusereignisses als geschichtlichen Ereignisses siehe: GS, 396 f./ED, 329 f); die Unerträglichkeit: GS, 398 f/ED, 331 f; die Absolutheit: GS, 399 f/ED, 332 f; die Unanschaulichkeit: GS, 401 f/ED, 334 f.
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aber kein egoistischer Genuss ist, sondern schmerzhaft genussvolle Begegnung mit der Andersheit, mit der Fülle des Lebens, die ich nicht ertragen kann. Die Liebe auf den ersten Blick könnte aber in allen vier Hinsichten gesättigt sein. Sie ist ein geschichtliches Ereignis, weil sie ein Moment in der Geschichte darstellt, der selbst unendlich viele Einzelmomente aufweist, aus einer genauso verwickelten Vergangenheit kommt und bedeutsame Folgen mit sich bringt. Noch jahrelang, noch ihr ganzes Leben lang können die Liebenden nicht aufhören, die Geschichte über diese Begegnung zu erzählen; und jedes Mal kommt etwas Neues dieser Geschichte hinzu. Die Liebe – der Geliebte – ist unerträglich, absolut und unbeobachtbar schon deswegen, weil er eine andere Person ist. 605 Er ist unerträglich wegen der Tiefe, Fülle und Unerreichbarkeit seines inneren Lebens, die er in seinem Antlitz, durch seinen Blick und indem er spricht zeigt. Ich kann es nicht ertragen, dass ich den Anderen – insbesondere denjenigen, den ich liebe, weil nur zu ihm ich ja absolut nah sein will, – nie vollständig erreichen und verstehen kann. Er ist absolut, weil man für die Erfahrung der Andersheit keinen Begriff finden kann. Er ist das, was er ist – er ist nicht als etwas da. Würde ich ihn als etwas sehen – als einen Mann, einen Wissenschaftler, einen Weißen, einen Deutschen etc., – würde ich ihn vergegenständlichen. Ich kann natürlich versuchen, ihn irgendwie zu beschreiben, aber kein Horizont oder Zusammenfügung von Horizonten wird jemals dafür ausreichend sein. Sofern ich ihn als den Anderen sehe, ist er absolut: alleinig, einzigartig, eine Welt außerhalb dieser Welt. Und er ist natürlich nicht beobachtbar: Er ist nicht mein Objekt; und unsere Begegnung wird nicht von mir inszeniert: Er kommt zu mir, er spricht mich an und ich kann ihn niemals unter meiner Kontrolle haben. Das sich-selbst-gebende Ereignis kommt aus einer dem Ich entgegengesetzten Richtung an. Es gibt sich selbst dem Ich, läuft aber seiner Kontrolle, die sich im Verstehen, Begreifen, Erkennen realisiert, entgegen, um so seine Andersheit gegenüber dem Ich zu bewahren. Die Bewahrung der Andersheit vollzieht sich als Sättigung des durch das Ich gegebenen Begriffes. Die Situation der Sättigung ist die Situation 605 In der Tat schreibt Marion in Bezug auf das Antlitz (Ikone): »Sie [Ikone – L. P.] vereint die spezifischen Eigenschaften der drei vorangegangenen Typen gesättigter Phänomen in sich.« (GS, 391/ED, 324)
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der Unmöglichkeit, das Gegebene mit einem Begriff zu bewältigen. Und diese Unmöglichkeit lässt sich unterschiedlich erfahren. Ein Phänomen kann quantitativ zu viel für die Begrifflichkeit geben und so ein Gefühl der Unfähigkeit vermitteln, die ganze Menge des Gegebenen jemals begreifen und kontrollieren zu können. Es kann aber auch etwas so intensiv, so andersartig (im Vergleich zur Begrifflichkeit) geben, dass es für den Empfänger unerträglich wird. Das Ereignis ist auch immer eine Begegnung mit etwas Einzigartigem, Noch-nie-daGewesenem, das den Grund seiner Einzigartigkeit niemals verrät, da es sich außerhalb von jedem Kontext zeigt. Und das Ereignis kann auch zu einer Erfahrung des Angerufen-Seins werden, die auch darin begründet ist, dass das Phänomen seine Andersheit bestätigt.
7.
Das Jetzt des Ereignisses
Damit kommen wir zur möglicherweise wichtigsten Struktur des Ereignisses, ohne die das Ereignis als Ereignis überhaupt nicht verstanden werden kann. Doch diese Struktur ist denkerisch auch am schwierigsten einholbar. Deswegen weil sie am weitesten davon entfernt ist, eine Struktur von etwas darzustellen, die man denken könnte. Sie ist denkerisch eigentlich uneinholbar, d. h. der Versuch, sie zu denken, soll dazu führen, dass man sie und damit das Ereignis überhaupt samt allen seinen Strukturen, die es in Wirklichkeit nicht hat, weil es nicht ist (im Sinne des Seins, mit dem das Denken übereinstimmt), als undenkbar anerkannt. Wir haben bisher mehrere Strukturen des Ereignisses herausgearbeitet, wir haben gezeigt, wie sich das Ereignis ereignet, welcher Logik es folgt. Dabei trat in den Vordergrund das gesättigte Phänomen als Ereignis – das Phänomen, das sich selbst gibt und zeigt, das seine Selbst-Gegebenheit gegenüber dem Ich bestätigt und es mit sich selbst überflutet. Wir haben die Logik der Erscheinung dieses Phänomens als Ereignis, dass sich selbst mit dem Exzess gibt, zu fassen versucht. Ganz kurz und ein wenig übertrieben gesagt: Wir haben ein Phänomen beschrieben, seine Wesensmerkmale. Wir wissen jetzt, was Ereignis (als Phänomen) ist und welche Merkmale es hat. Würden wir einem Phänomen begegnen, könnten wir es mit unserem Ereignisbegriff vergleichen, um festzustellen, ob es ein Ereignis ist. Es lässt sich fragen: Wenn die Philosophie des Ereignisses den Anspruch erhebt (und sie erhebt diesen Anspruch), die Metaphysik, d. h. 391 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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die Frage nach dem Seienden (nach dem Wesen, nach dem Begriff, nach den Ursachen etc.) zu überwinden, um dem Sein, das aber nicht mehr das vorgestellte Sein für das Denken ist, sondern das Uneinholbare für das Denken bleibt und dieses Denken sättigt, näher zu kommen, wie kann dann unsere bisherige Vorgehensweise dies leisten? Wie können wir behaupten, dass wir das Wesen überwunden haben, wenn wir doch gerade ein Wesen beschrieben haben? Wie können wir behaupten, dass wir mit den bisherigen Analysen dem Ereignis näher gekommen sind, wenn unsere Denkweise – wie wir gerade festgestellt haben – durch und durch metaphysisch war? Ja, sie war in der Tat metaphysisch, auch dann noch, wenn ich sie nicht-metaphysisch anzusetzen versuchte. Aber der Punkt ist, dass sie notwendigerweise metaphysisch war. Aus einem zweifachen Grund: Erstens mussten wir metaphysisch anfangen, weil die Überwindung der Metaphysik nur durch die Metaphysik hindurch geschehen kann. Das heißt: Zuerst muss es die Metaphysik geben, damit man bei ihrer Destruktion das Nicht-Metaphysische andeuten könnte, das allerdings niemals zum Thema für eine neue Metaphysik wird, sondern sich immer nur indirekt, unendlich und unerreichbar tief hinter den Trümmern der Metaphysik ahnen lässt, hinter den Trümmern allerdings, die sich ständig wieder aufbauen und immer wieder von Neuem zertrümmert werden müssen. 606 Diese These entwickelt Walter Schweidler in seinen Büchern Die Überwindung der Metaphysik. Zu einem Ende der neuzeitlichen Philosophie (Stuttgart: Klett-Cotta, 1987) und Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik (Freiburg/ München: Alber, 2008). Es geht darum, dass die Überwindung des metaphysischen Denkens, die Schweidler Philosophie nennt, die Metaphysik überholt, indem sie diese denkt, allerdings nicht als ein übliches Denkobjekt, sondern sie begründend, d. h. ihren Ursprung suchend. Denkt die Philosophie die Metaphysik, wird sie selbst zur Metaphysik (der Metaphysik) und fragt nach ihrem eigenen Ursprung, den sie aber nicht einholen kann. Wenn aber die Philosophie etwas Uneinholbares anerkannt, ist sie nicht mehr Metaphysik in dem üblichen Sinne des Wortes: Sie ist Metaphysik und doch auch ihre Überwindung gleichzeitig. Die Überwindung der Metaphysik ist also gleichzeitig die Metaphysik des Ursprunges und das Denken der Uneinholbarkeit dieses Ursprunges. Sie kann nicht nur die Überwindung sein – dann wäre sie nur die Metaphysik des Ursprunges, ohne das Uneinholbare. Sie braucht ständig das, was sie überwindet, was sie selbst durchschauen lässt, nämlich das Uneinholbare: »Es gibt daher keine Philosophie ohne Metaphysik; das bedeutet: Es gibt keine Philosophie, die sich selbst voll zu durchschauen vermöchte. Umgekehrt gibt es keine Metaphysik ohne jenen philosophischen Grundimpuls, der darauf gerichtet ist, sich selbst voll zu durchschauen.« (Schweidler(1987), 183) Die Überwindung der Metaphysik und damit auch die Philosophie des Ereignisses ist beides: die Metaphysik und das, was die Me-
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Zweitens mussten wir metaphysisch anfangen, d. h. ein Phänomen, eine Wesenheit beschreiben, weil sogar noch dann, wenn man etwas anderes als eine Wesenheit beschreiben möchte, beschreibt man eine – deswegen, weil die Gegenständlichkeit im allgemeinsten Sinne des Wortes (als ein x der Setzung) immer in den Vordergrund tritt und das, was vermutlich kein Gegenstand ist, seinen Ursprung nämlich, verschwinden lässt. Das x überschattet seine Setzung, das Seiende überschattet das Sein, das Phänomen: die Erscheinung und das Gegebene: seine Gegebenheit: »Gegebenes, das aus dem Prozess [gebender] Gegebenheit hervorgeht, erscheint, es lässt aber [gebende] Gegebenheit in seiner Verborgenheit zurück, die dadurch enigmatisch wird.« (GS, 130/ED, 100)
Man braucht eine besondere Einstellung, eine besondere Denkweise, um zu dem, was durch das Etwas verdeckt wird, zu gelangen: die Transzendentalphilosophie zum Beispiel, die die Setzung von x hinter dem x sucht; die Phänomenologie, die hinter dem Phänomen seine Konstitution beschreibt; die Seinsphilosophie, die hinter dem Seienden nach dem Sein fragt; oder die Philosophie der Gegebenheit, die hinter dem Gegebenen das Ereignis seiner Selbst-Gegebenheit vermutet. Aber sogar dann noch, wenn die Philosophie sich fest entschlossen hat, hinter die Setzung eines Etwas zu gehen, und so die Metaphysik zu überwinden, setzt sie wieder etwas, das seinerseits wieder destruiert werden muss. In der Überwindung der Metaphysik in Gestalt einer Philosophie der Gegebenheit zeigt sich das so, dass man die Gegebenheit des Gegebenen zu denken versucht, bleibt aber immer wieder beim Phänomen stecken, um dann allerdings immer wieder zur Gegebenheit zurückzukommen. Diese Logik der Überwindung der Metaphysik, die ein ständiges Hin und Her ist, zeigt sich auch in den Texten Marions (und auch in unserem Text). Stellen die vorherigen Abschnitte eine metaphysische Auslegung des ereignishaften Phänomens dar, wird dieser Abschnitt versuchen, es wieder gutzumachen. Wenn auch Marions Phänomenologie der Gegebenheit oft das taphysik überwindet. Doch man darf nie vergessen, dass das, was die Metaphysik in der Metaphysik überwindet, nicht in der Metaphysik präsent, sondern in ihr nur indirekt gegeben ist. Deswegen nennt Schweidler die Philosophie »indirekte Metaphysik«: eine Metaphysik also, in der indirekt das Uneinholbare gegeben ist. Man kann durchaus sagen, dass die Philosophie des Ereignisses eine indirekte Metaphysik ist.
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Ereignis als gesättigtes Phänomen in den Vordergrund treten lässt bzw. treten lassen muss, statt das zu zeigen, was sie eigentlich zu zeigen beabsichtigt und worauf schon der Titel dieser Philosophie hindeutet, nämlich die Gegebenheit, so bedeutet das nicht, dass sie in die bloße Metaphysik zurückfällt. So wie jedes Gegebene »die Spur von Gegebenheit an sich trägt« (GS, 130/ED, 100), wenn auch es das Geschehnis dieser Gegebenheit verdeckt, so versteckt sich hinter jeder Zeile von Marions Text über das Phänomen das Denken über seine Erscheinung, das auch oft genug explizit wird. Natürlich stoßt man hier auf ein weiteres Problem: Wie kann man das zeigen, was kein Etwas ist und keine Setzung, d. h. kein Darauf-Zeigen erlaubt? Kann man das überhaupt denken/zeigen? Nein, man kann es nicht denken/zeigen, zumindest nicht direkt. Doch eine nicht-metaphysische Philosophie hat keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, irgendwie indirekt auf das Undenkbare hinzuweisen. Was ist dieses Undenkbare, das in Marions Philosophie vom Phänomen verdeckt wird und zu dem sie einen Zugang finden möchte? Wir haben schon mehrmals seinen Namen gesagt: Es ist die Gegebenheit des Gegebenen, sein »Auftreten« (surgissement) (GS, 121/ ED, 93), »Ankommen« (advenue) (GS, 121/ED, 93), »sein Ereignisgeschehen« (processus de son événement) (GS, 124/ED, 96). Kurz: Es ist das Ereignis. Wir haben ja bisher auch beansprucht, dieses Ereignis – also das Ankommen des Phänomens – zu beschreiben, aber nur so, dass vor allem das Phänomen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit geriet. Also: Obwohl wir dieses Phänomen als ein Ereignis beschrieben haben, haben wir genau das außer Acht gelassen, was es zu einem Ereignis macht, nämlich das Ereignis. Aber wir haben doch die Ereignishaftigkeit beschrieben: als die Selbst-Gegebenheit und Unvorhersehbarkeit, und Sättigung etc.! Ja, aber wir haben dies alles als die Strukturen des Phänomens angegeben und damit das Ereignis verdeckt. Wir haben versucht, es direkt – durch ein Phänomen, durch einen Begriff – zu zeigen, und haben es damit verdeckt. Hier muss es versucht werden, auf das Ereignis als Ereignis hinzuweisen. Aber es kann nicht so geschehen, dass wir jetzt das Ereignis als ein Geschehen ohne Phänomen, als ein Auftreten des Phänomens ohne das Phänomen thematisieren. Würden wir so vorgehen, würden wir das Ereignis vergegenständlichen – so, wie wenn man die Bewegung ohne das, was sich bewegt, denkt. Das Ereignis würde sich dann in diesem Fall in der Begrifflichkeit völlig auflösen. Das Ereignis ist ein Ereignis von etwas. Man kann es nicht vom Phänomen trennen. Doch wenn 394 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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das Phänomen als eine Wesenheit gedacht wird, wird auch sein Ereignis als eine Wesenheit begriffen und somit verloren. Welche Lösung bietet sich hier an? Solche, dass man das Ereignis als die Gegebenheit nicht einer Wesenheit, sondern einer absoluten Singularität zu beschreiben versuchte: einer Individuation, Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit, die übrigens deswegen nicht mehr denkbar – also kein Wesen – wäre. So stellt sich heraus, dass, wenn wir das Ereignis durch das Phänomen zu denken versuchen, das Phänomen aufhört, eine Wesenheit zu sein, zu etwas Undenkbaren wird und so endlich als ein Ereignis gedacht werden kann. In der Tat macht das Ereignis das Phänomen ereignishaft, aber nicht als eine Struktur einer Wesenheit, sondern als das Geschehen eines Phänomens, das nicht denkbar ist, sondern eine absolute Singularität darstellt. Diese absolute Singularität ist nicht mehr von seinem Geschehen zu trennen: Sie ist das Ereignis. Der indirekte Weg zum Ereignis führt also durch das Denken einer absoluten Singularität. Nur so können wir denkerisch dem Ereignis näher kommen, das – später begrifflich gedacht – die von uns schon herausgearbeiteten Strukturen aufweist. Würden wir aber nur die Strukturen eines Phänomens denken, würden wir nie verstehen, was es zu einem Ereignis macht, was also seine Ereignishaftigkeit ausmacht. Das Ereignis ist die absolute Singularität. Wir haben hier mit einem »événement absolument unique« (DS, 40) zu tun. Wie denkt Marion dieses absolut individuierte, singuläre, einzigartige und unwiederholbare Phänomen, das das Ereignis ist? Zuerst genau so, dass es sich der Begrifflichkeit entzieht, dass es nicht das ist, was der Begriff selektierend und verwandelnd sieht, was er vorhersieht und sogar verursacht, was er nachträglich nacherzählt und reproduziert, wenn er die Ursachen aufgeklärt hat: »Kommen Ereignisse aus unbekannter Ursache von sich her und ohne dass ihnen etwas vorangeht, dann sind sie bleibend etwas Vorgefundenes und absolut Einzigartiges. […] Es hat kaum Sinn, nach Kriterien zu fragen, die es erlauben würde, Ereignisse zu identifizieren bzw. ihre Individualität zu bestimmen. Deren Individualität bestimmt sich über die Ereignisse selbst. Und es wäre als eine Widersinnigkeit einzuordnen, wollte man diese Kriterien in Ursachen ausfindig machen. Ereignisse werden nur dadurch individuell, dass sie sich auf Ursachen nicht reduzieren lassen.« (GS, 295/ ED, 240 f) 607 607 Dementsprechend können vom Begriff beherrschte Phänomene nie als individualisiert gelten: »Daraus folgt, dass gemeinrechtliche Phänomene – ganz genauso wie
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Doch die Phänomenologie erlaubt noch eine andere Beschreibungsweise der Singularität, nämlich durch den Zeitbegriff. In der Tat beschreibt Marion das Ereignis – das, was kein begrifflich geformtes Objekt für das Denken darstellt, – als grundsätzlich zeitlich: »[L]a temporalité opère originairement l’arrivage de l’incident selon son fait accompli, sans raison ni cause, mais en imposant l’anamorphose; bref, elle permet de comprendre la phénoménalité sur le mode d’événement, contre toute objectivité, qui, au mieux, en devient un cas résiduel, provisoirement permanent, illusoirement subsistant.« (DS, 48)
Wollen wir die möglichen Missverständnisse vermeiden: Die Zeitlichkeit bedeutet hier nicht die Ausgedehntheit in der Zeit. Diese Interpretation der Zeitlichkeit in Bezug auf das Ereignis könnte vielleicht dadurch provoziert werden, dass man das Ereignis als ein Geschehen versteht. Dann würde das Ereignis durch die Zeitlichkeit als ein anhaltender Prozess gedacht. Aber es ist ganz im Gegenteil: Die Zeitlichkeit als Ausgedehntheit in der Zeit, d. h. Permanenz (wenn auch vorläufige) und Beständigkeit (wenn auch illusorische) betrifft das Objekt. Das Objekt geschieht in der Zeit, von einem Moment zum anderen. Das Objekt ist ein Geschehnis in dieser Bedeutung. Das Ereignis dagegen ist das Geschehnis in dem Sinne, dass es vergeht. Das Ereignis ist ein »Aktgeschehen« (acte) (GS, 116/ED, 89 f), aber als Vorübergehen: »Sie [Gegebenheit – L. P.] tritt heran und erfüllt sich, kommt hinzu und zieht vorüber, bricht auf und versenkt sich. Nicht besteht sie, nicht dauert sie an, nicht zeigt sie sich oder lässt sie sich sehen.« (GS, 116/ED, 90) 608
Das Ereignis zeigt sich nicht und lässt sich nicht sehen, weil es kein Objekt ist, das andauert. In Bezug auf das Ereignis hat man keine Zeit, es zu sehen (und damit auch zu denken) – es ist schon längst weg. Das Ereignis, das vorübergeht und gar nichts zeigt, nennt Marion ein »pures Ereignis« (pur événement) (DS, 49). 609 In Bezug auf das, was nur dürftige Phänomene sich streng genommen nicht individualisieren können.« (GS, 379/ED, 314) 608 Zum Vergehenscharakter des Ereignisses siehe auch: DS, 47 ff; CN, 249, 276, 285, 286, 287, 292. Um das Vorübergehen des Ereignisses zu bezeichnen, verwendet Marion oft das Wort »se passer«. 609 Ein pures Ereignis ist nach Marion der Tod (DS, 48 ff). Man muss aber gleich hinzufügen, dass Marion ein Philosoph ist, der völlige Unsichtbarkeit niemals akzeptieren wird. Nicht einfach deswegen, weil das absolut Unsichtbare außerhalb der Phänomenologie befindet, sondern deswegen, weil es wirklich keinen Sinn macht über ein
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darin besteht, um zu vergehen, befinden wir uns immer in der »Verspätung« (retard) – wenn wir endlich da sind, ist das Ereignis schon vergangen: »Dans le cas de l’événement, la compréhension arrive toujours en retard […]. […] Avec l’événement du phénomène non objectif, nous nous découvrons en fait toujours et d’emblée après son événement; car il appartient à l’événement précisément de se passer, exactement de s’être dès le début déjà passé, donc de nous avoir toujours dépassés; ainsi nous en sommes encore à nous demander après coup, déjà trop tard, »que s’est-il passé ?«, alors que tout s’est déjà passé.« (CN, 249) 610
Wenn die Zeitlichkeit das Ereignis als Nicht-Beständigkeit und Vergehen, als immer schon vergangen konstituiert, welcher Zeitmodus entspricht dem Ereignis? Natürlich die Gegenwart – das Jetzt: »Le présent« – »lui seul échappe à l’objectité« (DS, 51). 611
Das Ereignis ist das Jetzt – es ist durch die »Augenblicklichkeit« (instantané) (CN, 287) konstituiert. Aber nicht durch den Begriff des Jetzt, der einen Punkt in der kontinuierlichen Linie der Zeit denkt, sondern durch das Jetzt des Phänomens im Jetzt, also genau jetzt. Ganz kurz gesagt: Das Ereignis ist das Jetzt des Ereignisses. Es ist der einmalige, unvergleichbare und deswegen unwiederholbare 612 Augenblick, der jetzt vorübergeht. 613 Das, was vorübergeht, ohne zu einem Objekt konstituiert zu werden, ohne ins Bewusstsein zu gelangen, ist das Jetzt (des Jetzt). Als ein Jetzt des Jetzt gilt es als absolut individuiert: Es kann immer nur dieses Jetzt sein. Weil es so ist, wäre es vielleicht falsch zu beEreignis zu sprechen, das niemand erfährt. So ist der Tod zwar ein pures Ereignis, aber die Geburt ist ein »perfektes Ereignis« (événement parfait) (DS, 50). Sie ist zwar auch unsichtbar, aber sie löscht nicht das Bewusstsein aus und bleibt als eine Spur in jedem weiteren Gegebene bestehen. Über die Geburt in diesem Zusammenhang siehe auch: CN, 293 f, 298. 610 Die Verspätung: GS, 473 ff/ED, 396 ff; CN, 285, 286, 287, 288 f. 611 Die Gegenwart des Ereignisses beschreibt Levinas als »eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war«. In der Tat ist diese Gegenwart auch bei Marion schon immer vergangen, ohne sichtbar zu werden. Sie ist die Gegenwart, in Bezug worauf das Bewusstsein, das das Gegebene sichtbar macht, zu spät kommt und die es nur als vergangen bestimmen kann. Im gewissen Maß weist auch Heideggers Ereignis diese Struktur auf, da es sich als der Anfang gleich nach dem Anfangen entzieht und für den Betroffenen nur die Spur hinterlässt. 612 Zur Unwiederholbarkeit: GS, 295/ED, 240 f; DS, 40, 45; CN, 285. 613 Vgl. GS, 245 f/ED, 196 f.
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haupten, dass es die Zeit ist, die das Ereignis individuiert. Die Zeit in ihrem Jetzt-Modus individuiert das Objekt, indem sie ihm die zeitliche Koordinate gibt. Aber das Verhältnis von Zeit und Ereignis ist umgekehrt: Das momentane Vergehen des Ereignisses konstituiert das Jetzt der Zeit. Wir wissen vom Jetzt der Zeit, weil das Ereignis das Jetzt dieses Jetzt ist. 614 Das Ereignis ist nicht einfach ein singulärer Punkt auf der Zeitlinie, der unwiederholbar ist. Es ist genau dadurch individuiert, dass es – wie wir gesehen haben – nichts Objekthaftes an sich hat und ereignishaft ist. Das Ereignis kann ein absolutes Jetzt, das Jetzt des Jetzt, sein, weil es etwas Absolutes gibt – etwas, was abgelöst von allen Beziehungen ist. Es gibt sich selbst außerhalb der Kontinuität der Zeit und des Raumes, außerhalb des Geflechtes der Objekte und Begriffe. Es ist unwiederholbar nicht deswegen, weil es eine Zeitkoordinate aufweist, die nur einmal vorkommt, sondern weil es sich nicht auf die Zeitachse des Koordinatensystems markieren lässt. Es ist das absolute, abgelöste Jetzt, und deswegen unwiederholbar – auch dann noch, wenn es sich tausendmal ereignen würde. Weil es sich jedes Mal davon ablösen wird, was es als das bestimmen könnte, das sich tausendmal schon wiederholt hat. Um dies zu veranschaulichen: Wenn man seine eigene Hand kopiert, sind die gemachten Kopien alle gleich. Eine Möglichkeit, sie von einander zu unterscheiden, ist den Zeitpunkt zu bestimmen, wann jede von ihnen gemacht worden ist. In der Tat sind sie alle in einem anderen Jetzt entstanden. Das Jetzt des Objektes (der Kopie) wäre also die Anfertigungszeit der Kopie der 614 In der Tat ist das Jetzt das Ereignis: »Le présent surgit comme premier et le premier advient à titre d’événement pur – imprévisible, irréversible, irrépétable comme tel, aussitôt passé et dépourvu de cause ou de raison.« (DS, 51) Jedes Jetzt, d. h. jedes Phänomen in einem Jetzt, d. h. jeder lebendige Augenblick ist ein Ereignis und ein Ereignis ist der lebendige Augenblick. Es ist wichtig zu bemerken, dass die Zeit für Marion keine Form der Erfahrung darstellt, die diese organisieren würde, sondern grundsätzlich die erlebte Zeit ist, und diese erlebte Zeit wird als Ereignis, d. h. als der Einbruch des nächsten Momentes erfahren. Erinnern wir uns daran, wie zum Beispiel bei Heidegger die Zeit erfahren wird: durch den Tod. Denkt man an den eigenen Tod, fühlt man die Zeit. Bei Levinas, Marion und Romano wird die Zeit wiederum anders erfahren – dadurch, dass man sieht, wie der nächste Augenblick als unvorhersehbar und andersartig in die Welt einbricht und sie fortsetzt. Die Zeit ist also bei Marion als Ereignis strukturiert: »Ces déterminations renvoient évidemment toutes au temps, que l’événement présuppose radicalement. Mais l’événement ne présuppose-t-il pas le temps que comme l’une de ses composantes ou de ses conditions? Certes, non. Car le temps lui-même advient le premier sur le mode d’un événement.« (DS, 50) Und auch Romano – wie wir gesehen haben – stellt die These auf, dass das Ereignis nicht in der Zeit ist, sondern die Zeit konstituiert.
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Hand. Das Ereignis ist aber weder die Hand selbst, noch die Kopie, sondern die Berührung der Glasfläche, um zu kopieren. So ist sein Jetzt nicht die Zeit, wann die Berührung gemacht worden ist, sondern diese Berührung selbst. Die Zeit des Ereignisses ist nicht in der messbaren Zeit, sondern es ist selbst seine Zeit. Von dem, was in der Zeit ist – von der Hand –, kann man tausende Kopien anfertigen, aber keine von der Berührung selbst, die diese Kopien erst möglich gemacht hat. Diese Berührung ist aber das Ereignis. Wenn man seine eigene Hand kopiert, macht man eine Kopie von der Hand, nicht aber von der Berührung. Und genauso ist es mit dem Denken: Wenn man denkt, denkt man Objekte, kopiert sie, was aber undenkbar bleibt, ist die Berührung, die das Denken berührt hat, damit es denken vermöchte. Einiges muss hier allerdings noch hinzugefügt werden. Erstens: Wir haben einen Gedankengang vollzogen, indem wir fragten, wie das Ereignis eigentlich zu denken ist. Wir haben gezeigt, dass es weder als eine Wesenheit, noch als ein von der Wesenheit (vom Phänomen) abstrahierter Prozess, noch als ein Geschehen einer Wesenheit überhaupt begreifbar ist, da es in allen diesen Fällen genau zu dem gemacht wird, was es nicht ist, nämlich einem Objekt bzw. Denkobjekt. Und wir sind dazu gekommen, dass das Ereignis das Ereignis eines undenkbaren »Einzeldinges«, eines – phänomenologisch gesprochen – erfüllten und erlebten Jetzt des Bewusstseinsstromes ist, mit dem es zusammenfällt. Das Jetzt des Ereignisses ist das Ereignis des Jetzt. Das Jetzt und das Ereignis sind absolut ein und dasselbe, hier kann man nicht mehr das Gegebene von der Gegebenheit trennen. Doch das, wie wir diesen Gedankengang vollzogen haben, lässt einen falschen Eindruck entstehen, nämlich als ob wir denkerisch zur Möglichkeit gekommen wären, wie das Ereignis zu beschreiben ist. Eine solche Ansicht würde die Ordnung der Sache völlig verdrehen und sogar im Widerspruch zu dem ganzen Projekt einer Ereignisphilosophie stehen, weil sie impliziert, dass es das Denken ist, das das Ereignis entdeckt (also gibt) und sein Geschehen (Gegebenheit) entfalten lässt. Aber es ist ganz umgekehrt: Das Ereignis gibt sich der Philosophie und zwingt die Beschreibungsweise auf, die ihm philosophisch entspricht. Die Philosophie folgt dem Ereignis (sowohl zeitlich als auch im Sinne, dass sie den Anweisungen des Ereignisses folgt) und in diesem Sinne (aber zuerst nur in diesem Sinne) ist sie eine Phänomenologie und nicht eine (ontologische) Theorie, die ausgehend von irgendwelchen Axiomen, die vor dem zu erkennenden Gegenstand da 399 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
sind, mittels des logischen Schließens zu weiteren Thesen kommt, die voll und ganz aus dem Denken selbst entstehen. Zweitens: Wir sind zur Einsicht gekommen, dass das Ereignis das Jetzt des Jetzt ist. Wir fassen dies als die Grundstruktur des Ereignisses auf und nur durch sie sind alle weiteren seine Strukturen verständlich. Seine Selbst-Gegebenheit ist sein unvorhersehbares, unmögliches Auftauchen und seine vollendete Tatsache im Jetzt des Bewusstseins, die es nur als schon gegebene empfangen kann. Seine lebendige Fülle entzieht sich jedem Begriff bzw. sättigt ihn. Und es ist nur ein Augenblick, der immer schon vergangen ist, wenn das Bewusstsein kommt. Doch es lässt sich fragen: Erklärt wirklich unsere Bestimmung des Ereignisses als Jetzt die anderen Strukturen, seine Logik? Anders gefragt: Haben wir mit der Bestimmung des Ereignisses als Jetzt das erreicht, was wir wollten, nämlich das Ereignis? Natürlich nicht. Erinnern wir uns an die Argumentation bezüglich des Anderen bei Levinas – es reicht niemals zu sagen, dass der Andere das absolut Andere des Begriffes ist, weil auch dieser Gedanke den Anderen schon begrifflich gefasst hat. Der Andere ist außerhalb des Denkens, in der Nähe. Er ist niemals hier – hier, wo sich jetzt unsere Gedanken befinden. Und mit dem Ereignis ist es genauso – es reicht niemals zu sagen, dass das Ereignis das Jetzt ist. Es ist nicht das Jetzt, das wir als Jetzt erfahren und denken, sondern genau dieses Jetzt. Jetzt. Das was jetzt war. Drittens: Es kann eigentlich kein Zweifel daran bestehen, dass für Marion die Philosophie des Ereignisses eine Phänomenologie ist. Das Ereignis ist das gesättigte Phänomen, das die Aufgabe der Phänomenologie ist. Und wie Marion das richtig sieht, überschreitet das gesättigte Phänomen die Grenzen der Phänomenologie nicht, wenn es auch kein objekthaftes Phänomen ist – es erweitert sie bis zu der Fülle der Gegebenheit. Die Situation wird aber anders, wenn wir das Ereignis als das Jetzt bestimmen. Erstens: Natürlich wird das Ereignis als das charakterisiert, das die Einschränkungen jedes Begriffes aufsprengt, indem es mehr gibt, als der Begriff begreifen kann. Aber als ein Phänomen ist es immer noch ein Etwas: eine Erscheinung für das Bewusstsein. Doch Marion bleibt nicht dabei. Durch die Bestimmung des Ereignisses als das Hier und Jetzt des Erlebnisses behauptet er nicht einfach, dass das Ereignis mehr gibt, als der Begriff begreifen kann – er behauptet, dass das Ereignis absolut anders als der Begriff gibt, dass es überhaupt kein etwas ist, dass es von allen Beziehungen abgelöst ist. Und dies bedeutet, dass das Ereignis für Marion eigent400 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
lich kein Phänomen ist. Diese Behauptung, die wir hier wagen, wird besonders dadurch verstärkt, dass Marion den Unsichtbarkeits- und Vorübergehenscharakter des Ereignisses behauptet. Das Ereignis vergeht, ohne ins Bewusstsein zu gelangen, also ohne zum Phänomen zu werden. Es ist unsichtbar. Es erscheint nicht als unsichtbar (nichtobjekthaft) – es ist unsichtbar. Und wir können nur fragen, wie eine Erscheinung (Phänomen) unsichtbar sein sollte. Hier wird – so unsere Vermutung – etwas außerhalb des Phänomens behauptet, nämlich das Ereignis. Man kann natürlich einwenden und sagen, dass die Sichtbarkeit nur durch den Begriff möglich ist, und wenn etwas mehr ist als ein durch den Begriff konstituiertes Objekt, dann kann es als unsichtbar klassifiziert werden. Es ist dann unsichtbar für den Begriff, aber nicht für das Bewusstsein, für den passiven Empfänger, weswegen es sich hier nicht um eine ontologische Unsichtbarkeit handelt. In der Tat ist auch das Nicht-Gegenständliche, im passiven Bewusstsein Gegebene, für Marion das Sichtbare, sogar der Exzess an Sichtbaren. Und trotzdem behauptet er, dass das Ereignis vergeht, ohne sichtbar zu werden. Wir schließen daraus, dass Marion sehr gerne möchte, dass das Ereignis als ein Phänomen ein Thema der Phänomenologie wäre, aber, indem er als ein Phänomenologe ganz ehrlich das Ereignis beschreibt, kann er es nicht ohne Rest in die Phänomenologie hineinzwingen. Das Ereignis als das Jetzt des Ereignisses erreicht nicht das Bewusstsein – es schwingt irgendwo draußen.
8.
