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German Pages [287] Year 2002
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler
Band 151 Heinz-Gerhard Haupt (Hg.) Das Ende der Zünfte
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Das Ende der Zünfte Ein europäischer Vergleich
Herausgegeben von
Heinz-Gerhard Haupt
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Umschlagabbildung Der S c h u h m a c h e r (Schultz) © Bibliothèque nationale de France, Paris
2002
27908
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-525-35167-4 Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf © 2002, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Internet: http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
Bayerische
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Inhalt
Vorwort
7
HEINZ-GERHARD H A U P T
N e u e Wege zur Geschichte der Zünfte in Europa
9
REINHOLD REITH
Zünfte im Süden des Alten Reiches: Politische, wirtschaftliche u n d soziale Aspekte
39
WILFRIED REININGHAUS
Zünfte und Zunftpolitik in Westfalen u n d i m Rheinland am Endes des Alten Reiches
71
JOSEF EHMER
Zünfte in Österreich in der frühen Neuzeit
87
SANDRA B O S / PIET LOURENS / J A N LUCASSEN
Die Zünfte in der niederländischen Republik
127
CATHARINA L I S / H U G O SOLY
Die Zünfte in den Österreichischen Niederlanden
155
PHILIPPE M I N A R D
Die Zünfte in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts: Analyse ihrer Abschaffung
181
DANIELA FRIGO
Die italienischen Zünfte am Ende des Ancien Regimes: Stand, Probleme und Perspektiven der Forschung
197
PERE M O L A S RIBALTA
Die Zünfte i m Spanien des 18. und beginnenden 19. J a h r h u n d e r t s : Gesellschaftliche, politische u n d ideologische Aspekte
215
5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
LARS EDGREN
Die schwedischen Zünfte im 18. Jahrhundert
231
TAMAS FARAGÓ
Das ungarische Zunftwesen im 18. Jahrhundert anhand quantitativer Zeugnisse
251
SVETLA IANEVA
Die Handwerker, die Zünfte und der ottomanische Staat auf dem Balkan zu Beginn des 19. Jahrhunderts
271
Autorinnen und Autoren
283
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Vorwort
Institutionen des vormodernen und modernen Europas gehörten generell lange Zeit zu den vernachlässigten Bereichen der Geschichtswissenschaft oder aber fristeten ein wenig beachtetes Dasein in starkjuristisch argumentierenden und von normativen Quellen ausgehenden Studien. Auch die Zünfte litten unter dieser Herangehensweise. In dem Maße, in dem Institutionen als Formen sozialer und politischer Praxis verstanden wurden, öffnete sich auch die Zunftgeschichtsschreibung der Analyse ihrer sozialen Träger, Logiken und Ergebnissen. Die Akteure der Zünfte fanden ihren Einzug in die bis dahin oft vor sich hindümpelnde Geschichtsschreibung. Ein wesentlicher Anstoß zur Neuorientierung ging aus von den Arbeiten Steve Kaplans und Simona Cerutti, Wilfried Reininghaus und Josef Ehmer, Catarina Lis und Hugo Soly, die mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen die zünftlerischen Strukturen in gesellschaftlichen Zusammenhängen und den Interessen der Handwerksmeister und -gesellen verorteten. Der vorliegende Band ist von dieser Neuorientierung der Forschung beeinflusst. Er versucht, im Unterschied zu der herkömmlichen Historiographie die Geschichte der Zünfte nicht als Verfall einer zuvor stabilen Ordnung zu verstehen, sondern als wechselhafte Anpassung der sich organisierenden Meister an die sich wandelnden sozialökonomischen und politischen Bedingungen des Ancien Regimes. In dieser Perspektive ist der Platz der Meister in der städtischen Wirtschaft und Gesellschaft ebenso von Bedeutung wie die Funktion, die sie in den national unterschiedlichen Staatsbildungsprozessen besaßen. Aber auch die In- und Exklusionsprozesse, die die sich organisierenden Meister initiierten und benutzten, gehören zu einer neueren Geschichte der Institution. Die Beiträge des Bandes wurden in einer ersten Version während einer Tagung präsentiert, die im Mai 1995 an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg stattfand und im Rahmen des Schwerpunktprogramms der Volkswagen-Stiftung »Das alte Reich« finanziert wurde. Die Drucklegung fand die großzügige Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung. Beiden Institutionen danke ich hiermit. Für Übersetzungsarbeiten bin ich vor allem Dr. Nicole Reinhard und Dr. Christina Benninghaus, für vielfältige Korrektur- und Formatierungsarbeiten Pascal Eitler, sehr dankbar. Bielefeld, im Februar 2002
Heinz-Gerhard Haupt 7
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HEINZ-GERHARD HAUPT
Neue Wege zur Geschichte der Zünfte in Europa
Das Ende des Ancien Régimes in der Stadt ist weithin identisch mit dem Ende der Zunftordnung. Das Monopol der Herstellung und des Vertriebs wurde durch die Gewerbefreiheit, die rechtlichen Privilegien der Meister in der Stadt durch die Einwohnergemeinde und die zünftig geregelten Beziehungen zwischen Meister und Gesellen durch die Vertragsfreiheit abgelöst. Diese Veränderungen fanden in den europäischen Gesellschaften zu unterschiedlichen Momenten im 18. und 19. Jahrhundert statt. Auf diesem Weg zur modernen bürgerlichen Gesellschaft sind die Zünfte als Hindernisse für die kapitalistische Entwicklung, als beharrendes, in sich geschlossenes System und als Faktor der Immobilität bezeichnet und wahrgenommen worden. Schon Gustav Schmoller hatte für die Historische Schule der Nationalökonomie »Stumpfsinn und Apathie, kleinlichen Spießbürgergeist und beschränkte Indolenz« in den Zünften ausgemacht, während in einer neuen Übersichtsdarstellung Helga Schultz von der »unübersehbaren Verkrustung des Zunftwesens während der frühen Neuzeit« spricht, die sie auf den »Ehrenkodex und die eigene Gerichtsbarkeit« zurückführt. 1 Diese negativen Sichtweisen, die oft aus einer Modernisierungsperspektive gewonnen sind, provozieren Widerspruch. Sollen die Zünfte als Institutionen derartig lange die europäische Stadtwirtschaft geprägt haben, ohne dass in ihnen Veränderungen möglich waren, ohne dass sie sich in die veränderten ökonomischen und sozialen Bedingungen der Stadt einbrachten und ohne dass sie positive Funktionen für die Wirtschaft, Gesellschaft und Selbstverwaltung der Stadt oder der territorialstaatlichen Ordnung wahrnahmen? Aus anderen Forschungsbereichen, ebenso wie aus theoretischen Überlegungen, lassen sich 1 G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen, Halle 1870, S. 14 f.; H. Schultz, Handwerker, Kaufleute, Bankiers. Wirtschaftsgeschichte Europas 1500-1800, Frankfurt/M.l997, S. 112 f. Differenzierter hingegen M. Stürmer, Herbst des Alten Handwerks. Quellen zur Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, München 1979, S. 13, der von »Spätblüte, Krise und Agonie der Zunftwirtschaft am Ende des 17. und während des 18. Jahrhunderts« als Teil »jenes Ablösungsprozesses, in dem Untergang und Fortschritt sich untrennbar miteinander verbanden« schreibt. S. jetzt auch K. Schulz (Hg.), Handwerk in Europa. Vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, München 1999.
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sehr wohl Hinweise auf die angedeuteten mannigfaltigeren Erscheinungsformen und Wirkungsweisen der Zünfte gewinnen. So hat die Bürgertumsforschung der letzten zehn Jahre die Fähigkeit von Stadtbürgern zur Modernisierung unterstrichen und ihre durchaus aktive Rolle in den Städten und bei deren Verwaltung bis ins 19. Jahrhundert hinein betont. Auch in seinem provokanten Argument, bis zum Ersten Weltkrieg sei von einer »persistence of the Old Regime« zu sprechen, hat Arno Mayer zurecht auf die Kontinuität sozialer und politischer Herrschaftsgruppen im 19. Jahrhundert verwiesen.2 Schließlich rät auch die politische Anthropologie dazu, traditionelle Strukturen und Institutionen nicht als Hindernis auf dem Weg zur Moderne zu verharmlosen, sondern sie in ihrer Prägekraft für moderne Verhältnisse zu würdigen. Diesen Aspekt hat der Anthropologe Georges Balandier mit folgenden Hinweisen unterstrichen: Tradition könne für restaurative Ziele benutzt werden, in geänderten Kontexten eine neue Funktion erhalten, zu Widerstandsaktionen führen oder zur Rechtfertigung der Gegenwart beitragen.3 Legt man diesen Ansatz zugrunde, so ist im 19. Jahrhundert das Fortwirken der Zunftidee und der Zunftinstitution zu beobachten. Die deutsche Handwerkerbewegung des Kaiserreiches griff etwa auf die Zunft zurück, um die Gewerbefreiheit zu kritisieren, den staatlichen Schutz ihres »Standes« zu fordern und die Restauration vorindustrieller Verhältnisse zu fordern. Der französische Soziologe Emile Durkheim seinerseits sah die zünftig geregelten Beziehungen im Industriebetrieb als ein geeignetes Mittel an, um die »Anomie« der modernen Industriegesellschaft zu überwinden. Organisations- und Aktionsmodelle des zünftigen Handwerks gingen auf vielfältige Weise in die moderne Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts ein, wie Jürgen Kocka für Deutschland und William Sewell für Frankreich eindrucksvoll demonstriert haben. Schließlich gehörte der Rückgriff auf die häufig idealisierten Zünfte zu Strategien der »Invention of tradition«, mit denen Handwerkerverbände, aber auch politische Parteien im Deutschen Reich ihre Ziele und Interessen legitimierten.4 2 A. j. Mayer, The Persistence of the Old Regime. Europe to the Great War, New York 1981. 3 G. Balandier, Anthropologie politique, Paris 1984, passim. 4 Zur deutschen Handwerkerbewegung: P.John, Handwerk im Spannungsfeld zwischen Zunftordnung und Gewerbefreiheit. Entwicklung und Politik der Selbstverwaltungsorganisation des deutschen Handwerks bis 1933, Köln 1987; D. Georges, 1810/11-1993: Handwerk und Interessenpolitik. Von der Zunft zur modernen Verbandsorganisation, Frankfurt/M. u.a. 1993. Zu Emile Durkheim s. A. Black, Guilds and Civil Society in Europe. Political Thought from the Twelfth Century to the Present, Ithaca/ New York 1984; J . Kocka, Traditionsbindung und Klassenbildung. Zum sozialhistorischen Ort der frühen deutschen Arbeiterbewegung, in: HZ, Jg. 241, 1986, S. 333-376; W. H. Sewell, Work and Revolution in France: The Language of Labor from the Old Regime to 1848, Cambridge 1980; kritisch dazu: L. Hunt u. G. Sheridan, Corporatism, associationism and the language of labor in France, 1750-1850, in: Journal of Moden History, Jg. 58,1986, S. 813-844.; F. Lenger, Beyond Exceptionalism: Notes on the Artisanal Place of the Labor Movement in France, England, Germany and the United States, in: International Review of Social
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All diese Hinweise raten dazu, in den zünftigen Institutionen eher anpassungsfähige und vielfältige Gebilde als starre Relikte der Vergangenheit zu sehen. Ob die Zünfte am Ende des 18. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern eher durch Statik als Dynamik charakterisiert waren, ob sie sich der modernen gesellschaftlichen Entwicklung widersetzten oder sich dieser anpassten, ja sie gar befürworteten und in welchen nationalen Formen sie sich ausbildeten, soll in den folgenden Beiträgen diskutiert werden. Diese greifen mithin neue Forschungsansätze auf Vor allem die Bedeutung, die die Zünfte für die sie jeweils gründenden oder verändernden Berufsgruppen besaßen, ist in der neueren Zunftforschung in den Mittelpunkt gerückt worden. Sie geht nicht von der Institution und ihrem Platz im Institutìonengefuge, sondern von den einzelnen Meistern und ihren Interessen aus, für die die Zunft dann innerhalb einer bestimmten Strategie relevant wird. Diese neue Perspektive scheint in einzelnen Länderberichten durch, wird in diesem Band aber noch nicht im Mittelpunkt stehen. In ihm geht es vor allem darum zu überprüfen, ob die negativen Urteile der Zeitgenossen und der Historiker über die Zunft einer kritischen Analyse standhalten, welche Bandbreite von Aufgaben die Zünfte im 18. Jahrhundert erfüllten und welche nationalen Entwicklungen, Unterschiede und Besonderheiten sich am Beispiel der Zunft erfassen lassen. Das Ende des Ancien Régimes ist für die ländlichen Gesellschaften Europas besser als für die städtischen bekannt. Die Abschaffung der Grundlasten, der Verkauf oder die Verteilung des Gemeindelandes und die Beseitigung von Gewohnheitsrechten sind für die verschiedenen europäischen Länder detailliert untersucht und in ihren Voraussetzungen und Folgen analysiert worden. Dabei wurden auch die Entwicklungen in Ost- wie in West- und Südeuropa einbezogen. Jerome Blum verdankt die Forschung eine eindrucksvolle Synthese, welche die zentralen Veränderungen für die Agrarverfassung und die Lage der sozialen Klassen auf dem Land benennt. 5 Für das städtische Europa ist hingegen die Aufhebung des Zunftzwanges und die Einführung der Gewerbefreiheit weit weniger genau analysiert worden. Selbst die Gesetze, welche die Zünfte beseitigten, erscheinen selten in Handbüchern zur europäischen Geschichte. 6 Diese Vernachlässigung mag man damit rechtfertigen, dass sich die Agrargeschichte mit dem Schicksal des überwiegenden Teils der Bevölkerung um 1800 beschäftigt, während die Städte nur einen, in seiner Bedeutung allerHistory, Jg. 36, 1991, S. 1-23; J . Breuilty, Artisan Economy, Ideology and Politics: The Artisan Contribution to the Mid-Nineteenth Century European Labour Movement, in: ders., Labour and Liberalism in Nineteenth-Century Europe, Manchester 1992, S. 76-114; E. Hobsbawm u. T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1974. 5 J . Blum, The End of the Old Order in Rural Europe, Pnnceton 1978; jetzt auch W. Rösener, Die Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993. 6 Dies gilt auch für eine derjüngsten Europa-Geschichten: M.Aymard (Hg.), Storia d Luropa, Bd.4: L'età moderna. Secoli XVl-XVIII, Turin 1995.
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dings je nach Gesellschaft deutlich unterschiedlichen Anteil der Bevölkerung beherbergten. Gleichwohl prägten die Städte als Orte des Gewerbes und der Kommunikation die gesellschaftlichen Prozesse im 18. und 19. Jahrhundert, und die Zünfte als verbreitete, örtlich sogar dominante Organisationsform der gewerblich tätigen Männer waren in der städtischen Wirtschaft ebenso wie in der städtischen Selbstverwaltung des 18. und 19. Jahrhunderts präsent. In den stark urbanisierten Gesellschaften der südlichen Niederlande sollen von ihrer Existenz sogar bis zu 40 Prozent der Gesamtbevölkerung abhängig gewesen sein.7 Als Zünfte werden in den europäischen Gesellschaften meistens aus dem Spätmittelalter stammende Zusammenschlüsse von Handwerksmeistern, oft auch von Gesellen bezeichnet. Wenn ihre Existenz auch im Zuge der Entwicklung des Wirtschaftsliberalismus und des modernen Staates in Frage gestellt wurde, so erlebten sie im 17. und 18. Jahrhundert keineswegs eine allgemeine Krise, sondern nahmen spezifische, häufig auch stabile Formen an und erfüllten wichtige Funktionen innerhalb der jeweiligen Städte. U m 1800, bisweilen später, schufen staatliche Gesetze sie ab oder begrenzten ihre Kompetenzen.8 Die Zünfte organisierten im Ancien Régime die Produktion in den Städten, teilweise auch auf dem Lande; ihnen gehörten - in ihrer Blütezeit - zwar die Mehrheit der Handwerksmeister an, aber auch Kaufleute und Einzelhändler organisierten sich ihrerseits zünftig. Sie besaßen ihre Rechte als Privilegien in einer sich auf Sonderrechte gründenden ständischen Gesellschaft und verteidigten diese gegen die Zugriffe des Territorialstaats, der Stadtverwaltungen und der Konkurrenz. Diese Monopolisierung der gewerblichen Produktion hat Max Weber in das Zentrum seiner Definition gestellt: »Zunft ist eine nach der Art der Berufsarbeit spezialisierte Vereinigung von Handwerkern. Sie funktioniert, indem sie zwei Dinge in Anspruch nimmt: Regelung der Arbeit nach innen und Monopolisierung nach außen. Sie erreicht das, indem sie verlangt, dass jeder der Zunft beitritt, der an dem betreffenden Ort das Handwerk ausübt.«9 Er hat damit zwar die wirtschaftliche Rolle und die Abschließungsmechanismen umrissen, welche die Zünfte besaßen, aber von anderen Funktionen abgesehen, die sie zugleich erfüllten und auf die die neueren Forschungen den Akzent gelegt haben. Zu diesen hat Maurice Aymard für Westeuropa auch das Monopol und die Kontrolle des Marktes gezählt und vor allem ihre mora7 Vgl. C. Lis' u. H. Solys Beitrag in diesem Band; s. auch M. Berg, The Age of Manufactures 1700-1920, London 1985; S. C. Oglivie, Soziale Institutionen und Proto-Industrialisierung, in: M. Cerman u. S. C Oglivie (Hg.), Proto-Industrialisierung in Europa. Industrielle Produktion vor dem Fabrikzeitalter, Wien 1994, S. 35 ff. Für den deutschen Kontext s. W. Reininghaus, Gewerbe in der Frühen Neuzeit, München 1990. 8 Zu einem Überblick der europäischen Entwicklung: H.-G. Haupt u. G. Crossick, Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgcschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998, S. 29 ff. 9 M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, München u. Leipzig 1924, S. 127.
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lisicrende und sozialpolitische Funktion unterstrichen: »Dans toute l'Europe occidentale et sans doute au-delà se sont mises en place des institutions comparables ayant pour fonction de contrôler et d'organiser le fonctionnement du marché, de le moraliser et d'y éviter ce qui était percu comme socialement inacceptable.«10 Schließlich haben in einer revisionistischen Sicht Steve Kaplan, Simona Cerutti, Josef Ehmer und Philippe Minard vorgeschlagen, die Zünfte von den Strategien ihrer Mitglieder her zu definieren, mit denen diese ihre ökonomischen und politischen Ziele verwirklichen wollten. Sie lenkten damit das Interesse der Forschung auf die einzelnen Mitglieder, ihre Interessen und die Formen, in denen sie diese artikulierten und durchsetzen wollten.11 Dieser Ansatz wurde in der Forschung allerdings nur allmählich aufgegriffen. Er darf trotz seiner Bedeutung auch nicht verabsolutiert werden. Denn die Beiträge in diesem Band verdeutlichen, dass die neue Wahrnehmung der Zünfte zwar neue Fragestellungen aufwirft, von der traditionellen Institutionengeschichte aber nicht ganz absehen kann. Die methodische Herausforderung an eine neue Zunftforschung liegt vielmehr in dem Nachweis, ob, wie und warum unter dem Einfluss sich verändernder rechtlicher Bedingungen, einer sich differenzierenden städtischen Wirtschaft und der Auseinandersetzung um die Herrschaft in den Städten einzelne Meister, Gesellen oder Kaufleute weiterhin an den Zünften als Organisationsform festhielten, wie das Innenleben der Zünfte aussah und ob und wie diese die Interessen der Meister vertraten. Kurioserweise scheinen in diesen verschiedenen Ansätzen jene Positionen auf, die bereits die im 19. Jahrhundert in Deutschland geführte Diskussion um die Entstehungsbedingungen der Zünfte geprägt hatten. Wird die herrschaftliche Genese unterstrichen, so richtet sich das Augenmerk auf die verfassungsund wirtschaftlichen Funktionen, gewinnen die normativen Quellen der Handwerkerordnung ebenso wie in Lokal- und Berufsstudien die wirtschaftlichen Aktivitäten an forschungspraktischer Bedeutung. Diese Arbeiten bleiben indes in einer Institutionengeschichte traditionellen Zuschnitts befangen und 10 M. Aymard, zit. in: J . P. Hirsch, Histoires de marchés. Essai de transcription partielle des débats, in: Revue du Nord, Jg. 76, 1994, S. 869-879, S. 870. 11 S. Kaplan, Le meilleur pain du monde. Les boulangers de Paris au XVIIIe siècle, Paris 1996; ders., Réflexions sur la police du monde du travail, 1700-1815, in: Revue historique, Jg. CCLXI, 1979, S. 17-77; ders., The Character and Implicatìons of Strife Among Masters Inside the Guilds of Eighteenth Century Paris, in: JSH, Jg. 19, 1986, S. 631-648; ders., Les corporations, les faux ouvriers et le faubourg Saint-Antoine, in: Annales E.S.C., Jg. 43, 1988, S. 253-288; ders., La lutte pour le contrôle du marché du travail à Paris au XVIIIe siècle, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine, Jg. 36, 1989, S. 361—412; S. Cerutti, Mestieri e privilegi. Nascita delle corporazioni a Torino secoli XVII-XVIII, Turin 1992; P. Minard, Beitrag in diesem Band; J . Ehmer, Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Handwerk und Zunft, in: F. Lenger (Hg.), Handwerk, Hausindustrie und die historische Schule der Nationalökonomie, Bielefeld 1998, S. 19-76; auch G. Crossick neigt dieser revisionistischen Sicht zu, vgl. G. Crosskk, Past Masters: In Search of the Artisan in European History, in: ders. (Hg.), The Artisan and the Europcan Town, 1500-1900, Aldershot 1997, S. 1- 40
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konzentrieren sich auf den Platz der Zünfte innerhalb des städtischen Herrschafts- und Wirtschaftsgefüges und auf ihre Bedeutung innerhalb der Territorialherrschaft. Geht man jedoch mit Otto von Gierke auf die genossenschaftlichen Ursprünge zurück, so richtet sich das Interesse auf die einzelnen Berufsgruppen, ihre Ziele und Strategien.12 Damit kann sich die Zunftgeschichte sehr wohl an neuere Debatten der Geschichtswissenschaft anschließen und deren Fragestellungen aufnehmen. Das gilt einmal für die neuere Institutionengeschichte, welche die Institutionen einbettet in einen breiteren Rahmen sozialer, wissenschaftlicher und politischer Praktiken. In diesem Sinn können Zünfte als soziale Institutionen verstanden werden, deren Besonderheit Gerhard Göhler folgendermaßen definiert hat: Sie »sind relativ auf Dauer gestellt, durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinngebilde mit regulierender und orientierter Funktion.«13 Diese Definition lenkt das Interesse sowohl auf den Beitrag, den die Zünfte über Jahrhunderte hinweg für die städtische Wirtschaft leisteten, als auch auf ihre Bedeutung für das Alltagshandeln und die Selbstdefinition der Meister. Mit der »Internalisierung« von Normen und Verhaltensweisen wurden der Forschung neue, bislang nur selten ausgeleuchtete Probleme gestellt, die die sich entwickelnde Kulturgeschichte aufgriff Von dieser geht nicht nur das Interesse für die Wahrnehmungsformen und Selbstinszenierung der zünftigen Meister und Gesellen aus, die zu einer breiten Sichtung autobiographischer Selbstzeugnisse geführt hat, sondern auch die Aufmerksamkeit für die sich in Ritualen und Symbolen ausdrückenden Normen und Ordnungsvorstellungen der zünftigen Welt. Mit den Fragen, ob und wie diese religiösen Praktiken aufnahmen und einsetzten, welche Rolle Reinlichkeitsrituale, Feste, Umzüge und Mahlzeiten für den inneren Zusammenhalt spielten und welche Symbole aus welchen Zusammenhängen benutzt und tradiert wurden, eröffnet der kulturgeschichtliche Ansatz der Zunftforschung neue Felder.14 Der Blick auf die kulturellen Praktiken, ihre Verbreitung und ihre Definition könnte auch helfen, das Bild der in sich geschlossenen Lebensform >Zunft< zu relativieren. Josef Ehmer hat überzeugend darauf hingewiesen, dass die Autobio12 Zur Forschungsgeschichte: O. G. Oexle, Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, Jg. 118, 1982, S. 1-44; s. auch ders., Die mittelalterlichen Gilden: Ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen, in: A. Zimmermann (Hg.), Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, 1. Hbd., Berlin/New York 1979, S. 203-226. 13 G. Göhler, Politische Institutionen und ihr Kontext. Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen zur Theorie politischer Institutionen, in: ders. (Hg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionenlehre, Baden-Baden 1994, S. 22. 14 J . F. Farr, Cultural Analysis and Early Modern Artisans, in: Crossick (Hg.), Artisan, S. 56-75; L. Edgren, Craftsmen in the Political and Symbolic Order: The Case of Eighteenth-Century Malmö, in: ebd., S. 131-150; T. Ericcson, Cults, Myths and the Swedish Petite Bourgeoisie, 18701914, in: Europcan History Quarterly, Jg. 23, 1993, S. 231-251, S. 245 ff.
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graphien von Meistern und Gesellen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert »ein buntes Bild voller Individualität, voller widersprüchlicher Motive und Strategien und voller Bezugspunkte zur sozialen und kulturellen Welt außerhalb des Handwerks« zeichneten. 15 Auch das Interesse an Erinnerung und Erinnerungspolitik, das die Kulturgeschichte ausdrückt und befördert hat, lässt sich erfolgversprechend in Fragestellungen umsetzen. Dabei geht es einmal um den Kontext und die Gruppen, die im Rückgriff auf historische Traditionen die vom Wirtschaftsliberalismus angegriffenen zünftigen Institutionen rechtfertigten und ihnen eine historische Weihe zusprachen, als auch um Publikationen und »Erinnerungsorte«, in und an denen die Vergangenheit des Handwerks inszeniert wurde. 16 Die neue politische Geschichte hat sich unterhalb der politischen Institutionen und dem rechtlichen Entscheidungshandeln zunehmend für Kommunikationsprozesse und den Einfluss zivilgesellschaftlicher Strukturen interessiert. In dem Maße, in dem nicht von der Abschaffung der Zünfte ausgehend ihre Dysfunktionalität behauptet wird, steht die Teilnahme der Zunftvertreter nicht nur an politischen Organen und Verhandlungen in der Stadt, sondern auch an der Entwicklung von neuen Formen politischer Kommunikation zur Diskussion. Die in Zürich möglichen >Anzügedécret' d'Allarde et ses suites immédiates, in: ebd., S. 103-113; J . J . Heirwegh> Les corporations dans les Pays-Bas autrichien (1738-1784), Thése de doctorat Bruxelles 1980-81; S. Schama, Patriots and Libcrators. Revolution in the Nethcrlands, 1780-1813. New York 1992, S. 524 ff.; S. Woolf, A History of Italy, 1700-1860. The Social Constraints of Political Change, London/New York 1979, S. 155 ff. Zu dem allgemeinen Kontext der französischen Umgestaltung Europas: S. Woolf, Napoléon et la conquête de l'Europe, Paris 1990, S. 123 ff. 72 S. Mailluari, Assocoiaioni, S. 476 ff.; zu Spanien s. A. Shubert, A Social History of Modern Spain, London 1990; zu Portugal, wo in den 1830er Jahren die Zünfte beseitigt wurden, s. M. H. Pereira, Révolution libérale et milieu artisanal et ouvrier au Portugal (1820-1823), in: G. Gayot u.J P.Hirsch (Hg.), La Révolution française et le développement du capitalisme, Lille 1989, S. 415-424
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dem Eindruck der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Institutionen des Ancien Regimes verzichteten.73 Mit dem Ende der Zünfte als öffentlich-rechtliche Institutionen war zwar das Ancien Régime beendet, nicht aber die Geschichte der Zünfte. Diese lebten in Organisationsformen, Symbolen und Ritualen in der Arbeiter- und Handwerkerbewegung des 19. Jahrhunderts fort und gehörten zu den Palliativmitteln, mit denen Gesellschaftstheoretiker nicht nur konservativ-reaktionärer Ausrichtung die soziale Frage lösen wollten. Selbst der republikanische Soziologe Emile Durkheim erwog, ihre heilende Kraft einzusetzen, um die »Anomic« zu bekämpfen. Da die Motive, die zur Schaffung und Bewahrung der Zünfte geführt hatten, mit ihrer formalen Beseitigung nicht verschwanden, tauchten im 19. Jahrhundert die Zünfte immer dann auf, wenn Kaufleute, Meister und Kleinhändler die berufliche Selbstorganisation, die Kontrolle des Arbeitsmarktes und die Qualität der Waren organisieren wollten. Aber das ist eine andere Geschichte.74
73 F. W. Henning, Die Einführung der Gewerbe freiheit und ihre Auswirkungen auf das Handwerk in Deutschland, in: W.Abel u.a. (Hg.), Handwerksgeschichte in neuer Sicht, Göttingen 1978, S 142-172; K. H.Kaufhold, Gewerbefreiheit und gewerbliche Entwicklung im 19. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, Jg. 118, 1982, S. 73-114. 74 Zu den unterschiedlichen »responses« auf diese »challenges« s. Haupt u. Crossick, Kleinbürger, passim.
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REINHOLD REITH
Zünfte im Süden des Alten Reiches: Politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte
Da die Zunft in der deutschen Geschichtswissenschaft kaum thematisiert wird, scheint es notwendig, die Grundannahmen der älteren Forschung und deren historiographisches Fortleben zunächst zu explizieren, auch in der Hoffnung, aus der historiographischen Perspektive eine Neuorientierung bzw. neue Fragestellungen entwickeln zu können. 1 Obgleich die frühe Neuzeit, besonders das 17. und 18. Jahrhundert, nicht zu den bevorzugten Forschungsgebieten der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie gehörte, hatte sie doch auf die Gewerbegeschichte einen ganz erheblichen Einfluss. Die Historische Schule hat maßgeblichen Anteil an der Durchsetzung der »Chronologie« der Zunft: Die Zeit vom 12. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts sah sie als eine Periode der Entwicklung und der Blüte des Zunftwesens, die Zeit vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts dagegen als eine Periode des Verfalls und der Entartung - eine Periode, die daher für die historische Analyse wenig aufregende Ergebnisse versprach.2 Charakteristisch dafür ist die einflussreiche Sicht Gustav Schmollers. In seiner »Geschichte der deutschen Kleingewerbe« charakterisierte er rückblickend die Situation am Ende des 18. Jahrhunderts folgendermaßen: »Das Gewerberecht war ausgeartet in den verrottetsten Zopf. Missbräuche aller Art wucherten. Vergeblich suchten Reichs- und Landesgesetzgebung dagegen anzukämpfen. Vergeblich war alles, weil Stumpfsinn und Apathie, kleinlicher Spießbürgergeist und beschränkte Indolenz überall herrschten. Ein großer Teil der Handwerker, auch der städtischen, war zu Halbbauern herabgesunken. Die ökonomische Lage der meisten Handwerker war ebenso kümmerlich als ihre 1 O. G. Oexle, Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, Jg. 118, 1982, S. 1-59, bes. S. 1-7. 2 Vgl. dazu J . Ehmer, Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Handwerk und Zunft, in: F. Lenger (Hg.), Handwerk, Hausindustrie und die Historische Schule der Nationalökonomie, Bielefeld 1997, S. 19-77.
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Technik unvollendet, ihre Arbeit schlecht. Überall treffen wir gleichmäßig Klagen über gewerblichen Notstand. Vom Lehrling zum Meister im alten Schneiderhandwerk Oberösterreichs (vom Mittelalter bis zur Gewerbeordnung 1859), Linz 1984. Vgl. aber auch schon Thiel, Regesten. 8 Ein Beispiel dafür ist die ewig wiederkehrende Gliederung in »Lehrling-Geselle-Meister«, die den Blick auf Zwischen- und Übergangs formen bzw. auf Bruchzonen in handwerklichen Lebensläufen - die durchaus auch in Zunftordnungen thematisiert werden - von vornherein ausschließt. 9 Vgl. zu diesen Forschungsfeldern etwa M.Mitterauer, Zur familienbetrieblichen Struktur im zünftischen Handwerk, in H.Knittler (Hg.), Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge. Festschrift für Alfred Hoffmann zum 75. Geburtstag, Wien 1979, S. 190-219; G.Jaritz u. A. Müller (Hg.), Migration in der Feudalgesellschaft, Frankfurt/New York 1988; S. Hahn, Große Hallen - Enge Räume. Handwerk, Industrie und Arbeiterschaft in Wiener Neustadt im 18. und 19. Jahrhundert, in: dies., W. Maderthaner u. G. Sprengnagl, Aufbruch in der Provinz. Niederösterreichische Arbeiter im 19. Jahrhundert, Wien 1989, S. 7-152; Ehimer, Traditionen; A. Müller, Machtpositionen und Ordnungen. Zwei oder drei Bausteine zu einer Sozialgeschichte von Wiener Neustadt im Spätmittelalter, in: S. Hahn u. K. Flanner (Hg.), Die Wienerische Neustadt. Handwerk, Handel und Militär in der Steinfeldstadt, Wien 1994, S. 425-470. 10 Einen Ansatz dazu bietet die Habilitationsschrift von R. Reith, Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450-1900, Stuttgart 1999.
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wenn die empirischen Grundlagen dafür nicht immer als ausreichend erscheinen. 11 Auf diese Weise soll versucht werden, eine Institutionengeschichte der Zünfte zumindest ansatzweise mit einer Sozialgeschichte der Handwerker zu verknüpfen.
1. Die Ausbreitung des Zunftwesens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Die Entwicklung der Zahl der Zünfte in den österreichischen Ländern kann einen ersten Hinweis auf die Dynamik des Zunftwesens in der frühen Neuzeit geben. Sie ist allerdings nur annähernd zu erfassen. Vom 13. Jahrhundert an verweisen vielfältige Quellen auf die Existenz von Zünften, aber es gab keine umfassenden Zählungen vor der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für Wien richtete sich ein herzoglicher Brief aus dem Jahre 1470 an 45 Zünfte; die Handwerksordnung Ferdinands I. (1527) führte 66 Zünfte an; und die staatlichen Gewerbestatistiken der 1820er Jahre nennen 150.12 Diese Zahlen beziehen sich auf die »bürgerlichen« Zünfte Wiens. Zu allen Zeiten gab es aber auch gewerbliche Korporationen, deren Mitglieder nicht notwendigerweise das Bürgerrecht besaßen. Ein Überblick über die Ausbreitung des Zunftwesens kann aus der Zahl der Handwerksordnungen gewonnen werden, die in Österreich in großen Mengen und in weiter regionaler und branchenmäßiger Streuung über die frühe Neuzeit hinweg überliefert sind. Natürlich stellt die Zahl der Handwerksordnungen keine präzise Maßzahl dar, sondern nur einen ungefähren Indikator. Sie spiegelt die frühneuzeitlichen Prozesse der Verschriftlichung und Verrechtlichung und ist abhängig von den Zufällen der archivalischen Überlieferung. 13 Systematische Versuche zur Erfassungen aller überlieferten Zunftordnungen liegen für Wien, Niederösterreich und Oberösterreich vor.14 Sie
11 Wesentliche Anregungen in diese Richtung verdanke ich dem Forschungsprojekt »Stabilität und Mobilität im Wiener Zunfthandwerk, 1740-1860« (gefördert vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung P 10807-Soz). Mein Dank gilt den Projektmitarbeitern Heinz Berger, Annemarie Steidl und Sigrid Wadauer. 12 Thiel, Handwerkerordnung; Baryli, Gewerbepolitik; Otruba, Wiens Gewerbe. 13 Ausführlicher dazu J . Ehmer, Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Handwerk und Zunft, in: F. Lenger (Hg.), Handwerk, Hausindustrie und die Historische Schule der Nationalökonomie. Wissenschafts- und gewerbegeschichtliche Perspektiven, Bielefeld 1998, S. 19-77. Auf Zünfte ohne schriftliche Ordnungen verweist G. Grüll, Die Linzer Handwerkszünfte im Jahre 1655, in: Jahrbuch der Stadt Linz 1952, Linz 1953, S. 261-296. 14 Diese Zusammenstellungen beruhen überwiegend auf Arbeiten bzw. Anregungen Gustav Otrubas seit den 1950er Jahren; vgl. Ouruba, Berufsstruktur; ders., Wiens Gewerbe; Schwarzlmüller. Lehrling.
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umfassen sowohl erstmals schriftlich fixierte O r d n u n g e n als auch Änderungen, Modifikationen oder bloße Bestätigungen von bereits bestehenden O r d n u n gen. Ihre zahlenmäßige Entwicklung zeigt einen deutlichen Trend.
Tabelle 1: Zahl der überlieferten Zunftordnungen für Wien, Niederösterreich und Oberösterreich, 14.-18. Jahrhundert Wien
(1)
Niederösterreich
Oberösterreich
Geltungsbereich
Geltungsbereich
lokal
regional
lokal
regional
(2)
(3)
(4)
(5)
zusammen
in Prozent in Prozent in Prozent in Prozent in Prozent in Prozent 14. Jh.
4,5
1.4
15. Jh.
15,5
5,5
16. Jh.
6,2
17. Jh.
N
0,4
-
1,3
39
0,7
5,1
0,4
5,9
176
10,6
3,6
23,3
14,7
13,1
388
42,6
39,5
41,6
49,4
48,2
43,4
1.291
18. Jh.
31,2
43,0
54,1
21,8
36,6
36,3
1.078
zusammen
100.0
100.0
100.0
100.0
100.0
100.0
401
1.266
281
800
224
N=
-
2.972
Anmerkungen: (1) Die Gesamtzahl von 401 Wiener Zunftordnungen umfasst insgesamt 205 Zünfte. Die in der Handwerkerordnung Ferdinands I. von 1527 enthaltenen Bestimmungen für insgesamt 71 Zünfte (davon 66 bürgerliche) wurden nicht in die Tabelle aufgenommen. In der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhielten 79 Wiener Zünfte Ordnungen mit überregionalem Geltungsbereich, der meist ganz Niederösterreich, in einzelnen Fällen auch Oberösterreich umfasste. In diesen Fällen gibt es Überschneidungen mit den in Spalten 3 und 5 enthaltenen Ordnungen. (2) Die 1.266 Ordnungen regelten die Bedingungen in 555 Zünften, in denen 53 Berufsgruppen in Städten, Marktorten und Dörfern organisiert waren. Am häufigsten vertreten sind Schneider (lokale Zünfte bestanden in 67 Orten), Schuhmacher (63 lokale Zünfte), Müller (41), Weber (35), Bäcker (28) und Schmiede, Fleischhauer, Faßbinder und Tischler (jeweils 27 lokale Zünfte). (3) Die Gesamtzahl von 281 Ordnungen bezieht sich auf 143 Zünfte, in denen 154 Berufsgruppen organisiert waren. Einige Zünfte umfassten ganz Niederösterreich, zum Teil einschließlich Wiens, andere bezogen ein oder mehrere Landesviertel ein. (4) Schwarzlmüller (1979), 1, nennt eine Gesamtzahl von 1.040 oberösterreichi91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
schen Ordnungen, einschließlich von Dienstbotenordnungen, die in Spalten 4 und 5 nicht aufgenommen wurden. (5) Von den 224 überregionalen oberösterreichischen Ordnungen hatten 154 einen landesweiten Geltungsbereich, 46 gingen über die Landesgrenzen hinaus, 24 umfassten nur Teile des Landes. Quellen: G. Otruba, Berufsstruktur und Berufslautbahn vor der industriellen Revolution, (= Der niederösterreichische Arbeiter, H. 4, Teil II), Wien 1952; ders., Wiens Gewerbe, Zünfte und Manufakturen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Wiener Geschichtsblätter, Jg. 42, 1987, S. 113-150; J . Schwarzlmüller, Die Berufslaufbahn Lehrling-Geselle-Meister in den Handwerkszünften Oberösterreichs, Wien 1979,213-237.
Sowohl in Wien, als auch in den kleineren Städten und auf dem flachen Land Nieder- und Oberösterreichs fällt die große Masse der O r d n u n g e n in das 17. und 18. Jahrhundert. Die handwerksgeschichtliche Literatur für andere österreichische Länder fügt sich gut in dieses Bild. 15 Wie kritisch i m m e r man auch d e m verwendeten Indikator gegenübersteht: Er lässt meines Erachtens keinen Zweifel daran, dass das Zunftwesen in Österreich nicht in erster Linie ein mittelalterliches, sondern ein neuzeitliches P h ä n o m e n gewesen ist. Gustav Schmollers Befund, dass im brandenburgisch-preußischen Innungswesen die N e u b i l d u n g von städtischen Zünften bis »tief ins l 6 . J a bis ins 17. Jahrhundert« reiche und insgesamt das »städtische Innungsrecht ... seine definitive Ausbildung, zumal im Osten, erst u m diese Zeit« erhalten habe, 1 6 wird man für die österreichischen Länder auf das 17. und 18. J a h r h u n d e r t beziehen m ü s s e n . Diese Tendenz w i r d verstärkt durch die Ausbreitung des Zunftwesens auf das flache Land und die Entstehung eines landesweiten und flächendeckenden Zunftsystems, die ebenfalls in diese Periode fielen.17 In W i e n w u r d e n i m 18. J a h r h u n d e r t Zünfte in sehr unterschiedlichen B r a n chen gegründet: unter den Seidenstrumpfwirkern (1707), den S e i d e n z e u g machern (1710), den Fleischselchern (1733), die sich von den Fleischhauern abgespaltet hatten, den Schleier- und D ü n n t u c h m a c h e r n (1731), den »Ciocoll a d ä - M a c h e r n « ( 1 7 4 4 ) , den U h r g e h ä u s e m a c h e r n (1765) und in a n d e r e n mehr. 1 8 Im 18. J a h r h u n d e r t waren in Wien nicht n u r die H a n d w e r k e r d e r P r o duktions- und Dienstleistungsgewerbe in Zünften organisiert, sondern auch 15 Vgl. Dinklage, Arbeiterschaft; Otruba u. Sagoschen, Gerberzünfte; und viele andere. 16 G. Schmoller, Das brandenburgisch-preußische Innungswesen von 1604-1806, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Jg. 1, 1888, S. 57-109, 325-383, hier 59. 17 Zur räumlichen Struktur des österreichischen Zunftwesens vgl. Kapitel 4. 18 Wiener Stadt- und Landesarchiv (Hg.), Innungen. Archivinventar Serie 2, Heft 2, Wien 1987. In der Steiermark gründeten etwa die Bierbrauer 1720 ihre erste Zunft; vgl. Das steirische Handwerk, S. 522.
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Kaufleute und Händler. Sogar die Tandler (Trödler) in den Vorstädten und in der Stadt hatten 1748 bzw. 1761 eigene Zünfte gegründet. Die große Zunft der Fragner (Greißler) bestand spätestens vom 17. Jahrhundert an und durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch, und dasselbe trifft zu für die kleineren Gewerbe der Bierversilberer, Erbsenhändler, Fischkäufler, Wachshändler und vieler anderer mehr. Auf einer höheren Ebene des Handels organisierte die »Bruderschaft der Handelsleuth und Kramer« zumindest seit dem 17. Jahrhundert die einheimischen Groß- und Kleinhändler. 1713 erschien sie als »Bruderschaft der bgl. Handelsleut«, im späten 18. Jahrhundert als »bürgerlicher Handelsstand«, der vor allem Fernhändler, Rohstofïhändler, Buchhändler und Verlagskaufleute der Textilbranche (Seidenzeughändler, Leinwandhändler, Tuchlaubensverwandte) umfasste.19 Über ihnen standen die - meist ausländischen - k.k. privilegierten »Niederlags-Verwandten«: große, international tätige Bankiers, Geldwechsler, Fernhändler usw. Auch diese Gruppe bildete eine Korporation, deren Privilegien zuletzt 1759 erneuert wurden. 1774 schuf ein Regierungsdekret ein neues, quer zu den traditionellen Korporationen stehendes »Gremium des Großhandels«, das alle Kaufleute ab einem Mindestkapital von 30.000 fl. zusammenfasste.20 Insgesamt bestanden im Jahre 1820 in Wien 150 »bürgerliche Zünfte«, sechs »privilegierte Gremien« und drei »unbürgerliche Innungen« (Geräteltrager, Schmalzversilberer und Bierversilberer, die zu freien Gewerben erklärt worden waren, sich als Innungen aber nicht aufgelöst hatten).21 Der Anstoß zur Bildung einer Zunft ging, soweit das aus den Quellen ersichtlich ist, stets von Handwerkern selbst aus. Warum sie das taten, und wer von ihnen sich daran beteiligte, sind aber Fragen, zu denen es nur wenige empirische Untersuchungen gibt.22 Das trifft für die Zunftgeschichtsschreibung insgesamt zu, und ist kein spezifisches Problem der österreichischen Handwerksgeschichte. Wie es scheint, gewannen Zünfte aber gerade in der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert an Bedeutung. In einer Periode starker wirtschaftlicher und sozialer Dynamik wurde es vielleicht wichtiger, einer anerkannten Gruppe oder Institution anzugehören und einen eindeutigen Platz in der ständischen Gesellschaft einzunehmen. Sicherlich gewann gerade in der 19 M. Seliger u. K. Ueakar, Wien. Politische Geschichte 1740-1934, Bd. 1, 1740-1895, (= Geschichte der Stadt Wien, Bd. 1), Wien 1985, S. 101; M. Fuhrmann, Historische Beschreibung und kurz gefaßte Nachricht von der Röm. K.u.K. Residenz-Stadt Wien und ihrer Vorstädte, Bd. 1, Wien 1766, S. 531 ff 20 Seliger u. Ucakar, Wien, ebd. 21 Wiener Stadt- und Landesarchiv (Hg.), Innungen. Archivinventar Serie 2, Heft 2, Wien 1987. Baryli, Gewerbepolitik, S. 17. 22 Vgl. etwa zur Gründung der Zunft der Wiener »kuchlgörtner« (1676) F. Baltzarek, Wirtschafts- und Rechtsprobleme um eine neue Wiener Zunftlade am Ausgang des 17. Jahrhunderts, in: Wiener Geschichtsblätter, Jg. 25, 1970, H. 1, S. 18-22; zur Gründung der Zunft der Wiener Seidenzeugmacher (1710) M. Bucek, Geschichte der Seidenfabrikanten Wiens im 18. Jahrhundert (1710-1792), Diss. Wien 1968, S. 5ff
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katholischen Gegenreformation die kollektive Repräsentation in den so zahlreichen Prozessionen und Wallfahrten an Gewicht. Und letztlich forderte auch das politische System des österreichischen Absolutismus, das sich im 17. Jahrhundert herauszubilden begann und in der Regierungszeit Maria Theresias (1740-1780) seinen Höhepunkt erreichte, korporatistische Interessensvertretungen. Dieses System beruhte auf dem Bestreben, die Interessen des Herrschers und der zentralen staatlichen Behörden mit denen einzelner Stände, regionaler und lokaler Gruppen in eine gewisse Abstimmung zu bringen. Im österreichischen Regierungssystem wurde die Kabinettspolitik der Landesfursten mit der Einholung und Diskussion von Gutachten, dem Austausch von Denkschriften etc. verbunden. Vermutlich hat dieses System die Bedeutung von Korporationen erhöht, die dazu legitimiert waren - und Behörden forderten sie sogar explizit dazu auf-, ihre Meinungen zu äußern und ihre Sichtweise der Dinge darzustellen. Die Beamtenschaft und mitunter auch der Herrscher klagten zwar immer wieder über die »bloß auf ihren Privatnutzen« orientierten Zünfte, berücksichtigten ihre Argumente und Interessen aber doch so weit als möglich. 23 Zur Bezeichnung der Zünfte waren mehrere Begriffe verbreitet, die nach dem gegenwärtigen Forschungsstand als Synonyme erscheinen: »Bruderschaft«, »Mittel«, »Zeche«, »Handwerk« oder »Innung«. Mit der ebenfalls gebräuchlichen (lateinischen) Bezeichnung »Gremium« bezeichnete man nichtbürgerlich-privilegierte Korporationen, die nach dem Muster der Zünfte aufgebaut waren. Ein Gremium bildeten seit dem 17. Jahrhundert die »befreiten Niederläger« (Bankiers und Großhändler), die 1774 im »Gremium des Großhandels« aufgingen. U m 1800 bestanden »Gremien« der Buchdrucker, Buchhändler, Kunsthändler, k.k. landesbefugten und sonstig befugten Seidenzeugmacher sowie der Seidenbandmacher auf Mühlstühlen. Als »Gremium« bezeichneten sich aber auch einige Zünfte, die damit vielleicht eine gewisse Distinktion zur Masse der Handwerker ausdrücken wollten: die Bader und Barbiere, die 1773 zum »Gremium der Chirurgen und Wundärzte« vereinigt wurden, die Apotheker und der »bgl. Handelsstand.« Der Begriff »Zunft« war im amtlichen Sprachgebrauch durchaus vorhanden, etwa in der Gewerbegesetzgebung, wurde aber zur Selbstbezeichnung handwerklicher Korporationen in Österreich eher selten benützt.
23 Zit. bei J . Gugitz, Der Aufstand der Zeugmachergesellen im Jahr 1792, in: ders. u. C. Blümmel, Von Leuten und Zeiten. Ansichten aus dem alten Wien, Wien 1922, S. 160.
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2. Die soziale Reichweite des Zunftwesens Im Lauf der frühen Neuzeit bildete eine zunehmend große Zahl von Branchen und Berufsgruppen mithin Zünfte. Wie groß war der Anteil der zünftig organisierten Berufe aber tatsächlich? Viktor Thiel stellte für Wien aus den verschiedensten Quellen eine von 1527 bis 1740 reichende Liste von knapp 400 »Berufsarten« zusammen, von denen nur rund die Hälfte mit Sicherheit zünftig organisiert waren. 24 In einer derart großen Zahl von Berufen kommt sicherlich die differenzierte Wirtschaftsstruktur der Metropole zum Ausdruck. Die »Seelenbeschreibung« der landesfürstlichen Stadt Gmunden von 1762 fuhrt dagegen nur 47 handwerkliche Berufe auf; für alle von ihnen waren Zünfte zumindest vorhanden. 25 Ebenso schwierig zu beantworten ist die Frage nach dem »Organisationsgrad« der Zünfte. Erfassten sie relevante Anteile der selbständig Erwerbstätigen einzelner Branchen oder des gesamten Produktions- und Dienstleistungssektors? Eine Annäherung soll im folgenden über das Verhältnis der Selbständigen zur Gesamtbevölkerung einiger österreichischer Städte versucht werden. Die in Tabelle 2 aus verschiedenen Quellen zusammengestellten Daten - d i e gerade bei den Bevölkerungszahlen auf mehr oder minder zuverlässigen Schätzungen beruhen - zeigen ein erstaunlich einheitliches Bild. Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert scheinen in kleineren wie in größeren Städten rund 60 bis 70 selbständige Gewerbetreibende auf 1.000 Einwohner entfallen zu sein, auf dem Lande etwas weniger. Vielleicht stellt dieser Wert so etwas wie einen wirtschaftlichen »Sättigungsgrad« an Selbständigen bzw. Handwerksbetrieben dar. Natürlich repräsentiert er nicht das gesamte kleingewerbliche Arbeitspotential. Zu den in der Tabelle enthaltenen Meistern kommen Lehrlinge, Gesellen, mitarbeitende Frauen usw., die einem flexiblen und fluktuierenden Arbeitsmarkt angehörten, der in Großstädten wesentlich stärker ausgeprägt war als in Kleinstädten oder Dörfern. Wenn man versucht, den Anteil der zünftigen Meister an der Gesamtheit der Selbständigen zu ermitteln, dann fällt der große Unterschied zwischen Wien und den kleineren Städten ins Auge. Die in Tabelle 2 benützten Quellen lassen mit aller gebotenen Vorsicht die Hypothese zu, dass das Zunftwesen am ehesten in den kleinen Städten flächendeckend war und zumindest die große Mehrzahl der selbständigen Gewerbetreibenden erfasste. In Wien scheint dagegen im 17. und 18. Jahrhundert bestenfalls ein Drittel der Handwerker zünftig organisiert gewesen zu sein. Darauf deutet vor allem die detaillierte Erhebung aus dem Jahr 1736 hin, die für Wien das breite Spektrum der legalen und illegalen Möglichkeiten zur Ausübung eines Gewerbes zeigt. 24 Thiel, Gewerbe, S. 426. 25 Vgl. J . Ehmer, Arbeitswelt im Handwerk, in: Arbeit/Menseh/Maschine. Katalog zur oberösterreichischen Landesausstellung in Steyr 1987, Linz 1987.
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Tabelle 2: Zahl und Anteil der Gewerbetreibenden und der Zunftmeister in österreichischen Städten Anzahl der selbständigen Gewerbetreibenden Gesamtzahl
(1)
Anteil der Zunftmeister an der Gesamtzahl (%)
pro 1.000 Einwohner (2)
(3)
Wiener Neustadt 1645 1742 1769
187 258 298
62 64 61
100? 100? 100?
Gmunden 1762
121
66
100?
5.679 10.829 20.488 28.028
67 67 67 68
30 31
1.455
62
32.439
33
Wien 1673 1736 1828 1847 Linz 1824 Niederösterreich (ohne Wien) 1834
Anmerkungen: (1) Die Zahl der Selbständigen für Wiener Neustadt beruht auf Nachweisen der Zünfte und umfasst nur »bürgerliche Meister«. Die Gmundner Daten entstammen einer kirchlichen Volkszählung (»Seelenbeschreibung«) und sollten ebenfalls alle zünftigen Meister umfassen. Für Wien 1673 ermittelte Johann Joachim Becher 1.679 »bürgerliche Meister«. Die zusätzliche Anzahl der »Störer« schätzte er auf 4.000 (zusammen also 5.679). Die Wiener Zählung von l736 erfasste alle selbständigen Handwerker unabhängig von ihrem Rechtstitel und wies die zünftigen Meister als eigene Gruppe in der Stärke von 3.345 aus (vgl. dazu Tabelle 3.). Auch die Zählungen des 19. Jahrhunderts erfassten alle Selbständigen unabhängig von ihrem Rechtstitel, selbst wenn sie auf Angaben der Zünfte beruhen. (2) Die der Berechnung zugrunde gelegten Bevölkerungszahlen beruhen für Wiener Neustadt und Wien im 17. und 18. Jh. auf Schätzungen nach den nächstliegenden Zählungen (z.B.: Wien 1673: 85.000 Einwohner; Wien 1736: 160.000 Einwohner). Die Zahlen für Gmunden 1762 und für das 19. Jahrhundert beruhen auf Zählungsergebnissen für diese Jahre. (3) In den Zählungen für Wiener Neustadt und Gmunden wurden nur »bürgerliche Meister« ausgewiesen, die damit die Gesamtheit der Selbständigen repräsentieren soll-
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ten. Die Angaben für Wien 1673 beruhen auf den Schätzungen Bechers. Eine genaue Gliederung liegt nur für Wien 1736 vor (vgl. Tabelle 3). Die Gewerbestatistiken des 19. Jahrhunderts lassen keine Unterscheidung zwischen zünftigen und unzünftigen Handwerkern zu. Quellen: J . Ehmer, Ökonomischer und sozialer Strukturwandel im Wiener Handwerk - von der industriellen Revolution zur Hochindustrialisierung, in: U. Engelhardt (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung, Stuttgart 1984, S. 78-104; ders., Vom »alten Handwerk« zum Kleingewerbe. Sozialer und ökonomischer Strukturwandel der kleinen Warenproduktion in Wiener Neustadt, in: S. Hahn u. K. Flanner (Hg.), Die Wienerische Neustadt. Handwerk, Handel und Militär in der Steinfeldstadt, Wien 1994, S. 339-367, hier 322; V Thiel, Gewerbe und Industrie, in: Alterthumsverein zu Wien (Hg.), Geschichte der Stadt Wien, Bd. IV (Alte Folge), Wien 1911, S. 411-523, hier 417; M. Adler, Die Anfänge der merkantilistischen Gewerbepolitik in Österreich ( = Wiener Staatswissenschaftliche Studien, Bd. 4, H. 3), Wien 1903, S. 16, S. 82 ff.; Statistische Tafeln 1834.
Tabelle 3:
»Summarium aller Mitte Juni 1736 in und vor der Stadt Wien befindlichen Professionisten und Gewerbsleute« Rechtstitel Bürgerl. Meister Dekretisten Störer Hofbefreite Militärhandwerker zusammen
Gesamtzahl
Anteil (%)
3.345 3.126 2.941 301 1.116
31 29 27 3 10
10.829
100
Anmerkung: Die Tabelle enthält nur jene Gewerbe, in denen Dekretisten und Störer tatsächlich vorhanden und von den Obrigkeiten in »Dekretisten- und Störerlisten« erfasst worden waren. Thiel (1911), 430, schätzt die tatsächliche Zahl der selbständigen Gewerbetreibenden in Wien auf etwa 12.000. Dies würde die Zahl der Selbständigen pro 1.000 Einwohner (bei geschätzten 160.000 Einwohnern) auf 75 erhöhen. Zur kritischen Diskussion der Daten vgl. auch M. Adler, Die Anfänge der merkantilistischen Gewerbepolitik in Österreich ( = Wiener Staatswissenschaftliche Studien, Bd. 4, H. 3), Wien 1903, S. 82 ff. Die Originalquelle ist beim Justizpalastbrand des Jahres 1927 so stark beschädigt worden, dass sie nicht mehr ausgewertet werden kann. Quelle: V Thiel, Gewerbe und Industrie, in: Alterthumsverein zu Wien (Hg.), Geschichte der Stadt Wien, Bd. IV (Alte Folge), Wien 1911, S. 411-523, hier 430.
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Neben der Zugehörigkeit zu einer Zunft gab es seit dem späten 16. Jahrhundert eine Reihe anderer Rechtstitel für die legale Ausübung eines Gewerbes, die besonders in Wien stark ins Gewicht fielen. Seit 1572 war es »hofbefreiten« Handwerkern gestattet, sich ohne Bürger- und Meisterrecht in der Stadt niederzulassen. Offiziell sollten sie nur für den kaiserlichen Hof arbeiten, aber de facto boten sie ihre Leistungen einem breiten Publikum an. Obwohl Freibriefe individuell verliehen wurden, schlossen sich auch die Hofbefreiten zu Korporationen zusammen, die dem Obersthofmarschall untergeordnet waren und in Struktur sowie Ordnung völlig den bürgerlichen Zünften entsprachen. Die Wiener »Leib- und Hofschuster« erhielten ihre erste Zunftordnung 1589, die »Leibhosen- und Hofschneider« 1605, die »hofbefreiten Drechsler« 1725.26 Eine zweite, größere Gruppe bildeten die Angehörigen der 1531 gegründeten städtischen Wache, der »Stadtguardia«, die im Nebenberuf ein Handwerk ausübten.27 Dazu kamen seit dem späten 17. Jahrhundert individuelle »privilegia privativa«, »Schutzbefugnisse« oder »Dekrete«, die Handwerkern gegen Bezahlung einer Taxe die nichtzünftige Gewerbeausübung erlaubten.28 Daneben gab es in Wien eine beträchtliche Anzahl von »Störern«, die ohne jegliche Gewerbeberechtigung arbeiteten und im großen und ganzen toleriert oder zumindest nicht effektiv verfolgt wurden. Ein Teil von ihnen arbeitete für Angehörige des Herrscherhauses, für andere Adelige oder für Klöster.29 Nach der Erhebung von 1736 war weniger als ein Drittel der selbständigen Wiener Handels- und Gewerbetreibenden in einer »bürgerlichen Innung« organisiert. Mehr als 40 Prozent übten ihr Gewerbe unter einem anderen Rechtstitel aus, und immerhin 27 Prozent standen als »Störer« außerhalb jeder rechtlichen Sicherung. Die Unterschiede zwischen den Branchen waren enorm. Nach der Wiener Zählung von 1736 waren tatsächlich alle Apotheker zünftig organisiert, von den Maurer- und Zimmermeistern 70 bis 75%, von den Bäckern immerhin noch zwei Drittel. In anderen Gewerben bildeten die »bürgerlichen Meister« dagegen eine kleine Minderheit der Selbständigen. In den Massengewerben der Schneider, Schuster oder Schlosser lag ihr Anteil bei rund einem Viertel, bei Webern, Tischlern und in einigen anderen Gewerben nur mehr bei rund 15 Prozent.30 Die soziale Reichweite und der Organisationsgrad
26 Thiel, Gewerbe, S. 418 ff.; C. Steiner-Durdik, Die Bader und Barbiere (Wundärzte) in Wien zur Zeit Maria Theresias (1740-1780), Wien 1975, S. 53 ff.; als Bespiele für Zunftordnungen von Hofbefreiten vgl. Thiel Regesten, 81, 83, 86, 90, etc. 27 Zur Stadtguardia vgl. A. Veltze, Die Wiener Stadtguardia (1531-1741) (= Berichte und Mitteilungen des Alterthumsvereins zu Wien, Bde. 36 u. 37), Wien 1902. 28 Adler, Anfänge, S. 58. 29 Vgl. dazu Thiel, Gewerbe, S. 418; Adler, Anfänge, S. 68-70. Offensichtlich führten Zünfte und Behörden sogenannte »Störerlisten«, auf denen nichtzünftige Gewerbetreibende eingetragen waren; vgl. Adler, Anfänge, S. 67 ff. 30 Berechnet nach Thiel, Gewerbe, S. 432 ff; vgl. auch M. Wagner, Kleingewerbe und Hand-
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der Zünfte müssen also - trotz der allgemeinen Ausdehnung des Zunftwesens - differenziert beurteilt werden. Auch wenn viele Zünfte vor allem der großstädtischen Massengewerbe nur eine Minderheit der Selbständigen organisierten, blieben die oben angeführten Vorteile einer Zunftzugehörigkeit doch im großen und ganzen erhalten. Einen wesentlichen zusätzlichen Vorteil bot die legale zünftige Gewerbeberechtigung dort, wo sie sich zu einem sogenannten »Realgewerbe« entwickelt hatte. Bis in das frühe 18. Jahrhundert bemühten sich viele vor allem großstädtische Zünfte darum, die Anzahl der Meisterstellen festzuschreiben und von der Entwicklung der tatsächlichen Zahl der Selbständigen abzukoppeln. Wo ihnen das gelang wurden die Gewerbeberechtigungen selbst zu einem Tauschwert oder zu einer »Realie«. Man konnte sie verkaufen und kaufen, vererben und belehnen etc., bei den reichen und angesehenen Gewerben für enorme Beträge.31 Die staatlichen Behörden waren über diese Entwicklung nicht glücklich, fühlten sich aber doch verpflichtet, das Eigentum an Gewerbeberechtigungen anzuerkennen und zu schützen. Es war klar, dass jede Vermehrung der zünftigen Gewerbeberechtigungen den Wert der bestehenden minderte und eine Aufhebung der Zünfte eine völlige »Revolution der Besitzverhältnisse« bedeutet hätte.32 Das führte etwa dazu, dass 1716 bei einer Anhebung der Zahl der Meisterstellen bei den Wiener Barbieren von 9 auf 12 die drei neuen Meister an die neun alten Meister zusammen 3.600 fl. Entschädigung zu zahlen hatten, um den Wertverlust der bisher bestehenden Gewerbeberechtigungen auszugleichen.33 1778 stellte ein Gutachten der niederösterreichischen Regierung fest, »dass beynahe keine Gattung von Gewerben und Meisterschaften sey, welche nicht hier oder dort als verkäuflich behandelt würden«. Noch 1784 hieß es in einem Regierungsdekret, dass in den Branchen mit Realgewerben individuelle Gewerbeberechtigungen nicht zu ausgiebig verliehen werden sollten, um den Wertverlust der Realgewerbe zu verhindern. 34 Die Zünfte scheinen in diesen Fällen nicht mehr die Organisation einer gesamten Berufsgruppe angestrebt zu werk im 18. Jahrhundert, in: G. Chaloupek, P. Eigner u. ders., Wien -Wirtschaftsgeschichte 17401938, (= Geschichte der Stadt Wien, Bde. 4 u. 5), Wien 1991, S. 171 ff. 31 Vgl. dazu vor allem Pribram, Gewerbepolitik, S. 290 ff., 311 ff, 443 ff Da bei Heiratskontrakten Männer ihre Gewerbeberechtigung häufig als »Widerlage« zum »Heiratsgut« ihrer Frauen einbrachten, konnte die »Profession« nach dem Tod des Mannes auch in den Besitz der Witwe übergehen; vgl. dazu E. Reketzki, Das Rauchfangkehrergewerbe in Wien. Seine Entwicklung vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert, unter Berücksichtigung der übrigen österreichischen Länder, Diss. Wien 1952, S. 160. Zum Preis von Gewerbeberechtigungen vgl. die Wiener Fleischhauer, bei denen 1773 alle 68 in der Stadt und den Vorstädten befindlichen Gewerbe für verkäuflich erklärt und mit 4.000 bis 6.000 fl. bewertet wurden; Fleischhauergenossenschafi Wien (Hg.), 300 Jahre Wiener Fleischhauergenossenschaft 1612-1912, Wien 1912, S. 33. 32 Seliger u. Ucakar, Wien, S. 91. 33 Steiner-Durdik, Bader, S. 9. 34 Seliger u. Ucakar, Wien, S. 107.
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haben, sondern ganz im Gegenteil bemüht gewesen zu sein, die Vorteile der Zunftzugehörigkeit auf eine möglichst kleine Gruppe zu beschränken und den außenstehenden Selbständigen das Feld der halblegalen oder illegalen Gewerbeausübung zu überlassen. 35 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die sozialen Unterschiede auch innerhalb der Zünfte sehr stark ausgeprägt waren, vor allem in der Großstadt Wien im 17. und 18. Jahrhundert. Diese Unterschiede beruhten nicht nur auf der mehr oder weniger erfolgreichen Ausübung des Gewerbes, sondern in hohem Maß auf dem Besitz und den Erträgen von Weingärten und Häusern, die von den Zunftmeistern ererbt oder erheiratet worden waren. Der Status eines »bürgerlichen Meisters« allein schützte nicht vor sozialem Abstieg oder Verarmung. 36
3. Die räumlichen Strukturen des österreichischen Zunftwesens In den Zünften des späten Mittelalters organisierten sich in der Regel die Handwerker einzelner Städte. Im 15. Jahrhundert begegnet man in den österreichischen Ländern gelegentlich Zusammenschlüssen von Handwerkern mehrerer Städte, wie das im deutschen Südwesten schon im 14. Jahrhundert üblich geworden war.37 Wiener Handwerksordnungen dienten immer wieder als Vorbild für die Handwerker kleinerer Städte. Daneben bestanden großräumige Kommunikationsnetze, in denen die Zünfte bestimmter Städte eine hervorgehobene Rolle einnahmen. Sie prägten die überregional geltenden Normen und beanspruchten die Kompetenz zur Klärung komplexer Streitfragen. Die Gesellenordnung der Wiener Lederer von 1546 definierte etwa Wien und Breslau als Hauptorte des Handwerks. 38 Was dort »des handwerchs halben verricht wird, das soll alienhalben verricht sein«. Die rituelle Aufnahme in den Gesellenverband, die »Taufe«, könne nur in diesen beiden Städten erfolgen.39 Im 17. und 18. Jahrhundert finden sich immer wieder Hinweise, wonach sich österreichische Zünfte als Bestandteil eines »reichszünftigen« Systems betrachteten und sich in strittigen Fragen mit den deutschen Hauptorten ihres Gewer35 Dies schließt natürlich keineswegs aus, dass diese Zünfte in ihrer Rhetorik und gelegentlich mit realen Maßnahmen gegen Dekreter oder Störer auftraten, um auf diese Weise ihre Vormachtstellung zu symbolisieren und zu reproduzieren. 36 Vgl. dazu Zatschek, Wiener Handwerk; H. Bräuer, Verarmungsprozesse im mitteleuropäischen Handwerk während der frühen Neuzeit, in: »Isten áldja a tisztes ipart«. Tanulmányok Domonkos Ottó tiszteletére (Festschrift für Ottó Domonkos), Sopron 1998, S. 7-18. 37 Vgl. dazu R. Wissell, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, hg. v. E Schraepler, Bd. 7, Berlin 19742, S. 59 ff.; Beispiele für Österreich ebd, S. 74 ff. 38 H. Uhl, Handwerk und Zünfte in Eferding. Materialien zum grundherrschaftlichen Zunfttypus (= Fontes Rerum Austriacarum III, Fontes Iuris III), Wien 1973, S. 121. 39 In Regestenform wiedergegeben bei Thiel, Regesten, S. 74 ff.
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bes ins Einvernehmen setzten. 40 Bei ihren Reformbestrebungen waren die österreichischen Regierungsbehörden noch in den 1770er Jahren darauf bedacht, Maßnahmen zu vermeiden, welche die österreichischen Zünfte von den »Reichszünften« hätten isolieren können. 41 Auch die Zünfte der österreichischen Länder gehörten also einem ganz Mitteleuropa umfassenden Kommunikationssystem an, das in intensiven Migrationsbeziehungen seinen deutlichsten Ausdruck fand. In Wien bestand die große Mehrheit der Gesellen und der Meister aus Zuwanderern, wobei im 18. Jahrhundert Süd- bzw. Südwestdeutschland als Herkunftsregionen dominierten, während von den 1820er Jahren an Böhmen zum wichtigsten Rekrutierungsgebiet wurde. In den kleineren Städten war die räumliche Rekrutierung der Handwerker weniger einheitlich, aber auch ihre Reproduktion scheint im großen und ganzen auf Zuwanderung beruht zu haben.42 Ein anderes Problem stellen die Beziehungen der städtischen Handwerker zu ihrer ländlichen Umgebung dar. Wie es scheint, richteten sie im späten Mittelalter ihre Anstrengungen darauf, die gewerbliche Produktion auf dem Land einzuschränken - in einem größeren Territorium oder im Bereich einer sogenannten Bannmeile - oder zumindest den Zugang der ländlichen Produzenten zum städtischen Markt zu behindern bzw. zu reglementieren. In vielen Zunftordnungen des 15. Jahrhunderts kommen diese Bestrebungen zum Ausdruck. 43 Vom 16. Jahrhundert an begannen sich allerdings zwei neue Tendenzen abzuzeichnen: Zum einen entstanden immer mehr Zünfte auch in kleinen Marktorten; und zum anderen gingen die städtischen Handwerker daran, die Meister der Marktflecken und Dörfer in ihre Korporationen zu integrieren und damit den städtischen Zunftordnungen Geltung über ein größeres Territorium zu verschaffen.44 Die in Tabelle 1 erfassten Zunftordnungen zeigen, dass zwar 40 Vgl. am Beispiel der Vereinigung der Beutler und der Handschuhmacher 1636 Thiel, Regesten, S. 75 ff.; sowie ders., Gewerbe, S. 421. 41 So etwa in der Diskussion um das Verbot des Gesellenwanderns oder um die Duldung verheirateter Gesellen; vgl. Österreichisches Staatsarchiv/Hofkammerarchiv, Kommerz Nr. 133 N O Fasz. 63/1. Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Reinhold Reith. 42 Vgl. dazu J . Ehmer, Worlds of mobility: migration patterns of Viennese artisans in the eighteenth Century, in: G. Crossick (Hg.), The Artisan and the European Town, 1500-1900, Aldershot, S. 172-199; ders., Tramping artisans in nineteenth Century Vienna, in: D. Siddle (Hg.), Migration, Mobility and Modernisation in Europe, Liverpool 2000, S 164—185.. 43 Vgl. Otruba u. Sagoschen, Gerberzünfte, S. 19; UM, Handwerk, S. 71,115 ff; oder die frühen Wiener Neustädter Ordnungen bei M. Scheute, K. Schmutzer, S. Spevak u. G. Stöger, Wiener Neustädter Handwerksordnungen (1432 bis Mitte des 16. Jahrhunderts), (= Fontes Rerum Austriacarum, Fontes Iuris 13), Wien 1997. 44 Am Beispiel der Grafschaft Eferding sehr genau bei UM, Handwerk, S. 115 ff; am Beispiel der Gerberzünfte in Österreich Otruba u. Sagoschen, Gerberzünfte, insbes. S. 82 ff Im 16. Jahrhundert finden sich auch Versuche, Bannmeile und Integration der Landhandwerker zu kombinieren. Die Schneider der fünf landesfürstlichen Städte Oberösterreichs legten z.B. in einer gemeinsamen Ordnung 1582 fest, dass sich kein Schneider »in ainer Meil weegs« um eine dieser Städte niederlas-
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während der ganzen frühen Neuzeit lokale Korporationen vorherrschten, die Zünfte mit regionalem und überregionalem Geltungsbereich aber insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert an Bedeutung gewannen. Im Lauf der frühen Neuzeit wurde das Zunftsystem in den österreichischen Ländern flächendeckend und erfasste nicht nur das städtische Gewerbe, sondern auch das flache Land. Das Ergebnis dieser Prozesse war eine äußerst komplexe räumliche Struktur des Zunftwesens. Unter den Standorten eines Gewerbes errang jeweils einer die bevorzugte Stellung einer »Hauptlade«, von der die Meister eines größeren Territoriums abhingen. Je nach Gewerbe variierte der Standort und die Größe der einverleibten Regionen. Natürlich spielten Wien, die Landeshauptstädte und die kleineren landesfürstlichen Städte in diesem System eine besondere Rolle und erlangten oft - wenn auch nicht notwendigerweise - die Position einer Hauptlade. Diese räumliche Struktur folgte aber keinem zentralen Plan und keiner zwingenden Logik, sondern war das Resultat vielfältiger und widersprüchlicher Interessen, das sich aber häufig zu Traditionen verfestigte. Eine detaillierte Wiener Neustädter Handwerkerzählung aus dem Jahr 1724 kann diese Vielfalt illustrieren. 45 Die landesfürstliche Stadt Wiener Neustadt, rund 50 km südlich von Wien gelegen, zählte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit rund 4.000 Einwohnern und etwa 250 Handwerksmeistern zu den bedeutenderen österreichischen Städten. 46 Einige wenige Beispiele vermögen das bunte Durcheinander der räumlichen Zugehörigkeiten sichtbar zu machen. Die Bäcker, neun an der Zahl, bildeten eine Hauptlade und inkorporierten je einen weiteren Bäcker aus zwei umliegenden Marktflecken und aus drei Dörfern. Die Glaserzunft bestand aus drei Stadt- und 15 Landmeistern. Auch die fünf Lust- und Blumengärtner bildeten eine Hauptlade, in die allerdings die Meister von 38 umliegenden Orten einverleibt waren. Vier Seifensieder und Lichtzieher fungierten als Hauptlade für sämtliche Städte und Märkte des westlichen Niederösterreich. Ihnen unterstanden sogar die nördlich von Wien gelegenen Mistelbacher und Klosterneuburger Zünfte sowie die »Werkstatt im Freihaus zu Wien auf der Wieden«. Die drei Sattler bildeten eine »Viertellade«, die der Wiener Hauptlade untergeordnet war, inkorporierten aber ihrerseits die »Landmeister« von vier Märkten sowie der »fürstlichen Stadt Eisenstadt in Ungarn«. In einer Reihe von Gewerben hatten die Wiener Neustädter Meister keine eigene lokale Zunft gebildet, sondern gehörten als »Landsen dürfe, die »Geyschneider« außerhalb dieser Meile sich aber in die Zunft der nächstgelegenen Stadt einverleiben lassen sollten (abgedruckt bei Schwarzlmüller, Lehrling, S. 187 ff). 45 Stadtarchiv Wiener Neustadt, CII.24. Zu Oberösterreich vgl. Grüll, Linzer Handwerkszünfte. 46 Vgl. J . Ehmer, Vom »alten Handwerk« zum Kleingewerbe. Sozialer und ökonomischer Strukturwandel der kleinen Warenproduktion in Wiener Neustadt, in: Hahn u. Fíanner ( H g ) , Neustadt, S. 339-367, hier 344.
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meister« direkt der Wiener Hauptlade an. Das betraf etwa den einen Bräumeister und den einen Bürstenbinder, aber auch die drei Gerber, die drei Lederzurichter, die zwei Kammacher und einige andere. Der Hammerschmiedmeister gehörte der Zunft im benachbarten Marktflecken Gutenstein an, der Nagelschmied war im Markt Piesting einverleibt, die zwei »Zischmenmacher« (ungarische Stiefel) in der nahen ungarischen Stadt Eisenstadt, die drei Viehhirten in der »Hauptlad zu Neunkirchen«, und der Klingenschmid und der Schwertschleifer hatten sich gar »zu Passau eingekaufft«. Die Gastwirte, Bierund Weinleutgeben sowie die Branntweiner gaben an, überhaupt keiner Zunft anzugehören. Sie hatten sich vielmehr mit den Lebzeltern, Färbern und dem Rauchfangkehrer in der geistlichen Bruderschaft »Der allerheiligen Dreifaltigkeit« zusammengeschlossen. Innerhalb dieser vielfältigen räumlichen Struktur zeichnet sich in der frühen Neuzeit eine Tendenz zur Bildung von landesweiten oder »Landes-Zünften« ab. Auch diese Entwicklung ging in der Regel auf die Initiative der Meister zurück. Im April des Jahres 1549 versammelten sich, wie in einer Zunftordnung von 1550 erwähnt wird, alle Weber des Landes ob der Enns (dem späteren Oberösterreich) mit dem Ziel, eine Zunft zu bilden, der alle Städte und Märkte des Landes angehören sollten. 1558 kamen in der damaligen Landeshauptstadt St. Veit alle Meister und Gesellen des Kärntner RiemerHandwerks zusammen, um sich eine Ordnung mit landesweitem Geltungsanspruch zu geben. 1612 gründeten die Nagelschmiede der Städte Wien, Krems, St. Pölten, Tyrnau und Preßburg eine Zunft, die ganz Niederösterreich und Ungarn umfassen sollte. 1628 entstand die Landeszunft der oberösterreichischen Bader und Wundärzte, 1705 jene der Salzburger Metzger, um nur einige wenige Beispiele anzuführen. 47 Die Entwicklung von Landeszünften wurde von den Landesherrn gefördert und unterstützt, da sie eine Anpassung des Zunftwesens an die territoriale Gliederung des Staates mit sich brachte und den gewerbepolitischen Einfluss des Landesfürsten auch in Territorien erhöhte, die unter grundherrschaftlicher J u risdiktion standen. Überdies war für überregional organisierte Zünfte die Bestätigung ihrer »Freiheiten« durch Magistrate, Bürgermeister oder kleinere Grundherren nicht mehr ausreichend, und sie suchten die Anerkennung ihrer Ordnungen bei den Landesfürsten, die in den österreichischen Ländern in der Regel die habsburgischen Kaiser waren. Die oberösterreichischen Weber etwa erhielten 1578 die kaiserliche Bestätigung ihrer Landhandwerksordnung, welche die Leinen- und Barchentweber der sieben landesfürstlichen Städte ebenso 47 Dinktage, Arbeiterschaft, Bd. I (Faksimilebeilage 7); Zatschek, Handwerk, S. 237; Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte, S. 136; D. Goerge, Die Bäcker und die Metzger in den salz burgischen Städten. Mit Beispielen aus Hallein, Laufen, Mühldorf, Salzburg und Tittmoning, in: Mitteilungen für Salzburger Landeskunde, Jg. 120/21, 1980/81, S. 459-515, hier 491.
