Das Dialogische Prinzip: Herausgegeben:Bauer, Emmanuel J. 9783534400188, 9783534400195, 9783534400201, 3534400186

Als vor etwa 100 Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die Welt in Trümmern lag, waren es einige jüdisch-christliche Denker,

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German Pages 127 Year 2018

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Titel
Impressum
Inhalt
Hinführung
Zu den Anfängen des Dialogs in der antiken Literatur, seinem Fortwirken und seinem Ende in der aktuellen Politik
Die personale Kommunikation im Internet – (k)ein Dialog?
Die Möglichkeit der Dialogphilosophie. Theunissen, Buber und die Phänomenologie des Zwischen
Das Dialogische Prinzip in der Psychotherapie
Individuelle und kollektive Grundlagen des dialogischen Prinzips
Interreligiöser Dialog als bleibende Herausforderung der Religionen
Die Autoren
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Das Dialogische Prinzip: Herausgegeben:Bauer, Emmanuel J.
 9783534400188, 9783534400195, 9783534400201, 3534400186

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Emmanuel J. Bauer (Hg.)

Das Dialogische Prinzip – Aktualität über 100 Jahre

Emmanuel J. Bauer (Hg.)

Das Dialogische Prinzip – Aktualität über 100 Jahre Herausgegeben im Auftrag des Fachbereichs Philosophie / KTH der Universität Salzburg und der Internationalen Ferdinand Ebner-Gesellschaft

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Layout, Satz und Prepress: Dorit Wolf-Schwarz Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40018-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-40019-5 eBook (epub): ISBN 978-3-534-40020-1

Inhalt EMMANUEL J. BAUER Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 KARLHEINZ TÖCHTERLE Zu den Anfängen des Dialogs in der antiken Literatur, seinem Fortwirken und seinem Ende in der aktuellen Politik . . . . . . . . . 13 CHRISTA DÜRSCHEID Die personale Kommunikation im Internet – (k)ein Dialog? . . . . . . . . . . 29 GÜNTER FIGAL Die Möglichkeit der Dialogphilosophie. Theunissen, Buber und die Phänomenologie des Zwischen . . . . . . . . . . . 55 EMMANUEL J. BAUER Das Dialogische Prinzip in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 ALEIDA ASSMANN Individuelle und kollektive Grundlagen des dialogischen Prinzips . . . . . . 91 KARL-JOSEF KUSCHEL Interreligiöser Dialog als bleibende Herausforderung der Religionen . . . . 109

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Hinführung Als vor 100 Jahren am Ende des Ersten Weltkrieges die europäische Welt in Trümmern lag, waren es einige jüdisch-christliche Denker, die versuchten, mit ihrem personal-dialogischen Ansatz der unvorstellbaren Verrohung des Menschlichen einen Weg zu einer neuen Humanität aufzuzeigen. Sie konnten die dramatischen Auswirkungen dieses Krieges, der letztlich die anderen großen Tragödien des letzten Jahrhunderts (Stalinismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Holocaust, Zweiter Weltkrieg) evozierte, nicht kennen, aber vermutlich erahnen. Brutalität, Zerstörungswut und Misstrauen waren in einem Ausmaß zu Tage getreten, wie man es nicht für möglich gehalten hatte. Eine Besinnung auf die Würde des Menschen als Person tat not. Die Bedeutung des Miteinander und der gegenseitigen Anerkennung als Personen wurde schon früher erkannt und von der Philosophie ins Bewusstsein gehoben. Es sei an Georg W. F. Hegel, Johann G. Hamann, Johann G. von Herder oder Friedrich H. Jacobi erinnert. In Abgrenzung zum Deutschen Idealismus strich Ludwig Feuerbach die Bedeutung des leibhaften Ich-Du-Verhältnisses hervor, wenn er betont: „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du.“1 Den wahren Durchbruch erlangte das Dialogische Prinzip jedoch durch Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber, die in etwa zur gleichen Zeit ihre Gedanken formulierten und der Öffentlichkeit präsentierten. Sie stellen das mutige Vertrauen dem Grundgefühl der Angst und des Misstrauens, die wirkliche, offene Beziehung der sich abschottenden Ich-Einsamkeit und das echte Gespräch den vielen Formen des als Monolog verkleideten Scheindia­ logs gegenüber. Echtes Gespräch setzt gegenseitige rückhaltlose Offenheit, Innewerden der Person-Ganzheit des Anderen, Authentizität und gegenseitige Achtung und Wertschätzung voraus.2 Im Unterschied zu den vielen oberfläch1 Feuerbach, Ludwig, Grundsätze der Philosophie, in: Ders., Entwürfe zu einer neuen Philosophie. Hrsg. von Walter Jaeschke und Werner Schuffenhauer (Philosophische Bibliothek, Bd. 447), Hamburg: Meiner 1996, § 64. 2 Vgl. Bauer, Emmanuel J., Personal-existentieller Dialog als Bedingung authentischen Selbst-Seins bzw. Selbst-Werdens, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 62 (2017) 9–29.