Die Erfahrung der Zeit im Ereignis
Das, was das Ereignis an sich ist, nämlich das Ereignis des Ereignisses, das Jetzt des Jetzt, ist – wie wir es einsehen – nicht das, was wir erfahren, was wir denken können. Es ist das absolut andere der Kopie, mit der das Denken und die Kommunikation arbeiten. Doch wir heben hier auch nicht den Anspruch, das Ereignis einholen zu können. Ganz im Gegenteil: Wir behaupten diese Uneinholbarkeit. Doch es ist auch genügend interessant, die Spuren des Ereignisses im Denken zu untersuchen. Und wir möchten uns in diesem Abschnitt der zeitlichen Dimension der Erfahrung des Ereignisses zuwenden, so wie sie in Marions Philosophie beschrieben wird. Erstens: »Der Vergangenheit entsprechend« (selon le passé) (DS, 39) weist das Ereignis die Struktur des »schon« (déjà) (DS, 40) auf:
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
»Car, en tant que toujours déjà là, disponible à notre entrée et notre usage, cette salle 615 s’impose à nous comme préalable à nous, étant sans nous, quoique pour nous, qui donc surgit à notre vue comme un fait inattendu, imprévisible, venant d’un passé incontrôlable. […] elle s’impose à moi en m’apparaissant; j’y entre moins qu’elle ne m’advient d’elle-même, m’englobe et m’en impose. Ce ›déjà‹ atteste l’événement.« (DS, 39 f)
Das bedeutet: Wenn man dem Ereignis begegnet, ist es immer die Erfahrung, als ob das, dem man begegnet, schon vor mir da war. Ich weiß immer, dass es nicht mit mir entstanden ist. Durch dieses »Schon« bestätigt das Ereignis sein Sich, seine Andersheit gegenüber dem Ich, sein »Anderswo«. In Bezug auf das, was in der Welt vorkommt, ist es leicht sich vorzustellen, dass etwas schon da war, bevor ich ihm begegne. Aber man muss auch festhalten, dass dies auch in Bezug auf das gilt, was zum ersten Mal – als das Unmögliche – in die Welt kommt, da das radikale Ereignis eigentlich der Welt etwas Neues hinzufügt. Es kann ein wenig widersprüchlich erscheinen, dass das Neue, das nicht vorher war und sogar völlig unvorhersehbar eintritt, die Struktur des Schon aufweist. Und doch weist es diese Struktur auf. Obwohl der Ruf, das Ansprechen des gesättigten Phänomens erst durch mich hörbar wird (wir werden noch zu diesem Thema zurückkommen), klingt er so, als ob er vor mir, vor meinem Hören mich schon gerufen hat. Doch trotz dieser Struktur des Phänomens macht die Phänomenologie keinen Schluss auf das ontologische Vor-Sein dessen, was ruft, was anspricht. Sie vermutet keine »parallele Welt«, die dann irgendwann mich erreicht, sie – wie Marion das immer betont – vermutet keinen Geber außerhalb der Gegebenheit des Phänomens selbst. Dieses Schon ist dem Phänomen intrinsisch, es sagt nichts über seine ontologische Beschaffenheit aus – eine solche Aussage würde die Überschreitung der phänomenologischen Einstellung bedeuten. Zweitens: »Der Gegenwart entsprechend« (selon le présent) (DS, 40) hat das Ereignis die Struktur des »dieses Mal, ein für allemal« (cette fois, une fois pour toutes) (DS, 41). Das Ereignis gibt sich als solches, das seine Gegebenheit hier und jetzt bestätigt – es ist gegeben, es ist für immer gegeben so, wie es jetzt gegeben ist. Das
615 Die Rede ist von La Salle des Actes, in der dieser Vortrag über das Ereignis gehalten wurde. Marion verwendet dieses Beispiel, um die Strukturen des Ereignisses zu veranschaulichen.
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Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
Ereignis vermittelt nicht die Erfahrung eines »ewigen« Objekts, das man jederzeit und überall und in jedem Denkenden wiederholen kann, sondern die Erfahrung dieses unvergleichlichen Moments: »Car il ne s’agit plus de la Salle des Actes en tant que telle, en général, telle qu’elle subsisterait, dans sa vacuité indifférente, entre telle ou telle occasion de la remplir d’un public indifférencié. Il s’agit de cette Salle ce soir, remplie pour telle occasion, entendre tels orateurs, sur tel thème. […] Le ›cette fois, une fois pour toutes‹ atteste donc aussi le soi du phénomène.« (DS, 40–41)
Dieses Jetzt – wie wir das schon ahnen können – wird als vollendete Tatsache erfahren, als Bestätigung, dass das Ereignis sich selbst gegeben hat und uns mit dieser Gegebenheit hier und jetzt konfrontiert. Es geht um die Erfahrung einer von sich aus vollendeten Gegenwart. Drittens: »In der Zukunft« (au futur) (DS, 41) zeigt die Ereignishaftigkeit die Struktur des »ohne Ende« (sans fin) (DS, 41 f): »Enfin, au futur, aucun témoin, aussi instruit, attentif et documenté soit-il, ne pourra, même après coup, décrire ce qui se passe à l’instant présent. […] Une telle herméneutique devrait se déployer sans fin et en un réseau indéfini. Aucune constitution d’objet, exhaustive et répétable, ne saurait avoir ici lieu. Par conséquent le »sans fin« atteste que l’événement advint à partir de lui-même, que sa phénoménalité surgissait du soi de sa donation.« (DS, 41 f)
Diese These kann folgendermaßen interpretiert werden: Die Gegenwart gibt kein Objekt, ihr vollendetes Faktum hat tausende von Dimensionen. Und wir sind mittendrin im Geschehnis, ein Teil davon. Die Gegenwart steht uns nicht gegenüber, sondern wir sind in ihr. Zu jeder solchen Gegenwart kommen wir mit unserer Begrifflichkeit und Reflexion zu spät – wir befinden uns also stets im zukünftigen Moment hinsichtlich des gegenwärtigen Ereignisses. In diesem zukünftigen Moment stellen wir fest, dass das Ereignis mehr gegeben hat, als wir je begreifen können. Und wir wissen, dass mit der Gegenwart, zu der wir zu spät kommen, eine unendliche Zukunft entworfen wird: die Zukunft, in der wir versuchen werden, das, was geschehen ist, zu begreifen. Das Ereignis gibt uns die Zukunft, in der wir uns dem nähern werden, was sich in einer uneinholbaren Vergangenheit ereignete. Wenn das Ereignis kommt, sind wir nicht nur von einer aus sich kommenden Vergangenheit überrascht, befinden wir uns nicht nur verstrickt in einem absoluten Jetzt ohne Reflexion, sondern er-
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fahren auch, wie dadurch unsere eigene Zukunft durch das »ohne Ende« des Ereignisses entworfen wird. 616
9.
Das Ereignis und die Geschichte
Etwas hat sich mit uns ereignet, sonst wären wir nicht da, wo wir sind. Etwas ereignet sich jetzt, zu dem wir allerdings zu spät kommen. Und es ist möglich, dass sich etwas wieder ereignen wird: völlig andersartig und völlig unvorhersehbar. Doch denken wir zunächst über dasjenige ursprüngliche Ereignis nach, aus dem jeder von uns kommt. Dieses Ereignis kann man unterschiedlich denken: eine Möglichkeit ist die Geburt. Hätte es meine Geburt nicht gegeben, wäre ich nicht hier. Vor der Geburt war ich nicht seiend, ich war unsichtbar, in der Welt, so wie sie war, versteckt (konkret gesprochen, im Bauch eines anderen Menschen). Durch das Ereignis der Geburt wurde ich in die Welt gestoßen. Damit hat sich die Welt verändert: zuerst die Welt meiner Eltern, aber auch die Welt überhaupt. Mit meiner Geburt kam der Welt etwas Neues, noch nie Gewesenes hinzu, eine neue Möglichkeit. Und genau wie die Geburt müssen wir das Ereignis überhaupt verstehen: Es ist der Stoß, mit dem in die Welt (meine Welt, unsere Welt, gemeinsame Welt) etwas Neues, eine neue Möglichkeit hineingestoßen wird, die den Horizont der Welt erweitert. Es ist der Anfang einer neuen Situation: »Da Ereignisse ja über die vorauslaufende Situation hinausschießen, schreiben sie sich dieser nicht nur nicht ein, sondern sie definieren, wenn sie sich einstellen, eine Situation neu, sei es partiell oder vollständig anders. Weil Ereignisse nie noch einmal von vorne anfangen, bilden sie den Neuanfang zu einer Phänomenreihe, wobei frühere Phänomene – nicht ohne Gewalt, aber mit dem den Ereignissen eigenen Recht, Horizonte eröffnen zu dürfen – neu ausgerichtet werden.« (GS, 297/ED, 242) 617
616 Diese Erfahrungen der Zeit im Ereignis arbeitet Marion erstmals im Aufsatz L’événement, le phénomène et le révélé (Transversalité. Revue de l’Institut Catholique de Paris, 70 (1999), S. 4–25) heraus. In Étant donné finden wir erst ein kleines Samenkorn zur Entwicklung dieses Gedankens: »Es geht um Ereignisse bzw. um (von der Vergangenheit aus) nicht vorhersehbare, um (von der Gegenwart aus) nicht ausschöpfend verstehbare, um (in Zukunft) nicht reproduzierbare Phänomene, kurz gesagt: es geht um absolute, einzigartige, herantretende (§ 17) Phänomene. Man kann auch sagen: reine Ereignisse.« (GS, 352/ED, 290) 617 Siehe auch: GS/ED, 224/177, 297/242; RC, 270 f. Dass das Ereignis neue Möglich-
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Doch man darf nicht verwechseln: Das Ereignis ist nicht das neue Gegebene in der Welt, zum Beispiel ich als Körper und Person, mein Gesagtes und meine Handlungen oder ein Kunstwerk, eine neue Theorie über die Welt, ein neues Gesetz als Folge von bestimmten sozialen Ereignissen etc., sondern die Gegebenheit dieses Gegebenen, der Moment seines Einbruchs, der Moment, in dem dies alles möglich wird: möglich in dem Sinne, dass es ab jetzt für die Welt möglich ist, also zu ihr gehört. Das Ereignis ist also nicht ein Gegebenes, ein Bestand der Welt, sondern – wie wir das schon gesehen haben – etwas, was außerhalb von οὐσία ist, ein Vergehen, ein Anfangen und Vorübergehen. Und weil es das ist, was sich jedem Wesen entzieht, ist es uneinholbar für die Erinnerung und für das Denken überhaupt. Was uns bleibt, ist das Gegebene. Das Verhältnis zwischen dem Ereignis, das nicht zur Welt gehört, sondern in sie einbricht, und dem Gegebenen, das in der Welt bleibt, kann unterschiedlich beschrieben werden. Wir haben zum Beispiel bei Heidegger gesehen, dass das Ereignis als Anfang, der sich sofort entzieht, ein Zeitalter auslöst. Es ist also der Anfang einer Geschichte, eines Zeitlaufes einer Menschheit, innerhalb dessen alles Gegebene sich in einem vom Ereignis bestimmten Horizont verwerklicht. Ein Zeitalter ist deswegen ein, weil in ihm nur bestimmte Möglichkeiten realisiert werden können. Man ist immer in einem Horizont der Möglichkeiten, man ist nie jenseits einer Welt. Und es ist das Ereignis, dass diese Welt initiiert. Levinas fasst diese Relation vor allem durch das Konzept der Spur – das Ereignis hinterlässt eine Spur, die sichtbar ist, die also etwas mit dem Objekthaften und Begreifbaren zu tun hat, obwohl sie auch immer auf ihren unsichtbaren Ursprung hinweist, weswegen es nie als Phänomen, ein objekthaftes Phänomen begriffen werden kann. Die Begegnung mit dem Anderen hinterlässt zum Beispiel das Ethische im Sinne des Sich-für-den-Anderen-Einsetzens. Das Ethische, das alles, was ich ab jetzt für den Anderen tue, ist etwas, was man in der Welt sehen kann, wofür man ein Gesetzt formulieren kann, aber es ist die Spur eines ursprünglichen und unsichtbaren Ereignisses, wovon man nichts weiß, außer dass es diese Spur hinterlassen hat. In Marions Phänomenologie haben wir zuerst mit dem Begriffspaar von Gegebenheit (Ereignis) und Gegebenen zu tun. Wir haben keiten eröffnet, ist eins der wesentlichen Merkmale, durch das sowohl Badiou im Werk L’être et l’événement (1988) als auch Romano in seinem Werk L’événement et le monde (1998) das Ereignis charakterisieren.
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aber schon gesehen, dass eine solche Unterscheidung nur analytisch möglich ist und eigentlich – wenn man das Ereignis verstehen möchte – gar nicht gemacht werden darf, weil die Gegebenheit in diesem Fall zu einem Gegebenen gemacht wird. Sie muss immer als die Entfaltung des Gegebenen gedacht werden, das dadurch wiederum auf sein ereignishaftes Jetzt zurückgeführt und als undenkbar eingestuft wird. Das Ereignis ist das Ereignis des Ereignishaften, das sich nur entziehen kann – es ist immer schon vorbei. In der Tat bestätigen auch Heidegger und Levinas diese Struktur des Ereignisses. Aber weder bei ihnen noch bei Marion ist dies das letzte Wort. Das Ereignis verschwindet nie ganz, als ob es nie gewesen wäre. Es hinterlässt ein Gegebenes, das bleibt. Wenn das Ereignis nichts hinterlassen würde, könnten wir überhaupt nicht anfangen, über es zu sprechen und sogar irgendwelche Strukturen seiner Logik herauszuarbeiten. Ein Gegebenes zu hinterlassen, gehört grundsätzlich zu seiner Logik. Und die Frage ist also, in welchem Verhältnis das Gegebene zum Ereignis, das es in die Welt hineingestoßen hat, steht. Das ist die Frage danach, wie dieses Gegebene beschaffen ist, da das Ereignis als Anfang dieses Gegebenen unzugänglich bleibt. Dies ist nicht mehr die Frage nach den Strukturen des Gegebenen als Ereignis, die wir bisher gestellt haben, sondern die Frage nach dem Gegebenen, insofern wir zur Einsicht gekommen sind, dass das Ereignis geschichtlich und denkerisch uneinholbar ist. Das Verhältnis zwischen dem Ereignis und dem, was es hinterlässt, beschreibt Marion durch das Begriffspaar von »Ruf« (appel) und »Antwort« (répons) 618, die sich als eine »endlose Hermeneutik« (herméneutique sans fin) vollzieht. Oder auch umgekehrt: Die Hermeneutik vollzieht sich als die Antwort auf den Ruf: »Ainsi l’herméneutique dépend de la structure de question et de réponse 619, c’est-à-dire de la structure de l’appel et de la réponse, donc de la structure du 618 Bezüglich der Struktur Ruf-Antwort im Ereignis spricht Marion auch statt von réponse von répons, das Thomas Alferi als Responsum übersetzt: »Eine solche Antwort, bei dem die Sichtbarkeit eröffnet und dem Ruf das Wort erteilt wird, eine solche Antwort, das dieses Rufen zu einem Phänomen macht, anstatt ihm mit einer Widerrede zu begegnen und es dadurch herabzustufen, nennen wir Responsum.« (GS, 475/ ED, 397) Siehe auch unsere Überlegungen im Abschnitt 6.5. 619 Marion bezieht sich hier auf Gadamer, der den hermeneutischen Prozess als durch die Frage-Antwort-Struktur konstituiert gesehen hat: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (1960), Teil II, Abschnitt 2, Punkt 3, β: Die Logik von Frage und Antwort.
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donné articulé sur le visible: l’herméneutique elle-même constitue un cas du jeu entre se donne et ce qui se montre, entre l’appel du donné et la réponse (par le sens) de ce qui s’y montre. D’où cette première thèse: l’herméneutique doit s’entendre suivant l’entente du donné, sous les figures de l’appel et de la réponse. Loin que l’herméneutique outrepasse la donation ou s’y substitue, elle s’y déploie, presque comme un cas particulier du rapport originel entre ce qui se donne et ce qui se montre.« (GH, 44 f) 620
Daraus können wir Folgendes entnehmen: Das Ereignis gibt sich (und es erschöpft sich nicht in der Sichtbarkeit) und das, was es hinterlässt, ist das, was sich zeigt: das, was wir sehen können, wenn das auch kein Objekt ist. Die Hermeneutik ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten des Phänomens, nämlich seinem unsichtbaren Ereignis und der sichtbaren Spur, die es hinterlässt. Sie ist der Prozess, in dem das unsichtbare Gegebene manifestiert, »verstanden« wird, wenn man so will. Das Gegebene ruft und das Sichtbare antwortet, indem es diesen Ruf sichtbar macht. Und dieser Prozess ist für Marion hermeneutisch. Aber ist es nicht ungewöhnlich, dass man die Hermeneutik nicht dem menschlichen Dasein zuschreibt, das die Welt bzw. den Text versteht, wie das bei Heidegger und Gadamer der Fall ist, sondern dem, was dem Menschen gegeben ist? Aber man muss einfach beachten, dass es in Marions Phänomenologie der adonné ist, der als ein Bildschirm das Gegebene auffängt und in die Sichtbarkeit verwandelt. Also man könnte auch sagen, dass die Hermeneutik der Prozess ist, in dem der adonné das unsichtbare Gegebene versteht. Und 620 Dieses Zitat stammt aus einem sehr polemischen Text (nämlich dem zweisprachig (französisch – amerikanisch) 2013 erschienenen Givenness and Hermeneutics), in dem Marion sich mit der Kritik gegen sein Konzept der Hermeneutik auseinandersetzt. Die Aufgabe dieses Textes ist zu zeigen, dass die Hermeneutik – nämlich die Auslegung des Gegebenen – doch eine Rolle in der »Konstitution« des Phänomens spielt und dass wir hier nicht mit einer nahezu realistischen These zu tun haben, dass es so etwas wie bloße, nicht interpretierte Gegebenheiten gibt, die sich also ausschließlich selbst geben. Schon in dem angegebenen Zitat von Marion sehen wir, dass die Phänomenalität bei Marion ohne Hermeneutik nicht auskommen kann. Aber er kann niemals behaupten, dass das Gegebene von einer Interpretation abhängt und durch und durch von ihr beherrscht wird. Wenn er dies behaupten würde, würde er die Andersheit des Gegebenen völlig aufgeben. Das Gegebene ist nicht das, was wir von ihm denken. Deswegen nimmt Marion die Position ein, dass die Hermeneutik ein dem Phänomen selbst immanenter Prozess ist – es interpretiert sich selbst, was das »Sich-Zeigen« auch eigentlich bedeutet. Es geht um eine »Interpretation«, die das Phänomen in uns und für uns vollzieht. Das Phänomen ist interpretiert (es ist nicht »rein«), aber es ist von ihm selbst interpretiert (siehe: GH, 40 f) und bleibt so frei von unserer Willkür, obwohl nicht vollständig.
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trotzdem ist es sehr wichtig festzuhalten, dass es hier in derselben Zeit um einen Prozess innerhalb des Ereignisses geht, weil der Empfänger das Empfangene zwar auslegt, versteht, sichtbar macht, aber seine Auslegung konstituiert es nicht: das Gegebene manifestiert sich selbst durch den adonné. Dies ist Marions Antwort auf den Vorwurf, der ihm (nicht aber zum Beispiel Romano, der grundsätzlich eine hermeneutische Phänomenologie vertritt) gemacht worden ist, nämlich, dass er die Gegebenheit »reiner«, nicht hermeneutisch ausgelegten Phänomene behaupte, indem er den »Rest« an der Andersheit in der Erfahrung behält, der außer der Erfahrung ist. Nun wir sehen, dass es nichts außer der Erfahrung, des Verstehens, der Hermeneutik ist, aber nicht alle Erfahrung kann begriffen werden, was heißt, dass es eine Auslegung gibt, die der adonné nicht beherrscht. Es gibt keine reinen Phänomene, was aber nicht heißt, dass die ausgelegten Phänomene vom adonné ausgelegt sind. Und es ist dieser kleine Zwischenraum, wo man noch die Andersheit des Anderen verorten kann, nämlich in einer Erfahrung ohne Erfahrung. Die Antwort holt also das Gegebene nie ein, obwohl es gesagt wird, dass es sich in ihr selbst manifestiert. Eine Antwort, das Zeigen, eine restlose Übersetzung in die Bedeutung würde die Andersheit des Rufes, der Gegebenheit, die Saturierung des Absoluten annullieren. Unsere Behauptung, dass das Gegebene unerreichbar bleibt, findet eine mehrfache Bestätigung in Marions Texten. Zum Beispiel darin, dass der Ruf die »Anonymität« (anonymat) behält: »Dem Ruf ist wesenhaft und prinzipiell zu eigen […], dass er sich gibt, ohne seinen Namen anzugeben.« (GS, 489/ED, 409) »Ein Ruf, der seinen Namen sagen würde, riefe nicht mehr, sondern er würde den Rufenden in Szene setzen, ihn zurückführen auf die bloße Sichtbarkeit desjenigen, der die Welt besetzt, er würde einfach seine Stimme in einem Schauspiel von Evidenz ersticken lassen.« (GS, 493/ED, 413) 621
Man kann nie sagen, was sich eigentlich ereignet hat, obwohl man mit etwas Sichtbarem zu tun hat. Würde aber das Ereignis sich wirklich in der Welt zeigen, hörte es auf, ein Ereignis zu sein, es würde seine radikale Andersheit verlieren. Es ist immer etwas, was nicht zu dieser Welt gehört. Die Unerreichbarkeit des Gegebenen wird auch darin behauptet, dass im Falle eines Ereignisses wir nicht mit zwei Sachen zu tun haben, nämlich mit dem anonymen Ruf und seiner 621
Siehe: GS, 499 ff/ED, 408 ff.
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Auslegung in der Antwort, von denen der Ruf eine unsichtbare und die Antwort eine sichtbare Sache wäre. Der Ruf ist keine unsichtbare Sache – der Begriff einer »unsichtbaren Sache« ist schon an sich widersprüchlich, da die Sache das Sichtbare schlechthin ist. Weil der Ruf keine Sache ist, ist er eigentlich nicht. So kann man ihn nicht fassen. Wir haben (im Sinne des Besitzes) nur das Sichtbare. Es gibt nur die Antwort. Man weiß etwas vom Ruf ausschließlich durch die Antwort, die nicht er ist, sondern nur seine Erscheinung: »Den Phänomenen zuvor ist nichts zu sehen bzw. vorherzusehen. Das Responsum sieht also nichts, bevor es sich diesem nicht hingibt.« (GS, 500/ED, 419) 622
Wenn es nur die Antwort, die Spur, das Phänomen gibt, dann müssen wir – erstens – einsehen, dass das Ereignis immer das Ereignis der Spur ist. Wir haben diese These in der Herausarbeitung der Strukturen des Ereignisses bei Levinas entwickelt und sie bestätigt sich auch hier: das Ereignis des Rufes ist das Ereignis der Antwort. Es gibt keinen unerreichbaren Ruf, der sich als eine Sache, eine Aussage oder wie auch immer ereignen würde. Er ist das Geschehnis der Antwort. Aber – und das ist das Paradoxe hier – die Antwort ist immer eine solche, als ob sie nicht das Letzte, das Ganze, das Einzige wäre. Sie als Ereignis verweist immer auf eine Andersheit, auf etwas, was sie nicht ist, sie gibt etwas Unbegreifliches. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Ruf vor der Antwort, er ist in der Antwort, aber er ist in der Antwort und er ist in ihr, als ob es ihn schon immer gegeben hat, als ob er vor der Antwort als das Erste vor ihr war. Wir müssen also einsehen, »dass sich der Ruf – phänomenologisch gesehen – nur dann gibt, wenn er sich zuerst in einer Antwort zeigt. Die Antwort, die nach dem Ruf gegeben wird, zeigt diesen gleichwohl als Erstes« (GS, 470/ED, 470).
Der Ruf ist der Antwort immanent und doch verweist sie auf ein Anderswo. Wie Levinas dies beschreibt: Die Spur bedeutet nur sich selbst, aber sie bedeutet auch das Andere. Dies ist ohne Zweifel eine paradoxe Situation. Und dieses Paradox kann man nicht so auflösen, dass man das Andere auf das Selbe reduziert, indem man sagt, dass diese Andersheit nur als Andersheit erscheint, ist aber nur ein Kon622 Siehe auch: GS/ED, 472/395, 473/396, 503/422. Dass »der Anruf [erst] in der Antwort verstehbar wird […],« hat schon Levinas behauptet. Marion zitiert Levinas diesbezüglich in: GS, 473/ED, 396.
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strukt des Bewusstseins. Der Punkt ist, dass diese Andersheit nicht nur ein Schein ist, sie ist nicht nur, »als ob« es sie gäbe. Sie kann nicht auf das solipsistische Bewusstsein reduziert werden. Wenn die Andersheit auf das Bewusstsein reduzierbar wäre, hätte es dies schon längst getan, und wir müssten hier nicht darüber noch etwas schreiben. Die Andersheit wird nicht konstituiert, aber die Phänomenologie macht auch keinen Schluss auf die ontologische Existenz dieser Andersheit. Obwohl man auch fragen könnte, ob die Weigerung, das Konstituiert-Werden des Anderen anzuerkennen, nicht schon diese ontologische Annahme enthält? Und wenn sie diese nicht enthält, welchen Status hat dann das Andere überhaupt? Wenn es nur die Antwort gibt, sodass der Ruf sich völlig entziehen kann, müssen wir – zweitens – eingestehen, dass die Antwort nur unsere Auslegung des Ereignisses ist. »Nur Auslegung« nicht im Sinne einer Willkürlichkeit, sondern der Unmöglichkeit das Unbegreifliche zu begreifen, auch wenn es sich zeigt und auch wenn wir dem, was sich zeigt, gehorsam folgen. Auch Levinas – wie wir gesehen haben – hat die Schlussfolgerung gezogen, dass die Antwort nur »mein eigenes Wort ist«. Und was auf den ersten Blick als die Schwächung des Anspruches unserer Auslegung des Ereignisses aussieht, ist eigentlich unsere Rettung vor uns selbst. Das Ereignis rettet uns vor uns selbst, indem es alles Gegebene, das es hinterlässt, als etwas von uns Geschaffenes aussehen lässt, während es selbst unbegreiflich bleibt. Wenn das so nicht wäre, wenn wir den Anspruch auf die letzte und richtige Auslegung des Ereignisses erheben könnten, da es doch in der Tat sich selbst zeigt, würden wir damit, erstens, eine gefährliche Ideologie erzeugen und, zweitens, uns von der Verantwortung für die Worte und Taten innerhalb dieser Ideologie lösen. Weil aber wir wissen, dass wir nichts wissen, sind wir vorsichtig, wenn wir eine Behauptung aufstellen, wir wissen, dass wir immer selbst dafür verantwortlich sind, was wir im Namen einer Offenbarung sagen oder tun. Das Ereignis offenbart nie eine Ideologie und es sagt auch dies: Es zeigt, dass es dies nicht macht. Und wenn jemand in seinen Worten und Taten sich auf eine Offenbarung beruft, die ihn dies oder das machen lässt, so beruft er sich nie auf eine Offenbarung, sondern nur auf sich selbst. So kann er auch nicht die Verantwortung auf die Offenbarung verschieben und sich durch sie rechtfertigen. Das Ereignis nimmt dem Menschen die Verantwortung nicht ab, sondern fördert sie. Nicht die Offenbarung kann die Welt gefährden, sondern nur die Menschen, die denken, dass sie die absolute Wahrheit erreicht 410 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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haben. Es ist genau das Ereignis, das die Möglichkeit gibt, sich vor den falschen Offenbarungen zu retten, weil es die Freiheit von uns selbst gibt, indem es immer das Andere irgendwo erahnen lässt. Das Ereignis gibt nicht nur neue Möglichkeiten für die Welt, sondern, indem es die Spuren hinterlässt, die allerdings nicht zu ihm führen, auch die Freiheit der Möglichkeiten, die sich ihrerseits nicht in einer festen, in einer für allemal bestimmten, unveränderlichen Ordnung des Gegebenen (der Antwort) realisiert, sondern sich in der Geschichte der verschiedenen Ordnungen erfüllt. Die Geschichte, die Veränderung entsteht durch die Antwort auf das Ereignis, die sich ständig fortsetzt, die sich immer korrigiert. Das Ereignis mit seinem Ruf, der eine sich ständig ändernde Antwort fordert, gibt die Geschichte: »Es [Responsum – L. P.] allein beginnt ja damit, das auszusagen, was der Ruf verschweigt. Doch es vermag niemals, ihn abschließend auszusagen. So eröffnet sich seine Geschichtlichkeit.« (GS, 498/ED, 417) »Der Ruf geht dem Responsum voraus. Letzteres lässt nicht darin nach, seine Verspätung einzusehen und auszufüllen durch die Vervielfältigung seiner Antworten, in deren Abfolge sich nichts weniger als die dem Hingegebenen eigene Geschichte auftut. Die Geschichte des Hingegebenen liegt in der Summe der Antworten, die ihn dem Ruf zugleich annähern wie ihn von ihm entfernen.« (GS, 486/ED, 407) 623
Das Ereignis gibt nicht eine Möglichkeit, sondern immer Möglichkeiten, die sich in einer Geschichte einreihen. Und diese Geschichte ist das Zeichen der Freiheit, dass das Ereignis mit sich bringt, indem es als eine endlose Antwort eines unbegreiflichen Rufes strukturiert ist. Diesen endlosen Prozess, in dem der gehorsame und passive adonné dem folgt (antwortet), was sich zeigt und doch uneinholbar entzieht, nennt Marion »endlose Hermeneutik« 624. Sie vollzieht die vom Ereignis gegebene Geschichte seiner von ihm eröffneten frei wählbaren Möglichkeiten, für die wir selbst die Verantwortung tragen, Siehe auch: GS, 475/ED, 398, GS, 498/ED, 418. Zur endlosen Hermeneutik siehe zum Beispiel: GS, 384/ED, 319; DS, 39, 155; EPh, 303/PhE, 324. Der Grund für die Endlosigkeit der Hermeneutik ist die Unbegreiflichkeit des Ereignisses, die ihren Grund wiederum in der Saturierung findet: »Im Fall eines gesättigten Phänomens überschreitet die Anschauung nämlich per definitionem das, was eine Hermeneutik des Begriffs an Sinn beibringen kann, eine Hermeneutik, die von einem endlichen Ich vollzogen wird, verfügt dieses (in seiner Begrifflichkeit, Intentionalität, Bedeutung, Noesis etc.) doch stets über weniger gebbaren Sinn als er von gegebener Anschauung verlangt wird.« (GS, 366/ED, 302 f) Siehe auch: EPh, 302 f/PhE, 324. 623 624
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obwohl ihr Anfang im Transzendenten liegt. Dieser Anfang dient nicht als Grund, gibt keine Rechtfertigung für die von uns gelebte Geschichte.