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umfasste wie jene 14 grundherrschaftlichen Städte und Märkte, in denen bereits Zünfte bestanden.48 Diese Zentralisierung stieß ihrerseits auf den Widerstand der Grundherren. Die Grafen Starhemberg hatten den Webern ihrer Herrschaft Eferding zunächst verboten, an der Gründungsversammlung der Landeszunft teilzunehmen, ohne aber ihren Herrschaftsbereich dauerhaft abgrenzen zu können.49 1713 fasste die Landeszunft der oberösterreichischen Weber mehrere tausend Meister in insgesamt 83 lokalen Zünften zusammen. 50 Die oberösterreichischen Sensenschmiede hatten 1595 eine den größten Teil des Landes einschließende Ordnung aufgestellt, die 1604 vom Landesfürsten bestätigt worden war »Im Land aufgerichtete« Ordnungen erhielten die Lebzelter in der Steiermark 1597, in Kärnten 1653, in Österreich unter und ob der Enns 1661, in Krain zur Mitte des 18. Jahrhunderts. 51 Insbesondere im 18. Jahrhundert kam die Bildung von landesweiten Zünften den Zentralisierungs- und Ordnungsbestrebungen der habsburgischen Kaiser entgegen. In den Landeszünften setzte sich auch eine einheitliche räumliche Gliederung des Zunftwesens durch. Wien und die anderen Landeshauptstädte festigten ihre Position als Standorte der »Hauptladen«. Die Wiener Zunftordnungen des 18. Jahrhunderts beanspruchten häufig, »Haupt-Lade« für ganz Niederösterreich zu sein, »wie es des gewöhnlichen Herkombens ist«, wie z.B. die Handwerksordnung der Seidenzeugmacher von 1710 oder der Seidenstrumpfwirker von 1719, deren »Ordnung und Freyheit auf dieses ganze Erzherzogtum Österreich unter der Enns sich extendieren«. Auch die Unterteilung in Viertelund Nebenladen begann sich an der administrativen Gliederung der Länder zu orientieren. Die Zunftorganisation der steierischen Lederer wies neben der Hauptlade in Graz schon im 17. Jahrhundert 15 Viertelladen auf, deren Grenzen weitgehend den alten Landgerichtsgrenzen folgten. Im 18. Jahrhundert nahmen Kreisstädte eine bevorzugte Stellung als Sitz von Viertelladen ein.52 Als letztes einbezogen in diese Zentralisierung des Zunftwesens wurde Ungarn, wo bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts die Inhaber der großen Grundherrschaften Zunftprivilegien ausstellten. In den westungarischen Komitaten, die das Gebiet des heutigen österreichischen Bundeslandes Burgenland einschlossen, waren es die großen Grundbesitzer der Esterhazy, Batthyany, Nadasdy, Erdödy usw., die auf ihren Herrschaften Zünfte errichteten bzw. »Bruderschafts- und Handwerksordnungen«, Gesellen- und Lehrlingsordnun48 Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte, S. 104 ff., 549 ff. 49 Uhl, Handwerk,S. 122 ff 50 Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte, S. 414. 51 F. Fischer, Die blauen Sensen. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Sensenschmiedezunft zu Kirchdorf-Micheldorf bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, (= Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs, Bd. 9), Linz 1966, S. 29; S. Walter, Aus der Geschichte der steinschen Lebzelter und Wachszicher, in: Das Steirische Handwerk, S. 450 f. 52 Otruba u. Sagoschen, Gerberzünfte, S. 84.
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gen erließen. Diese Zünfte konnten sich über eine oder auch mehrere Herrschaften des jeweiligen Grundherren erstrecken und umfassten ebenfalls sämtliche Meister der Städte, Märkte und Dörfer. Maria Theresia hatte 1761 versucht, auch in Ungarn sämtliche herrschaftliche Zunftordnungen einzuziehen und durch einheitliche Regelungen zu ersetzen, wie es scheint aber mit geringem Erfolg. Erst in den Jahren 1805 und 1813 wurden gesamtstaatliche »Generalia principia« durchgesetzt. Sie folgten im wesentlichen dem österreichischen Modell. Schon im 18. Jahrhundert hatten sich Handwerker und Herrschaftsbeamte allerdings bei der Abfassung von Zunftordnungen am Vorbild Wiens oder anderer österreichischer Städte orientiert, und die staatliche Ordnung von 1813 übertrug das flächendeckende System von Hauptorten und Landorten, von »Innen-«, »Außen-« und Filialmeistern auch auf Ungarn. Anlässlich der Einführung der neuen Zunftordnung wurden umfangreiche statistische Erhebungen durchgeführt. Im Komitat Eisenburg (Vas), zu dem das südliche Burgenland gehörte, bestanden etwa 1813 175 Zünfte, in denen 40 Berufe organisiert waren. Zu ihnen gehörten 4.921 Zunftmeister, während nur 29 nicht inkorporierte Handwerker registriert wurden. 53 Eine lange Persistenz eines grundherrschaftlichen Zunftwesens war aber auch in den österreichischen Ländern anzutreffen. Wie es scheint, begannen die habsburgischen Landesfursten erst im 18. Jahrhundert, auf ihrem rechtlich schon länger etablierten Monopol zur Verleihung von Zunftprivilegien auch tatsächlich zu bestehen.54 In der relativ großen und geschlossenen Grundherrschaft Eferding wurden bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts alle Zunftordnungen von den Besitzern der Herrschaft (meist den Grafen Starhemberg) ausgestellt bzw. bei Besitzerwechsel bestätigt. Im Jahr 1765 wandte sich das erste Mal eine Gruppe von Zünften an die Landesherrin Maria Theresia mit der Bitte um »kaiserlich königliche zunft freyheiten«. Die Grafen Starhemberg und ihre Vorgänger hatten seit dem frühen 16. Jahrhundert ihrerseits ein grundherrschaftsweites Zunftsystem entwickelt, das neben den Eferdinger Stadtmeistern auch alle Landmeister, gegliedert nach Landgerichten, einbezog. Damit hatte sich auch eine eigentümliche rechtliche Doppelherrschaft entwickelt. Alle Eferdinger Zünfte unterstanden vor 1765 der autonomen Jurisdiktion der Grundherren, waren aber zugleich in größere Zunftverbände eingebunden: die Weber unterstanden der landesfürstlichen Hauptlade in Linz; die Steinmetze 53 M. Kiss, Die südburgenländischen Zünfte und die Zunftregelung von 1813, in: Burgenländische Forschungen, Sonderbd. 7, Eisenstadt 1984, S. 219-227, hier 220-223; H. Kietaibl, Die Fraunkirchner Handwerkszechen, in: Burgenländische Forschungen, Sonderbd. 7, Eisenstadt 1984, S. 206-218, hier 206 f. 54 Kaiser joseph I. beharrte 1708 darauf, dass in der Markgrafschaft Mähren »privatim« errichtete Zünfte entweder bei ihm um Bewilligung einzureichen hätten oder als nicht existent betrachtet werden würden; Adler, Anfänge, S. 112. Zu den Konflikten zwischen Kaiser und Grundherren bzw. Ständen im allgemeinen vgl. ebd., S. 28 ff.
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und Maurer waren in die Haupthütte Wien inkorporiert usw.55 Ähnliche Verhältnisse sind auch für Westungarn anzunehmen. Der Einzugsbereich der Wiener Neustädter Zünfte erstreckte sich weit in das Herrschaftsgebiet der Fürsten Esterhazy hinein, und umgekehrt waren Wiener Neustädter Meister in Fürstlich Eisenstädtische Zünfte inkorporiert. Wenn sich auch in Österreich im Lauf der frühen Neuzeit ein flächendeckendes Zunftsystem herausgebildet hatte, setzten sich die räumlichen Ordnungsprinzipien des Territorialstaates doch erst sehr langsam im Zunftwesen durch. Die inneren Beziehungen in regionalen und landesweiten Zünften waren keineswegs konfliktfrei.56 Eine wichtige Rolle spielte dabei das Interesse der städtischen Handwerker, ihre materielle und symbolische Vorrangstellung zu festigen. Da die österreichischen Städte klein waren und landesfürstlicher oder grundherrlicher Gewalt unterstanden, war die überlokale Organisation der Zünfte vermutlich der einzige Weg, zumindest ein bestimmtes Maß an Kontrolle über die Stadtgrenzen hinaus auszuüben. Hinter den Zentralisierungsbestrebungen im oberösterreichischen Weberhandwerk des 16. Jahrhunderts lassen sich etwa zwei Bündel von Interessen ausmachen: Zum einen ging es den städtischen Meistern darum, ihr Normensystem (Qualität, Lohnhöhen, eheliche Geburt etc.) auch gegenüber Landhandwerkern durchzusetzen. Zum anderen waren die Meister der Städte und Märkte bestrebt, ihre Vorrangstellung gegenüber den Dorfhandwerkern (»Gäumeistern«) abzusichern. Letztere durften zwar zur Zunft gehören, aber keine Lehrjungen und keine Gesellen beschäftigen, nur grobes Garn verarbeiten und ähnliches. Letztlich ging es auch um die Verteilung der Rohstoffe. Mit einer flächendeckenden Zunft sollte der Kauf des Garns durch die Landmeister verhindert werden. 57 Auch zwischen der Wiener Hauptlade der Weber und den dort inkorporierten Landmeistern bestand ein ständiger Konflikt, dessen Hauptinhalte ein 1675 abgeschlossener Vergleich erkennen lässt. Dabei ging es u.a. um die Pflicht zur persönlichen Anwesenheit der Landmeister bei den Zunftversammlungen und der Fronleichnamsprozession. Problematisch war auch der Zugriff auf die Gesellen, die nur dann einem Landmeister »zugeschickt« werden sollten, wenn der Bedarf der Stadtmeister gedeckt war. Umgekehrt forderten die Landmeister das Recht, auch »sein Weib im Stuhle arbeiten« zu lassen, wenn kein Geselle zur Verfügung stand. Als ungerecht empfunden wurde, dass den Stadtmeistern sieben, aber den Landmeistern nur vier Stühle pro Werkstatt gestattet werden sollten.58 Diese Interessenskonflikte führten dazu, dass sich regionale Zünfte auch wieder aufspalteten und größere Verbände zerfielen. Die »Paretl- und Strumpstricker« des Waldviertels waren etwa im 17. Jahrhundert in die Wiener »zöch 55 56 57 58
Uhl, Handwerk, S. 56, S. 115-121. Beispiele dafür bei Adler, Anfänge, S. 12 f. Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte, S. 104. In Regestenform abgedruckt bei Thiel, Regesten, S. 122 ff.
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und hauptlad« einverleibt. Da dies aber ihrer Meinung nach mit großen »Unkosten, gefahr, Versäumnis und schaden« verbunden sei, ersuchten sie die niederösterreichische Regierung um die Bewilligung zur Errichtung einer eigenen regionalen Zunft mit dem Marktort Thaya als Mittelpunkt, was ihnen 1667 gewährt wurde. 59 Die Fleischhauer der Wiener Vorstädte gehörten »von altershero« zur Zunft in Mödling, einer rund 20 km entfernt gelegenen Kleinstadt. Ihnen gelang es 1748, sich von Mödling abzusondern und eine eigene Zunft der Wiener Vorstadtmeister zu bilden, die sogar mit der Wiener Zunft gleichgestellt wurde. 60 Auf der anderen Seite brachte die Zugehörigkeit zu einer regionalen oder landesweiten Zunft auch für die Landmeister Vorteile. Neben dem Status des zünftigen Meisters lagen diese vor allem darin, dass sie sich in gewerberechtlicher Hinsicht der grundherrschaftlichen Jurisdiktion, zumindest teilweise, zu entziehen vermochten. 61 Die Entwicklung regionaler und landesweiter Zünfte erfolgte deshalb im ständigen Konflikt mit den Grundherren. Insbesondere im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert, als sich in den österreichischen Ländern die landesfürstliche Vorherrschaft noch nicht vollständig durchgesetzt hatte, versuchten die oberen grundbesitzenden Stände, das Ausgreifen des Zunftwesens auf das flache Land zu verhindern. Die städtischen Zünfte suchten umgekehrt das Bündnis mit den habsburgischen Landesfürsten, denen sie sich seit dem Einsetzen der Gegenreformation auch als Garanten des katholischen Glaubens - im Gegensatz zum teilweise noch protestantischen Adel anboten.62 Sowohl die inneren Spannungen in den Territorialzünften als auch ihre Konflikte mit den Grundherren stärkten letztendlich den landesfürstlichen Einfluss auf das Gewerbewesen.
59 So die Einleitung zur Zunftordnung 1667, abgedruckt bei Otruba 1952, S. 19. 60 Fleischhauergenossenschaft Wien (Hg.), 300 Jahre, S. 59f. 61 In den gutsherrschaftlich dominierten Ländern der böhmischen Krone scheint dies schwieriger gewesen zu sein. Vgl. zum Untertanen Status der Reichenberger Tuchmacherzunft Adler, Anfänge, S. 29. 62 Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte, S. 134 ff., 549 ff. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die städtischen Zünfte durchwegs katholisch gewesen wären. Bis in die 1620er Jahre scheinen vielmehr katholische und protestantische Handwerker in gemeinsamen und gemischten Zünften organisiert gewesen zu sein. In Wien führten erst obrigkeitliche Verordnungen von 1623 und 1625 zum Ausschluss der Protestanten, die kein Bürgerrecht erlangen und die Stadt verlassen sollten. In der Bäckerzunft verließen daraufhin mindestens 12 von 53 Meistern tatsächlich die Stadt und zogen überwiegend in nahegelegene ungarische Städte (Preßburg, Ödenburg), aber auch in deutsche Reichsstädte. Vgl. dazu Zatschek, Wiener Handwerk, S. 31 ff.
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4. Zur Stellung der Gesellen in den Zünften Die Konflikte zwischen Gesellen und Meistern gehörten zu jenen grundlegenden und dauerhaften Spannungsfeldern im Handwerk, die einen permanenten Regelungsbedarf schufen und zum Bedürfnis nach einer schriftlichen Fixierung von Regeln beitrugen. Eine ganze Reihe der aus dem 15. und 16. Jahrhundert stammenden Wiener Neustädter Zunftordnungen verdankt ihre Niederschrift und ihre Eintragung in das Stadtbuch diesem Konfhkttyp.63 Die Regelung der Arbeitsbeziehungen blieb bis in das 19. Jahrhundert eine wesentliche Aufgabe des Zunftwesens. Darüber hinaus waren Handwerksgesellen in aller Regel auch formell in die Zünfte integriert. Die konkrete Form dieser Integration wies allerdings eine beträchtliche Bandbreite auf Zum einen erscheinen Zünfte als Korporationen, denen Meister und Gesellen gleichermaßen angehörten. Sie tagten gemeinsam, zahlten in dieselbe Kasse ein und waren derselben Ordnung unterworfen. Zum anderen sind aber auch in Österreich vom frühen 15. Jahrhundert an eigenständige Zusammenschlüsse von Gesellen nachzuweisen, die Versammlungen abhielten, in separate Kassen zahlten, und gesonderten Gesellenordnungen unterstanden. Zwischen beidem gab es indes fließende Übergänge. Die Vielfalt der Integrationsformen der Gesellen in die Zünfte fand in den frühneuzeitlichen Zunftordnungen ihren Niederschlag. Gerade in bezug auf die selbständigen Organisationen von Gesellen ist dabei allerdings Vorsicht angebracht. Für die gesamte Periode vom 15. bis zum 18. Jahrhundert ist aus den österreichischen Ländern eine in absoluten Zahlen ansehnliche Anzahl von »Gesellenordnungen« überliefert, die aber im Vergleich zu der riesigen Masse der allgemeinen Zunftordnungen als verschwindend klein erscheint. Gewiss wurden Gesellen betreffende Angelegenheiten auch in allgemeinen Zunftordnungen geregelt, aber diese bieten meist keine Hinweise auf selbständige Organisationsformen der Gesellen. Gelegentlich finden sich auch Ordnungen, die aus zwei Teilen bestehen: ein erster, der sich auf Meister und allgemeine Fragen bezieht, und ein zweiter, der im speziellen Gesellen und oft auch Lehrlinge, betrifft.64 Die geringe Zahl von Gesellenordnungen könnte bedeuten, dass es im österreichischen Zunftwesen tatsächlich nur wenig selbständige Organisationen der Gesellen gab. Sie könnte aber auch bedeuten, dass Gesellen weniger als ihre Meister daran interessiert waren, Regeln schriftlich zu fixieren, und dass ihre Zusammenschlüsse und ihre Kommunikation in stärkerem Maß einer mündlichen Kultur verhaftet blieben. Weiter wurden im Unterschied zur 63 Vgl. Scheutz et.al., Handwerksordnungen; von denselben Quellen ausgehend, aber verallgemeinernd, A. Müller, Machtpositionen, S. 450 für.; für Kärnten zahlreiche Beispiele bei Dinklage, Arbeiterschaft, S. 44 ff. 64 Charakteristisch dafür etwa die Wiener Fleischhauerordnungen von 1612 bis 1745; vgl. Fleischhauergenossenschaft Wien ( H g . ) , 3 0 0 J a h r e .
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Praxis der Zunftmeister, die immer stärker danach strebten, ihre Ordnungen von den Obrigkeiten aufzeichnen und bestätigen zu lassen, Gesellenordnungen bis in das frühe 18. Jahrhundert in der Regel als innere Angelegenheit der Zünfte betrachtet. Sie entstanden in Verhandlungen zwischen den Meistern und Gesellen, Angehörige beider Gruppen unterzeichneten sie und die Zunftund Gesellenladen bewahrten sie auf, ohne dass die Obrigkeit davon erfuhr und damit fanden sie keinen Niederschlag in städtischen oder staatlichen Archiven. 65 Diese Quellen deuten jedenfalls zumindest bis in das 17. Jahrhundert auf eine relativ starke Integration der Gesellen in die Zünfte hin. Das kommt etwa in den Wiener Neustädter Zunftordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts zum Ausdruck. Zur Zunft der Zimmerer (1436), Hutmacher (1446 und 1517) und Tischler (1531) gehörte »jeglicher maister und gesell«, die alle an jedem Sonntag zusammenkommen und ihren »wochenpfennig« in die gemeinsame Büchse einzahlen sollten.66 In der Grafschaft Eferding waren in der gesamten Periode vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Meister und Gesellen stets in gemeinsamen Verbänden organisiert. Sie zahlten den gleichen Wochenpfennig in die gemeinsame Kasse ein und scheinen in Zunftangelegenheiten das gleiche aktive Stimmrecht besessen zu haben. Aus ganz Oberösterreich sind - mit Ausnahme von Steyr - für die gesamte frühe Neuzeit erst wenige Gesellenbruderschaften bekannt. 67 In Wien richteten noch 1657 die Messerschmiede und 1669 die Stuckateure gemeinsame Laden und Kassen für Meister und Gesellen ein.68 Hinweise auf eine starke Integration der Gesellen in die Zünfte bieten die Ordnungen aber auch auf eine andere Weise. Zumindest bis in das 17. Jahrhundert wurde oft vermerkt, dass Meister und Gesellen gemeinsam vor dem Rat erschienen, um eine Ordnung aufrichten zu lassen, wie zum Beispiel bei den Wiener Kupferschmieden 1668. Entscheidungen von weitreichender Bedeutung für die Berufsgruppe trafen häufig Meister und Gesellen gemeinsam. 69 Der »Vergleich« zwischen den Beutlern und den Handschuhmachern aus Wien, Österreich und den angrenzenden Gebieten Mährens und Ungarns, der einen fast zwei Jahrhunderte langen Konflikt beendete und die beiden Gewerbe in 65 Von den in Wiener Innungsarchiven vorhandenen Gesellenordnungen aus der Zeit vor 1750 wurde eine einzige vom Kaiser bestätigt, drei von Bürgermeister und Rat, die restlichen sieben von der jeweiligen Zunft ohne Zutun einer Obrigkeit; berechnet aus Wiener Stadt- und Landesarchiv (Hg.), Innungen. 66 Scheutz et. al., Handwerksordnuneen. 67 Uhl, Handwerk, S. 98. Gesellenorganisationen bestanden allerdings im Bereich der ländlichen Kleineisenindustrie; vgl. M. Schwarzenbrunner, Konflikte der Handwerksgesellen im »Land ab der Enns« von der Mitte des 18. bis zu Mitte des 19. Jahrhunderts, Salzburg (Geisteswiss. Diplomarbeit) 2000. 68 Thiel Regesten, S. 102, 114. 69 So bei den Wiener Taschnern 1556 und 1610; den Hafnern 1578; den Ziegeideckern 1581; etc.; vgl. Thiel, Regesten, S. 79, 85, 112.
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einer Zunft vereinigte, wurde 1636 auf einer Versammlung beschlossen, an der 28 Meister und 15 Gesellen der Beutler sowie 29 Meister und 11 Gesellen der Handschuhmacher aus einem guten Dutzend Zunftorten teilnahmen. Selbstverständlich unterschrieben den Vergleich alle Anwesenden, seien sie Meister oder Gesellen.70 Auch die Gesellenordnungen des 17. Jahrhunderts tragen in der Regel die Unterschriften aller Meister und Gesellen einer Zunft.71 Vielleicht ist bei alldem nicht unwesentlich, dass viele der erwähnten Zünfte sehr klein waren, und mitunter nicht mehr als ein halbes Dutzend Meister und kaum mehr Gesellen umfassten. Zugleich sind aber auch in der gesamten frühen Neuzeit Tendenzen zu einer Absonderung oder Verselbständigung der Gesellen und zur Etablierung eigenständiger Gesellenbruderschaften innerhalb der Zünfte zu beobachten. Für Wien ist die erste Gesellenbruderschaft 1411 belegt.72 Von den 46 ersten Wiener Neustädter Zunftordnungen (1432-1531) beziehen sich zwei auf »aygne puchssen« und Organisationen der Gesellen: jene der Schneider (1459) und der Binder (1513). Im 16. Jahrhundert kamen wenige dazu, im 17. und im 18. Jahrhundert dann aber mehr.73 Wie gesagt, waren aber die Übergänge fließend. Bei den Wiener Fleischhauern hatten die »knecht und bueben« zumindest von 1612-1745 »ain absonderlich laadt«,74 ohne dass eine selbständige Bruderschaft bestanden haben dürfte. Bei den Kleinuhrmachern (1671) und bei den Kupferschmieden (1668) versammelten sich Meister und Gesellen gemeinsam jeden Quatember, die Gesellen aber zusätzlich alle vier Wochen.75 Die Absonderung der Gesellen war bisweilen mit Konflikten verbunden, da die Zünfte dem Wunsch der Gesellen nach eigener Organisation und Ordnung nicht immer zustimmten. 76 Wo die Gesellen eine eigene Körperschaft bildeten, geschah das nicht außerhalb und unabhängig von der Zunft. In den Gesellenordnungen war in aller Regel festgelegt, dass bei den Versammlungen der Gesellen Vertreter der Meisterschaft als Beisitzer anwesend zu sein hätten. Im 18. Jahrhundert finden sich derartige Kontrollmechanismen in den Gesellenordnungen verstärkt, wobei der Einfluss der staatlichen Gewerbegesetzgebung deutlich spürbar ist. Die Kontrolle der Gesellen und insbesondere der Gesellenwanderung wurde zu
70 Thiel, Regesten, S. 73 ff. 71 Vgl. die Ordnung der Paretl- und Sockenstricker 1675. (Wiener Stadt- und Landesarchiv, Innungen/Urkunden 76/1) 72 Zatschek, Handwerk. 73 Wiener Stadt- und Landesarchiv, 1987. Dieses Verzeichnis der im Wiener Stadt- und Landesarchiv vorhandenen Innungsbestände listet für das 17. Jahrhundert sieben, für das 18. Jahrhundert 16 Gesellenordnungen auf. 74 Fteischhauergenossenschaft Wien (Hg.), 300 Jahre, S. 47. 75 Thiel Regesten, S. 113, 117. 76 Vgl. etwa Adler, Anfänge, S. 101 ff.
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einem wesentlichen Anliegen des Staates.77 Etwa von der Mitte des 18. Jahrhunderts an begannen staatliche Behörden, das Ausstellen von Gesellenordnungen der Zuständigkeit der Zünfte zu entziehen und selbst Ordnungen zu erlassen. 78 In den 1770er und 1780er Jahren verabschiedeten Bürgermeister und Rat von Wien im Auftrag der Regierung eine ganze Serie von relativ gleichlautenden Ordnungen, die einerseits die Existenz von Gesellenbruderschaften in zahlreichen Gewerben bestätigten, ihnen andererseits aber keine Autonomie auf Versammlungen, Verwaltung der Lade, Kommunikation mit auswärtigen Gesellen usw. zugestand. Die Kontrolle der wandernden Gesellen war ein wesentlicher Bestandteil dieser Ordnungen. Diese Praxis setzte sich im frühen 19. Jahrhundert fort.79 In der Perspektive der staatlichen Gewerbegesetzgebung des späten 18. Jahrhunderts waren Meister und Gesellen getrennte Gruppen, deren Angelegenheiten in getrennten Ordnungen zu regeln waren. Zunft und Meister fungierten dabei als wichtigste Kontrollorgane der Gesellen. Möglicherweise wurde die Differenzierung zwischen Meistern und Gesellen durch diese Maßnahmen gefördert. Allerdings enthalten auch die getrennten staatlichen Ordnungen für Meister und Gesellen einen Überschneidungsbereich. Bei der »Beförderung der Ehre Gottes« sollten Meister und Gesellen einträchtig zusammenkommen und zusammenwirken: bei den Quatembermessen, bei der jährlichen heiligen Messe, bei der jährlichen Prozession und bei Begräbnissen.80 Eine formelle Auflösung von Gesellenbruderschaften scheint es in der Habsburgermonarchie vor der Gewerbegesetzgebung des Neoabsolutismus nicht gegeben zu haben. Auch in den österreichischen Ländern der frühen Neuzeit sind zahlreiche kollektive Aktionen von Gesellen belegt. Streiks und »Aufstände« entzündeten sich an Lohn, Kost, Kündigungsfristen, Lehrlings- und Frauenarbeit und vielen anderen Fragen.81 Die staatlichen Ordnungsbestrebungen des 18. Jahrhunderts stießen teilweise auf heftigen Widerstand der Gesellen. Die Einführung der »Kundschaftszettel« führte 1713 zu »Aufständen« der Schustergesellen in Wien und Graz, 1722 zu einer größeren Revolte in Wien. Im späten 18. Jahrhundert riefen die staatlichen Bemühungen um Abschaffung des »blauen Montags« immer wieder Unruhe hervor. Trotz einer zunehmend dichteren Kontrolle 77 Vgl. dazu weiter unten. 78 Vgl. etwa die Ordnung der Schuhknechte von 1752; K.K. Theresianisches Gesetzbuch 1789, I/351 ff. 79 Diese Ordnungen wurden gedruckt und offen sichtlich in großer Zahl verbreitet. Viele von ihnen sind in den Innungsarchiven des WStLA erhalten, einige wurden von Otruba, Berufsstruktur, ediert. 80 In den 1770er und 1780er Jahren parallel erlassene Ordnungen für Meister und Gesellen eines Handwerks regeln diese religiösen Verpflichtungen stets im ersten Paragraphen. 81 Vgl. dazu vor allem T. Westermayr, Zur Geschichte des Gesellenwesens, Diss. Wien 1932, S. 129, 141, 163; M. Bucek, Geschichte der Seidenfabrikanten Wiens im 18. Jahrhundert (17101792), Diss. Wien 1974, S. 107, 139-141.
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scheinen die Handwerksgesellen ihre Neigung und Fähigkeit zu kollektiven Aktionen nicht eingebüßt zu haben.82 Es ist nicht klar, ob bzw. in welchem Ausmaß die zunehmende Rolle der Zunft als staatliches Überwachungsorgan sowie die in vielen Gewerben starken sozialen Spannungen zwischen Meistern und Gesellen die Integration der Gesellen in die Zünfte schwächte. Bei der Organisation des Arbeitsmarktes und des Wanderns und damit auch als Kommunikations- und kulturelles Referenzsystem blieben die Zünfte jedenfalls bis weit in das 19. Jahrhundert hinein auch für die Gesellen von zentraler Bedeutung.
5. Zünfte und Staat in der frühen N e u z e i t Interesse an den Zünften hatten nicht nur die Handwerker, sondern auch der frühneuzeitliche Staat. Im 16. und 17. Jahrhundert ging es dabei vor allem darum, staatliche Kontrolle des Zunftwesens gegenüber den Zünften, aber auch gegenüber den Städten und gegenüber den Grundherren durchzusetzen, auf deren Ländereien sich Handwerker niedergelassen hatten. Im 18. Jahrhundert wurden Zünfte immer mehr zu einem Instrument staatlicher Wirtschafts-, Sozial- und Ordnungspolitik. In den österreichischen Ländern war seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts die Autonomie der städtischen Zünfte gering. Das hängt zunächst damit zusammen, dass es in den habsburgischen Ländern keine freien Städte gab. Die meisten und die größeren Städte unterstanden den Landesfürsten; es gab aber auch Städte unter der Kontrolle adeliger Grundherren. Dazu kam, dass die Städte wenige Einwohner zählten. Zwar wohnten in Prag und Wien um 1600 etwa 40-50.000 Menschen, um 1800 etwa 100.000 (Prag) bzw. 200.000 (Wien). Damit war Wien am Ende des 18. Jahrhunderts die bei weitem größte Stadt des deutschsprachigen Raums. Die meisten Landeshauptstädte wiesen aber nur zwischen 10 - und 20.000 Einwohner auf, und von den übrigen Städten überstieg kaum eine die Zahl von 5.000 Einwohnern. Auch innerhalb der Städte besaßen die Zünfte kaum formelle politische Macht. Nach dem Wiener Stadtrecht von 1526 hing das Stadtregiment einerseits völlig vom Landesfürsten ab, beseitigte die politische Autonomie der Stadt und beschränkte andererseits die Stadtverwaltung auf eine kleine oligarchische Gruppe. Handwerker wurden vom Stadtrat explizit ausgeschlossen. Nur »behauste Bürger, die kein Handwerk betreiben«, konnten im Rat vertreten sein.83 Dieses Stadtrecht blieb bis zur Josephinischen Magistratsreform des Jahres 82 Vgl. dazu R. Reith, A. Grießingeru. P. Eggers, Streikbewegungen deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrundert. Materialien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des städtischen Handwerks 1700-1806. Göttingen 1992; Haberieitner, Handwerk, S. 113; K. Pribram, Gewerbepolitik, S. 248.
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1783 in Kraft. Die neue Magistratsordnung von 1783 legte den Ausschluss der Handwerker nicht mehr gesetzlich fest, beschränkte aber die politische Macht auf eine oligarchische Gruppe von 100 Bürgern, die vom Stadtrat ernannt wurden und ihn umgekehrt wählten. Der erste und einzige Versuch, die Zünfte formell in die Wiener Stadtregierung einzubinden, fand erst 1793 statt. Ein Plan der Obersten Justizstelle sah vor, an Stelle der Gruppe der 100 Bürger einen größeren Wahlkörper zu bilden, der berechtigt sein sollte, den Bürgermeister und den Stadtrat zu wählen. In diesen wahlkörper sollte jede Zunft zwei Deputierte entsenden. Kaiser Franz lehnte diesen Vorschlagjedoch ab; ganz im Gegenteil wurde das Bürgermeisteramt zu einem lebenslänglichen Amt erklärt. Diese kleine Episode zeigt, dass die Zünfte vom frühen 16. Jahrhundert an bis zu ihrer Auflösung 1859 nie formellen politischen Einfluss erlangten. Sie zeigt aber auch, dass die Zünfte den reformorientierten Kräften im Staatsapparat, die eine bescheidene Ausweitung der politischen Partizipation anstrebten, noch in den 1790er Jahren als legitime und relevante politische Interessensvertretung erschienen.84 Mit dem weitgehenden Ausschluss der Handwerker von der politischen Macht stellt Wien unter den österreichischen Städten einen Extremfall dar. Wenn es auch in den kleineren Städten keine institutionelle Einbindung der Zünfte in das Herrschaftssystem gab, waren doch das Bürgermeisteramt und andere städtische Ämter prinzipiell für Handwerker zugänglich, zum Teil kontinuierlich vom späten Mittelalter an, zum Teil erst ab dem 17. Jahrhundert. Einzelne Handwerker waren häufig im Stadtrat vertreten und gelegentlich auch als Bürgermeister tätig.85 Im frühen 16. Jahrhundert neigten die habsburgischen Landesfürsten dazu, dem Druck der grundbesitzenden oberen Stände nachzugeben und den Einfluss der Städte und der städtischen Zünfte zurückzudrängen. 86 Die Interessen der oberen Stände überlagerten sich in diesem Fall mit jenen der habsburgischen Landesfürsten am Ausbau ihrer Landeshoheit und führten zu ersten Versuchen einer landesfürstlichen und landesweiten Regelung des Gewerbe83 Seliger u. Ucakar, Wien, S. 73, 133. Nur im unbedeutenden sogenannten »äußeren Rat« waren in Wien Handwerker vertreten; vgl. Adler, Anfänge, S. 22. 84 Setiger u. Ucakar, Wien, S. 157. 85 Vgl. etwa UM, Handwerk, S. 82; Müller, Machtpositionen. In der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz wurde die politische Vormachtstellung des Patriziats zum ersten Mal 1686 durchbrochen und ein Handwerker zum Bürgermeister bestellt; vgl. G. Danninger, Das Linzer Handwerk und Gewerbe vom Verfall der Zunfthoheit über die Gewerbefreiheit bis zum Innungszwang, Linz 1981, S. 39; Adler, Anfänge, S. 22. 86 Thiel, Handwerkerordnung, S. 31 ff. Von den politischen und juristischen Beratern, die Ferdinand I. bei seinem Regierungsantritt 1522 nach Österreich mitbrachte, stammten viele aus Spanien, Süddeutschland und den südlichen Niederlanden. Es wäre eine interessante Frage, ob deren Erfahrungen mit den spätmittelalterlichen Zunftrevolutionen in ihren Herkunftsländern ihre Haltung gegenüber den österreichischen Zünften beeinflusste.
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wesens, die in den österreichischen Erblanden im frühen 16. Jahrhundert einsetzten. Sie stehen im Kontext der an Bedeutung gewinnenden landesfürstlichen Ordnungspolitik, die in dieser Periode im Reich insgesamt und in den einzelnen Territorien in einer großen Zahl von »Policey-« und »Landesordnungen« ihren Ausdruck fand.87 Für die Handwerker der österreichischen Erblande waren insbesondere das Wiener Stadtrecht von 1526, die »Policey Ordnung und Satzung irer kayserlichen Maiestat Stat Wien auf die Handtwerchsleut daselbst« (1527) und die »New Policey und Ordnung der Handtwercher und Dienstvolck der Niderösterreichischen Lande« (1527) relevant, die für Ober- und Niederösterreich, Steiermark, Kàrnten und Krain Geltung haben sollte. Ganz ähnliche Bestimmungen enthielten die Tiroler Landesordnungen von 1526 und 1532 sowie die Salzburger »Stadt- und Policey-Ordnung«, die Erzbischof Matthäus Lang 1524 erlassen hatte.88 Der zentrale Satz der Wiener und der niederösterreichischen Ordnungen von 1527 zu den Zünften lautet: »Wir heben auf und thun ab alle Zechen und Zünfte aller jeglicher Handwerk, nit allein mit dem Namen, sond' auch mit allen iren selbstgemachten Satzungen, Ordnungen und darüber erlangten Bestätigungen.«89 Diese gewerbepolitischen Maßnahmen aus den ersten Regierungsjahren des Erzherzogs und späteren Kaisers Ferdinand wurden und werden in der Literatur als Versuch zur Abschaffung des österreichischen Zunftwesens interpretiert. Dabei wird oft übersehen, dass im Anhang der Wiener Handwerkerordnung des Jahres 1527 Einzelbestimmungen für insgesamt 81 Gewerbe getroffen wurden, darunter 66 bürgerliche »handwerch«, deren Themen und Inhalte im großen und ganzen im Einklang mit den bis dahin bestehenden autonomen Zunftsatzungen standen.90 Die Gewerbeordnung orientierte sich also durchaus an der gängigen Praxis und ist am ehesten als ein Versuch zu ihrer Vereinheitlichung zu interpretieren. Es ging weniger um die Abschaffung der Zünfte, als vielmehr um die Einschränkung ihrer Autonomie, um ihre Einbindung in ein einheitliches System staatlicher Verwaltung und um den Aufbau eines geregelten Instanzenzuges von der Zunft über den Stadtrat zur landesfürstlichen Regierung. Auch diese Bestrebungen blieben aber »so gut wie ohne Wirkung«. In den folgenden Jahrzehnten erließ der Wiener Stadtrat eine ganze Reihe von Handwerksordnungen, die dem »alten Herkommen« stärker verpflichtet waren als den Gesetzen von 1527.91 Eine Stärkung der landesfürstlichen Position fand allerdings tatsächlich statt. Dies lässt sich daran ablesen, dass immer mehr Zunftordnungen vom Landes87 Vgl. Hoffmann Wirtschaftsgeschichte, S. 32. 88 Thiel, Handwerkerordnung, S. 32 ff; Goerge, Bäcker, S. 504; F. V. Spechtler u. R. Uminsky, Die Salzburger Stadt- und Polizeiordnung von 1524. Frühneuhochdeutsche Rechtstexte I, Göppingen 1978; Adler, Anfänge, 23. 89 Abgedruckt bei Otruba, Berufsstruktur, S. 337-348, hier 338. 90 Vgl. dazu die detaillierte und überzeugende Studie von Thiel, Handwerkerordnung. 91 Ebd., S. 60-64.
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fürstcn ausgestellt bzw. bestätigt wurden. Im 15. und frühen 16. Jahrhundert erfolgte die Bestätigung in der Regel von städtischen Behörden oder von grundherrlichen Patrimonialgerichten. Im 16. Jahrhundert hielten sich in Wien städtischer Rat und Landesfürst als ausstellende Behörde in etwa die Waage.92 Im 17. Jahrhundert setzte sich die Tendenz, um die Bestätigung von Zunftprivilegien beim Landesfürsten (und damit beim Kaiser) nachzusuchen, fort. Wiederum auf Druck der grundbesitzenden Stände, die bis in die 1620er Jahre immer wieder Initiativen zur Abschaffung des Zunftwesens ergriffen, verfugte Kaiser Matthias II. 1617, dass keine Zunft ohne landesfürstliche Genehmigung gegründet werden dürfe. 93 Diese Verordnung veränderte aber kaum die herrschende Praxis, denn auch im 17. und 18. Jahrhundert vergaben sowohl adelige Grundherren als auch städtische Behörden weiterhin Zunftordnungen, ohne die landesfürstliche Regierung einzubeziehen. 94 Insbesondere die reicheren städtischen Zünfte und die überregionalen, größere Territorien mit zahlreichen Grundherrschaften umspannenden Zünfte strebten aber immer mehr nach Bestätigung ihrer Ordnung »bei hoff«, auch wenn das wesentlich kostspieliger und zeitaufwendiger war als bei städtischen oder grundherrschaftlichen Behörden. 95 Neben der stärkeren Rechtskraft und dem höheren Prestige eines kaiserlichen Privilegs spielte für die Handwerker auch eine Rolle, dass der Landesfürst und seine Behörden den Wünschen der Meister offensichtlich stärker entgegenkamen als Magistrate oder Grundherren. Das betraf etwa die Festlegung einer Höchstzahl von Meistern, die im 17. Jahrhundert in immer mehr Zunftordnungen auftaucht. Vom Wiener Magistrat wurden diese Bestrebungen gelegentlich zurückgewiesen, von den landesfürstlichen Behörden aber häufig anerkannt. 96 Die von Schmoller am Beispiel Brandenburg-Preußens entwickelte These, dass in der frühen Neuzeit die Kontrolle des absolutistischen Staates den Abschließungsbestrebungen der Zünfte entgegengewirkt hätte, trifft für die habsburgischen Länder des 17. Jahrhunderts offensichtlich nicht zu.97 92 Zatschek, Handwerk, S. 120. 93 Vgl. Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte, S. 136, Otruba, Berufsstruktur, S. III. 94 Vgl. etwa die in Wiener Stadt- und Landesarchiv (Hg.), Innungen, angeführten Bestände; für die Grafschaft Eferding Uhl, Handwerk; für Linz Grüll, Linzer Handwerkszünfte. 95 Zatschek, Gewerbegesetzgebung, S. 138. 96 Ebd., S. 164 f. Nach dem Regierungsantritt Leopolds I (1658) suchten viele Wiener Zünfte um die Erneuerung ihrer kaiserlichen Privilegien an. Diese Ansuchen wurden 1659/60 in langwierigen Verhandlungen zwischen einer Kommission des Wiener Magistrats und der niederösterreichischen Regierung behandelt. Wie Zatschek in seiner detaillierten Analyse des dabei angefallenen Aktenmaterials nachgewiesen hat, war die landesfürstliche Regierung in vielen Fragen wesentlich stärker bereit, die Wünsche der Zünfte zu akzeptieren. Allerdings waren die Behörden bestrebt, die Festlegung einer Höchstzahl bzw. Entscheidungen über ihre Verminderung oder Vermehrung nicht den Zünften zu überlassen, sondern selbst zu treffen. Vgl. Adler, Anfänge, S. 25. 97 Vgl. Schmoller, Innungswesen; Zatschek, Gewerbegesetzgebung, S. 185, meint sogar, »dass alle wirklichen oder vermeintlichen Auswüchse in der Organisation des Handwerks ohne aus-
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Beginnend mit dem Regierungsantritt Kaiser Ferdinands II. (1619) scheinen jedenfalls die habsburgischen Landesfürsten dazu geneigt zu haben, die an sie herangetragenen Wünsche um Ausstellung einer Zunftordnung im großen und ganzen zu erfüllen. Damit wurden diese Ordnungen zu Privilegien, die der Kaiser persönlich garantierte. Deshalb mussten die Zünfte sie bei jedem Herrscherwechsel aufs neue einreichen und um die Bestätigung der »alten Freiheiten« bitten. Die habsburgischen Herrscher von Ferdinand III. bis zu Maria Theresia bestätigten in ihrer Eigenschaft als Landesfürsten derjeweiligen Erbländer in aller Regel die Zunftprivilegien und demonstrierten damit ihre Achtung vor den alten Rechten. Sie benützten diesen Vorgang aber auch, um die ihrer jeweiligen Gewerbepolitik entsprechenden Modifikationen der Zunftordnungen durchzuführen, etwa um die festgesetzten Meistcrzahlen in »geschlossenen Gewerben« allmählich zu erhöhen. Die Mengen von Zunftordnungen, die aus dem 17. und dem 18. Jahrhundert erhalten geblieben sind, zeigen auf diese Weise starke Kontinuitäten, aber auch Flexibilität und Anpassung an den Wandel der Gewerbepolitik und des Gewerberechts. Josef II. war der erste Herrscher, der die Bestätigung von Zunftordnungen generell verweigerte, in der Hoffnung auf eine umfassende Neuregelung des Gewerberechts, die allerdings nicht zustande kam. Leopold II. und Franz I. stellten gelegentlich wieder Ordnungen aus und bestätigten zum Teil auch Zünfte, die unter ihrem Vorgänger aufgelöst worden waren. 98
6. Die Zünfte und der Reformabsolutismus des 18. Jahrhunderts Der Reformabsolutismus des 18. Jahrhunderts modifizierte das Verhältnis von Zünften und Staat. Das Zunftwesen gewann an Bedeutung als eines der wenigen Instrumente, die dem Staat für seine Wirtschafts- und Sozialpolitik überhaupt zur Verfügung standen. Zugleich griff der Staat immer stärker in das Zunftwesen ein und unterwarf historisch gewachsene Strukturen seinen eigenen Bedürfnissen und seiner eigenen Rationalität. Es entwickelte sich eine Art »staatliches Zunftwesen«, das vom Staat beherrscht und bevormundet, zugleich aber auch bewahrt und geschützt wurde und damit ein integraler Bestandteil der wirtschaftlichen und sozialen Dynamik des 18. Jahrhunderts war.99 drückliche kaiserliche Bewilligung kaum denkbar gewesen wären«, und dass man »das Landesfürstentum der Verantwortung für die Erstarrung des Handwerks nicht entheben« könne. 98 Otruba, Gewerbe, S. 30. 99 Nach Adler, Anfänge, S. 106-108, stellte vor allem die Regierungszeit Josef I. (1705-1711) einen Wendepunkt hin zu einer merkantilistischen Gewerbepolitik dar. Die Anfänge dieser Entwicklung deuteten sich allerdings schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an, als die Vertreter Österreichs bei Reichstagsverhandlungen stets gegen Vorschläge zur Abschaffung der Zünfte auftraten. Diese Haltung schloss zunftkritische Meinungen in der österreichischen Hochbürokratie aber keineswegs aus. Vgl. etwa die Argumentation des steirischen Landeshauptmanns,
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Die Politik des Staates darf allerdings nicht überschätzt werden. Sie war zögerlich und voller Widersprüche und glich eher einem Vorantasten als einem planmäßigen und zielgerichteten Vorgehen. Sowohl untergeordnete Behörden als auch die Zünfte selbst leisteten Widerstand gegen die Politik der zentralen Hofstellen, und auch diese waren durchaus bereit, Beschwerden und Bittschriften der Zünfte zumindest ernst zu nehmen. 100 Insbesondere im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts gab es eine ganze Reihe von gewerbepolitischen Umfragen, mit denen die Regierung Ziele und Chancen ihrer Politik erkundete.101 In dieser Situation bildete die Einbindung der österreichischen Zünfte in das Zunftwesen des alten Reichs ein gewichtiges Argument: Die Zünfte beriefen sich auf den »usus im römischen Reiche«, wenn sie für die Beibehaltung des Status quo argumentierten, und auch die Behörden waren keineswegs geneigt, eine Isolierung der österreichischen Zünfte vom Reich zu riskieren.102 Die Ambivalenz der staatlichen Wirtschaftspolitik wird am Beispiel nichtzünftiger Gewerbeberechtigungen besonders deutlich. Bis in das 18. Jahrhundert war die landesfürstliche Politik gegenüber diesen nichtzünftigen Gruppen keineswegs konsistent und schwankte zwischen der Ausweitung legaler Erwerbstätigkeit außerhalb der Zünfte und ihrer zumindest rhetorischen Einschränkung. 103 Ein Patent Kaiser Karls VI. vom April 1725 etwa führte zu einer massenhaften Verleihung von Schutzbefugnissen: Gegen den Nachweis der ehelichen Geburt, nach Abschluss einer Lehre und der Zahlung eines jährlichen Schutzgeldes an das Wiener Steueramt sollte jedermann sein Gewerbe ausüben dürfen, ohne dass die Zünfte Einspruch erheben könnten. 104 Die Nachfrage nach derartigen Befugnissen war offensichtlich groß. Schon im ersten Jahr wurden fast 5.000 vergeben, rund 1.000 davon an gänzlich unbemittelte Handwerker sogar gratis, und auch in den folgenden Jahren hielt sich die Zahl der »Dekretisten« oder »Befugten« ungefähr auf dieser Höhe.105 Im Vergleich zu den 3.345 bürgerlichen Meistern Wiens (1736) war das eine durchaus der 1689 das Ansuchen der Grazer Blumengärtner um Erlaubnis zur Etablierung einer Zunft aus prinzipiellen Gründen ablehnte; Zit. ebd. S. 73. 100 Zu einer Welle des Protests gegen staatliche Eingriffe in das Zunftwesen im Jahr 1754, die möglicherweise sogar vom Wiener Steueramt koordiniert wurde, vgl. Pribram, Gewerbepolitik, S. 88 ff. 101 Zur Regelung des Stücklohns und der Verheiratung der Gesellen sowie zum Problem des Gesellenwanderns vgl. Reith, Lohn. 102 Vgl. etwa Thiel, Gewerbe, S. 438; oder Steiner-Durdik, Bader, S. 98 am Beispiel der Bader und Barbiere. Schon 1699 hatte die böhmische Statthalterei eine Abschaffung der Zünfte in Österreich als unmöglich erachtet, weil sie mit den »im römischen Reich stabilirten Zünften dermahlen eine unauflösliche Connexion haben«; Adler, Anfänge, S. 111. Dieselbe Argumentationsfigur findet sich noch im späten 18. Jahrhunden wieder. 103 Vgl. Adler, Anfänge, S. 80. 104 Vgl. Thiel, Gewerbe, S. 425 ff; Steiner-Durdik, Bader, S. 58 ff; Baltzarek, Rechtsprobleme, S. 104 ff. 105 Thiel, Gewerbe, S. 426.
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ansehnliche Zahl, die man wohl vor 1725 zu den »Störern« zählte. Das zitierte kaiserliche Patent von 1725 gehörte allerdings nicht zu einer langfristig angelegten Wirtschaftspolitik, sondern sollte mit den Einnahmen aus der Vergabe der Dekrete kurzfristig ein Loch in der Staatskasse füllen. Schon nach wenigen Jahren begann die Regierung zu fürchten, mit einer freizügigen Vergabe von individuellen Gewerbebefugnissen das zünftige Handwerk doch zu sehr zu schädigen und schränkte diese drastisch ein.106 Bestrebungen zur Etablierung einer gesamtstaatlichen Gewerbegesetzgebung in den Jahren um 1730 hielten jedenfalls grundsätzlich an den Zünften fest, wenn sie diese auch einer stärkeren staatlichen Kontrolle unterwarfen. Das stand im Einklang mit der Handwerksgesetzgebung des Reichs, für die sich Österreich in diesen Jahren verstärkt zu engagieren begann. Schon 1729 waren einheitliche »Generalzunftartikel« für die böhmischen Erbländer erlassen worden, welche die Reichshandwerksordnung von 1731 in wesentlichen Punkten vorwegnahmen bzw. ihr als Vorbild dienten. Der Reichsschluss wurde in Österreich sehr schnell als staatliches Gesetz eingeführt, in Böhmen schon im November 1731, in den österreichischen Ländern im Frühjahr 1732.107 In den folgenden Jahren strebte die staatliche Gewerbepolitik vor allem eine rechtliche Vereinheitlichung des Zunftwesens an. Dazu gehörte zunächst, die oben genannten Gruppen nichtzünftiger Handwerker möglichst weitgehend in die Zünfte zu inkorporieren. In Wien wurde die Verleihung von Hofbefreiungen und von Schutzbefugnissen eingeschränkt und zeitweilig völlig eingestellt; 1741 wurden nur noch 227 »Hofbefreite« gezählt.108 Die Stadtguardia wurde 1741/42 aufgelöst. Das Ziel war, ehemalige Dekretisten und Guardisten den bürgerlichen Zünften zu inkorporieren, wenn auch mit einem besonderen Status: Ihre Zunftzughörigkeit sollte nur »auf ihre Person allein« und »ad dies vitae« gelten, d.h. weder vererblich noch verkäuflich sein. Die Ergebnisse dieser Politik sind schwer einzuschätzen. Auf der einen Seite ist tatsächlich ein sprunghafter Anstieg der Zahl der bürgerlichen Meister festzustellen: zwischen 1736 und 1742 von 3.345 auf 4.773 (d.h. um 43 Prozent). Auf der anderen Seite bildeten die rund 1.400 neuen Meister nur einen kleinen Teil der unzünftigen Handwerker. Offensichtlich hatten sich die Zünfte unter dem Einfluss staatlicher Gewerbepolitik tatsächlich verbreitert; sie umfassten aber in Wien nach wie vor nur eine Minderheit der selbständigen Produzenten. 109 106 Das Patent hätte zwar auf die »erfodernus des fundi«, nicht aber auf die »Politische grundregulln« geachtet, formulierte die Hofkanzlei 1741; zit bei Adler, Anfänge, S. 82. 107 K.K. Theresianisches Gesetzbuch (1789), I, S. 196 ff. Ein Bezug zur Reichshandwerksordnung wurde allerdings im österreichischen Gesetzbuch nicht hergestellt. Die Ordnung erscheint vielmehr als unabhängiger einzelstaatlicher Akt. Vgl. dazu auch Adler, Anfänge, S. 119. 108 Adler, Anfänge, S. 85. 109 Vgl. dazu F. Baltzarek, Das Steueramt der Stadt Wien 1526-1760, Diss. Wien 1971, S. 104 ff.; A. Klose, Die wirtschaftliche Lage der bürgerlichen Gewerbe in Wien von 1749 bis 1775, Diss. Wien 1957, S. 9 ff.; Steiner-Durdik, Bader, S. 58 ff Ein Problem bestand darin, dass der Anstieg der
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Für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts fällt es schwer, das Verhältnis zwischen zünftigen und unzünftigen Handwerkern zahlenmäßig zu bestimmen. Einige Quellen sprechen für eine weitere Ausweitung der Zünfte, in vielen einzelnen Gewerben wuchs aber die Zahl der Befugten weiterhin stark an.110 Probleme für staatliche Zugriffe auf die Zünfte im allgemeinen und in bezug auf ihre soziale Öffnung im besonderen bestanden insbesondere dort, wo Eigentumsrechte betroffen waren. Diese bestanden in Österreich bei den sogenannten »Realgewerben«.111 Trotz vieler Diskussionen über die Abschaffung der »Realgewerbe«, vor allem unter Josef II., schreckte die Regierung vor diesem massiven Eingriff in bestehende Eigentumsverhältnisse zurück. In der Diskussion wurden zünftige Traditionen mit durchaus modernen Argumenten gestützt: 1789 argumentierte der Referent der Hofkanzlei, dass die »Stufenleiter der Stände durch ein neues Kettenglied, die bürgerliche Familie« vermehrt werden müsse. Das aber impliziere die Vererblichkeit von Gewerbe und Gewerbeberechtigung vom Vater auf den Sohn und verbiete damit die »unbedingte Freyheit« des Gewerbes.112 Dies war ein Argument, dem durchaus Realitätsgehalt zukam: wenn schon nicht für die Gesamtheit der Gewerbe, so doch für die reichen Handwerker in den »Polizeigewerben« mit einer festgesetzten Zahl. Die Anerkennung der Eigentumsrechte dieser zünftigen Oberschicht stellte ein wesentliches Hindernis für die Abschaffung der Zünfte dar. Die Bedeutung der Gewerbeberechtigung als Teil des Erbes wurde in Österreich sogar noch in der Gewerbeordnung des Jahres 1859 anerkannt. Diese definierte zwar im Prinzip »Personalgewerbe« als an die Person des Inhabers gebunden und mit seinem Tod erlöschend, sah aber für Witwen und minderjährige erbberechtigte Nachkommen eine »ausnahmsweise Übertragbarkeit« vor.113 Der Staat setzte seine Bemühungen um Vereinheitlichung des Zunftwesens auch auf anderen Gebieten fort. In Wien wurde versucht, ein einheitliches Wirtschaftsterritorium zu schaffen, das die Grenzen zwischen der Stadt, den Vorstädten und zunehmend auch den Vororten verwischte. Wo Unterschiede zwischen den Meistern der Inneren Stadt und der Vorstädte bestanden, wurden Meisterzahlen gerade in den geschlossenen Zünften den finanziellen Wert der Gewerbeberechtigungen senkte. Um dies zu verhindern, wurden Dekretisten und Guardisten in einigen Gewerben, wie z.B. bei den Badern und Barbieren, nicht als »Stadtmeister«, sondern nur als »Vorstadtmeister« aufgenommen. Die Zunft der Stadmeister blieb damit von der Ausweitung unberührt und konnte ihre fixe Zahl beibehalten; vgl. ebd., S. 58 ff; sowie Kapitel 3 und 7. 110 Vgl. zur dominierenden Rolle der zünftigen Gewerbe etwa das »Mercantil-Schema« des Jahres 1766 (Fuhrmann, Beschreibung); zum Verhältnis zünftige - befugte Handwerker vgl. Wagner, Kleingewerbe. 111 Vgl. dazu weiter oben. 112 Pribram, Gewerbepolitik, S. 443 f. Die Regierung respektierte im Prinzip den Marktwert der Gewerbeberechtigungen, versuchte aber, den Markt zu regulieren. 1779 wurde den Magistraten aufgetragen, ein eigenes Vormerkbuch über die verkäuflichen Gewerbe zu fuhren und jeden Besitzwechsel einzutragen; vgl.FleischhauergenossenschaftWien (Hg.), 300 Jahre, S. 33. 113 Kuliseh, Gewerbegesetzgebung, S. 923-941.
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diese - gegen den Widerstand der privilegierten Stadtmeister - beseitigt und die Zünfte damit vereinheitlicht. Auch diese Politik setzte sich allerdings nur langsam durch. Während ein Ansuchen der 589 Wiener Vorstadt-Schuster, den 170 Stadtmeistern in bezug auf die Zahl der erlaubten Lehrlinge und Gesellen und die Führung von Verkaufsgewölben in der Stadt gleichgestellt zu werden, 1770 noch nicht bewilligt worden war, wurden 1786 beide Gruppen »auf gleichen Fuß gesetzt«.114 In eine ähnliche Richtung ging der Versuch, Zünfte zusammenzufassen, deren Meister ähnliche Tätigkeiten ausübten. Mittels Hofverordnungen und Regierungsdekreten wurde von 1750 an eine ganze Reihe von Zünften vereinigt, in der Regel gegen den Widerstand der höherrangigen aber mit aktiver Beihilfe der niederrangigen Zünfte.115 In die Zunft der Wiener Seidenzeugmacher wurden z.B. 1736 die Vorstadtmeister inkorporiert, 1741 die SchutzDekreter, 1742 die Meister der aufgelösten Stadtguardia und schließlich 1778 die Dünntuchmacher. Wie es scheint, strebten die Behörden durchaus mit Erfolg eine Rationalisierung der traditionellen Grenzen zwischen den Zünften und eine Neugliederung und Systematisierung des Zunftwesens an. Das stellte einen massiven Eingriff in historisch gewachsene Strukturen dar, ohne aber das Zunftwesen insgesamt in Frage zu stellen. Einer ähnlichen Logik folgte die Differenzierung zwischen »Polizei«- und »Kommerzialgewerben«. Noch die Zunftordnungen des frühen 18. Jahrhunderts enthielten häufig Produktionsbeschränkungen, wie z.B. Höchstzahlen für Lehrlinge und Gesellen pro Meister oder für Werkstühle pro Werkstatt, wenn auch die praktische Bedeutung dieser Bestimmungen keineswegs klar ist. Etwa um 1740 setzten von Seiten der Regierung Überlegungen ein, für eine Reihe von Zünften derartige als wachstumshemmend empfundene Beschränkungen abzuschaffen. 1753/54 legte eine Neuordnung der staatlichen Kompetenzen fest, diese Gewerbe dem zentralen Kommerzdirektorium zu unterstel114 Zatschek, Handwerk, S. 103. 115 In Wien wurden etwa folgende Zünfte bzw. Berufsgruppen durch staatliche Verordnungen vereinigt: 1750 Vereinigung der Nadelein- und ausschläger zu »Nadlern«; 1753 Einverleibung der Galanteriearbeiter bei den Gold- und Silberarbeitern; 1753 Einverleibung der Lederzurichter bei den Lederern; 1771 Vereinigung der Klampferer (Klempner) und Flaschner zu »Spenglern«; 1772 Einverleibung der Rotgerber bei den Lederern; 1773 Vereinigung der Bader und Barbiere zu »Wundärzten und Chirurgen«; 1774 Vereinigung der Niederlags-Verwandten und der reichen Angehörigen des bürgerlichen Handelsstandes zum »Gremium der Großhändler«; 1775 Vereinigung der Langmesserschmiede und Schwertfeger; 1778 Vereinigung der Seidenzeugmacher und der Schleier- und Dünntuchmacher; 1811 Einverleibung der Galanterieschlosser bei den Schloss-, Eisen- und Blechschmieden; 1816 Einverleibung der Kunsttischler bei den Tischlern. Vgl. dazu Steiner-Durdik, S. 8; Bucek, Seidenfabrikanten, S. 12; Baryli, Gewerbepolitik, S. 22 u. 29.
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len, sie also aus der Kompetenz der lokalen Obrigkeiten auszugliedern. Die entsprechenden Gewerbe bezeichnete man als »Kommerzial-Gewerbe«, ihre Inhaber als »Kommerzial-Professionisten«. Eine erste Liste von Kommerzialgewerben ist 1755 aus Niederösterreich bekannt, sie bezog sich auf 48 Gewerbe. 1764 folgte Oberösterreich, dann kamen die weiteren Kronländer.116 Im großen und ganzen umfassten die Kommerzial-Gewerbe alle Textilhandwerke und Exportgewerbe, insbesondere die Erzeugung von Leinwand, Tuch, Baumwoll- und Seidengeweben, verschiedene Metallwaren, Glas- und Spiegelerzeugung, Lederverarbeitung und die größeren Kaufleute. Diese Gewerbe blieben weiterhin zünftig organisiert, sie wurden von Produktionsbeschränkungen aber weitgehend befreit. Die nicht in den Listen enthaltenen Zünfte galten als »Polizei-Gewerbe«, die den lokalen Obrigkeiten unterstanden, nur für den lokalen Bedarf produzieren und nicht unbeschränkt vermehrt werden sollten. Das Prinzip der »geschlossenen Zunft« mit einer festgesetzten Höchstzahl von Meistern wurde für diese Gewerbegruppe damit de facto in die staatliche Gewerbegesetzgebung übernommen; allerdings sollten nicht die Zünfte selbst, sondern die lokalen politischen Behörden bzw. Ortsobrigkeiten diese Höchstzahl festsetzen.117 Für wenige andere Gewerbe versuchten die Behörden, eine völlige Gewerbefreiheit einzuführen. Von 1765 bis 1779 wurden das Spinnen, das Weißnähen, das Spitzenklöppeln, das Stricken, das Leinwandweben auf dem flachen Land, das Seidenbandweben und einige wenige andere kleinere Gewerbe zu »freien Gewerben« erklärt, die jedermann gegen bloße Anmeldung betreiben konnte. Diese Maßnahmen führten aber nicht automatisch zur Beseitigung der Zünfte: Auch in einigen nunmehr »freien« Gewerben behielten die Handwerker ihre zünftische Organisation bis in das 19. Jahrhundert bei, wie z.B. die oberösterreichischen Leinenweber. Allerdings verschoben sich allmählich die Gewichte in Richtung auf Kommerzial-Gewerbe und freie Gewerbe. Von den 150 bürgerlichen Zünften, die in Wien 1820 bestanden, waren 66 Polizei-Zünfte, 80 Kommerzial-Zünfte und 4 Zünfte freier Beschäftigungen.118 Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an wurden auch wieder Schutz-Befugnisse in größerer Zahl vergeben. In einigen Gewerben begann in den 1820er Jahren die Zahl der »Befugten« die der zünftigen Meister zu übersteigen, wie z.B. bei den Wiener Tischlern, wo 1828 771 »Befugte« 447 »bgl. Meistern« gegenüberstanden. Allerdings blieb das Recht, Lehrlinge aufzudingen und freizusprechen, den Zünften vorbehalten und ebenso die Verwaltung des Arbeitsmarkts der Gesellen. 119 116 Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte, S. 403; Adler, Anfänge, S. 86. 117 Auch die Behörden waren allerdings gegenüber einer zu starken Vermehrung der Gewerbe skeptisch eingestellt. Bis in den Vormärz hinein wurde eine restriktive Verleihungspraxis als Garant für soziale Ordnung betrachtet. 118 Baryli Gewerbepolitik, S. 12; Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte, S. 404. 119 Zatschek, 550 Jahre. S. 35 f.
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Das Interesse des Staates an den Zünften war auch darin begründet, dass er diesen im 18. Jahrhundert in mehreren Bereichen staatliche Verwaltungsaufgaben übertrug. Als erstes ist hier das Steuerwesen zu nennen. Schon eine Vermögenssteuerordnung von 1702 legte fest, dass Zunftmeister auch für jeden von ihnen beschäftigten Gesellen Steuer zu zahlen hätten, die vom Lohn abzuziehen sei.120 Von besonderer Bedeutung war allerdings die Steuerreform 1748/ 49, die an die Stelle der bisher üblichen Vermögens- und Kopfsteuern eine Einkommenssteuer setzte. Bei den Gewerbetreibenden bemaß sich diese Steuer nach Betriebsgröße (Indikatoren waren etwa die Zahl der Gesellen, der Werkstühle, der Arbeitsräume und ähnliches) und Einkommen. Die Zünfte erhielten die Aufgabe, für alle ihre Mitglieder das steuerpflichtige Einkommen festzustellen, den Steuersatz für jedes Zunftmitglied in Listen zu erfassen, die Steuern einzuheben und bei den zuständigen Behörden abzuliefern. Die Zunft haftete für die Steuerleistung aller ihrer Mitglieder. 121 Ein weiterer wesentlicher Tätigkeitsbereich der Zünfte war die Übernahme polizeilicher Funktionen. Schon vom Beginn des 18. Jahrhunderts an waren die österreichischen Behörden bestrebt, zur Kontrolle der Gesellen, und insbesondere der wandernden Gesellen, schriftliche Arbeitszeugnisse und Reisedokumente einzuführen. Die Reichshandwerksordnung von 1731 und die von ihr abgeleiteten Gesetze legten bekanntlich einen einheitlichen Standard für diese Dokumente, die sogenannten »Kundschaften«, fest. Es war die Aufgabe der Zunftvorsteher, diese Dokumente entsprechend den gesetzlichen Vorschriften drucken zu lassen, auszustellen bzw. zu kontrollieren.122 Das zünftig organisierte Gesellenwandern blieb für die Behörden zudem ein bewusst eingesetztes Mittel zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit und zur Verhinderung von sozialen Unruhen. Während einer wirtschaftlichen Krise der Wiener Seidenzeugmacherei 1791/92 wies die Stadthauptmannschaft die Zunftvorsteher an, »alle fremden, hier nicht ortszuständigen Gesellen wegzuschicken«. Die niederösterreichische Regierung präzisierte, dass alle unverheirateten Gesellen, die länger als drei Tage keine Arbeit fänden, wegzuwandern hätten.' 23 120 Vgl. Adler, Anfänge, S. 28 ff. Adler weist insbesondere auf die Konflikte hin, die diese Vermögenssteuerordnung zwischen Staat und Ständen hervorrief, da sie auch grundherrschaftlicher Jurisdiktion unterstehende Zünfte einbezog. 121 Zu den gesetzlichen Grundlagen und zur Praxis der Steuereinhebung vgl. Klose, wirtschaftliche Lage, S. 6 ff.; Baltzarek, Steueramt, S. 183 f., 193 ff. 122 Vgl. dazu F. Pichler, Die Wanderdokumente der Handwerksgesellen, (= Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs, Bde. 19/20), Graz 1970; K. Stopp, Die Handwerkskundschaften mit Ortsansichten. Beschreibender Katalog der Arbeitsattestate wandernder Handwerksgesellen, Bd. 1, Stuttgart 1982; Thiel, Gewerbe, S. 421 ff In Wien wurde sogar versucht, bei der Neuorganisation des Polizeiwesens 1751 eine Meldepflicht für alle Fremden einzuführen und den Zünften in Kooperation mit den Polizeikommissaren (»Viertelkommissare«) die Aufgaben einer staatlichen Meldestelle zu übertragen. Vgl. zum Meldegesetz allgemein K.K. Theresianisches Gesetzbuch 1789,I, S. 295 ff; zur Einbeziehung der Zünfte Seliger u. Ucakar, Wien, S. 67. 123 Gugitz, Aufstand, S. 162-164.
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Weitere Aufgaben wurden den Zünften im Bereich der Qualitätskontrolle von Exportgütern übertragen. Die staatliche »Manufakturqualitätenordnung« von 1751, die vor allem Seidenstoffe betraf, und später die »Samtqualitätenordnung« von 1763 führten eine regelmäßige Visitation der Produzenten durch von der Zunft bestimmte »Beschaumeister« ein. Diese sollten alle zwei bis vier Wochen jede Werkstätte kontrollieren, die Qualität der in Arbeit befindlichen Stücke feststellen, und Qualitätsmängel bei der Regierung anzeigen.124 Wie es scheint, wurden den Zünften auch zusätzliche soziale Aufgaben übertragen. In den 1770er Jahren setzte eine Welle der Gründung von »Witwenkassen« ein, die einheitliche Statuten erhielten und von den Zünften verwaltet wurden. 125 Je mehr Funktionen die Zünfte im Interesse des Staates erfüllten, desto mehr wurde allerdings die staatliche Kontrolle über die Zünfte ausgebaut. Schon in der Gewerbegesetzgebung des frühen 16. Jahrhunderts war festgelegt worden, dass sich Zunftmitglieder nur mit Wissen und im Beisein der politischen Obrigkeit versammeln dürften. Die Handwerksordnungen Leopolds I. und schließlich die Generalhandwerksordnung von 1731 präzisierten diese Bestimmungen durch die Einführung eines »Innungs-Kommissärs«, der vom Stadtrat ernannt und von den Zünften bezahlt werden sollte. Auch in diesem Bereich vollzog sich die praktische Durchsetzung der gesetzlichen Bestimmungen nur langsam. In einigen Zünften wird schon in den 1720er Jahren über die regelmäßige Tätigkeit von Innungs-Kommissären berichtet, eine allgemein etablierte Institution scheinen sie aber erst von den 1750er Jahren an geworden zu sein. Nun nahmen - zumindest in Wien - Kommissare an allen Versammlungen und an der Rechtsprechung teil und hatten in der Regel auch einen der Schlüssel zur Zunftlade in Verwahrung. Während in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Wien gelegentlich im Rat sitzende Kaufleute als Innungs-Kommissare fungierten, finden wir von der Jahrhundertmitte an nur mehr Magistratsbeamte.126 In zunehmendem Maß wurde auch das Finanzgebaren der Zünfte der obrigkeitlichen Kontrolle unterworfen.127 Neben der Zuweisung von Verwaltungsaufgaben an Zünfte bestand im 18. Jahrhundert aber auch die gegenläufige Tendenz, Tätigkeitsbereiche der Zünfte zu reduzieren. Schon die Generalhandwerksordnung von 1731 schränkte die autonome Gerichtsbarkeit der Zünfte stark ein. Zünfte durften nur mehr Fälle 124 Bucek, Seidenfabrikanten, S. 89 ff. 125 Vgl. A. Steidl,»... Trost für die Zukunft der Zurückgelassenen.« Die Funktion der Witwenpensionskassen im Wiener Handwerk im 18. und 19. Jahrhundert, in: J . Ehmer u. P. Gutsdiner (Hg.), Das Alter im Spiel der Generationen. Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge, Wien 2000. 126 Vgl. am Beispiel der Seidenzeugmacher Bucek, Seidenfabrikanten, S. 19 ff; allgemein Thiel, Gewerbe, S. 421. 127 Die Zunftordnung der Wiener Fleischhauer vom 7.5.1819 legte etwa explizit fest, dass die Jahresabschlussrechnung der Zunft dem Magistrat zur Genehmigung vorgelegt werden müsse. Vgl. Fleischhauergenossenschafi Wien (Hg.), 300 Jahre, S. 63-72, hier 66.
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behandeln, deren Strafen den Wert von 2 fl. nicht überschritten, und auch das nur im Beisein des Innungs-Kommissärs.128 Im späten 18. Jahrhundert verstärkte sich diese Tendenz. Von der staatlichen Rechtssprechung und Verwaltung wurden Zunftstatuten von 1768 an nicht mehr als Privilegien verstanden, sondern als Verordnungen. Sie gingen damit von dem Privatrecht in das Verwaltungsrecht, aus der Zuständigkeit der Gerichte, in die der politischen Behörden über.129 Die staatliche »Manufakturqualitätenordnung« von 1751 wurde schon 1782 durch ein Hofdekret Josefs II. wieder aufgehoben; nunmehr sollte die Qualität der Waren dem »Wetteifer der Fabrikanten freygelassen« und »Jedermanns eigenem Befunde« überlasssen werden.130Auch soziale Aufgaben der Zünfte übernahmen unter Josef II. zum Teil staatliche Institutionen. In Wien löste man etwa 1783 alle Bruderschaften auf und setzte an ihre Stelle ein einheitliches Armeninstitut, das in 29 regionale Armenbezirke gegliedert war.131 Im Bereich des Steuerwesens verloren die Zünfte ihre Aufgaben im Jahr 1801. Nunmehr hatte jeder Steuerpflichtige seine Leistungen unmittelbar mit der zuständigen Behörde zu verhandeln und seine Steuern individuell an diese zu entrichten.132 Am längsten übten die Zünfte staatliche Funktionen im Bereich der polizeilichen Kontrolle der Gesellen aus. Hier markierte die Ersetzung der Kundschaften durch Wanderbücher im Jahr 1829 einen Wendepunkt. Wanderbücher waren zukünftig für alle Arbeiter obligatorisch, nicht mehr nur für Handwerksgesellen, und unabhängig davon, ob sie wanderten oder nicht. Die Ortsobrigkeiten, die sich allerdings in hohem Maß auf die Kooperation mit den Handwerksmeistern als Arbeitgeber und »Hausväter« stützten, stellten die Wanderbücher aus und kontrollierten diese. Schließlich verloren die Zünfte auch dadurch an gesellschaftlicher Prägekraft, dass sich die größeren Unternehmer und Kaufleute allmählich aus ihnen herauslösten und mit den in den 1830er Jahren gegründeten »Gewerbevereinen« und ab 1849 mit der Handelskammer eigene Organisationen aufbauten. 133
128 K.K.Theresianisches Gesetzbuch 1789,I, S. 231. 129 Hoffmattn, Wirtschaftsgeschichte, S. 404, 410. 130 Bucek, Seidenfabrikanten, S. 94. 131 Seliger u. Ucakar, Wien, S. 183. 132 Klose, wirtschaftliche Lage, 7. 133 Die gesetzlichen Grundlagen dazu wurden 1827 geschaffen, sie traten aber erst 1829 in Kraft; vgl. dazu Pichler, Wanderdokumente, S. 197,105 ff. Das Wanderbuch war damit die Vorstufe zu einem allgemeinen Arbeitsbuch, das mit der Gewerbeordnung von 1859 geschaffen wurde; vgl. ebd., S. 111.
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7. Z u r Persistenz sozialer Traditionen des Zunftwesens Wenn auch die Zünfte von neuen Formen der Vergesellschaftung abgelöst zu werden begannen, so waren aber doch gerade in Österreich soziale und kulturelle Traditionen des Zunftwesens bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein lebendig. Zumindest im ersten und im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, wenn nicht länger, blieb die Gesellenwanderung die wichtigste Form der Arbeitsmigration, die nahezu unglaubliche Ausmaße erlangen konnte. Das »Vormerkbuch über die ein- und ausgewanderten und in Arbeit eingebrachten Gesellen« der Wiener Zunft der Kleidermacher registrierte etwa vom 10. Oktober 1836 bis zum 8. Mai 1850 insgesamt 131.933 Schneidergesellen, die auf der Suche nach Arbeit in Wien angelangt waren. Die Zünfte waren an der Registrierung und Kontrolle der wandernden Gesellen wesentlich beteiligt. Herbergen, Wanderunterstützung in Form des »Geschenks« und Arbeitsvermittlung bildeten auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts institutionelle Grundlagen der Mobilität der Handwerker.134 Der Ledigenstand und das Wohnen im Meisterhaushalt prägten nach wie vor das soziale Profil der Gesellen. In der Wiener Vorstadt Schottenfeld waren nach der Volkszählung von 1857 nur 17 Prozent der Handwerksgesellen verheiratet, und nur 28 Prozent lebten in einer eigenen Wohnung. Dies war wenig im Vergleich mit den 53 Prozent im Meisterhaushalt Lebenden und den 18 Prozent Bettgehern bzw. Untermietern. 135 Wenn auch mit der Ablösung der Kundschaften durch die Wanderbücher die Funktion der Zünfte als Kontrollorgan der Gesellen zurückging, stieg jene der Handwerksmeister sogar kurzfristig an: als »hausväterliche« Quartiergeber und Arbeitgeber, als Kontrolleure und Ausfertiger der Wanderbücher, und als Auskunftspersonen, wenn Gesellen bei der jeweiligen Ortsobrigkeit um die Heiratserlaubnis ansuchten.136 Auch der traditionelle handwerkliche Lebenslauf behielt seine Prägekraft bei. Bis zum Ende des Jahrhunderts scheint die Erwartung, nach einer handwerklichen Lehre und einigen Jahren auf der Wanderschaft zur Niederlassung als selbständiger Meister zu gelangen, durchaus realistisch gewesen zu sein.137 Neben den Strukturdaten verweisen unzählige Autobiographien von Handwerkern aus dem 19. Jahrhundert auf die andauernde Bedeutung traditioneller Praktiken, Bräuche und Erwartungen: wenn nicht als einheitliche »handwerkliche Arbeits- und Lebensweise«, so doch als fragmentarisches Puzzle von Überlieferung oder 134 Vgl. dazu Ehmer Worlds; den., Denken; A. Steidl, Regionale Mobilität der städtischen Handwerker. Die Herkunft Wiener Lehrlinge/Lehrmädchen, Gesellen und Meister im 18. und 19. Jahrhundert, Diss. Wien 1999. 135 Ehmer, Traditionen, S. 34, 73. 136 Ebd., S. 42 ff Zu den Funktionen der Meister bei der Ausfertigung handwerklicher Wanderdokumente vgl. Pichler, Wanderdokumente, S. 107. 137 Vgl. dazu Ehmer, Traditionen, S. 130 ff
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Wiederbelebung. Wenn auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die österreichischen Zünfte in vieler Hinsicht an gesellschaftlicher Bedeutung verloren, blieben doch die sozialen Traditionen des zünftigen Handwerks ein wesentlicher Bestandteil der vielfältigen Gemengelangen des Modernisierungsprozesses.138
138 Die »Auflösung der zünftigen Lebens- und Arbeitsformen« im frühen 19. Jahrhundert wird noch immer weit überschätzt. Vgl. zuletzt etwa J . Bergmann, Handwerk und Tradition. Zum Charakter und zur Bedeutung des handwerklichen Traditionalismus bis zum Ende der Weimarer Republik, in: ZfG, Jg. 44, 1996, H. 10, S. 869-896, hier 875.