8 lichen Formen des Miteinanderredens geht es hierbei um eine Art der Begegnung zwischen Ich und Du, die von den Gesprächspartnern verlangt, den Anderen radikal ernst zu nehmen und sich von dessen Eigenart und wahren Anliegen wirklich berühren zu lassen. Mutatis mutandis ist die das echten Gespräch bedingende existentielle Grundhaltung auch eine der Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander von Menschen und Völkern. Der gegenwärtige politische Stil, dem es in erschreckendem Ausmaß an Verlässlichkeit, Behutsamkeit der Worte und Ehrlichkeit mangelt, aber auch die zum Teil Besorgnis erregenden Veränderungen der Kommunikation aufgrund der neuen Medien und die zunehmenden Probleme mit Extremismen machen uns bewusst, welch große Aktualität dieses sogenannte Dialogische Prinzip heute von Neuem für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft angesichts der Herausforderungen in Politik, Religion und Gesellschaft hat. Um der großen Bedeutung des richtigen Sprechens Miteinander und der echten Form menschlicher Begegnung nachzuspüren, veranstaltete die Internationale Ferdinand Ebner Gesellschaft gemeinsam mit dem Fachbereich Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg vor einigen Wochen ein Symposion über die ungebrochene Aktualität des Dialogischen Prinzips über 100 Jahre hinweg. Folgende Themen wurden dabei aufgegriffen: Karlheinz Töchterle geht den Ursprüngen des Dialogs nach und zeigt, dass dieser als ein humanum von Anfang an eine bedeutende Rolle in vielen Gattungen der griechischen Literatur spielte, wie Beispiele aus Homer, Thukydides und Sophokles belegen. Der weithin als Höhepunkt angesehene philosophische Dialog Platons wird schon bei seinem Schüler Aristoteles umgeformt und so von Cicero übernommen, der seinerseits zum Klassiker wird. Er und die großen spätantiken Vertreter der Gattung, Augustinus und Boethius, bleiben Vorbilder bis in die Zeit der Renaissance und des Humanismus, aus der gleich zu Beginn Petrarca herausragt. Nach der Aufklärung nimmt die Bedeutung des literarischen Dialogs stark ab. Die vielleicht etwas übertreibende Rede von seinem „Ende“ in der gegenwärtigen Politik gründet sich in persönlichen Erfahrungen des Autors, wird aber auch von der aktuellen Debatte gestützt. Christa Dürscheid analysiert zunächst den Terminus Dialog aus sprachlich-struktureller Sicht und die Kriterien eines „echten“ Dialog im Sinne Bubers. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die personale Kommunikation im Internet zwar dialogischen Charakter hat, sofern sich die Äußerungen aufeinander beziehen, dass sie aber ob des Mangels an gegenseitiger Wertschätzung doch keinen echten Dialog darstellt. Im zweiten Teil legt sie dar, welche sprachlichen Merkmale für die schriftliche Internetkommunikation (z. B. in