10. Das Ereignis der Gabe Damit kommen wir zum letzten Anschnitt in der Herausarbeitung der Strukturen des Ereignisses in der Philosophie Marions. Dieser Abschnitt stellt aber weniger die Fortsetzung dieses Kapitels als den Übergang zum dritten Teil dieser Arbeit dar. Es geht grundsätzlich um den philosophischen Status des Ereignisses und die Möglichkeit einer Philosophie des Ereignisses. Das Ereignis lässt sich nicht nur als die Selbst-Gegebenheit oder das gesättigte Phänomen beschreiben. In der Philosophie Marions taucht es in noch einem anderen Kontext auf, nämlich im Zusammenhang mit der Gabethematik. Natürlich ist die Gabe nur eine Art des Gegebenen, doch gleichzeitig stellt sie ein »Modell« (modèle) 625 des Gegebenen dar und dies heißt: Das, was von der Gabe gesagt wird, betrifft auch das Gegebene, insofern es sich gibt, also das Ereignis. Dass Marion überhaupt das Gegebene mithilfe des Konzepts der Gabe und die Gabe als ein Gegebenes beschreibt 626, geht auf Derridas 625 Die Stelle lautet: »Wieso sollte man auch nicht die Vermutung anstellen dürfen, dass Gabe […], wenn sie denn einmal von ihren empirischen Auswüchsen gereinigt ist, uns zumindest ansatzweise ein Modell für Gegebenheit liefern könnte […].« (GS, 140 f/ED, 108) Weil die Gabe ein Modell für das Gegebene überhaupt anbieten kann, ist sie ein »vorrangig verstandenes Phänomen« (phénomène privilégié) (GS, 141/ED, 108). 626 Marion hat mehrere Texte zur Gabethematik verfasst. Die bedeutendsten davon sind: Buch II in Étant donné – Le don – und Kapitel III und IV in Certitudes négatives – L’inconditionné ou la force du don und L’inconditionné et les variations du don. Eine besondere Beachtung verdienen auch: 1) Artikel La raison du don (Philosophie 78 (2003). Diese Abhandlung bildet später das dritte Kapitel von Certitudes négatives. In deutscher Fassung ist sie, wie schon ausführlich erklärt, im Sammelband Gabe und Gemeinwohl erschienen; 2) eine auf Englisch erschienene Sammlung von einigen Texten Marions zur Gegebenheit und Gabe (entstanden um 2008) – The Reason of the Gift (2011). Der letzte Beitrag in diesem Sammelband – Sketch of a Phenomenological Concept of Sacrifice – bildet in leicht veränderter Form die Paragraphen §§ 19– 21 (im Kapitel IV) von Certitudes négatives. Übersetzt von Rolf Kühn ist auch § 24 aus Certitudes négatives in deutscher Sprache zugänglich, und zwar zweimal: in Jean-Luc Marion: Studien zum Werk, hrsg. von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Dresden: Text & Dialog, 2013, S. 35–46 und in Religio
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Buch Donner le temps I: La fausse monnaie (1991) zurück, das seine Inspiration wiederum im bekannten Werk von Marcel Mauss – Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques (1925) – findet. La fausse monnaie ist der Anfang einer langjährigen Auseinandersetzung über den Charakter der Gabe zwischen Derrida und Marion 627, die ihre Kulmination in der Diskussion in Villanova University 1997 erreicht. 628 In den folgenden Ausführungen werden wir nicht versuchen, diese ganze Auseinandersetzung zu verfolgen. Uns interessieren nur diejenigen Aspekte der Gabe, die zum Verständnis des Ereignisses beitragen können. In der Tat betrifft die Auseinandersetzung zwischen Derrida und Marion den Kern der Ereignisproblematik. 629 In La fausse monnaie bezieht sich Derrida auf Mauss und unterscheidet drei wesentliche Momente der Gabe: den Geber, die Gabe und den Empfänger. Ohne diese Momente bleibt – so scheint es auf den ersten Blick – das Geben als solches »bedeutungslos« (FG, 22/ FM, 24). 630 Gibt es nicht jemanden, der etwas jemandem anderen gibt, so gibt es auch keine Gabe. Diese drei Aspekte bilden die Voraussetzung, damit es die Gabe gibt, damit in einer konkreten Situation von einer Gabe gesprochen werden könnte. Doch dann dreht Derrida (ganz im Geiste Derridas) alles um: und passio: Texte zur neueren französischen Religionsphilosophie, hrsg. von Rolf Kühn. Würzburg: Echter, 2014, S. 300–312. 627 Zwar konnte man schon das Buch von Marion – Réduction et donation (1989) – als den Ausgangpunkt dieser Diskussion setzen, aber Derrida bezieht sich in La fausse monnaie auf dieses Werk nur in einer Fußnote (FG, 71Anm.23/FM, 71n.1), während dem La fausse monnaie das ganze zweite Buch von Étant donné gewidmet ist. Genau dieses Werk von Derrida löst eine Diskussionswelle über die Gabe aus – auch zwischen ihm und Marion. 628 Die Vorträge und Diskussionen sind veröffentlicht in: Caputo, John D. und Scanlon, Michael J. (Hrsg.): God, the Gift, and Postmodernism. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press, 1999. 629 Und dies tut nicht nur die Auseinandersetzung über die Gabe, sondern auch ihre Diskussion über Gott und negative Theologie. Deswegen ist es kein Wunder, dass diese beiden Themen in einer – der schon erwähnten – Diskussionsrunde behandelt wurde. Wo liegt der Kern der Ereignisproblematik? In der Frage nach der Präsenz, nach dem Verhältnis zwischen Bewusstsein und Ereignis. 630 Die Stelle lautet: »[D]amit es Gabe, ein Gabenereignis gibt, muß irgend »einer« irgend »etwas« [quelque »chose«] irgendeinem anderen geben, ansonsten bleibt »geben« bedeutungslos […].« (FG, 22) Im Original: »[P]our qu’il y ait don, événement de don, il faut que quelqu’›un‹ donne quelque ›chose‹ à quelqu’un d’autre, sans quoi ›donner‹ ne voudra rien dire.« (FM, 24)
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»[D]iese Bedingungen der Möglichkeit ergeben [produire] oder definieren die Annullierung, die Vernichtung, die Zerstörung der Gabe.« (FG, 22/ FM, 24)
Warum ist es so? Aus folgendem Grund: Wenn die Gabe als die Gabe erscheint, wird sie zum Tausch, in dem die Regeln der Ökonomie gelten, nämlich, dass der Empfänger in Gebers Schuld steht, dass die Gabe die Gegengabe fordert, dass der Geber selbst sich die Gabe der Anerkennung für das Geben gibt etc. 631 Als Tausch aber wird die freie, bedingungslose, »reine« Gabe, die nur für das Geben selbst gibt, annulliert. So schließt Derrida: Wenn die Erscheinung der Gabe, die Gabe zerstört, darf sie nicht »erscheinen« (apparaître): »Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabeempfänger noch dem Geber.« (FG, 25/FM, 26)
Für Marion bedeutet der Ausschluss der Gabe aus der Phänomenalität ihre Nicht-Existenz – wenn niemand um die Gabe weiß, gibt es sie nicht: »A la limite, si mon herméneutique ne me permet pas de (ou ne veut pas) le reconnaître comme donné, le don disparaît comme tel.« (CN, 198) 632
Deswegen darf die Gabe, wenn es sie geben sollte, nicht völlig ihre Phänomenalität verlieren. Von anderer Seite darf sie auch nicht zum Tausch werden, der die drei schon erwähnten Momente voraussetzt und durch sie erscheint. Die Gabe darf also nicht zum Tausch werden und doch muss sie erscheinen, um zu sein. Welche Lösung bietet sich hier für Marion an? Und zwar eine solche, dass man nach einer Gabe suchen muss, die mindestens einen von den sie bedingenden Momenten – entweder den Geber oder den Empfänger oder das gegebene Objekt – nicht aufweist. Eine solche Gabe wäre eine Gabe außerhalb der Ökonomie. Phänomenologisch hieße dies, die Gabe im Horizont FG, 22 ff/FM, 24 ff. Wir müssen unbedingt beachten, dass für Derrida die Nicht-Phänomenalität der Gabe nicht ihre Nicht-Existenz bedeutet. Im Gegenteil: Sie ist die Voraussetzung, damit es die Gabe überhaupt geben könnte: »I tried to precisely displace the problematic of the gift, to take it out of the circle of economy, of exchange, but not to conclude, from the impossibility for the gift to appear as such and to be determined as such, to its absolute impossibility. I said, to be very schematic and brief, that it is impossible for the gift to appear as such. So the gift does not exist as such, if by existence we understand being present and intuitively identified as such. So the gift does not exist and appear as such; it is impossible for the gift to exist and appear as such. But I never concluded that there is no gift.« (OG, 59) 631 632
414 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
der Gegebenheit zu beschreiben, indem man die drei Momente – den Geber, die Gabe und den Empfänger – reduziert. Es gibt die Gabe, wenn in Bezug auf sie mindestens der Geber oder der Empfänger oder das gegebene Objekt reduziert ist: »Wenn Reduktion hier zum Einsatz kommen sollte, dann könnte dies – selbst im Falle von Gabe und Gegebenheit – nicht anders geschehen als so, wie sich in der Phänomenologie Reduktion immer vollzieht: durch das Einklammern von Transzendenzen – von welcher Art diese auch sein mögen. […] Die Reduktion von Gabe auf Gegebenheit und Gegebenheit auf sich selbst bedeutet demnach, Gabe unter Absehung von der dreifachen Transzendenz, unter deren Einfluss sie bislang stand, zu denken: Gabe zu denken, indem man nacheinander die Transzendenz des Gabe-Empfängers, die Transzendenz des Gebers und schließlich die Transzendenz des Tauschobjektes einklammert.« (GS, 156 f/ED, 122)
Dass die Gabe, die sich dem ökonomischen Kreislauf entzieht, nicht nur eine theoretische reduktionsgemäße Konstruktion ist, sondern auch wirklich existiert, zeigt Marion mit vielen Beispielen. Erstens gibt es solche Gaben, bei denen der Empfänger in Klammern gesetzt ist. Wenn man zum Beispiel einer humanitären Organisation spendet, weiß man nicht, wem man gibt – für mich, den Geber, bleibt der Empfänger völlig abwesend. Weil der Empfänger anonym bleibt, wird keine Gegengabe gefordert: »dieser Gabe-Empfänger kassiert faktisch ein, aber ohne zurückzugeben« (GS, 163/ED, 126). Ohne die Gegengabe bleibt die Gabe außerhalb des Kreislaufs der Güter. Die NichtExistenz der Gegengabe wird noch möglicher, wenn man seinem Feind gibt – er leugnet, der Empfänger meiner Gabe zu sein, und gibt mir somit keine Chance auf eine Rückgabe. »Seinem Feind geben heißt vergeblich, für nichts, grundlos geben.« (GS, 166/ED, 129) Auch im Falle eines »undankbaren Menschen« (ingrat) ist die Möglichkeit der Gegengabe ausgeschlossen – ein undankbarer Mensch sieht es nicht ein, dass er etwas empfangen hat, und er ist ein solcher, »der sie [Gabe – L. P.] (aus Undank) nicht erträgt, der sie nicht erwidern will und dies ferner auch nicht kann« (GS, 168/ED, 131). In diesen drei Fällen gibt es also keinen Empfänger, deswegen auch keine Gegengabe und somit auch keinen Warentausch. Es gibt auch keinen Empfänger, wenn man einem Leidenden gibt, um so an Jesus zu geben, da Jesus unsichtbar bleibt (GS, 170/ED, 132 f). Oder wenn man einer Gemeinschaft gibt: »kein Einzelmensch könnte sich für ein soldatisches Opfer bedanken. Ebenso könnte kein Einzelmensch her-
415 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
gehen und die Verantwortung für Kollektivschuld übernehmen« (GS, 172/ED, 134). Zweitens gibt es solche Gaben, bei denen der Geber abwesend ist. Ein Beispiel ist die Erbschaft. Der Geber hat mir gegeben und ist gegangen. Dies schließt die Gegengabe aus und befreit sie vom Kreislauf von Gabe und Gegengabe: »Ich komme in den Genuss einer Gabe und kann sie nicht erwidern« (GS, 178/ED, 139). Es gibt es auch keinen Geber, wenn der Geber nicht weiß, was er gegeben hat. Es geschieht oft, dass jemand unbewusst und ungewollt jemandem etwas gibt – das Bewusstsein des Gebers »weiß noch nicht um den Effekt, den es auf einen potentiellen Gabe-Empfänger ausübt« (GS, 179/ED, 140). Wenn man gibt, ohne es zu wissen, erwartet man auch keine Rückgabe. Dass eine Gabe ohne Geber existiert, zeigt sich auch überall, wenn wir sehen, was uns alles gegeben ist, von dem wir nicht wissen, woher es kommt. Schließlich sind wir uns selbst gegeben: »das Sich als solches, das Sich des Bewusstseins, empfängt sich direkt als (gegebene) Gabe ohne (gebenden) Geber« (GS, 182/ED, 142). Drittens, während im Tauschhandel immer etwas gegenseitig getauscht wird, was auch deswegen eindeutig bestimmbar, messbar ist und einen berechneten Wert hat, gibt es die Gabe, wenn sie nichts Vergleichbares gibt, wenn sie also kein Objekt gibt: »Gabe kann sich oft ohne den geringsten Gegenstand vollziehen« (GS, 189/ED, 148). Man kann zum Beispiel die Macht geben (GS, 190 f/ED, 149), oder sich selbst einen Anderen geben (GS, 191 f/ED, 149 f) oder das Wort geben (GS, 192 f/ED, 150 f). Man kann Leben, Zeit, Tod, Vertrauen, Liebe und Freundschaft schenken (GS, 197/ED, 155). Es gibt auch Gaben, bei denen alle drei Momente des Tausches in Klammern gesetzt sind. Im Vortrag La raison du don zeigt Marion, wie sich im Falle der Vaterschaft die Gabe im Horizont der Gegebenheit einschreiben lässt. Im Vergleich zur Mutter, zeugt der Vater das Kind, muss aber dann zurückziehen – das Kind bleibt in der Mutter. Er zieht sich auch später zurück, wenn er das Kind durch seine Arbeit außerhalb der Familie versorgen muss. Er gibt, bleibt aber abwesend: »über den Vater lässt sich immer nur mutmaßen« (GG, 64/RdD, 20). In der Vaterschaft gibt es auch keinen Empfänger im ökonomischen Sinne des Wortes, weil das Kind dem Vater unmöglich erwidern kann: »weil es ihm nämlich niemals gegeben sein wird, seinem Vater das zurück zu geben, was es von ihm empfangen hat: das Leben« (GG, 65/RdD, 20). Und schließlich, was hier gegeben und empfangen wird, stellt kein Objekt dar: »[d]er Vater gibt dem Kind nichts als das Leben 416 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
(und einen Namen, mit dem er dieses Leben anerkennt und beglaubigt)« (GG, 65/RdD, 21). Während Derrida die Erscheinung der Gabe und die drei Bedingungen der Gabe, die in dieser Erscheinung sichtbar werden, als die Zerstörung der Gabe bestimmt, zeigt Marion, dass die Gabe erscheinen kann, aber sie muss mindestens eine von diesen Bedingungen reduzieren. Die Erscheinung zerstört nicht die Gabe, sie wird sogar von der Gabe vorausgesetzt. Die Gabe gibt es, sie entzieht sich dem Kreislauf der Güter, wenn es keinen Geber, keinen Empfänger und kein Objekt gibt. Diese Charakterisierung ist auf jedes Phänomen, insofern es im Horizont der Gegebenheit beschrieben wird, übertragbar, da auch die Gabe genau durch ihre Gegebenheit bestimmt wird und in diesem Sinne wie jedes andere Phänomen erscheint. Dass das Phänomen ohne Geber ist, haben wir schon gesehen – das Phänomen wird nicht gegeben, es gibt sich selbst. Wir haben festgestellt, dass der Empfänger nicht so leicht auszuschalten ist, da das Phänomen als Phänomen per definitionem ein Bewusstsein voraussetzt. Es muss ein Empfänger geben. Doch das Phänomen befreit sich von den Schranken des Empfängers dadurch, dass es immer mehr gibt, als der Empfänger empfangen kann. Dieser Rest bleibt gegeben, aber nicht empfangen. Er ist folglich die Gabe außerhalb der Ökonomie. Schließlich ist das Phänomen, insofern es im Horizont der Gegebenheit erscheint, kein Objekt – das, was sich gibt und zeigt, ist nicht ein bestimmtes Etwas, es überschreitet die Grenzen eines durch einen Begriff konstituierten Objekts: »Gesättigte Phänomene weigern sich, sich als Gegenstände beobachten zu lassen, eben weil sie mit einem vielfachen und unbeschreiblichen Überschuss erscheinen, der jede Konstitutionsbemühung zunichte macht. Ein gesättigtes Phänomen ist als ein ungegenständliches oder besser: als ein nicht zu vergegenständlichendes Phänomen zu bestimmen.« (GS, 361/ ED, 298 f)
Achten wir darauf, dass die Nicht-Objektivität des Phänomens nicht seine Nicht-Erscheinung bedeutet. Das Phänomen wird vom passiven adonné empfangen und sichtbar gemacht, obwohl nicht konstituiert und somit völlig beherrscht – es bleibt immer ein unbeherrschbarer exzessiver Rest an dem, was sich zeigt. Es ist aber interessant, dass in seinen späteren Werken (zum Beispiel in De surcroît) Marion auch an solchen Phänomenen arbeitet, die überhaupt nicht erscheinen. Es geht um solche Phänomene, die weder Objekte noch exzessive und 417 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
DIE LOGIK DES EREIGNISSES
nicht objekthafte Phänomene darstellen, sondern überhaupt nicht erscheinen und sich trotzdem geben. Ein solches Phänomen ist für Marion der Tod, ein anderes: die Geburt. Im Ereignis des eigenen Todes erscheint nichts (oder eher, man kann nicht wissen, ob etwas erscheint oder nicht), weil mit dem Tod das Bewusstsein selbst stirbt: »[S]i la mort passe sur moi (à supposer d’ailleurs qu’un phénomène apparaisse en ce passage), comme je trépasse avec lui, je ne puis jamais en voir l’événement. […] Ce que donne la mort – un événement ou un néant de phénoménalité? –, nous l’ignorons.« (DS, 49 f)
Im Ereignis der Geburt erscheint nichts, weil das Bewusstsein noch nicht entstanden ist: »Pourtant, ce phénomène indiscutable, je ne peux par principe pas le voir directement. […] ma naissance me montre précisément le fait que mon origine ne se montre pas, ou qu’elle ne se montre que dans cette impossibilité même à paraître […].« (DS, 52)
Damit kommen wir allmählich zum Punkt, an dem sich zeigt, wo Marions Auseinandersetzung mit Derrida über die Gabethematik die Kernfrage des Ereignisdenkens berührt. Genau in dieser Problematik wird es auffällig dass Marions Ansatz phänomenologisch ist und dass dies bei der Behandlung des Ereignisses problematisch ist. Das Ereignis wird in der Phänomenologie als ein (saturiertes) Phänomen gedacht. Das Phänomen ist das, was dem Bewusstsein erscheint. Obwohl man festhalten muss, dass Marion auch solche Phänomene vermutet, die nicht erscheinen und sich trotzdem geben. Wenn auch das Phänomen nicht erscheint (als gegenständlich), wird es empfangen, wenn auch nicht ohne Rest. Es gibt und es muss immer jemanden geben, der um das Gegebene Bescheid weiß, ob er es begreift oder nicht. Das Ereignis ist, insofern es jemanden gibt, der sich dessen bewusst ist. Es ist dieses Bewusstsein (aktiv, passiv oder sogar unbewusst: das spielt hier keine Rolle). Das Ereignis des Spaziergangs mit dem Liebenden durch die Sommernacht ist das Bewusstsein von diesem Spaziergang. Und dieses Bewusstsein des Ereignisses beschreibt die Phänomenologie. Ist aber dieser Spaziergang, die Geburt, der Tod, die bedingungslose Vergebung ein Phänomen, das man sieht (wenn auch als gesättigt) und beschreibt (wenn auch in einer endlosen Hermeneutik)? Oder müssen sie völlig anders gedacht werden? Dies ist genau die Frage, die Derrida in La fausse monnaie stellt. Seine Hauptthese ist, dass das Bewusst-Werden und Beschreiben das Ereig418 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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nis (der Gabe) vernichtet. Es gibt die Gabe, es kann sie geben, aber nie als ein Phänomen. Die Gabe duldet keine Phänomenalität. Es gibt entweder das Ereignis oder die Erscheinung, aber nicht die Erscheinung des Ereignisses, und deswegen auch keine Phänomenologie des Ereignisses. Oder noch genauer: Es kann sehr wohl eine Philosophie bzw. eine Phänomenologie des Ereignisses geben, aber dann behauptet sie das zu geben (nämliche eine Philosophie des Ereignisses), was sie eigentlich nicht gibt und nicht geben kann: »Man könnte so weit gehen zu sagen, daß selbst ein so monumentales Buch wie der Essai sur le don von Marcel Mauss von allem möglichen spricht, nur nicht von der Gabe […].« (FG, 37/FM, 39)
Mit anderen Worten: Mauss gibt uns ein Buch, von dem er behauptet, dass es ein Buch von der Gabe ist, aber es ist kein Buch von der Gabe, die es gibt, sondern nur vom Phänomen der Gabe, die keine Gabe ist. Mauss gibt uns also Falschgeld und gibt es für wahres Geld aus. 633 Würde man verstehen, dass das Phänomen des Ereignisses nicht das Ereignis ist, würde man verstehen, dass die Phänomenologie des Ereignisses Falschgeld ist, und wollte man kein Falschgeld dem Leser geben, sollte man dieses Buch auch so benennen, nämlich »Falschgeld«: »denn Falschgeld ist nur falsch, wenn es seinen Titel/Gehalt nicht angibt« (FG, 117/FM, 114).
Wir sehen, dass Derrida sein Buch über die Gabe »Falschgeld« genannt hat, um zu zeigen, dass es kein Buch über das Ereignis (der Gabe) ist, obwohl oder eher genau deswegen, weil es die Gabe behandelt. Das Ereignis ist für das Bewusstsein, für das Denken, für die Behandlung »das Unmögliche« (l’impossible). (FG, 43/FM, 45) Das Denken, dass das Unmögliche für das Denken zu denken versucht, ist keine Phänomenologie, die das Phänomen des Unmöglichen beschreibt, weil die Phänomenologie das Unmögliche schon längt verlassen hat. Es ist bemerkenswert, wie sehr Marions Antwort auf Derrida seine eigene Position ans Licht bringt. Während Derrida behauptet, dass das Ereignis (der Gabe) in der Phänomenalität aufhört, so zu sein, wie es sich gibt, ist für Marion die Phänomenalität die Bedingung der Gabe. Wenn niemand um die Gabe weiß, wenn niemand sich 633
FG, 81 ff/FM, 81 ff.
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DIE LOGIK DES EREIGNISSES
ihrer bewusst ist, gibt es sie nicht. Diese Bedingung bleibt in Kraft auch dann noch, wenn man die Reduktion vollzieht. Schaltet man den Geber aus, so muss der Empfänger die Gabe bestätigen: »Doch die Beschreibung des Gabe-Phänomens kann – da es hier der Geber ist, der ausbleibt – nur vom Gabe-Empfänger aus, der die Rolle eines reinen phänomenologischen Bewusstseins innehat, unternommen werden. […] So erfüllt sich die Gabe selbst ohne Geber, da ihr Sich-Zeigen genügt, um sich dem Gabe-Empfänger zu geben.« (GS, 187/ED, 146 f)
Schaltet man den Empfänger aus, so muss der Geber die Gabe identifizieren: »Dem Geber käme insofern zu, die Gabe ohne Gabe-Empfänger phänomenologisch zu bezeugen. […] Der Geber spielt dann […] die Rolle eines Gabe-Empfängers, insofern sich Gabe just an ihn richtet, um erscheinen zu können. So vollzieht sich die Gabe – selbst ohne Gabe-Empfänger –, genügt es doch, dass sie sich gibt, um sich zu zeigen.« (GS, 173 f/ED, 135 f)
Es muss so sein, weil es die Gabe gibt, nur insofern sie bewusst ist – sie ist dieses Bewusstsein. Deswegen ist auch eine Phänomenologie der Gabe völlig möglich – sie formuliert bewusst das, was bewusst ist. Sie vernichtet nichts, sie verliert nichts, sie gibt kein Falschgeld. Als ein Text kann sie natürlich das Gegebene nicht so wiedergeben, wie es sich gibt, aber dies stellt nur eine Verschiebung innerhalb des Bewusstseins dar. Es stellt nicht das Bewusstsein selbst in Frage, so wie es Derrida macht. Gegen Derrida schreibt Marion, dass ein Denken der Gabe, so, wie es von Mauss entwickelt wird, »legitim« bleibt, genauso wie Derridas Versuch zum Falschgeld: »Es ist weiterhin voll und ganz legitim, sowohl einen ›Versuch zur Gabe‹ anzustrengen (M. Mauss) als auch diesen formal zu kritisieren (J. Derrida) […].« (GS, 204/ED, 161)
Es ist keine Sache der Meinung, die man frei auswählen kann – es geht um den philosophischen Status des Ereignisses. Ist es ein Phänomen oder nicht? Ist das, was geschieht, wenn es geschieht, das Bewusstsein davon, auch wenn kein gegenstandbezogenes Bewusstsein da ist, wie das bei Marion der Fall ist? Sowohl für Levinas als auch für Derrida ereignet sich das Ereignis außerhalb von dessen Bewusstwerdung. Es ist unmöglich für das Bewusstsein und Denken. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Ereignis völlig ohne uns geschieht, dass wir es nicht merken: Wir sind dabei, wir sind drin, mitten im Ereignis, ohne dessen Manifestation im Bewusstsein. Es gibt das Ereignis, er420 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Die Logik des Ereignisses in der Philosophie Jean-Luc Marions
scheint es aber, so ist es nicht mehr. Marion bestimmt dagegen das Ereignis als Phänomen. Man darf natürlich nicht außer Acht lassen, dass er auch solches Gegebene zulässt, das nicht erscheint. Natürlich ist es immer noch problematisch, ob das Ereignis etwas Gegebenes, wenn auch nicht Erscheinendes, sein könnte, aber wir können erstmal nicht leugnen, dass auch Marion etwas zulässt, was das Bewusstsein nicht erreicht, was den Horizont des Bewusstseins und somit den letzten Horizont überhaupt übertrifft, also etwas, was wir Ereignis nennen könnten. Ist das noch ein Phänomen? In der Diskussion in Villanova University sind die Antworten Marions und Derridas ganz deutlich. Marion sagt Folgendes: »I said to Levinas some years ago that in fact the last step for a real phenomenology would be to give up the concept of horizon. Levinas answered me immediately: ›Without horizon there is no phenomenology.‹ And I boldly assume he was wrong.« (OG, 66)
Darauf antwortet Derrida: »I am also for the suspension of the horizon, but, for that very reason, by saying so, I am not a phenomenologist anymore.« (OG, 66)
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III. UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES: Zusammenfassung und Ausblick
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UNTERWEGS ZU EINER PHILOSOPHIE DES EREIGNISSES
1.
Die Logik des Ereignisses
Wenn wir den zweiten Teil mit einem Zitat von Derrida abgeschlossen haben, so heißt es nicht, dass wir ihm das letzte Wort über das Ereignis überlassen. Dieses Zitat soll bloß den Übergang zu diesem – dritten – Teil vorbereiten, in dem nach der philosophischen Bestimmung des Ereignisses gefragt wird. Wie müssen wir das Ereignis denken? Die Auswahl der Möglichkeiten ist natürlich schon dadurch eingegrenzt, dass wir ganz bestimmte Ereignisse (»Sachen«) behandeln, nämlich solche, die einen Betroffenen haben. Heideggers Ereignis des Seins ist ein Ereignis, das den Menschen ins Dasein verwandelt und ihm eine bestimmte Geschichte eröffnet. Levinas’ Ereignis des Anderen lässt dem Selben ursprünglich und radikal seinen ontologischen Egoismus überwinden. Marions Ereignis lässt dem Empfänger das Andere und sich selbst empfangen. Merleau-Pontys Wahrnehmung als Begegnung mit der Welt, Derridas Gastfreundschaft, die Liebe bei Badiou, Romanos trauriges Ereignis des Todes eines nächsten Menschen etc. – sie sind keine empirischen Ereignisse und deswegen können sie nicht zum Gegenstand irgendwelcher Ontologie werden, die ein in der Objektivität gesetztes und so vorausgesetztes Seiendes erforscht. Es geht hier um Ereignisse, die es nur insofern gibt, als jemand sie erfährt. Die Liebe kann nicht von außen beobachtet oder begrifflich gesetzt werden – sie ist ausschließlich durch die Liebenden da. Aus diesem Grund entsteht die Frage nach einer möglichen »Phänomenologie des Ereignisses« – einer Beschreibung, die den Betroffenen, der von einem Phänomen betroffen ist, – den Phänomenologen selbst – hineinziehen und sich so der spekulativen Sachlichkeit einer Ontologie entziehen würde. 634 Es scheint in der Tat, dass die 634 Dies ist in der Tat die erste Aufgabe, die Husserl der Phänomenologie aufträgt, nämlich dass sie nicht mehr bloß etwas über etwas behauptet (weil es herkömmlich, gängig, scheinbar »logisch« etc. ist), sondern versucht, alles Gesetzte und Vorausgesetzte zu veranschaulichen und auf diese Weise überprüft, die Spekulationen ausscheidet. In den Logischen Untersuchungen heißt es: »Also dieses Gegebensein der logischen Ideen und der sich mit ihnen konstituierenden reinen Gesetze kann nicht genügen. So erwächst die große Aufgabe, die logischen Ideen, die Begriffe und Gesetze, zu erkenntnistheoretischer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen. / Und hier setzt die phänomenologische Analyse ein. / Die logischen Begriffe als geltende Denkeinheiten müssen ihren Ursprung in der Anschauung haben; […] Bedeutungen, die nur von entfernten, verschwommenen, uneigentlichen Anschauungen – wenn überhaupt von irgendwelchen – belebt sind, können uns nicht genug tun. Wir wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen. An vollentwickelten Anschauungen wollen wir uns zur
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Phänomenologie die richtige Zugangsweise zum Ereignis ist – sogar unausweichlich, wenn wir uns an die Worte von Françoise Dastur, die wir in der Einleitung zitiert haben, erinnern, nämlich »daß es kein mögliches Denken des Ereignisses gibt, welches nicht zugleich und prinzipiell ein Denken der Phänomenalität ist« (Dastur, 234/173) 635. Es scheint in der Tat, dass die Denker des Ereignisses zumindest teilweise phänomenologisch arbeiten und arbeiten müssen; es scheint, dass die Denker des Ereignisses zumindest teilweise mit Phänomenen zu tun haben. Doch bevor wir zu dieser »Meta-Frage« über die philosophische Bestimmung des Ereignisses übergehen, fassen wir zuerst die Ergebnisse kurz zusammen, zu denen wir in dem vorherigen Kapitel gekommen sind. Wie beschreiben Heidegger, Levinas und Marion das Ereignis, wie geschieht es, was ist sein Wie des Geschehens, seine »Logik«? Wir werden gleich sehen, dass, insofern wir nur die bloße Beschreibung dieser »Sache« anschauen, viele Ähnlichkeiten zwischen diesen drei Denkansätzen aufweisbar sind, aber auch entscheidende Unterschiede.
1.1. Das Ereignis und ein Etwas Wir kennen Ereignisse – sie geschehen mit uns. Wenn wir über sie nachdenken, stellen wir fest, dass wir es in Bezug auf sie nicht mit einer »klaren und deutlichen Idee« zu tun haben. Das Ereignis ist nicht ein Etwas, das wir als etwas Bestimmtes mit den Händen, Augen oder Gedanken fassen könnten. In Bezug auf das Ereignis hat man immer das Gefühl, dass man es nicht hat. Es ist wie im Traum, wenn man irgendwohin gelangen muss, kommt aber immer anderswo an: Man wird aufgehalten, überall gibt es irgendwelche HinderEvidenz bringen, dies hier in aktuell vollzogener Abstraktion Gegebene sei wahrhaft und wirklich das, was die Wortbedeutungen im Gesetzesausdruck meinen […].« (Hua XIX/1, 9 f) Etwas zu veranschaulichen kann aber nur der jeweilige Denker. Also nur durch das Hineinziehen des Phänomenologen können die »Sachen selbst« beginnen zu sprechen. Was ist Brot? Es ist kein Lebensmittel mehr – es ist das Stillen des Hungers (Levinas). Was ist die Zeit? Sie ist keine Folge von Jetzt-Punkten mehr, sondern das Verstehen des Todes (Heidegger). Was ist die Welt? Nicht mehr die objektive Anwesenheit, sondern das, worin wir hineingeboren sind, worin wir philosophieren und worin wir sterben (Husserl, Merleau-Ponty). 635 Viele von in diesem Kapitel angeführten Zitaten sind bereits im vorherigen Text dieser Arbeit zitiert. Wir führen sie aber noch einmal mit der Quellenangabe an, damit dieses Kapitel auch separat vom übrigen Text gelesen werden könnte.
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nisse, hinter der richtigen Tür liegt ein falsches Zimmer etc. Es ist wie in Kafkas Werk Das Schloss. »Seyn ist niemals Objekt und Gegenstand, Vor-stellbares,« (BPh, 252) hat Heidegger über das Sein als Ereignis gesagt. Vom Anderen als Ereignis hat Levinas behauptet: »Es entgeht der Vorstellung. Das Gesicht ist gerade das Ausbleiben der Phänomenalität.« (JS, 199/AQE, 112) Zu dieser Zeit, d. h. zur Zeit der Beiträge, vermeidet Heidegger schon längst die phänomenologische Terminologie, die Levinas hier bedient, beide sprechen aber von der Vorstellung: Vor-stellung, Sich-etwas-vor-Augen-Stellen, Sichetwas-vor-Augen-anwesen-Lassen, représentation, Vergegenwärtigung, Sich-etwas-vor-Augen-wieder-anwesen-Lassen. Wenn etwas vor Augen – vor meinen Augen – ist, ist es eine Erscheinung, die mich betrifft; es ist ein Phänomen, das meins ist. Wenn aber im Ereignis nichts vorgestellt wird, gibt es auch keine Phänomene, also nichts; nichts, von dem man noch (phänomenologisch) sprechen könnte. Nun es ist nicht wahr, dass im Falle eines Ereignisses nichts erscheint. So haben das sowohl Heidegger als auch Levinas gesehen – schließlich tritt ja das Dasein ins Verhältnis zum Sein, das es gibt, und das Selbe öffnet sich für den Anderen, dem es antwortet. Trotzdem haben sie das Ereignis aus der Phänomenalität ausgeschlossen. Wir werden gleich sehen, warum das Ereignis trotz der Erscheinungen, die in ihm auftreten, selbst kein Phänomen ist. Aber man kann natürlich auch anders denken: Wenn es nicht stimmt, dass im Ereignis nichts erscheint, fordert es schlicht eine andere Phänomenologie: eine Phänomenologie, die nicht auf die Gegenstände fixiert ist, sondern solche Phänomene beschreibt, die nicht ein Etwas sind. Das ist die Idee des »gesättigten Phänomens«, die Marion anbietet. Die Ereignisse können als Phänomene beschrieben werden, »bei denen die Anschauung mehr, ja unermesslich mehr geben würde als das, was die Intention jemals angezielt oder vorhergesehen hätte« (GS, 336/ED, 277). Die Idee des gesättigten Phänomens sagt genau, dass mir zwar etwas erscheint, aber es ist unmöglich zu wissen, was es ist: Ich kann es nicht begreifen, d. h. auf einen Gegenstand hin durchleuchten. Man könnte jetzt denken, dass wir vor folgender Alternative stehen: Entweder sagen wir, dass, wenn das Ereignis nicht als etwas erscheint, es kein Phänomen ist und von der Phänomenologie nicht behandelt werden kann (Heidegger, Levinas), oder wir sagen, dass es dann ein andersartiges Phänomen (ein »gesättigtes Phänomen«) ist und zum Thema der Phänomenologie werden kann, sie muss aber entsprechend modifiziert werden (wie sie zum Beispiel von Marion 427 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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zur Phänomenologie der Gegebenheit entwickelt wird). Aber das ist nicht diejenige Alternative, vor der wir eigentlich stehen. Achten wir auf einen Moment: Wir wollen das Ereignis verstehen, wir wollen wissen, wie es geschieht. Wenn wir aber vor der Alternative stehen, ob das Ereignis ein Etwas oder kein Etwas ist, befinden wir uns schon in der erkennenden Einstellung – wir haben ein Thema vor uns und behandeln es. Einige sagen, dass die behandelte Sache kein Phänomen ist, einige behaupten dagegen, dass sie ein andersartiges Phänomen ist. Jetzt sehen wir: Es gibt hier eigentlich keine Alternative, weil die Sache schon gesetzt worden ist, sie erscheint schon, ist schon Phänomen: Sie ist das, was uns, Denkende, betrifft. Man kann in diesem Moment nicht mehr sagen, dass das Ereignis kein Phänomen ist. Marion hat recht, dass das Ereignis ein Phänomen ist – insofern wir nach dem Ereignis fragen, ist es schon ein Phänomen. Heidegger und Levinas (und Derrida) machen auf diesen Sachverhalt aufmerksam. Deswegen behaupten sie, dass das Ereignis nicht befragt werden kann. Insofern man nach dem Ereignis fragt, ist es schon ein Phänomen, was es eigentlich nicht ist. Die eigentliche Alternative wäre also nicht zwischen Etwas und Nicht-Etwas, sondern zwischen Denkbarkeit und Nicht-Denkbarkeit. Wenn also das Ereignis kein Etwas ist, so ist es für Marion und andere Phänomenologen heutzutage bloß kein intentional erfasster Gegenstand, aber immer noch ein Phänomen für eine mögliche Phänomenologie. Für Levinas und Heidegger bedeutet dies dagegen, dass es undenkbar ist, weil das Denken prinzipiell nur mit den Vorstellungen, Erscheinungen etc. arbeitet, die immer schon ein Etwas sind, wenn auch verschwommenes. Eine Frage bleibt also: Ist das Ereignis kein Etwas, weil es kein Gegenstand ist oder weil es undenkbar in so radikalem Sinne ist, dass man nicht fragen kann, ob es ein Gegenstand ist oder nicht, weil eine solche Frage es schon vergegenständlicht hat und so eine ernste Beantwortung dieser Frage zunichtegemacht hat? Man könnte einwenden, dass wir hier zwei Ebenen vermischen, nämlich die Ebene des Ereignisses selbst und die des Denkens über das Ereignis. Vielleicht ist das Ereignis undenkbar, also nicht für einen Denker vorstellbar, weil er begrifflich denkt, aber trotzdem an sich eine Erscheinung für den Betroffenen? Vielleicht ist das Hören der Musik prinzipiell undenkbar, aber das soll noch nicht bedeuten, dass die Musik kein Phänomen, kein intentionales Erlebnis (wenn auch nicht gegenständliches) für den Hörenden ist. In der Tat ist das richtig. Und das könnte auch bedeuten, dass wir uns nicht zwischen der 428 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Undenkbarkeit und einer andersartigen Phänomenalität entscheiden müssen (es gibt hier nämlich keine Alternative), wenn wir davon überzeugt sind, dass das Ereignis kein Etwas ist – beides könnte gelten, nämlich dass das Ereignis ein Phänomen ist, das man nicht begrifflich denken kann. Es könnte sein, dass Marion genau in diese Richtung denkt: Das Ereignis ist ein Phänomen, das man erfahren kann, das man aber durch gegenständliche Intentionalität und Begriffe nicht denken kann. 636 Die Musik kann man erfahren, aber nicht denken. Doch damit kommen wir zum wirklich Wesentlichen des Ereignisdenkens: Das Ereignis kann man nicht denken und man kann es auch nicht erfahren. Die Struktur des Denkens von einem Etwas (oder Nicht-Etwas) und der Erfahrung von einem Nicht-Etwas (oder Etwas) ist eigentlich gleich. Das Ereignisdenken stellt in Bezug auf das Ereignis genau die Subjekt-Objekt-Struktur, die phänomenologische Erlebnis-Erlebtes-Struktur in Frage. Konkret heißt dies: Die Musik kann man weder denken noch erfahren – die Musik geschieht mit uns. Das Nicht-Etwas des Ereignisses ist sein Mit-uns-Geschehen.