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SANDRA B O S / PIET LOURENS / J A N LUCASSEN
Die Zünfte in der niederländischen Republik
Es ist eine Binsenweisheit: Wer den Handelskapitalismus verstehen will, sollte sich zuallererst der niederländischen Republik zuwenden. Schon Karl Marx nannte sie die »Musternation« des Handelskapitalismus. Er verstand darunter die direkte Beherrschung der Produktion durch das kaufmännische Kapital und die daraus resultierende »gewaltsame Expropriation der Bauern und Handwerker, kurzum, aller Bestandteile der unteren Mittelklasse« und fügte hinzu: »Darüber gibt es selbst unter den bürgerlichen Ökonomen keine Meinungsverschiedenheiten.« 1 Marx hat sich nicht explizit zu der Frage geäußert, welcher Stellenwert in dem so charakterisierten niederländischen Handelskapitalismus der Organisation von Handwerkern oder Industriearbeitern in Zünften zukommt. 2 Höchstwahrscheinlich hätte er den Zünften keine wichtige Rolle beigemessen. Tatsächlich haben viele Historiker des Handelskapitalismus die Zünfte als ein unbedeutendes Überbleibsel der mittelalterlichen Ständegesellschaft angesehen. Anthony Black betrachtet die niederländische Republik, die aus dem Aufstand gegen Spanien hervorging, als die erste Führungsnation und Seemacht des Überseehandels, eine Rolle, die nach 1688 England übernahm. 3 Er analysiert, wie sich in beiden Ländern die vertragsrechtliche Sicht von Gesellschaft und Staat herausbildet. Diese Vorstellungen führten in England zur Entwicklung und Akzeptanz der Hobbeschen Philosophie und später der wirtschaftspolitischen Freihandelslehren, in denen Black die »Antithese der Zunftdoktrin« erblickt. In der Tat häuften sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die juristischen Angriffe auf die Zünfte. Die folgerichtige Erwartung, dass auch im Goldenen Zeitalter der Niederlande die Zünfte mit der Expansion von Handel und Gewerbe unvereinbar waren, scheint sich auch durch die Kritik der be1 P. Lourens u. J . Lucassen, Marx als Historiker der niederländischen Republik, in: M. van der Linden (Hg.), Die Rezeption der Marxschen Theorie in den Niederlanden, Trier 1992, S. 430-454, bes. S. 444. 2 IC Marx, Das Kapital I, in: MEGA, Abt. II, Bd. 10, Berlin 1987, S. 278,306 u. 323 f.; ders., Das Kapital III, in: MEW, Bd. 25, Berlin 1964, S. 839. 3 A. Black, Guilds and Civil Society in European Political Thought from the Twelfth Century to the Present, Ithaca/New York 1984, S.153 ff., 167, 172 ff.
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kanntesten Ökonomen dieser Zeit, Johan und Pieter de la Court, an der Institution Zunft zu bestätigen.4 Aus derselben Haltung heraus verurteilte auch Adam Smith die Beschränkung ökonomischer Freiheiten durch korporative Institutionen in England, Frankreich und Schottland. 5 Ökonomische Theorien und Kritiken spiegeln jedoch nicht immer unmittelbar institutionellen Wandel wider. Zum Beispiel hat Walker für England gezeigt, dass sich der Untergang der Zünfte, obwohl er schon im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts einsetzte, über etwa anderthalb Jahrhunderte hinzog und in verschiedenen Phasen ablief Auch im 18. Jahrhundert waren viele englische Zünfte noch überaus aktiv.6 Diese überraschenden Befunde sollten uns auch im Hinblick auf die niederländische Republik vor voreiligen Schlussfolgerungen warnen. Wie in den meisten Ländern wurden die Zünfte in den Niederlanden bis vor kurzem als im wesentlichen mittelalterliches Phänomen angeschen, obwohl sie bis zu ihrer erzwungenen Abschaffung nach der Revolution von 1795 existierten. Was die Natur dieser langen Existenz während der frühen Neuzeit angeht, schenkten ihr die meisten niederländischen Wirtschafts- und Sozialhistoriker kaum Aufmerksamkeit. So weit sie es taten, waren sie geneigt, ihre Rolle als unbedeutend einzustufen. 7 Nur Van Dillen und Unger betonten die Wichtigkeit der ökonomischen Regulierung durch die Zünfte in der niederländischen Republik und insbesondere in ihrer Hauptstadt Amsterdam. 8 Vor einigen Jahren hat Nusteling das Thema des Verhältnisses zwischen Zünften, ökonomischem Wachstum und Lebensstandard wieder aufgegriffen. Eine seiner Thesen ist, dass Zünfte und insbesondere ihre Versicherungsfunktionen im 18. Jahrhundert genutzt wurden, um ihre Mitglieder gegen die Widrigkeiten einer krisenhaften Wirtschaft zu schützen.9 4 J . Lucassen, Het welvaren van Leiden (1659-1662), in: B. de Vries u.a. (Hg.), De kracht der zwakken. Studies over arbeid en arbeidersbeweging in het verleden. Opstellen aangeboden aan Theo van Tijn bij zijn afscheid als hoogleraar economische en sociale geschiedenis aan de Rijksuniversiteit Utrecht, Amsterdam 1992, S. 13-48. 5 A. Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, London 1931, Bd. 1,S. 10 u. Bd. 2, S. 3. 6 M . J . Walker, The Extent of the Guild Control of Trades in England, c. 1660-1820: A Study Based on a Sample of Provincial Towns and London Companies, Cambridge 1985. 7 Einen Überblick zum Stand der Geschichtsschreibung in P. Lourens u. J . Lucassen, Ambachtsgilden in Nederland: een eerste inventarisatie, in: NEHA-Jaarboek voor economische, bedrijfs- en techniekgeschiedenis, Jg. 75, 1994, S. 34—62; vgl. auch M. Prak, Ambachtsgilden vroeger en nu, ebd., S. 10-33; I. Lucassen, Het welvaren, S. 16-22. 8 R. W. Unger, Dutch shipbuilding before 1800. Ships and guilds, Assen 1978, bes. S. 14-23; J G . van Dillen, Van rijkdom en regenten. Handbock tot de economische en sociale geschiedenis van Nederland tijdens de Republiek, Den Haag 1970, S. 290-294; ders., Bronnen tot de geschiedenis van het bedrijfswezen en het gildewezen van Amsterdam II, Den Haag 1933, S. VIII-XVL 9 H. Nusteling, Welvaert en werkgelegenheid in Amsterdam 1540-1860. Een relaas over demografìe, economie en sociale politiek in een wereldstad, Amsterdam/Dieren 1985, S. 152-157.
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1. Die Zünfte in der niederländischen Republik: einige grundlegende Tatsachen Ohne einige grundlegende Tatsachen über die Anzahl der Zünfte, die Dauer ihres Bestehens, die betroffenen Wirtschaftssektoren und ihre geographische Verteilung ist es schwierig, das Verhältnis zwischen Handelskapitalismus und korporativen Organisationen zu analysieren oder die Funktion der Zünfte in der Gesellschaft zu Beginn der Neuzeit im allgemeinen zu begreifen. In einer Datenbasis über alle Zunftorganisationen in den Niederlanden (in den gegenwärtigen Grenzen) von den frühesten Zeiten an, wurden alle Organisationen einbezogen, die zumindest den folgenden Bedingungen entsprechen:10 a. Die Zunft organisiert jene, die in einem oder mehreren verschiedenen Gewerbe gemeinsam arbeiteten. Sie hat dabei einen ökonomischen Interessenzweck, weshalb militärische Gilden (»Schuttersgilden«, »Schützengilden«), Nachbarschaftsgilden (»Buurtgilden«) oder rein religiöse Bruderschaften nicht berücksichtigt werden. b. Sie besaßen Mitglieder und einen Vorstand, d.h. sie setzten sich nicht allein aus »neringen« (Gewerben) zusammen. 11 c. Sie wurden von der örtlichen Regierung, meist der Stadtregierung, anerkannt. d. Sie kontrollierten den Zugang zu der besonderen Berufsgruppe, die sie vertraten, d.h. sie übten ein Monopol aus. Freiwillige Berufsorganisationen, selbst wenn diese die Anerkennung der Stadtregierungen genossen, wurden mithin nicht einbezogen. Unter Zünften lassen sich vier Organisationstypen unterscheiden, jene, die ausschließlich aus Meistern bestanden und die die Mehrheit ausmachten; einige Organisationen, in denen Meister und Gesellen gemeinsam vertreten waren; Organisationen von Gesellen in Sektoren, in denen es keine Meister gab (wie bei den Lastträgern); und andere Gesellenorganisationen. Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass - im Gegensatz zur vorhandenen Literatur - die Niederlande viele Zünfte kannten: nahezu 2000.12
10 Technische Erläuterungen zum Vorgehen bei Lourens u. Lucassen, Ambachtsgilden. 11 N.W. Posthumus, De neringen in de Republiek, ( = Medelingen der Koninklijke Academie van Wetenschappen, Afdeling Letterkunde, deel 84, serie B, no. 1), Amsterdam 1937; H. Noordkerk, Handvesten ofte Privilegien ende octroyen. Mitsgaders willekeuren, costuimen, ordonnatien en handelingen der stad Amsteredam. Bd. 2. Amsterdam 1748, S. 1173. 12 Vgl. Black, Guilds,S. 168 u. 170. Bayern zählte im frühen 19. Jahrhundert 9.800 Zünfte, das entspricht etwa einer Zunft auf 500 Einwohner. In Preußen gab es 4.600 Zünfte, also etwa eine Zunft auf 5.000 Einwohner. Die Niederlande lagen mit einer Zunft auf 1.500 Einwohner etwa in der Mitte dieser beiden Extreme.
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Tabelle 1: Regionale Verteilung der Zunftgründungen -1550
15511600
16011650
16511700
17011750
1751-
Unbekannt
Total
Groningen
20
6
18
7
5
8
1
65
Friesland
20
15
26
32
12
11
0
116
Drenthe
0
0
4
4
0
3
0
11
Overjissel
42
18
37
18
11
22
0
148
Gelderland
45
25
38
16
4
25
1
154
Utrecht
27
10
30
17
5
8
0
97
N-Holland
47
37
67
41
16
39
2
249
Z-Holland
99
66
119
87
39
45
0
455
192
63
57
28
10
24
14
388
N-Brabant
69
19
22
30
11
10
2
163
Limburg
50
20
9
11
9
8
3
110
611
279
427
291
122
203
23
1956
Zeeland
Total
IISH Amsterdam: DB Zünfte 02.11.1994 (Piet Lourens/Jan Lucassen)
Dabei ergibt sich folgendes Bild: Mehr als ein Drittel (38%) der Zünfte bestand in den heutigen Provinzen Nord- und Südholland, die meisten allerdings im unteren Westteil des Landes (den »Seeprovinzen«), d.h. in den Gebieten westlich der Linie Delfzijl/Bergen-op-Zoom. Sie konzentrierten sich in den Teilen des Landes, in denen handelskapitalistische Aktivitäten verbreitet waren. Vor allem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts liegt die Hochzeit der Zunftgründungen. Das gilt für das Land als Ganzes (22%), insbesondere aber für die Provinzen von Holland (26%) und für den Westteil des Landes insgesamt. In den Südprovinzen Limburg, Noord-Brabant und Zeeland stammten die Zünfte allerdings zumeist aus dem Mittelalter. Niemals gab es mehr Zünfte in den Niederlanden, als gerade vor ihrer erzwungenen Auflösung im Jahre 1798. Bei einer Feinanalyse der Gründungen treten sehr deutlich zwei Scheitelpunkte hervor: die letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts und das zweite Viertel des 17. Jahrhunderts. Wie lassen sich diese Höhepunkte erklären? Und - ebenso wichtig-weshalb nahm das Interesse an Zunftgründungen in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ab? Der Versuch, diese Ent130 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Wicklungen zu analysieren, fuhrt zu der Diskussion über die Funktion der Zünfte in der niederländischen Republik.
2. Die Funktion der Zünfte Fast alle Zunftsatzungen regeln die Qualität des Endprodukts, die Bedingungen für den Eintritt in die Zunft und die gegenseitigen Hilfsleistungen. Damit sollte der unlautere Wettbewerb durch Zunftmitglieder in Form minderwertiger und daher billigerer Produkte und Dienstleistungen verhindert und ein Überangebot an Waren ausgeschlossen werden. Beide Aufgaben zielten in erster Linie darauf ab, den Zunftmitgliedern ein angemessenes Einkommen zu garantieren. Da die Gründe für die Einrichtung einer einzelnen Zunft sehr selten angegeben werden, sind indirekte Schlüsse aus den statistischen Angaben zu ziehen. Lassen sich die Zunftgründungen auf die beiden möglichen großen Gefahren für das Einkommen der Zunftmitglieder zurückfuhren? Masseneinwanderungen können zwar gut den ersten Gründungsboom, nicht aber die Wirtschaftskrise danach erklären und überhaupt nicht für den zweiten Höhepunkt herangezogen werden. 13 Ein Preisanstieg der Grundnahrungsmittel, der direkt das Realeinkommen der Zunftmitglieder und indirekt die Nachfrage nach gewerblichen Produkten gefährdete, scheint besser mit den Entwicklungen nach 1600 zusammenzupassen. Denn Leo Nordegraaf zeigt, wie teuer die Jahre 1595-1600 und 1622-1632 waren, sowohl nach objektiven Standards als auch nach den zeitgenössischen qualitativen Quellen. 14 Die ersten Zunftgründungen in den Niederlanden gehen auf die Mitte des 13. Jahrhunderts zurück. Seit dem Ende des Mittelalters waren Zünfte landesweit zu finden, aber die bei weitem meisten Gründungen fanden später statt, besonders seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in den Westteilen der Republik. Damit ist allerdings nichts darüber ausgesagt, ob sie sich geographisch gleichmäßig verteilten. Gab es mehr Zünfte in großen oder in kleinen Orten oder traten sie nur in Städten auf? Von den 159 Gemeinden die in den Niederlanden Stadtrecht besaßen, bestanden immerhin in 115 Städten Zünfte, daneben bestanden sie auch in 44 Dörfern.15 Untersucht man das Verhältnis zwischen der 13 Zur Einwanderung in die Niederlande v g l J . Lucassen, The Netherlands, the Dutch, and Long Distance Migration in the Late Sixteenth to the Early Nineteenth Centuries, in: N. Canny (Hg.), Europeans on the Move: Studies on European Migration 1500-1800, Oxford 1994, S. 153— 191. 14 L. Noordegraaf, Hollands welvaren? Levensstandaard in Holland 1450-1650, Bergen 1985, S.40. 15 Vgl. F. D. Zeiler, »Men segt, dat hier so een gilde is...«. Semi- en buitenstedelijke gilden in Noordwest-Overijssel in de zeventiende en achttiende eeuw, in: NEHA-Jaarboek voor economische, bedrijfs- en techniekgeschiedenis, Jg. 57, 1994, S. 97-106.
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Bevölkerungsgröße und der Zahl der Zünfte, zeigt sich, dass sie sich im gleichen Tempo parallel entwickelten: Am Ende des 18. Jahrhunderts kam auf 800 Einwohner im nationalen Durchschnitt eine Zunft. Sowohl kleinere als auch größere Orte waren Bastionen der Zünfte. In einem Drittel aller Orte mit 251— 500 Einwohnern bestand ebenso wie in einem Drittel der Gemeinden mit 5 0 1 1000 Bewohnern eine Zunft. Alle anderen Orte zeigten ein höheres oder niedrigeres Verhältnis. Diese Ausnahmen sind einerseits Amsterdam (eine Zunft auf 4600 Einwohner) sowie einige protoindustrialisierte Dörfer, zum Beispiel Wìnterswijk mit einer Zunft auf 5669 Einwohner, und andererseits allmählich untergehende Städte in Zeeland, wie Sluis, mit einer Zunft auf 70 Einwohner.16 Tabelle 2: Verteilung der Zünfte nach Einwohnerzahl und Wirtschaftssektor
< 5.000
5.000-20.000
> 20.000
Total
0
2
1
Landwirtschaft
12
7
5
24
Fischerei
12
9
1
22
Unbekannt
3
Nahrung
91
77
48
216
Industrie
349
256
202
807
Bauwesen
88
64
33
185
91
93
101
285
158
88
82
328
Handel Transport Beamtentum Dienstleistung Total
1
3
7
11
16
24
21
61
818
623
501
1942
IISH A m s t e r d a m : D B Zünfte 02.11.1994 (Piet Lourens/Jan Lucassen)
Im Textilgewerbe waren Zünfte (210=10,7%) am stärksten vertreten, gefolgt vom Baugewerbe (185=9,5%), der Nahrungsmittelproduktion (außer Brauereien) (182 = 9,3%), dem sonstigen Bekleidungsgewerbe mit 166 und der Binnenschifffahrt mit 148 Zünften. Mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Aktivitäten und einem Teil der Protoindustrie waren die bei weitem meisten Vollbeschäftigten Zunftregulierungen unterworfen.17 Für die Saisonarbeit und 16 Vgl. J . van Genabeek, De Afschafïìng van de gilden en de voortzetting van hun functics, in: NEHA-Jaarboek voor economische, bedrijfs-en techniekgeschiedenis,Jg. 57, 1994, S.63-90, bes. S.68. 17 Ebd., S. 70.
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Arbeiten, die in der Regel auf gewisse Alterskategorien beschränkt waren, ebenso wie für die unter hausrechtlichen Bedingungen Beschäftigten (d.h. Dienstboten, Hausangestellte) und Soldaten spielten zünftige Strukturen allerdings eine eher geringere Rolle.18 Neben der Minderung sozialer Risiken, die eine der Hauptfunktionen der Zünfte war, sind auch ihre politische und religiöse Bedeutung zu nennen, obwohl sie in den Kerngebieten der niederländischen Republik nicht wichtig waren. Wie in den Südniederlanden und überall sonst in Westeuropa hatten Handwerkszünfte in den Nordniederlanden ursprünglich religiöse Funktionen. Für viele Hunderte vor der Reformation gegründeten Zünfte sind Altäre, Kapellen usw. überliefert. Zunftmitglieder nahmen an Prozessionen teil und feierten den Tag ihres Schutzheiligen mit einer Messe. Mit dem Aufkommen der Reformation in den heutigen Niederlanden jedoch verschwand diese Tradition sehr schnell, und in einigen Städten wurden die Zünfte gar wegen ihrer »Papisterei« abgeschafft.19 Obwohl die Stadtregierungen von da an Sorge trugen, dass die Zünfte streng weltlich blieben, bedeutete das keineswegs, dass sie alle auf ihr religiöses Leben verzichteten.20 In einigen Städten beteiligten sich die Zünfte etwa an der »Protestantisierung« des Landes. Am weitesten gingen Maßnahmen, die darauf abzielten, Katholiken vollständig von der Mitgliedschaft auszuschließen. In Hulst z. B. stellte man im Jahre 1645 die Lastträger vor die Wahl, protestantisch zu werden oder die Zunft zu verlassen, vor der gleichen Wahl standen die Lehrlinge in allen anderen Zünften.21 In Nijmegen ergriffen am 21. Juni 1667 alle Zünfte ähnliche Maßnahmen, mit Ausnahme der Brauer, deren Zunft weiterhin zur Hälfte aus Katholiken bestehen durfte.22 Weniger ernst, aber nicht weniger diskriminierend waren Maßnahmen, die gewisse Vorteile der Zunftmitglìedschaft nur Protestanten vorbehielten, wie unter den Rotterdamer Schiffern, die die katholischen Mitglieder ausschlossen. Erst 1778 verbot das Ratsherrengericht diese Praxis als gesetzwidrig.23 Auch andere Stadtregierungen behielten einige oder alle offiziellen Funktio18 Vgl. Lucassen, The Netherlands, S. 153-191. 19 Lediglich in einigen Städten der heutigen Provinz Limburg wurde der katholische Charakter des Zunftwesens auch weiter nach außen hin aufrechterhalten. Im Rest des Landes wurden die Zünfte areligiös. 20 In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass viele Zünfte ihre Schutzpatrone auch nach der Reformation beibehielten und seinen Namenstag weiterhin feierlich begingen. 21 P. L Brand, De geschiedenis van Hulst, Hulst 1972, S. 277. 22 M. van Aspert, Vrijheid, gelijkheid en broederschap? De patriotten en de gilden 1795-1820. De wijze waarop de besluitvormingvan de centralc overheid door het stadbestuur van Nijmegen in praktiik werd gebracht, Examensarbeit KUN Nijmegen 1993, S. 34. 23 J . M. Fuchs, Beurt- en wagenveren, 's Gravenhage 1946, S. 116; A. C. Kersbergen, De positie van de Katholieken in de Rotterdamsche schippersgilden tegen het einde van de l8e eeuw, in: Historisch tijdschrift, Jg. 20, 1941, S.169-185.
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nen innerhalb der Zünfte Protestanten vor.24 In Groningen wurden zwischen 1640 und 1702 die Maßnahmen stufenweise verschärft. Sollte zunächst nur ein Teil der Vorsteher protestantisch sein, schloss man später alle Nicht-Reformierten von diesem Amt aus. 25 Auch in Kampen ergriff man 1686 ähnlich radikale Maßnahmen, die erst ein Jahrhundert später aufgehoben wurden. Nur einer von zwei Vorstehern musste nach 1786 der offiziellen reformierten Religion angehören.26 Nicht immer waren sture Stadtregierungen oder eifernde Zunftvorsteher so erfolgreich. In Den Bosch zum Beispiel schlugen solche Reformbemühungen 1687 im Falle der Fleischer fehl, waren aber 1690 bei den Bäckern erfolgreich.27 Einige Städte an der Peripherie diskriminierten Katholiken, obwohl sie dort die Mehrheit besaßen. Aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden solche Restriktionen in großem Umfang abgeschafft bzw. nicht länger befolgt. Die Einschränkungen ebenso wie die allmähliche Lockerung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrafen nicht nur die Katholiken (36 % der Bevölkerung am Ende des 18. Jahrhunderts), sondern noch viel mehr die Juden, zu denen nur 1,5% der Bewohner zählten. Einige Städte in der niederländischen Republik, wie Delft und Schiedam, Utrecht bis 1789 und Gouda, Deventer und Zutphen ließen Juden als Einwohner vor der Batavischen Revolution und der darauf folgenden Emanzipation im Jahre 1796 nicht zu.28 Andere Städte, in denen Juden sich niederlassen durften, unterwarfen sie Beschränkungen, entweder indem sie Juden die Zunftmitgliedschaft verwehrten oder den Zutritt auf wenige Organisationen beschränkten. Amsterdam, die Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil, öffnete nur drei Zünfte für Juden: die der Chirurgen, der Trödler und der Buchhändler. Allerdings lassen sich verstreute Beispiele dafür finden, dass Juden vereinzelt in verschiedenen Städten Zunftmitglieder wurden. Mitte des 18. Jahrhunderts ist indes eine Lockerung der traditionellen Einschränkungen festzustellen.29 Davon zeugt auch die Wei24 Von 1751 an wurde der Versicherungsfonds der Schneidergesellen von haarlem von zwei Katholiken und zwei Protestanten geleitet, vgl. G. H. Kurtz* Inventans van de gilde-archieven, Haarlem 1952, S. 52. 25 Stadtarchiv Groningen, Alphabetisch register op resolution van de regenng der stad Groningen over de jaren 1605-1816. 26 J . Kolman, Naar den eisch van't werk, Utrecht 1993, S.92. Ähnliche Maßnahmen erfolgten auch in Maastricht, vgl. I. Scheltus, Resolutie, Roomsche Ambagts-, Keur-, Yk-, Markt-, en Moolenmeesters te Maastrigt uit den dienst en eed te ontslaan, en andere Gereformeerde Religie (soo doenlijk) aan te stellen, den 11 January 1730, in: Groot Placaatboek 6, s Gravenhage 1746, S. 687-688. 27 J . C. A. Hezenmans, S-Hertogenbosch van 1629 tot 1798. Historische Studien, S-Hertogenbosch 1977. 28 J . Lucassen, Joodse Nederlanders 1796-1940: een proces van omgekeerde minderheidsvorming, in: H. Berg u.a. (Hg.), Venter, fabriqueur, fabrikant. Joodse ondernemers en ondernemingen in Nederland 1796-1940, Amsterdam 1994, S. 32-47. 29 J . Michman, H. Beem u. D. Michman, Pinkas. Geschiedenis van de joodse gemeenschap in
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gerung der Amsterdamer Stadtregierung im Jahre 1749, eine rein christliche Diamantschleiferzunft einzurichten. Die Ablehnung dieses Ansinnens erfolgte mit dem bezeichnenden Argument: »weil die Juden die Diamantenindustrie in dieser Stadt begründet haben«.30 Im Spätmittelalter führten die Zünfte in einem Dutzend Städte der nördlichen Niederlande wie auch in vielen Teilen des Alten Reichs und in den südlichen Niederlanden sogenannte »Bürgerkämpfe« durch, um eine Vertretung der Zünfte in den Stadtregierungen zu erreichen. 31 Ihre Erfahrungen mit der Zunftverfassung währten in den meisten Fällen nicht sehr lange. Der Burgundische Staat schaffte solche Systeme in bedeutenden Städten wie Den Bosch im Jahr 1525 und in Utrecht 1528 ab. Während des Aufstands setzte man in Nijmegen die Zunftverfassung im Jahr 1592 vorübergehend aus; in Groningen wurde sie 1601 ganz aufgegeben. Im 18. Jahrhundert hielten nur Dordrecht und einige Städte in Gelderland, Overijssel und Brabant noch an diesem politischen System fest. Dennoch wurden regelmäßig Rufe nach Wiedererrichtung der Zunftherrschaft gegen die Stadtoligarchie laut. Der Prinz von Oranien unterstützte diese Tendenzen zwischen 1575 und 1578 mit einem Verweis auf das römische Recht: »quod omnes tangit, ab omnibus probari debet«. 1581 konnte er sich jedoch nicht länger den niederländischen Ständen widersetzen, die den Städten fortan verboten, Zünfte und Bürgerwehren in Fragen der nationalen Politik zu konsultieren.32 Im allgemeinen billigten die Patrizier, welche die Städte und daher die Provinzen und das Land beherrscht hatten, solche wenn auch schwachen - Versuche der Demokratie nicht. Daher wurden bei Aufständen gegen die Patrizierherrschaft Forderungen zur Wiederherstellung oder Erweiterung der Zunftmacht gestellt, vor allem in Städten wie Groningen in den Jahren 1657,1661-1663 und 1748-1749 und Dordrecht 1647-1651 und 1672. Erfolg hatten dabei allerdings nur wenige Städte in Gelderland und Overijssel, die auf eine traditionsreiche Geschichte der Zunftverfassung zurückblicken konnten. 33 Trotz des Widerstands des Patriziats benutzten die Zünfte und ihre Mitglieder häufig das Recht, sich mit Petitionen an die Stadtregierung zu wenden. Henk van Nierop sieht darin eines der wichtigsten Merkmale des städtischen Republikanismus, selbst in Städten, in denen eine
Nederland, Ede/Wageninge n/Amsterdam 1992; M. H. Gans, Memorboek. Platenatlas van het leven der ioden in Nederland van de middeleeuwen tot 1940. Baarn 1985. S. 253. 30 W. van Agtmaal, Het diamantvak in Amsterdam van oudsher een joodse negotie, in: H. Berg u.a. (Hg.), Venter, fabriqueur, fabrikant. Joodse ondernemers en ondernemingen in Nederland 1796-1940, Amsterdam 1994, S. 114-129. 31 M. Prafe, Ambachtsgilden vroeger en nu, in: NEHA-Jaarboek voor economische, bedrijfsen techniekgeschiedenis, Jg. 57, 1994, S. 10-33, bes. S. 22-25. 32 K. W. Swart, Willem van Oranje en de Nederlandse Opstand 1572-1584, Den Haag, S. 91, 98, 122, 136, 140, 152. 33 P.J.Blok, De gilden, Baarn 1910, S. 15-21.
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formelle Vertretung der Zünfte fehlte.34 Die areligiöse, apolitische und lokal begrenzte Rolle der Zünfte in den Niederlanden wurde noch durch einen weiteres Charakteristikum verstärkt, das im 18. Jahrhundert an Bedeutung gewann: die Organisation der gegenseitigen Fürsorge und Versicherung.
3. Die Bedeutung der Zünfte als Versicherungsanstalten 3 5 Seit ihrer Gründung nahmen sich fast alle Zünfte ihrer Mitglieder im Todesfall, bei Krankheit oder Armut an.36 Entsprechend den Prinzipien der Zünfte gehörte die gegenseitige Unterstützung zum korporativen Denken. Vor dem 16. Jahrhundert erfolgte die gegenseitige Fürsorge meist informell und in Naturalien. Kirchengemeinden, Bruderschaften und Zünfte unterstützten ihre bedürftigen Mitglieder mit Brot und Torf, Kleidung und Almosen. Bis etwa 1600 verteilten nur wenige Zünfte regelmäßig Geld an ihre bedürftigen Mitglieder. Die Zunftordnungen beschrieben nur selten, wie viel finanzielle Unterstützung unter welchen Bedingungen gegeben wurde. Dies hing weitgehend vom verfügbaren Geld in der Zunftkasse und von der Entscheidung des Ausschusses ab. Vor allem die Reformation veränderte das Fürsorgesystem der Zünfte. Im Jahre 1578 forderte der Stadtrat von Amsterdam, die Zünfte sollten ihre Einkünfte nicht länger für religiöse Aktivitäten und Trinkgelage, Bankette und andere unschicklichen Bräuche ausgeben, sondern für Vorsorgemaßnahmen für kranke und bedürftige Mitglieder.37 Während sich in Amsterdam die Stadtregierung damit durchsetzen konnte, blieben in anderen Städten die Ausgaben für religiöse Angelegenheiten und Festessen beträchtlich.38 Dennoch versuchten auch hier Handwerker und Gesellen, Geld für die Unterstützung ihrer kranken und pensionierten Zunftbrüder zu sparen. Kurz nach der Reformation richteten einige Zünfte besondere Unterstützungsfonds ein. Die meisten Fonds wurden in den Jahren zwischen 1651-1750 gegründet, als auch die Mehrheit der Zünfte entstand. Es war nicht leicht, in einer Zeit der Seuchen, 34 J . Lucassen, Labour and Early Modern Economic Development, in: K. Davids u. J . Lucassen (Hg.), A Miracle Mirrored, Cambridge 1995, S. 367-409, bes. S. 394. 35 M. van der Linden u. J . Sluijs (Hg.), Onderlinge hulpfondsen, Amsterdam 1996; J . van Genven u. J . Lucassen, Mutual Societies in the Netherlands from the Sixteenth Century to the Present, in: M. van der Linden (Hg.), Social Security Mutualism. The Comparative History of Mutual Benefit Societies, Bern 1996, S. 131-179; M. de Ridder, De ondersteuningsfondsen van de Amsterdamsche gilden in de achttiende eeuw, in: NEHA-Jaarboek, Jg. 57, 1994, S. 107-121; K. van der Wiel Knegtsbussen. Drie eeuwen sparen voor sociale zekerheid, in: Delfïa Batavorum Jaarboek, Delft 1995, S. 61-93. 36 Derartige Regelungen finden sich schon in Zunftordnungen aus dem 13. Jahrhundert. 37 Noordkerk, Handvesten, Teil 5, Buch 1, S. 1177: Dekret vom 21. 6. 1578. 38 Besonders in den südlichen Provinzen sowie in Dordrecht und Utrecht.
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unbeständiger Arbeitsmärkte und ohne versicherungsmathematisches Wissen ein gutes System gegenseitiger Hilfeleistung einzurichten. Mehrere Einkommensquellen, eine stabile Anzahl beitragsleistender Mitglieder und ein Grundkapital gehörten unverzichtbar dazu. Jede Zunft hatte ihre eigene Methode, Fürsorgemaßnahmen zu finanzieren. Die einfachste Methode war das System der Zuteilung, das oft neu gegründete Zünfte ohne regelmäßige Einkünfte benutzten. Ihre Hilfsleistungen hingen vom Kassenstand, der Anzahl der Beitragsleistenden und der Zahl der bedürftigen Mitglieder ab. Waren viele krank, hatten die Gesunden entweder Sonderzahlungen zu leisten oder die Hilfsleistungen für die Empfänger wurden gekürzt. Damit war zwar die Zahlung von finanzieller Unterstützung, nicht aber der Aufbau eines stabilen Systems möglich. U m Schwankungen im Beitragsniveau, den Hilfsleistungen oder der Anzahl der Empfänger zu vermeiden, richteten viele Zünfte einen speziellen Unterstützungsfonds ein, der von der allgemeinen Kasse getrennt war. Zu seiner Finanzierung begannen die Zünfte, besondere Kassenbeiträge zu erheben, Einkünfte beiseite zu legen und die Unterstützungen zu vereinheitlichen. Als Folge der Einführung regelmäßiger und aufwendiger Hilfsleistungen sowie der wachsenden Nachfrage nach Unterstützung mussten die Zünfte ständig nach neuen Einkünften suchen, um die steigenden Ausgaben decken zu können. Sie konnten entweder die Beiträge und Strafgelder erhöhen oder aber die Hilfsleistungen herabsetzen, was jedoch zu Protesten der Zunftmitglieder führte. Eine andere Möglichkeit bestand darin, höhere Aufnahmegebühren von Neulingen oder den sogenannten »Zunftkäufern« zu erheben, die keine Vollmitgliedschaft erhielten und von keiner Vorsorgemaßnahme profitieren konnten. 39 Neben diesen regulären Einkommensquellen waren einige Zünfte in der Lage, auf der Grundlage ihres Monopols Außenseitern besondere Abgaben aufzuerlegen. Das gab ihnen auch das Recht, Sondergebühren für ihre Dienstleistungen zu berechnen.40 Eine weitere Methode, um die gemeinsame Kasse zu füllen, bestand darin, das nicht direkt für die Hilfsleistungen ausgegebene Geld zu investieren. Die Rendite konnte dann wieder für Unterstützungszahlungen benutzt werden. Indem sie das Geld in Obligationen oder Immobilien investierten, versuchten die Zünfte, eine Kapitalreserve als Puffer für den Fall unvorhergesehener Ausgaben und abnehmender Einkünfte aufzubauen. Diese Finanzpolitik konnte beträchtliche Kapitalerträge einbringen, wie das Beispiel der Amsterdamer Zünfte zeigt.
39 Die Amsterdamer Chirurgen erhoben z.B. besondere Beiträge für die zweitrangigen Perückenmacher und Heiler, ähnlich verfuhren auch die Bäcker gegenüber den Brotverkäufem. 40 Die Amsterdamer Torfträger erhoben beispielsweise Abgaben von den Torfschiflfern.
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Tabelle 3 : Investitionen der Zünfte in 3 6 niederländischen Städten und in Amsterdam (1798) 4 1
Stadt
Anzahl der Zünfte
Wertpapiere und Schuldscheine (in Gulden)
Durchschnitt per Zunft (in Gulden)
36 Städte
178
F1 504,027
F1. 2,832
Amsterdam
45
F1. 1.457,117
F1. 32,380
Die Einrichtung von gesonderten Kassen und die Akkumulation von Kapital ermöglichten es den Zünften, ihre Fürsorgemaßnahmen auszuweiten. Die älteste und wichtigste Form der gegenseitigen Unterstützung, die von den Handwerkszünften organisiert und bezahlt wurde, war das Begräbnis eines Zunftmitglieds, seiner Ehefrau oder seiner Witwe und manchmal sogar seiner Kinder. Ein Zunftbegräbnis war nicht nur eine großzügige Geste gegenüber den Zunftmitgliedern, sondern auch eine übliche Art, den Status der Zunft öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Daneben sollte es die Solidarität unter den Mitgliedern stärken und nach außen demonstrieren. Alle mussten anwesend sein und waren verpflichtet, eine Sondergebühr zur Begleichung der Bestattungskosten zu zahlen. Im 17. Jahrhundert begannen die Zünfte, »Begräbnisgelder« an die Witwe oder an Verwandte des verstorbenen Mitglieds zu zahlen. Diese Zahlungen waren ein Beitrag zu den Begräbniskosten und schlossen oft eine kleine einmalige Unterstützung ein.42 Im 18. Jahrhundert verlor die Begräbniszeremonie in manchen Zünften ihre zentrale Bedeutung, da die Mitglieder nicht länger gewillt waren, dem Begräbnis beizuwohnen oder von ihrer eigenen Zunft beerdigt zu werden. In beiden Fällen hatten sie eine Geldbuße zu zahlen. Die zweite von den Zünften bereitgestellte Unterstützung war das Krankengeld. War ein Mitglied zu krank zum Arbeiten, hatte es sich beim Zunftrat zu melden. Nach dem Besuch durch einen der Vorsteher oder eines Arztes erhielt das kranke Mitglied eine wöchentliche Unterstützung, bis es wieder arbeitsfähig war. Um die Ausgaben zu verringern und den Missbrauch des Unterstützungsfonds zu vermeiden, begannen einige Zünfte erst nach dem achten Krankheitstag mit ihren Leistungen. Manchmal wurden die Zahlungen nach sechs oder zwölf Monaten herabgesetzt oder eingestellt. Einige Zünfte übernahmen auch die Kosten für Arzt und Medikamente. 41 Niederländisches Nationalarchiv, Wetg., Colleges 507: Untersuchung zur Autlösung der Zünfte (1798). 42 Die Zunft der Torfträger übernahm lediglich die Begräbniskosten und zahlte keine weiteren Unterstützungen aus. Die Zunft der Chirurgen zahlte bei einem Begräbnis einmalig 30 Gulden aus.
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Im Gegensatz zu anderen Ländern investierten die niederländischen Zünfte selten in Krankenhäuser oder Häuser für ihre alten, invaliden oder kranken Zunftmitglieder und Witwen. 43 Statt dessen boten einige Zünfte ihren alten Mitgliedern eine wöchentliche Pension an, während ihren Witwen oft gestattet wurde, das Geschäft des Ehemannes mit Hilfe eines Altgesellen fortzuführen. Außerdem stellten manche Zünfte besondere Wìtwenhilfen bereit, jedoch nur für jene, die unverheiratet blieben.44 Trotz der wachsenden Einkünfte und Investitionen hatten viele Zünfte infolge von Epidemien, Misswirtschaft, Unterschlagung durch die Verwaltung, fehlenden versicherungsmathematischen Techniken oder Wirtschaftskrisen mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen.45 Wenn diese vorübergehender Natur waren, versuchten die Zünfte, jene zu überwinden, indem sie die Beiträge und Strafgelder erhöhten oder die Hilfsleistungen herabsetzten. Wenn die finanziellen Defizite aber struktureller Art wurden, musste die Zunft strengere Maßstäbe anlegen, nach denen man die Fonds in Anspruch nehmen durfte. Altersgrenzen und eine Mindestanzahl von Mitgliedsjahren waren wirksame Einschränkungen, um die Zahl der Empfänger zu begrenzen. Mitglieder, die eine Alters- und Witwenpension wünschten, mussten mindestens fünfzig oder sechzig Jahre alt sein und mehr als zehn oder zwanzig Jahre lang gewissenhaft ihre Beiträge entrichtet haben. Mitglieder, die eigene Ersparnisse hatten oder eine zusätzliche Arbeit bzw. Angestellte, die für sie arbeiteten, erhielten meist keine Unterstützung oder nur etwa die Hälfte der normalen Leistung. Da eine genaue Definition von Armut und Bedürftigkeit fehlte, blieb die tatsächliche Zuweisung dem Belieben des Rates und dem Kassenstand überlassen. Diese Einschränkungen, die oft in schwierigen Zeiten eingeführt wurden, bedeuteten, dass die Fonds zur gegenseitigen Unterstützung nicht länger eine Versicherung darstellten, aus der die Mitglieder eine Zahlung beanspruchen konnten, sondern dass sie sich in gewöhnliche Armenkassen verwandelt hatten. Wenn sich die Kasse trotzdem nicht erholte, bat die Zunft den Stadtrat um Erlaubnis, bestimmte Hilfsleistungen zeitweilig oder dauerhaft auszusetzen. In einigen 43 Eine Ausnahme stellte das Gästehaus der Schmiede in Utrecht dar, das acht kranke oder alte Mitglieder beherbergen konnte. 44 Wenn die Zunft nicht über ausreichende Mittel verfugte, um eine Witwenbeihilfe auszuzahlen, gründeten die Zunftmitglieder bisweilen eine freiwillige Witwenbeihilfskasse; vgl. A. J . Deurloo, Bijltjes en Klouwers. Een bijdrage tot de geschiedenis der Amsterdamse scheepsbouw in het bijzonder in de tweede helft van de l8e eeuw, in: Economisch- en Sociaal-historisch Jaarboek 34, Den Haag 1971, S. 4-71. 45 Viele Kassenverwalter hatten keine Erfahrung mit der Buchhaltung und konnten bisweilen weder lesen noch schreiben. Neben Fehlern, die auf einen Mangel an Erfahrung zurückzuführen sind, kam es auch zu Unterschlagungen für eigene Zwecke. So wurden in der Zunft der Amsterdamer Chirurgen zwischen 1728 und 1730 Tausende von Gulden für Bankette und illegale Praktiken ausgegeben. Nach einer Untersuchung durch die Stadtregierung wurden alle ZunftvorSteher entlassen, vgl. L. van Nierop, Het dagboek van Jacob Bicker Raye, in: Jaarboek Amstelodamum, Jg. 36, 1938, S.169-170.
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Fällen gewährte die Stadtverwaltung den Unterstützungsfonds finanziellen Beistand. Das war zu ihrem eigenen Vorteil. Denn wenn eine Zunft nicht länger Hilfe bereitstellen konnte, waren die bedürftigen Zunftmitglieder auf öffentliche Unterstützung angewiesen. Dank vielfältiger Anpassungsleistungen innerhalb des Fürsorgesystems überlebten zahlreiche Unterstützungsfonds während des 17. und 18. Jahrhunderts. Selbst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als etliche Gewerbe infolge ihres Niedergangs es mit einer kleineren Zahl von beitragszahlenden Mitgliedern zu tun hatten, leisteten die Zünfte weiterhin Unterstützung. Um das Problem der abnehmenden Zahl von Beitragszahlern zu lösen, öffneten einige Fonds ihre Reihen für andere Handwerker und Arbeiter. Hierdurch wurden sie zu allgemeinen Kassen, die nicht länger ausschließlich für Handwerker reserviert waren, die zu einem einzigen Gewerbe oder zu einer einzigen Zunft gehörten. Dank dieser Initiative lebten viele Unterstützungsfonds weit über die Abschaffung der Zünfte hinaus bis ins 19. und selbst ins 20. Jahrhundert hinein. In der Geschichte des niederländischen Zunftwesens fehlten Gesellenverbände ebenso wie die Wanderschaft.46 Der Hauptgrund dafür war der Widerstand der Stadtverwaltungen und der Zunftmeister gegen ihre Einrichtung, von der sie Aufruhr und Streiks fürchteten. Aber warum organisierten sich die Gesellen nicht illegal und im Untergrund, wie ihre »compagnons« in Frankreich es taten? Möglicherweise waren die Repressalien zu hart oder die Notwendigkeit einer gewerblichen Organisation nicht so dringend, was sicherlich auch mit dem Fehlen des Systems der Wanderschaft zusammenhing. Das Fehlen von Gesellenverbänden bedeutete nicht, dass die Gesellen sich nicht organisierten. Seit dem 16. Jahrhundert tauchten Gesellenorganisationen in mehreren größeren Städten auf. Aber sie wurden nur als Unterstützungsfonds errichtet.47 Im Gegensatz zu den Gesellenverbänden akzeptierten und begünstigten Meister und Stadtregierungen diese Fonds, da sie dem Meister Verantwortung abnahmen und die öffentliche Fürsorge entlasteten. Die Gesellenkassen sicherten ihre Mitglieder sozial ab und machten sie auch unabhängiger, verstanden sich aber nicht primär als gegen die Meister gerichtet. In einigen Fällen jedoch waren die Gesellen in der Lage, einen Teil des Arbeitsmarktes zu kontrollieren, indem sie ihre Meister zwangen, zuerst einheimische Arbeiter einzustellen, die der Kasse angehörten und ihren Beitrag zahlten.4* Die Meister ihrerseits hielten ein Auge auf die Gesellen, wenn sie deren Kassen verwalteten und ihre Buchführung überwachten. Manchmal organisierten sich 46 E. M. A. Timmer, Knechtsgilden en knechtsbossen in Nederland. Arbeidsverzekering in vroeger tijden, Haarlem 1913, S. 196. In der niederländischen Republik existierten 17 Gesellenvereinigungen, davon allein 10 in Groningen. 47 Nach unseren Recherchen existierten zwischen 1600 und 1820 insgesamt 195 Gesellenkassen. 48 Vgl. Timmer, Knechtsgilden, S. 95, 148.
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die Gesellen auch, um punktuellen Forderungen nach Darlehen oder besseren Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen. 49 Die Struktur und Organisation der Gesellenkassen war jener der Meister ähnlich. Ein wichtiger Unterschied bestand jedoch in den zur Verfügung stehenden Einkommensquellen. Da die Gesellenfonds kein Gewerbemonopol oder Einkünfte durch die Zunft hatten, hingen ihre Einnahmen gänzlich von den Beiträgen der Mitglieder ab. U m sich regelmäßige und ausreichende Einkünfte zu sichern, führten viele Gesellenkassen eine Zwangsmitgliedschaft oder eine halbprivilegierte Mitgliedschaft ein. Selbst Personen, die nicht Mitglied werden wollten, mussten einen jährlichen Beitrag zur Kasse leisten, ohne irgendwelche Unterstützung zu erhalten. Hauptsächlich wegen der begrenzten Finanzressourcen konnten die meisten Gesellenkassen nur Begräbnis- und Krankheitszuschüsse bereitstellen, da Alters- und Witwen Unterstützungen zu kostspielig und oft auch nicht notwendig waren. Im Gegensatz zu Frankreich, Deutschland und England kannten die Niederlande kein Wanderschaftssystem für Gesellen, um das technische Wissen der Handwerker zu erweitern, den Arbeitsmarkt zu regulieren oder »qualifizierte Arbeitskräfte in Zeiten schwachen Geschäfts in Bewegung zu halten«.50 U m dieses Fehlen zu erklären, sind ökonomische, politische und geographische Faktoren zu berücksichtigen, wobei ein Vergleich mit Norditalien, Flandern und Teilen Frankreichs nützlich sein kann. Eine mögliche Erklärung ist die geringe Entfernung zwischen den niederländischen Städten. In weniger als einer Tagesreise und ohne große Ausgaben konnten die Handwerker von einer Stadt zur anderen gelangen. Deshalb kann man das städtische System Hollands als einen einzigen stark verflochtenen Arbeitsmarkt ansehen, in dem Reisegeld kaum benötigt wurde und in dem es viele Möglichkeiten gab, bei verschiedenen Meistern praktische Erfahrung zu machen. Daneben dürfte das weit entwickelte Zunft- und Unterstützungssystem die Gesellen davon abgehalten haben, im Land herumzuwandern. Das Herumziehen von einer Stadt zur anderen war nicht förderlich, wollte man Privilegien und eine Versicherung in der Stadt aufbauen, in der man eine dauernde Beschäftigung hatte. Außerdem ist auch die unabhängige Stellung der niederlän-
49 Ebd., S. 10. 50 Zu Frankreich vgl. u.a. C. Truant, The RitesoffLabor, Brotherhoods of Compagnonnage in Old and New Regime France, Ithaca/London 1994;J.-L.Méwéra, Journal de ma vie, hg. v. D. Roche, New York 1982; zum Deutschen Reich vgl. K. Wesoty, Lehrlinge und Handwerksgesellen am Mittelrhein, Frankfurt 1985; W. Reininghaus, Migration der Handwerksgesellen in der Zeit der Entstehung ihrer Gilden (14.-15. Jahrhundert), in: VSWG, Jg. 68, 1981, S. 1-21; U.-C. Pallach, Fondations de la mobilité artisanale et ouvrière - compagnons, ouvriers et manufacturiers en France et en Allemagnc ( l 7 e - l 9 e siècles), in: Francia, Jg. 11, 1983, S. 365-406; zu England vgl. R. Leeson, Travelling Brothers: The Six Centuries' Road from Craft Fellowship to Trade Unionism, London 1979, S. 163.
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dischen Städte und besonders des Zunft- und Regulierungssystems zu berücksichtigen. Als Folge des lokal orientierten Zunftsystems und Arbeitsmarktes waren regionale und nationale Netze von Gesellenverbänden schwer aufzubauen. Die letzte mögliche Erklärung ist die ständige Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften in den meisten niederländischen Städten, besonders in Amsterdam. Im Gegensatz zu England hatte die niederländische Republik nicht mit einer landesweiten strukturellen Arbeitslosigkeit zu kämpfen, die eine dauernde Mobilität der Arbeit durch Wanderschaft erforderlich machte. Im Gegensatz zu zahlreichen französischen Städten zogen die niederländischen Städte genügend qualifizierte Arbeiter von innerhalb und außerhalb Hollands an, um die Nachfrage nach Arbeitskräften zu befriedigen. Dagegen litten einige französische Städte an einem Arbeitskräftemangel, dem nur durch das Eintreffen von (französischen) Wandergesellen begegnet werden konnte. Während in der niederländischen Republik die Gesellen ihre eigenen Organisationen gründeten, sobald sie eine stabile und dauerhafte Stellung innerhalb des Handwerks innehatten, war es in den Ländern mit Wandergesellen gerade die geographische Mobilität, welche die Einrichtung von Gesellenorganisationen beförderte. Ein Vergleich der Niederlande mit anderen Regionen, in denen ein Wanderschaftssystem fehlte, zeigt eine ähnliche Situation beim Grad der Urbanisierung sowie bei der Zahl und Größe der Städte. In Gebieten mit mehreren größeren, eng beieinander liegenden Städten fehlte die Wanderschaft. Dort, wo nur wenige große Städte bestanden, war eine solche jedoch offensichtlich notwendig, um die Mobilität qualifizierter Arbeitskräfte zu garantieren und zu organisieren.51 Die niederländischen Gesellenorganisationen hatten aufgrund dieser Bedingungen vor allem ein Ziel, die gegenseitige Fürsorge. Einige Kassen verwandelten sich in unabhängige Fürsorgeeinrichtungen und gingen im Laufe des 19. Jahrhunderts in allgemeine Versicherungsfonds über. Warum funktionierten die Handwerkszünfte so gut als Fürsorgeeinrichtungen? Wahrscheinlich wirkte »die formlose Praxis der gegenseitigen Hilfe am Arbeitsplatz integrierend auf die traditionelle Handwerkskultur«. 52 Außerdem gehörte die Teilung der finanziellen Lasten unter den Zunftbrüdern zu den Grundprinzipien der Zünfte. Gegenseitige Unterstützung passte zu diesem Streben nach Risikoteilung, und die gemeinsame Zunftkasse war ein ideales Mittel, sie zu verwirklichen. Weiterhin war es das Hauptziel der Zünfte, ihren Mitgliedern einen bestimmten Lebensstandard zu garantieren. Deshalb 51 K. Davids u. J . Lucassen, Introduction, S. 13-17; J . de Vries, European urbanization 15001800, London 1994, S. 160-171. 52 M. D. Sibatis, The Mutual Aid Societies of Paris, 1789-1848, in: French History,Jg. 3,1989, S. 1-30, bes. S. 3.
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schützten sie den Markt und unterstützten die Mitglieder, die nicht arbeitsfähig waren. Auf diese Weise bewahrte die Zunft diese vor Verarmung. Die finanzielle Organisation und Struktur der Zünfte trug auch dazu bei. Eine gesunde Zunft hatte einen regelmäßigen Zustrom junger Handwerker, die die Unterstützung der kranken, invaliden und alten Zunftmitglieder finanzierten. Außerdem stellten ihr regelmäßiges Einkommen, ihre Satzungen, Kontrollen und Zwangsmaßnahmen eine gute Grundlage für die Einrichtung eines Fonds dar. Die gemeinsamen Interessen und Risiken stärkten die Gruppensolidarität, die sehr wichtig für ein gutes Funktionieren des Versicherungsfonds war. Zudem sicherte das Einkommen der einzelnen Handwerker ebenfalls dessen Bestand. Im Gegensatz zu einem Großteil der arbeitenden Bevölkerung verfügten die Handwerker über ein regelmäßiges Einkommen, um ihre wöchentlichen Beiträge zu zahlen. Schließlich wirkte sich die Tatsache, dass viele Zunftmitglieder ihr ganzes Leben in einer Stadt verbrachten und in einem einzigen Gewerbe arbeiteten, positiv auf das Fürsorgesystem aus. Alle wussten, dass sie später davon profitieren würden und so beteiligten sie sich, solange sie noch gesund und arbeitsfähig waren. Da alle Mitglieder vom gleichen Wirtschaftsfaktor mit denselben Risiken abhingen, waren sowohl die Zünfte als auch ihre Fonds verwundbar. Wie bereits erwähnt, änderte die Reformation das Ausgabeverhalten der Zünfte und förderte ihre Versicherungsfunktion. Die Art und Weise, in der die Zünfte das Geld für die gegenseitige Unterstützung sammelten und verteilten, war nicht überall gleich. Sie hing vom Charakter des Handwerks, der finanziellen Situation der Kasse, der Höhe der Einnahmen, den Ausgaben und der finanziellen Lage der Zunftmitglieder ab. Vergleicht man zum Beispiel die Amsterdamer Zunft der Chirurgen mit derjenigen der Torfträger, besaßen beide ähnliche Kapitalsummen. Allerdings gaben die Torfträger doppelt so viel für Unterstützungen aus wie die Chirurgen. Wie kann man das erklären? Die Chirurgen, die höhere Aufnahmegebühren und Beiträge als die Torfträger erhoben, zogen es vor, ihr Geld für medizinische Instrumente, die Ausschmückung ihres Zunfthauses (Gemälde von Rembrandt!) und für kostspielige Porträts ihrer Vorsteher auszugeben, anstatt Unterstützungen zu zahlen. Außerdem hatten die Chirurgen, die einen unabhängigen Beruf ausübten, ein höheres Einkommen als die Träger, die Lohnarbeiter waren. Daher konnte ein Chirurg selbst Geld sparen, während ein Träger kaum genug verdiente, um seine Beiträge zu zahlen. Im Krankheitsfall konnten der Chirurg und seine Familie zeitweilig von Rücklagen leben, während der Träger keinerlei Reserven besaß. Er musste seine Zunft um Unterstützung bitten. Im Gegensatz zum Chirurgen, der oft einen Angestellten hatte, der für ihn arbeitete und der das Geschäft bei Krankheit oder Abwesenheit weiterführen konnte, beschäftigte der Träger keinen Gesellen oder Lehrling. Wenn aber ein Torfträger krank, abwesend oder zu alt war, setzte die Zunft einen »noodhulp« (»Nothelfer«) an 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
seine Stelle. Ein Teil des Einkommens dieses Helfers wurde dem kranken, abwesenden oder im Ruhestand befindlichen Zunftbruder zugeteilt. Auf diese Weise konnte die Zunft eine Menge Geld sparen. Ein zweiter wichtiger Erklärungsfaktor ist das Verhältnis zwischen den Meistern und den Beschäftigten, das in hohem Grade von der Größe des Betriebes abhing. In Kleinbetrieben, wo ein Meister mit ein oder zwei qualifizierten Gesellen arbeitete, besaßen viele Gesellen einen Arbeitsvertrag und unterhielten ein enges Verhältnis zu ihrem Meister, der für sie sorgte und sich bemühte, seine gut ausgebildeten Mitarbeiter nicht zu verlieren. Im Krankheitsfall oder bei zeitweiliger Arbeitslosigkeit war es sehr wahrscheinlich, dass er ihnen finanzielle Unterstützung gewährte. 53 Wegen ihres unsicheren und kleinen Einkommens waren viele Meister in Kleinbetrieben an der Einrichtung der gegenseitigen Versicherung interessiert. Viele konnten es sich nicht leisten, im Notfall einen Beschäftigten einzustellen. Besonders für sie war ein Versicherungssystem unentbehrlich. In Großbetrieben, in denen viele Gesellen zusammen arbeiteten, konnte ein qualifizierter Arbeiter oder ein Hilfsarbeiter wegen des unpersönlichen Verhältnisses nicht auf Unterstützung durch seinen Meister oder die Zünfte zählen. Daher sorgten die Arbeiter selbst für ihre soziale Sicherheit und schufen Hilfskassen. Das geschah vornehmlich im Textil-, Druck-, Hutmacher- und Baugewerbe. Die Meister ihrerseits, die im Textilgewerbe häufig eher als Unternehmer denn als Handwerker tätig waren, bauten nicht immer ein eigenes Fürsorgesystem auf, da sie reich genug waren, um sich im Krankheitsfall oder im Ruhestand selbst zu unterhalten. Eine besondere Gruppe von Lohnarbeitern stellten die Dienstboten in den Städten dar, wie z.B. die Träger. Leisteten sie auch unqualifizierte Arbeit, waren sie doch in Zünften organisiert, die ein ausgedehntes Versicherungssystem besaßen. Unqualifizierte Gelegenheitsarbeiter, unter denen sich viele Saisonarbeiter befanden, gehörten indes keiner Zunft an. Diese Tagelöhner arbeiteten meist in Großbetrieben wie den Zuckerraffinerien, in denen es oft keine Zunft gab, und fielen deshalb aus dem Schutz einer Zunft- oder Gesellenkasse heraus. Auf Grund ihrer unregelmäßigen und niedrigen Einkünfte konnten sie keine eigene Kasse einrichten. Außerdem verbrachten die Saisonarbeiter zu wenig Zeit in den Städten, um Ansprüche aus Beiträgen geltend zu machen. Daher waren sie völlig von ihren Familien, den Nachbarn oder der öffentlichen Armenfürsorge abhängig. Einige Zünfte boten jedoch an, gemeinsame Fonds für Saisonarbeiter aufrechtzuerhalten, da diese das zweite Segment des doppelten Arbeitsmarktes bildeten. 53 Dies war sehr wahrscheinlich dann der Fall, wenn die Gesellen im Haushalt des Meisters wohnten. Da diese Unterstützung meist informeller Natur war und nicht schriftlich festgehalten wurde, ist es sehr schwer, diese Vermutung zu belegen.
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Trotz der Lohnunterschiede und divergierenden Aufnahmegebühren waren die Beiträge und Unterstützungsleistungen der verschiedenen Zünfte nahezu identisch. Die durchschnittliche wöchentliche Unterstützung betrug zweieinhalb Gulden, was nur ein Drittel oder die Hälfte des Wochenlohns ausmachte. Sie reichte nicht aus, um davon leben zu können. Deshalb war ein zusätzliches Einkommen, z.B. der Ehefrau, der Kinder oder der Beschäftigten des Handwerkers ebenso nötig wie die Unterstützung durch Verwandte, Nachbarn oder die öffentliche Armenfursorge.54 Die ungenügenden Leistungen, das Bedürfnis nach zusätzlicher Unterstützung und die vielen schriftlichen Bedingungen und Einschränkungen lassen die Vermutung kaum zu, dass die Handwerker lieber Arbeitslosenunterstützung genossen, anstatt zu arbeiten. Andererseits ist die entgegengesetzte Ansicht, dass die Hilfsleistungen der Zünfte unbedeutend gewesen seien, ebenso wenig haltbar. Obwohl die Zunftunterstützungen lediglich eine Beihilfe darstellten, waren sie für die meisten Zunftmitglieder sehr wichtig. Sie erhöhten nicht nur ihre soziale Sicherheit, sondern waren auch höher und von längerer Dauer als die städtischen oder kirchlichen Fürsorgeleistungen. 55
4. Drei niederländische Städte und ihre Zünfte Zum Verständnis des niederländischen Zunftwesens und ihrer Versicherungsleistungen ist es wichtig, sich die dezentrale Struktur der niederländischen Republik zu vergegenwärtigen, in der die Städte über große Autonomie verfugten. Zünfte waren ebenso wie ihre Fonds lokale Einrichtungen. Verließen Mitglieder die Stadt, verloren sie ihre Mitgliedschaft und ihren Anspruch auf Unterstützung. Regionale oder nationale Netze von Handwerkern und Gesellen fehlten, was nicht bedeutete, dass es keinen Kontakt unter den Städten gegeben hätte.56 U m einen Einblick in die Vielfalt der Unterstützungssysteme zu erhalten, sollen für die Städte Amsterdam, Leiden und Utrecht die Zahl und Art der 54 In vielen niederländischen Städten wie Den Haag, Utrecht, Leiden und Groningen existierten Nachbarschaftskassen, die eine wichtige Rolle bei der Finanzierung von Begräbnissen oder der Zahlung von Krankengeld spielten und die auch Kleidung und Nahrung verteilten. Die Arbeitsteilung zwischen ihnen und den Handwerkszünften ist unklar; vgl. H. Roodenburg, Naar een etnografie van de vroegmoderne stad: De, Gebuyrten in Leiden en Den Haag, in: P. te Boekhurst, P. Burke u. W.Frijhoff(Hg.), Cultuuren maatschappij in Nederland, 1500-1850, Meppel/Amsterdam 1992, S. 219-243. 55 Vgl. M. van Leeuwen u. F. Smits, Bedeling en Arbeidsmarkt in Amsterdam in de eerste helft van de negentiende eeuw, in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis, Jg. 13, 1987, S. 432-457; M. van Leeuwen, Bijstand in Amsterdam ca. 1800-1850, Zwolle 1992, S. 346. 56 Eine Ausnahme war der nationale Zusammenschiuss der Wolltuchschneider; vgl. R. M. Dekker, »Getrouwe broederschap«: Organisatie en acties van arbeiders in pre-industriel Holland, in: BMGN,Jg. 103, 1988, S. 1-19.
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Fonds, ihr Anteil an der örtlichen Armenfürsorge sowie zuletzt ihre Abschaffung; untersucht werden. Amsterdam war von kleinen Gewerbebetrieben geprägt, die von einem Meister und ein paar ständig Beschäftigten betrieben wurden. Fast jede Zunft unterhielt einen eigenen Versicherungsfonds. Dieser war eng mit der allgemeinen Zunftkasse verbunden oder bisweilen in sie integriert und hatte daher häufig Zwangscharakter. Das wirtschaftliche Wachstum, die Kapitalakkumulation und die große Zuwanderung bereicherten die Zünfte und stimulierten die Entwicklung ihrer Fonds. Dank dieser Struktur gaben viele Amsterdamer Zünfte einen beträchtlichen Teil ihrer Einkünfte für Unterstützungszahlungen aus und boten ein großes Bündel von Fürsorgemaßnahmen an. Bemerkenswert war die kleine Zahl von Gesellenkassen in der Hauptstadt. Das erklärt sich zum einen aus den von den Zunftmeistern gewährten inoffiziellen Unterstützungsleistungen, zum anderen aber auch aus dem Verbot von Gesellenvereinigungen durch den Stadtrat. Wichtig waren außerdem die Struktur des lokalen Arbeitsmarktes, der Geldfluss innerhalb der Zünfte sowie die gut zugängliche öffentliche Armenfürsorge. Trotz des Fehlens von Gesellenkassen hatten die Zünfte großen Anteil an der städtischen Armenfürsorge. Das war hauptsächlich der Tatsache zu verdanken, dass fast alle Zünfte einen Fonds mit Zwangsmitgliedschaft unterhielten. Die Zahl der versicherten Handwerker war so nahezu identisch mit der Zahl der Zunftmitglieder. Ein großer Prozentsatz der städtischen Handwerker und anderer zunftgebundener Arbeiter waren dadurch gegen Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Alter versichert. Um 1750 besaßen 50 von 52 Zünften einen Armenfürsorgefonds, d.h. mehr als ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung war Mitglied einer Zunft und ihres Fonds. Im Jahr 1812 kurz vor ihrer endgültigen Abschaffung hatten die übriggebliebenen 42 Zünfte etwa 11.000 Mitglieder und unterstützten mehr als 1500 Witwen, alte und kranke Mitglieder. 57 Mit der Abschaffung der Zünfte geriet das System der gegenseitigen Unterstützung ins Wanken. In der Folge der batavischen Revolution von 1795, der französischen Intervention und des Versuchs, einen nationalen, zentralisierten Staat aufzubauen, gab es keinen Platz mehr für lokale, ständische Organisationen wie die Zünfte. Die Abschaffung zog sich indes lange hin. Mehr als zwanzig Jahre gingen ins Land, bevor die Zünfte (1818) und ihre Fonds (1820) endgültig verschwunden waren. Da landesweit einheitliche politische Maßnahmen fehlten, und auf Grund der regionalen Unterschiede unter den Zünften und ihren Unterstützungseinrichtungen, hatte jede Stadt ihre eigene M e thode, mit dem Wegfall dieses Fürsorgesystems umzugehen. 58 57 Stadtarchiv Amsterdam, Secr/AZ 5181 (2022): Untersuchung über die »Caisses de secours et de prévoyance« (1812); vgl. Nusteling, Welvaart en werkgelegenheid, S.152-156. 58 Van Genabeek, De afschaffing, S. 64-90.
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Am Ende des 18. Jahrhunderts stellte sich die finanzielle Situation der einzelnen Organisationen sehr unterschiedlich dar. In Amsterdam waren es meist recht gesunde Einrichtungen mit zuviel Geld, um es unter den Mitgliedern aufzuteilen. Was sollte man also mit all diesem Geld und den durch diese Fonds unterstützten Handwerkern anfangen? Trotz ihrer Abschaffung entschieden sehr viele Amsterdamer Zünfte, weiterhin aus ihrem Kapital Unterstützungsleistungen an ihre früheren Mitglieder zu bezahlen. Andere Zunftfonds verwandelten sich in reine Versicherungsorganisationen, nun aber ohne Zwangsmitgliedschaft. Im Jahre 1837 zahlten 27 von 42 früheren Zunftfonds in Amsterdam noch immer regelmäßig Unterstützungen an Verwandte ihrer ehemaligen Mitglieder. Heute beaufsichtigt der Stadtrat das Kapital dieser Fonds, die der öffentlichen Armenfürsorge übergeben wurden. In Leiden zog man eine andere Praxis vor. Diese im großen Stil auf die Tuchherstellung spezialisierte Stadt zählte viele Gesellen- und Arbeiterkassen, aber nur wenige Zunftfonds. Im Textilgewerbe, das kaum zünftig organisiert war, bestanden zudem nur wenige Unterstützungsfonds. Infolgedessen errichteten die Gesellen in Leiden ihre eigenen Kassen. Außer nach dem Gewerbe und seinen Kassen organisierten viele Gesellen sich nach ihrer geographischen Herkunft oder Religion. Die Mitgliedschaft war freiwillig. Dieser offene und freiwillige Charakter schwächte die berufliche Solidarität unter den Mitgliedern und stand in direktem Gegensatz zu den Zunftfonds in Amsterdam. Auf Grund der beschränkten Einnahmequellen und der unterschiedlichen Herkunft und Interessen der Mitglieder stellten diese Kassen hauptsächlich Begräbnis- und Krankenunterstützung bereit. Trotzdem unterstützten sie viele Arbeiter, die sonst gezwungen gewesen wären, die öffentliche Armenfursorge in Anspruch zu nehmen. Trotz des Fehlens eines ausgedehnten Fürsorgesystems durch die Zünfte und trotz des Rückgangs der Einwohnerzahl infolge des Niedergangs des Textilgewerbes betrug die Gesamtzahl versicherter Arbeiter in Leiden im Jahr 1812 fast 3.000. Das war etwa ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung.59 Im Gegensatz zu Amsterdam überlebten die Kassen in Leiden die Abschaffung der Zünfte, da sie in ihrer Mehrheit nie mit einer Zunft verbunden gewesen waren. Nach einigen Restrukturierungen um 1812 überdauerten die Leidener Unterstützungsfonds bis ins späte 19. und manchmal sogar bis ins 20. Jahrhundert. Das dritte Beispiel, die Bischofsstadt Utrecht, ist zwischen den beiden Extremen Amsterdam und Leiden anzusiedeln. Im Gegensatz zu den Zünften in Amsterdam sammelten die Utrechter Zünfte kaum zusätzliche Beiträge von ihren Mitgliedern ein, um die Unterstützungsleistungen zu finanzieren. Statt ihr Geld zu investieren, um formelle und finanzielle Hilfe bereitzustellen, ga59 Stadtarchiv Leiden, Zunftarchiv 1391 (ohne Datum): Laut einer Untersuchung von 1812 gab es in Leiden 29 private Kassen, 20 protestantische, acht katholische und eine lutheranische.
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ben sie ihre geringen Einkünfte für die Unterhaltung ihrer Begräbnisstätten und des Zunfthauses aus sowie für das Jahresbankett und die Zunftvorsteher. Daneben stellten sie Almosen und Armenfürsorge in Naturalien zur Verfügung, wie sie das schon vor der Reformation getan hatten. In einigen Gewerben in Utrecht richteten Handwerker und Gesellen jedoch ihre eigenen Fonds ein, die von der gemeinsamen Kasse getrennt waren und über eigene Einkünfte und einen Schatzmeister verfügten. Wegen der begrenzten Einkünfte dieser Kassen konnten die meisten von ihnen jedoch nur Kranken- und Begräbnisunterstützung leisten. Die eher primitive Art, in der die meisten Zünfte in Utrecht ihre Armen unterstützten, mag mit der starken Solidarität unter den Zunftmitgliedern, der Bewahrung einiger katholischer Traditionen und dem Vorhandensein einer ausgebauten Armenfürsorge zusammenhängen. Utrecht zählte viele Armenhäuser und private Wohltätigkeitsstiftungen und kannte eine gut funktionierende Nachbarschaftsfürsorge, welche die Reformation überlebt hatte und bis ins 18. Jahrhundert fortbestand. Am Ende des 18. Jahrhunderts, als die Kontrolle der Zwangsmitgliedschaft abnahm, verloren die Kassen aller Gewerbe Mitglieder. Im Jahr 1812 zählten die übriggebliebenen zwölf Kassen noch 3.603 Mitglieder, was etwa 40% der arbeitenden Bevölkerung ausmachte. Auf Grund der frühen Trennung der Utrechter Kassen von den Zünften war das Dekret von 1820 wirkungslos. Sie existierten weiter bis zur Einrichtung privater Versicherungsgesellschaften und von Gewerkschaften in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese neuen Institutionen, die viele Züge der Zünfte kopierten, übernahmen die soziale Funktion der früheren Zunftfonds und machten sie überflüssig. Einige wenige Zunftfonds und Gesellenkassen überlebten jedoch das 19. Jahrhundert und bestanden manchmal bis in die jüngste Zeit. Obgleich die drei Städte nur unvollkommen die Vielfalt und das Ausmaß des Fürsorgesystems in der niederländischen Republik widerspiegeln, lassen sie erkennen, wie wichtig die Zünfte zusammen mit den Gesellen- und Arbeiterfonds für die städtische Armenfürsorge waren. Die wachsende Bedeutung des Versicherungssystems innerhalb der niederländischen Zünfte trug zu ihrer Langlebigkeit bei. Während andere Traditionen und Formen der Zunftsolidarität während des 16., 17. und 18. Jahrhunderts verschwanden, blieb die gegenseitige Unterstützung ein wichtiger verbindender Faktor. Sie haifauch, die öffentliche Fürsorge zu entlasten. Im Gegensatz zur allgemeinen Vorstellung von Zünften als konservativen, starren Organisationen zeigt die Entwicklung ihres Systems der gegenseitigen Unterstützung eine andere Seite. Die U m wandlung der Unterstützung in Naturalien als Teil ihrer religiösen Pflichten in formelle Leistungen, die durch spezielle Einkünfte und Investitionen finanziert wurden, beweist, dass die Zünfte willens und fähig waren, sich an veränderte Zeitumstände anzupassen, und sich keineswegs nur mit der Verteidigung ihrer Monopole beschäftigten. 148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
5. Die niederländischen Zünfte und der Handelskapitalismus im internationalen Kontext Zünfte bildeten einen integralen Bestandteil des sozialen Systems der niederländischen Republik. Zu keinem anderen Organisationstyp gehörten so viele wirtschaftlich aktive Einwohner. Sie ragten im 18. Jahrhundert aber nicht als Relikt der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, sondern wurden oft erst nach der Entstehung der Republik gegründet. Die erste handelskapitalistische Nation Europas griff mithin auf die Zunft als Organisationsform zurück, um die industrielle Produktion, die Dienstleistungen und die Verteilung auf kurze Entfernung zu monopolisieren. Dieses Monopol betraf die Qualitätskontrolle des Endprodukts oder der Dienstleistungen sowie den Zugang zum Gewerbe. Die Zünfte waren als Schutz der Einkommen der Meister und indirekt auch der Gesellen gedacht. Sie wirkten daneben auch zunehmend als Versicherungseinrichtungen für alle, die einem Gewerbe angehörten, und manchmal sogar für Außenstehende. Wie kommt es zu diesem überraschenden Ergebnis für die Niederlande, das mit Annahmen über die Logik des Handelskapitalismus unvereinbar scheint? Die meisten Historiker scheinen stillschweigend anzunehmen, dass die Großkaufleute sich zwar für den freien Fernhandel, aber auch für allumfassende ökonomische Freiheit im Landesinnern eingesetzt hätten. Es gibt gute Gründe zu glauben, dass sie das nicht taten. Denn sie kontrollierten die Produktion und die örtliche Distribution nicht direkt (und wünschten auch nicht, das zu tun). Ihr Hauptinteresse bestand meist darin, das Preisniveau in diesen Bereichen zu bestimmen. Es lag ihnen zweifellos an der Aufrechterhaltung eines allgemein angemessenen Einkommensniveaus, aus dem einfachen Grund, weil die meisten von ihnen gleichzeitig die Städte regierten, in denen sie lebten. Das »Gemeinwohl« der Städte war eines ihrer Hauptanliegen, das sich direkt mit ihrer eigenen politischen Zukunft und daher indirekt auch mit ihren internationalen Interessen verquickte. 60 Solange die Zünfte das Funktionieren des zweigeteilten Arbeitsmarktes nicht behinderten, standen sie den Großkaufleuten nicht im Wege. Solange weiterhin genügend Einwanderer kamen, besonders als Dienstboten, Seeleute und Soldaten, florierten die Geschäfte der Kaufleute. Auf diese Weise entwickelte sich der Handelskapitalismus als ein duales System von hoher Flexibilität, in dem die Kaufleute leicht neuen Herausforderungen begegnen und die »Industriellen« neue Technologien anwenden konnten.61 60 R. S. Dupkssis u. M. C. Howell, Reconsidering the Early-modern Urban Economy: The Cases of Leiden and Lille, in: Past and Present, Jg. 94, 1982, S. 49-84, bes. S. 79. 61 Unger, Dutch shipbuilding, S. 118; J . L. Zanden, Arbeid tijdens het handelskapitalisme. Opkomsten neergang van de Hollandse economie 1350-1850, Bergen 1991.
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In dieser Hinsicht entsprachen die Niederlande keineswegs dem Marxschen Modell einer Musternation der kapitalistischen Entwicklung. Da sich die Interessen der Patrizier, Kaufleute und Zunftmitglieder teilweise überlappten und sie alle mit ökonomischen Problemen und mit der wirtschaftlichen Krise im 18. Jahrhundert konfrontiert waren, konnte die Versicherungsfunktion derartig an Bedeutung gewinnen. In diesem städtischen Milieu ohne eine starke intervenierende Staatsgewalt verminderten die Klassen »in der Mitte« der Gesellschaft nicht nur mittels familiärer Netze, sondern auch mit Hilfe der Zünfte ihre sozialen Risiken. Frederik Kliefort vertrat die Amsterdamer Schneider bei einem wichtigen Treffen mehrerer Städte am 2. Juli 1796, bei dem diese gegen die drohende Abschaffung der Zünfte protestierten. 62 Er wies auf die Unterstützung der Mitglieder, die Qualitätskontrolle zugunsten der Kunden, das Einkommen für die Stadtregierung und den Schutz vor ausländischer Konkurrenz hin. Vielleicht noch wichtiger war ihm die Funktion der Zünfte als Bindemittel der Gesellschaft, da die so vereinten Handwerker als Mittelklasse die niederen Schichten mit den Wohlhabenden verbanden. Angesichts dieser breiten Unterstützung war es nicht erstaunlich, dass die Zünfte in den Niederlanden nur von außen abgeschafft werden konnten und dass die Abschaffung einen zwanzigjahre währenden Widerstand hervorrief Es ist ebenso wenig erstaunlich, dass sich die Stadtregierungen und Zunftmitglieder in ihrem Widerstand gegen diese Maßnahmen verbanden und dass bestimmte Zünfte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fortbestanden. Daher können viele Aspekte der niederländischen Versicherungsgeschichte im 19. Jahrhundert nur als eine Bemühung verstanden werden, Alternativen für die Zunftfonds zu finden. Bis zu welchem Grade ist die Aufgabenteilung zwischen internationalem Handel, städtischer Produktion und Distribution einerseits und spezialisierter Produktion und Protoindustrialisierung auf dem Lande andererseits spezifisch für die niederländische Republik? Zu den wesentlichen Merkmalen des niederländischen Zunftwesens gehörte das Fehlen zentralstaatlicher Regulierungsversuche sowie der areligiöse, apolitische und fast rein ökonomische Charakter der Zünfte. Inwiefern lassen sich ähnliche Phänomene auch anderswo beobachten? Im Vergleich zu England fällt das unterschiedliche Verhältnis zwischen Städten und Zentralstaatenauf. 6 3Die englischen Städte waren in ihrer Verwaltung weit weniger unabhängig als die niederländischen Städte. Im Fall Frankreichs genossen die Städte sogar noch weniger Autonomie als in England. Die französischen Zünfte im 17. und 18. Jahrhundert hingen stark von der königlichen Gewalt ab und wurden zunehmend zentralen Ämtern wie dem »Bureau 62 Lucassen, Labour, S. 400. 63 Walker, The extent of guild control.