9 WhatsApp-Nachrichten und auf Facebook) charakteristisch sind und führt einige Beispiele für ehrverletzende und beleidigende Nachrichten, also für solche Äußerungen an, die gerade nicht von Respekt und Wertschätzung zeugen. So besorgniserregend letztere auch sind, dürfen sie aber doch nicht als typisch für die Internetkommunikation angesehen werden; man dürfe nicht das Auffällige mit dem Typischen gleichsetzen. Vielmehr muss aus linguistischer Sicht der Sprachgebrauch auch dahingehend beurteilt werden, ob er sozial angemessen ist, ob er also den Erwartungen entspricht, die für den jeweiligen zwischenmenschlichen Umgang gelten. Günter Figal schließt an Michael Theunissens Interpretation der Dialogphilosophie als einer starken philosophischen Alternative zur Phänomenologie der Intersubjektivität an, wie sie von Husserl, Heidegger und Sartre ausgearbeitet worden ist, und versucht, die von Theunissen monierte begriffliche Schwäche der Dialogphilosophie zu kompensieren. Da ihm mit den begrifflichen Mitteln der ‚klassischen‘, auf Husserl zurückgehenden Phänomenologie eine solche Kompensation nicht möglich erscheint, wenn die Dialogphilosophie zu ihr eine Alternative bieten soll, nimmt er den Begriff des ‚Zwischen‘ auf, mit dem Buber das Wesen der Ich-Du-Beziehung bestimmt, und interpretiert diesen Begriff im Rahmen einer Phänomenologie des Raumes (vgl. sein Werk „Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie“, 2015). Personen, so wird gezeigt, sind nicht nur räumlich, sondern sie leben Raum. Entsprechend kann die Begegnung von Personen, wie Buber sie beschreibt, als personale Erfahrung geteilten Raums verstanden werden. Emmanuel J. Bauer weist auf, dass Psychotherapie, wenn man sich zum einen vor Augen führt, dass sie die Heilung des psychisch erkrankten Menschen oder zumindest die Stabilisierung seiner ganzmenschlichen Verfassung zur Aufgabe hat, und zum anderen die zentrale Rolle des personalen Dialogs für das Selbst-Sein und Selbst-Werden des Menschen bedenkt, letztlich nicht umhin kommt, dem Dialogischen Prinzip in irgendeiner Weise gerecht zu werden. Am Beispiel von drei Psychotherapie-Schulen, nämlich der Gestalttherapie, der Personen- oder Klientenzentrierten Gesprächstherapie und der Existenzanalyse wird untersucht, welche Bedeutung das Dialogische in der theoretischen Grundlegung des therapeutischen Handelns jeweils hat. In allen drei genannten Richtungen wird Martin Bubers Gedanken der Ich-Du-Begegnung eine prominente Rolle zuerkannt, in der Existenzanalyse darüber hinaus auch dem Zwiegespräch mit sich selbst – als Ort der inneren Abstimmung dessen, was für den Einzelnen das Richtige und Wahre in der je konkreten Situation ist. Allerdings müssen auch die Grenzen der Anwendbarkeit des echten Dialogs auf das psychotherapeutische Setting sowie der sekundäre Charakter des inneren Dialogs berücksichtigt werden.