1.2. Das Ereignis und das, was sich ereignet Levinas und Heidegger bestimmen das Ereignis als unvorstellbar in radikalem Sinne des Wortes: Es ist für das Denken unvorstellbar, so636 In der Tat ist das die Antwort Marions auf Derrida: »Denn er [Derrida – L. P.] denkt zumindest implizit, dass es, wenn es keine Anschauung mehr gäbe, auch keine Phänomenalität mehr gäbe. Die grundlegende These Derridas ist das grundsätzliche Fehlen der Anschauung. Es gibt nur das Anzeichen, die Spur etc., aber nicht die Anwesenheit. Und wenn es keine Anwesenheit, das heißt für ihn, wenn es keine Anschauung gibt, gibt es auch kein Phänomen mehr. Dies ist ohne Zweifel ein Fehler, denn die Phänomenalität bewirkt weder die Anschauung noch die Ontologie, sondern die Gegebenheit (donation). Nun sind das Anzeichen und die Spur auch gegeben. Husserl hat übrigens gesagt, dass die Sinngebung auch ohne Anschauung noch die Gegebenheit ist. Die Gegebenheit bleibt also gültig, auch nach der Dekonstruktion. […] Wenn es Gegebenheit gibt, dann auch Phänomenalität.« (RuG, 47 f) Derrida – wie Marion ihn hier auslegt – denkt, dass, wenn nichts erscheint (in der Präsenz des Bewusstseins), dann gibt es nichts – keine Gegebenheit, keine Phänomenalität. Er sagt aber: Es kann sein, dass nichts erscheint, aber es gibt es trotzdem und zwar als ein Phänomen. Doch dabei übersieht Marion die weitere Argumentation von Derrida: Es kann sein, dass etwas nicht erscheint und es trotzdem gibt, aber diese Gegebenheit kann nie ins Schema »Bewusstsein-Phänomenalität« (wie auch immer es verstanden wird) hineingezwungen werden – sie ist radikal anders. Dies bildet den Kern von Derridas Kritik an die Phänomenologie.
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dass man es nicht mal denken darf, um es als unvorstellbar zu charakterisieren; es ist für das phänomenologische Erlebnis nicht erfahrbar, sodass man es nicht mal erfahren darf, um es als nicht-erfahrbar zu erfahren. Aber etwas ereignet sich, sogar etwas, was erscheint, was man beschreiben kann. Natürlich: Wenn die Liebe auf den ersten Blick geschieht, ereignet sich unendlich vieles. Man kann noch das restliche Leben davon erzählen und immer noch nicht alles von diesem einen Moment sagen. Heidegger hat von der »Fülle der Ereignung« (BPh, 7) gesprochen. Und Levinas hat schon so viel über die ethische Begegnung mit dem Anderen geschrieben, als er dann gesagt hat: »Aber man darf nicht schweigen. Wir befinden uns nicht vor einem unsagbaren Geheimnis.« (GE, 131/DI, 157) So kommt es bei diesen beiden Autoren zu einer äußerst wichtigen Unterscheidung und sie ist bei keinem anderen Denker so ausgeprägt und gewissermaßen auch so eindeutig wie bei Heidegger. In den Beiträgen (1936–1938) wird das Ereignis als die Wesung des Seins gedacht. In Über den Anfang (1941) wird das Sein vom Ereignis als Anfang unterschieden. Diese Unterscheidung widerspiegelt sich dann 1962 in dem bekannten Vortrag Zeit und Sein, wo Heidegger das Ereignis als das bestimmt, was das Sein gibt: »Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im ›Es gibt Sein‹, ›Es gibt Zeit‹, als das Ereignis.« (ZS, 24) Worum geht es hier? Es geht hier darum, dass das Ereignis Anfang und das Angefangene ist. Das Angefangene ist das, was gegeben ist, das, was erscheint, das, wovon man sprechen kann. Das Sein ist kein Seiendes, kein Etwas, aber es ist gegeben, es ist eine Fülle, es ist nicht nichts. Vielleicht legt man das Sein falsch aus, aber man kann es auslegen. Der Anfang ist dagegen nur eins: »Untergang« (A, 84). Der Anfang ist der Moment, in dem etwas geschieht. Er ist das Geschehen selbst. Dieser Moment ist genau derjenige, der für jede Erfahrung, jede Erscheinung, jede Vor-Stellung und Re-Präsentation schon immer untergegangen ist. Es ist wichtig zu bemerken, dass das Ereignis für Heidegger nicht nur als Anfang bestimmt wird – es bleibt auch wesentlich das, was angefangen wird. Der Anfang kann nicht vom Angefangenen unterschieden werden, weil er dann zu einem Etwas wird, was er nicht ist. Der Anfang ist immer ein Anfang von etwas: »Gibt es denn einen »Anfang«, ein Ereignis, da »nichts« anfängt und nichts sich ereignet?«. (A, 17) Das Ereignis ist also immer zweideutig: Es ist das Ereignis und das, was sich ereignet. Das Ereignis ist ein absoluter Entzug, das, was sich ereignet, lässt sich dagegen phänomenalisieren. 430 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Levinas unterscheidet den Diskurs von einem »nicht unsagbaren Geheimnis« und die Setzung einer »unvordenklichen Vergangenheit«, die »nicht wieder einholbar ist durch die Erinnerung und die Geschichte« (JS, 39/AQE, 12). Das Ereignis ist einerseits immer schon vergangen, andererseits kann man von ihm sprechen. Dies ist keine widersprüchliche Aussage über das Ereignis – es ist an sich selbst zweideutig. Dementsprechend ist auch Levinas’ Verhältnis zur Phänomenologie zweideutig. Einerseits haben wir es mit keinem Phänomen zu tun. Andererseits geht es um »phänomenologische Konkretheit« und Beschreibung »phänomenologische[r] ›Umstände‹« (GE, 13/DI, 7). Von einer Seite gilt es: »Die hier vorgelegten Untersuchungen bekennen sich zum Geiste der Husserlschen Philosophie […]. Unsere Darbietung von Begriffen erfolgt weder so, daß sie diese logisch zergliedert, noch so, daß sie sie dialektisch beschreibt. Sie bleibt der Intentionalanalyse treu, insofern diese das Wiedereinrücken von Begriffen in den […] Horizont ihres Offenbarwerdens bedeutet […]. Das Gesagte, in dem alles thematisiert wird, in dem alles sich im Thema zeigt, muß auf seine Bedeutung als Sagen zurückgeführt werden […].« (JS, 390/AQE, 230 f) Es geht also um keine begrifflichen Analysen, sondern um die Beschreibung der »Sachen« (des Anderen, der Begegnung, der Verantwortung etc.) so, wie sie sich offenbaren – im lebendigen Prozess ihres Erscheinens. Von anderer Seite: »Doch ist das Offenbarwerden des Seins nicht die letztgültige Legitimation für die Subjektivität – gerade darin wagt sich die vorliegende Arbeit über die Phänomenologie hinaus.« (JS, 391/AQE, 231) Das heißt: Die Existenz der Subjektivität liegt nicht darin, dass sie die Sachen sich zeigen lässt, dass sie in sich ist und dem Objekt gegenübertritt. Das, worum es letztendlich geht, ist die »Übersteigerung« (hyperbole) dieser Seins-weise, dieses Seins, das gegenüber dem Objekt steht: »Die Subjektivität entsteht hier nicht aus dem geheimnisvollen Treiben, als welches das sein des Seins sich vollzieht und in dem […] die gnoseologische Korrelation des durch eine Manifestation gerufenen Menschen wieder auftaucht. Das Menschliche tritt hier, schon unter Anklage, aufgrund der Transzendenz – oder der Übersteigerung – hervor, das heißt durch das Sich-vom-Sein-Lösen des sein, als Übersteigerung, in der das sein zerspringt und nach oben fällt, ins Menschliche.« (JS, 392/AEQ, 231) Diese Übersteigerung ist nichts anderes als die Beziehung mit dem Anderen, das Ereignis der Nähe, das sich nicht offenbart, das nicht zum Phänomen wird, das weder
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erfahrbar noch denkbar, noch erinnerbar ist, sondern mit der Subjektivität geschieht. 637 Ist das Ereignis das Sich-Ereignen (Anfangen) und das, was sich ereignet, so akzentuiert Heidegger mehr den ersten Aspekt. Für ihn steht die Frage nach dem Anfang, dem Untergang und der Geschichte des Entzuges des Anfanges im Zentrum seiner Überlegungen. Auch Levinas (und noch radikaler Derrida) betonen den Uneinholbarkeits-, d. h. Unerfahrbarkeits- und Undenkbarkeitscharakter des Ereignisses. Marion setzt sich dagegen eher mit der Problematik des im Ereignis Erscheinenden auseinander: mit dem gesättigten Phänomen. Aber auch für ihn erschöpft sich das Ereignis nicht in seinem Phänomen – auch dann nicht, wenn dieses Phänomen als unbegreiflich gilt. Es gibt für Marion das Ereignis – das Gegebene, das gesättigte Phänomen – und die Gegebenheit, die als »Anbruchsgeschehen« (GS, 124/ED, 96) des Gegebenen verstanden wird. Die Gegebenheit: »Nicht besteht sie, nicht dauert sie an, nicht zeigt sie sich oder lässt sie sich sehen.« (GS, 637 Dominique Janicaud bemerkt auch dieses duale Verhältnis Levinas’ zur Phänomenologie, wenn er schreibt: »Doch wir wollen gerade zeigen, dass die Phänomenologie bei Levinas gleichzeitig zurückgewiesen und verwendet wird […].« (Janicaud(1991), 55 f) Aber warum ist es so? Unsere Antwort ist, dass dies dem Denken des Ereignisses entspricht. Man denkt ausgehend von der Erfahrung (ohne metaphysische Spekulationen), stellt aber fest, dass nicht alles auf eine Erfahrung reduziert werden kann, obwohl es immer noch Erfahrungen gibt, die beschrieben werden können. Janicaud scheint dies nicht zu sehen. Deswegen wirft er Levinas vor, dass er »der ontologischen Phänomenalität Gewalt antut«, »die Erfahrung manipulier[t]« (Janicaud(1991), 56). Aber was bedeutet ein solcher Vorwurf? Nun, dass Levinas behauptet, er hat etwas erfahren, was er eigentlich nicht erfahren hat, nämlich Gott. Aber woher kann Janicaud wissen, dass Levinas Gott nicht erfahren hat? Weil es ihn nicht gibt? Das ist eine ontologische Annahme, die in der Phänomenologie nichts zu suchen hat. Janicaud selbst will hier die phänomenologische Wirklichkeit manipulieren, indem er sie mit seinen ontologischen Vor-entscheidungen vor-bearbeitet. Levinas darf (und sogar muss) alle seine Erfahrungen, die er hat, beschreiben. Aber darum geht es überhaupt nicht. Es geht darum, dass Levinas etwas Unerfahrbares behauptet. Damit tut er dem Phänomenalen keine Gewalt an – damit sagt er, dass das Phänomenale dieser »Sache« Gewalt antut. Tut man dem Phänomenalen Gewalt an, wenn man eine Sache behauptet, der die Phänomenalität Gewalt antut? Das ist eine sehr wichtige Frage. Eine solche Behauptung stellt auf keinen Fall eine Manipulation der Erfahrung dar. Stellt sie vielleicht eine metaphysische Spekulation dar, was in der Tat der Verrat an die Phänomenologie wäre? Man kann sie in der Tat als Verrat an die Phänomenologie sehen, aber entspringt sie einer ontologischen Spekulation? Nein, weil sie aus der phänomenologischen Erfahrung folgt. Mehr noch: Wenn sich eine Sache dem Phänomenologen so zeigen würde, dass sie sich nicht phänomenalisieren lässt, wäre die Leugnung dieser »Sache« Verrat an die Phänomenologie.
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116/ED, 90) Die Gegebenheit zeigt sich nicht, ist immer schon vergangen, ohne zu erscheinen. Wir kommen immer mit »Verspätung« (CN, 249) zu ihr. Es bleibt allerdings fraglich, ob dieses Ereignis der Gegebenheit – im Vergleich zum Anfang bei Heidegger und zur Beziehung zum Anderen in der Philosophie Levinas’ – nicht der phänomenologischen Idee von einer Gegebenheit für das Bewusstsein allzu verhaftet bleibt. Wir könnten in der Tat die Gegebenheit als den Prozess der Erscheinung eines Erscheinenden denken. 638 In diesem Falle wäre sie immer noch als ein Phänomen (Marion hat in der Tat in einem Seminar behauptet, dass die Erscheinung selbst erscheint) und nicht als das Ereignis in radikalem Sinne denkbar, nämlich als das, was die Gegenbenheit-Empfänger-Struktur auflöst.
1.3. Das Ereignis und die Spur Es ist möglich, die Relation zwischen dem Sich-Ereignen und dem, was sich ereignet, als das Verhältnis zwischen dem Entzug und der Spur zu beschreiben. Das würde heißen, die »phänomenologischen Umstände« als die sichtbare Spur von etwas Unsichtbarem zu lesen und auch die Kategorie der Zeit in die Betrachtung des Ereignisses einzubeziehen. Doch wir müssen unterscheiden: Entweder deutet man das Phänomen als Spur des immer schon Vergangenen (in radikalem Sinne: des Untergangs selbst und nicht eines Gegebenen, das vergeht) oder als Spur von etwas Unsichtbarem im Sinne des Unbegreiflichen, Nicht-Gegenständlichen, Nicht-vollständigen-Gegebenen. Selbstverständlich ist das Vergangene auch unsichtbar, aber in einer völlig anderen Bedeutung, nämlich in dem Sinne, wie wir von der Unerfahrbarkeit und Undenkbarkeit gesprochen haben. Dieses Unsichtbare ist kein erfahrbares gesättigtes Phänomen, das sich zeigt und etwas Unsichtbares der Erscheinung entzieht, sodass dieses Unsichtbare in seiner Unsichtbarkeit erfahrbar ist. Das Vergangene ist das Unsichtbare, von dem Derridas These gilt, dass seine – welche auch immer – Erscheinung, »die Annullierung, die Vernichtung, die Zerstörung« (FG, 22/FM, 24) seiner selbst bedeutet. Es ist für das Ereignisdenken charakteristisch bzw. es sollte für das Ereignisdenken charakteristisch sein, dass es die Unsichtbarkeit im Sinne der UnWir weisen hier noch einmal auf Dieter Merschs Buch Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis hin.
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erfahrbarkeit befragt, weil nur ein solches Denken das eigentlich Ereignishafte denkt, nämlich seinen Charakter des unwiderruflichen Vergehens, der das Ereignis jeder Ontologie entzieht. Hat man dagegen mit dem Unsichtbaren als unvollständig oder übermäßig Sichtbaren zu tun, gibt es kein Geschehen mehr – es handelt sich dann um eine Ontologie bzw. phänomenologische Ontologie zweier »Sachen«, nämlich einer sichtbaren und einer unsichtbaren. Wenn Heidegger von der Spur spricht, dann geht es um die Spur eines geschichtlich uneinholbaren Anfangs, also nicht um ein Etwas, das eine Spur hinterlässt, sondern um »das Spurlose« (B, 202) – nichts führt zu ihm zurück. Wenn doch von einer Spur die Rede sein kann, dann nur so, dass sie auf das zurückführt, was seine Uneinholbarkeit, Verweigerung zeigt – sie ist eine »Spur der Verweigerung« (GdS, 53), eine Spur, die die Verweigerung zeigt. So ist für Heidegger das Zeitalter der totalen Seinsvergessenheit – der Machenschaft – ein Hinweis darauf, dass das Ereignis an sich der Entzug ist. Wäre es kein Entzug, gäbe es keine Seinsvergessenheit. Auch Derrida versteht die Spur genauso radikal – das, was eine Spur hinterlässt, ist so absolut entzogen, dass, wenn man auf den Gedanken kommt, das zu denken, was die Spur hinterlassen hat, man diesen Gedanken selbst als eine Spur, eine »Urspur« deuten muss. Alles ist Spur. In diesem Sinne kann es gar nicht darum gehen, dass wir die Spur, das Verhältnis von der Spur und dem, was sie hinterlässt, denken, weil wir selbst die Spur sind. Wir sind in der Spur, wir können nicht ihr gegenüber stehen, um sie zu denken. Zusammenfassend: In Bezug auf das Ereignisdenken Heideggers kann man behaupten, dass das, was es gibt, die Spur des anfänglichen Ereignisses ist, aber das ist die Spur eines Spurlosen – das Ereignis selbst hat mit diesen Gegebenheiten nichts zu tun, weil es einfach völlig anders ist als sie, weil es unerfahrbar und undenkbar ist. Es ist weder sichtbar noch unsichtbar, es ist jenseits dieser Gegenüberstellung. Eher ist diese Gegenüberstellung die Spur des Ereignisses. Die Rede Levinas’ von der Spur ist anders. »Eine Spur, die als Gesicht des Nächsten leuchtet« ist die Spur »des Unsichtbaren« (JS, 44/AQE, 14). Natürlich erscheint das Unsichtbare nie und die Spur führt auch nicht zu ihm, aber es hinterlässt die Spur. Damit wird eine Setzung von etwas gemacht, das es gibt und das die Spur hinterlässt. Wir haben also mit etwas zu tun, das seiend ist, und nicht mit der Gegebenheit, Anfang, Ereignis. Wir werden in der Tat sehen, dass nicht der Diskurs über das Unsichtbare und das Antlitz denjenigen 434 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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philosophischen Gedanken ausdrückt, der Levinas zu einem Ereignisdenker macht. Was den Begriff der Spur betrifft, bleibt Levinas der phänomenologischen und sogar der ontologischen – onto-theologischen – Einstellung verhaftet. Marion spricht kaum von der Spur. Das heißt natürlich nicht, dass man ihn nicht diesem Diskurs zuordnen kann. Den Begriff der Spur könnte in Marions Philosophie auf zweifache Weise angewendet werden: sowohl in Bezug auf das Verhältnis zwischen der Gegebenheit und dem Gegebenen als auch auf das Verhältnis zwischen dem Gegebenen als gesättigten Phänomen und seiner Auslegung durch den Empfänger. Im ersten Fall hätten wir mit einer Struktur zu tun, die dem Heideggerschen Verhältnis von dem Anfang und dem, was anfängt, entspräche. Das Gegebene als Spur würde auf etwas völlig Andersartiges als es selbst hinweisen, nämlich auf etwas, das kein Etwas ist: kein Geber, kein Grund, keine Ursache, sondern das SichGeben selbst. Im zweiten Fall hätten wir, wie bei Levinas, mit dem Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren zu tun, wo sich die phänomenologische Beschreibung der sichtbaren Spur in eine »endlosen Hermeneutik« bezüglich der übermäßigen Quelle dieser Sichtbarkeit übergeht.
1.4. Das Ereignis und die Geschichte Das Sichtbare des Ereignisses ist seine Spur, seine Geschichte. Wir leben in einer Sichtbarkeit, die ihren Anfang in einem Ereignis hat. Und umgekehrt: Jedes Ereignis hat wesentlich eine Geschichte. Insbesondere Heidegger hat dieser Struktur des Ereignisses Aufmerksamkeit geschenkt, wir finden sie aber auch in Marions, Badious, Romanos Philosophie, weniger bei Levinas, obwohl sein Konzept der ethischen Begegnung mit dem Anderen als die Eröffnung der Geschichte der Moralität (d. h. der Menschlichkeit überhaupt) betrachtet werden kann. So ist für Heidegger das Ereignis das, »dem jede künftige Geschichte entspringt« (BPh, 23). Da das Ereignis an sich zweideutig ist und sowohl der Anfang als auch der Anfangende ist, kann man auch sagen, dass es die »ursprüngliche Geschichte selbst« (BPh, 32) ist. Das Ereignis ist die Geschichte. Das ist keine Definition des Ereignisses, sondern der Aufweis einer seiner wesentlichen Strukturen, nämlich, dass es sich als die Sichtbarkeit entfaltet. Diese Entfaltung geschieht 435 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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durch die Auseinandersetzung der Betroffenen mit dem Ereignis und stellt einen hermeneutischen Prozess dar. Das ist der Kontext, in den sich Marions Konzept einer »endlosen Hermeneutik« oder Badious »Wahrheitsprozedur«, die auch wesentlich »unendlich« (SE, 376/EeE, 368) ist, einschreiben lässt. Die Geschichte ist die Auslegung ihres uneinholbaren Ursprungs. Sie ist nicht die Abfolge irgendwelcher Tatsachen, sondern immer die Geschichte der Betroffenheit, des Versuches zu verstehen, der Verwirklichung der in der Sichtbarkeit geöffneten Möglichkeiten. Gibt es Ereignisse ohne Geschichte, Augenblicke ohne Spur? In der Tat nicht. Die Erklärung dafür liegt darin, dass das Ereignis als immer schon vergangenes, als Verweigerung nur in seiner Spur ist. Es gibt nichts anderes als diese Spur. Würden wir rein theoretisch ein Ereignis ohne Spur annehmen, hätten wir nichts – im logischen Sinne nichts, also wirklich nichts, nicht einmal eine Setzung von einem Ereignis x. Wir hätten also absolut nichts und es würde nicht nur keinen Sinn machen, davon zu reden, sondern es wäre gar nicht möglich, von etwas zu reden. Wenn wir aber von etwas reden können, sind wir schon in der Spur, setzen schon etwas Sichtbares. Wir können nicht von etwas reden, ohne in der Spur zu sein, wir können überhaupt nichts haben, ohne irgendwelche Spuren zu verfolgen. Alles, was wir haben, sind Spuren. Dies schließt natürlich die Annahme nicht aus, dass es etwas geben könnte, was wir nicht haben. Doch auch dieses, das wir nicht haben, können wir nur als Spur denken. Alle Ereignisse, die wir haben (die wir also als solche haben, von denen wir wissen, dass wir sie nicht haben), verlassen Spuren und sind nur durch diese Spuren vermutbar. Viel komplizierter ist die Frage, ob jede Geschichte einen ereignishaften Anfang hat. Das wäre, wie es scheint, keine ereignisphilosophische (zuerst also phänomenologische), sondern eine ontologische Aussage, die eine Verifikation fordern würde. Falls eine Verifikation nicht möglich wäre, könnte sie zu einer Frage des Glaubens werden: Entweder glaubt man an ein Ereignis oder an eine Kausalkette. Sie wird in der Tat zur Frage des Glaubens, da weder das Ereignis noch alle Kausalitätsbeziehungen je aufgezeigt werden können. Doch sie ist eine Frage des Glaubens nur in der spekulativen Ontologie. Wenn man dagegen von der Erfahrung ausgeht, ist es gleich, ob man von einem Ereignis oder einer unerklärlichen Ursache spricht. Die Befragung der Geschichte wäre in beiden Fällen von der Erfahrung der Unbegreiflichkeit betroffen: einmal, weil man die Kausalität als onto436 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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logische Annahme reduziert bzw. weil das Phänomen selbst die Kausalität reduziert hat; andernmal, weil die Kausalbeziehungen ontologisch unaufklärbar sind. Aber wenn die Erfahrung der Geschichte stets die Erfahrung der Unbegreiflichkeit und Unerklärlichkeit ist, kann man noch nicht daraus schließen, dass es die Unbegreiflichkeit und Unerklärlichkeit, d. h. das Ereignis gibt. Doch eine solche Schlussfolgerung in der spekulativen Vernunft wird auch nicht beabsichtigt: Es ist gegen die phänomenologische Einstellung, solche ontologischen Urteile zu fallen, da sie gerade darin besteht, sich von solchen Urteilen zu enthalten. Die Phänomenologie behauptet nur, dass die Erfahrung der Geschichte immer die Erfahrung der Unerklärlichkeit ist und dass sie nur dadurch unterbrochen sein kann, dass man eine ontologische Annahme macht und behauptet, dass es Kausalität gibt. Es scheint, dass Marion genau dies sagen will, wenn er darauf hinweist, dass die Metaphysik überall Ursachen und Wirkungen sieht, während die phänomenologische Erfahrung zeigt, dass das Gegebene sich ohne Ursache gibt: »Als gegebenes Phänomen hat ein Ereignis keine adäquate Ursache, es kann keine solche haben.« (GS, 289 f/ED, 235) Damit ist gesagt: Insofern eine Gegebenheit die Betroffenheit ist, insofern wir von ihr ausgehend von der Erfahrung sprechen, bleibt sie ein Ereignis. Wir können diese Ereignishaftigkeit nur leugnen, indem wir die Einstellung ändern, nämlich zu einer naiv ontologischen. Aber ausgehend von der Erfahrung, in einer phänomenologischen Beschreibung, müssen wir sagen, dass jede Geschichte, jede Sichtbarkeit, jede Erfahrbarkeit als ein Ereignis anfängt. Heidegger – im Vergleich zu Marion – beginnt nicht mit der Erfahrung des Ereignisses. Er kommt zum Ereignis als Anfang der Geschichte durch den Versuch der Selbstbegründung der Philosophie. In seiner Philosophie ist das Ereignis nicht von vornherein als ein Phänomen gegeben, sondern eröffnet sich als »Abgrund« der Unmöglichkeit der Letztbegründung der Philosophie. Warum gibt es diese und jene philosophischen Konzepte und Thesen, wie kann ihre Geltung begründet werden? Die Begründung kann nicht durch andere Konzepte und Thesen erfolgen, weil diese wiederum einen Grund verlangen. In seiner früheren Philosophie versucht Heidegger, die Philosophie in das Leben, in die Lebensvollzüge zu begründen, die nicht theoretisch sind, sondern sich selbst aufweisen und als solche keinen Grund mehr benötigen. Sein und Zeit entwickelt dementsprechend eine existenzielle Analytik, die diese Seinsvollzüge des Daseins aufdecken soll: diejenigen also, die eine wissenschaftliche oder phi437 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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losophische Einstellung mitsamt ihrer Ideen ermöglichen. Doch der Versuch scheitert. Er scheitert offensichtlich deshalb, weil es für Heidegger unmöglich scheint, die Philosophie als eine natürliche Veranlagung des Menschen zu sehen, als ob er schon immer, von Natur aus, gar ohne sein Wissen philosophieren, das Sein, die Welt, den Tot etc. verstehen würde. Aber sogar dann, wenn es so wäre, beginnt die Philosophie irgendwann, sich zu zeigen, und dann bringt sie ihre eigenen Möglichkeiten mit, die der Mensch entfalten kann. Das Sichtbare der Philosophie – ihre Begriffe, ihre Denkweise etc. – kommt aus einer Vergangenheit auf den Menschen zu und erlaubt ihm, zu denken. Diese Vergangenheit ist durch diese Begriffe, die aus ihr kommen, uneinholbar. Versteht man das Wesentliche der Philosophie als das Denken des Seins – so wie Heidegger es tut –, muss man vor dem Sein, das wir denken, und dem Grund, nach dem wir fragen, einen Abgrund annehmen, der uns diese Denkmöglichkeiten »zuspielt«: »Sein als gründendes hat keinen Grund, spielt als der AbGrund jenes Spiel, das als Geschick uns Sein und Grund zuspielt.« (SG, 169) Diese Annahme von einem Ereignis ist – genauso wie Marions phänomenologische Feststellung über das Ereignishafte, das ohne Grund, also abgründig zu uns kommt, – nicht ontologisch. Sie macht keine Aussage über ein seiendes Ereignis, zum Beispiel in Form des Urknalls. Sie ist eine ereignisphilosophische Antwort darauf, was die Ontologie selbst ist, nämlich die Geschichte eines Anfangs. Das Denken des Ereignisses fragt nicht nach dem Anfang als einem Seienden (ob es ihn gibt, ist er kausal oder ereignishaft zu verstehen, ist er Mensch, Natur, Gott, transzendentale Formen o. Ä.), sondern nach dem Anfang des Fragens selbst. Und dies kann es nur tun, indem es den Denkenden selbst in die Betrachtung hineinzieht und nach ihm als dem Fragenden fragt. In diesem Sinne ist die Ereignisphilosophie eine begründende und selbstbegründende, also radikal kritische Philosophie. 639 639 Dies ist die Art und Weise, wie schon Husserl versucht hat, die Erkenntnis zu begründen. Er hat die formale Ontologie (also Logik) als unfähig zur Letztbegründung disqualifiziert, weil sie naiv mit irgendwelchen (und das heißt: spekulativen und dogmatischen) Gegebenheiten arbeitet. Die phänomenologische Reduktion soll die Rückbeziehung aller Gegebenheiten auf den Phänomenologen selbst leisten, so die Erkenntnis durchleuchten und damit begründen. Zu begründen heißt, sich selbst zu sehen: als denjenigen, der begründet, der lebt, denkt und stirbt. Das ist in der Tat eine sehr merkwürdige Strategie der Begründung, aber sie ist genau diejenige, die Husserl und Heidegger vertreten und als radikal kritisch gegenüber der Naivität der For-
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Obwohl es möglich ist, von der Ereignishaftigkeit jedes Sichtbaren zu sprechen (weil wir es so erfahren, weil es immer zuletzt in den Abgrund führt), sollte man mit einer solchen Behauptung äußerst vorsichtig sein: Sie kann sich als eine spekulative Aussage entpuppen. Wir haben dieses Problem in Marions These über die Macht schung eingestuft haben. Worin liegt der Unterschied zwischen den Ansätzen von Husserl und Heidegger? Zuerst (vor Sein und Zeit) begründet Heidegger die Erkenntnis genauso wie Husserl in den Logischen Untersuchungen, nämlich im Erlebnis: die Erkenntnis zu begründen heißt, das Erlebnis des Erkennens durchzuleuchten. Danach scheiden sich ihre Wege: Während für Heidegger die Begründung der Erkenntnis darin besteht, zu zeigen, wie das Erkennen im Leben, im Sein des Daseins ist, und während sie für Heidegger als eine Fundamentalontologie im Sinne von Sein und Zeit durchgeführt wird, radikalisiert Husserl das Hineinziehen des Fragenden selbst in die Begründung und formuliert in Ideen I die transzendentale Phänomenologie aus, die das Durchleuchten des Phänomenologen realisiert, indem sie ihn als die alles konstituierende Subjektivität bestimmt: Zu begründen heißt, zu verstehen, dass ich derjenige bin, der erkennt und begründet. Aber beide Denker ändern später wiederum ihre Positionen. Heidegger gibt die Fundamentalontologie auf: Sie kann zwar zeigen, dass und wie die Erkenntnis im Leben eingebunden ist, aber sie kann nicht zeigen, woher sie selbst kommt, warum sie plötzlich auftaucht. So kommt er in den Beiträgen zum Ereignisdenken: Der letzte Grund ist ein geschichtlicher Abgrund. Husserl versucht in seinem Krisis-Werk, die Abgründigkeit zu vermeiden, indem er zeigt, wie die Wissenschaftlichkeit ganz »normal« aus der Lebenswelt hervorgeht und in ihr integriert bleibt. Der letzte Grund ist also auch für Husserl geschichtlich, aber auf keinen Fall abgründig. Außerdem gibt er seine transzendentalphilosophische Einstellung nicht auf: Zu begründen heißt immer noch, sich selbst als den alles Leistenden anzuerkennen: »Das natürliche Leben ist, ob vorwissenschaftlich oder wissenschaftlich, ob theoretisch oder praktisch interessiert, Leben in einem universalen unthematischen Horizont. Das ist in der Natürlichkeit eben die immerfort als das Seiende vorgegebene Welt. So dahinlebend braucht man nicht das Wort »vorgegeben«, es bedarf keines Hinweises darauf, daß die Welt für uns ständig Wirklichkeit ist.« (Hua VI, 148) »Anstatt aber in dieser Weise des ›schlicht in die Welt Hineinlebens‹ zu verbleiben, versuchen wir hier eine universale Interessenwendung, in welcher eben das neue Wort ›Vorgegebensein‹ der Welt notwendig wird, weil es das Titelwort für diese anders gerichtete und doch wieder universale Thematik der Vorgegebenheitsweisen ist. Nämlich nichts anderes soll uns interessieren als eben jener subjektive Wandel der Gegebenheitsweisen, der Erscheinungsweisen, der einwohnenden Geltungsmodi, welcher, ständig verlaufend, unaufhörlich im Dahinströmen sich synthetisch verbindend, das einheitliche Bewußtsein des schlichten ›Seins‹ der Welt zustande bringt.« (Hua VI, 149) Während also die erkennenden Wissenschaften in der vorgegebenen Welt leben, weist die Phänomenologie diese Welt und die Seinsweise in ihr auf, aber sie fragt immer noch nach dem Bewusstsein, die diese Welt konstituiert. Die Erkenntnis ist also immer noch in der Subjektivität begründet: Ich erkenne, weil ich erkenne. Für Heidegger gilt dagegen: Ich kann erkennen, weil ich zum Erkennenden geworden bin. Am Anfang steht der Moment, in dem ich erkennend werde: Ich darf die Erkenntnis nicht naiv als schon seiend voraussetzen.
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der dritten Reduktion und der Banalität der Sättigung gesehen – wir können theoretisch alle Gegebenheiten als Ereignisse sehen, aber in vielen Fällen entspräche dies nicht der phänomenologischen Erfahrung. Manches zeigt sich nämlich nicht auf Anhieb als ereignishaft. Und mit der Behauptung, dass alles ereignishaft ist, machen wir nicht nur eine naiv-dogmatische Aussage, sondern nivellieren die Ereignishaftigkeit auf bloße Normalität, wenn sie doch genau das ist, was unvorhersehbar die Normalität unterbricht.