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de Commerce« unterstellt. Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass im Gegensatz zur niederländischen Republik die Abschaffung der französischen Zünfte, deren Vermögen in einer »Caisse du District« (Distriktkasse) deponiert war, schnell und mit einer gewissen Radikalität vor sich ging.64 Der Gegensatz zwischen den niederländischen und den französischen Traditionen lässt sich besonders gut in jenen Teilen Flanderns erfassen, die von Ludwig XIV erobert wurden. Nach der Besetzung hatten es die Franzosen dort mit einem höchst dezentralisierten politischen System zu tun, in dem die städtischen Magistrate sich im Unterschied zu Frankreich beträchtlicher Macht im Bereich des Gewerbes, der Handwerkerzünfte und der öffentlichen Fürsorge erfreuten. 65 Preußen, seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und Deutschland im ganzen folgenden Jahrhundert, tendierte dahin, den englischen und französischen Weg einzuschlagen. Im Zeitalter der Aufklärung tauchte auch hier die Idee auf, dass der Staat seine Aufsicht über das Zunftsystem ausweiten und sich von der lästigen Bevormundung durch die Kommunen befreien müsse. 66 Für den Vergleich könnte es sinnvoller sein, die Aufmerksamkeit statt auf zentralisierte Territorialstaaten auf andere Handelsstädte zu lenken, sei es auf maritime wie Venedig oder Antwerpen oder auch auf exportorientierte wie etwa Genf in der Nachreformationszeit. Venedig und Antwerpen, die Vorgänger Amsterdams als Zentren des Welthandels, besaßen höchst ausgebildete Zunftsysteme, die vornehmlich mit ökonomischen Funktionen ausgestattet waren und die der strengen Kontrolle der jeweiligen Stadtregierung unterstanden.67 Sie behielten diese Organisationen sowohl in ihren Glanzzeiten als auch während ihres Niedergangs bei. Das kalvinistische Genf bietet sogar noch mehr Vergleichsmöglichkeiten. 68 Diese Stadt war wie viele niederländische Städte in hohem Grade exportorientiert. Bis zum zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts herrschte die Seidenherstellung vor, danach die Goldfaden- und Luxusbänderproduktion. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts war die Herstellung von »Indienne« (farbigem bzw. bedrucktem Kattun) von großer Bedeutung, und nach 1730 nahm die Uhrenherstellung ihren Aufschwung. Ähnlich wie viele niederländische Städte war auch Genf vom Zustrom kalvinistischer Einwanderer abhängig. Zunftgründungen erfolgten erst nach der Reformation und vor allem im 17. Jahrhundert, insbesondere in den Exportgewerben. Diesen Zünfte fehlte jegliche politische Macht (im Gegensatz zu den anderen Schweizer Städten, wie Basel und Zürich, wo Zünfte schon viel länger existierten). Nach Rudolf 64 Wiskerke, Deafschaffing,S. 225. 65 A. Lottin, Louis XIV and Flanders, in: M. Greengrass (Hg.), Conquest and Coalescence: The Shaping of the State in Early Modern Europe, London 1991, S. 84-93, bes. S. 86. 66 Vgl. Black, Guilds and Civil Society, S. 161; M. Walker, German Home Towns. Community, State and General Estate 1648-1971, Ithaca 1971, S. 164, 167. 67 Lucassen, Labour, S. 367—409. 68 R. Braun, Das ausgehende Ancien Regime in der Schweiz, Göttingen/Zürich 1984, S. 114— 122.
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Braun gewährte die politische Elite dort die Einrichtung von Zünften als politischen Kompromiss und als Zugeständnis an den politischen und sozialen Frieden in der Stadt.69 In Basel und Zürich scheinen wir dem niederländischen System sehr nahe zu sein, ohne dass die Zünfte einen ebenso starken Versicherungscharakter besaßen, wie in den Niederlanden. Ein näherer Blick auf die internationalen Entwicklungen auf diesem Gebiet ist notwendig, um diesen kurzen Überblick zu beenden. Obwohl die Grundprinzipien und ökonomischen Funktionen der europäischen Zünfte viele Ähnlichkeiten aufweisen, konnte ihr Unterstützungssystem beträchtlich voneinander abweichen. In allen westeuropäischen Ländern mit Ausnahme Deutschlands errichteten die Zünfte kein formelles System der gegenseitigen Hilfe. In Frankreich kann das Fehlen formeller Fonds in erster Linie den hohen Ausgaben der Zünfte für Prozessführung, königlichen Steuern und allen Arten von Auflagen zugeschrieben werden. 70 Des weiteren machte die Existenz von religiösen Bruderschaften, die eng mit den Organisationen der Handwerker verbunden waren, die Bildung von Unterstützungsfonds weitgehend überflüssig, da diese sich der bedürftigen Mitglieder und der Armen annahmen. Doch infolge ihrer konfessionellen Prinzipien beruhte die Fürsorge der »confréries« auf Mildtätigkeit und war daher philanthropisch, informell und zufällig, statt auf Gegenseitigkeit gegründet zu sein, einen formellen Charakter zu besitzen und regelmäßige Leistungen anzubieten.71 In Italien war die Lage ähnlich. Hier wurden neben den oder innerhalb der Zünfte religiöse Bruderschaften (»scuole«) gegründet, die sich der bedürftigen Handwerker und der Stadtarmen annahmen. 72 In Spanien existierten gleichfalls religiöse Bruderschaften neben den Zünften, was ein System der gegenseitigen Unterstützung in den Handwerkszünften überflüssig machte.73 In diesen 69 Vgl. R. Braun, Das ausgchende Ancien Regime, S. 122, wonach die Zünfte in Genf »auch in einem soziopolitischen und soziokulturellen Kontext zu sehen und interpretieren« sind. 70 M. Sonenscher, The Hatters of Eightecnth-century France, Berkeley 1987, S. 104, 125, 134; E. de Levasseur, Histoire des classes ouvrières et de rindustric en France avant 1789, Bd. 2, Paris 1900-1901, S. 357-361; vgl. R. de Peuter, Negocianten en entrepreneurs in een regionale hoofdstad: Brussel in de achttiende eeuw, Diss. Utrecht 1994, wonach ca. 1000 Handwerkszünfte in Holland und Zeeland im 16. Jahrhundert nur sieben anhängige Verfahren hatten, vier im 17. und eines im 18. Jahrhundert. 71 D. Garrioch u. M. Sonenscher, Compagnonnages, Confratcrnities and Associations of j o u r neymen in Eighteenth-century Paris, in: European History Quarterly, Jg. 16, 1986, S. 25-4 5 , bes. S.25. 72 R. Mackenneyy Tradesmen and Traders. The World of the Guilds in Venice and Europe, c. 1250-1650, Ottowa 1987; S. Cavello, Conceptions of Poverty and Poor-relief in Turin in the Second Half of the l8th Century, in: S. Woolf (Hg.), Domestic Strategies: Work and Family in France and Italy, 1600-1800, Cambridge 1991, S. 148-199. 73 M. Flynn, Sacred Charity. Confraternities and Social Weifare in Spain, 1400-1700, Ithaca/ New York 1989.
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katholischen Ländern, wo zunftgebundene Unterstützungsfonds fehlten und Mildtätigkeit vorherrschte, fühlten sich die Zünfte allerdings mehr für alle Ar men verantwortlich als nur für ihre eigenen bedürftigen Mitglieder. Ihr Beitrag zur städtischen Armenfürsorge war daher eher philanthropisch in Form von Almosen, als in der Form von Fonds, die ausschließlich für die Zunftbrüder reserviert waren. Religiöse Bruderschaften spielten in England keine bedeutende Rolle. Die meisten Zünfte hatten bereits am Ende des 17. Jahrhunderts an Bedeutung verloren. An ihrer Stelle entstanden Vereinigungen von Handwerkern sowie Wohltätigkeitsvereine. 74 Alle diese Organisationen stellten eine Art gegenseitiger Hilfe bereit, manchmal durch spezielle Armen- oder Krankenkassen. Wegen des heterogenen und anarchischen Charakters der Arbeiterorganisationen fehlte ein ausgedehntes System gegenseitiger Unterstützung wie in der niederländischen Republik oder in Deutschland. In den deutschen Territorien war das System der gegenseitigen Unterstützung der Zünfte und Gesellenorganisationen ähnlich dem der niederländischen Zünfte. Wie in den Niederlanden errichteten die Organisationen der Handwerker gesonderte Kassen, die auf der Zwangsmitgliedschaft beruhten und ein umfassendes Bündel an Fürsorgemaßnahmen anboten.75 Aber im Gegensatz zum niederländischen Zunftsystem überlebte das deutsche System länger, bisweilen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Außerdem waren die deutschen Behörden eher geneigt, das örtliche Zunftwesen zu unterstützen und zu schützen. Dieser kurze Überblick über die Charakteristika des Zunftwesens in verschiedenen Ländern zeigt, dass bei der Einrichtung eines Systems der gegenseitigen Unterstützung durch die Zünfte ihre Stellung in der Gesellschaft, ihre Funktion, ihr religiöser Hintergrund und die alternativen Möglichkeiten der städtischen Armenfürsorge von großer Bedeutung waren. Die niederländische Situation unterschied sich von der anderer europäischer Länder durch die starke unabhängige Stellung der niederländischen Städte und das Fehlen einer zentralstaatlichen Politik wie in Frankreich oder England. Schließlich mag das Fehlen der Wanderschaft ein wichtiger Faktor zugunsten der Einrichtung eines ausgedehnten Versicherungssystems in der niederländischen Republik gewesen sein.
74 M. F. Robinson, The Spirit of Association. Being some Account of the Guilds, Friendly Societies, Co-operative Movcment, and Trade Unions of Great Britain, London 1913, S. 98 f.; S. Rappaport, Worlds Within Worlds: Structurcs of Life in Sixteenth Century London, Cambridge 1989, S. 195-201; I. W. Archer, The Pursuit of Stability. Social Relations in Elizabethan London, Cambridge 1991, S. 119-124; Walker, The Extent of Guild Control. 75 S. Fröhlich, Die soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden, Berlin 1976.
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CATHARINA LIS / HUGO SOLY
Die Zünfte in den Österreichischen Niederlanden
In keinem anderen Teil Europas, vielleicht mit Ausnahme des Heiligen Römischen Reiches, waren die Handwerkszünfte sozialökonomisch und politisch so bedeutsam wie in den Südniederlanden. Besondere Bedeutung erlangten sie in der Grafschaft Flandern und im Herzogtum Brabant, den urbansten und am dichtesten bevölkerten Provinzen des Landes. Während die Überfülle an Veröffentlichungen zur Entstehung dieser Institutionen während des 13. und 14. Jahrhunderts und zu ihrem Aufstieg im 15. Jahrhundert beweist, welch stetige Aufmerksamkeit den Handwerkszünften von Generationen belgischer Mediävisten zuteil wurde, 1 hat die Frühneuzeit-Forschung dem städtischen Zunftsystem hingegen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Hatte nicht Henri Pirenne schon behauptet, dass die Handwerkszünfte letztendlich »zu Interessenvertretungen engstirniger Kleinbürger« degeneriert waren, d.h. zu Bastionen des wirtschaftlichen Monopols, des sozialen Konservatismus, des politischen Partikularismus und der ideologischen Bigotterie? 2 Warum also sollte man sich bemühen, Einrichtungen zu untersuchen, die der Modernisierung entgegenstanden 3 und deren Schatten im 20. Jahrhundert Bil1 Einen allgemeinen Überblick bieten: J . - P . Sosson, Les métiers: norme et réalité. L'exemple des anciens Pays-Bas méridionaux aux XIVe et XVe siècles, in: J . Hamesse u. C. Muraille-Samaran (Hg.), Le travail au Moyen Age. Une approche interdisciplinaire. Actes du Colloque de Louvain-laNeuve, 21.-23. mai 1977, Louvain-la-Neuve 1990, S. 339-348; W. Prevenier u. M. Boone, De sociale geschiedenis van de steden in de Zuidelijke Nederlanden en het prinsbisdom Luik van de l3de tot de l6de eeuw: nieuwe tendensen, in: Tijdschrift van het Gemeentekrediet, Jg. 47,1993, S. 33-42; sowie die Aufsätze von M. Boone, J . - M . Cauchies, P. Lambrechts, P. Stabel u. J . - M . Yante in: P. Lambrechts u. J . P. Sosson (Hg.), Les métiers au Moyen Age. Aspects économiques et sociaux. Actes du Colloque international de Louvain-la Neuve, 7.-9. octobre 1993, Louvain-la-Neuve 1994, S. 1 21. 35-54. 143-155. 335-348. 379-423. 2 H. Pirenne, Histoire de Belgique, Bd. 4, Brüssel 1919, S. 427. 3 Zwei belgische Historiker haben anders argumentiert und behauptet, dass das städtische Zunftwesen mit dem Aufstieg des Exportgewerbes in der Frühen Neuzeit vereinbar war: J . Craeybeckx, Les industries d'exportation dans les villes flamandes au XVIIe siècle, particulièrement à Gand età Bruges, in: Studi in onore di Amintore Fanfani, Bd. 4, Mailand 1962, S. 413—468; sowie R. de Peuter, Negocianten en entrepreneurs in een regionale hoofdstad: Brussel in de achttiende eeuw, Utrecht 1994, S. 461 f., 633 f.
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der autoritärer oder sogar faschistischer Regime evozierten? 4 Nicht zuletzt schien die Debatte um die Protoindustrialisierungauch nahe zu legen, dass der große Schritt nach vorn von der ländlichen Gesellschaft ausgegangen war, während der zünftig organisierten Wirtschaft der Städte in diesem Prozess lediglich zwcitrangige Bedeutung zukam. Die meisten Monographien über Handwerkszünfte in den habsburgischen Niederlanden, konzentrieren sich bis auf wenige Ausnahmen 5 auf formale und institutionelle Gesichtspunkte, so dass viele relevante Fragen vorläufig unbeantwortet bleiben.6 Verallgemeinerungen über das städtische Zunftwesen zu wagen, ist kühn, da die verfügbaren Daten eine höchst ungleichmäßige Verteilung widerspiegeln. Die Unausgewogenheit betrifft sowohl die untersuchten Typen von Handwerkszünften als auch die geographische und zeitliche Verteilung. Exportgewerbe sind detaillierter behandelt worden als kleine Werkstätten, die für den lokalen Markt produzierten. Es sind mehr Informationen über Handwerkszünfte in großen und mittelgroßen Städten verfügbar als über jene in den unzähligen kleineren Zentren. Der Mangel an Langzeituntersuchungen ist sogar noch problematischer, da es außerordentlich schwierig ist, Dauerzustände und Veränderungen sowie strukturelle Entwicklungen und kontingente Phänomene auseinander zu halten. Die Handwerkszünfte in den Österreichischen Niederlanden standen nach 1750 zweifellos neuen Herausforderungen gegenüber Einerseits erlebten viele Städte eine Periode realen Wachstums: Produktinnovationen beförderten die Wiederbelebung oder die Neuentstehung des Exportgewerbes, während der von dieser Veränderung herrührende demographische Wachstum die Lebensmittelherstellung, das Bauwesen, das Textilgewerbe sowie die Ledeverarbeitung anregte. Andererseits verstärkte sich seit den 1760er Jahren die staatliche Einmischung in das Zunftwesen. Die Beweggründe hierfür waren nicht nur 4 Über den belgischen Korporativismus in den 1930er Jahren vgl. D. Luyten, Ontstaanvoorwarden voor het corporatisme. Het model van het neo-corporatisme in het licht van de Belgische ervaring uit de jaren dertig, in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis, Jg. 19, 1993, S. 316-338. 5 J . Vermaut, De textielnijverheid in Brugge en op het platteland in westelijk Vlaanderen voor 1800. Konjunktuurverloop, organisatie en sociale verhoudingen, Diss. Gent 1974, passim, u. A. K. L. Thijs, Van werkwinkel tot fabriek. De textielvernijverheid te Antwerpen, einde 15de - begin 19de eeuw, Brüssel 1987, S. 191-218. Vgl auch L. van Buyten, Arbeid en Commercie op het einde van het Oude Regime: ondernemers, ambachtmeesters en werklui te Leuven rond 1789, in: Leuven Anno 1789, Löwen 1989, S. 62-103;J.-J.Heirwegh, Les corporations dans les Pays-Bas autrichiens, 1738-1784, Diss. Brüssel 1981; eine Zusammenfassung in: Les corporations dans les Pays-Bas autrichiens, in: G. Gayot u. J - P . Hirsch (Hg.), La révolution française et le développement du capitalisme, Lille 1989, S. 365-368. 6 Die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Aspekte des städtischen Zunftwesens werden gegenwärtig systematisch am »Centrum voor de Studie van de Pre-Industriële Productieprocessen en Arbeidsverhoudingen« unter der Leitung von H. Soly an der Vrije Universiteit Brussel untersucht.
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ökonomischer (zur Förderung des freien Unternehmertums), sondern auch und vor allem politischer Natur, da die Zünfte bedingungslos für ihre Freiheiten und Privilegien fochten. Waren die Grundlagen des städtischen Zunftwesens bis zum Ende der Regierungszeit Maria Theresias nicht betroffen, stellten die 1780er Jahre hingegen einen Wendepunkt dar. Das Streben Josephs II. nach einer Erneuerung von Justiz und Verwaltung ging mit einem frontalen Angriff auf viele etablierte Institutionen einher. Dieser Aufsatz untersucht einerseits die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Zünfte, wie auch andererseits das Ausmaß, in dem diese wiederum Einfluss auf die allgemeine Entwicklung nahmen. Wir konzentrieren uns daher auf interaktive Prozesse, insbesondere auf die Beziehungen zwischen den wohlhabenden Meistern, ihren ärmeren Kollegen und den Handelsunternehmern, zwischen Arbeitgebern und Gesellen, als auch zwischen Zunftmitgliedern, örtlichen Behörden und dem Staat. Zuerst wenden wir uns der geographischen Verteilung der Zünfte in den Österreichischen Niederlanden zu, um dann ihre Mitgliederstruktur und zahlenmäßige Stärke zu untersuchen. Danach greifen wir umstrittene Fragen auf, die die Rolle der Zünfte für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik betreffen: In welchem Ausmaß war das städtische Zunftwesen mit der Produktinnovation einerseits und dem industriellen Wachstum andererseits vereinbar? Welche sozialen Veränderungen fanden innerhalb zünftig organisierter Exportgewerbe, im Baugewerbe und in für den lokalen Markt produzierenden Gewerben statt? Wie beeinflussten diese Veränderungen das Verhältnis zwischen Meistern und Gesellen? Was war der Grund für die Meinungsverschiedenheiten zwischen der Zentralregierung und der Lokalverwaltung in bezug auf die Bedeutung der Zünfte? Was folgte hieraus für das Machtgleichgewicht in den Österreichischen Niederlanden? Schließlich wollen wir einige vorläufige Schlussfolgerungen und Hypothesen formulieren, um die weitere Forschung anzuregen.
1. Geographische Verteilung und Mitgliederstruktur Mit wenigen Ausnahmen 7 existierten Zünfte in den Österreichischen Niederlanden lediglich in Ballungsgebieten, die das Stadtrecht besaßen.8 Daher gab es sie auch in Orten, die in demographischer Hinsicht eher großen Dörfern glichen, während sie in anderen dicht besiedelten Orten, wie Lokeren und St. Nikiaas, die um 1784 etwa je 10.000 Einwohner zählten, fehlten. Jedenfalls 7 Zu den ländlichen Zünften vgl. Brüssel, Archives générales du Royaume, Conseil Privé, no. 404 B. 8 Vgl. R. van Uytven, Stadgeschiedenis in het Noorden en het Zuiden, 11 de-l4de eeuw, in: Algemene Geschiedenis der Nederlanden, Bd. 2, Haarlem 1982, S. 188-191.
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fanden sich rund 70 »Städte«, deren Gewerbe gegen Ende des Ancien Régimes auf Zunftbasis organisiert waren. 9 Setzt man die Zahl der Zünfte ins Verhältnis zu der Bevölkerung einer Stadt, Provinz oder den gesamten österreichischen Niederlanden, oder ordnet man sie bestimmten Wirtschaftsbereichen zu, bekommt man kaum brauchbare Ergebnisse. Viele Zünfte vertraten mehrere und oft höchst unterschiedliche Berufe. Die Zunft der Schmiede in Löwen z.B. bestand aus Handwerkern, die dieses spezielle Gewerbe ausübten, aber auch aus Klempnern, Zinngießern, Rohrlegern, Schlossern, Büchsenmachern, Waffenschmieden, Messinggießern, Kupferschmieden, Schnapsbrennern, Töpfern und Sattlern. 10 Die Zusammensetzung der Textilhändlerzunft in Lier war noch komplexer. Gegen Ende des Ancien Regimes umfasste sie nicht weniger als 32 Gewerbe, die wiederum 40 Berufsgruppen vertraten, welche Apotheker, Brandweindestillateure, Knopfmacher, Färber, Bänderweber, Hutmacher, Uhrmacher und Weinhändler einschlossen. 11 Ein kompletter Vergleich würde erfordern, alle Berufsgruppen nach ihren Zunftsatzungen zu zählen, ohne Rücksicht darauf, ob sie zu einer Zunftgemeinschaft gehörten, oder ob sie unabhängig arbeiteten. Dieses Verfahren, das große Interpretationsprobleme aufwerfen würde, ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht durchführbar. Die Zünfte in den österreichischen Niederlanden waren nicht nur typisch städtisch sondern in zweierlei Hinsicht von Männern beherrscht. Einerseits fehlten zumeist zünftige Strukturen in Bereichen, in denen ausschließlich oder vorwiegend Frauen arbeiteten. Die Spitzenherstellung etwa bot Tausenden von Frauen und jungen Mädchen ein bescheidenes Auskommen. 12 Ähnliche Beispiele finden sich auch in vorbereitenden Tätigkeiten in anderen Zweigen des Textilgewerbes, wie in Spinnereien und Seidenzwirnereien, 13 im Schneiderhandwerk bei den Näherinnen sowie in der Tabakindustrie, wo Frauen und
9 Brüssel, die Hauptstadt der österreichischen Niederlande, hatte 1784 ca. 75.000 Einwohner. Die Bevölkerung von Antwerpen und Gent lag zwischen 50.000 und 55.000. Die nächste größere Stadt war Brügge mit 31.000 Einwohnern. Acht Städte, zu denen Lokeren und St. Nikiaas gehören, zählten zwischen 10.000 und 30.000 Einwohnern; vgl. auch A. Lottin und H. Soly, Aspects de l'histoire des villes des Pays-Bas meridionaux et de la Principauté de Liège, in: A. Lottin, J . - P . Poussou, H. So/y, B. Vogler u. A. van der Woude, Etudes sur les villes en Europe occidentale, milieu du XVIIe siècle à la veille de la Révolution française. Angleterre, Pays-Bas et Provinces Unies, Allemagne rhénane, Paris 1983, S. 227-230. Vgl. auch H. van Houtte, Histoire économique de la Belgique à la fin de l'Ancien Regime, Gent 1920, S. 18 f. 10 Vgl. Van Buyten, Arbeid, S. 61. 11 Vgl. A. van den Broeck, Marchands de tout, faiseurs de rien. Het Lierse meerseniersambacht tijdens de tweede helft van de l8de eeuw, in: Lira Elegans, Jg. 2, 1993, S. 55f. 12 Vgl. H. Soly, Social Aspects of Structural Changes in the Urban Industries of EighteenthCentury Brabant and Flanders, in: H. van der Wee (Hg.), The Rise and Decline of Urban Industries in Italy and the Low Countries (Late Middle Ages - Early Modern Times), Löwen 1988, S. 243. 13 Vgl. Thijs, Van werkwinkel tot fabriek, S. 181 ff., S. 365 f.
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Kinder ebenfalls die Mehrheit der Arbeiter stellten. 14 Namur, wo die Spitzenklöpplerinnen zur Zunft der Textilwarenhändler gehörten, 15 und Mons, wo Näherinnen von schwarzen Kleidern eine sogenannte »connétablie« mit den Schneidern bildeten,16 stellten bemerkenswerte Ausnahmen dar. Die meisten Zünfte weigerten sich jedoch, Frauen als Mitglieder zuzulassen. Während der frühen Neuzeit - besonders von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an verbannten die Zunftorganisationen zunehmend Frauen aus den Gewerben und legten sogar fest, dass es Witwen nur dann erlaubt war, das Geschäft ihrer verstorbenen Gatten fortzuführen, wenn sie einen Gesellen mit der Leitung der Werkstatt betrauten und keine Lehrlinge einstellten. 17 Während des 18. Jahrhunderts waren Frauen nur in der Händlerzunft stark vertreten, die viele Einzelhändler umfasste.18 Diese geringe Zunftmitgliedschaft hieß jedoch nicht, dass Frauen in Werkstätten gänzlich fehlten. Zahlreiche qualitative Daten legen vielmehr nahe, dass die Frauen kleiner Meister oft in der Produktion aushalfen und dass die Bedeutung ihrer Arbeit, besonders in den Exportgewerben, zunahm. Selbst in den Städten, wo zahlreiche Zünfte existierten, gehörte nicht die gesamte arbeitende männliche Bevölkerung einer Zunft an. Regierungsbeamte besaßen nirgendwo Zunftstatus. Gewisse Gruppen, wie Ärzte und Rechtsanwälte, bildeten manchmal ihre eigenen Vereinigungen. 19 Die meisten Großhändler operierten außerhalb des Zunftrahmens, obgleich es bezeichnend ist, dass viele führende Kaufleute bei einer oder sogar mehreren Zünften eingeschrieben waren, vorzugsweise bei den Vereinigungen für Schnittwarenhändler, Schiffer und Tuchmacher.20 Die beiden größten Gruppen ohne Zunftstatus waren die Dienstboten und die »unfreien« Arbeiter, die beide keine formelle 14 Vgl. De Peuter, Negocianten, S. 391-402. 15 Vgl. J . - B . Goetstouwers, Les métiers de Namur sous l'Ancien Régime. Contribution à l'histoire sociale, Löwen/Paris 1908, S. 14, 65 f. 16 J.-J. Heirwegh, Artisanat et Industrie à Mons au XVIIIe siècle, in: J . - M . Cauchies u. M. Duvosquel (Hg.), Recueil d'Etudes d'Histoire hainuyère offertes à Monsieur A. Arnould, Bd. 1, Mons 1983. S. 298.300.305. 17 C. Deneweth, Vrouwenarbeid te Brugge in de achttiende eeuw, Licence Universität Gent 1987; Thijs, Van werkwinkel tot fabriek, S. 174-182, 401; K. Daems, Vrouwenarbeid te Antwerpen in de l8de eeuw, Licence Universität Gent 1988; Van Buyten, Arbeid, S. 86 f.; De Groote, Vrouwenarbeid te Gent in de l8de eeuw, Licence Universität Gent 1990. 18 Deneweth, Vrouwenarbeid, S. 99 ff.; Daems, Vrouwenarbeid, S. 112; Van den Broeck, Marchands de tout, S. 58 f. 19 Vgl. E. Geudens, La confrérie de Saint-Yves à Anvers au XVIIe siècle, in: Bulletin de l'Académie royale d'Archéologie de Belgique, Jg. 57, 1905, S. 163-185; M. van Roy, De medische verzorging in Viaanderen tijdens de l7de en de l8de eeuw, in: R. van Hee (Hg.), Heelkunde in Viaanderen door de eeuwen heen. In de voetsporen van Yperman, Brüssel 1990, S. 126-133. 20 Goetstouwers, Les métiers de Namur, S. 16; Van Buyten, Arbeid, S. 72-75; De Peuter, Negocianten, S. 453-456; J . Dambruyne, G. Bral, A. Rambaut u. D. Laporte, Een stad in opbouw. Gent van l540 tot de wereldtentoonstelling van 1913, Tielt 1992, S. 110.
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Ausbildung besaßen und gewöhnlich ein Reservoir ungelernter oder halb ausgebildeter Arbeiter darstellten. Die Handwerksmeister griffen auf diese Arbeiter zurück, wenn nicht genügend Gesellen verfügbar waren, was häufig in jenen Bereichen vorkam, die wirtschaftlichen Schwankungen besonders ausgesetzt waren, wie das Bau- und die Transportgewerbe.21 Berufsgruppen, die für den örtlichen Markt produzierten, und Kleinhändler organisierten sich dagegen gewöhnlich schon seit Jahrhunderten in Zünften (z.B. Bäcker, Fleischer, Fischhändler, Schneider, Flickschuster, Maurer, Zimmerleute, Kunsttischler, Schmiede, Schnittwarenhändler und dergleichen). In Ortschaften entlang der Schifffahrtswege hatten Schiffer und Transportarbeiter seit dem späten Mittelalter j e nach Bedeutung des Exports ebenfalls Zünfte gebildet. Während des 15. und 16. Jahrhunderts führte der Niedergang der »alten Tuchherstellung« in den meisten Städten keineswegs zum Verschwinden der betreffenden Zünfte, so gering auch ihre Mitgliederzahl sein mochte. Der gleichzeitige Aufstieg neuer Sektoren, wie des Seidenhandels und der Bänderweberei, ging dagegen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nahezu immer mit neuen Zunftgründungen einher. Städtische Gewerbe, die sich nach 1750 entwickelten, oder deren erste Expansion während dieser Periode einsetzte, wie z.B. die Baumwolldruckerei, waren hingegen nicht länger Zunftordnungen unterworfen. Die Forschung ist noch nicht ausreichend entwickelt, um den Anteil der Zunftmitglieder an der arbeitenden männlichen Bevölkerung in den städtischen Zentren der Österreichischen Niederlande zu berechnen. Die verfügbaren Daten lassen vermuten, dass Handwerksmeister und ihre Familien 25 bis 30% der Gesamtbevölkerung in den meisten großen und mittleren Städten ausmachten. Setzt man das Verhältnis von Meistern zu Gesellen bei 1:1 an, und nimmt man weiterhin an, dass einer von je zwei Arbeitern Vorstand eines Haushalts war (was plausibel erscheint), so liegt der Anteil der Zunftmitglieder und ihrer Familienangehörigen an der Stadtbevölkerung im allgemeinen bei mindesten 40%.22 21 E. Scholliers, Remuneratiemodaliteiten bij loontrekkenden, in: H. Coppejans-Desmedt (Hg.), Economische Geschiedenis van België. Behandeling van de bronnen en problematiek. Handelingen van het Colloquium te Brussel, l 7 ' . - l 9 . nov. 1971, Brüssel 1973, S. 44-47; H. Deceulaer, Arbeidsregulering en loonvorming in de Antwerpse haven, 1585-1796, in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis, Jg. 18, 1992, S. 22-47. 22 Zu Antwerpen vgl. F. Prims, Geschiedenis van Antwerpen, Bd. 24, Antwerpen 1974, passim; F. Smekens, Schets van aard en betekenis der Antwerpse nijverheid onder het Oostenrijks bewind, in: Lode Backelmans ter eere, Bd. 2, Antwerpen 1946, S. 94, 105-108; Thijs, Van werkwinkel tot fabriek,S. 215-218. Zu Brügge vgl. Y. vandenBerghe,Jacobijnen en Traditionalisten. De reacties van de Bruggelingen in de Revolutietijd, 1780-1794, Brüssel 1972, S. 63. Zu Brüssel vgl. De Peuter, Negocianten, S. 184 ff. und K. van Honacker, De politieke cultuur van de Brusselse ambachten in de achttiende eeuw; conservatisme, corporatisme ofopportunisme?, in: C. Lis u. H.So/y (Hg.), Werken volgens de regeis. Ambachten in Brabant en Viaanderen, 1500-1800, Brüssel 1994, S. 223 ff Zu Löwen vgl. Van Buyten, Arbeid, S. 48 f. Zu Namur vgl. Goetstouwers, Les métiers de Namur, S. 4 ff.
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Sicherlich bedeutete zahlenmäßige Stärke nicht notwendigerweise auch Vitalität. Die kontinuierliche Aufnahme neuer Lehrlinge, Gesellen und Meister bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, beweist zweifellos, dass viele Handwerker den Zunftstatus weiterhin hochhielten. Nichtsdestoweniger muss die Grundlage ihres Interesses noch erklärt werden. Verdankten die Zünfte ihre Bedeutung noch immer vorrangig ihren Örtlichen Produktions- und Verteilungsmonopolen? Diese Annahme würde besagen, dass es nur Zunftmitgliedern erlaubt war, das betreffende Gewerbe auszuüben und dass die Zunftvorsteher berechtigt waren, die Einhaltung der Zunftordnungen bezüglich der Werkstattgröße, der Lehrlingsverhältnisse, der Arbeitsstunden usw. unter ihren Mitgliedern zu kontrollieren. Gab es daneben noch weitere wesentliche oder gar wichtigere Faktoren? Hierzu kann z.B. die Existenz eines Beistandsfonds 23 zählen oder - auf einem ganz anderen Gebiet - ein Sinn für kollektive Identität, der sich in spezifischen Formen der Geselligkeit, kulturellen Bräuchen und religiösen Ritualen ausdrückte.24 Der Eintritt in eine Zunft war sicherlich nicht immer in erster Linie durch den Wunsch motiviert, einen bestimmten Beruf auszuüben. Dieser Schritt konnte ein Mittel sein, in ein soziales Netz einzutreten, um ein Mindestmaß an Sicherheit in einer Welt zu erwerben, die reich an Ungewissheiten war.25 Ein anderes Motiv mochte der Wunsch nach Beteiligung an der Lokalpolitik sein26 oder einfach nur nach Teilhabe an einer exklusiven Organisation, um als aufrechter Bürger geachtet zu werden. Es war nur einer von vielen Wegen im Ancien Régime, wirtschaftliches, soziales und kulturelles Kapital zu erwerben. War der Erfolg der Zünfte auch Schwankungen unterlegen, so stimulierte die Ausübung kollektiver Praktiken doch stets die Gruppenidentität. 27 23 E. Huys, Duizend jaar mutualiteit bij de Vlaamsche gilden, Kortrijk 1926; Van Buyten, Arbeid, S. 84 ff.; C. Willem, Ambachtelijke zekerheid. Sociale voorzieningen bij ambachten in het achttiende-eeuwse Gent, Licence Universität Gent 1991. 24 Vgl. besonders I. Depoorter, Openbaar vermaak te Gent in de Oostenrijkse tijd, 1700-1770, Licence Universität Gent 1991, S. 78-80; K. Rotsaert, De Heilige-Bloedprocessie: een eeuwenoude Brugse traditie, Brügge 1982, S. 19-22; J . de Roo, De uitholling van een middeleeuwse economische structuur: de lederningen te Gent in de Nieuwe Tijd, Licence Univesität Gent 1991, S. 139 ff.; A. K. L. Thijs, Religieuze rituelen in het emancipatieprocess van Vlaamse en Brabantse handwerksgezellen (zestiende-negentiende eeuw), in: Lis u. Soly (Hg.), Werken volgens de regeis, S. 231-281. Vgl. auch V. Vermeersch, Gilden en ambachten, Brügge 1988. 25 C. Lis u. G. Vanthemsche, Sociale zekerheid in historisch perspectief, in: M. Despontin u. M. Jegers (Hg.), De Sociale Zekerheid verzekerd? Referaten van het 22te Vlaams Wetenschapelijk Economisch Congres, Brüssel 1995, S. 39-43. 26 Vgl. K. van Honacker, Alliances et conflits dans la société bruxelloise au l8e siècle: maîtreartisans, doyens des métiers et autorités urbaines, in: M. Boone u. M. Prak (Hg.), Individual, Corporate and Judicial Status in European Cities (Late Middle Ages and Early Modern Period), Löwen/Appeldoorn 1996, S. 209-224. 27 Vgl. die interessanten Anmerkungen von J . Barry, Introduction, u. ders., Bourgeois collectivism? Urban association and the middling sort, in: ders. u. C. Brooks (Hg.), The Middling Sort of People. Culture, Society, and Politics in England, 1550-1800, London 1994, S. 1-27 u. 84-112.
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2. Zünfte und U n t e r n e h m e r t u m Viele belgische Historiker haben behauptet, dass Handwerkszünfte zunehmend den wirtschaftlichen Fortschritt in der frühen Neuzeit behinderten: Ihre immer restriktivere Politik habe nicht nur die organisatorische und technologische Innovation gehemmt, sondern auch für ein hohes Lohnniveau gesorgt, wodurch die Produktionskosten in die Höhe getrieben wurden. Daher habe sich die Produktion standardisierter Güter nach und nach in ländliche Gebiete verlagert. Während einige Autoren durchaus anmerken, dass sich die ländlichen Heimindustrien nicht immer auf Kosten ihrer städtischen Gegenstücke ausdehnten und dass städtische Unternehmer sich erfolgreich an diese neuen Umstände in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anpassten, wird doch betont, dass das Zunftwesen als Produktionsgrundlage mit dem beschleunigten Wachstum des Handelskapitalismus unvereinbar gewesen sei. Der Aufstieg neuer städtischer Exportgewerbe habe zunehmend flexible Lieferbedingungen erfordert, weshalb neue Manufakturen entweder nicht den existierenden Zunftregelungen unterworfen werden konnten oder solche institutionellen Hindernisse zuvor beseitigt werden mussten. 28 Das verfügbare Quellenmaterial zeigt hingegen, dass Zunftmitglieder durch Produktinnovation und -differenzierung einen entscheidenden Einfluss auf das Wachstum der städtischen Exportgewerbe ausübten. Während des späten 17. Jahrhunderts begannen die Handwerksmeister in Brügge, gestreifte und karierte Leinengewebe herzustellen (Zingas). Nach dem Vertrag von Utrecht im Jahre 1713 steigerten sie ihre Produktion ständig, da ihre Erzeugnisse sich wegen ihrer charakteristischen blauen Farbe und ihres erschwinglichen Preises besonders bei Arbeitern und Seeleuten zunehmender Beliebtheit erfreuten. 29 In der Mitte der 1720er Jahre war die Einführung von Siamosen (bis dahin eine Spezialität aus Rouen) durch den Antwerpener Jan van der Smissen sogar noch bedeutsamer.30 Die Herstellung dieser leichten und leuchtend gefärbten Leinen-Baumwollgemische entsprach nicht nur der steigenden Nachfrage nach preiswerter modischer Kleidung (was sie zur Massenproduktion geeignet machte), sondern gab auch der inländischen Nachfrage nach Baumwollgarnen einen gewaltigen Auftrieb und bahnte so den Weg für den Aufstieg des Fabriksystems im frühen 19. Jahrhundert. 31 Handwerksmeister waren auch verantwortlich für die meisten Initiativen in anderen Gewerbezweigen. Der spekta28 Vgl. H. van der Wee, Industrial Dynamics and the Process of Urbanization and De-Urbanization in the Low Countries from the Middle Ages to the Eighteenth Century, in: ders. (Hg.), The Rise and Decline, S. 364, 367. 29 J . Vermaut, Structural Transformation in a Textile Centre: Bruges from the Sixteenth to the Nineteenth Century, in: Van der Wee (He.), The Rise and Decline, S. 197. 30 Thijs, Van werkwinkel tot fabriek, S. 149. 31 C. Lis u. H. Soly, Restructuring the Urban Textile Industries in Brabant and Flanders during the Second Half of the Eighteenth Century, in: E.Aerts u. J . H. Munro (Hg.), Textiles of the Low
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kuläre Aufschwung z.B. im Hutmachergewerbe zwischen 1760 und 1790 wäre ohne die Einführung neuer und kostengünstiger Modeartikel durch führende Handwerksmeister in Mechelen und Brüssel kurz nach 1749 undenkbar gewesen.32 Das städtische Zunftwesen war gleichermaßen mit dem erweiterten Maßstab und der Konzentration der Produktion vereinbar. Die Zunftordnungen sahen meist keine Beschränkungen bezüglich der Zulieferer vor, so dass wohlhabende Handwerksmeister verstreute Manufakturen errichteten, die Netzwerke kleiner und mittelgroßer Werkstätten unter zentraler Aufsicht bildeten. Diese Praxis erlaubte es ihnen, ihre Investitionen in fixem Kapital zu minimieren, flexibel auf die Marktnachfrage zu reagieren und gleichzeitig die Hauptlast des Risikos auf die von ihnen abhängigen Meister abzuwälzen. Diese Organisationsform verringerte zudem die Produktionskosten. Als sich das System ausdehnte und eine wachsende Anzahl von Handwerkern erfasste, waren die Zulieferer gezwungen, ihre Stückpreise zu senken und sogar für Gesellenlöhne zu arbeiten.33 Das Textilgewerbe in Brügge ging diesen Weg: Die steigende Nachfrage nach »Zingas« ermutigte führende Leineweber, Zunftbeschränkungen bezüglich der Werkstattgröße zu umgehen, indem sie ihre ärmeren Kollegen als »conterbaesen« oder Zulieferer beschäftigten. Bis 1768 hatten sich viele Meister praktisch in Lohnarbeiter verwandelt, was die Stadtbehörden veranlasste, die Beschränkung der Zahl der Webstühle pro Werkstatt aufzuheben. Zwanzig Jahre später beschäftigten einige wenige kapitalistische Leineweber dreißig, vierzig oder selbst fünfzig Gesellen. 34 Viele andere Textilzentren machten ähnliche Wandlungen durch. So stand mehr als die Hälfte aller Garnzwirner in Kortrijk um 1738 bei lediglich vier Handwerksmeistern im Brot. Die größte Werkstatt zählte 24 Facharbeiter.35 U m 1761 betrieb der erwähnte Van der Smissen fünfzig Webstühle in Antwerpen. Er unterhielt die Hälfte dieser Webstühle in seinen eigenen Gebäuden und die andere Hälfte in den Werkstätten von elf Zulieferern, die ausschließlich für ihn arbeiteten.36 Van der Smissen war keineswegs eine Ausnahme. Einige Jahre später besaßen vier andere Leinewebermeister in Antwerpen zusammen Countries in European Economic History. Proceedings of the Tenth International Economic History Congress: Session B 15, Löwen 1990, S. 109-112. 32 C. Lis u. H. Soly, De macht van vrije arbeiders: collectieve acties van hoedenmakersgezellen in de Zuidelijke Nederlanden, zestiende-negentiende eeuw, in: dies. (Hg.), Werken volgens de regeis, S. 28 f.; italienische Übersetzung in: Quaderni Storici, Jg. 24, 1994, S. 587-627. 33 Dies., Corporatisme, onderaanneming en loonarbeid. Flexibilisering en deregulering van de arbeidsmarkt in Westeuropese steden (vertiende-achttiende eeuw), in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis, fg. 20, 1994, S. 365-390. 34 Vermaut, De textielnijverheid, S. 170-175, 264, 491-499. 35 N. Maddens (Hg.), De geschiedenis van Kortrijk, Tielt 1990, S. 335. 36 Thijs, Van werkwinkel tot fabriek, S. 361 f.
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mehr als zweihundert Webstühle.37 Viele andere Fälle bezeugen ähnliche Zustände in Brüssel und Gent.38 Die Expansion in der Hutmacherei fiel ebenfalls mit einem Polarisierungsprozess unter den Handwerksmeistern zusammen. Die meisten von ihnen verloren ihre ökonomische Unabhängigkeit und waren gezwungen, Zulieferer für ihre wohlhabenden Kollegen zu werden. Kleine Werkstättenbesitzer protestierten vergeblich gegen diese Praxis, die sie als unlautere Konkurrenz betrachteten. Im Jahre 1764 erhielt Hendrik van den Nieuwenhuysen, der bedeutendste Hutfabrikant in Mechelen, die amtliche Genehmigung, eine unbegrenzte Zahl von Gesellen anzustellen. In der Folge schauten die Stadtregierungen von Antwerpen und Brüssel weg, wenn Meister Zunftvereinbarungen verletzten. Bis 1780 gab es in allen Hutmacherzentren Werkstätten mit mehr als 30 Gesellen.39 Irrten sich die Vertreter des Staates also, wenn sie behaupteten, dass das städtische Zunftwesen technologische und organisatorische Innovationen behinderte? Nicht ganz. Die Bortenweber hielten hartnäckig an dem königlichen Erlass von 1664 fest, der verbesserte Webstühle verbot, die es erlaubt hätten, zwölf bis vierzehn Bänder gleichzeitig zu fertigen. Diese Politik hatte den allmählichen aber sicheren Verlust von Exportmärkten zur Folge.40 Ratsmitglieder und Berater des »Conseil des Finances« ärgerten sich besonders über die Hindernisse, die Textilzünfte in großen Städten den Handelsunternehmern in den Weg legten, die Manufakturen errichten wollten. Im Jahre 1762 gaben sie ihrer Entrüstung über die Kurzsichtigkeit des Vorstehers der Leineweber in Antwerpen Ausdruck, der Großhändler wie De Heyer & Co. und Van Elsen & Co. gezwungen hatte, ihre Flanellwebereien in Mechelen und Lier einzurichten. Das Problem lag jedoch tiefer. So hegten die wohlhabenden Leineweber keine wirkliche Abneigung gegenüber der Ausweitung des Gewerbes. Sie waren jedoch nicht gewillt, den örtlichen Arbeitsmarkt mit anderen Kapitalisten zu teilen. Des weiteren hatten die betreffenden Firmen jeden Grund, ihre industriellen Aktivitäten an Orten zu verfolgen, wo sie weniger Steuern und zudem weit niedrigere Löhne zahlen konnten. Sie siedelten sich in Lier und Mechelen an, nicht weil es dort keine Zunftorganisationen gab, sondern weil die örtliche erwachsene männliche Bevölkerung dort chronisch unterbeschäftigt war.41 37 Berechnet nach Ph. Moreaux, La statistique dans les Pays-Bas autrichiens à l époque de Maric-Thérèse. Documents et cartes, Bd. 1, Brüssel 1974, S. 261; Thijs, Van werkwinkel tot fabriek, S. 3 6 1 ; C . L i s u. H.Soly, Een groot bedrijf in een kleine stad: de firm De Heyderen Co. te Lier, 17571834, Lier 1987. S. 25. 38 Moureaux, La statistique, Bd. 1, S. 80 ff., 311 f.; vgl. auch De Peuter, Negocianten, S. 467 f. 39 Vgl.Anm.27. 40 Thijs, Van werkwinkel tot fabriek, S. 137 ff. 41 C. Lis u. H. Soly, Entrepreneurs, corporations et autorités publiques au Brabant et en Flandre à la fin de l'Ancien Régime, in: Revue du Nord, Jg. 76, 1994, S. 731 f.
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Das städtische Zunftwesen an sich hinderte seine Mitglieder nicht daran, genauso große Werkstätten wie die der Verleger zu gründen. Die Großhändler hatten allerdings mehr Kapital und Kredit, besonders wenn sie Teilhaberschaften eingingen. 42 Tatsächlich wurden die zünftigen Beschränkungen der Werkstattgröße in Exportgewerben sicherlich sowohl durch innere Kräfte (kapitalistische Handwerksmeister) als auch durch äußere Ursachen (Verleger) untergraben. Handwerksmeister im Baugewerbe verstanden es ebenfalls, ihre Aktivitäten auszudehnen. Besonders öffentliche Bauprojekte in großen und mittleren Städten boten wohlhabenden Maurern, Zimmerleuten, Dachdeckern und Fliesenlegern eine Chance, kapitalistische Unternehmer zu werden. Während die Zunftstatuten es dem Einzelnen verboten, Verträge über mehrere Bauarbeiten zur gleichen Zeit abzuschließen, behinderten sie nicht die Expansion des Unternehmers, da Auftraggeber berechtigt waren, ihre gesamten Maurerund Zimmermannsarbeiten von einem Meister erledigen zu lassen. Im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts wurde der Trend hin zur Konzentration von Produktion und Arbeit durch ein staatliches Dekret verstärkt, wonach die städtischen Behörden die Gesamtheit der großen öffentlichen Bauprojekte dem Auftragnehmer mit dem niedrigsten Angebot zuzuweisen hatten. 1754 arbeiteten nur 17 der 28 Maurermeister in Gent mit Gesellen, und drei von ihnen beschäftigten die Hälfte der 167 Facharbeiter. Jan-Baptist Symoens stand mit 45 Gesellen auf seiner Lohnliste an der Spitze. Zwei Jahre später erreichten die führenden Maurer- und Zimmermeister, die zu einflussreichen Kräften in den Leitungsgremien der betreffenden Zünfte aufgestiegen waren, die Aufhebung aller Zunftbeschränkungen bezüglich der Werkstattgröße. Diese Maßnahme ermöglichte es Symoens, über hundert Arbeiter einzustellen. 43 Das kapitalistische Wachstum beseitigte keineswegs die Notwendigkeit aller Zunftregulierungen. In der Tat glaubten gegen Ende des Ancien Régimes sowohl Handelskapitalisten als auch wohlhabende Zunftmeister, dass Zünfte dem Exportgewerbe durchaus dienlich seien. Sinkende Transaktionskosten vorausgesetzt, konnte die strikte Durchsetzung einiger Zunftregeln sogar unabdingbar für die Risikobegrenzung sein.44 Die Festlegung von Größen, Ge42 C. Lis u. H. Soly, Urban Trajectories of Industrialization in Brabant and Flanders. A Case Study: De Heyder and Co. of Lier, c. 1750-c. 1815, in: D. Ebeling u. W. Mager (Hg.), Protoindustriclle Gesellschaften des 16. und 19. Jahrhunderts im regionalen Vergleich (im Druck). 43 J . Drambruyne, De Gentse bouwvakambachten in sociaal-economisch perspectief, 14501795, in: Lis u. Soly (Hg.), Werken volgens de regeis, S. 79-86. 44 Vgl. D. C. North, Institutions, in: Journal of Economic Perspective, Jg. 5,1991, S. 97-112;J. H. Munro, Textiles, Towns and Trade. Essays in the Economic History of Late Medieval England and the Low Countries, Aldershot 1994, Kapitel 7 u. 8; C. A. Dauids, De macht der gewoonte? Economische ontwikkeling en institutionele context in Nederland op de lange termijn, Amsterdam, 1995, S. 10-12; J . Y. Grenier, L'économie d'Ancien Régime. Un monde de l'échange et de l'incertitude, Paris 1996, S. 325-331.
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wichten und Qualitätsstandards, die Sicherung einer angemessenen Ausbildung und die Mobilisierung einer ausreichenden Anzahl von Facharbeitern zur rechten Zeit am rechten Ort: Die meisten Kapitalisten betrachteten Zünfte deshalb als einen ausgezeichneten Rahmen zur Durchsetzung dieser Regulierungen, besonders da die Verantwortung hierfür den kleinen Fabrikanten übertragen wurde. 45 In den exportorientierten Sektoren und im Baugewerbe stellten die Zünfte keineswegs eine Insel inmitten eines Meeres unorganisierter Arbeit dar. Eher unterhielten die zwei Sphären enge Beziehungen miteinander und beeinflussten sich gegenseitig. Der regulierte Kern konnte nur dadurch gedeihen, dass er sich auf periphere Zonen stützte, wo andere, informelle Regeln galten, und wo die Arbeit nicht - wenigstens nicht offiziell - organisiert war. Ob die Zunftregulierungen angewandt, abgewandelt oder aufgegeben wurden, hing von einem Machtkampf ab, in dem die kapitalistischen Zunftmeister oft die Führungsrolle übernahmen, aber nie die einzigen Beteiligten waren. Diese Situation erklärt die Fülle von Disputen und Prozessen, die sich auf die Ziele und den Schutz von Grenzen zwischen »Insidern« und »Outsidern« bezogen. Der Ausgang stand nie von vornherein fest. Die häufigen Veränderungen im Laufe der Zeit zeigen, dass Verschiebungen im Kräfteverhältnis normal waren. Vieles muss noch genauer untersucht werden, doch kann nicht länger als selbstverständlich gelten, dass die meisten Zunftorganisationen in den Export- und Baugewerben die Interessen der kleinen unabhängigen Fabrikanten schützten und mit Unterstützung der Lokalbehörden den Aufstieg des Kapitalismus behinderten.
3. Soziale Beziehungen im Wandel In Quellen, die einen flüchtigen Blick auf die Verteilung des Reichtums in den Österreichischen Niederlanden gestatten, rangieren die meisten Handwerksmeister am Ende des Ancien Régimes eher unten als an der Spitze der sozialen Pyramide. Obwohl einige Zunftmitglieder es durchaus zu beträchtlichem Vermögen brachten, wie Inventare belegen, 46 waren sie jedoch eher eine Minderheit. Die von den französischen Behörden in Brügge zwischen 1794 und 1797 erhobenen Anleihen sollten von allen Einwohnern mit einem persönlichen Vermögen von mindestens 10.000 Livres tournois, d.h. dem Zwanzigfachen 45 Lis u. Soly, Corporatisme, S. 368-370, 372, 374. 46 G. Vandervorst, Peiling naar de bezitstructuur van Antwerpen rond 1789, Licence Universität Brüssel 1977; I. Pisters, Eenvoud en luxe binnenhuis. Studie der Gentse interieurs uit de 18e eeuw, Licence Universität Gent 1983; M . - C . Michaud, Bijdrage tot de sociale Studie van de l8de eeuwse Gentse maatschappij aan de hand van een onderzook naar de klasse van de ambachtmeesters, Licence Universität Gent 1986.
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des Jahreseinkommens eines gut bezahlten Gesellen, beschafft werden. Nur 214 von etwa 2000 Handwerksmeistern entsprachen diesem Kriterium. Sie stellten 18,5% der 1160 wohlhabenden Familien dar, und ihr Anteil nahm in dem Maße ab, wie das Niveau des Reichtums stieg: Unter jenen, die 10.000 bis 31.000 Livres tournois besaßen, stellten sie 26%, 15% unterjenen mit 32.000 bis 50.000 Livres tournois. Nur knapp 5% aller, die mehr als 50.000 Livres tournois besaßen, waren Handwerksmeister. 47 Ähnliche Verhältnisse herrschten in Antwerpen. Nur einer von elf Handwerksmeistern in dieser Stadt besaß mindestens 10.000 Livres tournois, und selbst die wohlhabendsten unter ihnen besaßen weniger als die Mindestsumme von 20 000 Livres tournois, die nur von einer kleinen Elite von 200 Familien überschritten wurde. 48 Da die Werkstätten sehr wohlhabender Handwerksmeister sehr unterschiedlich waren, lassen sich nur schlecht allgemeine Aussagen machen. Ihre Anzahl und die Natur ihrer Aktivitäten hingen von der örtlichen Wirtschaftsstruktur ab und veränderten sich mit der Konjunktur in den einzelnen Branchen. Dennoch besaßen die meisten dieser Zunftmitglieder zwei Besonderheiten. Einerseits waren sie industrielle Kapitalisten im eigentlichen Wortsinn, d.h. Produzenten, die fixes Kapital investierten. Andererseits verbanden sie die Produktion mit kaufmännischen Tätigkeiten. Handelskapitalistische Weber, Garnzwirner und Diamantschleifer waren eine harte Konkurrenz für Großhändler. Die meisten führenden Handwerksmeister arbeiteten jedoch in Sektoren, die für Handelskapitalisten uninteressant waren. Dies waren vor allem Bereiche, die hohe Investitionen und eine große Sachkenntnis des Gewerbes erforderten, wenn die betriebliche Erweiterung technische und organisatorische Probleme aufwarf. Infolgedessen umfasste die kleine Gruppe sehr reicher Handwerksmeister vor allem Färber, Hutmacher, Böttcher, Goldschmiede, Klempner, Brauer und Fleischer.49 Es ist bezeichnend, dass die Fleischer im allgemeinen geschlossene Zünfte bildeten, d.h., dass nur die Söhne von Meistern Zugang zum Gewerbe hatten.50 47 W. Boussy, De gegoede stand te Brugge op het einde van de XVIIIe eeuw, Licence Universität Gent 1963. 48 Berechnet nach: Antwerpen; Stadsarchief, Modern archief, nos.752/2 u. 753/1; J . de Beider, Elementen van sociale identifìcatie van de Antwerpse bevolking op het einde van de XVIIIde eeuw. Een kwantitatieve Studie, Diss. Gent 1974, Bd. 1, S. 390-407; K. Degryse, De Antwerpse fortuinen. Kapitaalaccumulatie, kapitaalinvesteering en kapitalrendement te Antwerpen in de l8de eeuw, Diss. Gent 1985, S. 3-5. 49 Boussy, De gegoede stand, passim; De Beider, Elementen, Bd. 1, S. 201-210, u. Bd. 2, passim; vgl. auch ders., Beroep of bezit als criterium voor de sociale doorsnede. Een aanzet tot de uniformisering van reconstruetiemethoden, in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis, Jg. 6, 1976, S. 269 ff. 50 H. van Werveke, Ambachten en erfelijkheid (Medelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie, Klasse der Letteren, IV, Nr. 1, 1942); sowie ders.. De Gentse vleeshouwers onder het Oud Regime. Demografische Studie over een gesloten en erfelijk ambachtgíld, Handelingen der Maatschappij voor Geschiedenis en Oudheidkunde te Gent, new series III, 1948, S. 3-32. Vgl. auch
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Trotzdem war die finanzielle Situation der Handwerksmeister völlig heterogen. Verfügbare Daten zeigen, dass zwei von zehn Handwerkern ein kleines Vermögen und eine gleiche Anzahl genügend finanzielle Reserven besaßen, um persönliche Rückschläge oder ökonomische Krisen zu überleben. Der Rest verfügte nur über seine Arbeitskraft.51 Sicher variierten diese Anteile unter den verschiedenen Gewerben, und eine vollständige Beschreibung der relevanten Unterschiede würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Dennoch ist es wichtig, die Hersteller von Exportartikeln sowie die Bauunternehmer von den Produzenten und Einzelhändlern zu unterscheiden, die Konsumgüter für den örtlichen Markt bereitstellten. Wie schon oben angedeutet, führte die Konzentration der Produktion und der Arbeit zur Proletarisierung vieler kleiner Meister. Jos de Belders Berechnungen zur Vermögensverteilung in Antwerpen von 1796 zeigen folgendes Bild: Nahezu 78% aller Leinewebermeister, 65% aller Hutmachermeister und 62% aller Maurermeister besaßen lediglich ihre Arbeitskraft und keinerlei Vermögenswerte.52 Fragmentarische Daten lassen auf gleiche oder größere Anteile in Zentren schließen, wo diese Gewerbe sich ausdehnten. 53 Unserer Meinung nach erklärt die Tatsache, dass die betreffenden Zünfte schließlich von einer kleinen Gruppe von Kapitalisten beherrscht wurden, die geringe oder nicht vorhandene Erhöhung der Aufnahmegebühren während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Die führenden Meister hatten ein dringendes Interesse daran, dass der Arbeitsmarkt von Kollegen überschwemmt wurden, die dann gezwungen waren, als Zulieferer zu arbeiten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich das System der verlängerten Werkbank gegen Ende des Ancien Régimes auch auf zünftige Gewerbe ausdehnte, die den örtlichen Markt bedienten, wie die Schneider, die Schuhmacher und die Tischler.54 Veränderungen in der Konsumentennachfrage während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrafen auch diese Zünfte. Einige Mitglieder profitierten weit mehr als andere vom Anwachsen der städtischen Bevölkerung und von neuen Modetrends, wie die sich ständig verändernden Werkstättengrößen und die zunehmenden Klagen über die Vergabe von Aufträgen an Zulieferer und
De Roo, Ambachten en erfelijkheid te Mechelen. Het probleem der vrijen, in: Handelingen van de Koninklijke Kring voor Oudheidkunde, Letteren en Kunsten van Mechelen, Jg. 51, 1947, S. 8 8 102, u. Jg. 52, 1948, S. 16-32. 51 Berechnet nach K. Degreyse, Sociale ongelijkwaardigheid te Antwerpen in 1747, in: BijdragentotdeGeschiedenis,Jg. 57, 1974, S. 136-145; J.Denolf, Brugge in 1748. Een socio-demografische schets van een stedelijke samenleving rond het midden van de 18e eeuw, Lícence Universität Gent 1981: De Beider, Elementen, Bd. 2, passim. 52 Berechnet nach De Beider, Elementen, Bd. 2, S. 224 ff, 255 ff, 285 ff, 321 ff 53 Vgl. Vermaut, De textielnijverheid, S. 491-499. 54 Dies geht aus den Untersuchungen von H. Deceulaer hervor, der zur Zeit eine Dissertation über die Kleiderherstellung in Antwerpen, Brüssel und Gent in der Frühen Neuzeit schreibt.
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andere Formen des »unlauteren« Wettbewerbs beweisen.55 Dennoch gehörte die überwältigende Mehrheit der Meister zur Gruppe mit niedrigem bis mittlerem Einkommen. Als Leute von bescheidenen Mitteln wussten sie einerseits, dass sie kaum Vermögen bilden konnten, und andererseits, dass ihre ökonomische Unabhängigkeit gefährdet war. So wehrten sie sich vehement gegen die Verletzung ihrer kollektiven Monopolstellung, gleich ob solche Störungen von illegalen Produzenten oder von Kollegen begangen wurden, die ihre Position von anderen Zünften her unterwanderten. Trotz dieser Aktivitäten waren die Zünfte keineswegs Muster des Konsens und der Harmonie. Obwohl über die Natur der inneren Streitigkeiten wenig bekannt ist, können wir vermuten, dass die Beziehungen unter den Handwerksmeistern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer weniger kollegial wurden. 56 Dies legt zumindest die in diesem Zeitraum steigende Zahl gerichtlicher Verfahren nahe, die einzelne Zunftmitglieder gegen ihre eigene Zunft anstrengten. Das Hauptangriffsziel war die wachsende Anzahl von Gesellen, die keine Aussicht hatten, nach dem Abschluss ihrer Lehre Meister zu werden und die sich deshalb als Pseudomeister (d.h. als unabhängige Produzenten) betätigten. Sie arbeiteten sowohl in den Städten, wo sie ihr Gewerbe heimlich in Schlupfwinkeln wie Kellern oder Dachgeschossen ausübten, als auch in den Außenbezirken großer Städte, wo sie manchmal offen operieren konnten, da einige Gemeinden Privilegien besaßen, die sie der städtischen Gerichtsbarkeit entzogen.57 In den meisten Fällen konnten die Zünfte sich auf königliche Dekrete und Erlasse aus dem späten 17. Jahrhundert berufen, die solche Praktiken verboten, oder die eine Höchstgrenze für die Zahl der Handwerker und Geschäftsinhaber in den Vorstädten und nahegelegenen Flecken festlegten. Obwohl diese Einschränkungen bis zum Ende des Ancien Régimes in Kraft blieben, war der Zuwachs dieser Eindringlinge nicht aufzuhalten. Gesellen und sogar verarmte Meister strömten in die Vorstädte, wo sie oft als Zulieferer für städtische Unternehmer fungierten. Letztlich wurde die Zunftkontrolle des Arbeitsmarktes immer weniger wirksam. 58 Andere Entwicklungen, die das Monopol vieler Zünfte untergruben, gingen von der Ausdehnung der industriellen Produktion und des Handels in ländlichen Bereichen aus. Dies scheint weniger das Ergebnis staatlicher Maßnahmen 55 Van Buyten, Arbeid, S. 97 ff. 56 Van Honacker, De politieke cultuur, S. 202 ff, 227. 57 G. des Marez, Le Borgendael à Bruxelles dans sa lutte contre l'industrie privilégiée, in: Revue de l'université de Bruxelles, Jg. 8, 1902-1903, S. 693-712; Van Honacker, De politieke cultuur, S. II 95-199. 58 J . B. Stockmans, Deurne en Borgehout sedert de vroegste tijden tot heden, Bd. 2, Brecht II899, S. 76 ff; F. Prims, Geschiedenis van Borgerhout, Borgerhout 1936, S. 92 f., 106 ff, u. ders., Geschiedenis van Berchem, Berchem 1949, S. 177 ff; F. Nooyens, Geschiedenis van Deurne, Deurne 1982, passim; R. van Passen, Geschiedenis van Wilrijk, Wilrijk 1982, S. 63 f.; S. Dickschen, De Antwerpse ambachten tegen de dorpsneringen, Licence Universität Brüssel 1992.
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gewesen zu sein - vielmehr blieb die Liberalisierung der Gewerbe eher begrenzt - als die Folge der zunehmenden Einbindung ländlicher Gebiete in kommerzielle Netze, wie wir an der geradezu spektakulären Ausweitung des Tür-zu-Tür-Handels und am Auftauchen zahlreicher Wochenmärkte sehen können. Städtische Handwerker und Kleinhändler beklagten sich bitterlich über die »unlauteren« Praktiken ihrer ländlichen Kollegen: Während sie immer mehr Mühe hatten, Kunden auf dem Lande zu finden, wo Geschäfte wie Pilze aus dem Boden schossen, wurden gewaltige Mengen an Kleidung, Schuhen und anderen Konsumgütern in die Städte geschmuggelt und von Tür zu Tür von Männern und Frauen verkauft, die außerhalb des Zunftsystems standen. Die Zünfte der Schnittwarenhändler drängten darauf, diese Entwicklung zu bremsen, waren aber nicht imstande, die Uhr zurückzudrehen. 59 Unserer Meinung nach richteten die Handwerksmeister, die Güter für den örtlichen Markt herstellten oder im Einzelhandel beschäftigt waren, durch ihren Kampf gegen Praktiken, die sie als wilden Handel betrachteten, wachsenden Schaden für das Ansehen des städtischen Zunftwesens an. Durch das Auftauchen paralleler Handelsnetze befassten sich die Konsumenten mehr mit Preisunterschieden und waren weniger geneigt, zu glauben, dass illegale Produzenten und Kleinhändler sich des »Dumpings« schuldig machten. Im Gegenteil: Das mangelnde Bemühen der öffentlichen Behörden, diese Übergriffe auf die Zunftmonopole einzuschränken, zwang die betroffenen Zünfte, Gerichtsverfahren anzustrengen, was ihnen den Ruf eintrug, streitsüchtig zu sein.60 Es ist nicht ganz klar, wie viele Gesellen Meister werden konnten. Vorausgesetzt, dass die Bewerber praktizierende Katholiken waren, blieben die Korporationen in den Österreichischen Niederlanden weitgehend offen.61 Ausnahmen bildeten nur einige wenige Zünfte, in denen der Meisterstatus de jure oder de facto erblich geworden war, was im allgemeinen auf Fleischer und Fischhändler 59 G. Crutzen, Un mémoire contemporain sur la question des corporations aux Pays-Bas à la fin du siéclé dernier, in: Messager des Sciences historiques, 1887, S. 293-307, 420-439; G. Willemsen u. E. Dilis, Un épisode de la lutte économique entre les villes et le plat pays de Flandre dans la seconde moitié du l8e siècle, in: Annales du Cercle archéologiquedu Pays de Waes,Jg. 25,1905, S. 273-323; Van Houtte, Histoire économique, S. 184-191, 237-249; F. Daetemans, Het Pajottenland in de 18e eeuw: historisch-demografisch onderzoek, Bd. 1, Diss. Brüssel 1979, S. 97; M. Monier, Inhoudsanalyse van de Gentse almanakken uit de 16de, l7de en 18de eeuw. Het schetsen van een wereldbeeld, Licence Universität Gent 1981, S. 103—106; G. Leenders, De beroepsstruetuur op het platteland tussen Antwerpen en Brussel, 1702-1846, in: J . Craebeckx u. F. Daelemans (Hg.), Bijdragen tot de Geschiedenis van Viaanderen en Brabant. Sociaal en Economisch, Bd. 1, Brüssel 1983, S. 166-228; K. Boon, De sociaal-economische transformatie van Sint-Niklaas, 1700-1850, in: Annalen van de Koninklijke Oudheidkundige Kring van het Land van Waes,Jg. 93,1990, S. 156-181. 60 Van Honacker, De politieke cultuur, S. 195, 227. 61 Im November 1781 führte Joseph II. religiöse Toleranz ein. Vgl. R. Crahay (Hg.), La tolérance civile. Actes du Colloque international organisé à l'Université de Mons du 2. au 4. septembre à l'occasion du deuxième centenaire de l'édit de Joseph II, Brüssel/Mons 1982.
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zutraf,62 oder die eine festgesetzte Anzahl von Mitgliedern vorschrieben, wie viele Gruppen von Transportarbeitern.63 Zwischen den Gewerben variierten nicht nur die Lehre und die Meisterstücke, sondern auch die Aufnahmegebühren. Drei Punkte sind besonders hervorzuheben. Erstens gab es kein System der Meisterbriefe. Anders als die französischen Könige hatten die Herrscher in den Habsburgischen Niederlanden nicht das Recht, solche Titel zu verkaufen, und die Zünfte taten dies nur unter außergewöhnlichen Umständen. Zweitens ließ die überwältigende Mehrheit der Zunftorganisationen Fremde zu, wenngleich Ausländer mehr als Einheimische zu zahlen hatten; die Gebühren für Kandidaten aus anderen Städten waren ebenfalls höher als die für Einheimische; und auch Personen, deren Väter keine Meister waren, wurden mehr als die Söhne von Meistern belastet. Drittens waren die Aufnahmegebühren meist beträchtlich niedriger als in der Hauptstadt und in den meisten Provinzstädten Frankreichs.64 Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die Kosten für die Zulassung als Meister für die wachsende Zahl von Gesellen, die mit dem Exporthandel zu tun hatten, weniger problematisch als die strukturellen Veränderungen in der Organisation dieser Gewerbe.65 Einerseits erschwerte die Konzentration der Produktion die Gründung eigener Werkstätten, andererseits verwandelte dieser Prozess viele kleine Meister in Proletarier. Gegen Ende des Ancien Régimes konnten sehr wenige Gesellen in Exportgewerben auf materielle Besserung durch den Erwerb des Meisterstatus hoffen. In einigen dieser Gewerbe konnten große oder mittlere Unternehmen nur störungsfrei produzieren, wenn die Gesellen gewillt waren, als Team zu arbeiten. Diese komplexe und in hohem Maße integrierte Arbeitsteilung befähigte die Gesellen, die kollektive Natur ihrer Fachkenntnis zu betonen und bewegte sie dazu, geschlossene Werkstätten zu erzwingen, wodurch die Unternehmer vom direkten Zugang zum Arbeitskräfteangebot abgeschnitten waren. Hierdurch waren weder die kapitalistischen Handwerksmeister noch die Handelskapitalisten imstande, Gesellen durch Lehrlinge zu ersetzen, unfreie Arbeiter einzustellen, Gewerbefremde zu beschäftigen oder die Arbeitskosten auf irgendeine andere Art zu senken. Die Hutmachergesellen bildeten z.B. zwischengemeindliche Netzwerke, sogenannte »Gemene Bussen« oder Gemeinschaftliche Börsen, die ähnlich wie Gewerkschaften verhandelten und kollektive Strategien entwickelten. Sie waren so gut organisiert, dass ihre bloße Drohung, jemanden auf die Schwarze Liste zu setzen, genügte, um die Arbeit62 Vgl. Anm. 50. 63 Deceulaer, Arbeidsregulering, S. 24. 64 Goetstouwers, Les métiersde Namur, S. 52-62; Ph. Guignet, Le pouvoirdans la villeauvXVIIIe siècle. Pratiques polìtiques, notabilité et éthique sociale de part et d'autre de la frontière francobelge, Paris 1990, S. 296 ff. 65 Vgl. Thijs, Van werkwinkel tot fabriek, S. 258 f.
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geber zu beeinflussen. Die Edikte von 1775 und 1784, die Meister berechtigten, eine unbegrenzte Anzahl von Arbeitern nach eigener Wahl anzuheuern, sowie der Erlass von 1786, der die gemeinschaftlichen Börsen verbot, verfehlten ihr Ziel. Die Gegenoffensiven der Gesellen waren so wirkungsvoll, dass die meisten Hutmachermeister bald ihre Praxis, unorganisierte Arbeiter anzuheuern, aufgaben und sogar einverstanden waren, die Löhne zu erhöhen. 66 Die bislang vorliegenden Untersuchungen geben keine Hinweise darauf, ob ähnliche Gesellenvereinigungen in anderen Exportgewerben existierten. Dies ist sehr gut möglich, denn z.B. den Bleichergesellen von Gent gelang um 1770 die Durchsetzung ihrer Forderungen mit Hilfe des Generalstreiks.67 In vielen arbeitsintensiven Zweigen des Textilgewerbes allerdings sank die Verhandlungsmacht der Facharbeiter so sehr, dass sie die Kontrolle über den Zugang zu ihrem Gewerbe verloren. Im 18. Jahrhundert waren die Bruderschaften der Tressenweber, der Leineweber und der Garnzwirner in Antwerpen ihrem Wesen nach rein religiös. Die gemeinsamen religiösen Aktivitäten sollten die Selbstachtung der Mitglieder stärken und nach außen hin sichtbar machen. Mit der Wahl ihres eigenen Schutzheiligen konnten sie sich z.B. von den Handwerksmeistern abgrenzen. Durch die Zurschaustellung großer Frömmigkeit und die Betonung der Pflicht aller Katholiken, die gleichen Gesetze zu befolgen, setzten sie einen symbolischen Protest gegen »schlechte« Arbeitgeber in Gang. Zugleich lehnten sie es ab, Lehrlinge und Handwerker außerhalb des Zunftrahmens zu dulden, um die eigene Gruppe nach unten hin abzuschirmen. 68 Die Bedeutung solcher Bruderschaften in sozialer Hinsicht sollte nicht unterschätzt werden. Indem sie das »symbolische Kapital der Ehre« (Griessinger) mit der Pietät verbanden, demonstrierten die betreffenden Gesellen eindrucksvoll, dass eine christliche Wirtschaftspolitik das Festhalten an gewissen Zunftregelungen bedeutete, was eine zunehmende Liberalisierung für die Behörden schwieriger machte. Der soziale Aufstieg wurde im 18. Jahrhundert auch für Zimmermanns- und Maurergesellen beschwerlicher, nicht so sehr, weil die Aufnahmegebühren in die Zunft stiegen, sondern weil die Aufnahme selbständiger Produktionstätigkeiten zunehmend mehr Kapital erforderte. Überdies begegneten sie einer wachsenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, da die Gemeindebehörden dadurch zu sparen suchten, dass sie Bauunternehmer bei öffentlichen Arbeitsvorhaben bevollmächtigten, unfreie Arbeiter einzustellen. Im Jahre 1756 gewährte der Magistrat von Gent sogar ausdrücklich allen Maurer- und Zim-
66 Lis u. Soly, De macht van vrije arbeiders, S. 31-39. 67 Vgl. P. van Heesvelde, Stakingen en arbeidsconflicten te Gent op het einde van de achttiende eeuw, in: Tijdschrift van het Gemeentekrediet, Jg. 186, 1993-1994, S. 34—41, 68 Thijs, Religieuze rituelen, in: Lis u. Soly (Hg.), Werken volgens de regeis, S. 231-81, besonders S. 240-251.
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mermannsmeistern dieses Recht.69 Letztlich mussten die Gesellen einen größeren Teil ihrer Löhne ihren Arbeitgebern überlassen, denen es gelang, die Lohndifferenz zwischen den Facharbeitern und den ungelernten Arbeitern von 50 auf 15% zu reduzieren. U m 1790 konnten vollbeschäftigte Zimmermanns- und Maurergesellen etwa 30% weniger Weizen kaufen als in der Zeit von 1725 bis 1734.70 Es ist kein Wunder, dass sie sich in der Brabanter Revolution als »Opfer der Tyrannei« bezeichneten, »ähnlich den Negern«.71 Dennoch unterschieden sie sich von den meisten Textilarbeitern in ihrem höheren Lebensstandard und ihrem fortgeschrittenen Unterstützungssystem für Kranke und Bedürftige. Diese Fonds gab es in Antwerpen, Brüssel und Gent ebenso wie in mittelgroßen Städten wie Brügge und Löwen. Wir wissen wenig über die Beziehungen zwischen Gesellen und Meistern in kleinbetrieblich organisierten Gewerben. Es scheint, als habe die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg abgenommen. Ein Hinweis hierauf sind die Anstrengungen kleiner Meister, ihre Position durch die Anhebung der Aufnahmegebühren zu verteidigen und die Verpflichtung der Kandidaten, den Ältesten unter den Zunftmitgliedern ein üppiges Festmahl zu spendieren.72 Wie das Verhältnis von Meistern zu Gesellen z.B. bei den Knopfmachern, Flickschustern, Strumpfwirkern und Schneidern, das wenigstens 1:2 und manchmal aber auch 1:10 betrug, beweist, blieb der Meisterstatus für viele Facharbeiter eine ferne Hoffnung.73 Wir nehmen an, dass diese Umstände Flickschuster- und Schneidergesellen im 18. Jahrhundert dazu bewegten, in verschiedenen Städten ihre eigenen Bruderschaften und Fonds für Kranke zu gründen. 74 Die meisten Zünfte, die sich auf den örtlichen Markt konzentrierten, scheinen allerdings durch große soziale Mobilität gekennzeichnet gewesen zu sein.75 In diesen Gewerben spielten Alter und Erfahrung eine größere Rolle als soziale Unterschiede, da die Meister wenig vermögend waren und die meisten Gesellen derselben sozialen Klasse entstammten. Gesellen, die die Aussicht hatten, Meister zu werden, gründeten kaum eigene »Bussen«: Als Meister kamen sie 69 Dambruyne, De Gentse bouwvakambachten, S. 83. 70 Scholliers, Remuneratiemodaliteiten, S. 43-47, 51 ff.; ders., De materiele verschijningsvormen van de armoede voor de Industriele Revolutie. Omvang, evolutie en oorzaken, in: Tijdschrift voor Geschiedenis, Je. 88, 1975, S. 453 ff., 465 f. 71 Zit. nach Van den Berghe, Jacobijnen, S. 79. 72 Goetstouwers, Les métiers de Namur, S. 44 ff 73 Ebd., S. 14 f.; De Beider, Elementen, Bd. 2, S. 134-138; Van Honacker, De politieke cultuur, S. 223 ff. 74 Goetstouwers, Les métiers de Namur, S. 228 ff; J . Verhauert, Het ambachtswezen te Leuven, Löwen 1940, S. 62 ff; Thijs, Religieuze rituelen, S. 240, 247, 251. 75 Van Buyten, Arbeid, S. 76 f.; Van den Broeck, Marchands de tout, S. 58 f.; K. van Quathem, Sociale mobiliteit en machtverdeling in het Brugse schoenmakersambacht, 1570-1790, in: Lis u. Soly (Hg.), Werken volgens de regeis, S. 125-129.