10 Aleida Assmann unterscheidet in Anschluss an Paul Ricoeur eine „idem“-Identität, die die Selbigkeit einer Person über die Zeit hinweg betont, von einer „ipse“-Identität, die das Selbstverhältnis zum Gegenstand der Reflexion macht. Die Herstellung eines solchen Selbstverhältnisses ist ohne den Aufbau einer sozialen Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen unmöglich: Das Selbstgespräch ebenso wie das Erinnern festigen immer auch soziale Bindungen. Der Prozess des Erinnerns ist aber nicht auf das Individuum beschränkt, es gibt auch ein kollektives Erinnern. In diesem Falle wird das gemeinsame Gedächtnis durch einen gesellschaftlichen Rahmen zusammengehalten. Dessen Struktur entscheidet über Ausgrenzung oder Integration. Die Geschichte zeigt, dass das nationale Gedächtnis dazu tendiert, die Ereignisse auf Archetypen zu reduzieren, etwa auf die Rolle des Siegers, Opfers oder Widerstandskämpfers, um die nationale Identität zu stützen. Doch auf diesem Weg sei nur ein Dialog unter Schwerhörigen möglich. Es geht darum, die monologische Form des Erinnerns, die das Augenmerk nur auf das eigene Leiden richtet, in eine dialogische Erinnerungskultur zu verwandeln, in der auch das Leid des anderen Volkes mit in den Blick kommt und bleibt. Karl-Josef Kuschel versucht in seinem Beitrag im Anschluss an Martin Buber zu klären, was „echte Religionsgespräche“ sind und diese abzugrenzen von einem „technischen Dialog“, der auf dem Austausch bloßer Sachinformationen beruht, sowie von einem „dialogisch verkleideten Monolog“, bei dem man nicht zu einem Gegenüber spricht, sondern nur zu sich selbst und sich seines eigenen Glaubens vergewissert. Echte Religionsgespräche dagegen sind etwas anderes. Sie haben nicht das Ziel, die Differenzen zwischen den Religionen zu überspielen oder die Wahrheitsfrage auszuklammern oder zu bagatellisieren. Echtem Dialog ist aufgegeben, aus der Perspektive des jeweils eigenen legitimen Glaubenszeugnisses heraus die Existenz des anderen vor Gott mit zu bedenken. Zur Identitätsgewinnung kommt es von daher nicht durch Ausgrenzung oder Verwerfung anderer, sondern in Relationalität zum Anderen, also im Zuge von Beziehungsdenken. Interreligiöses Lernen beginnt nach der Überzeugung des Verfassers mit der Umkehr des Sehens. Die jeweils Anderen dürfen nicht mehr als bloße Objekte für die Durchsetzung eigener Überzeugungen, sondern müssen mit dem ‚dritten Auge‘, mit den Augen des Glaubens, wahrgenommen werden. Werden Menschen aus der Tiefe des Glaubens betrachtet, geben sie sich als jeweils unverwechselbar-einmalige Geschöpfe Gottes zu erkennen. Die Anders-Gläubigen sind als Anders-Gläubige zu entdecken. Für diese Denkform eine theologische Begründungsstruktur aufzuzeigen und zu verantworten, ist Anliegen des Beitrags. Am Ende dieser geistigen Hinführung erlauben Sie mir noch einige Dankesworte. In besonderer Weise danke ich den Kollegen Rektor Univ.-Prof. Dr.

11 Heinrich Schmidinger, dem Präsidenten der Internationalen Ferdinand Ebner Gesellschaft, Dr. Krzysztof Skorulski und Univ.-Prof. Dr. Michael Zichy, die zusammen mit mir für die Initiierung, Konzeption und Durchführung der Internationalen wissenschaftlichen Tagung Sorge trugen. Zudem danke ich Herrn Dr. Jens Seeling für die gute Kooperation mit der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und schließlich Frau Dorit Wolf-Schwarz für die Erstellung des Satzes.

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KARLHEINZ TÖCHTERLE

Zu den Anfängen des Dialogs in der antiken Literatur, ­seinem Fortwirken und seinem Ende in der aktuellen Politik

1. Zu Titel und Inhalt des Vortrags Der Titel des Vortrags könnte inhomogen und auch hyperbolisch wirken. Seine Inhomogenität ist dem Wunsch der Veranstalter, die Hyperbolik dem Vortragenden selbst zuzuschreiben. Gewünscht wurde ein Vortrag, der zur Einleitung in die Tagung einerseits die Grundlegung des dialogischen Prinzips in der antiken Philosophie und sein Weiterwirken in der humanistischen Tradition beleuchtet, andererseits einen Blick auf das realpolitische Geschehen wirft und die Chancen des Dialogs auf diesem Feld einschätzt. Dem ersten Teil des Wunsches komme ich als klassischer Philologe gerne nach, als solcher weite ich den Blick allerdings über die Philosophie hinaus auf die antike Literatur insgesamt aus. Auch den zweiten Teil kann ich erfüllen, und auch hier kommt unweigerlich und noch stärker meine Perspektive ins Spiel, und sie ist es auch, wie sich zeigen wird, die mich zur eingangs zugestandenen Hyperbolik drängt.