1.5. Das Ereignis und das unvorhersehbare Neue Wenn es um die Ereignisse geht, ist es üblich, von ihrer Unvorhersehbarkeit zu sprechen und davon, dass sie etwas Neues mit sich bringen. Sie sind unvorhersehbar, weil sie einen Horizont der Sichtbarkeit eröffnen, eine neue Geschichte einleiten, die vorher nicht antizipiert werden konnte. Vorhersehen kann man nur dasjenige, was schon existiert. Das Ereignis »ist nicht zu errechnen, sondern Geschenk oder Entzug der Ereignung selbst,« (BPh, 248) hat Heidegger geschrieben. Marion sagt von den Ereignissen: »Sie können nicht vorhergesehen werden […].« (DS, 45) Der Diskurs über das Unvorhersehbare ist allerdings nicht immer genau. Vielleicht deswegen, weil er die Logik des Ereignisses selbst nicht befragt und sich damit begnügt, unvorhersehbare Geschehnisse zu behaupten. Wir wissen aber, dass das Neue – sei es eine Idee, Freundschaft, ein politisches Ereignis – die sichtbare Spur (aber noch nicht völlig sichtbare Spur, da sie sich immer noch im Prozess der Auslegung befindet) des Anfangs ist. Ohne diesen Anfang ist die Spur kein Ereignis: Sie ist eine Tatsache, etwas, was es gibt, und als etwas Seiendes kann sie sofort in eine Kausalkette aufgenommen werden. Wird sie in eine Kausalkette aufgenommen, ist sie vorhersehbar oder – wie es oft vorkommt – hätte vorhergesehen werden sollen. Heideggers Begriff der Seinsverlassenheit bedeutet genau das: Das Ereignis des Seins »verlässt« das Seiende, und das Seiende, indem es von seinem Anfang verlassen wird, wird zum Vorhandenen: »Was ist wovon verlassen? Das Seiende von dem ihm und nur ihm zugehörigen Seyn. Das Seiende erscheint dann so, es erscheint sich als Gegenstand und Vor-handenes, als ob Seyn nicht weste.« (BPh, 115) Als Vorhandenes wird das Seiende, zum Beispiel ein philosophischer Begriff, zum Objekt der Machenschaft. Und das heißt: Dieser Begriff 440 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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wird als von Gott gegeben, als Resultat irgendwelcher physisch-physiologischen Prozesse, als eine Krankheit, die im falschen Sprachgebrauch entsteht, etc. betrachtet. Das Seiende wird nicht als das Seiende, als dieses Seiende gesehen, in seinem Aufleuchten, sondern als Wirkung einer Ursache. Genau das sagt auch Marion, wenn er in der Auslegung der Gabe zeigt, wie die Gabe (zum Beispiel ein Ring) zum »Besitz« (GG, 119/CN, 200) wird, wenn das Geben nicht mehr erscheint. Eine Gabe ohne Ereignis des Gebens ist ein Besitz: sie liegt in meiner Macht, sie ist zum Objekt der Machenschaft geworden. Welche Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen? Dass es falsch ist, von unvorhersehbaren Dingen und Geschehnissen zu sprechen. Sie sind Neues bringend, eine neue Geschichte einleitend, unvorhersehbar nur durch das Ereignis, das kein Etwas (kein Ding, kein Prozess), sondern der Anfang ist. Ohne den Anfang gibt es keinen Anfang, sondern nur eine unendliche Kausalkette. Wird das Ereignis nicht erfahren, ist das Gegebene immer die Wirkung einer Ursache. Also, streng genommen, ist ausschließlich das Ereignis neu und unvorhersehbar, das unvorhersehbare Neue: nur die Ankunft selbst und die Spur nur, insofern sie ankommt, aber nicht an sich. Dass es so ist, zeigt sich besonders deutlich in den Fällen, wo das, was sichtbar wird, schon längst bekannt ist und trotzdem überrascht. Man kann sich zum zweiten, zum dritten Mal verlieben und trotzdem überrascht von dieser Möglichkeit sein. Die Liebe in ihrem Wesen, ihrer Praxis, ihrem Gefühl ist nichts Unbekanntes, ihr Ankommen dagegen ist jedes Mal neu und überraschend. Vielleicht kann man sie sogar vorhersehen, aber das, was ich vorhersehen kann, ist nur der leere Sachverhalt, nicht das Sich-Ereignen selbst – dieses bleibt in seiner singulären, unwiederholbaren und deswegen immer neuen, immer aufs Neue anfangenden Lebendigkeit unvorhersehbar, unmöglich.
1.6. Das Ereignis und das Andere Die Philosophie des Ereignisses ist immer auch eine Philosophie des Anderen. Weil das einzige, was einbrechen und etwas Neues mit sich bringen kann, das Andere ist. Und umgekehrt: Das Andere kann nicht anders kommen als durch einen gewaltigen Einbruch, der alles verändert. Heidegger hat sich gewundert: »Befremdlich muß es langehin sein, daß Ereignis und Anfang innig dasselbe ›sind‹.« (E, 227) Warum ist es also so, dass das Sein als Ereignis, das mit uns geschieht, auch 441 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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der Anfang ist, der einbricht? Weil es das Andere unseres alltäglichen Lebens ist. So hat Levinas festgestellt: »Die Bewegung der Begegnung tritt nicht zu dem unbeweglichen Antlitz hinzu. Diese Bewegung ist in diesem Antlitz selbst. Das Antlitz ist durch sich selbst Heimsuchung und Transzendenz.« (SA, 235/DEHH, 282) Ist das Ereignis das Andere, das uns heimsucht, werden wir durch es in die Passivität des Empfangens gesetzt. Wir können das Andere als das verstehen, was das Ich (oder wie Levinas sagt: das Selbe) nicht ist, und dies im weiten Sinne des Wortes: Das Andere gehört mir nicht, steht nicht in meiner Macht, es ist an sich und hat die Macht, auf mich zu kommen, mich erleiden zu lassen, mich zu verändern. In diesem Sinne gibt es das Andere überall. Es wäre sogar schwer zu sagen, wo ich bin, wenn es das Andere gibt. Andere Menschen, deren inneres Leben mir unzugänglich ist, auf deren Gedanken, Verhalten und Handlungen ich kaum Einfluss nehmen kann. Der andere Mensch ist stets eine Quelle der Überraschungen. Niemand hat so viel darüber nachgedacht wie Levinas. Aber genauso auch die Dinge der Welt: Ich kann aktiv eine Tür auf- und zumachen, aber sie ist genauso an sich mit ihrer meist viereckigen Form, die ich nicht ausgedacht habe, die eher auf mich aus einer Vergangenheit noch längst vor meiner Geburt kommt und mich lehrt, wie ich sie bedienen muss. Sie lässt mir ihre Farbe, ihren Duft, ihr Material erleiden. Niemand hat dies so intensiv gespürt wie Merleau-Ponty. Ich kann selbstbewusst die Straße entlang gehen und meine eigenen Ziele verfolgen, aber ich kann genauso von einer glatten Straße ins Fallen gebracht werden und mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus kommen, was überhaupt nicht mein Ziel war. Sogar mein Leib ist ein Anderes: Er führt sein eigenes Leben, er funktioniert, veraltet und stirbt ohne meine Teilnahme. Kann ich zumindest in meinem inneren Leben – in meinen Gefühlen und Gedanken – unbeeinflusst vom Anderen sein? Seit Marx, Nietzsche, Freud u. a. wissen wir, dass sogar das, was wir fühlen, wollen, denken, das, wie wir sprechen und urteilen, von etwas anderem als und selbst bedingt ist. Das 20. und beginnende 21. Jahrhundert stellt das Subjekt als grundsätzlich bedingt, passiv, dem Anderen ausgesetzt dar. »Das Subjekt ist tot,« sagt Foucault und die Postmoderne im Allgemeinen. Es gibt nichts, was noch das Ich wäre. Interessanterweise gibt die Phänomenologie das Ich nicht auf, und dies völlig berechtigt. Für die Phänomenologie bedeutet diese Ausgesetztheit dem Anderen gegenüber auf keinen Fall den Tod des Ich, weil es offensichtlich ist, dass jemand erleidet. Das Ich ist dasjenige, das seine eigene 442 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Passivität erfährt. Seit Heidegger ist es sogar üblich geworden, dieses passive Ich als das eigentliche Ich zu denken. Das Selbe kommt zu sich selbst, wenn es seine Passivität erleidet. In der Tat schreibt Heidegger in Sein und Zeit: »Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man.« (SZ, 129) Insofern ich also im alltäglichen Leben meine Gedanken äußere, meine Gefühle zeige, meine Identität von anderen unterscheide, meine Pläne durchzusetzen versuche, bin ich nicht selbst: Ich bin wie die anderen, ich bin die anderen. Nur wenn ich sterbe, mein Sein zum Tode verstehe, nur wenn ich mit meiner radikalen Ohnmacht konfrontiert bin, bin ich ich selbst: »Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor.« (SZ, 250) Ich bin nicht dann, wenn ich lebe. Das Leben ist Selbst-Erhaltung, Selbst-Behauptung, Egoismus, wie das insbesondere Levinas gesehen hat. Ich bin dann, wenn ich sterbe, wenn das Andere – der Tod – mich von mir selbst wegnimmt. Die Passivität als das eigentliche Selbst behaupten später Levinas, Henry, Marion. Und schließlich definiert Romano aus der jüngeren Generation der Phänomenologie die Ipseität als »Passibilität« (EM, 125), die zu sich selbst durch das Ereignis in dem Sinne kommt, dass das Ereignis sie leiden lässt. Also, streng genommen, gibt es nur das Andere und das Ich ist der Ort, wo das Andere einschlägt und als das Andere sein kann. Das Ich ist Ich, insofern es für das Andere da ist. Das Ereignisdenken gehört zum Diskurs, in dem das selbstmächtige Ich in Frage gestellt wird, in dem seine Passivität es definieren soll. Das Ereignis zu denken, heißt einen Betroffenen zu denken, mit dem sich etwas ereignet; einen Betroffenen, der verändert wird, dem etwas gegeben wird, was er nicht begreifen und besitzen kann. Das Ereignis als das Andere trifft jemanden, gibt ihm eine Sichtbarkeit (sie ist das, was sich ereignet), die sich allerdings nie in der Sichtbarkeit ausschöpft, sondern etwas Unsichtbares behält. Die Auseinandersetzung mit diesem Unsichtbaren als dem Anderen verläuft als die Geschichte des Ereignisses. In diesem Sinne bedeutet das Ereignisdenken das Denken des Anderen. Aber man sollte hier genau sein. Das Ereignis als das Andere, das trifft, der Anfang, das Treffen muss vom Gegebenen als Anderen unterschieden werden. Das Andere wird in diesen beiden Fällen nicht gleich gedacht. Einmal ist es das Andere des Erfahrens und Denkens, andermal das Andere für das Selbe. Heidegger unterscheidet den Anfang vom Sein. Das Sein steht im Verhältnis zum Dasein, das Dasein versteht das Sein. Aber der Anfang ist 443 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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der Anfang dieses Verhältnisses und zu diesem Anfang hat das Dasein kein Verhältnis: Der Anfang ist das Andere anders als das Sein ein Anderes ist. Levinas unterscheidet die Beziehung zum Anderen und den Anderen. Der Andere erschöpft sich nicht in der Sichtbarkeit, sondern trägt in sich die Spur des Unsichtbaren, die das Selbe versuchen kann, zu verstehen. Aber die Beziehung zum Anderen, die Nähe zum Anderen ist nicht der Andere, sondern eine Andersheit für das Denken. Marions gesättigtes Phänomen ist das, was mir gegenüberstehen kann, was ich, obwohl erfolglos, versuchen kann zu begreifen. Aber die Gegebenheit ist das Andere für die Vergegenwärtigung im Denken, sie ist schon immer vergangen und kann nicht zum Thema der Auslegung werden. Wir wollen hier behaupten, dass das Ereignis dort gedacht wird, wo nicht nur ein Verhältnis zum Anderen behauptet wird, sondern auch der Einbruch der Möglichkeit dieses Verhältnisses, das anders als das Andere für das Ich gedacht werden muss, nämlich als das Andere des Erfahrens und des Denkens. Ohne die Frage nach diesem unerfahrbaren Einbruch verfehlt eine Philosophie genau das Ereignishafte, bleibt bei einem Etwas – wenn es auch unbestimmt bleiben soll – und kann sich nicht eine Philosophie des Ereignisses nennen.
2.
Das Ereignis und die Phänomenologie
Im Abschnitt 1 dieses Kapitels haben wir versucht, die grundlegendsten Strukturen des Ereignisses aufzuzählen. Dabei haben wir uns auf die Ergebnisse unserer Auseinandersetzung mit Heidegger, Levinas und Marion gestützt. Wir können diese Strukturen nochmals nennen: 1. 2. 3. 4. 5.
das Ereignis ist kein Etwas; das Ereignis ist der Anfang und das, was anfängt; das, was anfängt, ist die Spur und die Geschichte des Ereignisses; das, was durch das Ereignis anfängt, ist immer etwas Neues und Unvorhersehbares; als der Anfang von etwas Neuem ist das Ereignis das Andere für den Betroffenen.
Wir fassen diese Strukturen der Logik des Ereignisses, des Wie seines Geschehens als etwas Gemeinsames für diese drei – aber auch für andere – Ereignisdenker. Man könnte fragen, warum wir zu den Cha444 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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rakteristika des Ereignisses nicht die Betroffenheit gezählt haben, also den Umstand, dass es sich mit jemandem ereignet. Weil dieses Wesensmerkmal nicht durch das Nachdenken über das Ereignis aufgedeckt wird, sondern schon vor-entschieden ist: Es definiert überhaupt die »Sache«, von der wir sprechen. Wir untersuchen das Ereignis, insofern es jemanden trifft. Man hätte auch völlig anders vorgehen können, so wie zum Beispiel Deleuze es tut, wenn er von Sinnereignissen spricht, die sich an sich ereignen. Wir fragen, was passiert, wenn ein Ereignis einschlägt. Und noch radikaler: Im Geiste der Phänomenologie sind wir der Meinung, dass es immer eine naivdogamtische Spekulation (Ontologie) ist, wenn man nicht von etwas spricht, insofern es uns und wie es uns trifft. 640
2.1. Das Ereignis als Phänomen und Nicht-Phänomen Wir sprechen also vom Ereignis, insofern es uns erreicht hat: Es geschieht mit uns. Wir haben eine Erfahrung von ihm und wir fragen, wie wir es erfahren, was wir erfahren etc. Und wenn wir so fragen, dann stellen wir fest: Es ist etwas Neues (eine neue Idee, Liebe,
640 In der Tat: Wir haben uns zusammen mit Levinas (und Heidegger) »zum Geiste der Husserlschen Philosophie« bekannt und sind bei der Behandlung des Ereignisses stets von unserer eignen Erfahrung ausgegangen. Aber wir taten dies nicht aus einem willkürlichen Grund, sondern, weil wir uns zur Husserl’schen Phänomenologie noch in einem zweiten Sinne bekennen, nämlich zu seiner Idee der Selbstbegründung der Philosophie. Wir denken, dass es unmöglich und vor allem äußerst gefährlich ist, nicht aus eigener Erfahrung zu sprechen und alle Aussagen als Aussagen eigener subjektiver Leistung zu sehen. Denn: In demjenigen Moment, wo ich etwas behaupte, was ich selbst nicht veranschaulichen kann, und in demjenigen Moment, wo ich meinen Aussagen eine andere als meine erbärmliche und subjektive Autorität gebe, erlaube ich mir alles, völlig alles, zu sagen und so die schrecklichsten Spekulationen des Denkens zu verbreiten. Man könnte es kritisches Denken nennen, das Problem dabei ist nur, dass sich das sog. kritische Denken auf eine Idee der Rationalität (wie auch immer sie verstanden wird) beruht, aber wie viele schreckliche Sachen sind schon unter dem Namen der Rationalität und Logik gedacht und getan worden! Die Logik – wie Husserl gezeigt hat – ist selbst naiv, sie kann nichts begründen. Nur wer alle Erkenntnisse auf die Jemeinigkeit reduziert, kann hoffen, keine Ontologie zu betreiben: »Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen. Man muß endlich einsehen, daß keine noch so exakte objektive Wissenschaft irgend etwas ernstlich erklärt oder je erklären kann. Deduzieren ist nicht Erklären. […] Das einzig wirkliche Erklären ist: transzendental verständlich machen.« (Hua VI, 193) Aber: Jedes gesagte Wort als entstammend zu sehen, heißt das Ereignis zu denken.
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Freundschaft, aber vielleicht auch Hass und Leiden, ein besonderes Erlebnis); es ist für uns unvorhersehbar gewesen, vielleicht sogar ein Wunder; es ist eine Begegnung mit einem Anderen (einem anderen Menschen, der Schönheit der Welt, Gott); mit dem Ereignis beginnt eine neue Etappe des Lebens, die wesentlich die Auseinandersetzung mit dem Ereignis ist: die Fortsetzung eines ereignishaften Augenblicks, der in Vergangenheit liegt. Also wenn wir so fragen, beschreiben wir eine uns gegebene »Sache«. Und damit sind wir grundsätzlich phänomenologisch. Die Beschreibung von etwas uns Gegebenem, insofern es uns gegeben ist und wir darüber so nachdenken, wie es uns gegeben ist, ist eine Phänomenologie. In der Tat hat Heidegger 1963 die bekannten Zeilen über die Phänomenologie geschrieben: »Und heute? Die Zeit der phänomenologischen Philosophie scheint vorbei zu sein. Sie gilt schon als etwas Vergangenes, das nur noch historisch neben anderen Richtungen der Philosophie verzeichnet wird. Allein die Phänomenologie ist in ihrem Eigensten keine Richtung. Sie ist die zu Zeiten sich wandelnde und nur dadurch bleibende Möglichkeit des Denkens, dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen. Wird die Phänomenologie so erfahren und behalten, dann kann sie als Titel verschwinden zugunsten der Sache des Denkens, deren Offenbarkeit ein Geheimnis bleibt.« (MWPh, 101) Aber diese Aussage ist nur scheinbar eine Aussage über die Phänomenologie. Sie ist in Wahrheit eine Aussage über das Denken überhaupt. Die Phänomenologie ist ein Denken, das versucht, »dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen«. Aber denkt nicht jedes Denken so? In der Tat. Nur weil es so ist, kann Heidegger sagen, dass die Phänomenologie »sich wandelt« und »bleibt«. Man kann sehr unterschiedlich denken, aber es wird immer ein Versuch sein, der denkenden Sache zu entsprechen. Und ein Denken muss sich nicht »Phänomenologie« nennen (der »Titel« kann »verschwinden«) – es ist schon eine Phänomenologie. 641 Man darf auf jeden Fall daraus schließen, dass jede jemals in welchem 641 In diesem Sinne kann man dieses Zitat auch als Heideggers Beschreibung seiner eigenen Philosophie sehen, wie dies zum Beispiel Güter Figal tut, der der Auffassung ist, dass Heideggers Denken durchgehend phänomenologisch bleibt: »Heideggers Denken ist wesentlich phänomenologisch.« (Figal(2009), 22) In der Tat ist sein Denken phänomenologisch, weil alles Denken phänomenologisch ist, was aber nicht heißt, dass das Gedachte immer ein Phänomen ist. Und das zu verstehen, heißt außerhalb der Phänomenologie zu sein (zu sein, nicht aber nicht mehr phänomenologisch zu denken). Ein solches Verstehen ist aber auch keine Ontologie – es ist richtig, »daß Heidegger sich schließlich von der Ontologie abkehrt« (Figal(2009), 22). Es ist auch
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Denken auch immer gemachte Aussage eine phänomenologische Aussage ist. Es gibt allerdings einen Unterschied: Diejenige Phänomenologie, die im 20. Jahrhundert von Husserl auf den Weg gebracht worden ist, weiß darum, dass sie phänomenologische Aussagen macht und sieht in diesem Wissen die einzige Möglichkeit, sich den Spekulationen zu entziehen. In der Phänomenologie beschreibt man nicht bloß in ihrem Sein schon vorausgesetzte Sachen, sondern die Sachen, insofern und wie sie uns gegeben sind. Damit enthält man sich von jeden ontologischen Schlussfolgerungen. Und dieses Sich-Enthalten, diese Epoché ist das radikal kritische Denken. Das Denken ist phänomenologisch – eine Sache ist gegeben und das Denken versucht, diese Sache zu verstehen; ohne einen ontologischen Anspruch – es versucht, die Sache nur so zu beschreiben, wie sie das Bewusstsein trifft, wie sie sich zeigt. Auch das Ereignis kann eine solche Sache des Denkens sein. Die von uns herausgearbeiteten Strukturen des Ereignisses zeigen eine Sache auf. Und dabei ist es auf keinen Fall notwendig, dass diese Sache ein Objekt ist. Es kann auch etwas Unbegreifliches sein. Um eine Sache phänomenologisch aufzuzeigen, muss sie nicht begreiflich sein. Das Sein, der Andere, die Erfahrungen des Leibes, Kunst, Gott etc. werden immer ein Geheimnis bleiben, aber trotzdem können sie eine Sache des Denkens, der Phänomenologie sein. Um zu denken, muss man nicht eine klare und deutliche Idee haben. Vielleicht ist es ganz im Gegenteil: Wenn alles klar und deutlich ist, ist das Denken nicht mehr möglich. Die Phänomenologie, das Denken als Phänomenologie kann also das Andere, das Unbegreifliche denken. Ja, sie muss es sogar tun, wenn sie sich um die Wahrheit kümmert. Und ist die Idee der »Phänomenologie der Unscheinbaren«, die diese Bezeichnung von Heidegger ausleihend (S, 399) heutzutage aufkommt 642 und die sich insbesondere in Marions Philosophie verkörpert, nicht genau dieses Sich-Kümmern um die Wahrheit? Wenn das Unbegreifliche gegeben ist, darf es nicht geleugnet werden. Es muss gedacht werden. Was wäre das für eine Philosophie, Weisheitsliebe, wenn sie bestimmte Sachen, die sich gekeine ontische Situation, es ist – wie wir später sehen werden – die Zugehörigkeit zum Ereignis als Verhältnis zum Anfang des Denkens. In diesem Sinne ist das Denken Heideggers seit seinem Ereignisdenken weder phänomenologisch noch ontologisch, sondern zugehörig. 642 Mindestens seit Dominique Janicauds bekanntem Buch Le tournant théologique de la phénoménologie française (1991) wird die gegenwärtige (französische) Phänomenologie als die »Phänomenologie des Unscheinbaren« verstanden.
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ben und zeigen, leugnen würde, wenn sie mit Absicht – aus Angst oder Scham – diese Sachen anders darstellen würde, als sie sich zeigen, wenn sie nicht versuchen würde, diesen Sachen zu entsprechen? Wäre das noch Weisheitsliebe? 643 Das Ereignis ist eine Sache des Denkens und, insofern wir uns strikt von jeden ontologischen Spekulationen abgrenzen, es ist eine Sache der Phänomenologie – wir beschreiben, was sich mit uns ereignet, wenn es auch etwas Unbegreifliches ist. Wenn das Ereignis eine Sache der Phänomenologie ist, ist es ein Phänomen. Und in diesem Moment stoßen wir auf riesige Schwierigkeiten. In der Tat gilt das Ereignis im aktuellen Ereignisdenken – zum Beispiel im Denken Marions oder Romanos – als Phänomen. Und nicht nur – was sehr wichtig ist – für die Phänomenologie stellt das Ereignis ein Phänomen dar, sondern auch für den Betroffenen selbst. 644 Heidegger (noch nicht in Sein und Zeit und auch später nicht explizit), Levinas und Derrida sprechen dagegen dem Ereignis die Phänomenalität ab. Es ist sehr wichtig, diesen Einwand gegen die Phänomenalisierung ernst zu nehmen. Oft wird diese Streitigkeit auf die Frage nach der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit reduziert. Wenn das Phänomen das Sichtbare ist und etwas Unsichtbares (Unbegreifliches) behauptet wird, dann kann dieses Unsichtbare nicht das Thema der Phänomenologie sein. Marions Gegenargument lautet: Das Unsichtbare zeigt sich auch und deswegen kann und muss es von der Phänomenologie behandelt werden. Wir haben versucht zu zeigen, dass er in diesem Punkt recht hat. Die Tatsache, dass das Ereignis kein Etwas, kein Objekt, nichts Klares und Deutliches ist, ist kein Grund, ihm die Phänomenalität und Denkbarkeit abzusprechen. Wenn aber von manchen Denkern dem Ereignis die Erfahrbarkeit und Denkbarkeit abgesprochen wird, geht es eigentlich um etwas anderes. Das Ereignisdenken unterscheidet das Ereignis und das, was sich ereignet. Das, was sich ereignet, das 643 Damit möchten wir uns ausdrücklich gegen den von Janicauds in seinen Büchern Le tournant théologique de la phénoménologie française (1991) und La phénoménologie éclatée (1998) formulierten Vorwurf hinsichtlich der Überschreitung der Grenzen der Phänomenologie – insbesondere, wenn sie das Religiöse untersucht – wenden. Die Phänomenologie überschreitet nie ihre Grenzen, insofern sie bei dem im Bewusstsein Gegebenen bleibt. Sie kann nicht-phänomenologisch nur dann werden, wenn sie aus dem Gegebenen ontologische bzw. theologische Schlussfolgerungen zieht, was nicht immer der Fall sein muss – auch wenn es um das Religiöse geht. 644 Und wie könnte das auch anders sein? Wenn die Phänomenologie von eigener Erfahrung spricht, dann ist die von ihr untersuchte Sache erfahrbar, also ein Phänomen.
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sichtbar Unsichtbare, ist nicht dasjenige, dem die Phänomenalität grundsätzlich abgesprochen wird, sodass sich an diesem Punkt eine unterschiedliche Position ausformulieren würde. Ganz im Gegenteil: Es wird von allen genau als die sichtbare Spur des Ereignisses verstanden. Es ist das Sich-Ereignen, das nicht erscheinen kann, das kein Phänomen ist und deswegen undenkbar bleibt. Hier liegt der eigentliche Streitpunkt, nämlich in der Frage, ob das Sich-Ereignen ein Phänomen ist, und nicht in der Frage, ob das Sichtbare ein Phänomen ist. Aber vielleicht gibt es gar keinen Streitpunkt, weil in dieser ganzen Diskussion von zwei verschiedenen Sachen gesprochen wird, ohne sie zu unterscheiden. Die einen sprechen von dem, was sich ereignet, und nennen es Phänomen, während die anderen vom Sich-Ereignen sprechen und in Bezug auf es die Phänomenalität leugnen. Es wird also über zwei verschiedene Sachen nachgedacht und in diesem Rahmen kann die Frage nach der Phänomenalität bzw. Nicht-Phänomenalität des Ereignisses nicht beantwortet werden. Vielleicht muss sie auch gar nicht beantwortet werden, wenn im Ereignisdenken, wie wir vermuten, schon entschieden ist, dass das Sich-Ereignen im Gegensatz zur Spur nicht erscheint. Das Ereignis ist ein Phänomen also nur, insofern es erscheint. Aber es ist kein Phänomen, insofern es nicht erscheint, insofern es der Anfang ist. Es ist unproblematisch, von einem Phänomen zu sprechen. Aber wie kann man von etwas sprechen, was nicht erscheint, auch nicht als etwas Unsichtbares? An diesem Punkt endet die Phänomenologie und beginnt das, was Derrida »Wahnsinn« nennt: Man versucht nämlich, das Undenkbare zu denken. Das ist auf jeden Fall ein wahnsinniges Unternehmen, aber nicht ganz ohne Erfolg. Und der entscheidende Punkt liegt darin, zu behaupten, dass das Ereignis undenkbar ist. Man verlässt hier die Phänomenologie nicht deswegen, weil man mit etwas Unbegreiflichem zu tun hat – das Unbegreifliche ist nicht die Grenze der Phänomenologie. Wir können das Unbegreifliche sowohl erfahren als auch denken. Man muss hier die Phänomenologie verlassen, weil man in Bezug auf das Undenkbare nicht mehr wie in der Phänomenologie sagen kann, dass das Ereignis sich als undenkbar zeigt, weil damit es schon als ein Gegebenes für die Beschreibung – also als ein Phänomen – gesetzt ist. Man muss stattdessen die Phänomenologie verlassen und behaupten, dass das Ereignis undenkbar ist. Hier erscheint nichts mehr als undenkbar – wenn man das Ereignis denkt und man denkt es als Phänomen, kommt man irgendwann zum Schluss, dass irgendetwas Undenkbares ist. Man 449 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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kann es nicht anders als durch diese, auf den ersten Blick ontologische, Behauptung denken, die nicht eine Erfahrung beschreibt, sondern bloß denkend zu einer Erkenntnis kommt. Und daraus folgt auch: Wenn es gesagt wird, dass etwas ist, was nicht erscheint, dann ist keine Erscheinung eine Erscheinung von dem, von dem man behauptet, dass es nicht erscheint. Eine Ereignisphilosophie, die als Phänomenologie beginnt, kommt also zu dem, was keine Phänomenalität (sichtbare oder unsichtbare, objekthafte oder unbegreifliche) besitzt, aber sie bleibt trotzdem auch phänomenologisch (könnte es überhaupt anders sein?), insofern sie die »phänomenologischen Umstände« dieser Andersheit beschreibt. Nur dieses Mal sieht sie ein Phänomen nicht bloß als ein Phänomen, sondern als die Spur eines Ereignisses, das jenseits aller Phänomenologie liegt. Genau das sagt der Begriff des Ereignisses als Anfang bei Heidegger, der Begriff der Beziehung zum Anderen bei Levinas und der Begriff der Gegebenheit bei Marion.
2.2. Das nicht-phänomenale Ereignis und das Andere der Erfahrung und des Denkens Wir definieren das Ereignis als das, was uns trifft. Damit bestimmen wir es als ein Phänomen. Und insofern wir es erfahren und versuchen, zu verstehen und zu denken, ist es ein Phänomen. Andererseits kommt eine Phänomenologie des Ereignisses – also ausgehend von der Erfahrung – zur Einsicht, dass das Phänomen (begreifliches oder unbegreifliches) die sichtbare Spur von dem ist, was unmöglich erscheinen kann, ohne aufzuhören das zu sein, was es ist, nämlich ein anfängliches Ereignis. Es kann nicht erscheinen, es kann überhaupt nicht erscheinen und damit ist es ein An-sich-Sein, das Andere der Phänomenologie, das Andere des Denkens. Ab jetzt gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten für ein Ereignisdenken: Entweder hält es sich streng logisch daran, dass das, was nicht erscheint, nicht erscheint, oder versucht, die Logik zu verlassen und damit etwas Wahnsinniges zu unternehmen. Im ersten Fall setzt es ein Nicht-Erscheinendes als etwas, was seiner Natur nach, nicht erscheint. Daraus ergeben sich für diese Möglichkeit wiederum zwei Wege: Ist eine ontologische »Sache« gesetzt, kann sie entweder als eine übliche »Sache« beschrieben werden, die diese und jene »Eigenschaften« aufweist (eine wesentliche Eigenschaft ist, dass sie nicht erscheint), sich 450 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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so oder so verhält; oder man kann versuchen, dieser Eigenschaft des Nicht-Erscheinens der gesetzten Sache streng zu folgen und jede mögliche Beschreibung zu verneinen. Um diese erste Möglichkeit zu veranschaulichen: In der mittelalterlichen Theologie ist Gott eine ontologisch bzw. onto-theologisch gesetzte »Sache«. Die affirmative Theologie macht positive Aussagen über Gott, obwohl sie auch seine Unerkennbarkeit (Gott ist nicht darauf reduzierbar, was wir von ihm denken, wie er uns erscheint) behauptet. Sie kann so widersprüchlich handeln, weil die Unerkennbarkeit Gottes nur eine Eigenschaft einer »Sache« ist, die als eine »Sache« schon positiv gesetzt ist. Die These von der Unerkennbarkeit ist schon eine Affirmation. Die negative Theologie versucht dagegen, dieser Hemmungslosigkeit in der Erkenntnis Gottes entgegenzusteuern. Wenn Gott unerkennbar ist, dann sollen alle Affirmationen in Bezug auf ihn verneint werden. Aber auch die negative Theologie – wie Derrida in seinem Vortrag Comment ne pas parler. Dénégations (1986, veröffentlicht in: Psyché. Inventions de l’autre (1987)) und seinem Buch Sauf le nom (1993) zeigt – hat Gott schon als eine Sache gesetzt, zu etwas Präsentem im Bewusstsein, also zu einem Objekt für eine Metaphysik der Präsenz gemacht, wenn auch diese -logie nicht bejahen, sondern verneinen soll. Sowohl in der affirmativen als auch in apophatischen Theologie geht es um eine »Sache«, die onto-theologisch gesetzt worden ist und im Denken als unerkennbar erkannt wird. Würde das Ereignisdenken, das als Phänomenologie anfängt und von dem spricht, was und inwiefern es uns gegeben ist, zur Setzung eines grundsätzlich Nicht-Erscheinenden kommen, würde das einen Rückfall in die Ontologie, Onto-theologie, Metaphysik bedeuten. Auch dann noch, wenn es nicht um eine nicht-erscheinende Sache, sondern zum Beispiel und einen Prozess gehen würde. Es wäre ein Rückfall in die Metaphysik so, wie sie von Heidegger verstanden wird: wenn der Versuch etwas anderes, Höheres als ein Seiendes zu denken, scheitert und wiederum nur das Seiende gedacht wird. 645 Würde das Ereignisdenken die Ontologie überwinden, um etwas an645 Die Heideggersche Definition von Metaphysik ist allgemein bekannt und überall in seinen Texten zu finden. Wir zitieren hier zum Beispiel folgende Stellen: »Der Name ›Metaphysik‹ wird hier unbedenklich zur Kennzeichnung der ganzen bisherigen Geschichte der Philosophie gebraucht. Er gilt nicht als Titel einer ›Disciplin‹ der Schulphilosophie; auch seine späte und nur z. T. künstliche Entstehung bleibt unbeachtet. Der Name soll sagen, daß das Denken des Seins das Seiende im Sinne des Anwesend-Vorhandenen zum Ausgang und Ziel nimmt für den Überstieg zum Sein,
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deres zu denken, das sie überschreitet, würde es also wirklich zur Meta-physik (im etymologischen Sinne des Wortes), und wäre es dann in dieser Meta-physik doch unfähig, etwas anderes als ein Seiendes zu denken, würde es wieder zur Ontologie, zur gescheiterten Meta-physik, zur Metaphysik im Heidegger’schen Sinne. Doch die Gefahr liegt nicht bloß im Rückfall in die Metaphysik. Es geht darum, dass, wenn wir schließlich zu etwas kommen, was uns nicht betrifft, wir davon zu sprechen beginnen, was uns nicht betrifft. Aber wollten wir gerade nicht davon sprechen, was uns betrifft? In der Tat behält das Ereignisdenken diesen Bezug zur Erfahrung. Es geschieht mit dem Betroffenen, sodass der Betroffene ein Verhältnis zu ihm hat. Doch – und damit versucht das Ereignisdenken, mit der Unerfahrbarkeit und Undenkbarkeit des Anfanges zurechtzukommen – ist das kein Verhältnis eines Verstehenden zu einem Phänomen (sei es objekthaft oder ein Geheimnis), sondern soll anders gedeutet werden.
2.3. Das Ereignis und die Überschreitung der Bewusstsein-Phänomen-Struktur Das Ereignisdenken sieht sich mit folgendem Problem konfrontiert: Ausgehend von eigener Erfahrung ist es gezwungen, etwas zu denken, was kein Etwas für einen Empfänger ist, weil es nicht erfahrbar (und dementsprechend auch nicht denkbar) ist. Folglich versucht das Denken des Ereignisses, das Ereignis als die Überschreitung der Struktur »Empfänger-Etwas« zu denken, aber gleichzeitig – was fast unmöglich scheint – auch im Rahmen der Erfahrung zu bleiben. Im Folgenden möchten wir zwei mögliche Varianten – die eine von Levinas, die andere von Heidegger – eines solchen Versuches vorstellen. Sie sind wahrscheinlich nicht die einzigen möglichen, aber auf jeden Fall – jeder für sich – paradigmatische Versuche. der zugleich und sogleich wieder zum Rückstieg in das Seiende wird.« (B, 423) Oder: »Die Metaphysik ist seynsgeschichtlich der Zwischenfall der Herrschaft des Seienden vor dem Seyn dergestalt, daß sich das Seyn in die Seiendheit des Seienden losläßt und in die Seinsverlassenheit des Seienden sich schickt.« (E, 103) Es geht also darum, dass man versucht, etwas anderes als das Seiende zu denken, dies gelingt aber nicht: Überall wird nur das Seiende gedacht bzw. die »Seiendheit«, insofern man beansprucht, etwas anderes als das Seiende zu denken. Man versucht also, nichts zu setzen, ein Ereignis zu denken, kommt aber wiederum zur Setzung eines Ontischen und dies immer und immer wieder. Es ist in der Tat – wie schon gesagt – wie in Kafkas Schloss.