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meist in den Genuss der Fonds für Kranke, welche die Zünfte für ihre regelmäßig zahlenden Mitglieder bei Bedürftigkeit bereitstellten. 76 Viel Forschung ist noch notwendig, um sowohl die Zahl der Mitglieder zu bestimmen, die formelle Unterstützungen erhielten, als auch die Bedingungen und den Umfang der Unterstützung zu untersuchen. Kleine Meister scheinen großen Wert auf dieses Versicherungssystem gelegt zu haben, das sie als die Hauptfunktion ihrer Zunftorganisationen betrachteten.
4. Zünfte, Stadtregierungen und der Staat Die Beziehungen zwischen den Zünften und den öffentlichen Behörden waren höchst komplex, da die Stadtregierungen und der Staat die Nützlichkeit des städtischen Zunftwesens unterschiedlich bewerteten. Wirtschaftliche Überlegungen waren in diesem Zusammenhang weit weniger wichtig als politische Erwägungen. In den meisten Städten überwachten die Ratsherrengerichte die Zünfte streng. Sie wählten die Zunftvorsteher aus einer von den scheidenden Vorstehern aufgestellten Liste aus; sie überprüften die Jahresabrechnungen und kontrollierten die Einhaltung der Zunftordnung. Gerade der Wert, den sie diesem Kontrollrecht beimaßen, machte sie äußerst misstrauisch gegenüber Einmischungen von oben. Außerdem galten Bemühungen von Seiten des Staates, die Statuten für eine oder mehrere Zünfte zu ändern, als indirekte Eingriffe in die Vorrechte der örtlichen Behörden. Wie ein Mitglied des »Conseil Privé« im Jahr 1781 zutreffend bemerkte, kam ein zusätzlicher Faktor ins Spiel: »Die Magistrate dieses Landes, besonders in Städten, wo die Zünfte mit öffentlichen Angelegenheiten befasst sind und ihre Zustimmung geben müssen, versuchen stets, diese Organisationen zu begünstigen und deren Exklusivrechte auszuweiten, um sich ihre Unterstützung zu sichern«. 77 In vielen Städten der Österreichischen Niederlande wirkten die Zünfte tatsächlich als Interessengruppen, da sie nicht nur ein Mitspracherecht in Steuerfragen besaßen, sondern auch bei Entscheidungen mit größeren finanziellen Folgen für die ganze Gemeinde mitwirkten. Sie waren allerdings nie entsprechend ihrer Zahl in den Ratsgremien vertreten gewesen, und dieses Ungleichgewicht verstärkte sich im 18. Jahrhundert noch weiter. Seit dem Spätmittelalter hatten nur die Vertreter von 24 bis 26 privilegierten Zünften Sitz im Großen Rat von Antwerpen. Dies beraubte die erst in der frühen Neuzeit gegründeten Korporationen jeden Mitspracherechts, obwohl z.B. die Seidenweberzunft zwei- bis dreihundert Meister umfasste.78 In Brüssel war das Sys76 Vgl. Anm. 23. 77 Zit. nach R. Ledoux, La suppression du régime corporatif dans les Pays-Bas autrichiens en 1784. Un projet d'édit, son auteur et sa date, Brüssel 1912, S. 9, Anm. 2. 78 R. Boumans, Het Antwerps stadbestuur voor en tijdens de Franse overheersing. Bijdrage tot
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tem ebenso anachronistisch. Dort besaß z.B. die Walkerzunft, deren Mitglieder 1739 sogar erklärt hatten, sie übten das Gewerbe nicht mehr aus, immer noch das Recht, zwei Vertreter in die »Generalität« zu entsenden, die gleiche Anzahl übrigens wie die fünfhundert Gemüsehändler. 79 Obwohl Untersuchungen über die Haltung der Stadtregierungen gegenüber den verschiedenen Zünften während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fehlen, war die Stellung einer Zunft innerhalb des örtlichen politischen Systems zweifellos ein bedeutender Faktor.80 Dies ist zumindest aus der Tatsache zu schließen, dass die Ratsherrengerichte Unternehmer kaum unterstützten, deren wirtschaftliche oder soziale Strategien mit den Interessen jener Zünfte kollidierten, die bedeutenden politischen Einfluss besaßen.81 Das heißt nicht, dass die Magistrate jegliche Form der Liberalisierung ablehnten. Sie waren geneigt, die Beschränkung der Werkstattgröße in Exportgewerben aufzuheben, wenn die kleinen Produzenten zu schwach waren, sich organisatorischen Neuerungen zu widersetzen. Sie ignorierten zunehmend die dringenden Bitten der Zünfte, die steigende Konkurrenz von Seiten illegaler Handwerker in den Städten und Vorstädten zu beschränken. Sie zögerten auch nicht, bestimmte Zünfte zu öffnen, indem sie Kandidaten davon befreiten, Meisterstücke zu liefern oder Aufnahmegebühren zu zahlen, wenn die eingetragenen Mitglieder ihr Monopol durch überhöhte Preise missbrauchten. In den frühen 1770er Jahren drängten die Stadtregierungen von Antwerpen und Brügge sogar die staatlichen Behörden, jedermann zu erlauben, Fleisch an Markttagen zu verkaufen. Trotz ihrer gewaltigen Macht waren die Proteste der Fleischerzünfte erfolglos. Die örtlichen Behörden berücksichtigten vorrangig die »Stimme des Volkes«. Mit anderen Worten: Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ging vor.82 Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an mischte sich der Staat immer stärker in das Zunftwesen ein. Diese interventionistische Politik hing direkt mit dem Bestreben zusammen, den gewerblichen Aufschwung zu fördern. Die allmächtigen Minister und die Mitglieder und Berater des Finanzrates setzten zunehmend ökonomischen und sozialen Fortschritt mit freiem Unternehmertum und Freiheit der Arbeit gleich, was eine Deregulierung zur Folge hatte. Dennoch verfolgten sie bis in die 1780er Jahre einen pragmatischen Kurs. Während de ontwikkelingsgeschiedenis van de stedelijke bestuurstellingen in de Zuidelike Nederlanden, Brügge 1965, S. 38 ff. 79 Van Honacker, De politieke cultuur, S. 183-186. 80 Dr. K. van Honacker fuhrt gegenwärtig Untersuchungen zur politischen Bedeutung der Zünfte im Herzogtum Brabant durch. 81 Lis u. Soly, Entrepreneurs, S. 727 ff. 82 Vgl. Y. van den Berghe, Het offensief van de steden tegen het corporatisme op het einde van de 18e eeuw. Een voorbeeld: de vruchteloze strijd van de Brugse vleeshouwers, in: Driemaandelijks Tijdschrift van het Gemeentekrediet van België, Jg. 92, 1970, S. 90-94.
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sie große Fabrikanten unterstützten, indem sie Anpassungen bei Zollgebühren und Ausnahmen von Binnenzöllen zustimmten, unternahmen sie nichts, um Kapitalisten zu unterstützen, deren Betätigung auf organisierten Widerstand stieß. Statt das städtische Zunftwesen direkt anzugreifen, wählten sie ihre Ziele sorgfältig aus und verfügten Reformen nur dann, wenn die betreffende Zunft keine rechtlichen Grundlagen hatte, sich der Reorganisation zu widersetzen, oder aber wenn sie von inneren Meinungsverschiedenheiten zerrissen war, große Schulden angehäuft hatte oder als Ganzes mit anderen Berufsgruppen uneins war. In solchen Fällen intervenierte der Staat als Beschützer des öffentlichen Interesses, ohne dass die Stadtregierungen dies als Eingriffe in städtische Privilegien bezeichnen konnten. 83 Trotz der rein ökonomischen Beweggründe einiger Maßnahmen scheint es doch, als seien die Staatsvertreter hauptsächlich bestrebt gewesen, den politischen Einfluss der Zünfte zu begrenzen. Zwischen 1758 und 1771 unterstellten sie die Zünfte in Tournai, Arlon und Luxemburg der direkten Aufsicht durch örtliche Behörden. 84 Ab 1764 übte die »Jointe des Administrations« eine strenge Kontrolle der Finanzen gegenüber einer steigenden Anzahl von Zünften aus und verpflichtete sie, ihre Schulden zu begleichen. 85 Im Jahre 1767 wurden die Provinzialgerichte beauftragt, Mittel zu finden, um die durch die Zünfte angestrengten Prozesse zu beenden. Dieser Auftrag ging aus der Ordonnanz vom 21. Januar 1771 hervor, die festlegte, dass künftigjeder Streit dem Urteil der örtlichen Behörden unterworfen sein sollte. Wenn eine Beilegung außerhalb des Gerichts sich als unmöglich erwies, so konnte jede Seite maximal zwei kurze juristische Schriftsätze abfassen. Die Entscheidung des Provinzgerichts sollte endgültig sein. 86 Ziel dieser Ordonnanz war es, widerspenstige Zünfte zur Ordnung zu rufen. Die Zahl der Fälle, die Zünfte betrafen, nahm daraufhin sowohl beim Antwerpener Ratsherrengericht als auch beim Rat von Brabant deutlich ab.87 Der »Conseil Privé« war sich allerdings wohl bewusst, dass er die politische Macht der Zünfte angesichts ihrer soliden verfassungsmäßigen Basis in mehre83 Lis u. Soly, Entrepreneurs, S. 735 ff. 84 Recueil des Ordonnances des Pays-Bas autrichiens, Brüssel 1860-1912, Bd. 8, S. 182 ff, u. Bd. 10, S. 106-111; N. Majeurs, Die Luxemburger Gemeinden nach den Weistümern, Lehenerklärungen und Prozessen, Bd. 2, Luxemburg 1963, S. 264-280; Guignet, Le pouvoir dans laville, S. 310-314. 85 Vgl. P. Lenders, Jointe voor Bestuuren en Subsidiezaken (1764-1786, 1791-1794), in: E. Aerts, M. Baelde, H. Coppens u.a. (Hg.), De centrale overheidsinstellingen van de Habsburgse Nederlanden, 1482-1795, Brüssel 1994, S. 719-730. 86 Van Houtte, Histoire économique, S. 62-67; F. Smekens, Ambachtswezen en nieuwe nijverheid te Antwerpen in de achttiende eeuw, in: Antwerpen in de XVIIIde eeuw, Antwerpen 1952, S. 84-88. 87 H. Deceulaer, Guilds and Litigation: Conflict Settlement in Antwerp (1585-1796), in: Boone u. Prak (Hg.), Individual, Corporate and judicial Status, S. 180, 189 ff.; Van Honacker, De politieke cultuur, S. 227.
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ren Städten nicht leicht einschränken konnte. Dies galt insbesondere für das Herzogtum Brabant und die Grafschaft Namur, wo der Vertreter des dritten Standes der Bestätigung durch eine der zahlreichen Zünfte bedurfte, um Steuern oder Anträge zu genehmigen. 88 Es nimmt daher nicht wunder, dass der Conseil Privé es als nicht ratsam erachtete, dem Beispiel Turgots zu folgen, der die Zünfte 1776 abgeschafft hatte. Solch radikales Eingreifen hätte die gesamte politische Ordnung aufs Spiel gesetzt. Die Zünfte von Brüssel unterließen es nicht, im Jahre 1777 diesen Punkt zu betonen: »Der Niedergang von Regierungen und Staaten beginnt mit kleinen Beeinträchtigungen von Gesetzen und Privilegien, und solche Verletzungen bringen einen schrittweisen Wandel und Unruhe mit sich, verursachen den Volksumsturz und gipfeln im Ruin des ganzen Landes«.89 Joseph II. hätte gut daran getan, ihre kaum verhüllte Drohung ernst zu nehmen. Obwohl der Kaiser nicht die Absicht hatte, die Zünfte abzuschaffen, waren die Maßnahmen, die er zu Beginn seiner Regierungszeit ergriff, so drastisch, dass viele Zunftmitglieder überzeugt davon waren, dass das Ende der Zunft kurz bevorstand. Im Februar 1784 erklärte er alle Regulierungen und Auflagen bezüglich der Anzahl der Arbeiter, die ein Unternehmer einstellen konnte, für nichtig. Im Mai desselben Jahres verbot er den Zunftvorstehern, Ausgaben in Rechnung zu stellen, die aus Prozessen entstanden, die ohne ausdrückliche Erlaubnis der örtlichen Verwaltung angestrengt worden waren. Wenige Monate später wurde der »Conseil Privé« angewiesen, eine ausgedehnte Untersuchung des Zunftwesens anzustellen: Nicht weniger als 39 Stadtregierungen mußten einen detaillierten Bericht über die Zünfte liefern, der ihre Privilegien, Zulassungsbedingungen, Schulden, ihren politischen Einfluss, ihre Verwaltungsorganisation etc. enthielt. Im April 1786 wurden alle religiösen Bruderschaften, die häufig enge Verbindungen zu den Zünften unterhielten, abgeschafft und durch eine einzige »Confrérie« (Bruderschaft) ersetzt. Das Edikt vom 17. März 1787 wurde zum Stein des Anstoßes: Den Zünften wurde untersagt, Vermögenswerte zu veräußern, Anleihen zu gewähren, illegale Produkte zu beschlagnahmen oder Prozesse ohne vorherige staatliche Genehmigung anzustrengen. Die örtlichen Behörden hatten zwei Monate Zeit, um eine umfassende Aufstellung der Schulden der Zünfte vorzulegen; des Weiteren sollten sie Vorschläge zur Reorganisation ihrer Finanzen erarbeiten. 90 88 Goetstouwers, Les métiers de Namur, S. 270 f.; K. van Honacker, Lokaal verzet en oproer in de l7de en l8de eeuw. Collectieve acties tegen het centraal gezag in Brussel, Antwerpen en Leuven, Kortijk-Heule 1994, S. 91 f., 94, 139 f., 163 f. 89 Zit. nach Van Honacker, Lokaal verzet, S. 558. 90 Recueil des Ordonnances des Pays-Bas autrichiens, Bd. 12, S. 330, 477 ff., u. Bd. 13, S. 29 f.; Van Houtte, Histoire économique, S. 88-112; H. Coppejans-Desmedt, De enquête van 1784 over het ambachtswezen in de Ostenrijkse Nederlanden. Bijdrage tot een kritisch onderzoek, in: Miscellanea Lucienne Van Meerbeck. Archief- en Bibliotheekwezen in België, Jg. 92, 1971, S. 34-47. Die Daten der Erhebung werden demnächst von M.Jacobs publiziert.
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Joseph II. zog nicht nur den Zorn unzähliger kleiner Produzenten auf sich, sondern er verprellte auch die städtische Elite, die fürchtete, dass diese radikale Intervention eine grundlegende Reorganisation der bestehenden politischen Ordnung ankündigte. Weitere Nahrung erhielten ihre Befürchtungen besonders angesichts der Justiz- und Verwaltungsreformen, die der Kaiser am 1. Januar 1787 erließ. Der Kaiser hatte das alte fragile Gleichgewicht zwischen Staat und Lokalgewalt aus der Balance gebracht.91 Dies hatte zur Folge, dass sich soziale, politische und religiöse Gruppen mit weit auseinanderliegenden und oft widerstreitenden Interessen zusammenschlossen, um ihre »Freiheiten« zu verteidigen. Ende Mai 1787 erkannte Joseph II., dass er zu weit gegangen war und hob einige der Edikte wieder auf, das vom 17. März eingeschlossen.92 Es war jedoch zu spät. Die Brabanter Revolution hatte begonnen.93
Schluss Das städtische Zunftwesen in den Österreichischen Niederlanden war nicht aus einem Guß. Oberflächlich wiesen die Handwerkszünfte viele gemeinsame Züge auf. Die meisten genossen ähnliche Rechte, vor allem das lokale Monopol hinsichtlich der Produktion und Verteilung bestimmter Güter sowie die Kontrolle ihrer Mitglieder. Sie dienten ähnlichen Zwecken, sowohl in gesetzlicher als auch in privater Hinsicht. Dieses einheitliche Dach beherbergte allerdings eine große Bandbreite von Bewohnern, deren Interessen, Bestrebungen und Ziele oft sehr weit auseinander lagen und einander widersprachen. Diese Gegensätze hatten zwar immer schon bestanden, doch vertieften sie sich im 18. Jahrhundert und besonders nach 1750. Tatsächlich war das städtische Zunftwesen kein einheitliches oder statisches System mit einem Wesenskern, der aus offiziellen Statuten und Regelungen abgeleitet werden konnte. Es war eher ein komplexes und dynamisches Netz von Kräften, das von vielen Handelnden ständig weitergebaut, umgeformt oder untergraben wurde, so dass sich das Kräftegleichgewicht ständig veränderte. Die führenden Meister in den Zünften des Export- und Baugewerbes konnten ihre Betätigungsfelder ausdehnen. Zusätzlich zu ihrer weitverbreiteten Praxis der Auftragsvergabe an Zulieferer versuchten sie, organisatorische Neu91 L. Dhondt, Van Ancien Régime naar moderne bureaucratie. De hervorming van het vorstelijk bestuursapparat in 1787, in: Tijdschrift voor Geschiedenis,Jg. 90, 1977, S. 429-456. 92 Recueil des Ordonnances des Pays-Bas autrichiens, Bd. 13, S. 83. Vgl. besonders die bedeutende Studie von M.Jacobs, Oude strueturen en verse vis. Representaties van corporaties te Nieuwpoort in de tweede helft van de achttiende eeuw, in: Lis u. Soly (Hg.), Werken volgens de regeis, S. 283-320. 93 Zu diesen Vorgängen, vgl. L. Dhondt, Verlichte monarchie, Ancien Régime en revolutie. Een institutionele en historische procesanalyse van politiek, instellingen en ideologie in de Habsburgse, de Zuidnederlandse en de Vlaamse politieke ruimte, 1700-1790, Diss. Gent 1993.
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erungen durchzusetzen. Sie bewirkten zudem die Aufhebung aller Zunftregulierungen bezüglich der Werkstattgröße in verschiedenen Gewerben. So erodierten die institutionellen Strukturen zunehmend von Innen aus. Gegen Ende des Ancien Régimes war dieser Prozess so weit fortgeschritten, dass die kapitalistischen Handwerksmeister kaum noch etwas durch die vollständige Abschaffung ihrer Zünfte zu verlieren hatten. Die Zunftfesseln stellten nicht das Haupthindernis für die Konzentration der Produktion und Arbeit dar. Das entscheidende Hindernis war vielmehr die Unfähigkeit, ebensoviel Kapital und Kredit aufzubringen wie es den Handelskapitalisten möglich war. In Gewerben mit kleinen Werkstätten, die den örtlichen Markt belieferten, herrschten offensichtlich andere Umstände. Die Handwerksmeister fuhren sowohl theoretisch als auch praktisch fort, die innere Konkurrenz einzuschränken. Sie drängten nicht nur die Zunftvorsteher und die Behörden, Maßnahmen gegen illegale Produzenten zu ergreifen, sondern sie erwarteten auch den Schutz ihrer Interessen, indem sie es den Gesellen erschwerten, Meister zu werden. Es ist jedoch wichtig, zwischen jenen Handwerksmeistern zu unterscheiden, die wenig oder keinen Grund hatten, Konkurrenz von außen zu fürchten, und ihren Kollegen, die der Ausdehnung ähnlicher Gewerbe in den Vorstädten und auf dem Land ablehnend gegenüberstanden. Sicherlich waren die Mitglieder der zweiten Gruppe weit mehr auf den Schutz ihrer exklusiven Rechte bedacht: Jeder neue Eingriff in ihr kollektives Monopol vermehrte ihre Probleme. Je größer ihr Risiko, ihre ökonomische Unabhängigkeit zu verlieren, desto stärker ihr Hang, öffentlich die Einhaltung der Zunftordnung zu bekunden. Diese Handwerksmeister kultivierten und propagierten den Zunftbegriff. Sie waren eigentlich verantwortlich für die allgemeinen Vorstellungen über den Einfluss der Zünfte auf die Stadtregierungen und den Staat. Die Erfahrungen der Gesellen unterscheiden sich genauso wie die ihrer Arbeitgeber. Während viele Facharbeiter weiterhin den Meisterstatus als ihr Endziel betrachteten, war dieses Ziel nicht allgemein erreichbar und lag nicht einmal im Interesse eines jeden. In Gewerben, in denen es einer Arbeiterelite gelang, Hilfsvereine zu organisieren, die auch wie Gewerkschaften handelten, wurde die Fachkenntnis hoch geachtet. Solchen Arbeitern ging die Gesellenehre über den Status eines verarmten Meisters. Trotzdem war die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts für die überwältigende Mehrheit der Facharbeiter ein Eisernes Zeitalter: Die Gesellen, die Meister wurden, waren zunehmend gezwungen, Tätigkeiten am Rande ihres Gewerbes aufzunehmen oder als Zulieferer zu arbeiten. Ein wachsender Teil hatte keine andere Wahl, als lebenslang für kleine Meister zu arbeiten, die weder Schutz noch eine sichere Arbeit bieten konnten - sondern nur einen Anteil an ihrer Armut. Welche Bedeutung verblieb dem städtischen Zunftwesen also am Ende des Ancien Régimes? In den Exportgewerben hatte es sich deutlich gewandelt. Viele Stadtregierungen waren sich dieser Situation bewusst und erlaubten großen 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Manufakturen, billige Arbeitskräfte einzustellen Sie widerstanden auch nicht dem staatlichen Dekret, das die Begrenzung der Werkstattgröße aufhob.94 Sie reorganisierten zudem die Armenfürsorge in den 1770er und 1780er Jahren. Auch Zünfte, die den örtlichen Markt belieferten, waren keine unantastbaren Einrichtungen: Die Stadtregierungen gingen in wachsendem Maße Klagen über Wucherpreise nach. Ihr Beweggrund war nicht so sehr, dass der Lebensstandard unter den Lohnarbeitern absank, als dass die Proletarisierung der kleinen Meister größere Rücksichtnahme auf die Verbraucherinteressen erforderte, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Stadtregierungen waren daher nicht geneigt, eine unnachgiebige Haltung gegenüber den illegalen Produzenten in Vorstadtgemeinden oder gegenüber Hausierern einzunehmen, die ländliche Produkte in die Städte schmuggelten. Nichtsdestoweniger kämpften die meisten Stadtregierungen mit Zähnen und Klauen gegen die Versuche Josephs II., die Zünfte zu reformieren. Die Erklärung liegt in der politischen Konstellation: Einige Zünfte waren mächtige politische Interessenvertretungen und, was noch wichtiger war, sie befähigten örtliche Behörden, sich der staatlichen Einmischung zu erwehren. Zugeständnisse auf diesem Gebiet waren unmöglich, da die privilegierten Zünfte, obwohl viele inzwischen wirtschaftlich bedeutungslos geworden waren, die Grundlage der Macht der städtischen Notablen darstellten.
94 Ausführlich hierzu C. Lis u. H. Soly, Poverty and Capitalism in Pre-Industrial Europe, Brighton 1982, S. 202-206.
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PHILIPPE MINARD
Die Zünfte in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts: Analyse ihrer Abschaffung1
»Man musste die Ketten zerbrechen, also wurden sie zerbrochen.« Diese Schlussfolgerung haben zahlreiche Historiker aus folgendem Gesetzeswerk gezogen. Das Gesetz Le Chapelier (Juni 1791) bestätigte das Gesetz Allarde aus dem März 1791. Beide beseitigten die Zünfte. Schließlich wurden per Gesetz vom September 1791 alle Produktionsbeschränkungen aufgehoben. Diese Maßnahmen der verfassungsgebenden Versammlung hat die Forschung als Triumph der unternehmerischen Freiheit interpretiert und als Sieg über das zünftige und reglementierte Ancien Régime gefeiert. Das Ende der alten Ordnung galt lange Zeit als notwendig und als selbstverständlich. Die Französische Revolution war in dieser Perspektive die Geburt des Liberalismus, der Sieg des Tauschwerts, der Triumph der Marktgesellschaft. Aber bei dieser Interpretation hat man unterschlagen, dass für zahlreiche Zeitgenossen mit diesem Sieg bittere Verluste einhergingen. Darauf wiesen schon viele kritische Stimmen hin, die im Handwerk, im Manufakturwesen oder im Handel die zumindest teilweise Wiederherstellung des alten Systems forderten. Im Jahre 1792 schickten die Garnhersteller und dann auch die Gemischtwarenhändler aus Lille entsprechende Petitionen an die Nationalversammlung bzw. den Konvent. Im Jahre II äußerte sich die Tuchindustrie besorgt über die neue Leere, die die Abschaffung der Zünfte hinterlasse, und bald nahmen die Forderungen nach einer Restauration einer »zünftigen Polizei« während des Konsulats, aber auch während des Empires und der Restauration zu.2 Die Forschung hat diese zahlreichen Forderungen, die die 1 Dieser Beitrag ist aus gemeinsamen Überlegungen entstanden, die unter der Leitung von Jean-Pierre Hirsch in der URA 1020 des CNRS angestellt wurden. Aber nur der Autor ist verantwortlich für Fehler im vorliegenden Text. 2 G. Bossenga, La Révolution française et les corporations: trois exemples lillois, in: Annales E.S.C., Jg. 43, 1988, S. 405-425; J . - P . Hirsch, Les deux rêves du Commerce. Entreprise et Institution dans la région lilloise, 1780-1860, Paris 1991, Kapitel 9; R.Anchel, Une enquête du Comité de salut public sur la draperie en Tan III, in: Bulletin d'histoire économique de la Révolution, Bd. 8, 1913, S. 371-389; Ph. Minard, L'inspection des manufactures en France, de Colbert à la Revolution, Thése Paris 1994, S. 702-704; vgl. ders., Les mésaventures du colbertisme, Paris 1998.
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lokalen Verwaltungen, die Generalräte und die Präfekten der Regierung vortrugen, nicht genügend berücksichtigt. Noch im Jahre VI diskutierten etwa die Räte des Direktoriums über eine mögliche Wiederherstellung der Stoffmarken. Der Handelskammer in Paris stellte sich gar die Frage, ob die Zünfte wiederherzustellen seien. Für einzelne Berufe gelang dies. So bildeten in Paris die Bäcker, dann die Schlachter, in den Jahren 1801 und 1802 »Syndikate«; verschiedenen anderen Berufsgruppen erlaubte der Präfekt Dubois ähnliche Organisationsformen. Andernorts erkannten die Verwaltungen lokale Reglementierungen der Herstellung an. Manchmal kümmerte man sich nicht um Genehmigungen, sondern praktizierte Ausnahmen. So wurden z. B. in der bretonischen Leinenindustrie im Jahr II die Stoffe mit Warenzeichen versehen, während die Lastenträger aus Marseille und aus Le Havre ihrerseits Berufsorganisationen bildeten. 3 Wie kann man diese Haltung interpretieren? Ist sie auf bornierte Zunftanhänger zurückzuführen, auf die Angst von Unternehmern vor dem Neuen, die sich an ihre alten Ketten klammerten? Die Erklärungen, die die Historiker für diese Forderung im allgemeinen gaben, sind wenig zufriedenstellend. Bestenfalls sahen sie darin eine gewisse Unschicklichkeit, schlimmstenfalls das Zeichen eines tiefsitzenden archaischen Denkens, das Fehlen eines liberalen Geistes oder die anachronistischen Reste des Colbertismus. Selbst neuere Studien nehmen diese Interpretationen auf Gail Bossenga fuhrt diese Haltungen aufWirtschaftskonservatismus zurück. Andere unterstreichen, wie sehr die kleinen Mittelklassen sich durch den Markt bedroht fühlten (Francis Démier) oder sehen darin den politischen Einfluss der Ultraroyalisten (Michael Sibalis). 4 Gegen diese Interpretationen muss man j e doch jene Überlegungen ernster nehmen, die in den Restaurationsbemühungen der Zünfte eher Symptome einer sehr schwierigen Wirtschaftslage sehen. Um die ökonomische Rolle der Zünfte und der Produktionsbeschränkung im Ancien Régime besser zu verstehen, muss diskutiert werden, ob die Beseitigung der Zünfte unvermeidbar war oder ob sich ihre Fortexistenz sehr wohl mit den gesellschaftlichen Bedingungen am Ende des 18. Jahrhunderts vereinbaren ließ. Zumindest kann man sich fragen, ob die Gesetze des Jahres 1791 nicht mehr Nachteile als Vorteile für die Betroffenen mit sich brachten? Im allgemeinen wird die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als Phase des langsamen Rückgangs 3 M. D. Sibalis, Corporatism after the corporations: the debate on restoring the guilds under Napoleon I and the Restoration, in: French Historical Studies,Jg. 15, 1988, S. 718-730; F. Démier, L'impossible retour au régime des corporations dans la France de la Restauration, in: A. Plessis (Hg.), Naissance des libertés économiques, Paris 1993, S. 111-142; Hirsch, Les deux rêves, S. 2 4 5 246. 4 F. Otivier-Martin, L'organisation corporative de la France d'Ancien Régime, Paris 1938; E. Coomaert, Les corporations en France avant 1789, Paris 1941. Vgl. J . Reuel, Corps et communautés dans la France d'Ancien Régime, in: K. Baker u. F. Furet (Hg.), The Political Culture of the Old Regime, Oxford 1987, S. 225-242.
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der zünftigen Institution dargestellt; man spricht von »der Dekadenz«, dem »Schlummern« zünftiger Organisationen. Im folgenden Aufsatz habe ich versucht, diese Angaben genauer zu überprüfen. Wenn man die Schwierigkeiten ernst nimmt, vor denen die Historiographie dabei steht, so muss man eine neue Sichtweise wählen. Diese wird in drei Ansätzen vorgestellt, die die Bedeutung der Zünfte neu formulieren und eine Diskussion eröffnen sollen.
1. Zwei Tendenzen in der Geschichtsschreibung über die Zünfte In der Geschichtsschreibung über die Zünfte haben lange Zeit zwei Ansätze dominiert und sich gegenseitig in ihrer Opposition bestärkt. Der Tendenz, die von der ständischen Gesellschaft ausging und dazu tendierte, diese zu idealisieren, stand eine andere gegenüber, die unter liberalen Vorzeichen die Zünfte als wirtschaftlich ineffektiv kritisierte. Der erste Ansatz ging von dem Bild einer weitgehend zünftig organisierten ständischen Welt aus, in der die ständischen Strukturen die Gesamtheit der Verhaltensweisen und der sozialen Beziehungen prägten. Dies ist eine juristische Sichtweise, die in der Tat auch durch Arbeiten von Rechtshistorikern geprägt war und von Emile Coonaert bestätigt wird, sie fasste die »ständische Gesellschaft« in einer breiten Bedeutung. Bei ihrem Bemühen, die Zünfte als Ausdruck eines allgemeinen Prinzips zu interpretieren, haben diese Autoren überall in der Gesellschaft des Ancien Régimes ständische Strukturen vorgefunden.5 De facto blieben sie damit dem Selbstverständigungsdiskurs der ständischen Gesellschaft verhaftet, der vor allem im Bild von den »Gliedern einer großen Kette«, das Kanzler Séguier im Jahre 1776 gebraucht hat, seinen paradigmatischen Ausdruck gefunden hat.6 Sie vermittelten mithin eine holistische Lesart der zünftigen Ordnung und malten eine Welt aus organischen Gemeinschaften, von denen jede durch Privilegien geschützt war und auf einem Vertragsverhältnis beruhte. 7 Eine derartige Darstellung machte aus den Zünften eine sowohl geordnete als auch ordnende Institution des städtischen Milieus 5 Revel, Corps; S. L. Kaplan, Réfìexions sur la police du monde du travail au XVIIIe siècle, 1700-1815, in: Revue Historique, Nr. 261, 1979, S. 17-77; ders., Social classification and representation in the corporate world of Eighteenth-Century Paris: Turgot's carnival, in: ders. u. C. J . Koepp (Hg.), Work in France. Representations, Meaning, Organization and Practices, Ithaca 1986, S. 176-228. 6 Emile Lousse hat bereits im Jahre 1943 diesen Sachverhalt gut beschrieben: La société d'Ancien Régime. Organisation et représentations corporatives, Bd. 1, Louvain 1943. 7 Zweifellos gegen seinen Willen hat das Buch von W. H. Sewell über die Praktiken und Vorstellungen der Arbeit vom Ancien Régime bis 1848 diese Sichtweise verstärkt. Denn es lässt durchschauen, dass die zukünftige Organisation langfristig zur Vereinheitlichung beigetragen hat: W. H. Sewell, Work and Revolution. The Language of Labor from the Old Regime to 1848, Cambridge 1980.
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oder, um mit Pierre Bourdieu zu sprechen, eine sehr wirksame »strukturierende Struktur«. Diese einheitliche und ziemlich starre Sicht der handwerklichen Welt trifft jedoch auf zwei große Schwierigkeiten. Sie kann die »blinde Vielfalt«, die sie feststellt, nicht in ihre Analyse einfügen. Die erstaunliche Formbarkeit der Organisationsform »Zunft« widersteht allen schnellen Zuordnungen. Die traditionelle Historiographie hat vor allem versucht, eine juristische Typologie zu konstruieren, indem sie neben den freien Berufen zwei andere reglementierte Statute unterschied: »Jurés«, wenn sie über königliche Patente verfügten, »Réglés«, wenn sie lediglich von der Stadt anerkannt wurden. 8 Aber in denselben Städten existierten Berufe mit unterschiedlichen und vor allem wechselnden Statuten nebeneinander; es kam zu Verschiebungen von einer Kategorie zur anderen, und die Wahl des jeweiligen Statutes hing von der Konjunktur und dem Wirtschaftsverhältnis ab. Manche Branchen suchten um die zünftige Organisation unter dieser oder jener Form nach, andere umgingen sie, und die jeweils spezifische Wahl ihrerseits hing von der jeweiligen Konjunktur und den Kräfteverhältnissen ab. So verließen in Bordeaux die Bäcker im Jahre 1761 die Zunftordnung, um im Jahre 1773 diese erneut anzunehmen. 9 Manche Situationen waren ihrerseits weniger klar. Die mit gefärbtem Tuch handelnden Kaufleute von Beauvais z. B. bildeten keine anerkannte Gemeinschaft und hatten kein offizielles Statut, versammelten sich aber dennoch periodisch, um über ihre Angelegenheiten zu diskutieren, wie man aus den Protokollen über ihre Sitzungen sehen kann. Gleichzeitig bemühten sie sich energisch darum, die Gemischtwarenhändler der Stadt von einem Statut und von Privilegien auszuschließen.10 Diese Organisation war nicht nur informell, sondern darüber hinaus auch effektiv. Mit einer ähnlichen Zweideutigkeit sprach der allgemeine Leutnant der Polizei in Caen im Jahre 1731, als er über die Besteuerung gewisser Kaufleute und Handwerker schrieb: »ils sont censés, si Ton veut, faire corps et communauté à l'egard de Sa Majesté, et cette communauté quoique non existente, est sujette aux même impositions qu' une véritable commune.« 11 Angesichts dieser Vielfalt kann man leicht die Ubersicht verlieren. Wenn man sich nicht an den rigiden Formalismus von Roland Mousnier halten will, so muss man den »bon sens« Henri Hausers bemühen, der im Jahre 1905 schrieb: »De la pure liberté du travail à la jurande complètement organisée, ce
8 Vgl. im Anschluss daran Coornaert, op. cit.; R. Mousnier, Les institutions de la France sous la monarchie absolue, Paris 1974, S. 360-370; A. Poitrineau, IIs travaillaient la France. Métiers et mentalités du XVIe au XTXe siècles, Paris 1992, Kapitel 1. 9 B. Gallinato, Les Corporations à Bordeaux à la fin deI'Ancien Régime. Vie et mort d'un mode d'organisation du travail, Bordeaux 1992. 10 P. Goubert, 100 000 provinciaux au XVIIe siècle, Paris 1968, S. 307-309. 11 J - C . Perrot, Genése d'une ville moderne: Caen au XVIIIe siècle, Paris 1975, S. 322.
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n'est pas une distinction tranchée, c'est une série d'états intermédiairés que nous vient de l'analyse des documents.« 12 Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich also die zünftige Situation als eine Vielzahl von Statuten, die unterschiedlich juristisch formalisiert sind und von der de-facto-Zunft bis zu den durch königliche Patente anerkannten Gemeinschaften reichen. Die zünftige Form war mithin nicht rigide und widerstrebte in ihrer Vielfalt allen zu engen juristischen Sichtweisen. Eine zweite historiographische Richtung übernahm den liberalen Diskurs des 18. Jahrhunderts und beschrieb die Zünfte als archaisch, verknöchert und malthusianistisch. Für sie erschienen die Zünfte als Hindernisse auf dem Weg zu Innovationen und Fortschritt. Sie wurden als ungeeignete Strukturen für die wirtschaftliche Entwicklung und den Aufstieg des Handels und des Manufakturkapitalismus angesehen. Diese, den Äußerungen von Turgot entnommene Negativbilanz, wurde neulich von Hilton Root erneut wiederbelebt. 13 In einem Vergleich zwischen Frankreich und England greift der Autor die Zünfte und die Reglementierung durch Colbert an, ohne sein Argument empirisch begründen zu können, was ihm unter anderem durch die leichtfertige Verwechslung von Zünften und »Polizei« der Gewerbe erschwert wird. H. Root macht vor allem jenes Argument stark, das Turgot selbst im Vorwort seines Ediktes aus dem Jahre 1776, in dem die Zünfte untersagt wurden, benutzte. Da der Autor spontan die liberale Sichtweise übernimmt, untersucht er diese nicht weiter. Dem Leser wird suggeriert, dass die Zunftordnung überholt und unausweichlich zum Verschwinden verurteilt sei. Dies wurde niemals nachgewiesen. Der Historiker nimmt damit nur die Argumente auf, die in ihrer Zeit schon Clicquot de Blervache und Bigot de Sainte-Croix vorgebracht hatten, wenn sie dazu aufriefen, den »gotischen Rahmen« der Stände und der Reglementierungen zu zerbrechen und den freien Markt, auf dem die »unsichtbare Hand« aktivwerde, zu realisieren. Auch diese Sichtweise ist begrenzt. Denn sie sieht in der Zunft nur eine Rückzugsposition der Schwachen und der in der wirtschaftlichen Entwicklung Unterlegenen und macht unter ihnen lediglich Anarchismus und Angst aus. In dieser liberalen Darstellung wird das Jahr 1776 als eine entscheidende Etappe wahrgenommen, als eine Art Generalprobe vor der effektiven Beseitigung der Zünfte im Jahr 1791. Das Edikt von Turgot habe das Signal gegeben, und trotz der Wiederherstellung der Zünfte im August 1776, hätten diese immer nur auf Abruf gestanden, eine langsame aber unvermeidliche Agonie erlebt und auf ihr Ende gewartet. Dabei wurde der Triumph des liberalen Indi12 H. Hauser, Des divers modes d'organisation du travail de l'ancienne France, in: Revue d'Histoire Moderne et Contemporaine, Jg. 7, 1905, S. 357-387. 13 H. Root, La construction de l'Etat moderne en Europe. La France et 1 Angleterre, Paris 1994, S. 145-157.
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vidualismus als gleichsam natürlich unterstellt. Die Periode zwischen 1700 und 1776 wird mithin für die Zünfte als eine »Chronik eines angekündigten Todes« gesehen. Diese Sichtweise wird durch wenige Forschungen bestätigt. Wenn das Ende der Zünfte immer noch schlecht bekannt ist, so hat dieser Forschungsstand Historiker keineswegs davon abgehalten, es dramatisch zu betonen.14 Man könnte aber sehr wohl bezweifeln, ob die Erschütterung die Folgen gehabt hat, die man ihr zuschrieb. Einmal erreichte das Turgotsche Edikt einige Gegenden überhaupt nicht: Wie neuere Studien zeigen, wurde es in Bordeaux und Carcassonne nicht registriert.15 Außerdem führte die Wiederherstellung der Zünfte, die bereits im August erfolgte, zu Fusionen, Umgruppierungen und zu einer Reorganisation des Zunftsystems. Aber derartige Veränderungen und Umwandlungen bedeuteten nicht automatisch einen Rückgang der Zünfte insgesamt. Sicherlich, die Episode des Jahres 1776 erschütterte und veränderte diese. Aber wenn man aus diesen Umstrukturierungen Dekadenz ableitet, so übersieht man, dass derartige Erschütterungen auch vorher schon möglich waren. Auch die Exklusivität der etablierten Meister und die Ausschließlichkeit der Zünfte, die das Idealbild einer Handwerkskarriere, die von der Lehrzeit zum Meisterbrief führte, garantierten, waren ebenso wenig neu wie die zunehmende Konkurrenz der freien Arbeit in der Stadt und auf dem Land. Es wäre allerdings wichtig, zu untersuchen, was aus den religiösen Bruderschaften geworden ist und wie sich die Beziehungen zwischen Meistern und Gesellen nach der Abschaffung und der Wiederherstellung der Zünfte im Jahre 1776 verändert haben.16 Auch auf diesen Gebieten geht die Historiographie mehr von Postulaten als von ernsthaft dokumentierten Studien aus. In der Forschung lassen sich mithin zwei entgegengesetzte Sichtweisen feststellen, die gewissermaßen den Gegensatz von Séguier und Turgot reproduzieren. Als symmetrische Konstruktionen bestätigen die beiden Sichtweisen sich in ihrem Gegensatz. Da diese neuen Ansätze noch ausstehen, die vor allem angelsächsische Historiker, die in diesen Forschungen tonangebend sind,17 fordern, muss ich mich hier darauf beschränken, einige Fragen aufzuwerfen. Diese gehen aus Forschungen hervor, die in Lille seit einigen Jahren über die Formen der wirt-
14 M.-F. Benech-Hochdoerferr, Ledéclin des corporations touiousaines à la veillede larévolution de 1789, in: Annales histonques de la Révolution française, Jg. 93, 1971, S. 197-220; B. Gallinato, La crise du régime corporatif à Bordeaux à la fin de l'Ancien Régime, in: Aux origines provinciales de la Révolution, Grenoble, Grenoble 1990, S. 45-55. 15 Gallinato, Crise; C. Marquié, L'industrie textile carcassonnaise au XVIIIe siècle. Etude d'un groupe social: les marchands-fabricants, Carcassonne 1993. 16 C. Lis, J . Lucassen u. H. Soly, Before the Unions. Wage Earners and Collective Action in Europe, 1300-1850, Cambridge 1995. 17 M. Sonenscher, Work and Wages. Natural Law, Politics and the Eighteenth-Century French Trades, Cambridge 1989.
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schaftlichen Regulierung im Ancien Régime durchgeführt worden sind.18 Es sollen lediglich einige Ansätze vorgestellt werden, um Situationen komplexer zu verstehen. Da die traditionellen Analysen auf Schwierigkeiten stoßen, muss man versuchen, die Zünfte anders wahrzunehmen. 19
2. Ein anderer Blick Zünfte tun und sind gleichzeitig mehrere Dinge. Es ist deshalb notwendig, ihre verschiedenen Funktionen zu unterscheiden und deren unterschiedlichen Gebrauch zu betonen. Diese Differenzierung ist notwendig, um zu verhindern, dass die Schwächung einer Funktion der Zünfte dazu fuhrt, das Ganze unterschiedslos zu verwerfen. Eine zweite Vorsicht ist notwendig. Man muss die Formen der Zunft in ihren jeweiligen Kontext stellen und akzeptieren, dass wir Grundannahmen der politischen Ökonomie historisieren müssen. Es müssen gewisse Stereotypen der klassischen Ökonomie aufgegeben werden ebenso wie die »spontane Philosophie« unserer Zeit, die die soziale Welt durch den Markt und die Marktwerte betrachtet. Denn im 18. Jahrhundert war die »Market culture« nicht dominant, wie W. Reddy hervorgehoben hat.20 Die Wirtschaft war fragmentiert und in ihr stellte sich dauerhaft das Problem, wie sich das Vertrauen, das der Markt allein nicht schaffen kann, sozial organisieren ließ. In diesem sozioökonomischen Kontext waren die Zünfte nur eine Regulierungsinstanz neben anderen. Die ständische und privilegierte Gesellschaft besaß in der Tat konkurrierende Institutionen. Aus der Vielfalt folgten Zusammenstöße, Widersprüche und Konflikte. Da an verschiedenen Orten unterschiedliche Organe Normen produzierten, führte diese Struktur zu einem komplexen Spiel verschiedener, widersprüchlicher Regulierungsebenen. So konnte die Regulierung vom König ausgehen, aber dennoch eine unterschiedliche regionale Ausdehnung haben. Oder die Stadt konnte sie praktizieren, aber auf die Stadt und ihre Umgebung beschränken. Sie konnte aber auch von einem bestimmten Sektor oder einer Zunft herrühren oder sich lediglich auf ein einziges privilegiertes Unternehmen beziehen. Diese verschiedenen Regulierungsebenen, die parallel oder im Gegensatz miteinander existierten, waren vielfältig. Dafür ein einziges Beispiel: Die Arbeiten von Steven Kaplan über den Faubourg Saint-Antoine in 18 Les institutions de l'économie de marché en Europe, XVIIIe-XXe siècles, in: Revue du Nord, Jg. 76, 1994 (Heft Nr. 307). 19 Einen Überblick bietet: Ph. Minard, Corporation, in: M. Delon (Hg.), Dictionnaire européen des Lumières, Paris 1997, S. 263-267; ders., Les corporations et le monde du travail, in: V. Castronovo (Hg.), Storia dell'economia mondiale, Bd. 2, Bari, Laterza, à paraître. 20 W. M. Reddy, The Rise of Market Culture. The Textile Trade and the French Society, 17501900, Paris/Cambridge 1984.
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Paris beweisen, dass der Unterschied zwischen der zünftig organisierten Arbeit und der freien Lohnarbeit nicht absolut war, da sie zwar miteinander konkurrierten, sich aber auch ergänzten.21 Dieselbe Schlussfolgerung kann man treffen, wenn man sich das Zusammenspiel von städtischer zünftiger Arbeit und der ländlichen Protoindustrie ansieht.22 Die Koexistenz verschiedener Strukturen lässt sich daraus erklären, dass die historischen Akteure aus unterschiedlichen Regulierungsdichten und aus Ungleichzeitigkeiten zwischen den Zonen, in denen verschiedene Normen angewandt wurden, profitierten. Zwar führten Regeln immer auch dazu, dass sie umgangen wurden. Aber sie mussten existieren, damit man ein Interesse daran hatte, sie zu brechen. Deshalb war die freie Lohnarbeit weniger eine Alternative zur, als die andere Seite der Produktionsorganisation. Die sogenannten freien Fabrikationen auf dem Lande wurden manchmal nicht weniger reglementiert als die der Stadt. Aber die Regeln waren unterschiedlich, und die Kaufleute waren glücklich, mit dieser Dualität zu spielen, solange sie dabei ihren Profit realisierten. 23 All dies bildete ein System, das in der Gegenüberstellung und in der Unordnung funktionierte, in denen die Akteure die gesamte Bandbreite der bestehenden Regeln ausnutzten. Dieses Gefälle zwischen Institutionen und Regelungen prägte auch unterschiedliche Räume, in denen verschiedene Normen angewandt wurden. Ausgehend von diesen allgemeinen Bemerkungen möchte ich die Zunft als eine allgemeine institutionelle Form definieren, die ihre Mitglieder für ihre ökonomischen oder politischen Strategien als ein Selbstverwaltungsorgan gebrauchten. Eine Broschüre des Jahres 1790, die auf die Notwendigkeit, »sich zu sehen, sich zu konzertieren« verwies, erklärte: man benötige einen Versammlungsort, an dem sich Leute aus demselben Beruf treffen und miteinander sprechen können. 24 Die Mitglieder einer Berufsgruppe mussten sich untereinander verständigen, da es Angelegenheiten gab, die gemeinsamer Regelungen bedurften. Dazu diente die Zunft. Diese Regelungen konnten unterschiedlich sein: Entweder schrieben sie den Zugang zum Markt oder zum Beruf, die Qualität der Produkte oder die Beilegung der Konflikte fest. Grundlegend war aber das Prinzip der Verhandlung und der institutionelle Rahmen, der solche Regelun21 S. L. Kaplan, Les corporations, les faux ouvricrs et le faubourg Saint-Antoine au XVIIIe siècle, in: Annales E.S.C., Jg. 43, 1988, S. 353-378. 22 S. Chassagne, Industrialisation et désindustrialisation dans les campagnes françaises: quelques réflexions à partir du textile, in: Revue du Nord, Jg. 113, 1981, S. 35-58; D. Terror, Les deux âges de la proto-industrie. Les tisserands du Cambrésis et du Saint-Quentinois, 1730-1880, Paris 1996; S. C. Ogilvie, Social Institutions and Proto-Industrialization, in: dies. u. M. Cerman (Hg.), European Proto-Industrialization, Cambridge 1996, S. 23-37; G. Gayot, Lesdraps de Sedan, 19461870, Paris 1988. 23 Hirsch, Les deux rêves. 24 Kroch Library (Cornell University), DC 141.R454, Nr. 6: «Idées d'un négociant sur la forme à donner aux tribunaux de commerce, par Antoine-Augustin Renouard, fabricant et membre de la société des amis de la Constitution», Paris juillet 1790.
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gen erlaubte. Die Kaufleute, Handwerksmeister und Fabrikanten hingen sehr an der gemeinsamen Festlegung ihrer eigenen Regeln. In ihren Augen benötigten die Wirtschaft und der Markt andere Regeln und Gesetze als die, die sie im allgemeinen »Marktgesetze« nannten.25 Das Spiel von Angebot und Nachfrage reichte dafür nicht aus oder befriedigte sie nicht. Die Zunft war mithin ein Ort kollektiver Verhandlungen, die für ihre Mitglieder nützlich waren. Dieser Ansatz führt dazu, zwischen der effektiven Ausübung eines Berufes und dem Kollektiv, dem dieser zugehörte, zu unterscheiden. In der Tat sind beide nicht deckungsgleich. Simona Cerutti hat dies für Turin und die Turiner Schneider gezeigt.26 Aber auch für Frankreich gibt es Beispiele für Organisationen, die mehrere Berufe umfasst haben, vor allem in Rouen oder in Caen. 27 Manche versuchten, naheliegende Branchen (Tuchhändler und -hersteiler, Kaufleute und Apotheker usw.) zu organisieren oder aber zogen sich in gewissen Momenten auf den eigenen Beruf zurück. Diese sukzessiven Veränderungen, die durch Fusion oder Abtrennung stattfanden, zeigen, dass die Wirtschaftsakteure auf einem durch Wettbewerb gekennzeichneten Markt auch zwischen verschiedenen Produkten und Fabrikationen hin und her pendelten. Man kann deshalb verschiedene Strategien der Verteidigung bzw. der Ausdehnung der Zünfte feststellen, die von der Konjunktur oder technischen Innovation abhingen. Wie kann man sich in dieser Vielfalt zurechtfinden und welche Kriterien machen die spezifisch zünftischen Formen aus? Drei Ansätze sollen hier vorgestellt werden, um den Eindruck zu zerstreuen, es bestünde ein Kaleidoskop, das seine Vielfalt aus den Städten, den Branchen und den verschiedenen Gruppen bezog.
3. Zünfte und städtische Institutionen Es scheint, als ließen sich je nach den Beziehungen zwischen den Zünften und den städtischen Institutionen unterschiedliche städtische Strukturen ausmachen. Denn die Zunft war eine politische Form, die ihre spezifische Ausprägungje nach der Konstellation der städtischen Macht gewann. Wenn man allerdings Lyon und nordfranzösische Städte vergleicht, zeigen sich hinter einer 25 Hirsch, Les deux rêves, S. 152 u. 406; Ph. Minard, Normes et certifications des qualités: les règles du jeu manufacturier au XVIIIe siècle, in: Bretagnes. Art, négoce et société de Pantiquité à nos jours. Mélanges Jean Tanguy, Brest 1989, S. 173-192. 26 S. Cerutti, Du corps au métier: la Corporation des tailleurs à Turin entre le XVIIe et XVIIIe siècle, in: Annales E.S.C., Jg. 43, 1988, S. 323-352; dies., La ville et les métiers. Naissance d'un langage corporatif (Turin XVIIe-XVIIIe siècles), Paris 1990. 27 J . Hoock, Réunions de métiers et marché regional. Les marchands réunis de la ville de Rouen au début du XVIIIe siècle, in: Annales E.S.C., Jg. 43, 1988, S. 301-322;J.C Perrot, Genése, S. 3 2 7 337.
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offensichtlich ähnlichen Verteidigung der Zünfte sehr unterschiedliche Situationen. In Lyon nahmen die Zünfte an der Wahl des Consulats der Stadtverwaltung teil. Aber in Wirklichkeit gehörte diese Macht den Kaufleuten der »Grande Fabrique« der Seidenzunft, deren Mitglieder sich kooptierten.28 Das System war mithin zirkulär angelegt, da die Mâitres-gardes der Zünfte von dem Prévot der Kaufleute auf Listen ausgewählt wurden, die die Zünfte selbst erstellten. Die Kaufleute sorgten für eine Verwaltung durch ihresgleichen. Sie kontrollierten mithin nicht nur die Handelskammer, sondern auch die Stadtverwaltung und beherrschten die anderen Zünfte der Stadt.29 Alle Institutionen in Lyon verteidigten unnachgiebig die Privilegien und die Monopolstellung der Stadt und ihre Zünfte gegen die liberalen Initiativen der Regierung. Auch wenn Lyon als Stadt der freien Berufe galt, waren diese in der Realität sehr reglementiert. Denn das Consulat konnte Organisationsgesetze für die Künste und Berufe erlassen.30 Daher existierten zahlreiche protektionistische und zünftige Regulierungen, die vor allem die Interessen der Kaufleute berücksichtigten. In Lille, Valenciennes und in anderen Städten Nordfrankreichs findet man eine völlig andere Konstellation. Die Zünfte besaßen dort einen sehr starken Einfluss auf die Produktion und den Austausch, während der Magistrat, wie hier die Stadtverwaltung genannt wurde, vornehmlich von Staatsbeamten und Juristen, nicht aber von Vertretern der Kaufleute und der Zünfte beherrscht wurde. Die Berufe hatten alle ein Statut. Da ihnen meistens königliche Patente fehlten, waren sie nur Regelungen unterworfen, die der Magistrat erließ und durch die er sie leicht beherrschen konnte. Die Überwachung der Zünfte war Teil der Stadtpolitik. Deren Vertreter unterwarfen die Berufsgruppen einer Regelung, die von der christlichen politischen Ökonomie ausging und auf Begriffe wie »gerechter Preis« und »öffentliches Wohl« gegründet wurde. Aus diesen Prinzipien folgte eine strikte Preispolitik und niedrigere Zugangsschranken zum Meisterstatut. Philippe Guignet hat dieses Ideal der »guten Stadtverwaltung«, die sich sehr stark um das soziale Gleichgewicht kümmerte und eine strikte Regulierung vornahm, um die Exzesse der Konkurrenz zu vermeiden, als »Modéle hispano-tridentin« bezeichnet.31 Denn in Lille durfte jeder Meister im Bereich der Wollproduktion nicht mehr als sechs Webstühle besitzen. Die Überwachung und der Schutz der Zünfte gründete sich hier auf städtische Freiheiten, die aus dem Mittelalter stammten und durch die Gegenreformation 28 M. Garden, Lyon et les Lyonnais au XVIIIe siècle, Paris 1970. 29 S. Meyssonnier, La balance et l'horloge. La genése de la pensée liberale en France au XVIIIe siècle, Montreuil 1989, S. 200 u. 233. 30 Man findet in Lyon nur 4 »communautés jurces« und über 68 andere Zünfte, von denen nur 17 ihre Statuten vom Parlement bestätigen lassen; vgl. Garden, Lyon, S. 326 u. 551. 31 Ph. Guignet, Le pouvoir dans la ville au XVIIIe siècle. Pratiques politiques, notabilité et éthique sociale de part et d'autre de la frontière franco-belge, Paris 1990 (vgl. auch die Rezension von V. Millot, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine, Jg. 40, 1993, S. 172-176).
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gestärkt wurden, und die es ablehnten, Solidaritätsbeziehungen durch liberale Regelungen aufzulösen. Die Berufsgemeinschaften wurden im sozialen Modell der Stadtrepublik mithin sowohl beschützt als auch organisiert. Das Zunftwesen war hier ebenso verbreitet wie in Lyon, aber es fußte auf anderen Fundamenten und auf anderen sozialen Kräften. Beiden war der Widerstand gegen den Liberalismus gemeinsam, aber die Motive unterschieden sich sehr. Auf der einen Seite ging es darum, das Monopol der Kaufleute zu verteidigen, auf der anderen Seite um eine Ethik eines nicht auf Konkurrenz gegründeten Gleichgewichtes. Diese beiden Beispiele zeigen, dass die zünftige Form Teil des jeweils unterschiedlichen städtischen Machtgefüges war und von sozialen Gruppen benutzt werden konnte. 32 Eine ähnliche Vielfalt, aber auch eine ähnliche Ambivalenz, zeigt sich, wenn man die Beziehungen zwischen den Kaufleuten und den Zünften untersucht.
4. Handel und Zünfte Hier soll der Platz der Zünfte in der durch Waren und Handel charakterisierten Produktion bestimmt werden. Emile Coornaert sprach davon, dass sich der Handelskapitalismus über die Zünfte gelegt habe und war nicht sicher, wie er diesen Prozess charakterisieren sollte. Nach meiner Meinung müsste man eher von einer Einfassung oder Einrahmung im Sinne von Karl Polanyi sprechen. Man kann folgende grobe Unterscheidungen treffen. Ein Modell wäre, dass der Handel außerhalb der Produktion blieb und nur jene kontrollierte. In diesem Fall verließen die Kaufleute im allgemeinen die Zünfte, die sie nicht mehr brauchten, da sie andere Orte der Verständigung wie z. B. die Handelskammern besaßen. In den großen Handelsstädten wie in Marseille oder Bordeaux waren die Zünfte deshalb Rückzugsorte und Verteidigungsinstrumente von denjenigen, die versuchten, sich dem Großhandel entgegenzustellen. In beiden Städten war die Kluft zwischen den Handwerksberufen und der Handelskammer, die ihnen feindlich gegenüber stand, sehr klar.33 Ein weiteres Modell wäre, dass der Handel selbst in der Manufaktur engagiert war und die Produktion organisierte. Dann gehörten die Kaufleute in der Regel den Zünften an, wenn auch oft auf unterschiedliche Weise. In Lyon z. B. waren die Kaufleute der Seidenzunft im Jahre 1667 beigetreten, als das italienische Monopol zerbrach und der Markt sich internationalisierte. Die Herrschaft, die in dieser Konstellation die Marchands-fabricant über die »Grande Fabrique« ausübten, bedeutete die tota32 Man kann natürlich an Turin denken, wo die von der Stadtverwaltung ausgeschlossenen Kaufleute zünftlerische Formen gewählt haben. Daraus lässt sich das erstaunliche Aufleben der Zünfte zu Beginn des 18. Jahrhunderts erklären; vgl. Cerutti, La ville. 33 Ch. Carrière, Négociants marseillais au XVIIIe siècle. Contribution à l'étude des économies maritimes, Marseille 1974; Gallinato, Crise.
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le Kontrolle der Produktion durch den Handel. Die Statuten der Jahre 1731 und 1744 führten zur Proletarisierung der Mâitres fabricants und der Mâitres ouvriers à façon, die jeden autonomen Zugang zum Markt verloren hatten. In Lyon diente die zünftige Struktur dazu, die kommerzielle Herrschaft der Kaufleute abzusichern, und die Statuten hatten ihre Macht über die Produzenten und über die Arbeitsorganisation institutionalisiert. Der Fall der Filtiers in Lille ist komplexer.34 Der Zunft gehörten etwa einhundert kleine Meister an, die alle einige Mühlen besaßen, sich auf dem städtischen Markt bei den Spinnerinnen versorgten, für den Absatz ihrer Waren aber von den Kaufleuten abhingen. Dennoch wurde die Zunft von einigen Geschäftsleuten beherrscht, die in der Handelskammer saßen und manchmal auch der Stadtverwaltung angehörten. Diese großen Kaufleute versorgten sich direkt, kontrollierten die Absatzmärkte und waren in der Zunft tonangebend. Sie waren gleichzeitig freie Kaufleute und Zunftmeister. Deshalb kann man in diesem Fall nicht von einem geschlossenen oder archaischen System sprechen, das lediglich mittelmäßigen Wirtschaftsakteuren das Überleben am Rande der kapitalistischen Dynamik erlaubte. Innerhalb des Handels herrschten deutliche Abhängigkeitsbeziehungen, und die Kaufleute griffen auf verschiedene institutionelle Hilfsmittel zurück. Denn diese Filtiers waren ehrgeizige Unternehmer, die nichts dazu zwingen konnte, der Zunft beizutreten. Wenn sie dieser beitraten, dann lag der Beitritt in ihrem Interesse. Brachte sie ihnen aber mehr Nachteile als Vorteile, verließen sie diese und protestierten sogar gegen sie.35 Die Kaufleute konnten ohne Schwierigkeiten die Zünfte für ihre Interessen und ihre politischen und ökonomischen Strategien nutzen, wie es andere Akteure auch taten. Man kann mithin die zünftige Organisationsform als ein institutionelles Mittel ansehen, als eine soziopolitische und wirtschaftliche Struktur, die man sehr deutlich von der Ausübung des Berufes oder von Berufskategorien unterscheiden muß, die zu repräsentieren sie vorgab. Diese Struktur konnte immer wieder aktiviert oder verlassen werden, je nach dem Interesse, das die einzelnen Handelnden mit ihr verbanden. Verschiedene soziale Kräfte konnten sie benutzen, und ihre Grenzen konnten sich j e nach den beruflichen Veränderungen verlagern.
34 J . - P . Hirsch, Négoce et corporations, in: ders. u. G. Gayot (Hg.), La Revolution française et le développement du capitalisme, Villeneuve d'Ascq 1989, S. 357-365. 35 Hirsch, Négoce; G. Bossenga, Capitalism and corporations in Eighteenth-Century France, n: A. Plessis (Hg.), Naissance des libertés économiques, Paris 1993, S. 13-32; ders., Protectiong Merchants: Guilds and commercial capitalism in Eighteenth-Century France, in: French Histoncal Studies,Jg. 15, 1988, S. 693-703.
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5. Zunft und Reglementierung Man muss die Zunft von allgemeinen Reglementierungen der Wirtschaft trennen. Sie hat man zu oft verwechselt, weil die eine in die andere übergreift. Die Zunft charakterisierte die Fähigkeit der Selbstverwaltung und der internen Regulierung. Die Reglementierung bezog sich auf den Inhalt der getroffenen Entscheidungen, d. h. zuallererst auf die Regeln des Zugangs zum Beruf, j e doch regelte sie auch Produkte, Standards des Gewerbes, Bedingungen des Austausches oder die Arbeitsbeziehungen. Diese Bestimmungen waren nicht unauflöslich mit den Zünften verbunden, da auch andere Instanzen diese Regeln herstellen konnten. Man darf mithin nicht - w i e die liberale Kritik es tat den Rahmen und den Inhalt der institutionellen Regulierungen verwechseln. Die Zunft war eine Struktur der Selbstorganisation und sagte nichts über den Inhalt oder den Sinn der getroffenen Entscheidungen aus. Man muss unterscheiden zwischen dem Organ, d. h. der Frage »wer entscheidet«, und dem Gegenstand, d. h. »was ist entschieden«. 36 Wenn man sie beide verwechselt, dann kann man nicht verstehen, was z. B. in Nimes stattgefunden hat.37 Die Seidenfabrikanten hatten dort immer die bestehenden Regeln bekämpft und sich dabei auf die liberale Argumentation bezogen. Damit bekehrten sie sich aber keineswegs zum Liberalismus. Denn sie verteidigten mit Zähnen und Klauen ihre zünftigen Privilegien und damit auch ihre Fähigkeit, sich eigene Regeln zu geben. Die Regeln ihres Gewerbes stellten sie nur deshalb in Frage, weil diese ihren Lyoner Konkurrenten nützten. Denn Lyon besaß das Monopol der hochwertigen Seidenproduktion und ließ den Bewohnern von Nimes nur die nichtreglementierten niederen Produkte übrig. Man konnte also sehr wohl gleichzeitig die Freiheit der Fabrikation und das Privileg, sich zünftig zu organisieren, verteidigen. Wenn man derartige Unterscheidungen trifft und die Zünfte des Ancien Regime nicht als eine Gesamtheit ansieht, dann kann man verstehen, wie Spannungen unter ihnen entstanden. Die Arbeitswelt ist als ein Universum anzusehen, das von einer starken Spannung zwischen dem Wunsch nach Freiheit und der Notwendigkeit von Institutionen, der Wahrung von Unabhängigkeit und dem Zwang zur Absprache und zum Schutz durchzogen ist. Besonders problematisch ist dabei die Definition der Freiheit. Besteht diese in dem Fehlen von Organisationen oder in der Fähigkeit, eigene Regeln für sich oder für ein Kollektiv zu erlassen?38 Bei der Festlegung von Regeln kann die Zunft als ein Mittel oder ein Instrument fungieren. Manche wählten sie als Rahmen, andere umgingen sie. Diese 36 Minard, L'inspection, Kapitel 6. 37 Viele Hinweise finden sich in: L. Teisseyre-Sattmann, L'industrie de la soie en Bas-languedoc, XVIIe-XVIIIe siècles, Paris 1995, aber die Analyse wird nicht gründlich durchgeführt. 38 Minard, L'inspection, Kapitel 7.
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Wahl konnte sich verändern. Die Berufe waren eine institutionelle Form, die man benutzte, um wirtschaftliche, soziale und politische Kontrolle auszuüben und die man diesen Zielen, wenn es notwendig war, angepasst hat. Daraus resultierte die Ambivalenz der Zunft: sie konnte sowohl das Verteidigungsinstrument der bedrohten Fraktionen des Handwerks als auch die Waffe der Produzenten gegen die Macht des Handelskapitals sein. Sie konnte auch dem Handel dazu dienen, seine eigene Macht zu verstärken. Zwischen der freien und der zünftig organisierten Arbeit gab es nicht einen so tiefen Gegensatz, wie man oft gesagt hat. Die nichtzünftige Arbeit war weniger die Alternative zur Zunft als der andere Teil einer Produktionsorganisation, welche andere Institutionen und Regulierungen benutzte. Wie Jean-Pierre Hirsch für Nordfrankreich gezeigt hat, bestand mehr Komplementarität als Opposition in dem komplexen Spiel zwischen Lille und seiner Umgebung. 39 Diese Struktur erklärt auch, dass die Spannungen innerhalb der Zunft ebenso stark sein konnten, wie die zwischen der Zunft und der freien Lohnarbeit. In anderen Worten, die Schranken waren an sich weniger wichtig als die Möglichkeiten, die sie für ihre eigene Umgebung schufen.40 Hier gebietet es sich, jede optische Täuschung zu vermeiden, da die verschiedenen Instanzen sich aneinander rieben und auch zusammenstießen. Der Wille zur Ordnung schuf Unordnung. Diese Ordnung brachte die Französische Revolution durcheinander. Im Enthusiasmus der ersten Jahre der Revolution ist die gesamte zünftige und reglementierende Wirklichkeit beseitigt worden. Die Gesetze von Allarde und Le Chapelier hatten nicht nur ökonomische, sondern komplexere Motive. Man kann aus den Umständen der Verabschiedung nicht die Schlussfolgerung ziehen, die Abschaffung der Zünfte sei notwendig gewesen.41 Da wir das Ende der Geschichte kennen, können wir die viel komplexere soziale Realität nicht ideologisch vereinfachen und behaupten, dass die Zünfte verschwinden mussten. 42 Die Zünfte waren ein Instrument, dessen sich die Wirtschaftsakteure bedienten. Sie waren ein Instrument unter anderen und entsprachen dem Bedürfnis von Zeitgenossen, den Markt zu organisieren und zu regulieren. Dieses Instrument war sicher dynamischer, als man bisher behauptet hat, und es war nicht notwendigerweise der Fluchtpunkt der 39 Hirsch,Négoce,S.360. 40 Dasselbe kann man für die territorialen Grenzen bemerken: Ph. Minard u. P. Verley, Les frontières et l'économie, in: Revue du Nord, Jg. 76, 1994, S. 897-899. 41 J - P . Hirsch, Revolutionary France, Cradle of Free Enterprise, in: American Historical Review, Jg. 94, 1989, S. 1281-1289; ders., Idee economiche e cose dell'economia nella rivoluzione francese, in: H. Burstin (Hg.), Rivoluzione francese. La forza delle idee e la forza delle cose, Milan 1990, S. 131-141; H. Burstin, La loi Le Chapelier et la conjoncture révolutionnaire, in: A. Plessis (Hg.), Naissance des libertés économiques, Paris 1993, S. 63-76. 42 J . R. Farr, On the shop floor: guilds, artisans, and the european market economy, 13501750, in: Journal of Early Modern History, Jg. 1, 1997, S. 24-54.
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Schwächsten, der Verlierer im Zuge wirtschaftlicher Veränderungen. Es gehörte zu der Palette der institutionellen Ressourcen, die die Wirtschaftsakteure besaßen, um ihre Strategien durchzusetzen und ihre Bedürfnisse zu formulieren. Dieses Instrument zu beseitigen, wie man es im Jahre 1791 getan hat, hieß nicht, diese Bedürfnisse zu eliminieren. Für ihre Artikulation angemessene Formen und Foren zu finden, war eine der schwierigen Aufgaben der nachrevolutionären Zeit.
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Daniela Frigo Die italienischen Zünfte am Ende des Ancien Régimes: Stand, Probleme und Perspektiven der Forschung
1. Die italienische Geschichtsschreibung und die Zünfte In der italienischen Geschichtsschreibung klafft eine große Lücke zwischen den zahlreichen Forschungen zu den Zünften im Mittelalter einerseits, die in ihren vielfältigen Funktionen untersucht und deren Ordnungen publiziert wurden, und den Zünften in der frühen Neuzeit andererseits, zu denen die Forschungen abnehmen, je weiter man sich ihrer Aufhebung nähert. Es scheint, als sei die Schlussphase ihres Bestehens weniger interessant als ihr Entstehen. Gleichzeitig haben die Untersuchungen zur frühen Neuzeit vor allem die ökonomischen und produktiven Aspekte der Zünfte begünstigt, ihre sozialen, politischen und kulturellen Funktionen indes vernachlässigt. Offenbar wecken die Vitalität, die Entstehung von Zunftordnungen sowie der politische Einfluss der Zünfte in den Städten größeres Interesse als ihr Niedergang oder ihre inneren Schwierigkeiten und Konflikte, die vor allem das Bild der verschiedenen Gewerbe zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert prägten. Eine regelrechte historische Verzerrung hat die Aufmerksamkeit vornehmlich direkt auf den Ausgang der Krise der Zünfte gelenkt, ohne dass eine genaue Analyse ihrer Lage im 18. Jahrhundert vorangegangen wäre, welche ihr unterschiedliches Beharrungsvermögen oder auch ihre unterschiedliche Anpassungsfähigkeit berücksichtigt hätte. Eine Forschungslücke - allerdings aus anderen Gründen - tut sich in geographischer Hinsicht auf: Die Forschungen konzentrieren sich vornehmlich auf Nord- und Mittelitalien, während Süditalien mit Ausnahme von Neapel weniger gut erforscht ist. Das liegt vor allem an der Bedeutung der Zünfte in den Stadtstaaten und Territorialstaaten, während im Königreich Neapel und Sizilien die Bruderschaft als Organisationsform vorherrschte.1 1 T. Fanfani, Le corporazioni nel Centro-Nord della penisola: problemi interpretativi, in: G. Borelli (Hg.), Le corporazioni nella realtà economica e sociale dell 'Italia nei secoli dell' età moderna, Verona 1991, S. 23-48; vgl. ebenfalls E. Occhipinti, Quarant'anni di studi italiani sulle corporazioni medievali tra storiografìa e ideologia, in: Nuova Rivista Storica, Jg. 74, 1990, S. 101-174.
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Diese unterschiedlichen Ausprägungen, Formen und sozialen Funktionen führten zu großen Unterschieden bei den Reformen sowie bei der Auflösung der Korporationen am Ende des Ancien Régimes. Es seien hier lediglich zwei Extremfälle angeführt: Im 18. Jahrhundert entwickelten sich die Zünfte in Piemont besonders günstig, und es kam zu zahlreichen Neugründungen in den 1720er bis 1730er Jahren. In Venedig hingegen griff die Stadtregierung vor allem ab 1719 massiv in das Zunftwesen ein, um die Zünfte zu öffnen oder um jene zu beseitigen, die als unnütz für die öffentliche Wohlfahrt erachtet wurden. Innerhalb der vorliegenden Forschungen lassen sich große Unterschiede feststellen. Fallstudien, die ein Gewerbe oder eine bestimmte politische Realität betreffen, herrschen vor, während regional oder professionell komparativ angelegte Untersuchungen weitgehend fehlen. Des weiteren ist ein makro-ökonomischer Zugang bestimmend, der das Zunftwesen vor allem im 17. und 18. Jahrhundert in enge Beziehung zum wirtschaftlichen Niedergang der italienischen Halbinsel setzt. Diese Sichtweise wird erst in jüngster Zeit hinterfragt. Die wirtschaftliche Krise des 17. Jahrhunderts zeigt sich in Italien im Rückgang der traditionellen Gewerbezweige (der Wolltücher im besonderen), der nicht durch die Entwicklung der Luxusproduktion (wie Seide, Kristall, Seife, Druckerei) kompensiert wurde. Dadurch gingen Arbeitsplätze in den Städten verloren, was wiederum einen Rückgang der traditionellen Kontrolle der Städte über das Land nach sich zog, wohin nunmehr zahlreiche Gewerbe abwanderten, die zuvor innerhalb der Städte angesiedelt waren. In diesem Zeitraum, der vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum 18. Jahrhundert reicht, konnten die Zünfte die kontinuierliche Verlagerung der Produktion auf das Land nicht verhindern. Die wirtschaftliche Initiative ging auf eine Verlegerschicht über, welche die Heimindustrien mit Rohstoffen versorgte und die Fertigprodukte vermarktete. In diesem Prozess verlor das italienische Gewerbe an Gewicht gegenüber der europäischen Konkurrenz, während die ländlichen Produktionsstätten den Verlust an städtischen Arbeitsplätzen nicht kompensieren konnten. Wie einige Autoren bemerkt haben, rührte der Niedergangjedoch nicht nur von der Wirtschaftskrise her, sondern war auch Folge politischer Einstellungen und Entscheidungen und zumindest teilweise die Konsequenz einer bestimmten kulturellen und psychologischen Haltung. Sie war letztlich das Ergebnis der Aristokratisierung der italienischen Gesellschaft im 16. Jahrhundert und der Entwicklung von Idealen, Werten und Lebensweisen, die die städtischen Patrizier vom Gewerbe und vom Handel entfernten und sie der Hofgesellschaft, der Jurisprudenz und dem Landbesitz annäherten. 2 2 P. Malanima, La decadenza di un'economia cittadina. L'industria di Firenze nei secoli XVIXVIII, Bologna 1982; vgl. auch ders., II lusso dei contadini. Consumi e Industrie nelle campagne toscane del Sei-Settecento, Bologna 1990; G. Zalin, Dalla bottega alla fabbrica. La fenomenoiogia nelle province venete tra '500 e '600, Verona 1987.
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Diese Forschungslandschaft begrenzt natürlich die Möglichkeit, im Detail und für alle italienischen Regionen, den Zustand der Zünfte zu beschreiben. Deshalb werde ich mich hier vor allem auf den Fall der Republik Venedig und auf das Herzogtum Mailand konzentrieren, die in unterschiedlicher Weise Entwicklungen und Problemlösungen des Zunftwesens im 18. Jahrhundert widerspiegeln.
2. Zünfte u n d politische M a c h t in der italienischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts Die Frage, welche Rolle die Zünfte bei der politischen Organisation des modernen Italiens spielten, verbindet sich notwendigerweise mit der Frage nach der Homogenität und den Strategien des Patriziats sowie der herrschenden Eliten. Vom 16. Jahrhundert an führte die »aristokratische Abschließung« der öffentlichen Ämter zur Legitimation einer adligen Regierungsschicht, die andere soziale Gruppen oder Mitglieder anderer Schichten weitgehend von der Herrschaft ausschloss. Diese Entwicklung betraf nahezu ganz Italien und führte in wenigen Jahren zur Herausbildung eines soliden städtischen Patriziats sowie adeliger und höfischer Gruppen, die im Dienst des Herrschers standen. In beiden Fällen wurden breite soziale Schichten wie Handwerker, Kaufleute, ländliche, bäuerliche und »unwürdige« Berufe von der Machtausübung ausgeschlossen.3 Obwohl diese sozialen Schichten weitgehend ihre politische und städtische Vertretung verloren hatten und weder in den Räten noch im Magistrat verankert waren, garantierte das Ständewesen den Korporationen dennoch große Handlungsspielräume, sowohl was ihre Partikulargerichtsbarkeit als auch ihre Binnenorganisation anging. Die Zünfte wurden mithin an den Rand einer Gesellschaft geschoben, in welcher eine aristokratische Kultur vorherrschte, die zwar nicht die »utilitas« von Gewerbe, Handel und Produktion negierte, doch deren »dignitas« gering schätzte. Die Gesellschaft wurde weiterhin metaphorisch als politischer Körper dargestellt; doch stellten die handel- und gewerbetreibenden Gruppen eindeutig nicht mehr Herz oder Geist dar, sondern die weniger noblen Teile, wie Arme oder Beine. 4 Diese oligarchischen Strukturen, die in Nord- und Mittelitalien fast immer städtischen Ursprungs waren, waren noch intakt, als im Zuge der Reformen des 18. Jahrhunderts die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, Staat 3 Vgl. C. Mozzarelli, Stato, patriziato e organizzazione della società nell'Italia moderna, in: Annali dell'Istituto italo-germaníco in Trento, Jg. 2, 1976, S. 421-512. 4 Vgl. D. Frigo, La »civile proportione«: ceti, principe e composizione degli interessi nella letteratura politica d'antico regime, in: C. Mozzarelli (Hg.), Economia e corporazioni. II governo degli interessi nella storia d'Italia dal Medìoevo all'età contemporanea, Mailand 1988, S. 81-108.