2. Der Dialog als humanum und wichtiges Element von Literatur Platons Dialoge gelten gemeinhin als der Gipfel antiker, für nicht wenige als Höhepunkt jeglicher Dialogliteratur überhaupt. Wir treffen hier auf ein Phänomen, das die antike griechische Literatur auch in anderen Gattungen zeigt: Schon die ersten Vertreter einer Gattung gelten zugleich als ihre besten, Homer in der Epik, Hesiod beim Lehrgedicht, die Lesbier Alkaios und Sappho in der Lyrik, Archilochos im Jambus, die attischen Dramatiker des fünften Jahrhunderts in Tragödie und Komödie. Zum Teil ist das wohl auch der Überlieferung geschuldet, die eben nur kanonische, zu Klassikern gewordene Autoren

14 tradiert hat. Gleichwohl besteht das Phänomen auch für sich und ohne diese Relativierung. Auch auf Platon scheint dieses Phänomen zuzutreffen. Zwar soll es Vorläufer im Verfassen von philosophischen und speziell auch von sokratischen Dialogen gegeben haben, aber davon ist nichts erhalten und sie selbst und ihre Texte bleiben insgesamt ganz schattenhaft. Zudem kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass sie nicht annähernd an die platonische Meisterschaft herangereicht haben. Die Form seiner Dialoge ist, wie man seit langem gesehen hat, zudem stark von anderen Gattungen beeinflusst, von der Tragödie, in der sich Platon selbst versucht hat, von der Komödie und von den Mimen des Sophron, die er (so der Philosophiehistoriker Diogenes Laertios 3,18) sehr geschätzt haben soll. Man kann zwar derlei Quellenstudien betreiben, allein es genügte, auf die griechische Debattierlust im Allgemeinen hinzuweisen, die sich im Vor- und Umfeld von Platon vor allem im politischen Bereich der athenischen Demokratie und im kulturell-philosophischen der Sophistik besonders profilieren konnte. Ja, man müsste nicht einmal auf spezifische zeitnahe Phänomene verweisen, da der Dialog an sich von Anfang einen wichtigen Bestandteil der griechischen Literatur insgesamt darstellt. Dies wiederum liegt im Eigentlichen, im Wesen des Dialogs begründet, dass er nämlich zu den zentralen Kennzeichen des Menschen gehört. Dieser ist eben auch ein zóon dialegómenon, ein animal colloquens, und deswegen muss Literatur, als genuines Produkt menschlicher Kreativität und mimetischen Bemühens, dieses Kennzeichen von Anfang an und ständig an sich haben, als ein anthrópeion, ein humanum.

3. Beispiele von Dialogen aus Homer, Thukydides und Sophokles Dialogisches ist daher von Beginn an in vielen Gattungen der griechischen Literatur vorzufinden, natürlich auch im poetischen Kosmos der homerischen Gesänge, die weit über die Epik hinaus Vorbild und Anregung für nachfolgende Zeiten wurden. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel findet sich im letzten, dem 24. Gesang der „Ilias“, „Lytra“ genannt, weil der trojanische König Priamos sich zu Achill begibt, um die Leiche seines Sohnes Hektor auszulösen (tò l´ytron bedeutet „Lösegeld“). Wir haben hier, gleich an ihrem Anfang, wohl einen der bewegendsten Dialoge der Weltliteratur vor uns, der eine Fülle von Merkmalen und Kriterien aufweist, die man zur Einschätzung der Qualität von Dialogen an sie anlegt.