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2.3.1. Der Leib Das Ereignisdenken, das erfährt, dass das Ereignis nicht das ist, wovon es selbst spricht, setzt dieses, wovon es nicht spricht, nicht als eine Sache, sondern bleibt im Rahmen der Erfahrung, der Betroffenheit. Damit bleibt es streng von jeder Ontologie und damit auch von jeder Art negativen Denkens (auch von der negativen Theologie) unterschieden. Damit gibt es auch die wahre meta-physische Einstellung nicht auf: Es versucht, nicht in die Ontologie zurückzufallen, sondern weiterhin das zu denken, was kein Seiendes ist. Einen solchen Versuch, die Ontologie im Denken des Anderen zu vermeiden, können wir sehr gut in der Philosophie Levinas’ beobachten. In Totalité et infini wird das Andere als das Unendliche nicht als ein Objekt gesetzt. Das heißt: Es kann nicht ausgehend vom Selben gedacht werden. Es ist schlicht das Andere und damit stellt es die Totalität des Selben in Frage. Die »metaphysische Beziehung« zu ihm »kann nicht im eigentlichen Sinne des Wortes eine Vorstellung sein; denn dann würde sich das Andere im Selben auflösen« (TU, 43/TI, 8). Die Beziehung zum Anderen ist stattdessen »Begehren«. Das Begehren stellt die Unmöglichkeit, das Andere zu erreichen, dar. Ich möchte das Andere durchleuchten und verstehen, es so erfahren und besitzen, wie ich ein Objekt erfahre und besitze, aber ich kann es nicht, weil es das Andere ist: Ich begehre »jenseits aller Befriedigung« (TU, 37/TI, 4). Aber das Begehren ohne Befriedigung ist ein Erlebnis. Es ist sogar ein intentionales Erlebnis, das das Andere als absolute Andersheit gegenüber dem Selben erfährt. Wir haben mit einem Objekt »absolute Andersheit« zu tun, das wir als unerreichbar charakterisieren. Und wir müssen feststellen, dass dieser phänomenologische Versuch die übliche onto-theologische Denkweise, wenn sie das Andere denkt, nur wiederholt. Sie beide setzen ein Objekt (begreifliches oder unbegreifliches), der Unterschied besteht nur darin, dass die Phänomenologie nicht bloß eine Sache beschreibt, sondern sie beschreibt sie, insofern sie im Bewusstsein gegeben ist. Damit denkt sie, die unbegründeten Spekulationen überwunden zu haben, was auch wahr ist, doch das bedeutet noch nicht, dass sie das Andere zu denken vermag. Aber wenn sie das Andere noch nicht denken vermag, weil sie es für das Bewusstsein als eine Gegebenheit setzt, kann sie dann behaupten, dass sie die Metaphysik überwunden hat? Ist der Sinn der Überwindung der Metaphysik nicht die Suche nach der Wahrheit, nach der Weisheit und zwar mehr als es in der Ontologie geschieht? Ein Schritt 453 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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in diese Richtung besteht auf jeden Fall darin, dass man einsieht, dass jede gesagte Wahrheit die Wahrheit eines Bewusstseins ist und dass nur in diesem Rahmen die Wahrheit gesucht werden kann. Wenn aber das Denken, indem es die Wahrheit als sein Ziel setzt, die der zu denkenden Sache entsprechen muss und wenn es gleichzeitig zugibt, dass es diese Sache nicht ereichen kann, dass es nur seine eigenen Phänomene beschreibt, darf es sich dann mit diesen phänomenologischen Wahrheiten zufriedengeben und sich sogar vortäuschen, dass diese Wahrheiten des Bewusstseins die Wahrheiten der Sache sind? Nur weil es unfähig ist, das Andere selbst zu erreichen, darf es seine eigene Wahrheit für Wahrheit erklären? Die Metaphysik kann nicht überwunden werden, wenn, statt das Andere zu denken, das Denken nur das Selbe denkt. Um die Metaphysik zu überwinden, muss das Andere als Grenze des Denkens gedacht werden. Und das kann weder ontologisch noch phänomenologisch geschehen. Eine Möglichkeit, diese Grenze zu denken, ist das Ereignisdenken. Kehren wir zu Levinas zurück. Wenn das Andere gedacht werden muss, kann Levinas es nicht ontologisch setzen und ein Erlebnis des Begehrens phänomenologisch beschreiben. Wovon muss man sprechen, um nichts zu setzen? Indem man spricht, setzt man natürlich das, wovon man spricht. Deswegen ist das, wovon man spricht, nicht das, wovon man spricht. Ist dies gesagt, kann man in dieser neuen Einstellung erneut fragen: Wovon muss man sprechen, um nichts zu setzen? Eine Möglichkeit: Man spricht von einer nicht-intentionalen Erfahrung, einer Erfahrung, die natürlich das Andere nicht setzt und deswegen auch nicht eine Erfahrung des Selben ist; von einer Erfahrung, die vor dem Objekt und vor dem Subjekt stattfindet; von einer leiblichen Erfahrung. Es ist nicht so, dass im Falle Levinas’ er zu der Idee von einer vor-intentionalen, leiblich passiven Erfahrung durch das Denken des Anderen als Anderen kommt. Diese Idee liegt schon vor, nämlich in der Phänomenologie des Leibes von Husserl, Merleau-Ponty und Henry. Dieser Umstand ist wichtig, weil das heißt, dass Levinas diesen Gedanken von einer leiblichen Erfahrung auf das Andere bloß anwendet und es ist möglich – wie das sich später in der Tat herausstellt –, dass er nicht ganz dazu geeignet ist, die Beziehung zum Anderen zu verstehen. Er ist nur eine Möglichkeit, wie man die Beziehung zum Anderen denken kann. Wenn also das Andere nicht das von einem Subjekt vorgestellte Andere ist, dann gibt es die Andersheit vielleicht dort, wo wir leiblich, sinnlich, passiv sind, wo wir nichts – weder sich selbst noch das Andere – vergegen454 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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ständlichen? Schon in Totalité et infini und viel ausgeprägter in Autrement qu’être geht es um eine nicht-thematisierbare, nicht-phänomenalisierbare Erfahrung des Anderen, die sich durch die passive Sinnlichkeit des Selben ereignet und die intentionale Setzung des Anderen nicht erlaubt: »Die so verstandene Sinnlichkeit ist nicht identisch mit den noch schwankenden Gestalt des ›Bewußtseins von‹. […] Die Sinnlichkeit intendiert keinen Gegenstand, auch nicht einen noch unausgebildeten Gegenstand.« (TU, 194/TI, 110) Und im Aufsatz De l’Un à l’Autre (1983) heißt es schließlich: »Das Menschliche heißt Rückkehr zur Innerlichkeit des nicht-intentionalen Bewußtseins […].« (ZU, 186/EN, 170) Die Innerlichkeit, die Immanenz des Subjekts bedeutet genau, dass das Subjekt nicht intentional auf etwas gerichtet ist, dass es nicht außerhalb seiner selbst ist. Es verschmilzt sich mit dem Gegebenen. Und es kann dies, weil es passiv ist, dem Anderen gegenüber völlig offen. Man sagt, es ist in diesem Moment leiblich nicht deswegen, weil es irgendwelche sinnliche Daten wahrnimmt (das wäre Intentionalität), sondern weil sein aktiver Geist nicht aktiviert ist. Das Subjekt ist in diesem Moment durch und durch undurchsichtig, ir-reflexiv, völlig inkarniert, »Fleisch« (chaire) – wie Henry es bezeichnet. Niemand hat sich mit dieser Möglichkeit des Subjekt-Seins, die als absolute Immanenz, Innerlichkeit gesehen werden muss, so intensiv auseinandergesetzt wie Michel Henry. Die passive Fleischlichkeit ist zu einem üblichen Charakteristikum des Subjekts geworden, sogar zu demjenigen, das das Subjekt wesentlich charakterisiert. Wir dürfen uns aber in diesem Moment nicht vom Thema abschweifen. Es geht um das Ereignis als das Andere des Denkens, der Phänomenalität, der Erfahrung. Es geht nicht um die Untersuchung über die Seinsweise des Subjekts. Die Frage, die uns in diesem Zusammenhang beschäftigen sollte, ist, ob das Ereignis als Innerlichkeit – weil jenseits der Intentionalität – beschrieben werden kann? Wenn Levinas die Beziehung zum Anderen denkt, denkt er also eine Passivität ohne Intentionalität, eine Innerlichkeit, die zu sich zurückkehrt, wenn das Andere da ist. Trotz der andersartigen und heutzutage vielerorts verbreiteten Ansicht folgen wir Levinas (und Derrida) und behaupten, dass diese Art von Beziehung nicht erscheint und mit der Phänomenologie nichts mehr zu tun hat. Die Phänomenologie taucht für Levinas in der Tat nur dort auf, wo er die »phänomenologischen Umstände« dieser »Rückkehr«, die nicht das ist, was erscheint und wovon man spricht, beschreibt. Die Phänomenologie beschreibt dann die Erfahrung der Rückkehr zur Inner455 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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lichkeit als »Verspätung« (JS, 199/AQE, 112) in Bezug auf eine »Vorzeitigkeit« (JS, 50/AQE, 18), auf eine »Vergangenheit, die niemals Gegenwart war« (JS, 68/AQE, 31), also in Bezug auf eine Zeit, wo ich als ich nicht war und wo auch das Andere als Andere nicht war und wo überhaupt nichts war, weil es keine Intentionalität gegeben hat. Alles, was wir phänomenologisch haben, ist die Verspätung. Wir haben keine Erfahrung des Anderen, sondern nur die Erfahrung der Verspätung; und der Spur. Ein ähnliches Denkschema finden wir auch in der Philosophie Marions, er denkt aber auf keinen Fall so radikal wie Levinas. Für Marion bleibt das Andere grundsätzlich ein Phänomen der Andersheit – er beschreibt die Erfahrung des Anderen, ungeachtet der Tatsache, dass sie kein Anderes mehr an sich hat. Man könnte sagen, dass sein Ereignisdenken grundsätzlich als Hermeneutik des gesättigten Phänomens (der sichtbaren Spur des Ereignisses) zu verstehen ist. Nur sein Konzept der Gegebenheit verknüpft Marions Denken mit dem Ereignisdenken, insofern er die Gegebenheit als dasjenige versteht, das das Phänomen gibt, während sie selbst in »Verborgenheit« (GS, 130/ED, 100) bleibt; insofern die Gegebenheit immer »schon vergangen« (CN, 249) ist und wir in Bezug auf sie immer »in Verzug« (CN, 249) sind. Marions Phänomenologie ist ein Ereignisdenken, insofern der Empfänger des Ereignisses grundsätzlich als leiblich verstanden wird: »[I]ch habe keinen Leib, sondern ich bin mein Leib […].« (EPh, 166/PhE, 178) Die Leiblichkeit konstituiert die Passivität des Subjekts und seine zeitliche Verschiebung bezüglich des Ereignisses. 2.3.2. Das nicht-vorstellende Denken Das Denken des Ereignisses behauptet, eine »Sache« nicht erfahren zu haben, die deswegen kein Phänomen ist, sondern das Andere und das Andere des Denkens, das eine »Sache« setzt. Levinas deutet dieses Andere als Innerlichkeit, als – wir können das so beschreiben – einen Zustand eines absolut inkarnierten Bewusstseins. »Zustand« heißt, dass es kein Subjekt und kein Objekt gibt. »Inkarniert« heißt, dass es sich auf keinen Fall um einen Bewusstseinszustand handelt, wo das Bewusstsein sich dessen bewusst wäre, was passiert. Das Subjekt ist stattdessen zum Leib geworden, zum Objekt unter den Objekten, zum Objekt, das sich selbst nicht kennt. Der Kontext, in dem Heidegger sein Ereignisdenken entwickelt, 456 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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ist völlig anders. Obwohl er genauso wie Husserl die leibliche Seinsweise des Menschen thematisiert, ist ihm die völlige Verfleischlichung des Subjekts, wie sie in der französischen Phänomenologie auftaucht und jetzt zu einer fast allgemein akzeptierten These geworden ist, fremd. 646 Aber lassen wir die Frage nach der Seinsweise des Subjekts beiseite. Was das Ereignis betrifft, bietet Heidegger eine ähnliche Lösung wie Levinas an, und zwar für das Problem der ontologischen Setzung, das im Allgemeinen das Problem der Beziehung zum Anderen, zum Ereignis ist. Auch für Heidegger ist der Bezug 646 Wir möchten an dieser Stelle auf die Forschungsergebnisse von Patrick Baur über die Leiblichkeit in Heideggers Philosophie hinweisen, die im Buch Phänomenologie der Gebärden. Leiblichkeit und Sprache bei Heidegger (2013) veröffentlicht sind. Zuerst stellt er fest: »In der Tat wird die Leiblichkeit bei Heidegger auffällig selten direkt thematisiert. Bereits in den früheren Werkphasen spricht Heidegger nicht häufig vom Leib.« (Baur, 12) Er fragt: Warum? Eine – in unserem Kontext wichtige – Antwort auf diese Frage lautet: Weil Heidegger »sich konsequent und durchgehend dem Ansinnen verweigert, eine Phänomenologie des Menschseins müsse sich primär auf die Leiblichkeit gründen« (Baur, 24). Baur beobachtet zwar, dass Heideggers Analysen der menschlichen Existenz »leibliche Momente zu implizieren scheinen« (Baur, 13), aber der Mensch ist nicht der Leib, deswegen bleibt es bei den »Implikationen« – genauso wie in der Existenz der Leib zwar impliziert ist, aber meistens (natürlich nicht immer: Es gibt Fälle, wo der Mensch völlig zum Leib wird, zum Beispiel wenn er hungert oder beim Sex) im Hintergrund bleibt und nur mit-macht. Baur zitiert (Baur, 23) in diesem Zusammenhang Zollikoner Seminare, wo Heidegger die Lage ganz eindeutig erklärt: »Sieht denn der Leib? Nein, ich sehe. Aber zu diesem Sehen gehören doch meine Augen, also mein Leib. Doch nicht das Auge sieht, sondern mein Auge – ich durch meine Augen sehe.« (Z, 114) Schauen wir aber auch auf einen anderen Text, der aus der französischen Tradition kommt. Der Autor ist Jean-Luc Marion: »Das tägliche Leben gestattet mir kaum Zugang zu mir selbst, ja entbindet mich in der Tat davon, den Wunsch danach zu hegen oder gar die Notwendigkeit dazu zu verspüren. Denn ich habe ein stillschweigendes Abkommen mit mir selbst: Ich tue so, als hätte ich Zugang zu mir selbst, will mich aber selbst davon entheben, dies allzu oft nachzuprüfen, um so meiner weltlichen Umtriebigkeit frei nachgehen zu können. […] So nehmen die Dinge ihren Lauf: Meiner selbst zu gewiss, als dass ich jemals darangehen würde, nachzusehen, ob ich da bin, befasse ich mich nur mit den restlichen Seienden. […] Wo und wann könnte ich aufhören (falls ich es könnte), ein Fremder mir gegenüber zu sein, unbestimmt, ja abwesend? […] Ich komme auf mich selbst zurück, indem ich mich selbst erfahre, und ich erfahre mich selbst, indem ich Leib werde.« (L, 21/DS, 103) Man könnte vermuten, dass es hier um unterschiedlich verstandene Leibesbegriffe geht. In diesem Fall gibt es keine Probleme: Man muss sich nicht weiter mit dieser Problematik beschäftigen. Wir nehmen dagegen an, dass es hier um zwei phänomenologische Beschreibungen derselben Sache geht und dass sie in Konflikt sind. Dann entsteht die Frage: Bin ich ich selbst, wenn ich in der Welt bin und durch meinen Leib die Welt erfahre (wie auch Merleau-Ponty das gedacht hat) oder bin ich ich selbst, wenn ich in meinem Leib bin? Dass beide Antworten stimmen könnten, ist
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zum Sein als Ereignis keine Vorstellung. Wenn wir diese Beziehung beschreiben wollen, können wir sie nicht so verstehen, dass das Dasein das Sein als einen gesetzten Gegenstand denkt. Ein solcher Gegenstand wäre für Heidegger ein leerer Begriff: nichts von dem, was man erreichen wollte. Aber das Sein ist auch – wie wir gesehen haben – kein intentionales Objekt eines Erlebnisses. Es ist ebenso kein Gefühlszustand, kein Bewusstseinszustand. Wie kann man dieses Verhältnis zum Ereignis noch charakterisieren? Levinas sagt: Es ist die Innerlichkeit. Heideggers Lösung lautet: Es ist der »Austrag« (B, 15). Die Innerlichkeit von Levinas ist an die Fleischlichkeit des Subjekts gebunden. Der Austrag von Heidegger ist an das Denken gebunden. Man könnte vermuten, dass diese zwei Möglichkeiten im Gegensatz zueinander stehen, aber so ist es nicht. Ganz im Gegenteil: Sie bestätigen dieselbe Art und Weise, wie man das Ereignis denken kann. Das Denken des Seins ist für Heidegger nämlich kein vorstellendes Denken. Die Philosophie Levinas’ denkt die vor-intentionale Innerlichkeit, die das philosophische Denken nicht einholen kann, weil sie kein Phänomen ist. In dieser Innerlichkeit geschieht die Begegnung von Selbem und Anderem. Die Philosophie Heideggers denkt ein nichtintentionales Denken, das sie nicht einholen kann, weil es kein Begriff ist. In diesem Denken geschieht die Beziehung zwischen dem Denken und seinem Anderen, nämlich seinem Anfang. In diesem Denken erfährt das Denken seine Eingebettetheit in seinem Ursprung; es ist eins mit seinem Ursprung; es erfährt sich als die Spur dieses Ursprunges, der der Abgrund ist. Weil dieses nicht-intentionale Denken als Austrag nichts denkt, sondern im Verhältnis zu seinem Anfang steht, ist es eine Ereignis, ein Zustand des Denkens, die Art und Weise, wie das Denken in diesem Moment ist: »Der Austrag ist Er-eignis.« (B, 84) Und: »Der Aus-trag trägt den Ab-grund.« (B, 307) Levinas’ Innerlichkeit ist kein Gefühl der Innerlichkeit, sondern der Zustand, in dem sich das Selbe befindet, wenn es dem Anderen begegnet. Heideggers Austrag ist ein Zustand, in dem sich das Denken befindet, insofern es bei seinem abgründigen Anfang ist.
keine zufriedenstellende Antwort. Aber legen wir diese Überlegungen zur Seinsweise des Ich in diesem Moment beiseite.
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2.4. Die Nicht-Phänomenalität des Ereignisses Aus dem Ausgeführten können wir jetzt einige Schlussfolgerungen ziehen. Insofern wir das Ereignis denken, ist es ein Phänomen – ob gegenständliches oder unendliches, das spielt keine Rolle. Insofern wir überhaupt mit etwas zu tun haben, ist es ein Phänomen. Das Ereignisdenken vermutet aber, dass wir auch mit etwas zu tun haben können, was für uns nicht als ein Phänomen erscheint und deswegen auch nicht gedacht werden kann. Mehr noch: Genau dieses NichtPhänomenale nennt das Ereignisdenken absolute Andersheit. Nicht das Phänomen des Anderen ist das radikal Andere, sondern dieses Undenkbare. Weil das Ereignisdenken das Un-denkbare nicht als ein Phänomen setzt, kann es unmöglich eine Phänomenologie sein. Dieses Undenkbare ist nicht die Erfahrung eines Undenkbaren, was es zu einem Phänomen machen würde, sondern ein Zustand, ein Ereignis, eine Situation, eine Lage, in die das Subjekt geriet und aus der es mit einer Spur zurückkehrt. Wir müssen hier streng unterscheiden: Die Phänomenologie denkt diese sichtbare Spur, mit der der Betroffene aus seiner ereignishaften Lage zurückkehrt, die Philosophie des Ereignisses denkt diese Lage selbst. Diese Lage ist nicht phänomenal und kann nie phänomenal werden. Levinas nennt diese Lage Innerlichkeit, Heidegger: Austrag. Nochmals: Das Ereignisdenken denkt kein Etwas – begreifliches oder unbegreifliches – sondern einen Zustand, ein Ereignis, einen Sachverhalt. Deswegen ist es das Denken des Ereignisses und nicht ein Denken, das das Ereignis als etwas denken würde. Wir haben behauptet, dass das Nicht-Phänomenale, das das Ereignisdenken vermutet, nicht erfahrbar ist. In der Tat erfährt niemand das Ereignis, man befindet sich im Ereignis. Erst wenn man aus dieser anfänglichen Situation herauskommt, kann man sich auf sie irgendwie beziehen, sie thematisieren, aber ohne sie einholen zu können. Niemand erfährt das Ereignis, wenn es sich ereignet. Es geschieht von sich selbst. Das muss absolut radikal gedacht werden. Das ist das erste Axiom des Ereignisdenkens. Und erst danach kann hinzugefügt werden, dass das Ereignis sich doch mit jemandem ereignet und gar nicht ohne diesen jemanden stattfinden kann, da es kein objektiver Prozess oder ein objektiver Zustand ist. Die Liebe kann nicht von außen gesehen werden: Sie geschieht mit mir, aber ohne mich. Dieses Mit-mir-Geschehen ist undenkbar. Es impliziert ein Ich, das aber nicht-intentional ist, sondern nur ein Teil des Ereignisses. Man 459 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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könnte einwenden: Wenn ich liebe, fühle ich doch etwas, ich spüre den Anderen, die Liebe geschieht doch nicht ohne meine Teilnahme! Aber das alles ist nur die Sichtbarkeit des Anfangs: Es ist das, was sich ereignet, wenn sich das Ereignis ereignet. Da es aber keinen Anfang gibt, ohne dass etwas anfangen würde, gehört zu jedem Ereignis eine Erfahrung, die jemand hat. Und das ist das zweite Axiom des Ereignisdenkens. Diese Erfahrung innerhalb des Ereignisses kann Phänomen genannt werden und kann phänomenologisch beschrieben werden, aber sie ist keine Erfahrung des Ereignisses – sie gehört zum Ereignis. Das dritte Axiom. Wir behaupten also, dass das Ereignis kein Phänomen ist. Liebe und bedingungslose Gabe, Geburt und Tod, Berührung und Hingabe, Offenbarung und Vergebung, Musik und Zeit sind anfängliche Situationen, in denen Phänomene möglich werden – auch diese, die ich gerade genannt habe. Veranschaulichen wir das Gesagte und werfen wir einen Blick darauf, wie Marion die Geburt beschreibt, die er als »perfektes Ereignis« (événement parfait) (DS, 50) bezeichnet. Schon von Anfang an gibt es Schwierigkeiten, die Geburt als ein Phänomen zu sehen, weil »ich sie nie mit meinen eigenen Augen gesehen habe« (je ne l’ai jamais vue de mes propres yeux) (DS, 51). Mehr noch: Sie hat sich »ohne mich« (sans moi) (ebd.) und »vor mir« (avant moi) (ebd.) vollzogen; sie ist »immer vergangen« (toujours passé) (DS, 53). In der Tat zeichnen genau diese Merkmale das Ereignis aus. Wenn wir die Geburt denken, denken wir an eine Situation, in der wir geboren wurden. Die Situation hat sich vollzogen ohne uns und vor uns in dem Sinne, dass das Bewusstsein erst später in der Lage war, sich auf dieses Ereignis zu beziehen. In Bezug auf die Geburt sollte die Phänomenologie verlassen werden – erst dann können wir die Geburt so verstehen, wie sie wirklich geschieht. Marion möchte aber im Rahmen der Phänomenologie bleiben. Wo man ein Ereignis – etwas Unsichtbares und Undenkbares – sehen könnte (und sollte), will Marion die Geburt als ein Phänomen retten. Er behauptet sogar, dass er sie, nach dem er sie als »ohne mich« ereignend bezeichnet hat, »mit Recht« (à juste titre) (DS, 51) »als ein Phänomen« (comme un phénomène) (ebd.) betrachtet. Wie gelingt das ihm? Indem er sie als ein Faktum bestimmt, auf das er gerichtet ist, wenn er sich fragt, woher er kommt etc.: »[…] je ne cesse de la viser intentionnellement (vouloir savoir qui et d’où je suis, enquête en recherche d’identité, etc.) et de remplir cette visée de quasi-intuitions (souvenirs secondaires, témoignages indirects et directs, etc.).« (DS, 51 f) Aber ist es nicht 460 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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offensichtlich, dass die Geburt, die ich durch meine Intentionalität konstruiere, nicht diejenige Geburt ist, die sich mit mir und vor mir ereignet hat? Was ist mit meiner Geburt, als sie sich ereignet hat? In Bezug auf sie bleibt es gültig, dass ich sie »nicht direkt sehen kann«: »Pourtant, ce phénomène indiscutable, je ne peux par principe pas le voir directement.« (DS, 52) Sollte dieses »par principe« nicht stutzig machen? Wenn etwas »prinzipiell« nicht erscheint (also nicht wie Heideggers Sein in Sein und Zeit, das bloß »zunächst« nicht erscheint), kann es noch Phänomen genannt werden? Nein, aber Marion rettet sich durch die bekannte phänomenologische Vorgehensweise: Wenn die Geburt als »Ursprung« (origine) (ebd.) unmöglich erscheinen kann, dann als ein Phänomen, was nicht erscheinen kann: »[…] meine Geburt zeigt mir genau die Tatsache, dass mein Ursprung sich nicht zeigt, oder dass sie sich nur in dieser Unmöglichkeit selbst, zu erscheinen, zeigt […].« (ma naissance me montre précisément le fait que mon origine ne se montre pas, ou qu’elle ne se montre que dans cette impossibilité même à paraître) (ebd.) In der Tat zeigt sich das Ereignis der Geburt als ein unsichtbares Phänomen. Aber es ist nicht dieses Phänomen. Es zeigt sich nicht nur als unsichtbar, es ist unsichtbar. Damit kann es unmöglich ein Thema der Phänomenologie sein. Für die Philosophie Marions ist aber charakteristisch, dass sie ein Ereignis beschreibt, es aber Phänomen nennt und versucht, es als ein Phänomen zu behandeln und doch immer wieder darauf stoßt, dass dieses Unternehmen zum Scheitern verurteilt ist und trotzdem weitermacht. Die Unfähigkeit der Phänomenologie, adäquat das Ereignis zu beschreiben, zeigt sich auch im Falle der Liebe. Wie bekannt, hat Marion das Buch Le phénomène érotique (2003) verfasst. Dieses Werk bietet eine strukturierte Beschreibung der Liebe an: angefangen mit dem Moment, an dem man sich auf die Liebe einlässt, und schließlich mit dem Kommen des Kindes. Dabei wird die Liebe in ihrem Wesen, wenn man so sagen könnte, als dasjenige bestimmt, was einzig und allein das Ich individuieren kann, sodass es aus der Nichtigkeit und Sinnlosigkeit, was der Fall wäre, wenn sich das Ich als ein gleichgültiger Fleck auf der Erdenfläche fühlen würde, herausgezogen wird. Also im Grunde genommen, beschreibt dieses Werk das Ereignis der Liebe: Das, wie die Liebe verläuft, wenn sie verläuft. Doch schon der Titel dieses Buches verrät, dass es hier darum geht, ein »Phänomen« zu beschreiben. Natürlich, insofern die Liebe als das Thema eines Buches auftaucht, ist sie schon ein Phänomen und in diesem Sinne 461 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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ist der Titel völlig berechtigt. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass hier versucht wird, zu zeigen, dass, wenn die Liebenden lieben, sie es mit einem Phänomen zu tun haben. Diese These, nämlich dass die Liebe für die Liebenden ein Phänomen ist, konzentriert sich im Konzept des »durchkreuzten Phänomens« (phénomène croisé). Eine ganz wichtige Stelle zu diesem merkwürdigen Phänomen lautet folgendermaßen: »Das Phänomen der Liebe konstituiert sich nicht ausgehend vom Pol des Ego, das ich bin; es taucht von sich selbst her auf, indem es in sich den Liebenden (mich, der ich auf den Status eines autarken Ego verzichte und meine Anschauung mitbringe) und den anderen (derjenige, der seine Bedeutung aufzwingt, indem er einen Abstand wahrt) miteinander (über)kreuzt. Das erotische Phänomen erscheint nicht nur zusammen mit ihm und mir und es hat auch nicht nur einen einzigen Ego-Pol, sondern es erscheint überhaupt nur in dieser Überkreuzung. Durchkreuztes Phänomen.« (EPh, 152 f/PhE, 162) Wir versuchen, zu verstehen: Unter dem »Phänomen der Liebe« (phénomène amoureux) wird nicht der Andere verstanden. Es geht nicht darum, wie ich als Liebender den Anderen wahrnehme. Das Phänomen der Liebe wird hier ganz klar vom Anderen unterschieden. Das Phänomen der Liebe ist nicht der Andere, sondern das, was mich und den Anderen »überkreuzt« (croiser). Wenn wir an diese »Überkreuzung« (croisement) denken, stellen wir uns vor, dass die Liebe unsere getrennten Lebenswege plötzlich an einem Punkt verbindet. Die Liebe verbindet mich mit dem Anderen. Wenn die Liebe ein Ereignis ist, ist sie eine Überkreuzung in diesem Sinne. Das entspricht übrigens genau dem, was Heidegger in Bezug auf das Ereignis sagt, nämlich dass es ein »Beziehen« (BPh, 471) ist. Aber kann dieses Beziehen als ein Phänomen gedacht werden? Kann ein Phänomen mich und den Anderen überkreuzen? Nein, es klingt nicht richtig. Und in der Tat wird dies von Marions Text bestätigt, obwohl er weiterhin von der Liebe als einem Phänomen sprechen will. Achten wir darauf: Nachdem er behauptet hat, dass das Phänomen der Liebe mich mit dem Andern überkreuzt, sagt er im nächsten Satz, dass das »erotische Phänomen« »überhaupt nur in dieser Überkreuzung erscheint.« (il n’apparaît que dans ce croisement) Hier wird die Überkreuzung vom Phänomen der Liebe klar unterschieden. Die Überkreuzung überkreuzt, sie ist ein Ereignis, die Liebe erscheint in dieser Überkreuzung und ist ein Phänomen dieses Ereignisses. Das klingt richtig. Marion denkt das Ereignis, nennt es aber ein Phänomen, was ständig zu merkwürdigen Aussagen führt, die ihrerseits auf 462 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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die Unmöglichkeit, das Ereignis als ein Phänomen zu denken, hinweisen. Man könnte einwenden: Wenn man sich davon abwendet, was sich zeigt und stattdessen eine Aussage über etwas macht, was ist, fällt man in die Ontologie, in die Metaphysik zurück. Darauf antworten wir: Die Behandlung der Sachen als Erscheinungen und nur, insofern sie erscheinen, stellt die Ignoranz der Sachen selbst dar. Die Phänomenologie bleibt allerdings auch im Ereignisdenken gültig, insofern sie die Erfahrungen als Spuren des Ereignisses beschreibt und so eine phänomenologische Ontologie konstruiert.
3.
Das Ereignis jenseits der Phänomenologie und Metaphysik
Für das Ereignisdenken gibt es zwei Gefahren: Entweder reduziert man das Ereignis auf die Erfahrung des Ereignisses, auf sein Phänomen, das eigentlich seine Spur ist; oder man ist gezwungen, ein ontologisches Urteil über etwas zu fällen, was niemand erfahren hat, sodass man damit in die Metaphysik zurückfällt. Im Abschnitt 2 dieses Kapitels haben wir versucht, das Ereignis gegen die Phänomenologie zu verteidigen. Wir haben aber auch darauf hingewiesen, dass das Ereignis kein objektiver Prozess ist: Es betrifft jemanden. Die Philosophie des Ereignisses wird immer die Beschreibung der Betroffenheit sein, die die Fülle der Erfahrung des Ereignisses auslegt, weil sie von der Erfahrung ausgeht. Aber sie wird auch immer das Undenkbare behaupten, das auch sie selbst weder erfahren noch thematisieren, noch auslegen kann. Interessanterweise bedeutet diese Undenkbarkeit des Ereignisses auf keinen Fall, dass es überhaupt keinen Bezug zum Denken hat. Wir möchten diesen Aspekt kurz untersuchen, bevor wir zu unserem Vorschlag kommen, wie das Ereignis jenseits der naiven Ontologie, Phänomenologie und Metaphysik (als gescheiterten Ereignisdenkens, als einer Ontologie, die daran gescheitert ist, etwas anderes als das Seiende zu denken und wieder zur Ontologie geworden ist) gedacht werden könnte, obwohl es nicht gedacht werden kann.