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und sozialen Gruppen, Fürst und sozialen Klassen grundsätzlich überdacht und neue Regierungsformen entwickelt wurden. In einem heute klassischen Essay hat Antonio Anzilotti für die Verwaltungsreformen des 18. Jahrhunderts den glücklichen Ausdruck »tramonto dello stato cittadino« geprägt. Dieses Bild vom Untergang der städtisch-bürgerlichen Welt umfaßt sowohl das Ergebnis der institutionellen Experimente als auch die Veränderungen innerhalb der territorialen und sozialen Machtverteilung. 5 Doch gerade der Prozess der aristokratischen Abschließung und sein jeweils unterschiedlicher Verlauf erschweren die Rekonstruktion der Art und Weise, wie die lokalen Eliten die Interessen der untergeordneten Gruppen zu repräsentieren vermochten, indem sie diese als einen Teil des Allgemeinwohls interpretierten. Noch komplexer erscheint eine umfassende Untersuchung der Formen und Instrumente, mit Hilfe derer die Zünfte versuchten, ihre Interessen zu artikulieren und ihre Forderungen durchzusetzen, um ihre ökonomische und rechtliche Autonomie zu bewahren. Obwohl die Stadtregimenter in der Regel das Recht zur Kontrolle der Zünfte und ihrer Statuten bewahrten, ist doch nicht zu übersehen, dass die politische Dynamik von einer Trias bestimmt wurde; d.h. von den Zünften oder anderen Korporationen, der Stadt und dem Fürsten, dessen Funktion bisweilen von einer anderen dominierenden Stadt wahrgenommen wurde. Die sozialen Gruppen besaßen unterschiedliche Möglichkeiten der Selbstdarstellung und der Organisation innerhalb des städtischen Machtgleichgewichts und innerhalb der größeren Territorialstaaten. Wurden die Zünfte auch im städtischen Kontext durch die Unterscheidung zwischen »noblen« und »mechanischen« Gewerben allmählich marginalisiert, so fanden sie in den Territorialstaaten bisweilen im Fürsten einen aufmerksamen Gesprächspartner, mit dem sie das Interesse an der Vertretung der territorialen Bedürfnisse verband. Die städtischen Patrizier agierten hierbei zweifellos als Filter zwischen den Zünften und dem Herrscher, indem sie für sich das korporative Gesamtvertretungsrecht für die Stadt, den Contado und die verschiedenen Gewerbe beanspruchten. Dagegen versuchten zahlreiche Zünfte, in direkte Beziehungen zum Herrscher zu treten, wie man am Beispiel von Venedig und Florenz sehen kann. Dabei umgingen sie die städtischen Autoritäten, auf die sie wenig Einfluss hatten. Ihr Erfolg hing hier vor allem davon ab, welche Autonomie die jeweiligen Staaten den lokalen Oligarchien gewährt hatten und welche wirtschaftlichen Interessen der Herrscher verfolgte. Die Korporationen konnten sich somit auf zahlreiche Machtzentren beziehen, entweder auf die städtischen Herrschaftseliten oder auf den Souverän eines Territorialstaates. So entstanden überaus komplexe Beziehungsnetze für Unter5 A. Anzilotti, II tramonto dello Stato cittadino, in: N. Raponi (Hg.), Dagli Stati preunitari d'antico regime all'unificazione, Bologna 1981, S. 73 ff. Vgl. zu diesem Thema auch B. Sordi, L'amministrazione illuminata. Riforma delle comunità e progetti di costituzione nella Toscana leopoldina, Mailand 1991.
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handlungen oder zum Austausch von Forderungen, in denen die Verhandlungspartner der Zünfte andere Zünfte oder manchmal gleichzeitig ein Kaufmann oder mehrere Kaufleute waren, aber auch städtische Räte und Gerichte, die Behörden des Zentralstaates, Minister oder gar der Herrscher selbst. Bei ihren Versuchen, ihre Interessen eigenständig zu vertreten, konnten die Zünfte sich auf das juristische Grundprinzip des Ancien Regimes, d.h. auf den Vertragscharakter der politischen Herrschaft, beziehen. 6 Sie rechtfertigten ihre Forderungen unter Hinweis auf die bei jedem Regierungsantritt vom Herrscher verbürgten Kapitulationen. Die Zünfte waren in dem »pactum« zwischen der Stadt und dem Fürsten bereits implizit einbezogen, was einer Bestandsgarantie für jede einzelne Körperschaft gleichkam. Auf dem venezianischen Festland waren die Zünfte starken Beschränkungen unterworfen, die dem Schutz der venezianischen Zünfte dienten. Breite Kreise unterstützten in Venedig die Forderung ihrer Zünfte, um für die Gesamtstadt lebenswichtige Produktionszweige zu verteidigen. Andererseits trifft man aber auch auf städtische Führungsgruppen, welche die Zunftstatuten stärker kontrollieren und verändern wollten, um entweder die Autonomie der Stadt gegenüber dem Herrscher zu betonen oder aber um privilegierte Produktionsund Handelsbereiche zu schützen, in die Mitglieder des Patriziats investiert hatten. Ein charakteristisches Beispiel ist Vicenza, wo Venedig die Vorherrschaft adliger Gruppen bestätigt hatte und wo das Patriziat aus der strengen Kontrolle des städtischen Raumes ein wichtiges Moment seiner politischen Legitimation bezog. Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert wachten die städtischen Räte aufmerksam über die formalen Aspekte des Zunftlebens, das laut Stadtverfassung ihrer direkten Kontrolle unterstand. Die Zünfte waren sowohl aktive und wirksame Instrumente zur Wahrung der wirtschaftlichen Vorherrschaft der Stadt gegenüber dem Umland als auch Mittel zu seiner politischen und administrativen Kontrolle. Andererseits unterstanden sie selbst wiederum der Kontrolle durch die Stadtverwaltung, die versuchte, die politischen Aktivitäten der Zünfte mit den Interessen des Patriziats in Einklang zu bringen, um zu verhindern, dass deren »potestas statuendi« jene der »Civitas« verminderte. Das Stadtrecht von Vicenza gab den sogenannten »Ad utilia«-Deputierten das Recht, die Statuten der Zünfte zu überwachen, zu korrigieren und zu genehmigen. Diese Oberhoheit benutzten die Stadträte sehr gezielt und aufmerksam, besonders nachdem die Überwachung der städtischen Verwaltung durch Venedig drückender wurde und die ohnehin reduzierte Handlungsautonomie Vicenzas weiter aushöhlte. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts forderte der Stadtrat von Vicenza mehrfach und vehement diese Kontroll- und Genehmigungsrechte gegenüber jenen Gewerben ein, die direkte Verhandlungen mit Venedig 6 L. Mannori, II sovrano tutore. Pluralismo istituzionale e accentramento amministrativo nel Principato dei Medici (secc. XVI-XV1II), Mailand 1994, S. 37 ff
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aufnehmen wollten und so versuchten, Bestimmungen und Statuten durchzusetzen, ohne dafür die Zustimmung des Stadtrates einzuholen. Am 9. Februar 1737 z.B. annullierte der Rat der Zehn von Venedig auf Antrag der Stadt Vicenza eine ein Jahr zuvor von der Zunft der Schneider getroffene Entscheidung, weil diese nicht vom Stadtrat genehmigt worden war. Im Jahr 1760 fand ein anderer Konflikt zwischen der Stadt und der Zunft der Kolonialwarenhändler statt, der sich um den notwendigen Abstand zwischen Ladengeschäften drehte. Selbst in diesem Fall wandte sich die Zunft, die sich nicht einer von der Stadt geforderten Veränderung ihrer Statuten unterwerfen wollte, direkt an Venedig. Diese Initiative führte ihrerseits dazu, dass auch das Patriziat von Vicenza sich an die venezianischen Magistrate wandte. Im folgenden Jahr fand der Konflikt zwischen der Stadt und dem Leinengewerbe statt. Die Vertreter Vicenzas protestierten gegen das Ansinnen dieser Zunft, sich der Kontrolle des städtischen Magistrats zu entziehen. Die Stadtordnung - unterstrichen sie legte fest, dass Gewerbe sich zwar ihre eigenen Gesetze und Regeln geben könnten, diese aber nur nach der Zustimmung des Consiglio medesimo Gültigkeit besäßen.7 Wie in anderen politischen Systemen der italienischen Halbinsel lag das wahre Problem in der Frage der Abgrenzung zwischen der Jurisdiktionsgewalt des Fürsten und jener der Städte. In dieser Auseinandersetzungwurden die Zünfte vielfach Opfer sich überkreuzender Ansprüche. Selbst in scheinbar marginalen Fragen waren die Stadtregimenter meist nicht bereit, nachzugeben, um nicht Tür und Tor für andere durchgreifendere Interventionen der Zentralgewalt zu öffnen. Die verbleibenden administrativen und politischen Rechte der Städte wurden als wichtiger Teil der zivilen und politischen Identität des städtischen Patriziats verteidigt. In dem Maße, in dem Kontroll- und Interventionsrechte im gewerblichen Bereich städtischen Behörden übertragen wurden, versuchten die Zünfte, die übergeordnete Autorität zu mobilisieren, um die Bestimmungen der städtischen Gesetzgebung zu unterlaufen. Sie wehrten sich damit gegen eine immer kleinlichere Kontrolle des Zunftlebens durch die Stadtregimenter im Namen des Gemeinwohls. Die Korporationen ihrerseits rechtfertigten ihren Widerstand ebenfalls unter Rekurs auf das öffentliche Wohl sowie die Werte der Tradition und der Gewohnheit. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts überwachten die städtischen Behörden in Vicenza immer strikter die Praktiken jener Zünfte, die in für die Stadt lebenswichtigen Sektoren aktiv waren, wie die Bäcker oder Müller, oder solcher Gewerbe, deren Ausübung die öffentliche Sauberkeit und Hygiene gefährdeten, wie z.B. die Gerber. Sie erließen genaue Regeln für die Herstellung und den Verkauf von Brot wie auch für die Organisation und die benutzten Messeinheiten der Müller. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ver7 Vgl. D. Frigo, Corporazioni e collegi tra governo cittadino e dominio veneziano: il caso di Vicenza, in: Borelli (Hg.), Le corporazioni, S. 146.
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boten sie den Müllern und ihren Familienmitgliedern gar, an Markttagen zu erscheinen. 8 Auch die Geschichte der Mailänder Zünfte ist von zahlreichen Konflikten geprägt. Sie setzten mit der langen Auseinandersetzung um die Handelssteuer ein, welche die Handelskammer den städtischen Zünften auferlegen wollte. Dieser Konflikt endete im Jahr 1755 mit der Abschaffung der Abgabe, die durch eine neue Steuer auf den Handel ersetzt wurde, die nicht auf in die Stadt eingeführte Ware erhoben, sondern nach dem jährlichen Wert des Austausches kalkuliert wurde. 9 Andere Konflikte brachen um die Kontrolle der privaten Postdienste aus, die die österreichische Regierung abzuschaffen gedachte. U m ihr altes Postrecht zu verteidigen, appellierte die Handelskammer an den Kaiser und bot an, zweitausend Lire jährlich für die Erhaltung des Postrechtes zu bezahlen. Leider verraten die Quellen den Ausgang dieses Konfliktes nicht. Im Jahr 1786-1790 entzündete sich ein Streit zwischen der Regierung und der Handelskammer um die Benutzung des Marktplatzes. Hierbei gab die Stadtverwaltung den Kaufleuten unter Hinblick auf eine Abmachung aus dem Jahr 1722 Recht. Der wahre Grund für die Zustimmung lag wohl in der Befürchtung der Stadt, die Kaufleute ansonsten im Falle des von der Regierung erwünschten Umzuges entschädigen zu müssen.10 Die Kaufmannszunft in Mailand versuchte auch, direkte Verbindungen mit Madrid aufzunehmen, indem sie eigene Vertreter entsandte, oder ihre Anliegen dem Gesandten der Stadt anvertraute. Trotz der von Philipp II. ausgesprochenen Verbote, der alle Mailänder Angelegenheiten dem Gouverneur der Stadt übertragen hatte, beharrten die Kaufleute auf ihrem Recht auf eigene Vertreter.11 Untersucht man die Bedeutung der Zünfte im Hinblick auf ihr Netz politischer Beziehungen, so tritt eine Dialektik städtischer, zünftiger und territorialer Machtzentren zutage. Die im Laufe des 18. Jahrhunderts stattfindenden Diskussionen über die Rolle und den Wert der Zünfte für die Wirtschaftsentwicklung und die Organisation der Gesellschaft zwangen die politischen Machthaber und die Vertreter der städtischen Eliten, neu über die hergebrachten Vorstellungen der traditionellen Wirtschaft und ihre inneren Strukturen nachzudenken.12 8 Ebd., S. 143. 9 E. Verga, La Camera dei mercanti di Milano nei secoli passati, Mailand 1978, S. 75 f.; L. Trezzi, Governo del mereimonio e governo della città a Milano nella prima metà del XVII secolo, in: Mozzarelli (Hg.), Economia e corporazioni, S. 133-159; ders., Ristabilire e restaurare il mereimonio. Pubblici poteri e attività manifatturiera a Milano negli anni di Carlo VI, Mailand 1986. 10 E. Verga, La Camera dei mercanti, S. 96 f. 11 G. Barni, I rapporti internazionali dello Stato di Milano in Italia durante il periodo della preponderanza straniera. Note di storia giuridica, in: Archivio storico lombardo, Jg. 8, 1943, S. 37 ff. 12 Vgl. zu diesem Thema A. Guenzi, Governo cittadino e sistema delle arti in una città dello Stato pontifìcio: Bologna, in: Borelli (Hg.), Le corporazioni, S. 173-182; S. Cerutti, Mestieri e
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3. Die Zünfte u n d die Stadtwirtschaft Wie bereits erwähnt, ist die wirtschaftliche Rolle der Zünfte im 17. und 18. Jahrhundert von den italienischen Historikern vor allem unter dem Begriff der Dekadenz und der verspäteten industriellen Entwicklung der Halbinsel diskutiert worden. Neueren Interpretationen zufolge gelang es den Zünften hingegen schon früh, Produktionsformen zu entwickeln, die den Veränderungen des Marktes angepasst waren, die zünftige Arbeitsformen mit freier Lohnarbeit verbanden und die parallel sowohl Manufakturen als auch traditionelle Werkstätten weiterentwickelten. 13 Das beste Beispiel hierfür ist Bologna, das von Carlo Poni in zahlreichen Beiträgen untersucht wurde. In der Stadt organisierten 50 oder 60 Kaufleute die Seidenherstellung als Heimindustrie und beschäftigten zahlreiche Gesellen, die innerhalb der Mauern der Stadt wohnten. Sie konzentrierten das Zwirnen der Seide in Seidenmühlen, die Warenmanufakturen mit einem hohen Grad der Mechanisierung waren, in denen mehr als zehn Arbeiter fabrikmäßig beschäftigt wurden. 14 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ähnelte Vicenza zunehmend Bologna, obwohl die Entwicklung dort etwas später einsetzte. In Vicenza organisierte sich der Wollsektor in proto-industrieller Form, das gleiche gilt auch für die Papier- und Waffenherstellung und den Bergbau in anderen Gebieten der venezianischen Terraferma.15 Die mittelalterlichen Zünfte erweiterten sich und schlossen erste Formen der Manufaktur und der Industrie ein, so dass sich die gleiche juristische Form verschiedenen ökonomischen Aktivitäten öffnete. Der Forschungsrevision hielt auch die traditionelle These, dass die Zünfte während der frühen Neuzeit ihre Qualitätsstandards verteidigten, nicht stand. Die Arbeiten von Manikowski über Lucca und von Rita Mazzei über Pisa haben gezeigt, dass die Seidenkaufleute der Stadt die Qualität ihrer Waren vielmehr beizeiten senkten, um der europäischen Konkurrenz zu begegnen. 16 Nicht die
privilegi. Nascita delle corporaziom a Torino secoli XVII-XVIII, Turin 1992; M. Cavallin, Le corporazioni d'arti c mestieri a Trento nel '700. Paradigma e prassi politiche alla fìne dell'antico regime, in: C. Mozzarelli (Hg.), Trento, principi e corpi. Nuove ricerche di storia regionale, Trento 1991, S. 57-124. 13 T. Fanfani, Le corporazioni nel Centro-Nord della penisola, passim 14 C. Poni, Misura contro misura: come il fìlo di seta divenne sottile e rotondo, in: Quaderni storici, Jg. 16, 1981, S. 385-422; ders., All'origine del sistema di fabbrica: teenologia e organizzazione produttiva dei mulini di seta nell' Italia settentrionale, in: Rivista Storica Italiana, Jg. 100, 1988, S. 444-497; der., Per la storia del distretto serico di Bologna (secoli XVI-XIX), in: Quaderni Storici, Jg. 25, 1990, S. 93-167. 15 Zalin, Dalla bottega alla fabbrica, passim. 1994 fand eine Tagung zu diesen Fragen statt (»Le vie dell' industrializzazione europea: sistemi a confronto«), die vom Institut für religiöse und soziale Studien in Vicenza organisiert wurde und deren Beiträge gegenwärtig in Druck sind. 16 Zur These Manikowskis vgl. Fanfani, Le corporazioni, S. 40; zu Pisa vgl. R. Mazzei, Pisa Medicea. L'economia da Ferdinando I a Cosimo II, Florenz 1990.
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Konkurrenz der modernen englischen Manufakturen war die Ursache der italienischen Krise im Textilsektor, sondern die merkantilistische Politik, mit der England und andere europäische Nationen ihre Gewerbeproduktion flankierten.17 Diese Strategien konnten entweder nicht übernommen werden, oder sie verfehlten ihre Wirkung in den italienischen Kleinstaaten, die eher am Rande am atlantischen Großhandel teilnahmen. Dennoch widersetzten sich die Zünfte auch hartnäckig solchen Neuerungen, die nicht von ihren eigenen Mitgliedern ausgingen, oder die von den Regierungen angeregt wurden. Die Mailänder Zünfte bekämpften beispielsweise den Engländer Giovanni Henford aufs heftigste, der im Jahre 1663 den Webstuhl für Socken einführte. Die Zünfte und die Stadtregierung leisteten Widerstand aus Angst, dass die Frauen, die Socken strickten, arbeitslos würden. Sie ließen die bereits installierten Webstühle versiegeln. Erst 1722 wurde ihr Einsatz genehmigt. 18 Ähnliches ereignete sich anlässlich der Räder zum Spinnen von Gold- oder Silberfäden, gegen die Spinnerinnen im Jahr 1696 mit Unterstützung der Gold- und Seidenzunft protestierten. Das Gericht, das die Zerstörung der Räder anordnete, ließ sich nicht von dem Argument überzeugen, dass mit dem Rad gesponnene Goldfäden feiner seien und dass die Goldschmiede sich mit ausländischen Goldfäden versorgen mussten, weil sie diese Fäden nicht auf dem Mailänder Markt fanden. Die Mailänder Gerber widersetzten sich in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts dem Projekt eines schwedischen Kaufmanns Carlo Blixbergh, der von den Behörden in Wien unterstützt wurde, das Leder »nach Art des Auslandes« zu bearbeiten. Wie diese Beispiele zeigen, akzeptierten die Zünfte Innovationen und neue Techniken nur dann, wenn sie von ihnen selbst angeregt wurden. Von oben oder von anderen Personen initiierte Wirtschaftsreformen wurden kategorisch bekämpft.19 Wie groß aber war die Fähigkeit der Zünfte, die Produktion zu kontrollieren? Wie viele neue Zunftordnungen zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert zeigen, war die Fähigkeit zünftig organisierter Berufe gering, ihre Regeln nicht zünftig organisierten Arbeitern zu oktroyieren, deren Zahl aufgrund der Heimarbeit zunahm. Dasselbe gilt für Ausländer, die in der frühen Neuzeit in den italienischen Staaten neue Arbeitsmethoden oder Waren einführten, oder auch für die Gesellen und Lehrlinge, die neue autonome Formen der Interessenvertretung suchten. Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert war in allen Staaten der Halbinsel der Zugang zu den Zünften streng kontrolliert. Dazu dienten Eingangsprüfungen, die immer strenger gehandhabt sowie Aufnahmegebühren, die
17 Vgl. Fanfani, Le corporazioni, S. 42. 18 L. Dal Pane, Storia del lavoro in Italia dagli inizi del secolo XVIII al 1915, Mailand 1958, S. 270. 19 E. Merlo, I »progetti« di un mercante svedese. Aspetti e riflessi del tramonto delle corporazioni milanesi (1750-1790), in: Società e Storia, Ig. 17, 1994, S. 507-528.
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ständig erhöht wurden. Die Erblichkeit des Berufes nahm entweder durch Regeln zu, die die Söhne begünstigten oder durch Hindernisse, die dem Ehrgeiz der Gesellen und Lehrlinge entgegenstanden. Meistersöhne waren fast überall von der Aufnahmegebühr befreit, ebenso von der Notwendigkeit, eine Meisterprüfung nach der Lehrzeit abzulegen. Manchmal erließ man ihnen sogar die Lehrzeit. In Venedig regelten genaue Bestimmungen im 18. Jahrhundert den Zugang zur Lehre. Zahlreiche Gewerbe, zu denen beispielsweise die starke Zunft der Tischler des Arsenals gehörte, waren ausschließlich Meistersöhnen vorbehalten. Dagegen fand man im Jahre 1773 z.B. unter den Musikern und Weinhändlern auch von außerhalb der Stadt kommende Lehrjungen. Zu den »Frittoleri« hingegen wurden nur Personen aus Venedig zugelassen. Die »Sabbioneri« verlangten nicht nur, dass die Lehrjungen venezianische Bürger seien, sondern dass sie auch in Venedig wohnten. Die Meistersöhne der »Bossoleri« und der Dreher wurden von der Lehrzeit ausgenommen. Auch die Aufnahmegebühr war in der Regel niedriger. So zahlten in Venedig die »Frittoleri« in der Regel zehn Dukaten »Benintrada« (Aufnahmegebühr), die Meistersöhne aber lediglich fünf Dukaten. Im Laufe des 18. Jahrhunderts nahmen die internen Auseinandersetzungen in den Zünften, sowohl unter den Meistern als auch zwischen Meistern und Gesellen, ständig zu. Hier gilt es, zwischen Gewerben zu unterscheiden, in denen die Meister und Gesellen der gleichen sozialen Stufenleiter angehörten, und der Massenproduktion, in der Meister und Gesellen deutlich unterschiedene Gruppen bildeten, die sich in verschiedenen Vereinigungen organisierten. Dies war etwa in Venedig im Wollgewerbe der Fall, in dem die Meister und die Kaufleute in der mächtigen Kammer des »Porgo« organisiert waren, während die Gesellen und Lehrlinge die Zunft der »Laneri« bildeten, der auch einfache Lohnarbeiter angehörten, die in den Werkstätten der Meister beschäftigt waren. Außerdem gehörten der venezianischen Seidenzunft im Jahre 1770 Personen an, die nicht mehr arbeiteten, die aber Mitglieder blieben, um Zunftvorteile zu genießen. Die Zunft wurde von drei Kaufleuten geleitet, während die Arbeiter und die anderen Berufe der Seidenherstellung eine eigene Zunft bildeten, die nicht mehr in der Leitung der venezianischen Seidenindustrie vertreten war.20 Besondere Aufmerksamkeit verdient die wirtschaftliche Debatte über die Rolle der Zünfte, an der zahlreiche Aufklärer, Magistrate, Juristen und politische Philosophen teilnahmen. Ihre Schriften geben einen guten Einblick in die Auflassungen, die in einer ständisch organisierten Gesellschaft von den Zünften verbreitet waren. Zu der Diskussion trugen auch die italienischen Akademien bei, die öffentliche Preisfragen zu diesem Problemkreis ausschrieben. Die bekannteste ist sicher die Ausschreibung der Landgesellschaft von Verona von 20 Dal Parte, Storia del lavoro, S. 370 f.
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1791 zu der Frage, welche Vorteile oder Nachteile die zünftige Organisation für den Handel, die Nation und die Öffentlichkeit habe.21 Ein Zeitgenosse bemerkte hierzu, dass die Ökonomen seit langer Zeit die Abschaffung der Zünfte forderten, während die Regierungen an ihnen festhielten. Dieser Unterschied zwischen der Wirtschaftstheorie und der politischen Praxis hätte vielleicht eine Lösung der Preisfrage darstellen können, doch die Jurymitglieder konnten sich nicht entscheiden, eine der sechs Antworten zu prämieren, da sie selbst in der Frage zerstritten waren. Unter den Antworten ist jene von Luigi Torri hervorzuheben, der die Politik Turgots ablehnte, da sie zwar die Vorteile, nicht aber die Nachteile der Auflösung der Zünfte berücksichtigte. 22 Die Zünfte aufzulösen, bedeutete, wie Torri wohl verstanden hatte, der Gesellschaft eine neue, ihr nicht eigene Bewegung zu geben. Die Kraft der Zünfte jedoch bestand weiter in ihren gewohnheitsrechtlichen, durch säkulare Tradition bestätigten Wurzeln, die man schlecht ausreißen konnte. Die Politik Venedigs, so schloss er, sei die beste, da sie langsame Reformen vorsah und mit neuen Formen experimentierte, ohne von oben eine neue Gesamtordnung zu oktroyieren. Die Philosophie von Torri ähnelte jener des Conte Marogna, der es als notwendig erachtete, die Fehler der Zünfte zu korrigieren, ohne ihre Vorteile aufzugeben. Deshalb schlug er vor, zwischen den einzelnen Gewerben, zwischen Meistern, Arbeitern und Kaufleuten zu unterscheiden und für jede Gruppe geeignete Regeln zu entwickeln. Vasco nahm ebenfalls am Wettbewerb teil: Der berühmte Ökonom aus dem Piemont sprach sich ohne Einschränkung für die Abschaffung der Zünfte aus, die seiner Meinung nach eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellten. Die Verfolgung von Partikularinteressen lägen ihnen zugrunde, die leicht mit dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft in Widerspruch treten könnten. 23 Würden die alten Formen der zünftigen Regeln erst einmal abgeschafft, so wäre der Konsument der einzige »Fabrikinspektor«, so dass das wirtschaftspolitische System so geregelt sein könne, dass die Minister weder über »besondere Tugend, noch außergewöhnliches Geschick« verfügen müssten.24 Selbst die Preisfragen der Akademie von Padua im Jahr 1785 und 1788 über die Möglichkeiten, den Handel zu befördern, gaben Anlass zu einer lebhaften Debatte über die Bedeutung der Zünfte für den wirtschaftlichen Fortschritt.25 21 F. Venturi, II concorso veronese sulle corporazioni (1789-1792), in: Rivista Storica Italiana, Jg. 100, 1988, S. 528-558. 22 L. Torri, Considerazioni sopra i mezzi conducenti alla prosperità delle arti e del commercio, Verona 1793. S. 255 ff. 23 G. Vasco, Delle università delle arti e dei mestieri, Mailand 1793, S. 26. 24 Ebd., S. 66. 25 A. Alberti, Le corporazioni d'arti e mestieri e la libertà di commercio interno negli antichi economisti italiani, Mailand 1888, S. 189 ff.
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Das Gleiche geschah auch, als die Turiner Akademie der Wissenschaften 1788 die piemontesischen Ökonomen aufrief, Lösungsvorschläge zu unterbreiten, wie die Arbeitsplätze im Seidengewerbe erhalten werden sollten, wenn die Produktion von Seidenkokons unzureichend war, wie es in Piemont in den Jahren 1785 und 1787 der Fall gewesen war.
4. Politische Projekte: Reform oder Abschaffung? Will man die unterschiedlichen politischen Strategien der Regierungen in bezug auf die Korporationen im Zeitalter der Aufklärung verstehen, darf man den Unterschied zwischen den Stadtstaaten und den Territorialstaaten nicht außer acht lassen. In Republiken wie Genua und Venedig behielt das Zunftwesen seine Gültigkeit als städtisches Organisationsprinzip und Schauplatz der Fraktionskämpfe, wenngleich auch hier die Regeln und die Kontrolle erneuert wurden. In den Fürstentümern hingegen, besonders in jenen, in denen »aufgeklärte« Reformen durchgeführt wurden (Herzogtum Mailand und Großherzogtum der Toskana), sah man in den Zünften Vertreter partikularer Interessen im Widerspruch zum Allgemeinwohl, dessen alleiniger Interpret nunmehr der Fürst war. Die unterschiedlichen Einstellungen zum Zunftwesen in Italien sollen im Folgenden an ausgewählten Beispielen kurz skizziert werden. Zunächst geht es um Piemont, wo sich die Zünfte im Gegensatz zu denen anderer Staaten im Laufe des 18. Jahrhunderts konsolidierten, selbst wenn dies vielfach mit einem Verlust an politischem Einfluss in den Städten einherging. Wie Simona Cerutti deutlich gezeigt hat, organisierten sich bestimmte Gewerbe in Handel und Produktion erst im 18. Jahrhundert als Korporation. Ihr Erklärungsmodell hierfür basiert auf einer gründlichen Rekonstruktion des Kräfteverhältnisses zwischen Stadt und Hof im 17. und 18. Jahrhundert. Sie zeigt, wie die Stadt zunächst versuchte, ihre Einheit als Ganzes zu bewahren und den höfischen Versuchen zu widerstehen, den städtischen Raum und einzelne Gruppen für Zeremonien und Repräsentationen zu instrumentalisieren. Geriet die städtische Einheit aber durch die Politik des Fürsten oder sich verschiebende Machtbeziehungen innerhalb der städtischen Führungsschicht unter Druck, so fanden die sozial dominierenden Gruppen in den zünftigen Formen ein Hilfsmittel um die Autonomie ihrer Jurisdiktion zu bewahren und ihre Interessen zu organisieren. 26 Die verspätete Gründung ersparte den Zünften allerdings keineswegs die inneren Spannungen, die für die meisten Zünfte im 18. Jahrhundert charakteristisch waren. Die Verspätung magjedoch ein Grund für die verzögerte Abschaffung der Korporationen gewesen sein, die erst mit einem Erlass von Carlo 26 Cerutti, Mestìeri e privilegi, S. 182 ff.
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Alberto II. am 14. August 1844 erfolgte.27 Einen weiteren Grund für dieses lange Überleben deutete auch schon Giambattista Vasco, der bedeutende Piemonteser Reformer, an. Er behauptete, dass die Zünfte im Piemont der strengen Kontrolle durch den Fürsten und die Stadtregimenter untergeordnet gewesen seien. Diese griffen häufig ein, wenn es das wirtschaftliche Wohl des Staates erforderte und federten so die negativen Auswüchse des Zunftwesens ab. 28 Ein anderes Beispiel für ein Überdauern des Zunftwesens über das Ende des Ancien Régimes hinaus war der Kirchenstaat, in dem die Unterdrückung der Zünfte durch eine Reihe von Gesetzen erfolgte, die zwischen 1800 und 1806 erlassen wurden und die Gewerbe- und Handelsfreiheit herstellen sollten. Den Auftakt machte die Abschaffung der »Annona« (Behörde zur Getreideversorgung, d. Ü.) am 2. Februar 1800 und der »Grascia« (Behörde zur Regelung der Versorgung mit Lebensmitteln) am 11. März 1801, gefolgt von der Erklärung der internen Handelsfreiheit. Eine Wirtschaftskongregation wurde 1801 mit der Auflösung aller Korporationen betraut, die am 2. Juni 1806 bis auf wenige Ausnahmen durchgeführt wurde. Wenngleich die Reformer im Königreich Neapel sich mehr mit der Handelsfreiheit und der Landwirtschaft beschäftigten, so war dies die Folge der geringen politischen Bedeutung der Handwerkszünfte in dieser Region in der frühen Neuzeit. Die Gründe hierfür sind zahlreich: An erster Stelle steht der hohe Grad der Zentralisierung, der den Städten nur wenig Spielraum zur autonomen Entwicklung ließ, sowie die Beherrschung des Finanz- und Handelsnetzes seit dem Mittelalter durch genuesische, katalanische und florentinische Kaufleute. Die Korporationen in Süditalien betätigten sich vornehmlich im religiösen und karitativen Bereich, was die Auseinandersetzungen zwischen den Zünften und den Reformern im 18. Jahrhundert abschwächte. Dies erklärt auch ihre verspätete Auflösung durch ein Dekret Ferdinands vom 23. Oktober 1821. 29 Die im Herzogtum Mailand und im Großherzogtum der Toskana durchgeführten Zunftreformen waren weitreichender und standen im Zusammenhang mit den Wirtschaftsreformen, die die Habsburger in ihren italienischen Territorien durchsetzten. Mit einem Dekret vom 1. Februar 1770 wurden alle Magistrate und Gerichte in Florenz aufgelöst, die Gerichtsbarkeit über die Zünfte ausgeübt hatten. Eine einzige Handelskammer sollte sie ersetzen. Gleichzeitig schuf man die Zunftgebühren und die Aufnahmegebühr ab, stellte mithin die Freiheit der Arbeit her. Die Auflösung der Zünfte gehörte zu den 27 Das Edikt ist ediert in: L. Dal Pane, II tramonto delle corporazioni in Italia (secoli XVIII e XIX), Mailand 1940, S. 261-270. 28 Vasco, Delle università, S. 26. 29 Dal Pane, II tramonto delle corporazioni, S. 260 f.; vgl. auch L. de Rosa, Le corporazioni nel Sud della penisola: problemi interpretatitivi, in: Le corporazioni nella realtà economica, S. 49-59.
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Kernelementen der Freihandelsdoktrinen, die das ökonomische Denken in der Toskana bestimmten. In einem Memorandum (Memoria per la riunione dei tribunali delle Arti a Firenze) von 1768 wurde unterstrichen, dass die Manufakturen und der Handel erfahrungsgemäß in erster Linie auf Freiheit und Schutz angewiesen seien. Das Festhalten an bestimmten vorgeschriebenen Arbeitsverfahren verhindere jedoch die nötige Anpassung an neue, vom Verbraucher geforderte Moden. 30 In der Lombardei sahen sich die Zünfte zwischen 1773 und 1787 mit zahlreichen Maßnahmen konfrontiert, die de facto zu ihrer Abschaffung führten. Allerdings waren sie schon seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts durch die Errichtung privilegierter Manufakturen unter Druck geraten. Die berühmteste war die Manufaktur von Francesco Tieffen, mit der die Großindustrie Einzug in die Lombardei hielt. Ihre Einrichtung und die ihr verliehenen Privilegien hatten die Zünfte zu vehementen, doch fruchtlosen Protesten veranlasst. In einem Avis aus dem Jahre 1769 kündigte der königliche Wirtschaftsrat seine Absicht an, die Zünfte aufzulösen. Ausgenommen waren lediglich die Zünfte der Gewürzhändler, Goldschmiede, Goldhändler sowie der Leinen- und Seidenweber. Im Jahr 1773 schritt man daraufhin zur Abschaffung von 21 Korporationen, die als barjeder Nützlichkeit angesehen wurden. Im Jahr darauf folgte die Auflösung von 16 weiteren Korporationen.31 Danach ließ der Reformeifer nach. Man legte angesichts der besorgten Reaktion der Mailänder öffentlichen Meinung zunächst eine Denkpause ein. In dieser Situation ging Kaunitz zu Teilexperimenten in bestimmten Provinzen üben Den Anfang machte Cremona, wo die Abschaffung der Zünfte ohne Proteste vonstatten gegangen war, obwohl damit zugleich eine Reihe von Ehrenämtern verloren gingen, die Jahrhunderte lang zur städtischen Identität gehört hatten. Der Grund für diese Haltung ist wahrscheinlich in den Veränderungen zu suchen, denen die Zünfte in Cremona schon im vorangegangen Jahrhundert ausgesetzt gewesen waren. Besonders hervorzuheben ist hier die 1770 erfolgte Steuerreform, die nicht mehr die Körperschaft heranzog, sondern »pro capite« erhoben wurde, was die Bilanzen der Zünfte deutlich entlastete. Daneben hatten sich die Zünfte schon einige Jahre zuvor für die Abschaffung einiger ihrer religiösen Verpflichtungen ausgesprochen, wie die tägliche Messe und die Bereitstellung wertvoller Tücher für die Fronleichnamsprozession.32 Wir können daher feststellen, dass die fehlende Reaktion auf die Abschaffung der Zünfte in Cremona wahrscheinlich einen bereits geschwundenen Zusammenhalt dieser Institutionen widerspiegelt. Ein solches Erlahmen verweist vielleicht auch auf Veränderungen in der 30 R. Misul Le arti fiorentine, Florenz 1904, S. 27-35. 31 Dal Patte, Storia del lavoro, S. 281, Anm. 52. 32 C. Sabbwneta Almansi, La soppressione delle corporazioni d'arti e mestieri nella provincia cremonese dello Stato di Milano, in: Archivio Storico Lombardo, Jg. 105, 1969, S. 140 ff.
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zünftigen Geselligkeit, wobei unter dem Druck des Marktes die alte korporative Solidarität der Vorherrschaft von Eigeninteressen gewichen war. In Mailand selbst wurde nach einer kurzen Unterbrechung die Politik der endgültigen Auflösung aller Korporationen mit einem Dekret vom 6. März 1787 zu Ende geführt. Heftige Proteste nicht nur der Betroffenen waren die Folge, und die öffentliche Meinung äußerte sich besorgt über mögliche negative Folgen der Reform. Das »Marktgericht« hatte dieser Besorgnis schon 1781 Ausdruck gegeben und unterstrichen, dass gerade im Bereich der Versorgung mit Lebensmitteln die notwendigen hygienischen Kontrollen nur durch die Zünfte gewährleistet seien. Die Stellungnahme des Gerichts spiegelt die Stimmung der Mailänder angesichts der von Joseph II. immer schneller vorangetriebenen Reformen wider. Ziel dieser Reformen war auch die Unterordnung des Mailänder Magistrats unter die Politik des Hauses Habsburg, was schließlich zu einem Bruch zwischen Mailand und Wien führte. Selbst rein »technische« Erwägungen wie die des Marktgerichts sind daher als deutliches Zeichen eines sich verändernden politischen Klimas anzusehen. Der Fall Venedigs ist noch komplexer. Die Zünfte hatten dort das demokratische Zwischenspiel und die österreichische Herrschaft überlebt, aber zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden sie in vielfacher Hinsicht erneuert und reformiert. Die Überwachung der Korporationen oblag verschiedenen Gremien, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden waren: die »Giustizieri Vecchi« und die »Giustizieri Nuovi« befaßten sich mit der Annona sowie mit allen Gewerben, die die Lebensmittelversorgung betrafen; daneben existierten noch die 1572 ins Leben gerufenen »Cinque Savi alla Mercanzia« und die »Kontrolleure der Einfuhrzölle«, die im Jahr 1627 gegründet worden waren. Zusammen bildeten diese Behörden das »Colleggio delle Arti« mit umfangreichen Handlungs- und Kontrollbefugnissen. Schließlich ist noch das Kollegium der »Milizia da mar« zu erwähnen, das die von den Zünften erhobenen Abgaben einzog, die dem Unterhalt der venezianischen Kriegsschiffe dienten. Trotz der strengen Überwachung der venezianischen Zünfte durch den Staat können wir dennoch über die Jahrhunderte hinweg eine beträchtliche Eigenständigkeit ihrer Produktionsformen sowie ihrer inneren Organisation beobachten. Alle Zünfte versammelten sich einmal im Jahr zu einem sogenannten »Generalkapitel« zur Wahl ihrer Repräsentanten, dem sog. »gastaldo«, »vicegastaldo« und einer Reihe anderer Amtsträger. Sie bildeten zusammen die »banca«, die eine Art Regierung der Zünfte darstellten. Die in der »banca« versammelten »gastaldi« repräsentierten die Zünfte gegenüber den städtischen Kontrollbehörden und trugen ihnen ihre Meinungen, Wünsche, Anfragen, Beschwerden und Anzeigen vor.33
33 M. Costantini, L'alberodella libertà economica. II processo di scioglimento delle corporazioni veneziane, Venedig 1987, S. 20 f.
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Während des 18. Jahrhunderts erfuhren die venezianischen Zünfte zahlreiche Umstrukturierungen, die auf die häufige Ein- und Ausgliederung verwandter Gewerbe zurückzuführen sind. Eine Zählung aus dem Jahr 1773 registrierte 142 Zünfte, doch gegen Ende des Jahrhunderts ist eine Tendenz zum Zusammenschluss verwandter Gewerbe zu beobachten. Dies ist auch als Schutz gegen die in diesem Zeitraum erfolgenden Maßnahmen anzusehen. So wurden 1719 die Zünfte untersucht und klassifiziert, um die Abschaffung schädlicher und nutzloser Korporationen vorzubereiten. 34 Dies sollte der Stärkung der als nützlich erachteten Zünfte dienen. Angesichts der ständig wiederkehrenden Krisen besann sich ein den europäischen Neuerungen gegenüber aufgeschlossener Teil des Patriziats spät, aber engagiert auf die alten merkantilen Traditionen Venedigs, die im 16. Jahrhundert teilweise zugunsten der Investition in Landbesitz aufgegeben worden waren: Gewinnstreben, ökonomisch nützliche Tätigkeiten, Wertschätzung der Gewerbe und der Handelsgeist lebten wieder auf Die Sorge um die Zünfte und die Lebensbedingungen in der Stadt führte 1751 zur der Schaffung einer »Zunftinspektion«, die mit einer allgemeinen Reform beauftragt und der 1773 ein außerordentlicher Ausschuss zur Regelung der Zunftfragen an die Seite gestellt wurde. Doch diese Einrichtungen änderten nichts an der vorsichtigen Haltung des venezianischen Patriziats, die sich deutlich unterschied von radikalen Maßnahmen wie in Mailand oder Florenz. Die Intention war vielmehr, die Zünfte den Veränderungen in Produktion und Handel anzupassen, nicht sie abzuschaffen, wie ein Bericht des Zunftinspektors Marcantonio Dolfin aus dem Jahre 1752 zeigt, der zu den überzeugtesten Wirtschaftsreformern zählte. Für Dolfin waren die Zünfte wegen ihres Steueraufkommens unentbehrlich, aber auch als Mittel zur Durchsetzung jener Gesetzesvorschriften, die sich auf ihren Bereich bezogen.35 Eine andere Sorge Dolfins und des Patriziats stellte in diesem Zusammenhang das Kapital dar, die sog. »inviamenti«, in die viele Mitglieder des Patriziats oder die Mitglieder der Zünfte investiert hatten. Er plädierte daher für eine allgemeine Öffnung der Zünfte, deren Kapital von den Mitgliedern aufgebracht wurde: Wenn alle die Gelegenheit zur Einlage bekämen, würde der Zunftstatus nicht aufgehoben, doch die Manufakturen und der Handel würden sich vermehren, was wiederum das Allgemeinwohl befördere. Die geschlossenen Zünfte hingegen waren seiner Meinung nach verantwortlich für »die Armut und Not vieler Familien des einfachen Volkes«. Diese Armut, »die sie schamhaft macht, d.h. die sie erröten lässt, wenn sie öffentliche Forderungen stellen«, machte das Problem noch komplizierter. Öffnung, nicht Abschaffung der Zünfte lautete also die Parole der venezianischen Regierung im 18. Jahrhundert. Dies schien die geeignetste Form, die beiden angestrebten Ziele zu 34 M. Costantini, L'albero della libertà, S. 32 f. Die Akten der Klassifizierung sind publiziert in Dal Pane, II tramonto, S. 68 ff. 35 Dal Pane, II tramonto, S. 71.
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erreichen: die Beschäftigung der Bevölkerung einerseits und die Reform des Zunftwesens andererseits. Seine völlige Abschaffung schien hingegen nicht ratsam angesichts des fiskalischen Beitrags der Zünfte und ihrer Bedeutung für die öffentliche Ordnung und Kontrolle der Produktion.36 Die Haltungen der einzelnen Regierungen gegenüber den Zünften variierten also deutlich, j e nachdem, ob es sich um die interne Frage eines Stadtstaates oder ob es sich um Wirtschaftsreformen im weiteren Zusammenhang eines Territorialstaates handelte. Im ersten Fall (Venedig, aber auch Genua) wurden variablere Lösungen angestrebt: die Gründung neuer Behörden, Teilreformen, Öffnung der Zünfte usw. Wollten Fürsten jedoch ihr Wirtschaftsprogramm durchsetzen (Lombardei und Toskana), so überwog dagegen die Auflösung der Zünfte tout court. In anderen Gebieten wurden die Zünfte später abgeschafft, entweder weil die Reformen bedächtiger unternommen wurden oder weil den Zünften in diesen Gesellschaften insgesamt eine geringere Bedeutung zukam. An der Zunftfrage wird deutlich, dass die meisten italienischen Staaten das Sozialsystem erhalten wollten, indem sie es veränderten. Zugleich bewiesen sie die Bereitschaft zur Umsetzung neuer Ideen, ohne die ideologische und verfassungsmäßige Grundlage des Ancien Régimes aufzugeben. In jedem Fall stellte die Schließung der Zünfte das größte Problem dar: Die einzelnen Familien waren in dieses Abwehrsystem aus juristischen und wirtschaftlichen Vorkehrungen einbezogen, das so auf einer niedrigeren Ebene die Familienstrategien der Aristokratie zum Schutz ihres Vermögens widerspiegelt (Fideikommiss, Majorat etc.). Zahlreiche Maßnahmen der politischen Autoritäten im 18. Jahrhunderten zielten darauf, die Abschließung der Zünfte zu durchbrechen. So schritten in Genua die »Magnifici« mehrfach ein, um das Monopol der Seidenwebermeister zu beseitigen; 1755 gewährten sie einen Aufschub zur Zahlung der Zunftbeiträge, und 1761 ordneten sie die Reduzierung der Aufnahmegebühren an. Im selben Jahr erging auch ein Gesetz, wonach »Vater und Sohn, zwei Brüder, Schwiegervater und Schwiegersohn, Onkel und Neffe, zwei Cousins« nicht gleichzeitig in die höchsten Zunftgremien berufen werden durften.37 Dasselbe geschah auch in Venedig, wo die ersten Verordnungen im Jahr 1719 auf eine Öffnung der Zünfte abzielten, um der Wirtschaft der Serenissima zum Aufschwung zu verhelfen. Es ist schwierig, die wirtschaftlichen und produktiven Aspekte der italienischen Zünfte getrennt von ihren sozialen und kulturellen Aspekten und ihrer Fürsorgefunktion zu behandeln. Die verschiedenen Bereiche hingen eng zusammen: Die Rechtfertigung der Zünfte bezog sich immer gleichzeitig auf ihre 36 Eine vollständige Darstellung der Zünfte im Jahr 1789-1799 liefert Apollonio du Senno; abgedruckt in: Costantini, L'albero della libertà, S. 33. 37 P. Massa, La Repubblica di Genova e la crisi dell'ordinamento corporativo: due elazioni settecentesche degli Statuti dell'Arte della Seta, in: Atti della Società Ligure dì Storia Patria, Jg. 22, 1982, S. 249-268.
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Rolle zur Marktregulierung und ihre soziale Funktion. Im Zeitalter der Reformen brachen alle Fragen zugleich auf. Die nach 1796 gefassten Pläne zur Abschaffung der Zünfte in Venedig mussten äußerst verwickelten Umständen hinsichtlich ihres Eigentums und Vermögens Rechnung tragen. Schien ihr politischer Einfluss auch unvereinbar mit dem neuen Verfassungsmodell, so gefährdete die geplante Beschlagnahmung ihres Vermögens, das vor allem Versicherungscharakter hatte, die bislang von den Zünften übernommene soziale Fürsorge - und dies genau zu dem Zeitpunkt, als die politischen Umwälzungen die Entwicklung neuer Formen öffentlicher Fürsorge behinderten. Bei der endgültigen Abschaffung des Zunftwesens im Jahr 1806 ging die französische Regierung in Venedig behutsam ans Werk, da die lange Verfassungstradition der Stadt keine plötzlichen Neuerungen erlaubte. Es wurde daher eine Konferenz über die venezianischen Zünfte einberufen, um deren Abschaffung im Sinne eines evolutiven Vorgehens vorzubereiten, ohne einen Volksaufruhr zu provozieren.38 Doch nach Abschluss des Auflösungsprozesses im Jahr 1807 und der Bestätigung der französischen Gesetzgebung durch die österreichische Regierung traten die entstandenen sozialen »Lücken« deutlich zutage. Wie Costantini bemerkte: »Auch in Venedig wurde nunmehr das Kapitel der Zünfte geschlossen. Aber dort wie anderswo zeigte sich das Bedürfnis nach Zusammenschluss, Partizipation, Solidarität und ökonomischer Sicherheit, auf das die Zünfte über viele Jahrhunderte hinweg eine historisch wertvolle Antwort gegeben hatten, und beeinflusste entscheidend das Verhalten der neuen gesellschaftlichen und institutionellen Subjekte.«39
38 Costantini, L'albero della libertà, S. 86. 39 Ebd., S. 170.
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Pere Molas Ribalta Die Zünfte im Spanien des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts: Gesellschaftliche, politische und ideologische Aspekte
Die Zünfte - im Spanischen als »gremio«, aber auch als »artes«, »comunes« oder »confraria« bezeichnet - spielten eine wichtige Rolle in der Stadtwirtschaft Spaniens im 18. Jahrhundert. Während die Geschichtsschreibung die Zünfte lange Zeit vor allem im Mittelalter ansiedelte, wird heute dagegen unterstrichen, dass ihr Höhepunkt in Spanien im 17. und 18. Jahrhundert lag.1 Zahlreiche stadtgeschichtliche Monographien veranschaulichen diese Bedeutung der Handwerker. In Saragossa z.B. stellten sie 25% der Stadtbevölkerung im Jahr 1723, davon gehörten 12% zum Textil- und 18% zum Ledergewerbe. 2 Die kastilische Gesellschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich mit Hilfe einer sehr genauen Quelle erforschen, nämlich dem großen Kataster, der im Jahre 1752 erstellt wurde, um eine neue Steuer auf Eigentum zu erheben. Hier stellten die Handwerker 12,5% der berufstätigen Bevölkerung. Besonders zahlreich waren die Handwerker im Textilgewerbe, aber auch unter den Gerbern und Schuhmachern, den Lebensmittelhändlern, den Bau- und Metallhandwerkern, unter den Schneidern und in anderen verarbeitenden Berufen.3 Diese allgemeine Bedeutung lässt sich anhand einiger Beispiele darstellen: In der Provinz Palencia, »der gewerblich wichtigsten kastilischen Provinz« betrug der Anteil der Handwerker an der berufstätigen Bevölkerung 17% um die Jahrhundertmitte, aber bereits 1787 war er auf 25% angestiegen. Von diesen arbeiteten 67% im Textilbereich.4 In der Stadt La Bañeza in dem früheren Königreich Leon gehörten 62% der Familien zum Handwerk, davon 33% zum Textilhandwerk, 7% 1 A. Dominguez Ortiz, Desde Carlos V a la Paz de los Pirineos (1517-1659), Barcelona 1973, S. 151. 2 J . Maiso Gonzalez, Las estructuras de Zaragoza en el primer tercio del siglo XVIII, Zaragoza 1984, Kapitel IV. 3 P. Vilar, Structures de la société espagnole vers 1750, in: Mélanges Sarraihl, Paris 1966, S. 436-439. 4 A. Marcos, Economía, sociedad, pobreza en Castilla. Palencia 1500-1814, Bd. 1, Palencia 1985, S. 52 ff.
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waren Gerber und Schuhmacher. 5 In der Provinz von Mondonedo, in Galizien, zählten die Schneider (33%), Schuster (25%), Zimmerleute (24%) und Schmiede (15%) zu den verbreitetsten Handwerksberufen. 6 Aber nicht alle Handwerker gehörten einer Zunft an. Manche von ihnen lebten verstreut auf dem Land. Daneben gab es freie Meister und Berufe sowie nicht zünftig eingebundene Gesellen und Arbeiter. Die ländlichen Gewerbe z.B. in Galizien waren allerdings zum Teil zünftig organisiert. In einigen Gebieten im Nordwesten der Provinz mussten sich auch ländliche Handwerker einer Eingangsprüfung unterziehen, um ihren Beruf ausüben zu können. In einer Stadt wie Bañeza hatten sich die Handwerker ebenfalls in Zünften zusammengeschlossen. Dadurch wurde ihre Arbeit und Produktion kontrolliert, gleichzeitig regelten Zunftbestimmungen den technischen Ablauf der Produktion. In der Diözese Mondonedo waren die Zünfte zwar schwach, wenig verbreitet und nicht spezialisiert, doch auch hier schafften sie es, den Zugang zum Berufjenen zu verwehren, die keine Meisterprüfung abgelegt hatten. Es gelang ihnen mit Hilfe der städtischen Behörden, Inspektoren zu bestimmen, die die Einhaltung der Zunftordnungen in der Stadt überprüften. In anderen Städten wie in Santiago de Compostella standen am Ende des 18. Jahrhunderts vier großen Gremios (den Eisenschmieden, Schneidern, Bauarbeitern und Schustern) 13 kleinere Gremios gegenüber.7 Die ersten vertraten die wichtigsten und zahlenmäßig bedeutendsten Berufe. Am anderen Ende Spaniens finden wir Alcoy, ein wichtiges Zentrum der Tuchherstellung im Königreich Valencia. Neben den Tuchherstellern existierten folgende Zünfte: 1. die Schlosser und Schmiede, 2. die Zimmerleute, 3. die Schuhmacher und 4. die Schneider.8 Auch in einer anderen valenzianischen Stadt, Gandia (1774/75) auf der Insel Mallorca, oder in den katalanischen Städten Matario und Igualada gehörten diese Sektoren zu den am stärksten zunftmäßig organisierten. Der harte Kern des Zunftwesens setzte sich in der Regel aus den genannten Gewerben zusammen, d.h. sie konzentrierten sich auf den Bausektor, die Metallherstellung, die Schuhfabrikation, die Konfektion. Aber daneben gab es in den meisten Städten auch nicht spezialisierte Zünfte, die verschiedene Berufe umfassten. 9 Den Bruderschaften unter dem Schutz des heiligen Eloi gehörten in Katalonien alle mit »der Kunst des Feuers« verbundenen Berufe und selbst die Goldschmiede an. In eher wirtschaftlich spezialisierten Städten wie Solsone, im Landesinneren von Katalonien, waren immerhin 19% aller Hand5 6 1830, 7 8 9
L. Rubio, La Bañeza v su tierra, 1650-1850, León 1987, S. 328 ff. P. Saavedra, Economía, política y sociedad en Galicia. La provincia de Mondonedo, 1480Coruña 1985, S. 308 ff. B. Barreiro, Los gremios compostelanos, Sonderdruck. V. Conejero Martinez, Gremios e iniciosdela Revolucion Industnal en Alcoy, Alicante 1981. P. Molas Ribalta, Economia i Sodetat al segle XVIII, Barcelona 1975, S. 18.
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werker Mitglieder in den Bruderschaften, den »Elois« wie sie genannt wurden. Die Bruderschaften, die sich auf den heiligen Markus bezogen, umfassten im allgemeinen alle lederverarbeitenden Berufe, wie Schuhmacher, Gerber, Gürtelmacher usw. Die Schuhmacher organisierten sich bisweilen in eigenen Bruderschaften, die nach dem heiligen Crispin benannt waren. Während man zwölf verschiedene Berufsgruppen und spezielle Qualifikationen in der Bruderschaft der Zimmerleute in Mataro findet, gehörten hingegen im Jahr 1748 in Igualada die Schneider und Schuhmacher einer gemeinsamen Zunft an. In derselben Stadt waren auch seit 1754 die Zimmerleute und die metallverarbeitenden Handwerker in einer sicherlich heterogenen Zunft organisiert. 10 U m die verschiedenen Erscheinungsformen der Korporation in unterschiedlichen Städten und Berufen noch stärker zu betonen, sollen hier noch einige katalanische Beispiele angeführt werden. Manresa z.B. zählte ca. 20 Zünfte, von denen die meisten erst in der frühen Neuzeit gegründet worden waren. Ein Drittel der Zünfte war hier allein im Textilbereich angesiedelt. 11 Reus, im 18. Jahrhundert auf Grund seiner Einwohnerzahl wie auch seiner wirtschaftlichen Produktion die zweitwichtigste Stadt in Katalonien, zählte 23 Zünfte, von denen acht dem Textilgewerbe angehörten.12 Manresa und Reus waren als wichtige Zentren der Seidenproduktion auf die Herstellung von Stoffen, Bändern und Posamentierwaren spezialisiert. Auch die großen Städte wie Madrid und Barcelona kamen auf ca. 100 Zünfte, die sich vor allem im großen Konsumzentrum Madrid in der Herstellung von Luxuswaren und der Verarbeitung von Lebensmitteln konzentrierten. Die Zünfte in den Großstädten wiesen häufig komplexe Strukturen auf. So war die Zunft der Tischler in Valencia im Jahre 1777 in 20 Spezialisierungen, sogenannte »Arme« unterteilt. Jeder dieser Arme konnte seinerseits wieder verschiedene Berufszweige organisieren. Die Madrilener Schneiderzunft besaß 1741 »verschiedene vereinte Arme« wie die Sockenhersteller und Trödler. Auch die Waffenschmiede kannten sieben Unterabteilungen, die keineswegs alle mit der Herstellung von Waffen beschäftigt waren. 13 Die Bruderschaft des heiligen Julian der Kurzwarenhändler in Barcelona war z.B. ein Zusammenschluss von Kleinberufen, zu denen die Handschuhmacher, die Trödler, die Hutmacher usw. gehörten.14 Die Zünfte überwachten die handwerkliche Produktion. Manche von ihnen bestellten dafür sogar besondere »Aufseher« (veedores), die nicht mit den nor10 P. Molas Ribalta, Societat i poder polític a Mataró, 1718-1808, Barcelona 1973, S. 25 f.; den., Els gremis d'igualada a la fi de l'Antic Règim, in: Miscellanea Aqualatensia, Nr. 2, Igualada 1974, S. 140-149. 11 J . Sarret Arbos, Monumenta Historica Minorissae. Historia de Manresa, III, Història de la industria, comerç i gremis, Manresa 1923, S. 184. 12 A. de Bofarull y Broca, Anales históricos de Reus, Reus 1866. 13 Archiv des Königreichs von Valencia, Real Acuerdo, Buch 36 (1741), S. 551-558. 14 P. Molas Ribatta, Los gremios barceloneses de siglo XVIII, Madrid 1970, S. 83-85.
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malen Zunftmeistern identisch waren. Seit dem ausgehenden Mittelalter gab es in zahlreichen Städten auch technische Kurse, um die Herstellung von Tüchern, Seidenstoffen und Farben überwachen zu können. Doch diese Einrichtungen, ebenso wie die Manufakturinspektoren, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Madrid und anderswo eingeführt worden waren, verschwanden um 1780 unter dem Einfluss wirtschaftsliberaler Ideen. Im gleichen Zeitraum wurde auch das Consulat de Pont in Barcelona abgeschafft, das die Tuchherstellung der Stadt überprüfte.15 Die Gründung neuer Zünfte durchzog das ganze 18. Jahrhundert und riss bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts nicht ab. Gleichzeitig wurden die Ordnungen der bestehenden Zünfte periodisch erneuert. So ergingen in Burgos im Laufe des 18. Jahrhunderts für folgende Berufe neue Ordnungen: die Schuhmacher (1729), die Bandwirker (1751), die Hutmacher (1752), die Müller (1755), die Messerschmiede (1774) und die Maurer (1755). 16 In den ersten Regierungsjahren Karls III. erhielten manche Zünfte ihre Ordnungen auch direkt vom königlichen Rat.17 Im Jahr 1760 erließ dieser fünf Ordnungen, 1762 drei, 1763 ebenfalls drei, 1764 eine, 1765 drei und 1768 vier. Diese Ordnungen betrafen vor allem Berufe im Textilgewerbe, wie die Tuchhersteller von Akoi oder Bejaar, die Posamentierer von Valladolid, die Färber aus Valencia, die Bandwirker aus Barcelona, die Strumpfhersteller aus Saragossa. Die große Zahl der Zünfte darfjedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten nur wenige Meister organisierten. Ihre Vielfalt war vielmehr Ausdruck der technischen Arbeitsteilung. In den meisten Berufszweigen dominierten eine oder zwei Zünfte.18 Die holzverarbeitenden Gewerbe in Madrid waren hingegen in zehn Zünfte mit 496 Meistern zersplittert. In allen Bereichen der Konfektion standen die Schneider über anderen kleineren Gewerben. In ihrem Sektor hatten auch die Goldschmiede eine führende Rolle inne. Je nach Gewerbe organisierten sich die Zünfte entlang der verschiedenen Etappen der Herstellung oder aber nach den hergestellten Produkten. Bei der Tuchherstellung folgten sie dem ersten Prinzip und gaben den Webern, den Färbern, den Walkern und Fabrikanten eine eigene Organisationsform. Am Endprodukt orientierte sich dagegen die Einrichtung von Zünften der Stoff- und Velourshersteller, der Bandwirker, der Posamentierer und der Strumpfwirker.19 15 P. Molas Ribalta, El consolat del Pont de Campderà. Un tribunal tècnic de la indústria drapera, in: Pedralbes, Revista d'Història Moderna, Jg. 9, 1989, S. 139-155. 16 J . Uña Sarthou, Las asociaciones obreras en España. Aportación a su Historia, Madrid 1900, S. 278. 17 Colección de Reales Cédulas del Archivo Histórico Nacional. Catálogo, hg. v. N . Moreno Garbayo, Madrid 1977, S. 1. 18 A. Dominguez Ortiz, La sociedad española del siglo XVIII, Madrid 1955, S. 202; ders. Sociedad y estado en el siglo XVIII español, Barcelona 1976, S. 390. 19 P. Molas Ribalta, Los grermos, Kapitel XXII und XXTV.
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Die traditionelle Geschichtsschreibung vertrat die These, dass die Zünfte den wirtschaftlichen Fortschritt bremsten. Diese Meinung wird auch durch einige Forschungen über Sevilla unterstützt, die betonen, wie schwach die Produktion der Zünfte in der Stadt war. Wirtschaftshistoriker haben indes unterstrichen, dass Sevilla während des gesamten Ancien Regimes nie ein bedeutendes gewerbliches Produktionszentrum war. Immer war der Handel bedeutender als das herstellende Gewerbe, und dennoch seien selbst die Zünfte der Einzelhändler vom Abstieg betroffen gewesen.20 Die Zahl der Zünfte der »vereinten Kaufleute« ging während des 18. Jahrhunderts von 27 auf 10 zurück. In Sevilla war die Struktur des Zunftwesens seit 1550 in ihren Grundzügen festgelegt und erfuhr danach nur wenige Veränderungen. Die Zünfte waren in kleinste Organisationseinheiten mit jeweils nur wenigen Meistern unterteilt. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stagnierte das Gewerbe weitgehend und erreichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts sein niedrigstes Niveau. Aus anderen - sicherlich traditionelleren Quellen - lässt sich ein weniger düsteres Bild der wirtschaftlichen Entwicklung in Sevilla zeichnen. So zählte man im Jahre 1790 mehr als 7000 Arbeiter und Gesellen in der Seidenherstellung, 779 in Bäckereien, und allein 550 Arbeiter im Gewerbe der Seifensieder. Es gab auch 534 Schuhmacher, 393 Hutmacher, 253 Tischler, 158 Goldschmiede, 75 Schlosser usw. Laut F. Aguilar Pinal befand sich die zünftige Welt in einem »wirtschaftlichen Gleichgewicht«, war aber auch je nach Sektor durch starke Unterschiede geprägt.21 Andere Wirtschaftshistoriker formulieren den Zusammenhang zwischen Handwerkern und industrieller Revolution auf andere Weise. Sie unterstreichen, dass die Existenz spezialisierter und sozial angesehener Handwerker ein wichtiger und positiver Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung war,22 wie man in Katalonien feststellen kann, wo die zahlreichen Zünfte im Industrialisierungsprozess auf der iberischen Halbinsel eine Vorreiterrolle spielten.23 Neuere Forschungen über einzelne Zünfte fehlen indes weitgehend. Manche sind allerdings von Kunsthistorikern untersucht worden, die sich mit dem Luxuskonsum und der Zunft der Bandwirker in Madrid befassten.24 Besondere Aufmerksamkeit haben auch die Goldschmiede in Valencia und in Sevilla sowie
20 A. M. Bemal, A. Collantes de Teran u. A. Garcia Baquero, Sevilla, de los gremios a la industrialización, in: Estudios de Historia Social, Jg. 5-6, 1978, S. 7-307. 21 F. Aguilar Piñal, Historia de Sevilla, Sielo XVIII, Sevilla 1982, S. 134 u. 185. 22 J . Torras, Corporations et liberté de fabrication en Espagne au XVIII siècle, in: Revue du Nord, Jg. 76, 1994, S. 745-751. 23 P. Molas Ribalta. Los gremios, S. 260 ff. u. 453 ff 24 A. Lopez Castan, El gremio de pasameneros de Madrid en el siglo XVIII, in: Anales del Instituto de Estudios Madrileños, Jg. 23, 1986, S. 207-225.
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deren Zünfte gefunden. 25 Diese bestanden auch nach der offiziellen Abschaffung der Gremios weiter fort. Zünfte organisierten nicht nur die Produktion, sondern auch die soziale Arbeitsteilung. Die gesellschaftliche Organisation der Arbeit im Spanien des Ancien Régimes ist in ihren groben Zügen bekannt. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Handwerksmeister waren demnach meist nicht idyllisch. Die Einkommen der Meister lagen lediglich um 40 bis 50% über denen ihrer Gesellen. Sehr häufig hingen die Handwerker von Kaufleuten oder reicheren Meistern ab. Es wird auch von Meistern berichtet, »die wie die Gesellen arbeiteten«.26 Zwischen Arbeit und Kapital bestand keine Kluft. Am Ende des Zunftsystems verschärfte sich die Proletarisierung der Meister: Die meisten arbeiteten allein, ohne Lehrlinge oder Gesellen. Der Status des Gesellen war in Spanien weniger klar definiert als in Frankreich. So gab es in Spanien keine Geheimorganisationen, aber in bedeutenden Gewerben, wie unter den Schneidern, Schustern und manchen Seidenhandwerkern, schlossen sich die Gesellen zu Vereinigungen zusammen, die institutionelle Beziehungen zu den Meistern unterhielten. 27 In Saragossa herrschte der kleine Familienbetrieb vor. In ihm bestanden paternalistische Verhältnisse, innerhalb derer die Geselligkeit und die Sicherheit der Arbeiter wichtiger waren als der verdiente Lohn.28 Viele Lehrlinge gaben allerdings den Handwerksberuf auf, wurden Dienstboten oder Tagelöhner, und viele Meister hatten nur einen Lehrling - nicht auf Grund der Zunftordnung, sondern weil sie sich mehr nicht leisten konnten. Den Zünften des Kleinhandels kam eine besondere Bedeutung zu. Die wichtigsten waren die fünf großen Zünfte in Madrid (gremios mayores), denen die Tuch-, Gemischtwaren-, Kolonialwaren- und Goldwarenhändler ebenso wie die Goldschmiede angehörten. Dieses Modell existierte unter verschiedenen Bezeichnungen auch in anderen spanischen Städten. In manchen Städten wurden die Zünfte der Einzelhändler unter dem Namen »allgemeine Zunft des Handels« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reorganisiert. Mit dieser Bezeichnung wollten sie sich den Zünften der Großhändler annähern, die sich seit 1758 nach dem Modell von Barcelona erneuerten und den bestehenden Handelsgerichten neue Juntas oder Handelsräte zufügten.29
25 D. Garcia Cantus, El gremio de plateros de Valencia en los siglos XVIII y XIX, Valencia 1985; M. J . Sanz, El gremio de plateros sevillano, 1344—1867, Sevilla 1991. 26 P. Molas Ribalta, Los gremios, S. 76-80. 27 Ebd., S. 58. 28 Maiso y Blasco, Instituciones eremiales, S. 182. 29 P. Molas Ribalta, La burguesía mercantil en la España del Antiguo Régimen, Madrid 1985, S. 177; Dominguez Ortiz, Sociedad y estado, S. 389.
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1. Die Zünfte und die sozialen Klassen Durch die Kontrolle und Einschränkung der wirtschaftlichen Konkurrenz sollten die Zünfte den Lebensunterhalt der Meister garantieren und auch den Platz der Meister in der sozialen Hierarchie absichern. Dies ermöglichte den Handwerksmeistern, ihre kollektive Identität in einer hierarchisierten Gesellschaft darzustellen. Die Zünfte bildeten ein halb geschlossenes soziales Milieu. Söhne und Schwiegersöhne der Meister machten in manchen Zünften bis zu 50% der Meister aus. Unter den Kolonialwarenhändlern Barcelonas betrug der Anteil der Söhne und Schwiegersöhne von Meistern 52%, unter den Seidenstofïherstellern lag ihr Anteil bei 50% und unter den Tuchherstellern bei 36%. 30 Die Meisterprüfungen glichen weniger einer Überprüfung der beruflichen Kenntnisse als einer wirtschaftlichen und familiären Selektion. Die Schneider von Saragossa verlangten z.B., dass der spätere Meister »fähig« und »reich« sein müsse, um die Ausgaben der Zunft mittragen zu können. Die Formen der Diskriminierung waren abgestuft. Einheimische Stadtbürger wurden gegenüber Zugezogenen begünstigt. Die Zünfte in Santiago de Compostella staffelten z.B. die Aufnahmegebühren in die Zunft. Lehrlinge wurden ebenfalls zur Kasse gebeten, und je länger ihre Lehrzeit dauerte, desto teurer kam sie ihnen zu stehen. Dennoch waren die Zünfte in Santiago de Compostella niemals vollständig geschlossen, denn mehr als 70% aller Lehrlinge kamen von außerhalb. 31 Bis in das Jahr 1833 hinein, als der letzte Restrukturierungsversuch unternommen wurde, herrschten Bedingungen vor, die den Söhnen und Schwiegersöhnen der Meister eine privilegierte Position bei der Meisterprüfung garantierte. Dadurch bildeten sich in manchen Berufen wahre Handwerkerdynastien heraus. 32 Für viele Historiker stellen die Zünfte eine »Aristokratie der Arbeiterklasse« dar, die ein Bindeglied zu den Mittelschichten bildete. Doch herrschte unter den Zünften selbst eine deutliche Hierarchie. Manche Berufe wurden als ehrenvolle Kunst angesprochen, wie z.B. die Seidenherstellen In Katalonien und auch in Valencia bezeichneten sich die Zünfte in diesen Bereichen als Künstlerkollegien, um sich von den einfachen Bruderschaften der Handwerker abzusetzen. Auch Maler und Bildhauer versuchten, sich in derartig abgehobenen Korporationen zu organisieren. Die Goldschmiede ihrerseits zeichneten sich durch ein besonderes Standesbewusstsein aus, das sich in ihren Ordnungen und in den wichtigsten Städten in der Bezeichnung der Zünfte als »Kollegium«, »Kongregation« und »Kunst« ausdrückte. In der Regel hing die soziale Achtung 30 P. Molas Ribalta, El exclusivismo de los gremios de la Corona de Aragon. Limpieza de sangre y limpieza de oficios, in: Les sociétés fermées dans le monde ibérique, Paris 1986, S. 63-80. 31 Barreiro, Los gremios compostclanos, S. 18-21. 32 Molas Ribalta, Economia i societat, S. 94—97.
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von der Funktion des Berufes in der Stadtwirtschaft ab. Dies lässt sich z.B. an der Bedeutung der Seide in den großen Städten Mittel- und Südspaniens zeigen, in denen die Zunft der Seidenhersteller als »Arte Mayor« bezeichnet wurde.33 Dort, wo die Eisenverarbeitung wichtig war, wie in Cantabrique, erhielten die Handwerker dieses Bereiches hohe Löhne und genossen gesellschaftliches Ansehen. Die sich höher dünkenden Zünfte in Spanien entlehnten die Mittel der sozialen Segregation bisweilen jenen des Adels. In Anlehnung an die »Reinheit des Blutes« sprachen sie von »der Reinheit des Berufes«, ohne diese Vorstellung allerdings genauer zu präzisieren.34 Am Ende des 18. Jahrhunderts übten die spanischen Zünfte keinen nennenswerten politischen Einfluss in den Städten aus. In Kastilien unterstanden sie immer dem Stadtrat (Ayuntamiento), und in Aragon hatten sie ihr Mitwirkungsrecht in den Stadträten nach den Erbfolgekrìegen verloren. 35 Gegenüber der königlichen Verwaltung spielten die Zünfte jedoch eine wichtige Rolle bei der Organisation von Festen, der Aushebung von Rekruten und der Erhebung von Steuern. Sie waren ein Instrument zur Organisation der städtischen und der staatlichen Finanzverwaltung. Selbst wenn sich die Zünfte manchmal darüber beklagten, wie teuer sie die Ausrichtung der Feste zu stehen kam, und wie sehr ihre Finanzen dadurch belastet wurden, so war ihre Mitwirkung an religiösen und staatlichen Umzügen doch ein wichtiges Mittel der Selbstdarstellung. Zu Ehren der Monarchie organisierten sie Triumphzüge, Reitergesellschaften und Umzüge der verschiedenen Berufe. Sie spielten 1731 eine wichtige Rolle bei der Organisation der Feste zu Ehren von Karl von Bourbon in Barcelona und Valencia und erneut in Valencia im Jahre 1738. Sie nahmen auch an den Feiern anlässlich der Proklamation Ferdinands VI. in Madrid und in anderen Städten teil. Auch in Galizien partizipierten die Zünfte an derartigen Festivitäten.36 Mehr als 40 Zünfte beteiligten sich 1789 in Valencia an der Feier zur Proklamation Karls VI., der auch in Barcelona im Jahre 1802 von den Zünften empfangen wurde. Der letzte Umzug der Zünfte fand in Reus 1833 statt, um die Proklamation von Isabella II. zu feiern. Die Ordnung der öffentlichen und religiösen Umzüge war immer sehr umstritten. In Valencia genossen die Tuchhersteller als älteste Zunft im Prinzip Vorrang vor allen anderen Berufen, doch machten ihnen die Maurer diese Position streitig. Der königliche Gerichtshof in Galizien musste sogar in einem Prozess über den Vorrang unter den Zünften von Santiago de Compostella Recht sprechen, da die Silberschmiede den ersten Platz bei der Feier der königlichen Proklamation 1746 beansprucht hatten. In Mondonedo unterzeichneten 33 Molas Ribalta, Los gremios, S. 48 ff; ders., La burguesía, S. 178 ff. 34 Molas Ribalta, La burguesía, S. 192 ff. 35 J . Mercader Riba, Felip V i Catalunya, Barcelona 1968, S. 105-110. 36 R. J . Lopez, Ceremonia y poder a finales del Antiguo Regimen. Galicìa 1700-1833, Santiago de Compostella 1985, S. 45 f.
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die Schneider und Fischer ein Abkommen, in dem sie sich verpflichteten, sich an der Spitze der Fronleichnamsprozession abzuwechseln. Vor allem die reichen Meister entwickelten einen Lebensstil und ein Standesbewusstsein, welches sie auch durch bestimmte Gewänder und offizielle Auszeichnungen nach außen deutlich machten. Bei religiösen und öffentlichen Umzügen trugen sie sogar den Degen. Vor allem den Zünften geneigte Publizisten unterstrichen, wie sehr die zünftigen Zeremonien die Handwerker für ihre fehlende soziale und politische Stellung entschädigten. 37 Die Religion gehörte zu den elementaren Bestandteilen des Zunftlebens, und so wurden die Zünfte in Katalonien gemeinhin als Bruderschaften bezeichnet. Die Bezeichnung »Gremio« stammte aus Kastilien. Bis ins 18. Jahrhundert hinein waren die religiösen Funktionen der Zünfte sehr lebendig. Noch im 19. Jahrhundert schreiben die Zunftordnungen diese religiösen Verpflichtungen fest. Aufklärer kritisierten die nach ihrer Meinung übertriebene Zahl religiöser Feste und die Ausgaben, die sie bei den Zünften verursachten. 38 Historiker am Ende des 19. Jahrhunderts, wie der Franzose Desdevisses du Dezert,39 sahen in der Unterstützung für Meister und deren Familien die einzig positive Funktion der Zünfte. Die gegenwärtige Forschung hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, wie begrenzt die Hilfsmöglichkeiten bei Arbeitslosigkeit und Krankheit waren. Ihrer Meinung nach fiel die Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen der Handwerker und den Möglichkeiten der Zünfte im sozialen Bereich besonders auf Die Zünfte konnten ihren Mitgliedern im Krankheitsfall nur kleine und unregelmäßige Unterstützungen oder moralische Hilfe bieten.40 Der religiöse Beistand der Zünfte war bedeutender als der materielle. Dies wurde bei Begräbnissen besonders deutlich. In dieser Hinsicht waren alle Zunftordnungen sehr präzise und ausführlich. Laut Desdevisses zeigten sich die Bedeutung und der Einfluss der Zünfte in erster Linie bei diesen Anlässen. Für die Zunftmitglieder bedeutete die Teilnahme an Begräbnissen einen freien Tag und erhöhte Ausgaben für Kerzen. Vor allem in Santiago de Compostella und auf Mallorca wird darüber geklagt, dass die Ausgaben der Zünfte für die Beerdigungen zu hoch seien.