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3.1. Das Ereignis und die Immanenz Das Undenkbare ist für das Ereignisdenken kein Etwas, das undenkbar ist: Es ist eine Situation, wo es kein Denken (zumindest kein intentionales Denken), überhaupt kein intentionales Erlebnis gibt. Wir haben gesehen, dass Levinas diese Situation als die vor-intentionale Innerlichkeit beschrieben hat, die im Leib möglich ist. Aber es muss klar werden, dass diese Situation, wo es kein Denken gibt, auf keinen Fall bedeuten muss, dass es in ihr kein Denken gibt: keine Sprache, keine Aussagen, keine Kommunikation etc. Es gibt hier bloß kein Denken, das diese Situation begreift. Die Worte, die Reflexion sind dem Ereignis immanent, gehören zu ihm. Dies ist die Art und Weise, wie Heidegger das Ereignis denkt: als Zugehörigkeit des Denkens und der Sprache zu ihrem Anfang, ihrer Geschichte: »Die Sprache ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.« (HB, 364) So, wie die Wolken ein Teil des Himmels sind, ist die Sprache im Allgemeinen – Worte, Aussagen, Urteile, Gespräche, Reflexion – ein Teil des Ereignisses. Also diese vor-intentionale Zugehörigkeit zum Ereignis, zum Anderen muss nicht unbedingt als leiblichpassive Innerlichkeit verstanden werden. Wenn man das Ereignis denkt, ist das entscheidende Wort nicht »Leib« oder »Fleisch«, sondern »Immanenz«, »Zugehörigkeit«. Es ist richtig, dass das Subjekt in Bezug auf das Ereignis nicht aktiv konstituierend, vorstellend, sondern passiv, affektiv ist. Das trifft aber nur seinen Bezug zum Ereignis, nicht sein Verhalten innerhalb des Ereignisses. Innerhalb des Ereignisses ist das Subjekt sehr wohl vorstellend: Es ist sogar notwendigerweise vorstellend, da das Ereignis notwendigerweise etwas zum Vorstellen und Auslegen gibt. Die Passivität in Bezug auf das Ereignis liegt nicht darin, dass man etwas empfängt, was man nicht aktiv konstituiert, sondern darin, dass man mitten im Ereignis ist. Die Passivität muss hier nicht als Fleischlichkeit, sondern als Zugehörigkeit gedeutet werden. Insbesondere das Ereignisdenken Deleuzes denkt diese Immanenz des Denkens im Ereignis. Beinflusst von Heidegger – und parallel zu Heidegger – aus einer anderen Denktradition kommend, denkt Deleuze in seiner Ereignisphilosophie weder ein leibliches Subjekt noch das Ereignis als ein Objekt für ein Subjekt – er denkt das Ereignis als das »transzendentale Feld« (LS, 130/120) und das »Virtuelle« (IL, 32/IV, 6), wo alles – definiert als ein Sinnereignis – diesem Feld immanent ist. Das transzendentale Feld – genauso wie Heideggers 464 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Ereignis – ist eine Situation, außerhalb deren nichts ist. Es gibt außerhalb dieser Situation kein Denken, das diese Situation denken könnte – jedes Denken ist in dieser Situation. Diese Situation ist die Zugehörigkeit zur Situation. Das ist die einzige »Definition«, die ein Denken ihr geben kann, nämlich, dass es sie nicht einholen kann und ihr zugehört. Wenn ein neuer Gedanke entsteht, steht er dem transzendentalen Feld nicht gegenüber, sodass er dieses Feld als etwas Ontisches bestimmen könnte, sondern erweitert es nur, entwickelt seine Geschichte, indem er einen neuen Sinn schafft. Wir präzisieren: Das Ereignis als das Nicht-Phänomenalisierbare und als das Undenkbare ist dasjenige, worin das Phänomen ist und worin das Denken ist. Es ist dasjenige, worin sich das Denken auf ein Phänomen bezieht, es ist dieses »Beziehen«, wie Heidegger sagt. Solches Beziehen ist eine topologische Verteilung der Elemente verschiedener Relationen, eine Situation. Aber diese Situation ist nur scheinbar eine ontische. Es gibt sie nicht. Das Ereignisdenken behauptet nicht eine ontische Situation, die man beschreiben und untersuchen könnte. Es gibt keine solche Situation und es gibt keinerlei Zugang zu ihr. Es gibt nur die Zugehörigkeit zu einer Beziehung, das In-Sein in einer Beziehung. Der Betroffene des Ereignisses ist nicht von etwas, sondern von der Immanenz, von der Zugehörigkeit selbst betroffen. Mit anderen Worten: Das Denken des Ereignisses beschreibt nicht einen ursprünglichen Prozess, durch den die Phänomene der Erfahrung im Allgemeinen und das Gedachte der Reflexion entstehen. Das Denken des Ereignisses beschreibt nicht physische, biologische, physiologische, psychische, kulturelle, soziologische, transzendentale, sprachliche, göttliche oder mystische Situationen, in denen das Sichtbare entsteht, und es denkt diese Prozesse nicht als das Unsichtbare in der Sichtbarkeit, das alles Sichtbare voraussetzt. Es betreibt keine Ontologie und keine Metaphysik. Es spricht vom Verlassen der Ontologie, die den Ontologen selbst vergisst; von einer möglichen Phänomenologie, die so radikal ist, dass sie die Phänomenologie aufgibt, weil sie die Sachen nicht mehr als Phänomene betrachten kann; die so radikal ist, dass sie den Phänomenologen aus sich heraustreten lässt, sodass er zugehörig wird. Wir können wiederum zwei strukturell sehr ähnliche, inhaltlich aber unterschiedliche Varianten aufzeigen, wie diese Zugehörigkeit zur Situation als Ereignis jenseits aller Phänomenologie und Metaphysik schon gedacht worden ist.
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3.1.1. Die Nähe Wenn wir die Ereignisse, die mit uns geschehen, beschreiben, darf der Moment der Erfahrung nicht ausgeschlossen werden, weil wir in der Tat in diesen Ereignissen dabei sind. Das Ereignis wird nicht im (logischen) Denken ausgedacht – es kommt zu uns durch die phänomenale Erfahrung. Mehr noch: Würden wir behaupten, dass, während wir etwas erleben oder auf etwas gerichtet sind, wir eigentlich in einem Ereignis integriert sind, von dem wir nichts wissen, wären alle Behauptungen über dieses Ereignis pure Spekulationen. Es soll eine Erfahrung des Ereignisses geben, weil wir vom Ereignis betroffen werden und weil wir sonst von ihm nicht sprechen dürften. Wenn wir aber von einer Erfahrung sprechen, ist das keine intentionale Erfahrung, die auf das Ereignis oder auf etwas anderes gerichtet ist. Sie ist eine reine Erfahrung ohne jeden Gegenstand. Um einen Schritt weiter zu machen: Wenn das Ereignis nicht ein Phänomen ist, sondern das, dem man zugehört, worin man drin ist, könnten wir nicht von einer Erfahrung des In-Seins sprechen? Könnten wir nicht vom Ereignis als dem Aus-sich-Heraustreten im Sinne des In-etwas-Eintretens sprechen? In der Tat ist das die Art und Weise, wie Heidegger und Levinas das Ereignis denken. Wir haben gezeigt, dass Levinas das Ereignis der Beziehung zum Anderen als »Rückkehr zur Innerlichkeit« bestimmt hat. Die Innerlichkeit war seine Antwort darauf, wie man etwas intentional Undenkbares denken könnte, ohne die Erfahrung zu verlassen. Aber das ist nur eine seiner Antworten und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie teilweise bloß die Suche nach der Entsprechung zum aufkommenden Verständnis des Subjekts als Leib und Passivität darstellt. Levinas gilt als ein Denker des Anderen. Dabei wird nicht unterschieden, was für ein Anderes gedacht wird. Da er eine Ethik begründet, nimmt man an, dass er ein Denker des anderen Menschen ist und das stimmt natürlich. Aber er ist nicht bloß ein Denker des anderen Menschen, den er als das Unendliche, als das absolut Andere bestimmt. »Ma philosophie – est une philosophie du face-à-face,« (CC, 186) sagt er zwischen 1940 und 1945. Seine Philosophie ist eine Philosophie des »Von-Angesicht-zu-Angesicht«, der Beziehung zum Anderen. Diese Beziehung ist das, was wir Ereignis nennen und als das Andere des Denkens denken. Nicht der andere Mensch ist das Andere des Denkens, sondern diese Beziehung. Die Frage ist, wie man diese Beziehung beschreibt? Was heißt es, mit einem anderen Menschen zusam466 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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men zu sein? Wann bin ich bei einem Anderen und nicht bei mir selbst? Wenn ich mein Leib bin? Wenn ich zu meiner vor-intentionalen Passivität zurückkehre? Wenn ich ihn mir nicht aktiv vorstelle, sondern empfange? Der Fakt ist, dass diese ganze Terminologie, ja phänomenologische Terminologie, völlig den Blick vom Ereignis abwendet. Es ist so, weil sie unmöglich aus dem Schema Subjekt(passives oder aktives)-Objekt (gegenständliches oder unendliches) herauskommen kann. In der Tat steht die Sensibilität für Levinas in Totalité et infini im Verdacht, das Andere zum Objekt des Genusses zu machen. Es mag wohl sein, dass wir zum Beispiel einen Apfel erst dann als Apfel erfahren, wenn wir ihn in unserer Lebenswelt erfahren, wenn wir ihn vor-intentional schmecken und nicht wenn wir ihn gezielt wissenschaftlich untersuchen, aber auch dieses Schmecken ist keine Erfahrung des Anderen – sie ist völlig egoistisch: »Im Genuß bin ich absolut für mich. Egoistisch ohne Bezug auf Andere […].« (TU, 190/TI, 107) Wenn man sogar in Bezug auf einen Apfel fragen kann, ob wir ihn dann als ein Anderes, als dieses Apfel erfahren, wenn wir ihn leiblich genießen, so es ist für Levinas eindeutig, dass die Beziehung zum anderen Menschen nicht ein Genuss sein kann: »Die Welt des Genusses genügt dem metaphysischen Anspruch nicht.« (TU, 86/TI, 36 f) Die Welt des Genusses ist die Welt des Leibes, der Passivität, der Innerlichkeit, der Vor-Intentionalität. Sie ist die Welt des Egoismus. Hier gibt es keinen Anderen. Hier gibt es keine Beziehung, folglich auch kein Ereignis. In der Welt des Selben ereignet sich nichts: keine Überraschung, kein Wunder, keine Liebe, nichts Neues, keine Geschichte, nichts. Das Selbe ist nur die Zeit, die vergeht und die den Tod näher bringt. Noch einmal: Das Ereignis berührt die Erfahrung, bleibt aber unerfahrbar und undenkbar. Das Denken, insofern es versucht, das Ereignis zu denken, denkt dieses Undenkbare nicht als etwas, das undenkbar ist. Das Ereignisdenken stellt das Undenkbare nicht vor und damit ist es gezwungen, einen andersartigen Bezug zum Ereignis als Vorstellung zu definieren. Levinas bestimmt diesen Bezug als Innerlichkeit. Doch schon seine eigenen Überlegungen enthalten die Kritik einer solchen Beschreibung des Ereignisses. Wenn man nämlich die Innerlichkeit denkt, kann man keine Andersheit denken. Im Leib ereignet sich nichts. Es gibt nur das Selbe. Wenn dagegen das Ereignis geschieht, bin ich nicht bei mir. Man könnte einwenden: Wenn Levinas von der Innerlichkeit spricht, meint er nicht einen intentionalen Genuss, der ein Objekt genießt. In der Tat ist es so. Deswegen haben 467 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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wir gezeigt, dass die Innerlichkeit eher als ein Zustand zu verstehen ist: jenseits allem Subjekt-Objekt-Dualismus. Doch in diesem Fall entsteht – wie wir gesehen haben – ein anderes Problem. Wenn wir einen Zustand denken, definieren wir eine ontische Situation, die niemand erfährt, in der niemand ist und die zum Objekt einer Ontologie wird. Soll in Bezug auf die Innerlichkeit die Erfahrung mitgedacht werden, muss sie als Genuss verstanden werden. Die Innerlichkeit ist immer Genuss. Dieser Genuss muss nicht unbedingt intentional gedacht werden: Er kann auch vor-intentional geschehen, aber er kennt kein Anderes und folglich auch kein Ereignis. Wenn das Ereignisdenken das Unerfahrbare und Undenkbare denkt, denkt es eine radikale Andersheit, die ein Heraustreten aus sich selbst fordert, die in diesem Heraustreten besteht. Wenn die Beziehung zum Anderen als Ereignis weder als Vorstellung noch als Innerlichkeit beschrieben werden kann, wie dann? Wie erfahren wir Ereignisse, in denen wir sind? Wir fragen nicht, was wir erfahren (Phänomenologie) und nicht, was passiert (Ontologie), sondern, was mit uns passiert, wie geschieht das Ereignis mit uns. Levinas bietet mehrere Antworten an, von denen wir eine besonders hervorheben möchten – sie lautet: Wenn das Ereignis sich ereignet, nähern wir uns: »Die Nähe ist das sich nähernde Subjekt und konstituiert so eine Beziehung, an der ich als Beziehungsglied teilnehme, in der ich jedoch mehr – oder weniger – als ein Beziehungsglied bin.« (JS, 184 f/AQE, 103 f) Wie ist also ein Ereignis der Begegnung mit dem Anderen möglich? Indem wir aus uns heraustreten und zum Glied einer Beziehung werden. Das Ereignis ist das Aus-sich-Heraustreten. Aber warum sagt Levinas, dass ich »mehr … als ein Beziehungsglied bin«? Weil diese Beziehung nicht gedacht werden kann, sie ist nicht die gedachte Beziehung. Wenn ich mich als ein Beziehungsglied denken würde, würde ich das Ereignis dieser Beziehung als ein Objekt setzen und analysieren. Ich bin aber nicht ein gesetzter Punkt einer gedachten Relation: Ich bin mehr als das, ich bin anders als das, ich bin dasjenige Ich, das sich in diesem Moment dem Anderen nähert, mit ihm redet. Das will heißen: Diese Beziehung besteht nicht als Denkobjekt, als Phänomen, sondern ereignet sich, wenn ich mich wirklich dem Anderen nähere: »Die Näherung ist nicht die Thematisierung irgendeiner Beziehung, sondern diese Beziehung selbst, die als an-archische der Thematisierung widersteht. Diese Beziehung zu thematisieren heißt schon, sie zu verlieren, heißt schon, aus der absoluten Passivität des Sich herauszutreten.« (SA, 323/Sub, 504) 468 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Dieses Zitat, das aus dem Jahr 1967 stammt, bestätigt nicht nur die These, dass das Ereignis undenkbar ist. Es zeigt auch den von uns schon erwähnten »Dualismus« des Levinas’schen Ereignisdenkens. Einerseits geht es um die »Näherung« als Eintritt in eine Beziehung. Wir können diesen Gedanken als Weiterentwicklung des Konzeptes vom Begehren in Totalité et infini und Radikalisierung des ontologiekritischen Ansatzes Levinas’ betrachten. Die Rede von einer »absoluten Passivität des Sich« hängt dagegen mit Levinas’ persönlichen und in der französischen Philosophie im Allgemeinen erneut aufgetauchtem Interesse an Husserls Phänomenologie der Passivität zusammen. Ein ganz wichtiges Zeichen für dieses Interesse ist das 1963 erschienene Buch von Henry L’essence de la manifestation. Es muss gefragt werden, ob diese beiden Diskurse für die Beschreibung des Ereignisses geeignet sind. Wir haben versucht, zu zeigen, dass sie eher einander ausschließen. Wir möchten behaupten, dass Marion, wenn er das Ereignis beschreibt, erfolglos versucht, es in die Phänomenologie hineinzwingen, während Levinas sein Denken des Ereignisses dem Diskurs des egoistischen Leibes anpassen will – einem Diskurs, den er noch 1961 als unangemessen für das Verständnis der Beziehung mit dem Anderen abgewiesen hat. In der Tat ist der Leib, das Leib-Bewusstsein immer allein. Für eine Beziehung, für ein Ereignis muss der Leib aus sich heraustreten, er muss nicht zu sich selbst zurückkehren, sondern nach außen explodieren. Er muss sich wirklich nähern: nicht gedanklich, sondern wirklich. Er muss sich in der Welt, unter den Dingen, gegenüber dem Anderen verteilen und diese Verteilung ausharren. Er muss zum Teil eines Geschehnisses werden, ohne die Möglichkeit in die Sicherheit bei sich selbst zurückzukehren. Und ist nicht genau die Unsicherheit, »Beunruhigung« (JS, 69/AQE, 32), »Störung« (SA, 241/DEHH, 287) des Subjekts dasjenige, das Levinas schon immer über das Ereignis der Beziehung mit dem Anderen behauptet hat? Das Subjekt des Ereignisses ist kein Fötus: Es ist einer, der durch die Außenwelt und die Anderen gestört werden kann. Wenn das Ereignis geschieht, ereignet sich die Nähe als Näherung. Diese Näherung ist weder ontisch, weil es sie nicht gibt, noch phänomenologisch, weil sie nicht erscheint (auch nicht in der vorintentionalen Tiefe der Innerlichkeit), sondern geschieht mit mir, wenn ich aus mir heraustrete. Wir betonen: Wenn ich aus mir heraustrete. Hier geht es nicht um irgendein Ich, das gesetzt und beschrieben wird, sondern um mich, um das, was mit mir geschieht. 469 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Im Denken des Ereignisses ist die Anwesenheit einer Jemeinigkeit absolut erforderlich, sonst fällt man in die Ontologie zurück. Und diese Jemeinigkeit kann nicht als absolute Passivität gesetzt werden, weil diese ontisch ist. Sie ist ontisch, weil es in ihr keine Erfahrung gibt. Wenn es in ihr doch eine Erfahrung gäbe, wäre das keine Erfahrung des Anderen. Das Ereignis der Nähe setzt dagegen ein Ich voraus, das sich dem Anderen nähern kann. Levinas betont: »[…] Passivität des Seins-für-den-Anderen, die allein möglich ist, wo ich selbst noch das Brot gebe, das ich esse. Doch dazu muß man zuvor sein Brot genießen, nicht um sich so verdient zu machen, wenn man es gibt, sondern um darin sein Herz zu geben – um sich zu geben, wenn man gibt. Das Genießen ist ein unausweichliches Moment der Sensibilität.« (JS, 164/AQE, 91) Ich kann nur geben, wenn ich vorher ein Ich, ein Ego war. Ich kann die Liebe nur erfahren, wenn ich vorher einsam war. Ich kann in den Abgrund des Seins nur fallen, wenn ich vorher bei mir über etwas sicher war. Das Ereignis als Nähe ist grundsätzlich das Verlassen eines reflexiven Ich. Aber es ist nicht die Rückkehr zum Vor-reflexiven, sondern der Eintritt in eine Beziehung. Das Ereignis schafft es, dass ich nicht mehr allein bin, und zwar immer. Auch in der Erfahrung der Kunst lässt das Ereignis den Genuss des Kunstwerks überschreiten und in eine Beziehung mit etwas Transzendentem und Unverhofftem eintreten. 3.1.2. Der Ort Das Seinsdenken Heideggers fing damit an, dass es dem Sein die Existenz im Begriff, im Denken absprach. Das Sein ist nicht das Leerste und das Allgemeinste, sondern der jemeinige Vollzug des Seins, heißt es in Sein und Zeit. Doch damit wurde das Sein zu einem daseinsimmanenten Prozess. Das Verhältnis des Daseins zum Sein wurde zum Vollzug des Daseins selbst. Was Heidegger in den nächsten Jahren beschäftigte, war die Frage nach der Möglichkeit, eine Beziehung zu denken: eine Beziehung zwischen dem Dasein und dem Sein, das damit nicht mehr als ein Eigentum des Daseins, sondern ereignishaft verstanden werden müsste. Es stellte sich heraus, dass diese Beziehung als ein Ereignis gedacht werden kann. Das Ereignis schenkt dem Menschen das ereignishafte Sein und verwandelt ihn ins Dasein, das diese Gabe empfangen und bewahren kann. Das Dasein in seinem Verhältnis zum Sein als Ereignis existiert innerhalb dieses Ereignisses, zu dem es keine Außenposition einnehmen kann: Alles ist dem 470 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Ereignis zugehörig, alles gehört zu seiner Geschichte. Mit anderen Worten: Das Dasein trägt das Ereignis aus, es steht ihm nicht gegenüber. Deswegen sprechen wir von der Immanenz des Ereignisses. Die Immanenz ist die Antwort auf die Frage, wie man das Undenkbare denken kann. Das Ereignis ist in dem Sinne undenkbar, dass man in ihm ist, dass es kein Außerhalb gibt. Das Ereignis ist undenkbar, nicht weil es transzendent, sondern weil es immanent, in sich selbst eingerollt ist. Vielleicht können auch die reine Gabe und andere Ereignisses in der Philosophie Derridas als Immanenz gedacht werden, die nicht demjenigen erscheinen können, der in ihr ist. In der Tat ist die Gabe für Derrida »das Unmögliche« (FG, 20/FM, 22). Warum? Nicht weil es sie nicht geben kann, sondern weil sie uns – den Denkenden, die das Mögliche und das Unmögliche unterscheiden, – nicht erscheinen kann: »Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr.« (FG, 26/FM, 28) Man muss in diesem Moment sehr vorsichtig sein. Wir haben behauptet, dass das Ereignis das Aus-sich-Heraustreten und ZumTeil-einer-Beziehung-Werden ist. Mit Levinas haben wir gezeigt, dass das Ereignis weder ein nicht erfahrbarer Zustand des inkarnierten Leibes, der Innerlichkeit noch ein bewusster Genuss/Schmerz, vor-intentionales Erlebnis ist. Das Ereignis ist kein Zustand des Geistes. Es ist das Verlassen eines Zustandes, das In-Sein in einer Beziehung. Aber wir haben auch darauf hingewiesen, dass dieses In-Sein, das Ereignis nicht als eine ontische Situation gedacht werden darf. Das Ereignis ist nur das In-Sein selbst. Es ist nicht etwas, worin man ist und was uneinholbar bleibt. Würde eine solche Situation behauptet, hätten wir es nicht mehr mit einer Ereignisphilosophie, sondern einer Spekulation zu tun. Wir haben gefragt, ob Levinas’ Innerlichkeit einen solchen ontologischen Zustand konstruiert. Aber noch mehr steht Heideggers Austrag im Verdacht, das Ereignis verlassen und eine Metaphysik aufgebaut zu haben. In welchem Sinne? In dem Sinne, dass nicht nur das jemeinige Dasein in seltenen Fällen aus sich heraustritt, um in der Lichtung zu stehen, sondern wir alle uns schon immer in der Lichtung der Wahrheit befinden. Jedes Mal, wenn irgendein Dasein etwas erfährt, auf etwas gerichtet ist, etwas denkt, ist es – meistens unbewusst – in diesem Ereignis der Offenbarkeit des Seienden und wiederholt es. Das Ereignis der Wahrheit geschieht immer und überall, ob wir es wissen oder nicht. Eine ontische, nur scheinbar ereignishafte, Situation zu behaupten, bedeutet eine gewaltige und gefährliche Ideologie zu schaffen. Philosophisch bedeutet eine solche Behauptung den Rückfall in die 471 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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Metaphysik, aber im Allgemeinen bedeutet sie das Konstruieren einer Ideologie. Wenn man zum Beispiel sagt: »Wir befinden uns alle – ob wir es begreifen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht – in einem Glaubenskrieg,« behauptet man eine solche ontische Situation, in der man drin ist und die man mit jedem Wort, jeder Handlung bestätigt. Ist eine ontische Situation definiert, kann man ausgehend von dieser »Wahrheit« versuchen, die Handlungen zu manipulieren. Diese Manipulation setzt aber voraus, dass man zuerst eine Situation definiert. Stellen wir uns vor: Wenn es keinen allgemeinen Glaubenskrieg gibt, kann ich mich entscheiden, nicht an den Geschehnissen dieser oder jener Art teilzunehmen und so diesen Krieg aufrechtzuerhalten. Wenn es mir aber gesagt wird, dass ich schon teilnehme, dann werde ich sofort dafür empfindlich, was ich entsprechend dieser Situation machen soll, und wenn ich es tue, mache ist diesen Krieg wirklich: Ich schaffe ihn, ich setze ihn fort. Es ist in der Tat der Schwachpunkt von Heideggers Ereignisdenken, dass er eine solche ontische Situation definiert – diese Situation ist für ihn die Geschichte der Wahrheitsereignisses, die gleichzeitig auch die Geschichte der Seinsverlassenheit bzw. –vergessenheit ist und an der die ganze Menschheit teilnimmt. Aber auch Levinas verfällt der Versuchung, eine ontische Situation zu definieren. Dies geschieht in dem Moment, wenn er die Beziehung zum Anderen als eine ursprüngliche Beziehung definiert, die immer – egal was man tut – stattfindet. Wenn er schreibt: »[I]ch nenne die Person, mit der ich in Beziehung trete, Sein, aber indem ich sie »Sein« nenne, appelliere ich an sie,« (ZU, 18/ EN, 19) dann meint er, dass sogar dann, wenn ich den Anderen setze, ich mit ihm in einer menschlichen Beziehung bin. Das klingt sehr schön, aber das ist eine absolut gefährliche Behauptung, weil sie impliziert, dass sogar dann, wenn ich eine bestimmte Gruppe von Menschen als Menschen zweiter Klasse bestimme, ich mit ihnen in einer ursprünglichen menschlichen Beziehung bin. Man sieht sofort, dass dies ganz das Gegenteil davon ist, was das Ereignisdenken Levinas’ sagt, nämlich dass wir nur dann menschlich werden, wenn wir aufhören, irgendwelche Bestimmungen über das Wesen des Menschen zu suchen, wenn wir aufhören, bei uns zu sein, wo wir über die Anderen nachdenken, und anfangen, mit den Anderen zu sein. Das Ereignidenken, das Denken des radikal Anderen fängt damit an, dass es jede ontologische Spekulation leugnet, aber es kann in eine solche Spekulation zurückfallen. Derjenige, der, indem er das Undenkbare behauptet, eine ontische Situation, zu der man zugehört, 472 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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definiert, hat schon das Ereignisdenken verlassen, weil eine ontische Situation alles andere als undenkbar ist. Sie ist absolut durchsichtig, sie ist naiv und primitiv und deswegen kann sie auch zum Verhängnis werden. Das, was nicht gedacht werden kann und das, was das Ereignis ist, ist das Aus-Sich-Heraustreten, was auch der Heraustritt aus jeder Ontologie ist. Levinas denkt diesen Heraustritt als Näherung, Heidegger: als Anfang und Ort seiner Wiederholung. Den Anfang gibt es nicht, er ist immer schon »Untergang«, das »unüberholbar Vollendete« (BPh, 17). Der Anfang ist keine ontische, sondern eine ereignishafte Situation. Er ist der Augenblick, an dem das Dasein aus sich heraus tritt, um das Sein zu verstehen. Er ist nicht das Verstehen des Seins als ein permanenter Vollzug, wo das Dasein alleine ist und versteht: Es ist der Moment, in dem das Dasein in die Nähe zum Sein kommt. Wir sehen jetzt ganz klar, worin sich die Ontologie von der Ereignisphilosophie unterscheidet. Die Ontologie beschreibt, was ist, wie es ist (sie kann zum Beispiel sagen: Das Dasein versteht das Sein; die Subjektivität ist immer schon bei den Anderen; das Subjekt ist ursprünglich passiv; alle haben das Sein vergessen etc.). Das Ereignisdenken denkt dagegen den Anfang der Ontologie und dieser Anfang ist selbst nicht seiendhaft. Wir haben behauptet, dass jeder Anfang eine Geschichte hat und dass diese Geschichte das Sichtbare des Ereignisses ist. Die ontische Situation, von der wir hier sprechen, ist dieses Sichtbare des Ereignisses. Das Ereignis ist dagegen das, was – wie Badiou darauf hinweist – eine neue Situation schafft. Es ist das Ereignisdenken, das behauptet, dass es einen Anfang für jede ontische Situation und ihre Geschichte gibt. Aber es befasst sich nicht mit dieser Situation, weil dies für es die Schaffung einer neuen Ontologie bedeutet, was es unbedingt vermeiden will. Darin liegt übrigens der Unterschied zwischen Heidegger und Derrida. Heidegger denkt den Anfang und die Geschichte – er versucht, eine bestimmte Geschichte des Abendlandes zu schreiben. Derrida dagegen überschreitet nicht die Grenze, wo er sich von dem Undenkbaren abwendet. Wenn wir also von einem In-Sein in einem Verhältnis sprechen, denken wir an eine ereignishafte Situation, die es nicht gibt, die nur in diesem In-Sein überhaupt besteht, um augenblicklich zur Auseinandersetzung mit dem im Ereignis Gegebenen zu werden. Dieses In-Sein ist immer ein verlorenes In-Sein. Was uns übrig bleibt, ist die traurige hermeneutische Arbeit mit den Phänomenen. In seinem früheren Ereignisdenken zwischen ca. 1930 und 1945 473 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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ist es das Denken des Anfanges, das Heidegger zum Ereignisdenker macht. Innerhalb dieses Denkens erwächst das Denken des Ortes – der Orte, wo das anfängliche Ereignis noch einmal einschlägt und wo sich das Ereignis in seiner Konkretion als der Einlass in die Zugehörigkeit ereignet. Das Ereignis heißt, an einem Ort zu sein, mittendrin zu sein. Es heißt nicht, objektiv an einem Ort zu sein, es heißt nicht bloß, an einem Ort in der Seins-Geschichte zu sein, sondern zum Teil eines Verhältnisses zu werden. An einem Ort zu sein, heißt sich in ein Netzwerk zu integrieren. Dieses In-Sein in einem Netzwerk kann nicht gedacht werden – weder ontologisch noch seinsgeschichtlich. Es ereignet sich nur und nur eine ereignishafte Sprache kann es widerspiegeln, weil sie selbst dieses Ereignis ist.
3.2. Das Ereignis als Aus-sich-Heraustreten Das Ereignisdenken sagt nie etwas über etwas aus – weder naiv ontologisch, noch seine eigenen Erfahrungen beschreibend. Es denkt, dass es manchmal so geschieht, dass es möglich wird, nicht mehr gegenüber einem Etwas, sondern mit ihm zu sein. Dann geschieht das Aussich-Heraustreten, das Ereignis. Das Ereignis ist unerfahrbar und undenkbar, weil es die Struktur »Ich-Etwas« auflöst, die von jeder Erfahrbarkeit und Denkbarkeit vorausgesetzt wird. Es löst sie nicht im Denken auf – es löst sie wirklich auf. Das Ereignisdenken beginnt nicht damit, dass es aus irgendwelchen Prämissen auf das Undenkbare schließt. Es ist das Undenkbare – das Andere –, das das Denken überrascht und zwingt, anders zu denken, nicht sich selbst, sondern das Andere zu denken. Deswegen ist das Ereignisdenken nicht logisch, sondern nur abgründig offen für das Andere. Das Ereignis ist nicht die Verschmelzung von Ich und dem Anderen, sondern eine Beziehung. Diese Beziehung gibt es nicht, sie ereignet sich dann, wenn jede Beziehung aufgelöst wird. Sie ist nicht permanent – sie hört immer dann auf, eine Beziehung zu sein, wenn sie als eine Beziehung erscheint, wenn nämlich das Aus-sich-Heraustreten aufhört und das Ich zu sich selbst zurückkehrt: in seinen Leib oder seine Gedanken. Genauso wie das Ereignis nicht dann geschieht, wenn man denkt, geschieht es auch nicht, wenn man Leib ist. Das Ereignis ist das Explodieren des Leibes nach außen. Die ereignishafte Beziehung ist kein Gegenüber, sondern das, 474 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
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worin man ist. Sie kann deswegen niemals erscheinen. Aber sie bringt die Erscheinungen mit sich. Sie lässt das Andere erscheinen, sie lässt die Welt durch dieses Andere anders erscheinen. Vor dem Ereignis sieht man nur sich selbst. Man kann nicht durch sich selbst aus sich selbst heraustreten, genauso wie man nicht sich selbst aus dem Sumpf herausziehen kann. Es ist das Ereignis, das dieses Aus-sich-Heraustreten vollzieht. Und das geschieht selten und unvorhersehbar. Das Ereignis gibt es nicht. Wenn es anfängt zu sein, ist es schon zur Geschichte geworden, von der man Geschichten erzählen kann. Aber jede Geschichte – auch diese – verblasst und wirkt lächerlich gegenüber dem, was sich jeder Geschichte entzieht.
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Literaturverzeichnis
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Register
Personen Aristoteles: 42–43, 46, 149, 359 Artaud, Antonin: 108–109 Augustinus: 149 Austin, John L.: 112–113 Badiou, Alain: 26–27, 34, 122–137, 145, 152, 211, 296, 302, 350, 405, 425, 435–436, 473 Balthasar, Hans Urs von: 139 Baudelaire, Charles: 94, 178 Baudrillard, Jean: 265 Bergson, Henri: 27, 66–67, 149, 285 Buber, Martin: 71, 73 Cohen, Hermann: 73 Deleuze, Gilles: 18, 27–28, 31, 34, 59, 69, 80–96, 104–105, 122–123, 136, 145, 152, 289, 372, 376, 445, 464 Derrida, Jacques: 18, 20–21, 25–27, 31, 33–34, 59, 66, 68–69, 71, 75, 77, 97–121, 141, 152, 173, 262, 296, 311, 317, 353, 412–414, 417–421, 425, 428–429, 432–434, 448–449, 451, 455, 471, 473 Descartes, René: 138–139, 141, 270 Dostojewski, Fjodor: 311 Foucault, Michel: 27, 59, 86, 89, 96, 108–109, 268, 442 Freud, Sigmund: 21, 108, 442 Guattari, Félix: 81, 88–89
Heidegger, Martin: 18, 20–24, 26–27, 29–31, 33–35, 39–60, 66–71, 73– 74, 81, 86, 89–90, 93, 95, 100, 105, 119, 122, 131, 142–143, 145–146, 148, 152, 155–241, 243–248, 253, 257–258, 260, 273, 276, 278, 285– 286, 296–297, 301, 305–306, 312, 315, 317, 320, 323–324, 328, 333, 338, 343, 351, 363, 383, 397–398, 405–407, 425–430, 432–435, 437– 441, 443–448, 450–452, 457–459, 461–462, 464–466, 470–474 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 19, 31, 56, 70–71 Henry, Michel: 25, 32–33, 68, 382, 443, 454–455, 469 Hölderlin: 54, 56, 226 Husserl, Edmund: 21–23, 25, 27, 29– 30, 32–33, 35, 40–41, 43, 66–67, 69–70, 74, 95, 98–101, 103, 114, 124, 142, 149–150, 259, 261, 274, 276, 285, 318, 331–333, 335, 338, 340, 343, 347, 351, 361, 367, 369– 370, 372–373, 382, 425–426, 429, 431, 438–439, 445, 447, 454, 457, 469 Kant, Immanuel: 39, 49, 56, 90, 92, 330–333, 335, 340, 369, 370–373, 388 Kojève, Alexandre: 19, 71 Lacan, Jacques: 27, 71 Lask, Emil: 41
490 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register Leibniz, Gottfried Wilhelm: 49, 55, 177, 329 Levinas, Emmanuel: 18, 20–21, 25– 28, 31, 33–35, 59–60, 68, 70–79, 90, 93–94, 100, 105, 108, 115, 122, 131, 143, 145, 150–152, 167, 173, 201, 223, 240–321, 343–345, 351, 363, 381, 383, 386, 388, 397–398, 400, 405–406, 409–410, 420–421, 425– 435, 442–445, 448, 450, 452–456, 458–459, 464, 466–473 Lyotard, Jean-François: 27 Magritte, René: 266–267 Mallarmé, Stéphane: 129–130 Marion, Jean-Luc: 20, 26–27, 31–35, 59–60, 68, 79, 95, 131, 134, 138– 145, 148, 152, 167, 186, 195, 216, 232, 251, 289, 296, 301–302, 318, 322–421, 425–429, 432–433, 435– 441, 443–444, 447–448, 450, 456– 457, 460–462, 469 Marx, Karl: 19, 442
Mauss, Marcel: 413, 419–420 Merleau-Ponty, Maurice: 25, 27–28, 33–34, 59–69, 93, 95–96, 115, 150, 152, 182, 274, 376, 425–426, 442, 454, 457 Nietzsche, Friedrich: 19, 21, 27, 54– 56, 59, 86–87, 145, 212, 442 Richir, Marc: 18, 27–28, 32–33 Ricœur, Paul: 27 Romano, Claude: 18, 26–27, 30–31, 34, 60, 69, 79, 94–95, 131, 145–152, 160, 179, 183, 204–206, 210–211, 289, 296, 337, 371, 398, 405, 408, 425, 435, 443, 448 Rosenzweig, Franz: 73, 244 Saint-Exupéry, Antoine de: 278–279 Sartre, Jean-Paul: 67, 71, 96, 250, 285 Searle, John: 112–113 Wittgenstein, Ludwig: 230
Sachbegriffe adonné: 68, 143, 148, 342–349, 367, 387, 407–408, 411, 417 advenant: 146–152, 204 Andere, das/der: 17–18, 24–25, 27– 36, 53, 57, 63–64, 66, 68–80, 89–90, 92–95, 100–102, 105, 107–108, 118, 131, 134, 140, 143, 148–152, 167, 173, 217–219, 223, 232, 241–246, 249–266, 268–277, 279–292, 294, 297–303, 305–314, 316, 318, 320– 321, 343–345, 347, 358, 360–361, 367, 385–388, 390–391, 400, 402, 405, 407–411, 416, 425, 427, 430– 431, 433, 435, 441–444, 446–447, 450–456, 458–460, 462, 464, 466– 470, 472–475 Anfang: 35, 53–58, 69, 131, 157, 159– 168, 172–173, 176–177, 183–186, 188, 192–198, 200–218, 220–223, 226, 229, 231–234, 236–238, 247–
248, 259, 288, 297, 303–315, 397, 404–406, 412, 430, 432–444, 447, 449–450, 452, 458–460, 464, 473– 475 Anschauung: 98, 100, 102, 139–140, 142–143, 276–277, 289, 323, 330– 331, 339, 341, 352, 358, 369–371, 374, 377–378, 380–382, 384, 387, 389, 411, 425, 427, 429, 445, 429, 462 Antwort: 78, 85–86, 143, 148, 150– 152, 174, 230, 252, 255–257, 277, 279, 282–284, 288, 290–291, 299– 300, 303, 309, 316, 358, 386, 406– 411, 427 Augenblick: 79, 103–104, 119–120, 164–165, 184–186, 188, 193–194, 196, 203, 205–206, 208, 211, 215, 223–224, 237, 241, 254, 270, 272, 274, 287, 290, 294–296, 327–328,
491 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register 336, 345, 351, 355, 367, 376, 380– 381, 397–398, 400, 436, 446, 473 Außen: siehe »Exteriorität« Begegnung: 17, 24–26, 28–29, 33–36, 53, 63, 67–68, 70–72, 74, 76–80, 90, 94–95, 143, 150, 158, 173, 182, 189, 206, 227, 246, 249–250, 252–253, 255–259, 261–262, 264, 269, 272, 274, 276–278, 283, 286, 296–297, 304, 320, 375, 390–391, 402, 405, 435, 442, 446, 458, 468 Begehren: 121, 193, 202, 255, 262, 270–273, 280, 304, 310, 312–313, 320, 453–454, 469 Begriff: 40, 45, 52, 61–64, 68–69, 89– 90, 93, 97, 100, 107–110, 139–144, 147, 149, 170–174, 242, 248, 250, 258, 264, 267, 272, 276, 293, 330, 332, 339, 349–351, 353, 368–374, 377–378, 380–386, 389–391, 395, 399–401, 411, 417, 425, 427–429, 431 Betroffenheit: 29–30, 33, 36, 67, 69, 78–80, 89–90, 93–94, 122, 136, 145–147, 169, 175, 180–181, 183, 206, 223, 235, 238, 249, 251, 258– 262, 272, 274, 284, 290, 293–295, 300, 310, 312, 314, 343, 348–349, 356–357, 364, 369, 376, 380, 397, 425, 427–428, 436–437, 443–445, 447–448, 450, 452–453, 459, 463, 465–466 Bewusstsein: 20–21, 23, 25, 28, 31– 33, 43–44, 60–61, 63–68, 72, 79, 81, 84, 91, 95–96, 98–103, 107, 110, 113, 115, 117–122, 140, 142–143, 148–151, 220, 249, 252–253, 255, 258–262, 273, 275–280, 284, 286– 293, 295–297, 307, 323, 335–336, 338, 342–347, 351, 355–357, 364, 367–370, 378, 397, 399–401, 410, 413, 416–421, 429, 433, 439, 447– 448, 451–458, 460, 469 Beziehung: 25, 57, 68, 70–76, 79, 93, 100–101, 182, 205–206, 233, 242– 244, 246, 250, 252–253, 255–257,
260, 262, 268, 270–271, 273, 279– 283, 285–286, 299, 302, 305–307, 312–315, 318, 321, 370, 431, 433, 444, 450, 453–455, 458, 462, 466– 472, 474 Dasein: 46–53, 56, 58, 69, 73, 80, 93, 145, 155, 157–158, 161, 163, 179– 183, 187–190, 209, 214–215, 217– 222, 224–225, 231, 236, 249, 258, 278, 286, 343, 363–364, 425, 427, 437, 439, 443–444, 458, 470–471, 473 Denken: –, vorstellend-gegenständliches: 57, 71, 73, 77, 100, 107–108, 163, 171– 172, 174, 198–199, 201, 260, 293– 294, 399, 428–429, 436, 446–447, 456, 459 –, des Ereignisses: 19–26, 29–34, 39– 40, 44, 50–58, 60, 66–71, 79–80, 91, 93–98, 105, 107, 122, 134, 140–141, 145–146, 152, 155–158, 182–183, 189–192, 201, 217, 223–227, 230, 233, 248, 258, 260–261, 264, 266, 268–270, 299, 315–318, 393–396, 399–401, 418–419, 425–475 Differenz/Unterschied: 20–21, 52, 59, 63–64, 69 71, 75, 91, 97–98, 101–109, 119, 132–135, 173, 176, 182, 238, 263–269, 273, 275, 290, 304, 351, 382 –, différance: 20–21, 31, 97–98, 104– 107, 110 –, ontologische: 45–46, 51–52, 161, 170–171, 176, 237, 240, 243 donation: siehe: »Gegebenheit (phänomenologische)« Empfänger: 28, 50, 65, 68–69, 78– 79, 95, 119, 143, 150, 152, 158, 214, 219, 237, 257–259, 283, 289, 290, 292, 307, 313, 334, 342–348, 356, 358, 364, 368, 382, 385–387, 391, 400–401, 408, 416–418, 425, 433, 435, 442, 452, 456, 464, 467, 470
492 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register Erfahrung: 24–26, 28–35, 44, 49, 53, 57, 62–65, 67, 72, 76, 78, 92, 116, 122, 131, 135–137, 139–141, 143, 145, 147–151, 163–164, 166, 169– 173, 175, 177–184, 187, 190–194, 196, 201, 205, 207–208, 210–213, 215, 219, 221, 223, 229, 232, 236– 239, 250, 256, 258, 275–276, 278– 279, 285, 287, 290, 292, 295–298, 302, 304–310, 315, 317, 330–332, 335, 342, 347, 349–352, 354, 360– 362, 364, 367–371, 373–375, 379, 381–384, 386, 388, 390–391, 397– 398, 400–404, 408, 425, 429–430, 432–433, 436–437, 439–441, 445, 447–450, 452–460, 463, 465–468, 470–471, 474 –, Nicht-Erfahrung: 24, 29, 31, 33– 34, 91–92, 122, 166, 225, 238, 269, 274–275, 296, 299, 331–332, 408, 429–430, 432–434, 443–444, 448, 452, 456, 459–460, 463, 466–468, 470–471, 474 Erinnerung: 66, 101, 103, 111, 114– 116, 119, 126–127, 151, 196, 198– 202, 212–214, 216, 248, 252, 269, 272, 286, 289, 293–295, 303, 324, 367, 427 Erlebnis: 17, 19, 24, 29–30, 32, 40–43, 49, 52, 62, 96, 143, 164, 170, 178– 181, 199, 249, 260–262, 269, 285– 287, 290, 296, 351, 356, 367, 370, 382–383, 387, 389, 398–400, 428– 430, 439, 446, 453–454, 458, 464, 466, 471 Ethik: 27, 39, 74, 76–77, 241, 271, 292, 297, 305–309, 311–312, 315, 318, 405, 430, 435, 466 Existenz: 27–28, 43, 45–50, 52, 60– 62, 72, 74, 76, 145, 148, 178, 219, 224–225, 240–241, 243, 278, 288, 306, 389, 431, 437, 457 –, Nicht-Existenz: siehe »Ohne Sein« Exteriorität: 22, 25–26, 29–30, 62, 65, 67, 75, 78, 83–84, 90–92, 96, 100– 102, 117–119, 123, 170, 172–173, 181, 183–184, 209, 218, 220, 236,
252–253, 255–265, 268, 270–271, 273–280, 283–285, 289, 291–292, 294–296, 299, 306–308, 313, 316, 364, 366, 400–401, 408, 414–415, 417, 420, 446, 469, 474 Freiheit: 19–20, 49, 155, 218, 220, 242, 259, 282, 284, 288–291, 308– 309, 312–313, 338, 341, 363, 365, 407, 411 Freundschaft: 358, 416, 440, 446 Gabe/Geschenk: 21, 35, 53, 55–57, 59, 67, 10, 114–115, 117–121, 141, 152, 165–166, 183, 187, 194–196, 200, 205, 207, 209, 212, 215–223, 226, 232, 248, 282, 297, 301, 311– 313, 324, 327, 329, 340, 349, 356, 386, 403–405, 411–421, 430, 435, 440–441, 443, 446–448, 451, 460, 470–471 Gastfreundschaft: 21, 110, 114, 117– 118, 121, 425 Geburt: 17, 65, 148, 152, 292, 397, 404, 418, 442, 460–461 Gegebenheit (phänomenologische): 23, 62, 98, 102, 134, 138, 142, 167, 195, 301, 323–350, 354–370, 372, 376, 380–381, 385, 388, 390–391, 393–396, 399–400, 402–403, 405–408, 412, 415–417, 427–429, 432–435, 437–440, 444, 450, 453, 456 Gegebene, das: 20, 22–23, 29, 33, 55, 57, 62, 64–67, 81, 85, 88, 92–93, 95, 98, 102, 119, 122, 125–126, 131, 134, 136, 138–139, 142, 150, 167, 182–183, 187, 194–196, 207, 209, 216, 218, 223, 237, 247–248, 274, 294, 301, 314, 322–327, 332–333, 338, 342–348, 354–356, 361, 363– 364, 368–369, 373, 378, 386–387, 390–391, 393–394, 397, 399–403, 405–412, 417–418, 420–421, 425– 426, 429–430, 432–433, 435–437, 439, 441, 443, 446–449, 451, 453, 455, 466, 473
493 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register Gegenstand/Gegenüber: siehe »Objekt« Gegenwart: siehe »Präsenz« Geschichte: 17–20, 26–28, 53–58, 86– 89, 101, 119, 157, 160–161, 168, 184–185, 191, 196, 200, 203–211, 213–217, 219, 221, 226–227, 236– 239, 286, 289, 292, 305–306, 315, 374, 380, 383, 390, 404–412, 425, 431–432, 435–441, 443–444, 464– 465, 467, 471–475 Hermeneutik: 41–43, 46, 131, 134, 143, 145–148, 232, 239, 375, 406– 408, 411, 418, 435–436, 473 Ich, das: 63–64, 71, 89–90, 93, 96, 142–143, 249, 252–255, 257, 259, 261, 263–264, 269–270, 281–282, 284–285, 291, 308, 331, 333–334, 342–343, 351, 372, 385–386, 388, 390–391, 402, 442–444, 456–458, 461–462, 474 Identität: 20, 87–88, 103–105, 111, 113, 117, 148, 210, 219, 241–242, 252–254, 258–259, 262, 283–284, 287, 359, 376, 382–383, 443, 455 Immanenz: 33, 62, 67–68, 74, 91–93, 249, 253–254, 256–257, 259, 262– 263, 268, 270, 273, 286, 329, 344, 382, 384, 407, 409, 425, 455, 459– 460, 464–465, 470–471 Innerlichkeit: 22, 24–25, 29, 31, 61– 62, 64, 66, 68, 75–76, 90, 99, 103, 124, 170, 178–181, 183, 236, 256– 262, 271, 281, 292, 295, 306–307, 335, 343, 390, 442, 455–456, 458– 459, 464, 466–469, 471 Intentionalität: 28, 30, 63–64, 249– 250, 255, 257, 273, 275, 280, 308, 356, 369–371, 382, 385–386, 431, 453, 455, 460–461, 467–468 –, Gegen-Intentionalität: 25, 28, 34, 63–64, 78, 81, 139, 178, 188–189, 255, 257, 260, 273, 275–276, 280, 323, 333, 347, 359–360, 369–371, 382, 385–386, 388, 411, 427–429,
454–456, 458–459, 461, 464, 466– 469, 471 Jetzt: 58, 64, 98, 103–104, 115, 120, 133–134, 151, 163–164, 167, 170, 181, 184, 191–192, 207–208, 210, 221, 223, 251, 257, 275, 285–286, 290, 300, 313, 327, 331–332, 335– 336, 353, 362, 378, 382, 389, 391– 406, 426 Kausalität: 147, 218, 335–336, 436– 438, 440–441 Kunst: 17, 19–20, 27, 39, 54, 58, 133, 143, 192, 223–231, 248, 267, 269– 270, 292, 319–320, 405, 447, 470 Leben: 19, 23, 40–43, 45–49, 55, 60– 62, 64, 67, 85–86, 93–94, 99, 101– 102, 108–109, 121, 131–132, 152, 164, 174, 181, 196, 206, 220, 224– 225, 237, 241, 243, 249, 253, 256, 259, 265, 269, 278–279, 296, 299, 306, 353, 363, 367, 370, 390, 412, 416–417, 430, 435, 437–439, 442– 443, 446, 457, 462 Liebe: 17–18, 94–96, 133, 141, 143, 151–152, 160, 188, 279, 284, 292, 302, 318, 350, 362, 383, 390, 416, 418, 425, 430, 441, 446, 448, 459– 462, 467, 470 Leib: 17–19, 25–28, 60–69, 72, 79, 92–93, 95, 99, 143, 170, 225, 269, 272–279, 283, 289, 295–296, 323, 328, 331, 361, 367, 369, 381–383, 389, 442, 447, 453–457, 464, 466– 467, 469, 471, 474 Logik: 22, 29, 39, 53, 61–62, 79, 90, 92, 115, 121, 131, 143, 173, 212, 235, 280, 298–299, 311, 318, 335– 336, 370, 425, 431, 436, 438, 445, 450, 466, 474 –, des Ereignisses: 31, 72, 74, 79–80, 96, 123–124, 136, 146, 157–158, 160, 168, 172, 179, 188–189, 196– 198, 205, 208–209, 211, 226–227, 230, 233, 236, 246–247, 309, 326,
494 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register 336, 362, 365, 369, 373, 391, 393, 400, 406, 426, 440, 444 Macht: 19–20, 53, 56, 70, 75, 102, 184, 195, 202–205, 209, 212, 214– 215, 217, 219, 221–223, 237, 242, 256, 258, 281, 285, 290, 308, 343, 355–356, 361, 376–377, 439, 441– 443 Metaphysik: 51–53, 55–57, 68, 86, 96, 98, 100–103, 110, 119, 140–141, 157, 167–168, 174, 176–177, 182, 191, 198, 201, 205, 207–209, 211– 217, 238, 253, 271, 305, 315, 320, 330, 350–351, 353–354, 360, 386, 391–394, 432, 437, 451–454, 463– 475 Möglichkeit/Ermöglichung: 20–21, 24, 31, 39, 46–50, 52–53, 55, 57, 69, 76, 86, 94, 106–107, 111, 127, 131, 139, 141, 147–149, 151, 160, 163, 165, 167, 176–177, 183, 187, 189, 205–208, 210–213, 215, 217, 219– 222, 225, 229, 235, 239, 255, 275, 278, 281–284, 291, 305, 307, 312– 313, 315, 329–330, 332, 334–336, 338–339, 342, 350–354, 360–361, 364, 366, 388–389, 399, 404–405, 411, 414, 436, 438, 444, 460 Nähe: 25, 72, 79–80, 94, 100, 204– 205, 223, 249, 252–253, 257, 262, 264, 269, 272–274, 277, 279–284, 295, 298, 307–308, 312, 316, 321, 400, 403, 411, 431, 444, 466–470, 473 Neue, das: 28, 32, 53, 69, 85–87, 94, 131, 134, 147, 149, 208, 213, 221, 223, 238, 289, 291, 304–315, 332, 350–352, 402, 404–405, 411, 440– 441, 444, 446, 465, 467, 473 Neukantianismus: siehe »Transzendental/-philosophie« Nichts: 22, 49, 67, 92, 97, 100, 115, 120, 123, 125, 127–129, 134, 147, 166, 168, 170, 175, 194, 199–201, 223, 229–230, 232–235, 247, 250,
263, 290, 294, 296–298, 302, 320, 330, 336, 344–345, 361, 367, 377– 378, 382–383, 408–409, 418, 427, 429–430, 436, 456, 458, 465–467 Notwendigkeit: 55, 87, 126, 135, 171, 197, 203–204, 207–209, 211–213, 215–217, 226, 233, 260, 282, 290, 314, 317, 319, 334, 346, 348, 350, 356, 358, 360–362, 365, 464 Objekt: 22–24, 26, 29–30, 41–42, 44– 45, 57–58, 61–64, 68–72, 75, 77, 89, 91–93, 98–100, 113, 121, 137, 142– 143, 149, 155, 158, 161–164, 166, 169–170, 173–174, 176, 179, 182– 183, 185, 194–195, 204, 225, 242– 243, 248–251, 253, 257, 259–260, 264, 268, 272–274, 276–278, 280– 281, 294–296, 308–309, 315–317, 322–323, 330–333, 338, 341–342, 347–348, 355–358, 367–370, 372– 374, 381–382, 385–386, 388, 390, 393, 396, 398–401, 403, 405, 414– 417, 426–431, 434, 440–441, 444, 447–448, 450–453, 455, 457–459, 467–468 –, Nicht-Objekt: 24, 26, 41–43, 45, 57–58, 62–65, 68–72, 77–79, 90– 93, 96, 107, 113, 122, 136–137, 140–142, 144, 146, 157, 161–166, 168–173, 175–178, 180–183, 189, 191, 193, 195, 199, 201, 223, 225, 229–232, 235, 238, 242, 248–251, 253–255, 257–260, 262, 264, 268, 270–273, 275–277, 280–281, 295– 296, 298, 308, 310, 316–317, 323, 328, 330–334, 339, 341–342, 347– 348, 357, 366–369, 375, 378–379, 385–388, 390, 392–394, 396–401, 403, 405, 407, 416–418, 420, 425– 431, 433–435, 441, 444, 448, 450, 452–456, 458–459, 463–468, 471, 473–474 Ontologie: 18, 20, 22–31, 34–35, 43, 61, 71, 73–74, 76–78, 81, 84, 89–90, 92, 122, 124–125, 127, 132, 135– 136–137, 152, 157, 173, 182, 250,
495 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register 253, 257, 271, 307, 309, 316–317, 321, 334, 336, 342–343, 347, 399, 401–402, 410, 425, 429, 432, 434– 438, 445–448, 450–454, 458, 463, 465, 468–474 –, Fundamentalontologie: 23, 43–48, 56, 189, 338, 439 Ort/Verortung: 48–49, 58, 68, 76, 84, 93, 95, 111, 122, 126–128, 131, 150, 155–159, 170–171, 175, 179– 193, 202, 214, 222–231, 233–234, 236, 238–239, 249, 256, 258–259, 262, 270, 273, 277, 284, 289, 300, 320, 342, 382, 408, 443, 455, 470– 475
238–239, 244, 260–261, 274, 276, 318, 328, 331–343, 346–348, 353, 360, 367, 369, 372–373, 377, 389, 393, 396, 399–402, 405, 407–410, 414, 418–421, 425–440, 442–457, 459–461, 463–475 Präsenz: 21, 31, 33, 65–66, 68–69, 75, 77, 79, 87–88, 97–117, 119–120, 124–129, 131, 133–135, 140, 150– 151, 162–163, 183, 187, 193, 201– 202, 223, 251, 259, 269, 274, 277, 285–287, 289, 291–297, 299, 302, 347, 351, 393, 397, 402–404, 413, 429, 451, 456 Psychoanalyse: 19, 26, 71
Passivität: 19, 25, 28, 33, 65–67, 69, 79–80, 91, 95, 136, 143, 214, 219– 220, 255, 257, 259–261, 274–275, 277, 279, 282–285, 290, 292, 312, 318, 343–345, 358, 367, 401, 411, 417–418, 442–443, 454–456, 464, 466–470, 473 Phänomen/Erscheinung: 27, 29–30, 32–34, 47, 50, 66, 82, 86, 93, 100, 103–104, 106, 122–124, 138–143, 146, 148, 150, 152, 158, 170, 178, 183, 187, 195–196, 203, 205, 210, 216, 223, 228–229, 237–239, 241, 243, 249–256, 258, 262, 267, 271– 272, 277–278, 289, 293–295, 297, 300–306, 315–316, 322–349, 352– 370, 374, 377–381, 383–386, 391, 393–402, 404–410, 414, 417–421, 426–441, 443–450, 456, 459–463, 465–466, 473, 475 –, das gesättigte Phänomen: 138–139, 140–144, 232, 251, 322–327, 329, 333, 338–341, 345, 348–349, 351– 353, 357, 364, 367–392, 394, 400– 402, 408, 411–412, 417–418, 427, 432–433, 435, 440, 444, 456 Phänomenologie: 19, 22–23, 25–26, 28–35, 40–44, 55, 59–61, 66, 68, 70–72, 81, 90–91, 94–96, 98, 101, 115, 118, 122, 124, 136–139, 141– 143, 145–146, 152, 182–183, 195,
Raum/Räumlichkeit: 23, 63, 75, 88– 89, 94, 103, 105, 123, 178–193, 202, 213, 222, 224–225, 227, 236–237, 249, 258, 260, 273–274, 278, 280, 282, 284, 337, 379, 383, 398, 465– 466, 471, 473–474 Ruf: 143, 282, 302, 313–314, 386– 388, 391, 402, 406–411 Reduktion (phänomenologische): 23, 30, 41, 100–104, 106–107, 140, 142, 238, 251, 255, 260, 289, 318, 324, 329, 331–342, 346, 375, 386, 409– 410, 415, 417, 420–421, 432, 438, 440, 445, 451, 463 Repräsentation: siehe »Erinnerung« Schuld: 117–118, 120–121, 131, 310– 311, 314, 414, 416 Seiende, das: 21–23, 30–31, 43–46, 48–53, 55, 58, 73–74, 76–77, 86, 97, 106, 108, 122, 125, 137, 140–142, 155–158, 160–166, 168, 170–171, 174–178, 180, 182–187, 189–191, 193–201, 203–205, 208–209, 212, 214, 216, 218, 221–223, 225, 227– 232, 234–238, 240–243, 248–249, 251–253, 256–258, 273, 278, 280, 297–298, 305, 307, 312, 318, 320, 324, 333–334, 338, 342, 365–366, 392–393, 425, 430, 434, 438–441, 451–453, 457, 463, 471, 473
496 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register Sein: 18–19, 22–24, 31–32, 34, 40– 58, 60–62, 65, 67, 69, 71, 73–76, 78–80, 82–84, 86, 92–93, 98, 100, 115, 122–126, 128–131, 136, 140– 142, 145, 152, 155–245, 247–249, 253–254, 257–261, 273–274, 286– 287, 290, 292, 297, 299, 305–310, 312, 315, 318, 321, 324, 329, 332– 333, 343, 350–351, 360–361, 363, 366, 379, 391–393, 402, 410, 414– 416, 425, 427, 430–431, 434, 437– 441, 443–444, 447, 450–452, 455, 457–458, 461, 464–466, 470–474 –, Ohne Sein: 34, 73–76, 78–79, 81– 82, 90, 97, 113–116, 120, 123–132, 134, 136–137, 140–141, 203, 238, 241–243, 245, 247, 253–254, 257– 259, 261, 277, 290, 296, 298–299, 304–306, 315, 318, 352, 361, 366– 367, 410, 414–416, 431, 470–471, 473 Sichtbarkeit: siehe »Phänomen/Erscheinung« Singularität/Einzigkeit: 84, 86–88, 90–91, 110–115, 117, 119, 123, 127, 129, 149, 151–152, 159–160, 162– 163, 173, 185–186, 191–192, 208, 210–211, 223, 233, 237, 240–241, 280, 296, 301, 376–378, 383, 390– 391, 395–398, 404, 441 Sprache: 20–21, 29, 51, 54, 72, 76–78, 81, 84, 100–102, 106–108, 111–112, 117, 123, 131, 133–134, 167, 173, 223–236, 239, 244, 256, 262, 283, 299, 315–321, 441, 464–465, 474 Spur: 75–76, 79, 104, 106, 115, 122– 123, 167, 194, 207, 215, 217, 234– 235, 237–239, 287, 297–306, 315– 319, 321, 383, 394, 397, 401, 405, 407, 409, 411, 429, 433–436, 440– 441, 444, 449–450, 456, 458–459, 463 Strukturalismus/Poststrukturalismus: 19, 21, 26, 31, 80, 89–91, 94, 122 Subjekt: 19–22, 24–25, 29–30, 50–51, 53, 62, 64–65, 68–78, 80, 83, 90–93,
95–96, 99, 108, 124, 131, 134–137, 148–149, 151, 155, 161, 170, 178– 179, 182, 188–189, 217, 219, 222, 230, 236, 238–239, 241–242, 245, 249, 252–256, 258–262, 270–271, 273–274, 277–278, 280, 282, 285, 290, 294, 305, 309, 312, 330–331, 333–334, 343, 386–388, 429, 439, 442, 445, 454–459, 464, 466–469, 473 –, Subjektivität: 78, 80, 93–94, 254– 255, 257–259, 262, 274, 282–283, 299, 431–432, 473 Theologie: 23, 71–72, 138–139, 141, 347, 378, 435, 448, 451, 453 –, negative: 298–299, 318, 413, 451, 453 Tod: 17, 75, 131, 146, 152, 164, 225, 242, 285, 292, 309–310, 396–398, 416, 418, 425–426, 443, 460, 467 Topologie: 58, 86, 93–95, 105, 122, 132, 136, 182, 189, 191, 465 Transzendental/-philosophie: 22–24, 28, 30, 39–41, 46, 56, 62, 72, 90–94, 122–123, 148, 157, 182, 218–219, 253, 275, 330–333, 335, 338, 340, 342, 369–373, 388, 393, 438–439, 445, 464–465 Transzendenz/Transzendieren: 18– 19, 35, 39–42, 44, 46, 49, 62, 67–69, 71–72, 76, 78, 80, 89, 91–92, 94, 188, 218, 244, 253, 256, 260–261, 263, 268–270, 274, 277–279, 282, 284, 287–288, 290, 298, 305–306, 308, 310–312, 319–320, 347, 412, 415, 431, 442, 470–471 Trauma: 27, 292 Unbegreiflichkeit: 24, 30, 45, 61–64, 68–69, 79, 90, 93, 97, 100, 105, 107– 110, 117, 121, 139–144, 147, 149, 151, 156, 167, 170–174, 178, 194, 210, 215, 232, 235, 242, 248, 250, 254, 258, 263–264, 266, 269, 272, 275–277, 288, 293, 296, 304, 310, 315, 320, 323, 339, 347–349, 351–
497 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register 354, 367–374, 377–378, 380–392, 394–401, 403, 405, 408–411, 417, 425, 427–429, 431–433, 436–438, 443–444, 447–450, 453, 458–459, 464, 470 Undenkbarkeit: 26, 30, 45, 64, 69, 71, 79, 100, 107–109, 112, 134, 163, 169–178, 180, 190, 199, 222–223, 231, 255, 257, 262–270, 273, 277, 281, 283–284, 293–294, 298, 351– 352, 367–368, 391–392, 394–395, 399–401, 405–406, 419–420, 425– 475 Uneinholbarkeit: 20–21, 24–25, 30, 33–34, 45, 62, 64–65, 67–69, 75, 79, 114, 140, 150, 167, 172–173, 194, 199–201, 223–225, 231–235, 238– 239, 249, 251, 264, 272, 277, 286– 288, 291–292, 294–298, 301–304, 310, 315, 320, 327, 346–347, 366, 391–393, 401, 403, 405–406, 408, 411, 431–432, 434, 436, 438, 458– 459, 465, 471 Unerinnerbarkeit: 66, 79, 112–113, 117, 127, 151, 163, 169, 200–202, 252, 272, 277, 286–287, 291–297, 405, 430–432, 444 Unmöglichkeit: 27, 45, 66, 71, 90, 108–110, 113–120, 139, 144, 147, 218, 225, 261–262, 270, 273, 288, 295, 315, 349–354, 360–362, 368, 376, 387, 400, 402, 414, 419–420, 441, 450, 471 Unsichtbarkeit: 21, 27, 33–34, 44, 68, 101, 112, 114–117, 120–121, 127– 128, 130, 140, 152, 196, 205, 216, 237–238, 247–252, 257–258, 262, 272, 284, 289, 293, 295–297, 299– 302, 305–306, 315–316, 323, 336, 343–344, 346–348, 355, 378–379, 296–297, 401, 404–409, 414–415, 417–421, 427–436, 443–452, 455– 456, 458–463, 465–466, 468–469, 471, 474–475 Unvorhersehbarkeit: 17, 53, 110, 116, 119, 128, 139, 147–148, 150, 207, 209, 217–218, 236, 242, 246, 285,
289, 291, 312, 336, 349–351, 353– 354, 356, 359–362, 365–366, 368, 376, 389, 394–395, 398, 400, 402, 404, 440–441, 444, 446, 475 Ursprung/Ursprünglichkeit: 33, 40, 47–48, 50–51, 58, 62, 64–67, 72, 76–77, 98–99, 103–107, 148–149, 151, 157–158, 161, 163, 165, 167, 175–176, 182–183, 187, 189, 193, 197, 205, 207, 211, 216, 220–222, 226–227, 230, 235, 238, 247, 259, 274, 277, 284, 288–292, 294–296, 300, 305–307, 317, 323, 327–328, 331, 351, 358–360, 367, 369, 382, 386, 388, 392–393, 404–405, 425, 435–436, 458, 461, 465, 472–473 Verantwortung: 76–77, 79, 151–152, 249, 251–252, 255, 257, 261, 273, 279–284, 286, 288, 290, 292, 298– 304, 309–314, 316, 410–411, 416, 431 Vergangenheit (die niemals Gegenwart war): 66, 68, 75, 79, 108, 114– 115, 150–151, 201, 225, 286–288, 291–297, 301, 309, 316, 343, 358, 397, 400–403, 431, 433, 436, 444, 446, 456, 460, 465 Vergebung: 21, 110, 114, 117–118, 120, 131, 133, 216, 418, 460 Vergegenwärtigung: siehe »Erinnerung« Vergessen: 24, 55–56, 196–210, 212, 214–217, 220–221, 224–225, 230, 237, 297, 305, 314, 320, 324, 383, 434, 472–473 Verspätung: 66, 68–69, 104, 115, 119–122, 132–133, 147, 150, 210–211, 216, 259, 267, 275, 288– 289, 291–293, 296, 303, 316, 375, 395, 397, 403–404, 411, 433, 456, 460 Vorstellung: 50, 111, 163–164, 170, 173–174, 196, 198, 201, 234–235, 247–253, 265, 267, 275, 278, 281, 289, 293–296, 304, 317 319, 376, 427–428, 464
498 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register –, Nicht-Vorstellung: 50, 63, 68–69, 71, 80, 91, 100, 161, 163–164, 166, 169–173, 176, 192, 199, 222–224, 227, 233–235, 247–253, 255–258, 260, 262, 264, 266, 268, 271, 274– 275, 278, 280–281, 284, 287, 290, 293–296, 301, 303–304, 317, 319, 371, 376, 427–430, 453, 458, 464, 467–468 Wahrheit: 19, 23, 47, 50–54, 56–58, 83, 85, 87–88, 98, 113, 123–124, 133–137, 155–161, 165, 168, 170– 171, 175–178, 180–181, 184–187, 189–192, 194, 197, 199, 206–208, 213–214, 216, 220–222, 224–227, 229–231, 234–235, 258, 278, 302, 371, 376, 386, 410, 436, 447, 454, 471–472 –, ἀλήθεια: 53, 155, 157–158, 195– 196 Wahrnehmung: 33, 60–68, 93–94, 103–104, 111, 170, 191, 294, 296, 316, 361, 366, 379, 381–382, 425, 455, 462 Wesen: 22–23, 29–30, 42, 45–46, 50, 53, 56–57, 60–61, 84, 90, 99–102, 109, 113, 116–117, 122–124, 130, 141, 155, 158, 160–169, 171–172, 175, 177, 179–181, 184–187, 192– 207, 211–212, 214–215, 218–220, 222–223, 227–230, 232–235, 237, 241, 247, 253, 265–266, 278, 282, 285–286, 288–289, 305, 313, 315– 316, 326–329, 333, 346, 350, 357, 365–368, 373, 387, 391–393, 395, 399, 405, 408, 413, 429–430, 435– 436, 438, 441, 445–446, 451, 455, 461, 472 –, Nicht-Wesen: 52–53, 58, 87, 89, 113, 156–157, 160–169, 172–173, 175–180, 186–187, 190–197, 199– 207, 212, 214, 219–223, 227–229, 231–236, 258, 289, 366–367, 392– 393, 395, 399, 405, 430, 440 Wiederholung: 86, 100, 111–113, 120, 206–207, 211–212, 223–231,
234–235, 270, 297, 315, 367–368, 381, 403, 471, 473 Wissen/Wissenschaft: 15, 19–20, 22– 24, 27, 30, 32, 35, 39, 40–42, 45–49, 85, 88, 90, 107, 133–134, 136, 164, 171, 174, 224, 232–233, 235, 248, 253, 264, 266, 274, 294–295, 298, 302, 315–316, 350, 387, 391, 398, 402–403, 405, 409–410, 414–416, 418–419, 436–437, 439, 445, 447, 471 –, Nicht-Wissen: 19, 63–64, 107, 120, 130, 134, 144, 171, 198–199, 200– 201, 208, 213, 232–233, 235, 238, 252–253, 268, 288, 294, 296–298, 300, 302, 314, 335–336, 387, 405, 410, 414–416, 418–419, 427, 438, 466–467, 471 Zeichen: 99, 101–102, 106–113, 120, 213, 227, 234–235, 263, 265, 282, 297, 300–301, 303, 317, 383, 411, 429 Zeit: 22–23, 27, 46–47, 49, 53, 57, 65– 66, 68, 75, 87–89, 95, 100, 102–105, 114, 119–120, 131, 133, 136, 146– 147, 149–150, 152, 165–166, 169, 179–180, 182–193, 195, 202, 206– 209, 212–213, 222–226, 231, 245, 248, 251–252, 255, 259–260, 274, 278, 284–292, 294–295, 302–304, 306, 309, 311, 324, 335–336, 352, 355, 360–361, 365, 376, 382–384, 391–405, 408, 416, 426, 430, 433, 456, 460, 467, 472 –, Zeitbewusstsein: 25, 33, 66, 103, 335 Zeuge/Zeugnis: 57, 165, 282, 288, 302–304, 320, 325, 376, 386–388, 420, 430 Zufall/Kontingenz: 87, 128, 207–209, 218, 226–227, 231, 356, 358–362, 365–368 Zukunft: 75, 87–88, 103, 115–116, 119, 131, 150–151, 183, 187, 206, 210–211, 213, 215, 226, 236, 242,
499 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .
Register 245, 251, 285–286, 296, 335–336, 359, 380, 383, 403–404 Zwang: 135, 181, 184, 214, 218, 226, 230, 238, 272, 285, 291, 303, 310, 312–313, 320, 341, 346, 348, 355–
357, 363, 368, 374, 377, 379–380, 388, 399, 452, 462, 474 Zwischen: 96, 176, 181, 186, 191, 210, 233
500 https://doi.org/10.5771/9783495820544 .