37 38 39 1904, 40
Molas Ribalta, Los gremios, S. 179 u. 183. Ebd., S. 99-104. G. Desdevisses du Dezert, L'Espagne de l'Ancien Régime. La richesse et la civilisation, Paris S. 64. Barreiro, Los gremios compostelanos, S. 28 ff.
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2. Die Gesetzgebung des aufgeklärten Absolutismus Zwischen 1760 und 1790 änderte sich die Einstellung der Regierungen in Spanien gegenüber den Zünften. Wenngleich sie nicht beseitigt, sondern zunächst nur kritisiert wurden, so beschnitt die Gesetzgebung doch zunehmend ihre Kompetenzen. Zunächst unter dem Einfluss der Aufklärung und dann des Liberalismus fassten die verschiedenen Regierungen immer radikalere Reformen der Zünfte ins Auge. Die Proklamation der Freiheit der künstlerischen Berufe während der Regierungszeit Karls III (1782-1785) führte dazu, dass die Zünfte der Maler und Bildhauer verschwanden. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden immer neue Gesetze in diesem Sinne durchgesetzt.41 Zunftordnungen, die die Zunftzugehörigkeit nur Ortsansässigen vorbehielten, wurden untersagt (1772-1777). Auch Frauenarbeit war in gewissen Berufen zugelassen, um die Zahl der Arbeitskräfte zu erhöhen (1777-1784). Selbst unehelich geborenen Söhnen konnte ab 1784 die Aufnahme in eine Zunft nicht verwehrt werden. Vor allem im Textilgewerbe verloren Beschränkungen an Gewicht. Im Jahre 1784 wurde die Seidenstrumpfherstellung von den »Zunftzwängen« befreit und im Tuchgewerbe Gewerbefreiheit eingeführt. Ab 1786 konnten Woll- und Seidenhersteller Produktionsmethoden verändern oder Produkte und Verfahrensweisen imitieren. Im gleichen Jahr konnten die Arbeitsmittel der Handwerker nicht mehr gepfändet werden. 1789 endlich wurde das gesamte Textilgewerbe von den Zunftzwängen befreit. In einem Zeitraum von zehn Jahren hoben die staatlichen Instanzen alle technischen Beschränkungen auf Ein wichtiger Fortschritt in der spanischen Sozialgesetzgebung war eine Erklärung aus dem Jahre 1783, wonach einfache Handwerker wie Gerber, Schneider, Schuhmeister usw. ehrbare Männer seien und auch an der Stadtregierung teilnehmen durften. Dadurch sollten soziale Vorurteile gegen diese Berufe beseitigt werden, die einer Ausdehnung des Handwerks im Wege gestanden hatten.42 Die Angriffe auf die Zünfte setzten sich in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts fort. Im Jahre 1793 wurde zumindest auf dem Papier die Zunft der Seidenzwirner beseitigt. In den Jahren 1797 und 1798 gestatteten zwei königliche Dekrete die gleichzeitige Ausübung von zwei Berufen. Des weiteren begrenzten sie die Bedeutung der Meisterprüfung für die Ausübung des Berufes. Die Gesetzgebung des aufgeklärten Absolutismus hatte die Kompetenzen der Zünfte zwar deutlich eingeschränkt, doch erst die Liberalen der »Cortes di Cadiz« wagten sich an ihre Auflösung. Ein Jahr nach der Proklamation der Ver41 Die Gesetze lassen sich anhand der Novísima Recopilación de las Leyes de España, Madrid 1805 (Neuauflage Madrid 1976), verfolgen. Band VIII, Titel XXIII, behandelt das Handwerk. 42 Molas Ribalta, La burguesía, S. 204.
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fassung von 1813 erklärte ein Dekret der Cortes die Gewerbefreiheit, ohne jedoch die Zünfte formell zu beseitigen.43 Die absolutistische Regierung restaurierte die Zünfte nach 1814, aber sie reformierte sie auch, um Monopolbildungen zu verhindern. Die Gesetzgebung durchlief verschiedene Phasen unter den absolutistischen Regierungen (1814-1820, 1823-1833) und unter liberalem Einfluss (1820-1823). Die verschiedenen Regierungen versuchten, die von der Industrie geforderte Gewerbefreiheit und die Zunftordnungen in Einklang miteinander zu bringen, indem sie den Ordnungen ihren Zwangscharakter nahmen. Die Reform der Zunftordnungen oblag der allgemeinen Handelsjunta. Dennoch scheint eine Reform weitgehend ausgeblieben zu sein, da die Ordnungen des 18. Jahrhunderts ohne Änderungen neu gedruckt wurden.44 Am Ende der Regierungszeit Ferdinands IV, der 1833 verstarb, plante die absolutistische Verwaltung, die einzelnen Zunftordnungen durch eine allgemeine Handwerksordnung zu ersetzen. Noch 1833 betonte die Regierung, dass ein wohl geordnetes Zunftwesen seinen Mitgliedern politische Achtung verleihe und die öffentliche und administrative Ordnung sichere. Doch der Gesetzentwurf von 1830 zu einer allgemeinen Neuordnung kam nicht ohne anti-zünftige Rhetorik aus: Demnach, so der Entwurf, strebten die Zünfte nach einem Monopol, außerdem seien die Zunftordnungen zwanghaft und absurd und stellten nicht zuletzt ein Hindernis für die Entwicklung der Industrie dar.45 In der Übergangszeit zu einem konstitutionellen Regime stand die Reform der Zünfte auf der Tagesordnung. Im Januar 1834 schließlich untersagte man alle Vereinigungen, welche die Produktion monopolisierten. Alles, was die Gewerbefreiheit oder »die freie Konkurrenz zwischen Arbeitern oder Kapital« behinderte, wurde abgeschafft. Die Zünfte bestanden zwar fort, doch ohne ihre eigenständige Jurisdiktion. 46 Als die konstitutionelle Regierung 1836 das Dekret aus dem Jahre 1813 erneuerte, hob sie auch die Privilegien der Zünfte auf Dies ist nicht mit einer eigentlichen Abschaffung der Zünfte gleichzusetzen, doch de facto verschwanden die meisten nach wenigen Jahren. In den 1840er Jahren sind allerdings mancherorts, wie in Barcelona, Versuche festzustellen, der sozialen Frage durch eine Restauration der Zünfte zu begegnen. Doch nur wenige Zünfte überlebten als religiöse Vereine oder als Wohlfahrtseinrichtungen bis ins 20. Jahrhundert. Diese schnelle Auflösung des Zunftsystems zeigt seine innere Schwäche nach einer langen Phase des Niedergangs. 47 Über die Lage der spanischen 43 Molas Ribalta, Los gremios, S. 594; J . Verttallo, Historia de la industria lanera catalana. Monografïa de sus antiguos gremios, Tarrasa 1905, S. 539; J . Carrera Pujal, La economía de Cataluña en el siglo XIX, Barcelona 1961, Bd. 2, S. 417. 44 Carrera Pujal, La economía, S. 418 ff. 45 Ventallo, Historia de la industria, S. 560 ff. 46 Ebd., S. 571; Carrera Pujal, La economía, S. 467. 47 Molas Ribalta, Los gremios, S. 352-354.
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Zünfte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfahren wir aus einem Bericht des »foreign office«, den die britische Regierung anforderte, um die Situation der Londoner Korporationen (sog. Livery companies) mit anderen europäischen Institutionen zu vergleichen. Darin heißt es: »In Spain many of the medieval guilds still exist. Their rule as to apprenticeship were cancelled in 1836, but they were not dissolved and still survive as benefit societies and trade Council.«48
3. Kritik und Geschichtsschreibung der Zünfte Die Politik der allmählichen Unterdrückung des Zunftwesens ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von zahlreichen Autoren verfolgt worden, die sich mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigten und in ihrer überwiegenden Mehrheit zunftfeindlich eingestellt waren. Ihre Sichtweise hat sicher auch unsere Wahrnehmung der »Gremios« beeinflusst und wurde von vielen Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts übernommen. Es ist kein Zufall, dass die Verteidiger der Korporationen vor allem aus Katalonien oder aus Valencia stammten, wo die Zünfte auf eine lange und lebendige Tradition zurückblicken konnten. Der Katalane Antoni de Capmany verfasste 1778 eine erste Abhandlung über den Einfluss der Zünfte auf die Sitten der Völker und auf die Entwicklung des Gewerbes. 49 Hierbei hatte er die Ideen der Enzyklopädie und die Politik Turgots gegenüber den Zünften vor Augen. Er behandelte die Vorteile, die eine Aufteilung des Volkes in Zünfte für die gute »Policey« habe. Positiv war auch seine Schilderung der Rolle der Zünfte in seinem historischen Werk über die Stadtwirtschaft Barcelonas im Mittelalter, den »Memorias historics« aus dem Jahre 1779. Der Priester Danvila aus Valencia fasste die um die Zünfte entbrannte Polemik sehr gut zusammen. Die Kritiker wie die Verteidiger, führte er aus, bezogen sich auf zwei in der Wirklichkeit nicht existente Idealtypen. Laut Danvila waren gut geführte Zünfte dem wirtschaftlichen Fortschritt und der sozialen Stabilität durchaus zuträglich.50 Die Abhandlung Capmanys war auch als Antwort auf den Minister Campomanes gedacht, der sich im Jahre 1774 sehr feindselig über das Zunftwesen geäußert hatte. Er kritisierte die autonome Gerichtsbarkeit und die Monopol48 British Parliamentary Papers, City of London Livery Companies Commission, London 1884, S. 18. 49 1778 veröffentlichte Capmany unter dem Pseudonym R.M. Palacio die Abhandlung Discurso economico - politico en defensa del trabajo mecánico de los menestrales, y de la influencia des sus gremios en las costumbres populares, conservation de las artes, y honor de los artesanos in Madrid. 50 J . Danvita, Lecciones de Economia o del comercio, o.O. 1779, S. 105 f.
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Stellung, die seiner Meinung nach die Entwicklung des Gewerbes behinderten. Außerdem bemängelte er das Fehlen einer technischen Ausbildung sowie die hohen Kosten der Bruderschaften. Für den Minister standen die »exklusiven Zünfte« im Widerspruch zu Industrie und »guter Policey«. Er kritisierte die eingefahrenen Arbeitsmethoden der Zünfte und das religiöse Leben der Bruderschaften. Lediglich die Nützlichkeit der Prüfungen fand seine Zustimmung. Daher schlug er eine Reform der Zunftordnungen vor, um die von ihm genannten Missstände zu beseitigen. 51 1777 ließ Campomanes das Werk von Bernard Ward, eines im Dienste Spaniens stehenden Irländers, publizieren, das dieser schon 1762 verfaßt hatte. Das »Proyecto Economico« von Ward bezeichnete die Zünfte als Hindernis für den gewerblichen Fortschritt: Sie schränkten die Freiheit seiner Meinung nach ein und verleiteten die Handwerker zu unnötigen Ausgaben. Allerdings schlug Ward nicht die Abschaffung der Zünfte vor, sondern lediglich ihre Reform oder ihre Veränderung durch eine allgemeine Revision der Zunftordnungen. 52 Der Aragonese Normante, Professor für politische Ökonomie und Mitglied der Wìrtschaftsgesellschaft der Freunde von Saragossa, schrieb 1784, dass er die technische Ausbildung durch die Zünfte befürworte, aber dass er die von ihnen ausgeübte Ausschaltung der Konkurrenz ablehne.53 Laruga, Archivar der allgemeinen Handelsjunta in Aragon, griff besonders die öffentlichen und religiösen Züge des Zunftlebens an und kritisierte die Ausgaben für religiöse Feste ebenso wie den Dünkel der Handwerksmeister. 54 Der Magistrat Colon de Larreategui, Unterdelegierter bei der Junta in Valladolid, betonte im Jahre 1781, wie traditionsverhaftet die technische Ausbildung der Handwerker sei.55 Die Regierung beauftragte die Wirtschaftsgesellschaften mit der Studie einer möglichen Reform der Zünfte. Die Gesellschaft in Madrid schlug hierauf ein Reformprogramm für die holzverarbeitenden Berufe vor.56 Manche Gesellschaften (Segovia, 1781, Valencia, 1783) organisierten Wettbewerbe, um zu bestimmen, welche Zünfte beseitigt werden müssten. Die Gesellschaft in Saragossa regte an, die Ordnungen für alle Handwerker der Stadt zu vereinheitlichen, was jedoch am Widerstand der Handwerker scheiterte.57 51 P. Rodriguez Capomanes, Discurso sobre la educación popular de los artcsanos y su fomento Madrid 1775 (Neuauflage 1975). 52 B. Ward, Proyecto económico, Madrid 1779 (ND 1982), Zusammenfassung bei J . Sarraith, L'Espagne éclairée de la deuxième moitié du XVIIIe siècle, Paris 1954. 53 L. Normante, Discurso sobre la utilidad de los conoeimientos económico-políticos, Neuauflage Saragossa 1984. 54 Das 45 Bände starke Werk von Larruga wird gegenwärtig neu aufgelegt. 55 L. M. Enciso, Historia de Valladolid, Bd. 5, 1984, S. 46 f. 56 A. Lopez Castan, Los gremios de la madera en el Madrid de Carlos III y la Real Sociedad Económica Matritense de Amigos del País: el proyecto de unificación gremial de 1780, in: Anuario del Instituto de Estudios Madrileños, 1989, S. 345-380. 57 J . F. Fornies Cassals, La Real Sociedad Económica Aragonesa de Amigos del País en el período de la Ilustración (1776-1808): sus relaciones con el artesanado y la indistria, Madrid 1978.
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Die Kritik am Zunftwesen wurde noch radikaler von den ersten liberalen Ökonomen formuliert, die in den l780er Jahren schrieben. So sprach der Baske Foronda z.B. von den »extravaganten, tyrannischen und obskuren Zunftordnungen«, die Feinde des Rechts auf Arbeit und das Ergebnis »antiphilosophischer Jahrhunderte« seien.58 Der Bericht über die Freiheit der Ausübung der Künste, die der Asturianer Jovellanos der Handelsjunta im Jahre 1780 vorstellte, ging systematischer vor. Er führte die Nachteile der Zünfte auf, wie die Behinderung der Frauenarbeit. Er kritisierte die Inspektionen sowie die zur reinen Formsache degenerierten Prüfungen. Zur Unterstützung seiner Argumente zitierte er französische Autoren wie Bigot de Sainte-Croix und Turgot. Für Jovellanos gehörten die Zünfte zu einem repressiven und fortschrittsfeindlichen System. Er sprach sich für den Ersatz der Zünfte durch neue soziale Organisationen aus sowie für eine Kontrolle der Berufe durch die Stadtregierungen. 59 Die Zunftkritik wurde auch von Autoren aufgegriffen, die in den folgenden Jahren über wirtschaftliche Fragen schrieben.60 In dieser Perspektive stellten die Zünfte das Gegenteil der natürlichen Freiheit dar. Auch die Bruderschaften wurden nicht geschont. Diese negative Sichtweise übernahmen später Historiker, die sich mit der Geschichte der Zünfte befassten. Dies lässt sich deutlich am Begründer der Geschichte der politischen Ökonomie in Spanien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Emanuel Colmeiro, zeigen. Als Liberaler akzeptierte er zwar den ursprünglichen Nutzen der Zünfte, doch hielt er sie für unvereinbar mit der Gewerbefreiheit. Er attackierte die Zunftoligarchien und griff die Lehrzeit und die Meisterprüfung an.61 Auch im 20. Jahrhundert setzte sich die Kritik an den Zünften fort. Graell, Sekretär des katalanischen Unternehmerverbandes, bezeichnete im Jahre 1911 die Zünfte als eiserne Ketten, die die Industrie fesselten.62 Der große spanische Historiker Antonio Ballesteros machte in den Zünften gar eines der Hindernisse für die nationale Industrialisierung aus und sah hierin eine der Ursachen für den Rückstand Spaniens. 63 Die Position von Ruiz y Pablo, Sekretär der Handelskammer von Barcelona, über die Arbeitsweise der katalanischen Zünfte ist später von Ballesteros sowie von dem Franzosen Jean Sarraihl aufgegriffen
58 J . M. Barrenechea, Valentin de Foronda, reformador y economista ilustrado, Vitona 1985, S. 231-234. 59 G. M. de Jovellanos, Obras, Bd. 2, Biblioteca de Autores Españoles, Bd. 50, Madrid 1859, S. 33-45. 60 A. Elorza, La ideología liberal de la Ilustración española, Madrid 1970, S. 195 f. 61 Colmeiro, Historia de la Economía política en España, Madrid 1863, Neuauflage Madrid 1965, Bd. 2, S. 823-837. 62 G. Graell, Historia del Fomento del Trabajo Nacional, Barcelona 1911, S. 11. 63 A. Batlesteros Beretta, Historia de España y su influencia en la Historia universal, Bd. 6, Barcelona 1932, S. 152-156.
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worden. 64 Noch einer der besten der spanischen Historiker unserer Tage, Antonio Eiras, schrieb 1970 über die Auflösung des Zunftsystems: »Die archaische Tradition des zunftmäßig organisierten Handwerks mit einem schon im 18. Jahrhundert überholten Arbeitssystem war in seiner letzten Zeit auch angesichts des Preisanstiegs sicherlich nicht idyllisch (...).«65 Schließlich wurden die Zünfte auf Mallorca von einer jungen Historikerin in den 70er Jahren als »versteinert, unterdrückend und traditionell« bezeichnet.66 Andererseits kann man eine Verherrlichung der Zünfte durch Schriftsteller und Historiker christlich-sozialer und korporatistischer Provenienz feststellen, die im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Monographien oder Essays über die Zünfte verfassten. Es handelt sich um Juristen, Ökonomen, Soziologen und Universitätsprofessoren. Eine sehr gute Schule des neokorporativen Denkens bestand in Valencia, wo in den 1880er Jahren durchaus akzeptable Geschichten der »Gremios« publiziert wurden. 67 In dieser Perspektive ist das vollständigste Werk das von Juan Sarthou (»Las asociaciones obreras en Espana«), das 1900 in Madrid erschien.68 Das Franco-Regime begünstigte zu Beginn ebenfalls die Publikation von Werken dieser Forschungsausrichtung. Der Priester Quetglas, Leiter der christlichen sozialen Aktion, publizierte 1940 eine Geschichte der Zünfte auf Mallorca. 69 Professor Antonio Rumeu de Armas veröffentlichte 1944 eine Geschichte der sozialen Vorsorge in Spanien. In dieser führt er z.B. aus, dass die Zünfte in Spanien durch den ausländischen Einfluss der Physiokraten sowie der Anhänger Adam Smiths vernichtet worden seien. Seit dieser Zeit haben sich die Vorstellungen über die historischen Entwicklungen in Spanien im 18. Jahrhundert sehr verändert und mit ihnen das Wissen über die Zünfte.
64 A. Ruiz y Pablo, Historia de la Real Junta particular de Comercio de Barcelona, Barcelona 1919; Sarrailh, L'Espagne éclairée, S. 96. 65 A. Eiras Roel in seiner Einführung der spanischen Übersetzung des Band X der New Cambridge Modern History, Barcelona 1971, S. XLII-XLIII. 66 I. Moll, La reforma de las ordenanzas gremiales de Mallorca, in: Revista de Trabajo, Nr. 3 5 36, 1971, S. 415-453. 67 L. Tramayores Blasco, Instituciones gremiales. Su origen y organización en Valencia, Valencia 1889. 68 J . Uña Sarthou, Las asociaciones. 69 B. Quetglas Gaya, Los gremios de Mallorca, o.O. 1939 (Neuauflage 1980).
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Lars Edgren Die schwedischen Zünfte im 18. Jahrhundert
Die Geschichte der Gewerbe und Zünfte im Schweden des 18. Jahrhunderts ist schlecht bekannt. Die wichtigsten Beiträge legte Ernst Söderlund vor, der sich umfassend mit dem Stockholmer Gewerbe zwischen 1720 und 1772 beschäftigte. Später verfasste er eine zusammenfassende Darstellung zum schwedischen Handwerk im 17. und 18. Jahrhundert, die hauptsächlich auf seiner vorherigen Forschungsarbeit über Stockholm basierte. Ein wertvolles Buch, das sich mit den Beziehungen zwischen städtischen und ländlichen Gewerben beschäftigt, veröffentlichte vor kurzem Johan Gadd. Die politische Debatte über Zünfte und Gewerbefreiheit war der Gegenstand einer Studie von Henry Lindström. Diese Arbeiten befassen sich in erster Linie mit politischen und ökonomischen Aspekten, aber auch soziale und gesellschaftliche Bedingungen werden kurz berührt. Die wenigen Arbeiten über kulturelle Aspekte des Zunftwesens, die vor allem das Innenleben der Zünfte betreffen, fügen sich bislang schlecht in dieses Panorama ein. Moderne Studien zur kulturellen Bedeutung der Handwerker in der schwedischen Gesellschaft fehlen fast völlig. Gewerbe und Zünfte sind vor allem ein Thema der Stadtgeschichte, aber auch von Gesamtdarstellungen zu einzelnen Gewerben. Diese Literatur ist jedoch von unterschiedlicher Qualität und Brauchbarkeit. Es ist sicherlich noch viel Arbeit zu tun, und einige der Forschungsdesiderate werden in den folgenden Ausführungen deutlich werden. 1 Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Bedeutung der städtischen Handwerkszünfte in Schweden während des 18. Jahrhunderts. Ohne Schweden direkt mit anderen europäischen Ländern zu vergleichen, ist eine komparative Beweisführung stillschweigend mit eingeflossen. Sie betrifft die Natur des schwedischen Staates und sein Verhältnis zu den Zünften: Der schwedische 1 E. Söderlund, Stockholms hantverkarklass 1720-1772, Stockholm 1943; ders,, Hantverkarna, Stockholm 1943; H. Lindström, Näringsfrihetens utveckling i Sverige, 1809-1836, Göteborg 1923; ders,, Näringsfrihetsfrågan i Sverige 1837-1864, Göteborg 1929; A. Löfgren, Det svenska tenngjutarhantverkets historia, Bd. 1,1-3, Stockholm 1925-1950; mein eigenes Werk über das Handwerk in Malmö streift das 18. Jahrhundert nur am Rande und beschäftigt sich vornehmlich mit dem 19. Jahrhundert: L. Edgren, Lärling - gesäll - mästere, Lund 1987.
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Staat vermochte sich erfolgreich in viele Bereiche der Gesellschaft einzumischen und diese zu regulieren. Daher fehlt eine starke eigenständige Zunfttradition in Schweden. Die Tragfähigkeit dieser Hypothese kann nur überprüft und erweitert werden, wenn man die schwedischen Zünfte in einen vergleichenden Kontext stellt.
1. Die Welt der schwedischen Städte Schweden war ein dünn besiedeltes Land, das stark durch die Landwirtschaft und die damit verbundenen Hilfstätigkeiten geprägt war. Zu den wichtigsten industriellen Aktivitäten gehörten Bergbau und Eisengießereien, die sich zumeist auf dem Lande befanden. Die Städte spielten somit eine relativ unbedeutende Rolle in der schwedischen Gesellschaft. Man schätzt, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwa 10% der Bevölkerung in Orten mit Stadtrecht lebten. 2 Die meisten Städte waren recht klein. Das Königreich - das heutige Finnland eingeschlossen - besaß in der Mitte des Jahrhunderts 102 Städte, von denen zwei Drittel weniger als 1.000 Einwohner zählten.3 Um 1750 lag die durchschnittliche Bevölkerungszahl der schwedischen Städte - Stockholm ausgenommen - bei 1.500 Einwohnern. Stockholm hatte 60.000 Einwohner, so dass rund 30% aller Stadtbewohner in der Hauptstadt lebten.4 In den Städten gingen die meisten Bewohner vermutlich Handel und Handwerk nach. Massenproduktion - insbesondere Textilherstellung - spielte nur selten eine Rolle. In der Praxis war die Landwirtschaft in den meisten Städten ebenfalls von großer Bedeutung. Aber auch kleine Städte konnten eine wichtige Rolle im lokalen Handel sowie als Zentrum der Gewerbetätigkeit für die umliegende Region spielen. In Kleinstädten machten die Handwerker häufig einen größeren Anteil an der Bevölkerung aus als in größeren Städten.5 Nach einer groben Schätzung waren 10% der Stadtbevölkerung in Schweden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Meister, Gesellen oder Lehrlinge. 6 Charakteristisch für die schwedischen Städte - und für die weitere Diskus2 Y. Fritzell,Yrkesfordelningen 1753-1805 enligt Tabellverkert: de särskilda städerna, in: Statistik tidsknft, 3 e földien 21, S. 279-325, S. 290. 3 Bis 1809 war Finnland ein Teil des schwedischen Königreichs und sowohl in politischer, legaler und administrativer Hinsicht völlig integriert. Dennoch ist die schwedische Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts so verfasst, als ob die Grenze schon damals existiert hätte. So sind selbst einfache Statistiken nicht für das ganze Königreich verfügbar. Während diese Zahlen für das heutige Schweden und Finnland gelten, bezieht sich ein Großteil der weiteren Ausführungen lediglich auf das heutige Schweden. Dies spiegelt den Stand der Geschichtsschreibung wider, aber auch meine eigene Unfähigkeit, Finnisch zu lesen. 4 A. M.Fallström u. I. Mänrytä, Stadsadministrationen i Svenge-Finland under frihetstiden, in: Stadsadministrationen i Norden på 1700-talet, Oslo 1982, S. 178 f.; Fritzeil, Yrkesfördelningen. 5 Dies war zumindest 1820 der Fall; vgl. Edgren, Lärling, S. 72. 6 C.-J. Gadd, Självhushåll eller arbetsdelning?, Göteborg 1991, S. 381.
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sion von Bedeutung - ist die geringe Zahl der Handwerksmeister, besonders wenn man diese auf die Beschäftigten in verschiedenen Gewerbe bezieht. Der kleine Ort Simrishamm im äußersten Süden Schwedens lag mit 644 Einwohnern im Jahre 1780 weit unter der Einwohnerzahl der kleinsten schwedischen Stadt. Im selben Jahr zählte man dort 42 Meister, die 17 Gesellen und 24 Lehrlinge beschäftigten.7 Das bedeutet, dass nur wenige Gewerbe, wie Schuhmacher, Schneider, Schmiede und einige andere, mit mehr als einem oder zwei Meistern in solchen Städten vertreten waren.
2. Die Zunftordnung von 1720 Die Zunftordnung von 1720 legte die gesetzlichen Grundlagen für alle Zünfte bis zu ihrer Abschaffung im Jahre 1847 fest. Sie versuchte, frühere Gesetze zu bekräftigen und knüpfte in weiten Teilen an die umfassende Zunftordnung von 1669 an, die nie effektiv durchgesetzt worden war. Im mittelalterlichen Schweden waren Zünfte außerhalb Stockholms eine seltene Erscheinung. Im 16. Jahrhundert genossen sie allerdings die Förderung durch den Monarchen, der ihre Privilegien erweiterte. U m die gewerbliche Produktion auf dem Lande zu begrenzen und um das Handwerk zu entwickeln, erlaubte man gelegentlich sogar geschlossene Zünfte (numerus clausus). König Gustav Adolph (1611-1632) unternahm während seiner Regierungszeit umfassende Regulierungsversuche, zu denen nationale Zunftordnungen für einige wichtige Gewerbe gehörten. Diese Ordnungen entsprachen meist durchaus den Wünschen der Zünfte. 8 Diese Haltung sollte sich jedoch bald ändern. Die Zunftordnung von 1669 kam den Erwartungen der Zunftmeister ebenso wenig entgegen, wie die Zunftordnung von 1720.9 Ihr Grundprinzip war eine Vereinheitlichung des Zunftsystems für ganz Schweden.10 Alle Meister in einer Stadt sollten einer Zunft angehören. Sobald es drei Meister desselben Gewerbes gab, hatten sie eine örtliche Zunft zu bilden, wenn es weniger waren, sich einer Zunft in einer Nachbarstadt oder in Stockholm anzuschließen. Die Zünfte erhielten das Monopol für die Handwerksproduktion. Ein gewisser Schutz der Handwerkerinteressen wurde als notwendig erachtet, um einen ausreichenden Bestand an ausgebildeten Handwerkern sowie eine qualifizierte Lehrlingsausbildung sicherzustellen. Fiskalische Gründe spielten wahrscheinlich ebenfalls eine Rolle. Wenn alle Handwerker den Zünften angehörten, konnten sie leichter überwacht, erfasst und besteuert werden. 11 7 8 9 10 11
B. Hanssen, Österlen, Ystad 1952. F. A. Lindberg, Hantverkama, Stockholm 1947. Söderlund, Hantverkama, S. 165-171 Der Text der Zunftordnung ist leicht zugänglich als Anhang bei Söderlund, Hantverkama. Söderlund, Stockholms hantverkarklass, S. 29.
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Insoweit war die Zunftordnung günstig für die Zünfte. Doch sie zeigte auch die Bestrebung, einige der Missbräuche abzustellen, deren man die Zünfte traditionell beschuldigte. Dies sieht man deutlich an vier Punkten: Die Zünfte sollten städtischer bzw. staatlicher Kontrolle unterstellt werden. Sie konnten nicht ohne die Anwesenheit eines Magistratsbeamten zusammenkommen. Dieser Vertreter nahm auch an allen Entscheidungen teil. Im Prinzip konnten die Zünfte zwar den »alderman« (Ratsherren) und zwei oder vier »bisittare« (Stellvertreter) wählen. Doch war die Wahl insofern eingeschränkt, als der Magistrat eine Person aus einem Wahlvorschlag auswählte, der zwei Namen enthielt. Professionelle Sekretäre mussten die Protokolle führen, die wiederum der Prüfung durch das Kommerskollegium - einem Handelskollegium, das als zentrale Behörde die Handwerke und andere ökonomische Aktivitäten überwachte - unterlagen. Nachforschungen nach illegaler Handwerksproduktion konnten nur unter der Aufsicht der Beamten angestellt werden. Schließlich ließen sich alle Zunftentscheidungen anfechten, zuerst vor dem Friedensrichter, dann beim Kommerskollegium. Zweitens versuchte die Zunftordnung, die Möglichkeiten der Zünfte einzuschränken, Bewerber um den Meisterstatus zu schikanieren und zu gewährleisten, dass das Verfahren nicht zu teuer und langwierig wurde. Ein zünftiger Numerus Clausus war untersagt. Die Lehrzeit wurde auf ein Maximum von fünf jahren begrenzt. Gesellen mussten mindestens drei Jahre arbeiten, ehe sie sich um den Meisterstatus bewerben konnten. Allerdings sah die Ordnung kein Zwangswandern, analog zu den deutschen Wanderjahren, vor. Auch konnten Bewerber nicht gezwungen werden, nach der Bewerbung ein Jahr als Geselle in der Stadt zu arbeiten. Die Kosten, die den Bewerbern entstehen durften, waren genau festgesetzt, Extraausgaben für Essen und Trinken nicht zulässig. Schließlich mussten die Meisterstücke nützlich und verkäuflich sein; wenn sie nicht verkauft werden konnten, sollte die Zunft sie erwerben. Auf diese Weise beabsichtigten die Gesetzgeber, die traditionellen Methoden zur Begrenzung der Mitgliedschaft auszuhebein. Drittens verbot die Zunftordnung den Zünften, als Kartelle zu fungieren oder den Wettbewerb zwischen etablierten Meistern zu begrenzen. Sie untersagte alle Übereinkünfte über Preise, sei es beim Kauf, sei es beim Verkauf Lohnfestsetzungen blieben individuellen Absprachen überlassen. Die Meister konnten so viele Lehrlinge beschäftigen, wie sie wollten. Alle diese Paragraphen sollten einen weitreichenden Wettbewerb zwischen den niedergelassenen Meistern garantieren, um die Interessen der Konsumenten zu schützen. Der vierte wichtige Aspekt der Zunftordnung war das Bemühen, Praktiken entgegenzuwirken, die die Behörden allgemein als Missbrauch betrachteten. Vieles davon betraf hauptsächlich die Gesellen. Man verbot den »Blauen Montag« (frimandag) und das Fernbleiben von der Arbeit an anderen Tagen (spatsering), gestattete aber ausdrücklich, dass Gesellen heiraten konnten. Gesellen234 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
verbände (gesällskap) waren erlaubt, sie durften aber nur in Anwesenheit von zwei Meistern zusammenkommen. Handwerker, die außerhalb von Zünften gearbeitet hatten, waren aufzunehmen, und niemand durfte aus der Zunft für Vergehen ausgeschlossen werden, die lediglich mit Geldstrafen geahndet wurden. Letztere Bestimmung richtete sich gegen eine zu enge Ehrauffassung der Handwerker. Vielleicht noch wichtiger als die Regeln der Zunftordnung war diese abschließende Generalklausel, nach der alle nicht ausdrücklich erlaubten Praktiken verboten waren. Diese Klausel richtete sich gegen Gebräuche, die im Schwedischen allgemein mit dem deutschen Wort »Gewohnheiten« bezeichnet wurden. Die Zunftordnung kann als ein Kompromiss zwischen den Zunft- und Verbraucherinteressen interpretiert werden. Sie bestätigte das Monopol der Zunftmeister, die das Recht behielten, gegen Konkurrenz von außen vorzugehen. Auf der anderen Seite zielten die Bestimmungen darauf ab, die Zugangsbeschränkungen zum Meisterstatus aufzuweichen und einen maximalen Wettbewerb zwischen den Meistern zu gewährleisten. Der Staat versuchte, die Zünfte und die Art, wie sie ihr Monopol handhabten, zu kontrollieren. Die schwedischen Zünfte wurden somit in ein staatlich überwachtes, umfassendes System eingeordnet, das auf alle Gewerbe gleichermaßen anwendbar war. Dies war zumindest die Absicht der Zunftordnung von 1720. Die tatsächliche Durchsetzung war jedoch eine andere Sache. 3. Die Zünfte in schwedischen Städten im 18. Jahrhundert Die Zunftordnung versuchte, das schwedische Zunftwesen zu vereinheitlichen, und wie es scheint, wurde dieses Ziel erreicht. Es gibt keine Schätzungen über die Anzahl der Zünfte in Schweden im 18. Jahrhundert. Anfang des 18. Jahrhunderts existierten in Stockholm nur etwa zwanzig Zünfte.12 Für zwanzig weitere Städte außerhalb Stockholms legen für 1710 verfügbare Informationen nahe, dass die sehr kleinen Städte überhaupt keine Zünfte besaßen oder vielleicht nur Schuster- und Schneiderzünfte. Städte mittlerer Größe zählten wohl fünf oder zehn in Zünften organisierte Gewerbe. Größere Städte indes hatten eine beträchtliche Anzahl von Zünften, wobei Gothenburg mit 21 Zünfte führte.13 In den Küstenstädten im nördlichsten Teil Schwedens scheinen Zünfte niemals Fuß gefasst zu haben. 14 12 Lindberg, Hantverkarna, S. 99. 13 B. Boëthius, Sämlingen av handlingar rörande skån och hantverkerier 1717-1718 i kommerskollegiets arkiv, in: Meddelanden från svenska riksarkivet, Ny följid, Serie 1, Bd. 33-41, 1916, S. 335-356. Es existieren keine Einwohnerzahlen für die Zeit um 1710. Ich habe Zahlen aus dem Jahr 1747 zugrunde gelegt und die Städte in verschiedene Kategorien eingeteilt: weniger als 1.000 Einwohner, zwischen 1.000 und 3.000 und über 3.000. Vgl. Fallström u. Mäntylä, Stadsadministraûonen>S. 179-181. 14 Gadd, Självushåll, S. 265.
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Die Ausdehnung des Zunftwesens kann nicht kontinuierlich während des 18. Jahrhunderts verfolgt werden. Beispiele aus einzelnen Städten lassen jedoch ein sehr rasches Wachstum vermuten. Ein besonders drastisches Beispiel bietet die kleine Stadt Växjo, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts weniger als 1.000 Einwohnern besaß. Im Jahre 1717 existierten nur zwei Zünfte, doch 1770 bereits siebzehn. Die meisten von ihnen entstanden während des letzten Jahrzehnts. Andere Städte zeigen ein ähnliches Wachstum, nur einige sehr kleine Städte machen hiervon eine Ausnahme. 15 In vielen Städten arbeiteten in den meisten Gewerben nur drei Meister, die vorgeschriebene Mindestzahl, um eine eigene örtliche Zunft zu gründen. Die städtischen Beamten waren durchaus an der Gründung neuer Zünfte interessiert (vielleicht, weil die Mitglieder des Magistrats aus der Aufsicht der Zunftversammlungen ein Einkommen bezogen), und die Initiative für die Gründung kam so oft eher von den örtlichen Behörden als von den Meistern, die sich bisweilen sogar ablehnend verhielten.16 In Städten, in denen keine lokale Zunft in ihrem Gewerbe existierte, mussten Meister der Zunft einer anderen Stadt angehören. U m 1710 war es jedoch nicht unüblich, dass Meister überhaupt keiner Zunft angehörten. 17 Dennoch gelang es den Behörden langfristig, die einzelnen Meister in das Zunftwesen einzubinden. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden so die städtischen Gewerbe flächendeckend in das umfassende Zunftwesen integriert. Zumindest numerisch war das späte 18. Jahrhundert somit klar die Blütezeit des Zunftwesens in Schweden. Obwohl die Zunftordnung versuchte, die Zugangskontrolle durch die Zunftmeister abzubauen, waren diese entschlossen, dieses Recht so weit als möglich zu verteidigen. Seit Handwerker an den Wahlen zum Bürgerstand im schwedischen Reichstag (rikdagen) teilnahmen, konnten sie diese Position im politischen Raum formulieren. Der Bürgerstand wurde vornehmlich von Magistratsmitgliedern und Kaufleuten beherrscht. Die Kaufleute begünstigten ebenfalls hartnäckig Restriktionen, und auch die Magistratsbeamten zeigten sich gewöhnlich für die Anliegen der Bürger zugänglich. So fanden die Handwerker in ihrem eigenen Stand günstige Bedingungen, um ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. Die Aufnahme neuer Meister hatte allerdings niemals allein in den Händen der Zünfte gelegen. Alle Handwerker mussten Bürger der Stadt werden, und das Bürgerrecht verlieh der Magistrat nach Anhörung der Bürgerschaft. Die Zünfte bekämpften die Niederlassung neuer Meister meist mit dem Argument, dass der lokale Markt keine neuen Werkstätten vertrage. Nach der Zunftordnung war dies jedoch kein stichhaltiges Argument. Zu15 H. Lindström, Växjö staads historia 1719-1862, Växjö 1942, S. 167 ff.; Gadd, Självushåll, S. 364-367. 16 Lindström, ebd., S. 167 ff; O. Bjurling, 1685-1792, in: Ystads historia, Jg. 1, 1956, S. 442 f. 17 Boëthius, Samlingen.
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mindest in Stockholm wurden qualifizierte Bewerber um 1720 vom Magistrat akzeptiert, und wenn die Entscheidung gegen den Bewerber erging, konnte dieser beim Kommerskollegium Berufung einlegen. Dieses nahm in der Regel wenig Rücksicht auf die restriktiven Wünsche vor Ort.18 Unter diesen Bedingungen war es für die Meister somit von größter Wichtigkeit, dass die Begrenzung der Zahl neuer Werkstätten gesetzlich kodifiziert wurde. Dies gelang ihnen im Jahre 1734, und seitdem gingen Zünfte und Magistrate mit vereinten Kräften gegen die Zulassung neuer qualifizierter Bewerber vor. Die Kontrolle ging zwar nicht völlig auf die Meister über, doch stießen sie bei den örtlichen Magistraten auf offenere Ohren als bei den Beamten der zentralen Bürokratie. Dies verlieh ihnen beträchtliche Macht, um den Zugang zu beschränken, und so waren z.B. einige Zünfte in Stockholm periodisch praktisch geschlossen. 19 Ähnliches lässt sich über die Schneider in Malmö in Südschweden zwischen 1753 und 1772 berichten. Von achtzehn Bewerbern während dieses Zeitraums wurden nur acht unmittelbar akzeptiert. Einer von ihnen beabsichtigte, nur Frauenkleider zu nähen, sieben waren Söhne von Meistern oder wollten Meisterwitwen bzw. -töchter heiraten. Vier beabsichtigten, sich an anderen Orten niederzulassen. Die verbleibenden sechs wies man ab, und nur zwei von ihnen wurden Meister, nachdem sie bei zentralen Behörden Beschwerde eingelegt hatten.20 Trotz fehlender systematischer Belege können wir aus diesen Eindrücken schließen, dass die Zünfte weiterhin recht erfolgreich den Zugang begrenzten. Nach dem Ende des parlamentarischen Regimes durch einen königlichen Staatsstreich im Jahre 1772 sollte sich dies allerdings schnell ändern. Im Jahr 1773 wurde das Dekret von 1734 außer Kraft gesetzt. Nunmehr sollten alle qualifizierten Gesellen als Meister aufgenommen werden. 21 Der nächste königliche Staatsstreich im Jahre 1785 hingegen machte Zugeständnisse an die nichtadligen Stände erforderlich. Der König sicherte daher zu, die örtliche Meinung über die wünschenswerte Zahl der Handwerker in einem Gewerbe »gebührend zu beachten«. Dieses Versprechen war in der Praxis allerdings bedeutungslos.22 Am Ende des Jahrhunderts konnte sich ein Geselle, der nicht von der Zunft und den örtlichen Magistratsbeamten akzeptiert wurde, immer gegen diese Entscheidung bei den zentralen Behörden beschweren. Diese akzeptierten ihn, sofern er die formalen Anforderungen erfüllte. In Malmö bekamen im frühen 19. Jahrhundert alle Gesellen, die gegen lokale Entscheidungen Beschwerde einlegten, Recht.23 18 19 20 21 22 23
Söderlund, Stockholms, S. 3 1 , 42. Ebd., S.44. O. Heiander, Stadens historia 1719-1820, in: Malmö stads historia, Jg. 2, 1977, S. 472. Söderlund, Hantverkarna, S. 221 f. Ebd., S. 229 ff. Heiander, Stadens, S. 472.
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Die Macht der Zünfte, den Zugang zu beschränken, erschöpfte sich jedoch nicht nur in Zulassungsformalitäten. Die Zunftordnung hatte auch die Absicht, informelle Begrenzungsstrategien zu bekämpfen; doch scheinen diese Versuche nicht von Erfolg gekrönt gewesen zu sein. Verzögerungen und Schwierigkeiten konnten hofïnungsfrohen Gesellen in den Weg gelegt, ungebührliche Kosten mit dem Prozess verknüpft, sowie ungewöhnliche, für den angehenden Meister schwer zu verkaufende Produkte als Meisterstück verlangt werden. Wenn die Magistratsbeamten eine Bewerbung genehmigten, konnte die Zunft diese Entscheidung anfechten. Selbst wenn die Erfolgsaussichten dieses Einspruches sehr gering waren, rief dieses Verfahren doch weitere Verzögerungen hervor. Wenn es auch üblich war, dass Meisterstücke letztendlich gebilligt wurden, so musste der angehende Meister doch eine Menge Geduld und Geld mitbringen, um den langwierigen Prozess durchzustehen. 24 Diese Zeitvergeudung zählte zu den häufigsten zeitgenössischen Kritikpunkten an den Zünften. Natürlich legten die Zünfte nicht allen Bewerbern solche Hindernisse in den Weg. Söhne, Schwiegersöhne und Gesellen, die Witwen heirateten, stießen kaum auf Widerstand. Wie das obige Beispiel der Malmöer Schneider zeigt, konnte diese Bevorzugung dazu führen, dass untereinander versippte Meister die Zünfte dominierten. Es ist weithin bekannt, dass in den schwedischen Städten Familiengruppen und Handwerkerdynastien existierten. Ein komplexes Familiennetzwerk verband die meisten Meister in Gothenburg durch Blut oder Heirat untereinander. 25 Ähnliche Bedingungen herrschten unter den Böttchern in Malmö. 26 Systematisches Material existiert nur für die Stadt Abo im heutigen Finnland. Im Jahre 1755 hatten 36% der Meister ihr Handwerk entweder geerbt oder eine Meistertochter oder -witwe geheiratet. U m 1800 war die Lage ungefähr die gleiche. 27 Zünftig organisierte Gewerbe in Abo wiesen eine breitere Familienrekrutierung auf. Die Zünfte waren in der Lage, Einfluss darauf zu nehmen, wer Meister werden sollte. Dass die gesetzlichen Neuerungen von 1773 die Zulassungsbeschränkung verändert haben, lässt sich jedoch nicht nachweisen. Ob die Zunftordnung das Ziel erreichte, die Zünfte daran zu hindern, als Kartelle für Kauf und Verkauf von Waren zu fungieren, lässt sich noch schwerer einschätzen. Die Ächtung solcher Praktiken und die gleichzeitige Überwa24 Söderlund, Stockholms, S. 90 f. 25 B. Skarin Frykman, Från yrkesfamilj till klassgemenskap, Göteborg 1987, S. 118 f. 26 L. Ljungberg, En hantverkardynasti i det gamla Malmö, in: Malmö Fornminnesförenings Årsskrift 1942, S. 63-116. 27 1755 waren 19% der Meister mit Witwen eines verstorbenen Meisters verheiratet. 7% hatten eine Meistertochter geheiratet, 10% hatten das Handwerk vom Vater geerbt, vgl. K. Vainio-Korhoneny Yrket i arv? Släkt- och äktenskapets i rekrytering av nya hantverkare, Vortrag an der Universität Turku, September 1995, im Druck. Die Situation in Malmö zu Beginn des 19. Jahrhunderts hingegen zeigt, dass dort Vererbung wichtiger als Heirat war, vgl. Edgren, Lärling, S. 176.
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chung der offiziellen Zunftversammlungen hatte zur Folge, dass in den Zunftprotokollen kaum direktes Beweismaterial überleben konnte. Zeitgenössische Klagen und indirektes Beweismaterial legen allerdings den Schluss nahe, dass Preisabsprachen auf jeden Fall vorkamen. Leider lässt sich jedoch nicht abschätzen, wie verbreitet diese waren. Solche Vereinbarungen gehörten nämlich nicht zum offiziellen Zunftleben. 28 In den Versuchen, den Zugang neuer Meister zu begrenzen, zeigten sich die Bemühungen der Zünfte, die Produktion zu beschränken, um die Preise zu halten. Einige Zünfte trafen auch Vereinbarungen, um die Anzahl von Lehrlingen und Gesellen festzusetzen. In Stockholm wurde dies meist vom Magistrat hingenommen, obwohl die Zunftordnung die Begrenzung ausdrücklich untersagt hatte.29 Ein anderer Bereich, in dem illegale Praktiken bisweilen toleriert wurden, war die Lohnfestsetzung. Es kam vor, dass Meister untereinander Vereinbarungen über die Höchstlöhne der Gesellen trafen, und manchmal fanden regelrechte Lohnverhandlungen statt.30 Die Einrichtung von gemeinsamen Verkaufsplätzen diente auch dazu, die Preisdisziplin unter den Zunftmeistern zu kontrollieren. 31 In einer Hinsicht konnte die Zunft offen als eine wirtschaftliche Einheit auftreten: Sie konnte Verträge für Arbeiten von Staatsbehörden, insbesondere der Armee und Flotte, abschließen. Diese Aufträge wurden dann unter den Meistern der Zunft aufgeteilt. Ein Grund dafür, dass die Zünfte bei der Vergabe begünstigt wurden, mag gewesen sein, dass in ihnen Handwerker verfügbar waren, um solche Aufträge auszuführen. Aufgrund ihres Umfangs konnten diese von großer wirtschaftlicher Bedeutung für die Zünfte sein.32 Abgesehen von den Versuchen der Zugangsbeschränkung war das wichtigste Betätigungsfeld der Zünfte wohl das Aufspüren »illegaler« Handwerker. Dabei hatten sie das Recht, die Wohnungen Verdächtiger zu durchsuchen, wenn sie die Magistratsbeamten im voraus informierten. Ansonsten besaßen die Zünfte nur wenige legale Möglichkeiten zu gemeinsamer wirtschaftlicher Aktivität. In welchem Ausmaß sie sich allerdings illegal betätigten, werden wir wohl nie genau erfahren. Die Zunftordnung versuchte auch, bestimmte Bestandteile der Zunftkultur, insbesondere Gesellenbräuche, zu verbieten. Dabei standen die Behörden vor dem Problem, dass die schwedischen Zunfttraditionen aus Deutschland entlehnt waren. Die Walz der Gesellen wäre ohne die Befolgung der deutschen 28 Söderlund, Stockholms, S. 98-106. 29 Ebd., S. 83 ff 30 Ebd., S. 115 f.; T. Petré, Uppsala stads historia, Uppsala 1958, S. 163-166. 31 Söderlund, Stockholms, S. 112 ff; B. Hellner, Skrå och hantverk. Ur Gävle stads historia, Gävle 1946, S. 64. 32 Söderlund, Stockholms, S. 106-112; S.-Ö. Swahn, Karlskronahantverket genom tiderna, Karlskrona 1947, S. 141 f., 147-150; H. Lundh, Uppsala stads historia, Uppsala 1977, S. 86 f.
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Sitten in Schweden nur schwer möglich gewesen. Die deutschen Gesellen hätten die schwedischen Meister nicht als achtbar anerkannt, und die schwedischen Gesellen wären in Deutschland auf Schwierigkeiten gestoßen. Da die staatlichen Behörden darauf bedacht waren, qualifizierte ausländische Handwerker ins Land zu holen und den schwedischen Gesellen Möglichkeiten zu geben, ihre Fachkenntnisse zu verbessern, entstand ein reales Problem. Die schwedischen Zünfte hatten sich in Verbindung mit deutschen Traditionen entwickelt. Viele deutsche Handwerker wohnten und arbeiteten in schwedischen Städten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts folgten einige Gewerbe in Schweden Regeln, die sie von deutschen Zünften übernommen hatten.33 Die Zunftordnung untersagte schwedischen Handwerkern nicht ausdrücklich, sich ausländischen Zünften anzuschließen. Die Behörden waren allerdings darauf bedacht, diese Verbindungen abzuschneiden und die Kontrolle des Gesellenlebens zu verbessern. Während des 18. Jahrhunderts nahmen deutsche Gesellen an den Arbeitsauseinandersetzungen in Stockholm aktiv teil.34 Während der 1720er Jahre erließ das Kommerskollegium mehrere neue Verordnungen, die den Handlungsspielraum der Gesellenverbände einschränkten und die Streiks provozierten. U m 1740 verschärfte man diese Maßnahmen und machte sogar den Versuch, schwedischen Gesellen Reisen ins Ausland ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis zu untersagen. 35 Auch der »blaue Montag« wurde weiterhin bekämpft. Die Lage der Gesellen verschlechterte sich in der Folge zweifellos. Die Streiks in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Stockholm belegen dies. Doch viele der alten Sitten blieben teilweise erhalten. Die Meister wussten aus eigener Erfahrung, was es damit auf sich hatte. Solange die Überwachung der Gesellenverbände den Meistern überlassen blieb, konnten viele Traditionen fortbestehen, welche die Meister nicht unmittelbar bedrohten, auch wenn sich als »rational« verstehende Behörden diese Gebräuche als »unnütz und lächerlich« (»onyttige och narraktige«) hinstellten. 36 Am Ende des 18. Jahrhunderts besaßen die Zünfte eine herausragendere Stellung als j e zuvor in der schwedischen Geschichte. Aber sie waren keineswegs starke, unabhängige Institutionen der städtischen Handwerker, sondern Teil eines umfassenden staatlich kontrollierten Systems. Und doch konnten die Behörden die Zünfte nie ganz kontrollieren. Regeln, die aus der Zunfttradition stammten, aber dem Buchstaben des Gesetzes widersprachen, bestanden weiter fort. Doch in mancherlei Hinsicht verwirklichten sich die Absichten der Autoren der Zunftordnung von 1720. Insbesondere nach 1773 bekämpften die Behörden die Zulassungsbeschränkung als wichtigsten Mechanismus der 33 34 35 36
Boëthius, Samlingen, S. Söderlund, Stockholms, Söderlund, Stockholms, Söderlund, Stockholms,
350 ff., 355. S.257; ders.y Hantverkarna, S. 335. S. 255-263.; ders., Hantverkarna, S. 354-358, 365-371 S. 256; Edgren, Lärling, S. 257.
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Zünfte. Offiziell verfügten diese auch nur über begrenzte Möglichkeiten, um Kartelle zu bilden. Zwar florierten die Zünfte zahlenmäßig, doch waren sie nur begrenzt fähig, die ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder wirksam zu schützen.
4. H a n d w e r k e r außerhalb der Zünfte U m den gesellschaftlichen Einfluss der Zünfte einschätzen zu können, ist es wichtig zu prüfen, in welchem Umfang Handwerker außerhalb des Zunftsystems arbeiten konnten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts versuchten die städtischen Behörden, sogenannte »freie Meister« (frimästare) zuzulassen, um den Zünften Konkurrenz zu machen. Sofern sie in die Bürgerschaft aufgenommen wurden, sollten sie in keiner Weise von Zunftkontrollen betroffen sein. Diese Maßnahme war kurzlebig und uneffektiv. Nur wenige freie Meister ließen sich nieder, und viele von ihnen schlossen sich bald einer Zunft an. So schuf man diese Möglichkeit bereits im Jahr 1731 wieder ab. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts versuchte man, Städte von Zunftkontrollen auszunehmen. Dieses Experiment war in der 1771 gegründeten Freien Stadt Eskilstüna durchaus erfolgreich, und Eskilstüna entwickelte sich zu einem bedeutenden Zentrum der Metallverarbeitung. 37 Das Gesetz des Jahres 1739 erlaubte Handwerkern, sich nach den allgemeinen Gewerbeprivilegien dieses Jahres frei niederzulassen. Es schuf die Zünfte im Textilgewerbe ab, wo die Produktion in größerem Maßstab organisiert war.38 Handwerker konnten sich auf diese Gesetzgebung aber nur berufen, wenn sie sich neuer Arbeitsverfahren bedienten, die nicht zünftig reguliert waren. 39 Tatsächlich arbeiteten nur wenige Handwerker unter dem Schutz dieses Gesetzes. Erst um die Jahrhundertwende und im frühen 19. Jahrhundert erlangte es eine gewisse Bedeutung. De facto mussten alle Handwerker, die zugleich Bürger einer Stadt waren, in Zünften organisiert sein. Sie besaßen aber nicht allein das Recht auf handwerkliche Produktion. Denn Adelsprivilegien räumten Adeligen das Recht ein, Handwerker für die Bedürfnisse ihres Haushalts zu beschäftigen. Diesen war es gewöhnlich nicht erlaubt, andere Kunden zu bedienen. Selbst in Stockholm, wo solche Handwerker zahlreich gewesen sein müssen, bildeten sie während des 18. Jahrhunderts nur eine kleine Gruppe. Verglichen mit dem vorhergehenden Jahrhundert verloren sie daher für die Zunftmeister an Bedeutung. 40 37 38 39 40
L. Magnusson, Den bräkiga kulturen, Stockholm 1988. P. Nyström, Stadsindustrins arbetare före 1800-talet, Stockholm 1955, S. 258-270. Söderlund, Hantverkarna, S. 207. Söderlund, Stockholms, S. 296 ff.
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Von größerem Gewicht war das Privileg der Soldaten, Gewerbe auszuüben. Dies war ein wichtiges Zubrot zu ihrem oft niedrigen Sold. Die Zunftmeister achteten streng darauf, dass die Soldaten die ihnen gesetzten Grenzen nicht überschritten. Sie versuchten auch, gesetzliche Einschränkungen des Privilegs zu erreichen und setzten sich damit im Jahr 1789 zumindest teilweise durch. Im Prinzip durften die Soldaten fortan nur noch für Meister arbeiten und nicht mehr als Selbständige auf eigene Rechnung. 41 Auch andere Gruppen von niederen Beschäftigten im Dienste der Städte oder staatlicher Institutionen besaßen ähnliche Vorrechte. Doch scheinen die Soldaten die wichtigste legale Konkurrenz für die Meister in den Städten gewesen zu sein. Eine Bestimmung ihrer Zahl ist jedoch nicht möglich. Wenn man bedenkt, dass Soldaten auch andere Verpflichtungen hatten und nur in ihrer »Freizeit« arbeiteten, ist es schwer zu glauben, dass diese Konkurrenz so ernst zu nehmen war, wie die Meister es den Behörden glauben machen wollten. Allerdings betraf es verschiedene Gewerbe in unterschiedlicher Weise: Gewerbe, die mit einfachen Werkzeugen und ohne ständige Werkstätten funktionierten, waren sicherlich stärker betroffen.42 Dies galt vor allem für Schuhmacher, Schneider, Kunsttischler und einige andere Gewerbe, die mit billiger Ausrüstung und ohne spezialisierte Werkstätten auskamen. Die Stockholmer Zünfte behaupteten im Jahre 1785, dass es genauso viele »bekannte« illegale Handwerker wie zünftige Meister gäbe.43 Eine sicherlich nicht ganz uneigennützige Einschätzung. Grundsätzlich war die Handwerksproduktion auf dem Lande untersagt, doch wurde dieses Prinzip vielfach durchbrochen. Die wichtigste Ausnahme von der Regel war, dass alle Bauern (bönder) handwerkliche Produkte aus ihren eigenen Rohmaterialien herstellen durften. Dadurch entstand eine blühende Heimindustrie in ländlichen Gebieten. Eine Person, die ein Stück Land besaß oder gepachtet hatte, konnte als Handwerker arbeiten.44 Kreisgerichte oder Kirchspiele konnten zudem ebenfalls Handwerksprivilegien für ein begrenztes Gebiet verleihen. Dies betraf vor allem Schuhmacher, Schneider und Schmiede, doch waren auch Ausnahmen in anderen Gewerben möglich. 45 Handwerker aus ländlichen Gebieten konnten durchaus auch städtischen Zünften angehören, dies war zum Beispiel besonders unter den Schmieden in der südlichsten Provinz Skåne die Regel.46 Ländliche Handwerksproduktion besaß eine größere Bedeutung, als es uns die Verordnungen glauben machen, und 41 Lindström, Näringsfrihetens, S. 57f; Söderlund, Stockholms, S. 293 ff.; T. Magnusson, Proletär i uniform, Göteborg 1987, S. 113, 143-148. 42 Söderlund, Stockholms, S. 300; Edgren, Lärling, S. 137. 43 Stockholms Stads Lofl. Borgerskaps herrar Femtio Aldstes Skrifwelse om Handtwerkeriernes här i Staden nu warande tilstånd, Stockholm 1785. 44 Gadd,Själlvhushåll,S.305. 45 Ebd., S. 299 f. 46 G.Åberg, Gifwa sig under amtet eller ock. Om byasmeder och skråtvang, in: Ale, Bd. 3, 1969, S. 28-35; Edgren, Lärling, S. 86.
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auch als es von den zeitgenössischen Statistiken her scheint. Diese registrierten nämlich nur die von örtlichen Behörden erfassten Handwerker. Da es den städtischen Handwerkern offensichtlich nicht gelang, ein unumschränktes Monopol der Handwerksproduktion aufrechtzuerhalten, rissen Klagen über die Konkurrenz von ländlichen Handwerken nicht ab.47 Trotz der politischen Absicht, den Städten das Monopol für die gewerbliche Produktion zu sichern, blieb der Einfluss der schwedischen Zünfte allerdings in den ländlichen Gebieten gering.48
6. Handwerker und Zünfte im städtischen Umfeld Ein städtischer Handwerker musste Stadtbürger sein.49 Der Handwerker beantragte zunächst das Bürgerrecht. Wenn er anerkannt wurde, wandte er sich gewöhnlich an die Zunft und bewarb sich um den Meisterstatus. Bürger waren in schwedischen Städten nur diejenigen, die einem »bürgerlichen Gewerbe« (borgerlig naring) nachgingen. Handwerker stellten meist die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Bürgern, aber vor allem Kaufleute (handelsman) besaßen großen politischen Einfluss. Die Bürger regierten die Stadt in Zusammenarbeit mit einem Magistrat, an dessen Spitze ein Bürgermeister stand. Diese Beamten wurden durch die Bürgerschaft gewählt. Die Städte wählten auch Vertreter in den Bürgerstand im Reichstag. Im folgenden Abschnitt soll die Rolle der Zünfte im städtischen Umfeld skizziert werden. Welchen Einfluss hatten die im Magistrat vertretenen Meister? Den Zünften kam keine offizielle Funktion in der Lokalpolitik zu. Während in Kleinstädten allgemeine Stadtversammlungen (allmän rädsfuga) existierten, wurde in größeren Städten eine repräsentative Körperschaft gewählt, die so genannten Stadtältesten (stadem äldste). Die verschiedenen Gruppen unter den Bürgern erhielten einen Anteil der Sitze, wobei Handwerker oft die Hälfte der Sitze stellten. Die Handwerker besaßen ihre politischen Rechte als Bürger, nicht als Zunftmitglieder. Die Zünfte wählten keine direkten Vertreter ins Stadtregiment, obwohl wahrscheinlich versucht wurde, eine gleichmäßige Vertretung aller Gewerbe sicherzustellen. 50 47 Gadd, Själlvushåll, S. 269 f. 48 Ebd., S. 338-348. 49 Zu den folgenden Ausführungen vgl. L. Edgren, Urban Craftsmen in the Political and Symbolic Order. The Case of Sweden in the Eighteenth Century, in: G. Crossick (Hg.), Artisans and the European Trade, im Druck. 50 Faltström u. Mäntylä, Stadsadministrationen. In Stockholm waren die Zünfte in verschiedene Gruppen unterteilt, die Repräsentanten in den Stadtrat entsenden konnten. Dies war eine Aufteilung unter der Bürgerschaft und heißt nicht, dass die Zünfte eine eigene Vertretung hatten, vgl. B. Ericsson, Privilegiegiving till bergverk, järnbruk och exportsågar i komparativt perspektiv, in: Industri og bjergvaerksdrift. Privilegering i Norden i det 18. Århundrede, Oslo 1985, S. 281.
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Auch bei offiziellen Anlässen und Zeremonien spielten die Zünfte keine Rolle. In den schwedischen Städten scheinen öffentliche, festliche Anlässe, in denen der Bürgerstolz zur Schau gestellt wurde, weitgehend gefehlt zu haben. Große Aufwendungen für Festlichkeiten machten die Bürger meist nur bei Geburtstagen, Hochzeiten, Begräbnissen und Besuchen von Mitgliedern der königlichen Familie. Bei diesen Gelegenheiten stellten die Bürger sich als militärische Einheit - als Bürgerwehr - dar.51 Die Rolle der Zünfte im öffentlichen sozialen Leben ist allerdings bislang kaum umfassend untersucht worden. Vor allem in größeren Städten mit einer großen Anzahl von Zünften war das Zunftleben von Bedeutung. Die Zunftmitglieder trafen sich regelmäßig, und häufig mündeten die Zusammenkünfte in ein gemeinsames Essen und Trinken. Die Zünfte stärkten dadurch den Zusammenhalt unter den Handwerkern und vermittelten ihnen ein Gefühl gemeinsamer Identität jenseits der bloßen Unterdrückung fremder Konkurrenz. Mit der Reformation hatten die Zünfte in Schweden und Dänemark ihre Rolle im religiösen Leben verloren. Lediglich bei einem religiösen Ereignis waren sie immer präsent: beim Begräbnis der Zunftmitglieder. Dieses Thema ist in Schweden bislang kaum untersucht worden. Angesichts der geringen Größe der örtlichen Zünfte erschöpfte sich deren Funktion vielfach auf die einer »Begräbnisgesellschaft«, da sie Leichenträger (likbärlag) für die verstorbenen Mitglieder stellten. 52 Da Forschungen zu der gesellschaftlichen Identität der Zunftmitglieder in Schweden weitgehend fehlen, sind wir auf Vermutungen angewiesen. Es scheint, als ob die Identität als Handwerker wichtiger war als die Zugehörigkeit zu einem spezifischen Gewerbe oder einer spezifischen Zunft. Vor allem im städtischen Kontext handelten die Meister eher als Mitglieder einer größeren Gruppe von Handwerkern denn als Zunftmitglieder. Lediglich in Stockholm, einer Stadt mit großen Zunfttraditionen, mag dies anders gewesen sein.
7. Die Zünfte in der politischen T h e o r i e Eine Debatte über die Jurisdiktionsgewalt der Universitäten in den frühen 1820er Jahren war der Anlass zu einer breiten Diskussion über die korporative Organisation der Gesellschaft. Der Jurist Gabriel Richert attackierte solche Sonderrechte als korporative Überbleibsel, die im Gegensatz zu den modernen individuellen Rechten stünden. Nach Richert sollten das Individuum und der Staat ohne vermittelnde Körperschaften in direkter Beziehung zueinander stehen. Die Korporation habe lediglich historische Berechtigung in einer Entwicklungsphase, in der Individuen in sich erweiternden Gruppen miteinander 51 Edgren, Urban craftsmen; Boëthius, Magistraten, S. 424 ff, 492, 494. 52 Edgren, Urban craftsmen.
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verbunden waren. Die Geschichte entwickele sich jedoch vom »Menschen für sich« über einen Zustand des »Menschen als Mitglied einer Körperschaft« zu dem gegenwärtigen Zustand des »Menschen als Bürger eines Staates« (»man för sig«, »skraborgare«, »medborgare i stat«). Der Historiker und Autor Erik Gustaf Geijer schrieb daraufhin eine geistreiche Verteidigung der korporativen Organisation. Das Individuum sei durch eine aufsteigende Ordnung von Körperschaften mit dem Staat verbunden. Dies sei sehr klar in der städtischen Gesellschaft zu sehen. Dabei zog er die Zünfte als wichtigstes Beispiel heran.53 In diesem Zusammenhang benutzte man das gebräuchlichste schwedische Wort für eine Handwerkszunft, nämlich »skra«, um die Korporationen im allgemeinen zu bezeichnen. Die Zunft wurde als Symbol eines Gesamtsystems attackiert. Liberale verspotteten die konservative, städtische Gesellschaft im allgemeinen mit dem Begriff »Skraköping«, was sinngemäß »Zunfthäuser«, aber auch »Krähwinkel« heißt und einen kleinen Ort meint, der durch Selbstsucht und Provinzialismus gekennzeichnet ist. Für die politische Theorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Zünfte somit eine breitere Bedeutung. Es ist jedoch nicht sicher, dass dies auch im 18. Jahrhundert der Fall war. Geijers »Argument« gründete sich auf die zeitgenössische idealistische Philosophie, und man kann nicht automatisch von ihm auf die vorhergehenden Jahre rückschließen. Diese Art, die Individuen mit dem Staat zu verbinden, war sicher nicht neu in der politischen Theorie. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert hatten Jean Bodin und Johannes Althusius die verschiedenen Stände erörtert und gezeigt, wie die Individuen in aufsteigender Ordnung in den Staat einverleibt wurden. 54 Diese Literatur war im Schweden des 17. Jahrhunderts wohl bekannt. Seit den 1620er Jahren lehrte man die Lehre der politischen Theorie an der Universität Uppsala auf der Grundlage von Althusis' Werken.55 Im 18. Jahrhundert traten neue Probleme in der europäischen politischen Theorie in den Vordergrund. Zunehmend wurde - außer der Familie - keine vermittelnde Körperschaft mehr zwischen dem Individuum und dem Staat akzeptiert.56 Auch in Schweden rückten zunehmend neue Autoren, hauptsächlich John Locke und Montesquieu, in das Zentrum der politischen Diskussion.57 Besonders drehten sich die politischen Debatten in Schweden sowohl während des 17. als auch während des 18. Jahrhunderts um die Beziehungen zwi53 J . G. Richert, Ett och annat, om Corporationer, Privilegier, Nämnad i Domstolar etc, Stockholm 1822, S. 8 f.; E. G. Geijer, Nytt »ett och amnat« i anledning af frågan om akademiska Jurisdiktionen, Stockholm 1822, S. 177-196. Zur Debatte der korporativen Gesellschaftsorganisation vgl. T.Jansson, Adertonhundratalets associationer, Uppsala 1985. 54 A. Black, Guilds and Civil Society in European Political Thought from the Twelfth Century to the Present, London 1984, S. 129-142. 55 N. Runeby, Monarchia mixta, Stockholm 1962, S. 450. 56 Black, Guilds, S. 153. 57 S. Lindroth, Svensk lärdomshistoria, 3. Frihetstiden, Stockholm 1978, S. 538f.
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schen der königlichen und der parlamentarischen Gewalt. Die Stände, ihre jeweiligen Rechte und Privilegien bildeten den Brennpunkt der Auseinandersetzung. Offensichtlich spielten die Zünfte in diesem Zusammenhang keine große Rolle. Die Hoffnung der Bürger, den Schutz des Privilegs für die Handwerksgesetzgebung zu erhalten, lebte auf, als Gustav III. im Jahr 1789 Unterstützung für einen Staatsstreich benötigte, der sich hauptsächlich gegen den Adel richtete. Um sich die Unterstützung des Bürgerstandes zu sichern, stellte er in Aussicht, den Bürgern eigene Privilegien ähnlich jenen des Adels und des Klerus zu gewähren. Die Bürger ergriffen sofort die günstige Gelegenheit und stellten rasch einen Vorschlag mit vielen Paragraphen zusammen. Unter ihren Forderungen verzeichneten sie den Schutz der Handwerker entsprechend der Zunftordnung von 1720 und andere Maßnahmen, welche die städtischen Gewerbe begünstigten. Letztendlich kam es nicht zu einer formellen Proklamation der Privilegien, sondern nur zu einem Versprechen von Seiten des Königs, das sich auf eine Anzahl wichtiger Probleme bezog. Die Zunftordnung wurde nicht ausdrücklich genannt, das vage Versprechen bei der Neubewerbung von Meistern, die Größe des Marktes in Betracht zu ziehen, erwies sich als folgenlos.58 Hieraus geht deutlich hervor, dass Zunftprivilegien keinen besonderen Schutz genossen. Sie galten als Teil der Gesetzgebung, welche die ökonomische Wohlfahrt des Königreiches beförderte, und konnten als solche vom Monarchen entsprechend den Erfordernissen der »Zeitumstände« oder des »Gemeinwohls« verändert werden. Dies hatte wichtige Konsequenzen für den Platz der Zünfte in der politischen Theorie. Wie schon erwähnt, befasste sich die politische Debatte im Schweden des 18. Jahrhunderts vor allem mit den Beziehungen zwischen Parlament und Monarch und mit Konflikten über die Standesprivilegien. Das Problem der Zünfte spielte in der politischen Theorie eher eine untergeordnete Rolle. Die Zunftdebatte war praktisch ausgerichtet und befasste sich hauptsächlich mit den ökonomischen Vorteilen oder Nachteilen der zünftigen Regelungen. 59 Zunftprivilegien wurden hauptsächlich als Ergebnis eines politischen Prozesses angesehen. Die zeitweilig starke Position des schwedischen Parlaments ebnete den Handwerkern den Zugang zur Politik und gab ihnen Gelegenheit, ihre eigenen Interessen anzumelden. 60
58 Söderlund, Hantverkarna, Bd. 2, S. 229-231; Wälloflige Borgare-Ståndets Protocoller Wid Riksdagen i Stockholm År 1789, Stockholm, S. 133 f., 210 ff. Es ist unklar, ob ein derartiges königliches Versprechen einer Privilegienverleihung an den Bürgerstand gleichkommt; vgl. H. Lindström, Närinesfrihetens utveckling i Sverige, 1809-1836, Göteborg 1923, S. 284-286. 59 Lindström, Näringsfrihetens. 60 Dies steht vor allem im Gegensatz zu Frankreich, wo die Debatte um die Privilegien in erster Linie legaler Natur war, wie Michael Sonenscher beschreibt. In Schweden hatte dies jedoch vor allem politischen Charakter.
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8. Die Zünfte und die wirtschaftliche Entwicklung Folgt man der schwedischen Wirtschaftsgeschichte, so spielten Handwerker und Zünfte in ihr keine wesentliche Rolle.61 Es besteht allerdings kein Konsens darüber, ob die Zünfte ein bedeutendes Hindernis für die ökonomische Entwicklung darstellten. Laut Söderlund, dem führenden Experten für das schwedische Handwerk im 18. Jahrhundert, hemmten sie lediglich die Anpassungsfähigkeit und Entwicklung der Gewerbe.62 Eli Heckscher schätzte in seiner großen Wirtschaftsgeschichte Schwedens die Auswirkungen der Zunftbeschränkungen eher noch geringer ein. Während Söderlund glaubte, dass die Zünfte Monopolpreise erzwingen konnten, hielt Heckscher dies für unwahrscheinlich. 63 Sollte dies der Fall gewesen sein, warum war der Großteil der Meister dann erwiesenermaßen so wenig vermögend? Heckscher schrieb den Zünften vielmehr einen allgemeinen konservativen Einfluss zu, der Anpassung und Innovation entgegenwirkte. Er räumte jedoch ein, dass Impulse für Veränderungen zu dieser Zeit in Schweden überhaupt schwach waren.64 Es scheint naheliegend, die hemmende Wirkung der Zünfte auf die ökonomische Entwicklung Schwedens niedrig zu veranschlagen. Die ländlichen Gewerbe konnten sich während des 18. und 19. Jahrhunderts entwickeln, ohne dass die Zünfte sie reglementierten oder bremsten. Die allgemeinen Manufakturprivilegien des Jahres 1739 entzogen die Textilindustrie zünftiger Kontrolle. Minen und Eisengießereien, die traditionell einen bedeutenden Platz in der schwedischen Wirtschaft einnahmen, wurden auf ganz andere, nicht zünftige Art und Weise geregelt. Die Forstindustrie im 19. Jahrhundert funktionierte natürlich auch ohne Einmischung der Zünfte. Die städtische Großindustrie konnte unter den Industrieprivilegien arbeiten, und selbst Handwerker, die sich neuer Techniken bedienten, konnten sich außerhalb der Zunftkontrolle etablieren. Wenig weist darauf hin, dass Zünfte einen beträchtlichen Einfluss auf die ökonomische Entwicklung gehabt haben könnten. Selbst bei der Gestaltung städtischer Gewerbe scheinen die Zünfte verhältnismäßig machtlos. Nach 1773 konnten sie nur noch Neubewerber und illegale Produzenten behelligen. Dies reicht an sich sicherlich aus, um die weitverbreitete Kritik an den Zünften zu erklären. Höchstwahrscheinlich überschätzten allerdings sowohl die Kritiker als auch die Anhänger die ökonomischen Folgen, die die Abschaffung der Zünfte nach sich ziehen würde. Jüngste Schätzungen der wirtschaftlichen Entwicklung in der städtischen und ländlichen 61 Ein neues Werk zur Wirtschaftsgeschichte Schwedens hat nur drei Eintragungen zum Thema Zünfte im Index; vgl. B. Furuhagen (Hg.), Äventyret Sverige, Höganäs 1993. 62 Söderlund, Hantverkarna, S. 207. 63 Söderlund, Stockholms, S. 98-102. 64 E. Heckscher, Sveriges ekonomiska historia från Gustav Vasa, II:1, Stockholm 1949, S. 543446.
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Gewerbeproduktion zeigen, dass das späte 18. Jahrhundert eine Krisenperiode war. Die Zeit von 1730 bis 1770 hingegen war eine Periode des Aufschwungs. Diese Perioden fallen tatsächlich mit wichtigen Änderungen in den Zunftregelungen zusammen. Im Jahr 1734 wurde die Regel eingeführt, den »Bedarf« an neuen Meistern zu berücksichtigen, 1773 dagegen wurde sie wieder abgeschafft. Vielleicht hätte ein zeitgenössischer Befürworter der Zünfte dies als klaren Beweis für die Nützlichkeit der Zunftrestriktionen angesehen. Jedoch scheint die Anzahl der Werkstätten weitgehend unberührt von diesen gesetzlichen Änderungen geblieben zu sein. Der Zuwachs an Werkstätten war nach 1773 sogar langsamer als die Befürworter der Zünfte befürchtet hatten. Grundlegende wirtschaftliche Faktoren, hauptsächlich Entwicklungen in der Landwirtschaft, waren von weitreichenderer Bedeutung für die Entwicklung der schwedischen Gewerbe als die Zunftgesetzgebung. 65
Schluss Das 18. Jahrhundert war die Zeit, in der das schwedische Zunftwesen wie nie zuvor blühte. Erst in diesem Zeitraum entwickelte es sich zu einem umfassenden System der Regulierung des städtischen Handwerks. Daneben kontrollierte der Staat die schwedischen Zünfte relativ wirkungsvoll; oft wurden sie in Wirklichkeit durch den Staat geschaffen und gehörten mithin zur merkantilistischen Politik. Die Privilegien der Zünfte waren schließlich nicht unantastbar, sondern konnten jederzeit durch die Entscheidung des Königs aufgehoben werden. Somit gab es nicht viel Raum für rechtliche Streitigkeiten über den Status der Zünfte. In Schweden mussten die Versuche, die Interessen der Zünfte zu schützen, den politischen Weg wählen. Die starke Stellung des schwedischen Parlaments und seine Organisation in vier Ständen machte dies möglich. Während der Zeit der Parlamentsherrschaft von 1720 bis 1772 erwiesen sich die Handwerker als durchaus imstande, ihre Positionen zu verteidigen. An den Aktivitäten des Vier-Stände-Parlaments lässt sich ablesen, welche Privilegienfragen zu einem Anliegen aller vier Stände des Königreichs avancierten. Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass in Schweden eigentlich nur diese vier Körperschaften wichtig waren. Dies engte den Raum für Bezeugungen von korporativem Stolz unter den schwedischen Handwerkern noch stärker ein. Die schwedischen Handwerker hatten zwar keine goldene Vergangenheit, auf die sie zurückblicken konnten, doch schloss ihr Geschichtsverständnis die wohlwollenden Taten großer Monarchen zu ihren Gunsten ein. In einem Gesuch an den König aus dem Jahre 1785 zeigten die Stockholmer Bürger, dass sie 65 Edgren, Lärling, S. 76-87; Gadd, Själlvushåll, S. 283-294, 380.
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nicht einmal die mittelalterlichen Wurzeln der Stockholmer Zünfte kannten. Ihre Geschichte der schwedischen Zünfte begann mit Gustav I. im 16. Jahrhundert. Das große Vorbild war Gustav Adolph, der versucht hatte, den Gewerben eine Ordnung aufzuerlegen. Aber der Machthöhepunkt der schwedischen Zünfte wurde erst nach 1734 erreicht, als sie das Recht erhielten, den Zugang zum Meisterstatus zu beschränken. Dieses goldene Zeitalter endete im Jahre 1773.66 Dieses Geschichtsbild ist weit entfernt von unserem üblichen Verständnis der Handwerkerzünfte, deren goldenes Zeitalter im 14. Jahrhundert lag und die danach stetig verfielen, bis sie ganz abgeschafft wurden.
66 Stockholms Stads Lofl, S. 2, 4, 19, 25.
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T A M Á S FARAGÓ
Das ungarische Zunftwesen im 18. Jahrhundert anhand quantitativer Zeugnisse 1
Die Institutionengeschichte der ungarischen Zünfte ähnelte dem österreichischen Fall. Obwohl Österreich und Ungarn beide unter der Herrschaft des Hauses Habsburg standen und die grundlegenden politischen Entscheidungen damit von derselben Regierung und Bürokratie getroffen wurden, gab es in der Entwicklung von Industrie und Gewerbe dennoch zwei wichtige Unterschiede. Zum einen war das Niveau der gewerblichen Entwicklung in Ungarn niedriger. Weniger Handwerker arbeiteten in einer geringeren Anzahl von Gewerben und für einen kleineren Kundenkreis, und neue Industrien und Manufakturen waren im 18. Jahrhundert noch kaum verbreitet. Der zweite Unterschied betraf die Gewerbepolitik der Regierung. Diese wies im Vergleich zu Österreich in Ungarn einen ca. 30 bis 60 Jahre betragenden Rückstand auf und war weniger effizient, da die ungarischen Städte und Landadeligen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vergleichsweise autonom handeln und eine eigene Gewerbepolitik betreiben konnten. 2 Trotz dieser Unterschiede haben ältere historische Arbeiten zur gewerblichen Entwicklung Ungarns die Wege der österreichischen und deutschen Forschung beschritten und sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklung des Manufakturwesens und der Institutionengeschichte des Handwerks, mit der formalen Analyse von Zunftprivilegien und -Ordnungen beschäftigt.3 Bis vor 1 Überarbeitete und erweiterte Fassung meines im Rahmen der internationalen Tagung »Theorie und soziale Praxis des Zunftsystem: das >AJte Reich< im europäischen Vergleich«, MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, 12/13. Mai 1995, gehaltenen Vortrags. 2 Der den Bürgerkrieg in Ungarn beendende Friedensvertrag von Szatmár (1711) stellte einen Kompromiss zwischen dem ungarischen Adel und dem Wiener Hofdar. Im Gegenzug für ihre Unterwerfung und die Anerkennung der Habsburger Herrschaft wurde den aufständischen ungarischen Adeligen eine Amnestie zugesichert und sie behielten ihre Sonderrechte innerhalb des lokalen Bereichs. In Ungarn hielten sich damit die Gesetze und Sonderrechte einer spätmittelalterlichen Ständegesellschaft, ohne dass sich bis zu den 1760er Jahren absolutistische Tendenzen innerhalb der Verwaltung durchsetzen konnten. 3 Zur älteren Literatur vgl. G. Eperjessy, Mezövárosi és falusi céhek az Alföldön és a Dunántúlon [Zünfte in den Dörfern und Marktstädten der Ungarischen Tiefebene und Transdanu-
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kurzem ging die Mehrzahl der Historiker davon aus, dass die gewerbliche Entwicklung Ungarns auf diese Weise adäquat untersucht werden könne. Quantitative Forschungen, die sich mit Quellen beschäftigten, die die gesamte Sozialstruktur Ungarns abbilden, nämlich mit Konskriptionslisten, zeigen jedoch besonders in den kleineren Städten und auf dem Land Hunderte von Handwerkern, die keiner Zunft angehörten und auch nicht aufgrund eines Schutzbriefs der Habsburger Regierung außerhalb der Zunft arbeiten durften. Diese Daten stellten die Bedeutung und die Aussagekraft der zuvor benutzten institutionellen Quellen und das auf ihrer Grundlage entworfene Bild des Zunftsystems in Ungarn in Frage.4 Diese Erkenntnisse zwangen dazu, die Forschungsperspektive zu verändern und anstatt nach der Geschichte des Zunftwesens nach den Grundlagen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu fragen, also nach Produktion und Konsumption, Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation und nach der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung. Einige einführende Bemerkungen über die Entwicklung des Handwerks und die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Ungarn um die Wende zum 18. Jahrhundert sollen vorangestellt werden. Ende des 18. Jahrhunderts existierten im Königreich Ungarn 61 königliche Freistädte, die allerdings in ihrer Mehrzahl für europäische Verhältnisse klein waren. Nach der ersten Volkszählung von 1785/87 besaß nur ein Viertel von ihnen mehr als 10.000 Einwohner. Die größte Bevölkerungskonzentration fand sich dabei in den aneinander angrenzenden Städten Buda (Ofen), Pest und Obuda (Altofen) - dem späteren Budapest - , die um 1787 zusammen fast 60.000 Einwohner zählten. Die sechshundert Marktflecken, die zumeist 1000 bis 5000 Einwohner hatten, stellten einen besonderen Stadttyp innerhalb der ungarischen Siedlungsstruktur dar. Obwohl ein großer Teil von ihnen Stadtfunktionen erfüllte, wiesen viele eher eine Zwischenform zwischen urbaner und ländlicher Gesellschaft auf Ein großer Teil von ihnen war stark an der landwirtschaftlichen Produktion beteiligt und verfügte nur im wirtschaftlichen bicns], Budapest 1967; O. Domonkos (Hg.), Kézmüvesség [Handwerk], (= Magyar Néprajz, Bd. 3), Budapest 1991; G. Mérei »Magyarország gazdasága« [Die ungarische Wirtschaft], in: ders. u. K. Vörös (Hg.), Magyarország története 1790-1848 [Die Geschichte Ungarns], (= Magyarország története, Bd. 5), Budapest 1980, S. 213-424. Vgl. auch die zusammenfassende Bibliographie zur ungarischen Handwerksgeschichte O. Domonkos u, P. Nagybákay (Hg.), Magyarország kézmüvesipartörténetének válogatott bibliográfiája [Auswahlbibliographie zur ungarischen Handwerksgeschichte], Budapest 1992. 4 Das mythische Bild des vonndustriellen ungarischen Handwerks - oder besser gesagt: das Bestehen einer vorgefassten Meinung wurde mir bewusst, als ich einige ältere Kollegen zu dem Problem der nicht-zünftigen Handwerker befragte. Sie antworteten mir, dass es unmöglich gewesen sei zu arbeiten, ohne Mitglied einer Zunft gewesen zu sein. Falls ein Nachweis der Zunftmìtgliedschaft fehle, so wäre dies auf den Verlust der entsprechenden Dokumente zurückzuführen.
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Bereich über eine beschränkte lokale Autonomie. Die Einwohner dieser beiden Stadtgruppen machten 15% der Gesamtbevölkerung Ungarns aus, während sich der Rest - und damit die übergroße Mehrheit der Ungarn - auf rund 12.000 Dörfer verteilte. Während die königlichen Freistädte politisch selbständig waren, hingen die Marktflecken und Dörfer von den Grundherren ab. Marktplätze befanden sich zumeist in den Städten und ermöglichten einen ständigen Kontakt zwischen dem ländlichen und städtischen Handwerk und der Bevölkerung. Es gab eine Reihe von städtischen Zünften, denen es gelang, auch die verstreut lebenden dörflichen Handwerksmeister zu integrieren. Allerdings war das Verhältnis von städtischem und ländlichen Handwerk in mehrfacher Hinsicht schwierig. Die Zünfte brauchten für ihre Aktivitäten auf dem Land (einschließlich der Marktflecken) die Genehmigung des Grundherrn. Gleichzeitig war eine Zunftmitgliedschaft für ländliche Handwerker nicht unbedingt notwendig, da ihre Kunden in den in der Nähe befindlichen Dörfern lebten, wo die Landhandwerker mit der Erlaubnis des Grundherrn ihren Beruf auch ohne Zunftzugehöriekeit ausüben konnten. Die wesentlichen Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten lassen sich für das Handwerk folgendermaßen zusammenfassen (vgl. Tabelle 1): Während sich das Handwerk in den größeren urbanen Zentren ähnlich wie in deutschen und österreichischen Städten entwickelte (wenn auch mit geringerem Umfang, einfacherer Produktenpalette und oft auf niedrigerem qualitativen Niveau), lässt sich dies für das ländliche Gewerbe Ungarns nicht sagen. Dieses zeichnete sich durch eine sehr viel ausgeprägtere Saisonarbeit aus. Viele Handwerker waren zugleich als kleine Landwirte, Weinbauern oder Tagelöhner tätig. Klare Grenzen bestanden oft weder zwischen Handwerk und Landwirtschaft noch zwischen einzelnen Gewerben. Zum Beispiel arbeiteten Müller häufig auch als Tischler, waren Metzger gleichzeitig Gastwirte und Lebensmittelhändler, Schuhmacher zugleich Gerber. Es kamen sogar Berufskombinationen vor, die sich weder durch ähnliche Rohmaterialien noch durch vergleichbare Bearbeitungsweisen erklären lassen, zum Beispiel Müller und Fischer oder Schmied und Musiker. Städtisches und ländliches Handwerk vertrieben ihre Produkte auch auf unterschiedliche Art und Weise. Die Zünfte konnten die Preise nur in den Städten, nicht aber auf dem Land kontrollieren. Im allgemeinen wurden die Preise der Grundnahrungsmittel (Fleisch und Getreide) von der lokalen Obrigkeit festgelegt, die auch die Tageslöhne und zuweilen sogar die Preise der wichtigsten Handwerksprodukte bestimmte. Doch während die Zünfte in den Städten Einfluss auf die Preisfestsetzung nehmen konnten, setzten sich im ländlichen Bereich die Interessen des ländlichen Adels und der Grundherren durch, die die landwirtschaftliche Produktion, an der sie oft selbst beteiligt waren, bevorzugten. 5 5 O. Domonkos År és bérlimitációk Sopron városban és Sopron megyében (XVI-XDC század)
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Tabelle 1: Unterschiede zwischen städtischem und ländlichem Handwerk in Ungarn während des 18./19. Jahrhunderts Städtisch
Ländlich
Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsleben Gewerbliches Leben
Ständig
Saisonal
Preisfestsetzung durch
Städtische Obrigkeit
Grundherrn
Verkauf
Bürger/Juden/griechische Händler
Jahrmärkte/direkt vorn Hersteller
Gewerbliches Organisationsniveau
Zünftig
Teilweise zünftig/teils unzünftig
Höhepunkt der Zunftgründungen
15. bis 17. Jahrhundert
Spätes 18. bis frühes 19. Jahrhundert
Nachfrageverhalten verschiedener sozialer Gruppen Waren
Ländliche Eliten/städtische Bevölkerung
Bauern/Dorfbewohner
Aus dem Import
+
-
Aus handwerklicher Produktion
+
+a
Aus häuslicher Produktion
-
4+
a
Teilweise von örtlichen Handwerkern hergestellte Produkte geringerer Qualität.
Eine andere Besonderheit der Preisgestaltung für gewerbliche Produkte bestand darin, dass sich die nicht festgesetzten »freien« Preise nach den örtlichen Gepflogenheiten und alltäglichen Bedürfnissen richteten. Ferner ließ sich der Wert der Waren oft nicht in Geld ausdrücken, da Tauschhandel üblich war. Ein großer Teil der Bevölkerung bezahlte die gewerblichen Produkte mit Naturalien, manchmal auch mit Arbeit. Bargeld war knapp, zumal das wenige vorhandene Geld für Steuerzahlungen gebraucht wurde. Der Verkauf (bzw. Tausch) erfolgte zumeist direkt zwischen Hersteller und Verbraucher entweder noch in der Werkstatt oder indem der Handwerker durch die umliegenden Dörfer zog und seine Waren dort feilbot. [Preis-und Lohnfestsetzungen in Sopron, 16. bis 19.Jahrhundert], (= Elömunkálatoka Magyarság néprajzához, Bd. 8), Budapest 1980; Eperjessy, Mezövárosi. 254 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Außerhalb der Stadtmauern verfügten die Zünfte über weit mehr Prestige als über wirtschaftliche Macht. Verglichen mit ihren westlichen Pendants war ihre Rolle in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt. Sie waren nur in der handwerklichen Produktion tätig. In den Bereichen Handel, Verkehr und Dienstleistungen gab es kaum Zünfte. Dann handelte es sich bei den Zünften in erster Linie um städtische Institutionen. Ländliche Zünfte entstanden erst spät, überwiegend im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und damit nicht lange vor der Einschränkung und Abschaffung des Zunftwesens. 6 Die wirtschaftliche Landkarte Ungarns war im 18. Jahrhundert durch deutliche Gegensätze zwischen sozialen Gruppen, Siedlungsweisen und Regionen geprägt. Die urbanen Eliten verhielten sich in Fragen der Mode, des Lebensstils und des Konsums ähnlich wie entsprechende österreichische und deutsche gesellschaftliche Gruppen. Sie lasen deutsche und französische Literatur, trugen österreichische Kleidung und Schuhe, tranken Kaffee und Tee, d.h. sie kauften zum einen importierte Produkte, zum anderen ermöglichten sie durch ihre Nachfrage die Existenz einer Gruppe von westlichen Handwerkern. Dieser Gesellschaftskreis ähnelte dem deutschen mitteleuropäischen Wirtschaftssystem: die Organisation, die Werkzeuge und Herstellungsweisen und sogar die Sprache waren die gleichen, denn sowohl die Mehrheit der Bürger wie der städtischen Handwerker kamen im Anschluss an den Türkischen Krieg aus dem Heiligen Römischen Reich und dem Habsburgischen Herrschaftsbereich nach Ungarn. Im Gegensatz dazu bestand die ländliche Bevölkerung überwiegend aus Ungarn, Slowaken und Südslawen, die mit Ausnahme der Serben schon seit Jahrhunderten ansässig waren, und die sich nach traditionellen Gewohnheiten kleideten. Sie trugen Trachten, die von den lokalen Handwerkern hergestellt wurden. Einen Teil ihrer Konsumbedürfnisse befriedigten sie auf Jahrmärkten, einen anderen durch Tauschgeschäfte mit umherziehenden Handwerkern und Händlern. Doch ein wichtiger Teil der Werkzeuge, Kleidungsstücke und Nahrungsmittel wurde entweder im eigenen Haushalt oder von darauf spezialisierten Mitgliedern der ländlichen Gesellschaft hergestellt. So gab es zum Beispiel am Ende des 18. Jahrhunderts in den meisten Teilen des Landes kein spezialisiertes Baugewerbe, da man die Bauernhäuser ohne die Hilfe ausgebildeter Steinmetze und Zimmerleute baute. 7 Auch regional unterschied sich das Handwerkje nach dem jeweiligen kulturellen Erbe - Ungarn zeichnete sich sowohl in ethnischer wie in religiöser
6 Dabei ist festzuhalten, dass das entworfene Bild vor allem für Mittel- und Ostungarn zutrifft. In den westlichen Landesteilen konnten die Zünfte - ähnlich wie in Deutschland - ein vergleichsweise dichtes ländliches Netzwerk bilden. Vgl. Domonkos, Kézmûvesség. 7 Unter den zum Militärdienst einberufenen Steinmetz- und Zimmermannsgesellen von 1778 konnten wir für manche Gebiete keinen einzigen finden. Vgl. Nationalarchiv, A 39, 2614/ 1779.
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Hinsicht durch erhebliche Vielfalt aus 8 - , nach der Prägung durch das österreichisch/mitteleuropäische Wirtschafts- und Sozialsystem und nach den ökologischen Voraussetzungen. Die westlichen Landesteile standen stärker mit den entwickelteren Territorien in Kontakt. Außerdem wurde ein wichtiger Teil Südungarns (das Banat) und Transdanubiens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von deutschen und österreichischen Bauern besiedelt. Auch wenn diese nicht sofort nach ihrer Niederlassung ein zünftig organisiertes Handwerk aufbauten, brachten sie doch verfeinerte fremde Konsumgewohnheiten mit.9 Im Gegensatz dazu lässt sich für Ostungarn und Siebenbürgen, wo ein großer Teil der Landbevölkerung aus Rumänen und Ukrainern (Ruthenen) bestand und russisch-orthodox war, ein starker Einfluss östlicher Herstellungs- und Kleidungsweisen feststellen, während westliche Kultur und Wiener Mode sich hier sogar auf die Eliten weniger stark auswirkten.
1. Die Entwicklung des ungarischen Zunftsystems Die Anfänge des ungarischen Zunftsystems reichen weit in die Zeit vor dem 18. Jahrhundert zurück. Die ersten Zeichen zünftigen Lebens finden sich im 14. Jahrhundert in den von Sachsen in Oberungarn (Zips) und in Siebenbürgen gegründeten größeren Städten. Die Zünfte stellten aller Wahrscheinlichkeit nach eine im Zuge des mittelalterlichen Siedlungsprozesses importierte Form der wirtschaftlichen und sozialen Organisation dar. Sie waren aber auch das Ergebnis lokaler Bedingungen und eines kulturellen Diffusionsprozesses, in dessen Folge sich Ideen und Praktiken der stärker organisierten und differenzierten sozialen Systeme von den urbanisierten Regionen Europas aus in die weniger entwickelten und dünner besiedelten Gegenden ausbreiteten. Allerdings handelte es sich bei dem Staatsbildungsprozess in Ungarn und der Entwicklung der ungarischen Gesellschaft bekanntlich keineswegs um einen linearen Prozess, der vom Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert reichte. Die Kriege und die türkische Besetzung großer Teile des Königreichs Ungarn von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts führten zu Brüchen sowohl innerhalb des gesellschaftlichen Lebens überhaupt wie auch hinsichtlich der Entwicklung von Gewerbe und Zünften: Während des 16. und 17. Jahrhunderts wurde das ungarische Stadtgefüge zum Teil zerstört, zum Teil verändert, indem sich der Schwerpunkt von dem 8 Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es im Königreich Ungarn (einschließlich Siebenbürgen) neun große ethnische Gruppen (Ungarn, Deutsche, Slowaken, Rumänen, Ukrainer (Ruthenen), Serben, Kroaten und juden), sowie sieben Konfessionen (römisch und griechisch katholisch, griechisch-orthodox, kalvinistisch, lutherisch, unitarisch und jüdisch). 9 T. Faragó, Buda és környékénék kézmûipari szerkezete a 18. század elején (Die Struktur des Handwerks in der Stadt Buda und ihrer Umgebung im 18. Jahrhundert], in: Statisztikai Szemle.jg. 63, 1985, S. 1127-1141.
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ehemaligen Zentrum des Verkehrs, des Handels und der Verwaltung (Buda und seiner Umgebung) nach Westen verschob. Infolgedessen verlor ein großer Teil des Landes - die ungarische Tiefebene, das Banat und Siebenbürgen - den direkten Kontakt zur westlichen Welt. Der kulturelle Einfluss Westeuropas nahm einerseits ab, zum anderen veränderte er sich dahingehend, dass nun statt der Übertragung von sozialen und wirtschaftlichen Erfahrungen und Institutionen vorrangig ein Transfer von Militärtechnik und Ideologien (Reformation) stattfand. Die ungarische Gesellschaft und Wirtschaft kamen in starkem Maße unter den Einfluss der Balkanstaaten. Das Land wurde zum Teil von Serben, Kroaten und türkischem Militär bevölkert, und selbst unter Ungarn passte sich der Lebensstil im Hinblick auf Kleidung, Werkzeuge und Ernährungsgewohnheiten in vielfacher Weise dem östlichen Vorbild an. Dadurch verringerte sich die Nachfrage nach westlichen Handwerksprodukten, so dass auch die Entwicklungs- und Überlebenschancen des westlich geprägten Handwerks schwanden. Während der 150jährigen Türkenherrschaft wurde das Land entvölkert, enturbanisiert und de-industrialisiert, soDansdie Grundvoraussetzungen für die Existenz eines organisierten Handwerks fehlten. Während sich in anderen Teilen Europas bereits im 16. und 17. Jahrhundert eine Luxusindustrie entwickelte, sorgte sich die ungarische Bevölkerung in dieser Zeit hauptsächlich um ihr tägliches Überleben. Sie war gezwungen, ihre Aufmerksamkeit auf die Subsistenzwirtschaft zu richten, statt auf verfeinerte Produkte und Luxusgüter. Am Ende des 17. Jahrhunderts, nachdem die Türken nach und nach vertrieben worden waren (dieser Prozess begann mit der Belagerung Wiens 1683 und endete mit dem Frieden von Pozarevac 1718), war der südöstliche Teil Ungarns stark unterbevölkert. Die Gesellschaft befand sich in einem nahezu mittelalterlichen Zustand; sie war fast vollständig ländlich, und die wirtschaftliche Situation war durch eine extensive Weidewirtschaft und eine einfache Subsistenzwirtschaft geprägt. Der sofortige Wiederaufbau der Gesellschaft, d.h. mit anderen Worten: die Wiederholung des mittelalterlichen Siedlungsprozesses, war dringend notwendig. Parallel zu diesem Siedlungsprozess kam es in den 1680er und 1690er Jahren zu einem starken Anstieg der Zunftgründungen (vgl. Tabelle 2). Unglücklicherweise blieb dieser soziale und wirtschaftliche Aufbauprozess nicht ungestört. Vielleicht war es Pech, dass der Wiener Hof gerade zu diesem Zeitpunkt versuchte, eine neue Form der Regierung einzuführen: den Absolutismus. Die ungarische Gesellschaft war jedoch nicht bereit, dieses für entwickeltere Gesellschaften gedachte System zu übernehmen. Habsburg unterschätzte die Stärke des ungarischen Adels, der über Jahre hinweg im Grenzkrieg gekämpft hatte. So kam der Aufbauprozess bereits nach wenigen Jahren zum Stillstand, abgelöst von einem zehnjährigen Bürger- bzw. Unabhängigkeits257 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Tabelle 2: Entwicklung der Zunftgründungen in Ungarn (1600-1870er Jahre) Gegründe- Jährlicher te Zünfte Durchschnitt
Bemerkung
1600-1687
999
11,4
Türkische Kriege
1688-1703
424
26,5
Phase der Wiederbesiedlung
1704-1710
53
7,6
Krieg gegen Österreich, Pest 1709-1710
1711-1728
371
20,6
Steuervergünstigungen zur Beförde rung der Wiederbesiedlung
1729-1760
196
6,1
1761-1783
556
24,2
1761 mussten alle Zunftprivilegien erneuert werden
1784-1814
179
5,8
Zunahme der staatlichen Eingriffe in das Zunftwesen
1815-1847
1127
34,2
Zunftprivilegien müssen 1815 erneuert werden, strikte Zunftkontrolle
1847-1883 b
82
2,8
Bürgerkrieg 1848-1849, allmähliche Auflösung des Zunftsystems
Die Zeitabschnitte wurden nach der Entwicklung der auf die Zünfte gerichteten Gewerbepolitik gewählt. b Obwohl die Zünfte 1872 abgeschafft wurden, wurden nach dem Zunftregister drei neue Zünfte gebildet, die bis 1883 bestehen blieben.
a
Quelle: I. Érí, L. Nagy u. P Nagybákay (Hg.), A rnagyarországi céhes kézmûvesipar forrásanyagának katasztere [Ungarische Zunftregister], 2 Bde., Budapest 1975/76.
krieg und einer Pestepidemie, die 1709/10 durch die Armeen im ganzen Land verbreitet wurde. Der im Jahre 1711 zwischen Wien und den ungarischen Eliten ausgehandelte Kompromiss zog eine zweite Welle der Zunftgründungen nach sich. Dieser Vorgang wurde auch durch einen Gesetzesartikel des ungarischen Landtags von 1723 erleichtert, demzufolge einwandernde Handwerker fünfzehn Jahre lang keine Steuern bezahlen mussten. Für die Zeit nach 1730 ändert die Kurve der Zunftgründungen ihr Aussehen. Die Entwicklung der städtischen und ländlichen Zünfte verlief nun parallel. Die neuerlichen Anstiege lassen sich dabei nicht mehr auf soziale oder wirtschaftliche Veränderungen oder auf die Bevölkerungsentwicklung zurückführen. Ab 1729 versuchte die Regierung nach und nach, die Kontrolle über die Zünfte zu intensivieren. Sie entwickelte ein Aufsichtssystem und versuchte 258 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
mehrfach, Zunftregeln und -funktionen zu vereinheitlichen. Die beiden Wellen der Zunftgründungen waren mit diesen wiederholten Reformen (1761 und 1813) verbunden, die den Handwerkern und Zünften vorschrieben, ihre verbrieften Rechte neuerlich bestätigen zu lassen. Diese Bestimmungen führten dazu, dass bestehende Zünfte ihre Rechte bestätigen ließen, bisher nur informell agierende, lokal jedoch akzeptierte Organisationen nun eine offizielle Anerkennung ihrer Sonderrechte verlangten. Auch das Nachlassen der Gründungsaktivitäten war auf politische und administrative Faktoren zurückzuführen, nämlich einerseits auf den zunftfeindlichen Charakter der Reformen Joseph I. in den 1780er Jahren, andererseits auf die anti-österreichische Stimmung während des Unabhängigkeitskriegs von 1848/49. Hinsichtlich der Entwicklung des Zunftwesens lassen sich für das 18. und 19. Jahrhundert also drei Phasen unterscheiden: a) die bis in die 1730er Jahre dauernde Phase des Wiederaufbaus des mittelalterlichen Zunftsystems, der vor allem auf die eigenständigen Interessen der Stadtgemeinden und der Handwerker zurückzuführen ist. b) die Phase des Übergangs von einer autonomen, lokal geprägten Zunftentwicklung hin zu einer staatlich kontrollierten und uniformierten Entwicklung, angefangen in den 1730er Jahren, aber deutlich an Schwung gewinnend nach 1761 und 1813 und über 1848/49 hinweg bis zur zweiten absolutistischen Periode der 1850er und 60er fahre. c) die Phase des Verfalls des Zunftsystems zwischen den 1850er und 1880er Jahren.
2. Wesentliche Charakteristika des Zunftsystems in U n g a r n Der fortwährende deutsch-österreichische Einfluss, das regionale Entwicklungsmuster und die Ausbreitung der Institutionen von den Städten in die ländlichen Gegenden kennzeichneten die Entwicklung des Zunftsystems in Ungarn. Der deutsche Einfluss basierte im wesentlichen auf zwei Faktoren, die konkreten Zunftrechte wurden dem österreichischen und deutschen Beispiel entnommen. Manchmal befand sich die Zentrale einer Zunft - etwa der »Hauptladen« der Färber und Lebzelter - in Wien. Der zweite Einflussfaktor hing mit der ethnokulturellen Herkunft der Handwerksmeister und -gesellen zusammen. Nach Schätzungen siedelten sich zwischen 1680 und 1790 mindestens 50 bis 60.000 Handwerker aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und aus den Ländern der österreichischen Krone in Ungarn an.10 Am Ende des 10 Die Schätzungen der Zahl der deutschen Zuwanderet in der Zeit zwischen dem späten 17. und dem frühen 19. Jahrhundert liegen zwischen 150 und 350.000. Mindestens 30% dieser Zu-
259 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
18. Jahrhunderts war etwa die Hälfte der Handwerker deutscher Herkunft. Bis in das 19. Jahrhundert hinein lassen sich in einigen Zünften nicht nur die Sonderrechte auf einen deutschen Ursprung zurückzuführen, sondern das Deutsche dominierte auch als die Berufssprache und prägte die Berufskultur. Dies vermittelt eindrucksvoll die Existenz eines deutschen Handwerkeruniversums in Mitteleuropa im 18. und 19 Jahrhundert, das erst nach dem Ersten Weltkrieg durch ethnische, kulturelle und politische Grenzen geteilt wurde. Vergleicht man die Anzahl und die regionale Verteilung der Zünfte anhand des Zunftregisters, lassen sich deutliche regionale Muster erkennen. 11 Die Dichte der Zünfte nahm von Westen nach Osten hin kontinuierlich ab. Dies entsprach zwar der geringeren Bevölkerungsdichte in den östlichen Landesteilen, doch die (negative) Korrelation zwischen Zunftdichte und Entfernung von der westlichen Grenze war größer als die zwischen Zunftdichte und Größe und Dichte der Bevölkerung. Einige Fallbeispiele bestimmter Gewerbe konnten eine in räumlicher und zeitlicher Hinsicht schrittweise Verbreitung des Zunftwesens nachweisen.12 Die Erklärung für dieses Phänomen liegt zum einen in dem beschriebenen Diffusionsprozess, der Zeit brauchte, um die östlichen Gebiete zu erreichen, zum anderen in den speziellen Umständen und der ethnokulturellen Prägung des Siedlungsprozesses. Die Mehrheit der deutschen, österreichischen und böhmischen Zuwanderer siedelte sich in Transdanubien (Schwäbische Türkei), im Süden (Banat) und in der Landesmitte, um Buda und Pest, und nicht im östlichen Ungarn an. Allerdings ist festzuhalten, dass das Zunftsystem im Banat im 18. Jahrhundert nicht sehr weit entwickelt war. Dieses Territorium entwickelte sich zu einer Agrarexportregion, in der handwerkliche Traditionen eher verblassten. Die örtlichen Quellen erwähnen für die Mitte des 18. Jahrhunderts oftmals Fälle, in denen Zuwanderer ihren Handwerksberuf aufgaben, um sich der einträglicheren Landwirtschaft zuzuwenden. Betrachtet man die Daten für das Zunftwesen der an der österreichischen Grenze ungefähr 40 km von Wien entfernt gelegenen Stadt Pozsony/Preßburg, so fällt auf, dass sich selbst in einem zünftig geprägten Gebiet der Organiwanderer waren ursprünglich Handwerker gewesen. Vgl. T. Faragó, Magyarország XVIII. századí vándormozgalmai az 1770-1780-as évek állami adatgyüjtéseinek tükrében [Migrationsbewegungen in Ungarn im 18. Jahrhundert im Lichte der Einberufungslisten der 177()er und 1780er Jahre], in: C. Fazekas (Hg.) Társadalomtörténeti tanulmányok, Miskolc 1996, S. 109-123; T. Kotîega, Német bevándorlók II. József korában [Deutsche Immigranten in der Zeit Josephs II.], in: Történeti Demográfìai Füzetek>Jg. 12, 1993, S. 33-55. 11 Bei dem Zunftregister handelt es sich um eine zusammenfassende Datenbank, in der mehr als 4000 zwischen dem 14. und dem späten 19. Jahrhundert in Ungarn gegründete Zünfte erfaßt wurden. Vgl. I. Éri, L. Nagy u. P. Nagybàkay (Hg.), A magyarországi céhes kézmüvesipar forrásanyaganak katasztere [Ungarische Zunftregíster], 2 Bde., Budapest 1975-1976. 12 L. Szolttoky, A falusi takácscéhek Magyarországon [Die Zünfte der dörflichen Weber in Ungarn], in: Ethnographia, Jg. 83, 1972, S. 250-265.
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sationsgrad in den einzelnen Gewerben unterschied (vgl. Tabelle 3). Handel und Dienstleistungsgewerbe waren nur zu 40% zünftig organisiert, während innerhalb des Handwerks die Mehrzahl der Zünfte weniger als zehn Meister umfasste. Aufgrund der numerischen Schwäche der Zünfte konnte ein, theoretisch durch das Zunftrecht en detail geregeltes, Gewerbeleben überhaupt nicht entstehen, ganz abgesehen davon, dass auch der ökonomische und politische Einfluss solcher nur zwei bis vier Mitglieder umfassenden Zünfte gering gewesen sein dürfte. Tabelle 3: Zunftmitgliedschaft von Handwerkern, Händlern und Unternehmern im Dienstleistungsgewerbe in Pozsony (Preßburg) um 1821 (Angaben in %) Handwerk
Andere3
Insgesamt
Verteilung der Zünfte nach Zahl der organisierten Meister 1 2-9 10-19 Über 20 Insgesamt N
12,5 56,8 21,6 9,1
_ 33,3 41,7 25,0
11,0 54,0 24,0 11,0
100,0
100,0
100,0
88,0
12,0
100,0
92,5 7,5
41,6 58,4
76,0 24,0
100,0
100,0
100,0
Die Verteilung der Meister nach ihrer Zunftmitgliedschaft Mitglieder Nicht-Mitglieder Insgesamt N
| 943
454
1397
aHändler,
Transporteure (Schiffer, Droschkenkutscher, Fuhrmänner), Fischer, Gärtner, Gastwirte. Quelle: P v. Ballus, Beschreibung der Königl. Freistadt Pressburg und ihrer Umgebungen, Pressburg 1823, S. 202-205. In der Anfangsphase des Zunftwesens überwogen die städtischen Zünfte. Doch änderte sich dies im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Von den 1760er Jahren an nahm die Bedeutung der ländlichen Zünfte zu, und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die meisten Zünfte im ländlichen Bereich (besonders in den 261 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Marktstädten doch auch in größeren Dörfern) gegründet. Dies ist allerdings nicht mit einem Verfall des Zunftsystems in den ungarischen Städten gleichzusetzen. Dieser Prozess ist das Ende der Formationsphase der städtischen Zünfte. Zum anderen zeigt er das Vordringen eines Teils der städtischen Arbeitsweisen in den ländlichen Bereich, eine zunehmende Arbeitsteilung und Professionalisierung, d.h. mit anderen Worten die Ausgliederung bestimmter Arbeiten aus der bäuerlichen Wirtschaft und ihre Verwandlung in bzw. Substituierung durch gewerbliche Berufe. Ein anderer wichtiger Indikator für die Entwicklung des Zunftsystems ist das Niveau der Zunftmitgliedschaft nach Gewerbe und nach Siedlungsform. Die Quellen beweisen ein hohes Niveau der Zunftmitgliedschaft für die in den königlichen Freistädten lebenden Handwerker. Weniger eindeutig ist hingegen die Situation in den ländlichen Gegenden des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Auch wenn die Höhe der Zunftmitgliedschaft in den Marktflecken in Transdanubien fast das Niveau der großen Städte erreichte, blieb sie in den Städten des östlichen Ungarns mit nur 50 bis 60% vergleichsweise niedrig (vgl. Tabelle 4). In den Dörfern lag den Daten zufolge die Zunftmitgliedschaft am Ende des 18. Jahrhunderts sogar noch deutlich niedriger, gewöhnlich unter 20%. Allerdings gab es erhebliche gewerbespezifische Unterschiede. Im Allgemeinen war die Zunftkontrolle im Bekleidungsgewerbe besonders stark, fiel hingegen für die Nahrungsmittelherstellung und das Baugewerbe deutlich schwächer aus. In diesen Gewerben versuchten die Grundherrn, die als Konkurrenten oder Kunden auftraten, eine zünftige Organisation zu verhindern. 13 Auch in der Holz- und Eisenverarbeitung blieb die Zunftmitgliedschaft niedrig. Diese Handwerksmeister stellten den Kern des örtlichen Dienstleistungsgewerbes. Sie versorgten einen festen Kreis örtlicher Kunden mit ihren Waren und Dienstleistungen und produzierten weder für den größeren Markt, noch waren sie an der Qualitätskontrolle, die von den städtischen Zünften ausgeübt wurde, interessiert. Die beste Datengrundlage für die Gewerbestruktur der königlichen Freistädte liegt für 1777 vor. Die einfachste Form einer Strukturanalyse des zeitgenössischen Handwerks besteht darin, den Anteil des jeweiligen Gewerbes an den Zünften zu bestimmen (vgl. Tabelle 5). Diese Zusammenstellung zeigt die herausragende Bedeutung des Bekleidungs- und Textilgewerbes. Ferner weist sie einen interessanterweise vergleichsweise großen Anteil gemischter Zünfte nach, d.h. von Handwerkerorganisationen, in denen zwei oder mehr Gewerbe vertreten waren. Dies zeigt, dass es für die Zunftgründungen nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und politische Gründe gab; schließlich konnten 13 Große Teile der Mühlen und Metzgereien waren im Besitz der ortsansässigen Grundherrn, die das Privileg hatten, diese Gewerbe betreiben zu dürfen. Im Fall des Baugewerbes stellte der wohlhabende Adel neben der Kirche den größten Kunden dar, dessen Interesse gewöhnlich darin bestand, billiger arbeitende unzünftige Handwerker zu beschäftigen.
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Tabelle 4: Höhe der städtischen und ländlichen Zunftmitgliedschaft im 18. Jahrhundert (Angaben in %) Dörfer
Marktflecken
Ländliche Müller Baranya
Ostungarn
Transdanubien
98,4
38,2
0,0
-
Pilis
Baranya
Gewerbezweig Töpferei Leder
92,7
31,0
-
Nahrungsmittel
76,0
0,0
20,0
18,5
Bauhandwerk
76,2
0,0
15,4
-
Holz
50,6
0,0
12,5
-
Bekleidung
91,7
87,2
12,1
-
Textil
65,8
25,9
16,7
-
Eisen und Metall
75,5
4,5
16,0
-
andere
91,7
0,0
-
-
zusammen
82,1
57,8
15,0
N
775
:
823
200
7,0
3,7 407
542
Quellen: V Bácskai, A város és tirsadalma a XVIII. Században [Stadt und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert], in: J . Kanyar (Hg.), Kaposvár. Várostörténeti tanulmányok. Budapest 1975, S. 139-180; T. Faragó, Falusi iparosok a Pilisben és Buda környékén a XVIIL században [Dorfhandwerker in der Region Pilis und in der Umgebung von Buda], in: I. Eri u. a. (Hg.), III. Nemzetközi Kézmûvesipartörténeti Konferencia, Veszprém, 1978. november 22-24., Veszprém 1979, S. 181-188; M. A. M>ró, Baranya vármegye malmai 1785/86-ban [Die Mühlen in Baranya 1785/86], in: Baranyai Helytörténetírás 1985-1986, S. 439-474; I. Taba, A szentlôrinci járás falusi társadalma és gazdasági élete II. József korában [Dörfliche Gesellschaft und wirtschaftliches Leben im Bezirk Szentlôrinc in der Zeit Josephs II.], in: Történeti Statisztikai Tanulmányokj g . 1, 1975, S. 129-230; ders.y Mohács ipara es kereskedelme 1786-ban [Gewerbe und Handel in der Stadt Mohács 1786], in: Baranyai Helytörténetírás, 1976, S. 187-204; Nationalarchiv, E 41.
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Tabelle 5: Handwerksstruktur nach Gewerbezweigen in den königlichen Freistädten (1777) (Angaben in %) Zünfte
Meister
Anzahl der Arbeitskräfte (Meister, Gesellen, Lehrlinge zusammen)
Gewerbezweig Töpferei
2,8
3,8
3,2
Leder
5,0
5,6
4,9
Nahrungsmittel
9,3
10,5
10,2
Baugewerbe
5,0
4,8
11,9
Holz
9,6
9,9
9,4
Maschinenbau
1,2
1,2
Papier
0,6
0,7
1,1 0,8
21,5
41,3
36,7
Druck
-
0,5
0,6
Textil
13,0
12,3
11,3
9,2
8,4
9,1
1,8
1,2
1,0
-
-
100,0
100,0
Bekleidung
Eisen und Metall Chemie nicht klassifìzierbar zusammen N aZwei
21,0' 100,0 1003
13306
27036,5
oder mehr verschiedene Gewerbe in einer Zunft.
Quelle: Éri, Nagy u. Nagybákay (Hg.), magyarországi; J . Kovacsics (Hg.), A történeti statisztika forrásai [Quellen historischer Statistiken], Budapest 1957, S. 383-385. die gemischten Zünfte innerhalb der lokalen Gesellschaft Ansehen und Einfluss genießen. Betrachtet man die Verteilung der Meister auf die verschiedenen Gewerbe, so wird die Bedeutung des Bekleidungsgewerbes noch deutlicher. Offenbar waren die Zünfte dieses Bereichs größer als die in anderen Gewerben. Betrachten wir hingegen nicht nur die Zahl der Zünfte und Meister, sondern die Verteilung der gesamten Arbeitskräfte, d.h. Meister, Gesellen und Lehrlinge zusammen, erhöht sich die Bedeutung des Baugewerbes. Hier arbeiteten die Meister mit einer besonders großen Zahl von Angestellten. So beschäftigten Steinmetz- oder Tischlermeister oft ein Dutzend Gesellen, die gemeinsam an einem größeren Gebäude arbeiteten. 264 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Leider gibt es kein vergleichbares statistisches Material über die gewerbliche Struktur der ungarischen Marktflecken und Dörfer. Allerdings lassen einige für die 1770er und 1780er Jahre vergleichsweise gut dokumentierten Gemeinden zwei Rückschlüsse zu (vgl. Tabelle 6): Tabelle 6: Die Struktur des ländlichen Gewerbes (Meister nach Gewerbe) (Angaben in %) Marktflecken Ostungarn
Dörfer Transdanubien
Pilis
Ðaranya
!
Gewerbezweig Töpferei
8,1
4,1
Leder
7,1
3,5
Nahrungsmittel
6,5
2,7
Bauhandwerk
0,5 17,5
0,7 0,2 13,3
5,4
2,4
6,5
2,5
Holz
11,7
7,8
16,0
67,8
Bekleidung
43,5
59,8
29,0
4,4
Textil
9,8
10,3
18,0
andere
1,6
1,2
zusammen
100,0
N
775
0,5
-
-
100,0
100,0
100,0
823
200
407
Quelle: Báeskai, város, S. 139-180; Faragó, Falusi, S. 181-188; Móró, Baranya, S. 439-474; Taba, S. 129-230; ders.t Mohács, S. 187-204; Nationalarchiv, E 4L
1.) Die Bedeutung der Bekleidungsindustrie war in den Marktstädten besonders groß, weil hier die in den größeren Städten angesiedelten spezialisierteren Handwerker fehlten, für deren Produkte in den Zentren der ländlichen Gebiete keine Nachfrage bestand. 2.) Die Struktur des dörflichen Handwerks war noch uneinheitlicher. Einige Handwerker (Schmiede, Metzger, Stellmacher) fanden sich in nahezu jedem Dorf, da ihre Produkte für die landwirtschaftliche Arbeit gebraucht wurden. Der Rest der Gewerbe war jedoch sehr ungleich verteilt. Ihre Niederlassung hing vor allem von spezifischen lokalen Voraussetzungen ab, die etwa in der Verfügbarkeit von Rohmaterialien oder von Energiequellen, aber auch in besonders guten Verkehrsmöglichkeiten oder in einer örtlichen Tradition, die zur 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Ausbildung besonderer Fertigkeiten führte, bestehen konnten. Während sich beispielsweise im Bezirk Pilis eine vergleichsweise stark ausgeprägte ländliche Kleidungs- und Textilproduktion findet, die möglicherweise auf einem von Buda ausgehenden Verlagssystem basierte,14 lässt sich in der ebenfalls untersuchten Baranya eine sehr weit verbreitete, auf die Herstellung von Fässern spezialisierte Holzindustrie nachweisen. 15
3. Anstelle einer Zusammenfassung Während des Untersuchungszeitraums trennten charakteristische Unterschiede das ländliche von dem städtischen Handwerk. Dabei handelte es sich jedoch um andere Unterscheidungslinien, als um jene, die für die stärker industrialisierten Regionen des zeitgenössischen westlichen Europas nachweisbar sind. In Ungarn lassen sich für das 18. und 19. Jahrhundert nur wenige Beispiele für die Produktion im Verlagssystem finden. Die wesentliche Differenz zwischen den städtischen und den ländlichen Gewerben bestand in dem Ausmaß der Arbeitsteilung. Diese verbreitete sich zwar, doch blieb sie während des Untersuchungszeitraums im ländlichen Ungarn unvollständig. Dass sich dieses in einem Zwischenstadium befand, lässt sich anhand dreier Indikatoren zeigen: erstens anhand der für das ländliche Handwerk deutlich abweichenden gewerbespezifischen Struktur (vgl. Tabelle 6), zweitens anhand der geringen Zunftmitgliedschaft und drittens anhand des vergleichsweise niedrigen Ausbildungsniveaus. Für letzteres bilden die Daten über die Ausbildung ländlicher Müller in der Baranya ein eindrucksvolles Beispiel (vgl. Tabelle 7). Obwohl die handwerkliche Tradition und die Zunftordnungen eine Lehrzeit und mehrjährige Gesellenwanderung vorsahen, hatten rund 45% der ländlichen Müller keine Ausbildung durchlaufen. Von denjenigen aber, die über eine Ausbildung verfügten, hatten die meisten in der unmittelbaren Umgebung gelernt. Lediglich ein Fünftel der Handwerker hatte seine Fertigkeiten außerhalb der Baranya erworben. 16 Während also in westeuropäischen Städten und gewerblich geprägten Regionen das Interesse um die Frage kreiste, welche Form der Arbeitsorganisation 14 T. Faragó, Falusi iparosok a Pilisben es Buda környékén a XVIII. Században, [Dorfhandwerker in der Region Pilis und in der Umgebung von Buda], in: I. Eri u. a. (Hg.), III. Nemzetközi Kézmüvesipartörténeti Konferencia, Veszprém, 1978. november 22.-24., Veszprém 1979, S. 181-188. 15 I. Taba, A szentlörinci járás falusi társadalma es gazdasági élete II. József korában [Dörfliche Gesellschaft und wirtschaftliches Leben im Bezirk Szentlörinc in der Zeit Josephs II.], in: Történeti Statisztikai Tanulmányok, Jg. 1, 1975, S. 129-230. 16 A. M. Móró, Baranya vármegye malmai 1785/86-ban [Die Mühlen in Baranya 1785/86], in: Baranyai Helytörténetírás 1985-1986, S. 439-474.
266 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Tabelle 7: Berufsausbildung ländlicher Müller, Baranya (1785) Ausbildungsort
(in %)
Ausbildungsart
(in %)
Baranya
80,6
In der Familie
47,4
Anderer Ort in Ungarn
13,1
Von Nachbarn, Partnern
7,2
Ausland
6,3a
zusammen
100,0
N
160
Keine Ausbildung zusammen
45,4 100,0 97
Diese Angabe ist zweifelhaft: 40 % der Müller haben deutsche Namen und mindestens 23% von ihnen waren nach derselben Quelle im Ausland geboren a
Quelle: Móróy Baranya.
die zünftige Handwerksproduktion oder das Verlagswesen bzw. die Industrie effizienter und auf Dauer durchsetzungsfáhiger sein würde, ging es Ungarn um die Professionalisierung von Teilen der Eigenproduktion der dörflichen Haushalte. Damit stand zwar in beiden Fällen die Frage der Arbeitsteilung im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, sie wurde aber auf unterschiedlichem Niveau gestellt. Dies erklärt vermutlich die große Ausbreitung des Zunftwesens im ländlichen Ungarn und die Diffusion des Zunftsystems von West- nach Ostungarn im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts, und damit in einem Zeitraum, in dem in anderen europäischen Staaten der Verfall des Zunftsystems bereits begonnen hatte.17 Die Zunftmitgliedschaft war für die ungarischen Meister immer noch vorteilhaft, weil sie ein gewisses soziales Prestige begründete, die Ausbildung der handwerklichen Fertigkeiten unterstützte und weil sie ein staatlich gefordertes Gegengewicht zum Adel bildete. Adelige traten den Zunftmeistern in Fragen der Preisbildung und der Besteuerung oft als Gegner gegenüber, denn sie konnten die ortsüblichen Taxen und Preise festlegen und hatten zudem oft das Recht, auf ihrem Gebiet das unzünftige Betreiben von Gewerben zu erlauben. Für die Zeit um 1870, für die vergleichsweise genaue Daten vorliegen, lässt sich die Korrelation zwischen den vier wichtigsten messbaren Faktoren - der Zunft-, der Handwerker- und der Bevölkerungsdichte und des Anteils deutschstämmiger Gruppen an der Bevölkerung - berechnen (vgl. Tabelle 8). 18 17 A. Black, Guilds and Civil Society in European Political Thought From the Twelfth Century to the Present, London 1984; J . Farr, On the Shop Floor: Guilds, Artisans and the European Market Economy, 1730-1750, in: Journal of Early Modern History, Jg. 1,1997, S. 24-53. 18 Die Zunftdichte wurde nach der Größe des Gebiets (in Quadratkilometern) pro Zunft gemessen, die Bevölkerungs- und Handwerkerdichte nach Personen pro Quadratkilometer.
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Tabelle 8: Korrelation zwischen Handwerker-, Zunft- und Bevölkerungsdichte und dem Anteil der deutschen Bevölkerung um 1870 (Angaben in %) Zunfr
Bevölkerung
Handwerker
Anteil der Deutschen (1880)
Dichte Zunftdichte
X
X
X
X
Bevölkerungsdichte
-0,3967
X
X
X
Handwerkerdichte
0,6107
+0,7987
X
X
Anteil der Deutschen
-0,1325
+0,1266
+0,3128
X
a Gebiet
pro Zunft in km2. Handwerker/km2. _signifìcant on p = 0,001 level significant on p = 0,01 level significant onp = 0,05 level b
Quellen: Eri, Nagy u. Nagybákay (Hg.), magyarországi; v. Ballus, Beschreibung, S. 202205; Census 1869, A Magyar Korona országaiban az 1870. év elején végrehajtott népszámlálás eredményei a hasznos házi állatok kimutatásával együtt [Bevölkerungszählung 1869], Pest 1871; L. Lang u. J.Jekelfalussy, Magyarország nepessegi statisztikája [Die Bevölkerungsstatistik Ungarns], (= Magyarország Statisztikája, Bd. 1.) Budapest 1884.
Die stärkste (positive) Korrelation (+0,8) lässt sich zwischen Bevölkerungsdichte und Handwerkerdichte feststellen, während der Zusammenhang zwischen Zunft- und Handwerkerdichte schwächer ist (0,6) und negativ (wenn die Zahl der Handwerker steigt, steigt auch die Zahl der Zünfte, wobei die Größe des Gebiets pro Zunft sinkt). Die geringere Stärke dieser Korrelation zeigt, dass selbst unseren einfachen Zahlen zufolge andere wichtige Faktoren hinter der Verteilung und der Dichte der Zünfte stecken müssen. Und dabei kann es sich nicht einfach um die Bevölkerungsdichte handeln. Denn wenn auch die Korrelation zwischen Bevölkerungsdichte und Zunftdichte immer noch signifikant ist (0,4), so scheint sie doch relativ schwach zu sein. Die Korrelationen zwischen dem deutschen Bevölkerungsanteil und den anderen Faktoren sind noch schwächer. Denn ein wichtiger Teil der deutschen Zuwanderer wechselte vom Handwerk zur Landwirtschaft. Das Gewicht und die Bedeutung der deutsch268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
Tabelle 9: Anzahl und Anteil der Handwerker in Ungarn (1787-1869) Selbstständige Handwerker je 100 Haushalte
Mitarbeiter j e 100 selbstständiger Handwerker11
Ungarn
Siebenbürgen
Ungarn
Siebenbürgen
1787a
7,5-8,0
4,0-4,5
60-80
40-50
1857
8,5
5,0
85 b
57b
1869
10,0
6,1
124b
113b
Siebenbürgen
Ungarn Unabhän- Mitgige Hand- arbeiter werker
Zusammen
Unabhän-gige Handwerker
Mitarbeiter
Zusammen
(Angaben in 1.000) 1787a
94-100
56-80
150-18O
11-13
5-7
16-20
1857
184
156
340
25
14
39
1869
239
296
535
30
34
64
1 Schätzung
Hauptsächlich Gesellen. Die Zahl schließt die wenigen Fabrikarbeiter ein (1857 und 1869). ' Die Zahl der städtischen Handwerker in den königlichen Freistädten kann auf 25 bis 30000 geschätzt werden, die der ländlichen aufl25 bis 150000. h
Quellen: Census 1857, Bevölkerung und Viehstand von Ungarn (Sämtliche Fünf Verwaltungsgcbiete). Nach der Zählung vom 31. October 1857, Wien 1859; Census 1869; berechnet nach: G. nirring, Magyarország népessége II. József korában [Die ungarische Bevölkerung in der Zeit Josephs II.], Budapest 1938.
österreichischen Kultur für das Handwerk in Ungarn bestehen weniger in dessen deutscher Prägung als in der Verbreitung westlicher städtischer und gewerblicher Erfahrungen. Anhand unseres Datenmaterials haben wir versucht, die Größe und quantitative Entwicklung der Handwerkerschaft ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu schätzen (vgl. Tabelle 9). Wir können davon ausgehen, dass es nach einem ersten Anstieg im 19. Jahrhundert zu einem relativ schnellen, die allgemeine Bevölkerungszunahme übersteigenden Wachstum der gewerblichen Bevölke269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35167-4
rung kam.19 Unseren Daten zufolge war diese Entwicklung jedoch weniger stark, als dies von der älteren Literatur zur ungarischen Wirtschaftsgeschichte angenommen wurde, deren Theorien auf falschen statistischen Angaben beruhten. 20 Allerdings lässt sich deutlich zeigen, dass die Zunahme der Zahl der Zünfte und die Diffusion des Zunftsystems von West- nach Ostungarn und von den Städten in den ländlichen Bereich nicht mit einem parallelen Zuwachs der Anzahl der Handwerker einherging. Während in Westungarn und in PestBuda die gewerbliche Bevölkerung schneller als die Zahl der Zünfte wuchs, nahm im Osten die Zahl der Zünfte überproportional stark zu. Insgesamt kann damit für Ungarn von einer Entwicklung ausgegangen werden, die sich eher in der Qualität als in der Quantität der Handwerke niederschlug. Nicht immer wuchs die Zahl der gewerblich tätigen Personen, sondern deren Professionalisierung nahm zu, so dass aus in den Statistiken vormals nicht näher klassifizierten Häuslern nun Handwerker oder Fabrikarbeiter wurden. Während des Untersuchungszeitraums verbesserte sich die Ausbildung der Lehrlinge und die Organisation des Handwerks, die personalen und technologischen Kontakte zu den weiter entwickelten europäischen Regionen nahmen zu und bereiteten die gewerblichen Arbeitskräfte auf einen Strukturwandel vor, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Form einer beschleunigten Industrialisierung und Urbanisierung erfolgte.
19 G. Heckenast, Magyarország nem magyar iparos népessége a 18. században [Die nicht-unga rische gewerbliche Bevölkerung im 18. Jahrhundert], in: Századok,Jg. 128, 1994, S. 91-101. 20 Mérei, Magyarország gazdasága.
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SVETLA lANEVA
Die Handwerker, die Zünfte und der ottomanische Staat auf dem Balkan zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Im ganzen 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb der Handwerker auf dem Balkan nicht nur Untertan und Steuerzahler des Ottomanischen Reiches, so dass seine berufliche Tätigkeit in einem vom Staat kontrollierten Bereich stattfand, sondern er war in der Regel auch Mitglied einer Korporation (esnat). Die folgende Untersuchung über das Fortbestehen der Korporationen in diesem Teil Südosteuropas wird sich auf ihre Bedeutung innerhalb der Institutionen des ottomanischen Staates und der von diesem verfolgten Wirtschaftspolitik konzentrieren. Die Untersuchung analysiert zu Beginn die Struktur, die Zusammensetzung und die Funktionsmechanismen der Zünfte und stellt ihre allgemeine Situation in der untersuchten Region vor. Anschließend wird auf die Funktion der Zünfte und die Rolle des Staates bei der Regulierung der handwerklichen Produktion zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingegangen. Dabei sollen vor allem die verschiedenen Ebenen, Akteure und Regulierungsmechanismen herausgearbeitet werden. Obwohl sich Anfang des 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen, politischen und administrativen Bedingungen im Ottomanischen Reich unter dem Einfluss der Reformen, besonders des Tanzimats veränderten, wurde der allgemeingültige Charakter des Zunftsystems nicht in Frage gestellt, in dem weiterhin die überwiegende Mehrheit der wirtschaftlich aktiven städtischen Bevölkerung organisiert war. Auch in den protoindustrialisierten einiger ländlichen Gebiete existierten Zünfte. Unter diesen sind neben den Wollfabrikanten,1 die ländlichen Messerschmiede der Gegend um Gabrovo2 zu nennen. Im städtischen Kontext verbanden sich Zünfte oft mit
1 N. Todorov, Balkanskiat grad XV-XDC vek, Sofia 1972, S. 206-260; M. Palairet, The deciine of the old Balkan wollen industries 1870-1914, in: VSWG, Jg. 70, 1983, S. 331-362. 2 I. Simeonov u. S. Tchomakov, Nojarstvoto v Novata mahala/Gabrovsko, in: Spisanie na Balgarskoto Ikonomitches Drujestvo, 1910, Bd. 1-2, S. 49-59; B. Tcholakou, Nojarstvoto v Chipka, in: Spisanie na Balgarskoto Ikonomitchesko Drujestvo, Jg. 3, 1939, S. 150-157.
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paramilitärischen Organisationen wie den Janizeren, und diese Verbindung blieb für den Balkan bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts typisch. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Zünfte in einigen Städten zu. Die Erweiterung der Zahl der städtischen Handwerksbetriebe durch die Arbeitsteilung in vielen Berufen bzw. die Herausbildung neuer Berufe trug hierzu ebenso bei wie Zusammenschlüsse in Gewerben, die bis dahin nicht zunftmäßig organisiert waren. Zu diesen hatte bis dahin die relativ geringe Zahl von Handwerksmeistern gehört, die in Kleinstädten oder Dörfern arbeiteten und die sich deshalb den Zünften nahegelegener Städte angeschlossen hatten. Ahnlich wie ihre Kollegen in Großstädten, die seltenen Berufen nachgingen, schlössen auch sie sich Zünften an, die ihnen aufgrund von Produktionsabläufen oder durch traditionelle Bindungen am nächsten standen. So bildeten in Sopor3 und in Trojan4 und mehreren anderen Städten die Gerber und die traditionellen Pelzmützenmacher gemeinsame Zünfte; in Kotel,5 Rousse, 6 Lovetch7 und anderenorts waren dagegen die Friseure und Kaffeehausbesitzer in einer gemeinsamen Zunft zusammengeschlossen, da beide Berufe oft gemeinsam ausgeübt wurden. In manchen Kleinstädten, die über keine ausdifferenzierte Berufsstruktur verfügten, gehörten die gewerblich arbeitenden Handwerker oft der größten und mächtigsten lokalen Zunft an. In dem Maße, in dem die Zahl der Handwerksberufe zunahm und sich auch die Zahl der Meister vermehrte, spalteten sie sich von diesen Zünften ab und bildeten eigene Organisationen. Dieser Prozess der steten Spezialisierung und Unterteilung der handwerklichen Berufe und das Auftauchen von neuen Korporationen scheint das ottomanische Wirtschafts- und Gesellschaftsleben bis weit in das 19. Jahrhundert zu charakterisieren, und er lässt sich im gesamten Reich vom albanischen Territorium 8 bis nach Syrien und Ägypten nachweisen. 4 Zahlreiche Beispiele illustrieren diesen Prozess. So entschieden sich die Bekleidungsschneider von groben Tuch (abaci) in Eski Djoumaya im Jahre 1857, 3 I. Penkov, Stopansko-geografska harakteristika na Vozovgrad-rodnia grad na Iv. Vazov [Wirtschaft-liche und geographische Merkmale von Vazovgrad - Geburtsstadt von Iv. Vazov anläßlich der Hundertjahrfeier seiner Geburt], in: Iv. Vazov - sbornik po slutchai 100 godini ot rojdenieto mu, Sofia 1950, S. 248. 4 I. Peikouski, Troyan, Sofia 1965, S. 24 5 S.Andreev, Danatchen spisak na kotlenskite zanaiatchii ot 1865 [Steuerliste der Handwerker von Kotcl aus dem Jahre 1865], in: Izvestia na Balgarskoto Istoritchesko Drujestvo, Jg. 26, 1968, S. 321-329. 6 NBKM, OO (Narodna Biblioteka Sv. sv. Kiril i Mctodii, Orientalski Otdel), Sicil der Kadi von Rousse R2O, R2l, R22, R23, R24, R25, R26. 7 Lovetch i Lovtchansko (geografsko, istoritchesko i eulturno opisanie),Jg. 7, 1983, S. 30. 8 Z. Skodra, Esnafet (Korporatat) ne jeten qvtetare balkanike te shekujve XVII-XVIII [Die Korporationen in der städtischen Gesellschaft des Balkans 17. bis 18. Jahrhundert], in: Studime Historikejg. 1, 1975, S. 185. 9 G. Baer, Guilds in Middle Eastern history, in: Studies in theeconomic history of the Middle East, London 1971, S. 22-30.
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»einen beruflichen Zusammenschluss außerhalb der Schneiderzunft zu bilden«, die bereits existierte.10 Auch in Bitolia in Mazedonien nahm die Zahl der Zünfte von 15, die zwischen 1800 und 1808 bestanden, auf 32 in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zu.11 Auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts blieb für den Balkan charakteristisch, dass die Zünfte sowohl Handwerker verschiedener ethnischer und konfessioneller Herkunft umfassen konnten als auch lediglich die Mitglieder einer Konfession. Nach meiner Meinung wird diese wichtige Besonderheit der sozialen Wirklichkeit des Ottomanischen Reiches von einigen Vertretern der nationalen Geschichtsschreibung auf dem Balkan bisweilen in Frage gestellt. Sie betont den homogenen Charakter der Zünfte und behauptet, dass diesen entweder ausschließlich oder mehrheitlich Mitglieder bestimmter Konfessionen angehörten.12 Dabei wird sogar der Begriff einer »ethnisch-religiösen« Zunftherrschaft gebraucht. 13 Diese Forschungen übersehen den Mischcharakter der Zünfte, der für zahlreiche städtische Zentren belegt werden kann. So war in Sofia lediglich ein Drittel der 63 Zünfte homogen, während alle anderen gemischt waren. Neun von ihnen wurden von bulgarisch-orthodoxen Handwerkern und von Moslems gebildet, vier von Bulgaren, Moslems und Juden, eine setzte sich aus Bulgaren, Moslems und Albanern, zwei aus Bulgaren und Juden, zwei andere aus Bulgaren und Albanern, eine gar aus orthodoxen Bulgaren und katholischen Handwerkern zusammen. Die Struktur von acht anderen Zünften charakterisierte man mit dem allgemeinen Begriff »reaya«, was bedeutet, dass in ihnen alle nicht-muslimischen Handwerker der Stadt zusammengefasst waren. Dreizehn weiteren gehörten entweder allein »reaya« und Muslime an. Nicht so sehr die ethnisch-konfessionelle Zugehörigkeit, sondern das Berufsprinzip scheint die Struktur der Zünfte bestimmt zu haben.14 10 NBKM, BIA (Narodna Biblioteka Sv. sv Kiril i Mctodi, Baigarski Istoriches Arhiv), f. 440, a.e.l [Buch der Schneiderzunft aus Eski Djoumaial. 11 Turski documenti za makedonskata istoria [Dokumente zur makedonischen Geschichte], Bd. 1, Skopje 1951, S. 70-107, Bd. 2, Skopje 1953, S. 18-80; K.Bitoski, Prilogkon proutchvanieto na bitolskite esnafì i nivnata opchtestvena ouloga voXTX vek [Beiträge zu den Korporationen von Bitolia und ihrer Sozialstruktur im 19. Jahrhundert], in: Glasnik na Institutot za Natzionalna Istoriajg. 10, 1966, S. 137-163. 12 A. Embricos, Vie et institutions du peuple grec sous la domination Ottomane, Paris 1975, S. 71 f.; V. Patuiyotopoulos, Artìsanat: Organisation du travail et marché aux Balkans (XVe-XTXe siècles), in: Actes du Ile colloque international d'histoire (Athènes 18.-25. septembre 1983). Economies méditerranéennes, équilibres et intercommunications XVHIe-XTXe siècles, Bd. 2, Athen 1986, S. 253-259; Istorjia Beograda, Bd. 1, Belgrad 1974, S. 370; Bitoski, Prilog, S. 135-137; H. Kresevljakovic, Esnafì i obrti u Bosni i Hercegovini [Zünfte und Handwerker in Bosnien Herzegowina], Sarajevo 1961, S. 33. 13 Panayotopouîos, Artisanat, S. 253. 14 D. Ihtchiev, Esnafski dokumenti i esnafski organizatsii v tursko vreme [Zünfte und ihre Dokumente unter der türkischen Herrschaft], in: Spisanie na Balgarskoto Ikonomitchesko Drujestvojg. 7, 1907, S. 454-456.
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Eine ähnliche Tendenz zeigt sich auch in Schoumene, wo die Kesselmacher, die Schmiede, die Axthersteller, die Maurer und die Schuster gemeinsame Zünfte bildeten, obwohl ihre Mitglieder Muslime und Christen waren. 15 In der Stadt Lovetch findet sich ein ähnliches Phänomen unter den Zünften der Kaftan-Schneider, der Seifensieder, der Schneider von grobem Tuch und der Gerber der Stadt.16 In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts zeigt sich in Serres folgende Situation: Unter den 38 Zünften, für die Informationen vorliegen, waren 15 ausschließlich christlich, neun ausschließlich muslimisch, zwei ausschließlich jüdisch, während zwölf Zünfte gemischt waren. Acht von ihnen umfassten sowohl muslimische als auch christliche Meister, zwei christliche und jüdische, und zwei weitere setzten sich aus allen drei Religionszugehörigkeiten, die in der Stadt vertreten waren, zusammen. 17 Obwohl religiöse Anordnungen die Ausübung gewisser Berufe untersagten, waren die Zünfte auf dem Balkan in ihrer religiösen Zusammensetzung eher heterogen als homogen.18 Unabhängig von ihrer ethno-konfessionellen Zuordnung und praktisch unverändert während ihrer gesamten Geschichte waren die Zünfte in den Balkanprovinzen im Ottomanischen Reich intern hierarchisch strukturiert. Diese Hierarchien waren in Statuten festgelegt. Man findet sie auch in manchen Gesetzen, von denen das genaueste der Ferman von Mustafa III. aus den Jahren 1773/74 ist, welcher das Leben der Zünfte regelte. Er zeigt auch, welche Bedeutung die Regierung ihnen zumaß. 19 Die Bedingungen der Lehrlings- und der Gesellenzeit waren für die verschiedenen Zünfte ähnlich geregelt und glichen sich daher in den unterschiedlichen Städten des Balkans weitgehend. Die Zünfte überwachten die Einstellung von Lehrlingen, ihre berufliche Ausbildung, die Gesellenschaft sowie die verschiedenen Übergangsriten. Besondere Aufmerksamkeit widmeten sie dabei der Regelung und Kontrolle zur Aneignung der Meistertitel. Dies diente der Begrenzung der Zahl jener, die Zunftprivilegien genossen und somit der Verteidigung ihrer Monopolstellung. 20 Gleichzeitig sollte das Prestige der Korporation bewahrt und diese von den weniger qualifizierten Handwerkern abgesetzt werden. 15 V. Petrov, Stariatdikidjilak vChoumene, in: Izvestiana Narodnia Muzei-Choumène, Bd. 4, Varna 1967, S. 113-123; M. Penkov, Obchtcstvenata deinost na choumenskite esnafi prez cpohata na Vazrajdaneto [Das soziale Leben der Zünfte in Choumene in der Renaissance], in: Godichnik na muzeite ot Severna Balgaria, Jg. 2, 1976 (1980), S. 120-132. 16 Grad Lovetch. Belejki i spomeni po slutchai 50 godini ot Osvobojdcnieto na grada (18771927), Lovetch 1927, S. 5. 17 NBKM, OO, f. 166A, a. e. 522, S. 1-6. 18 Die Barbiere, Bader, Kaffeehausbesitzer und Waffen seh miede waren meist Muslime (vor allem türkisch), obwohl ihnen diese Gewerbe im 19. Jahrhundert nicht mehr allein vorbehalten waren. Die Bekleidungsschneider, Kürschner, Schreiner und Hutmacher waren hingegen meist Christen und Bulgaren. Die Glasbläser und Fensterbauer waren hingegen meist Juden. 19 Ihtdtiev, Esnafski dokumenti, S. 445-461. 20 Todorov, Balkanskiat grad, S. 210 fT.
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U m die Zahl der Zunftmitglieder zu begrenzen, wurden vor allem im protoindustriell organisierten Textilgewerbe, das N. Todorov für die Zünfte der Abaci aus Plovdiv beschrieben hat, immer wieder die Aufnahmegebühren geändert. Besonders verbreitet war diese Praxis in Gewerben, die bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein das Gros ihrer Produktion exportierten. Dies sollte nicht nur die Zahl der Zunftmeister begrenzen, sondern auch die Gesellenschaft verlängern, um den Handwerksmeistern billige und gut qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Obwohl in anderen europäischen Staaten die Gesellen auf die Verschlechterung ihrer Situation mit Widerstand reagierten, lässt sich dieser auf dem Balkan nicht nachweisen. Die fehlende Organisation der Gesellen in diesem Teil Europas ist wohl hierfür verantwortlich zu machen. Ein weiterer Regulierungsmechanismus der Zünfte war die Reduzierung der Aufnahmegebühren für Meistersöhne um die Hälfte, obwohl auch diese wie alle anderen die gleiche Ausbildung durchlaufen mussten. Diese Praxis war unter den Schneidern von grobem Tuch in Plovdiv während des ganzen 18. und 19. Jahrhunderts ebenso verbreitet,21 wie in der Zunft der Bekleidungsschneider und der Schnurmacher in Karlovo im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts 22 oder auch unter den Kleinhändlern in Sofia seit 1838.23 Aufgrund dieser Praxis können auf den Zunftlisten die Meistersöhne unter den neu Aufgenommenen ausgemacht werden, wie z.B. in den Maurerzünften in Brazigovo und in der Abacizunft in Plovdiv24 Der Grad der Berufsvererbung kann ebenso bestimmt werden wie die Zugangsbeschränkungen für die anderen Kandidaten. Besonders in kleinen Bergorten, wie Koprivchtitsa, Karlovo und Panagurichte, wurden die Berufe im Textilgewerbe häufig vom Vater auf den Sohn vererbt. Diese hohe Rate der Berufsvererbung ist nicht auf besondere Zugangsbeschränkungen zurückzuführen, sondern auf die schwache berufliche Ausdifferenzierung, die nur eine geringe Wahlmöglichkeit beim Berufseinstieg eröffnete. Ein großer Teil der Haushalte war im protoindustrialisierten Textilgewerbe der Region tätig. Dennoch waren die Zünfte keineswegs für Neulinge geschlossen. Im Gegenteil: vor allem die zu Beginn des 19. Jahrhunderts expandierenden, für den überregionalen Markt arbeitenden Gewerbe nahmen zahlreiche Lehrlinge aus den angrenzenden Dörfern auf und erhöhten die Zahl der Zunftmitglieder. Die Verzeichnisse der Kleiderschneider aus Plovdiv zeigen, wie offen die Zunft war. Nach Schätzungen von S. Asdrahas kamen in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. 21 Kondika na Plovdívskia abaciiski esnaf, in: Godichnik na narodnata biblioteka i muzei v Plodiv, 1930, III Nautchna tchast, Sofia, 1932, S. 3-186. 22 NBKMBIA, IIA 7741, S. 2a-54a. 23 P. Tichkou, Istoria na nacheto zanaiatchiistvo do Osvobojdenieto, Sofia 1922, S. 26. 24 NBKMBIA,IIA7735,S. 1.
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Jahrhunderts nur 31,73 % aller neuen Mitglieder der Zünfte aus Meisterfamilien.25 In den folgenden 40 Jahren nahm ihr Anteil sogar ab.26 Der Anteil der Meistersöhne an den neuen Zunftmitgliedern schwankte zwischen 5,3% und 43,5% jährlich und pendelte sich für den gesamten Zeitraum auf ungefähr 20% ein. Obwohl die Zünfte die Meistersöhne vor allem durch die geringeren Kosten begünstigten, unterschied sich ihre Politik deutlich von der Schließung vieler europäischer Zünfte am Ende des Ancien Regimes, die auch für die bosnischen Zünfte im 18. Jahrhundert charakteristisch war.27 Wie die Textilzünfte in Plovdiv und in den Kleinstädten des mittleren Teils des Balkangebirges waren auch die Kleiderschneider von grobem Tuch für newcomer offen, die an der großen Eröffnungszeremonie (Testiz) der Zünfte im Jahre 1817 teilnahmen. Die neuen Zunftmitglieder wurden dort nicht nur unter ihrem eigenen Namen und dem Namen ihres Vaters, sondern oft auch mit der Berufsbezeichnung des Vaters verzeichnet: z.B. Dimitar, Sohn von Petko dem Kesselmacher.28 Derartige Fälle traten ziemlich häufig auf, und sie beweisen neben der Möglichkeit, den Beruf zu wechseln, auch die Tatsache, dass die Berufe nicht unbedingt immer innerhalb einer Familie von einer Generation zur nächsten weitervererbt wurden. Es ist deutlich zu sehen, wie die Söhne von Meistern aus verschiedenen Berufen in das Textilgewerbe drängten, da dieses ihnen bessere Arbeitsmöglichkeiten bot. Die relative Offenheit der Zünfte charakterisierte nicht nur die exportierenden Textilgewerbe. Wenn auch die Zahlenangaben über die Berufsvererbung zu spärlich sind, um Aussagen über ganze Regionen zu machen, so können doch mehrere Quellen genannt werden, die den allgemeinen Charakter der Öffnung belegen. Eine onomastische Auswertung der Berufslisten der Schneiderzunft von Dobritch,29 der Kleiderschneider von grobem Tuch aus Targovitche,30 der Schuhmacher aus Trojan31 sowie der Spendenliste für die Kirche aller Zünfte in Sofia, Sv. Kral, ergibt,32 dass Meistersöhne oder Verwandte von Meistern eher die Ausnahme waren. Unter den Sattlern der Stadt Sofia waren es zwei von 18, unter den Gerbern einer unter 51. Da das Handwerk im mittleren Teil des Balkans unter relativ stabilen Bedin25 S. s4sdrachas, Oi syntechnics stin tourkokratia: Oi oikonomikes leitourgies, in: ders. (Hg.), Zitimata istorias, Athinìa, 1983, S. 101 f. 26 Kondika na Plovdivskia abaeiiski esnaf, S. 3-186. 27 H. Kapidjitch u. H. Krejevliajkovitch, Esnafi i obrti u starom Sarajevu [Zünfte und Handwerker im alten Sarajevo], in: Godichniak istoriskog gruchstva Bosne i Hertzegovíne, Bd. 10, 19491959, S. 387-390. 28 Kondika na Plovdivskia abaeiiski esnaf, S. 48-58. 29 NBKMBIA, IIA 7761, S. 8a-l4a. 30 NBKMBIA, f.440,a.e.l,S. 9b-l2b. 31 NBKM BIA, IIB 9468, S. 1, S. 11-42. 32 P. Dinekov, Sofia prezXTX vek do osvobojdenieto na Balgaria [Sofia im 19. Jahrhundert bis zur Befreiung Bulgariens], Sofia 1937, S. 35-52.
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gungen produzierte, war eine Schließung oder eine Zugangsbegrenzung nicht notwendig. Lediglich in den profitableren, protoindustrialisierten Bereichen scheint es einen Trend zur Berufsvererbung gegeben zu haben. Ein weiterer Indikator für das Fehlen strenger Zugangsbeschränkungen ist die Zunahme auswärtiger Handwerker und die Aufnahme von Migranten aus den Nachbardörfern.33 In diesem Teil Südosteuropas griffen die Zünfte ebenso wie der ottomanische Staat ständig in die Wirtschaftstätigkeit der Handwerker ein. Verschiedene Thesen zur Bedeutung der Reglementierung und Kontrolle konkurrieren in der Geschichtsschreibung. In manchen Wirtschafts- und Sozialgeschichten des Ottomanischen Reiches, wie auch in den Nationalgeschichten wird der Zunftzwang der Intervention des ottomanischen Staates gegenübergestellt und die Bedeutung einer der beiden Faktoren überbetont. Vor allem aber werden beide als unvereinbar mit der Marktwirtschaft interpretiert oder aber in ihrer reellen Bedeutung unterschätzt. Vor allem Einzelfälle sind in ihrer Bedeutung überbewertet worden. So hat man ausgehend von der Zunft der Abaci aus Plovdiv allgemeine Urteile über die Rolle und die Funktion der Zünfte gefällt und nicht bedacht, dass sie lediglich für die exportorientierte Massenproduktion des Textilgewerbes gültig sind, nicht aber für andere Wirtschafts- und Verwaltungsbedingungen. Zieht man jedoch die verschiedenen Formen der Regulierung und der Kontrolle in unterschiedlichen Kontexten heran, so lassen sich deutliche Unterschiede herausarbeiten. Es ist zu unterscheiden zwischen exportorientierter Handwerksproduktion, die meist außerhalb der großen Verwaltungszentren angesiedelt war, und traditionellen Gewerben, die in den großen Verwaltungsgebieten stärker von den Behörden überwacht wurden und die vor allem für den lokalen und regionalen Markt arbeiteten. Diese beiden Gruppen weisen sich durch verschiedene Formen der Abhängigkeit vom Markt, von der Zunft, von den Zunftregeln oder von mehr oder weniger direkten Verwaltungsinterventionen aus. Besonderer Reglementierung und staatlicher Intervention waren vor allem jene Gewerbe ausgesetzt, die unmittelbar mit der Ernährung der Bevölkerung und Garnisonen in allen Großstädten zusammenhingen. Je nach den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen konnten dieselben Regelungen unterschiedliche Ziele verfolgen und verschiedene Wirkungen zeitigen. Sollten Qualitätsreglementierung und festgelegte Produktionsstandards unter den Seifenmachern von Koprivchtitsa vor allem dazu dienen, die Konkurrenz unter den Zunftmitgliedern auf einem begrenzten lokalen Markt zu beschränken,34 so diente dieselbe Maßnahme unter Schnurmachern aus Karolovo, 33 H. Gandev, Factori za balgarskoto vazrajdane [Faktoren der bulgarischen Renaissance], in: Problemi na Balgarskoto vazrajdane [Probleme der Renaissance in Bulgarien], Sofia 1976, S. 9 9 110; ders.