15 Schon die Gesprächssituation ist von höchster Brisanz, hat doch Priamos mit Hektor seinen Erstgeborenen und den größten Helden der Trojaner verloren, Achill hingegen mit ihm den ihm verhassten Mörder seines Freundes Patroklos getötet und dann täglich dreimal um dessen Grab geschleift. Nun also begibt sich der greise König der Trojaner in das Lager von deren erbittertstem Feind, begleitet von Hermes, den Zeus zu seinem Schutz entsandt hat, und ausgerüstet mit einem Maultiergespann, das die Schätze zur Auslösung der Leiche mit sich führt. Priamos trifft Achill nach dem Abendessen in Gesellschaft zweier Freunde, umfängt dessen Knie und küsst dessen „schreckliche männertötenden Hände“. Die Anwesenden hören gebannt auf seine ersten Worte: Achill möge an seinen eigenen greisen Vater denken, der in Bedrängnis auf die Hilfe seines starken Sohnes hoffen könnte. Ihm sei solche Hoffnung nun verwehrt. Die Gesprächsführung setzt sich psychologisch fein gezeichnet fort, mit schön verteilten Strichen indirekter Charakterisierung der beiden Gesprächspartner (Achill reizbar und leicht zu seinem das ganze Epos treibenden Zorn bereit, Priamos leidgeprüft und doch selbstbewusst als Herrscher), tiefen Einsichten in die von den Göttern verhängte condition humaine (Achill weiß von seinem frühen Ende), aber auch mit Phasen der Entspannung der so heiklen Situation, wenn sich etwa beide der gegenseitigen Wertschätzung versichern oder über die Geldgier der Griechen und ihres von Achill durchgehend ja sehr ambivalent gesehenen Anführers Agamemnon spotten. Mit dem Rücktransport der Leiche nach Troja und ihrer Verbrennung nach einer zehntägigen, im Gespräch vereinbarten Waffenruhe endet die Ilias, sodass dieser Dialog zu einem abschließenden, fulminanten Höhepunkt des ganzen Gedichts gerät. Ein zweites Beispiel sei der Gattung der Historiographie entnommen, und zwar dem Werk des Thukydides, der als Begründer einer an Tatsachen orientierten „pragmatischen“ Geschichtsschreibung gilt, in der Darstellung von Reden und Gesprächen allerdings, wie er selbst ankündigt (1, 22, 1), nicht eine wörtliche Wiedergabe, sondern eine auf den Gesamtsinn gehende und von der jeweiligen Situation geforderte Paraphrase anstrebt. In seinem berühmten „Melierdialog“ (5, 84–116) geht es um den Konflikt zwischen der Insel Melos, die im peloponnesischen Krieg neutral bleiben will, und einer Gesandtschaft aus der Stadt Athen, deren Imperialismus solches nicht duldet. Gleich zu Beginn des Dialogs wird der Dialog selbst zum Thema. Die Athener wollen nämlich ihre Argumente vor der Volksversammlung der Melier vortragen, diese hingegen eine Debatte im Adelsrat. Jene akzeptieren das mit der bemerkenswerten Einsicht, dass die Melier dort bei einer durchgehenden

16 Rede der Athener zurecht eine mögliche Manipulation ihres Volkes befürchteten, und schlagen eine Diskussion kath’ hékaston („Punkt für Punkt“, 5, 85) vor, damit Auffassungsunterschiede sofort zur Sprache kommen können. In schärfstem Gegensatz zu dieser scheinbaren Offenheit machen sie allerdings gleich eingangs klar, dass hier das Recht des Stärkeren und nicht Gerechtigkeit walte, die nur bei Gleichheit der Kräfte zur Geltung käme. Mit der Vorwegnahme seines Ausgangs aber ist dem Dialog seine Offenheit genommen und scheint ihm seine Basis entzogen, und das Ergebnis bestätigt dies. Die Oligarchen von Melos wollen ihre siebenhundertjährige Freiheit nicht aufgeben, sie hoffen auf die Hilfe der Götter und auf Athens Gegner Sparta. Die Athener beginnen ihre Belagerung, die über den Winter andauert und Melos schließlich zur Aufgabe zwingt. Die männlichen Inselbewohner werden hingerichtet, Frauen und Kinder als Sklaven verkauft, die so entleerte Insel erhält eine Kolonie von 500 attischen Bürgern. Das schreckliche Scheitern dieses Dialogs hat vielfach zur Auffassung geführt, es handle sich hier gar nicht um einen ‚echten‘ Dialog, sondern, wie im Werk des Thukydides insgesamt, vor allem um eine Darstellung der „Physiologie und Pathologie der Macht“.1 Er wird außerhalb der ‚eigentlichen‘ Gattung verortet und der sophistischen „Eristik“ zugerechnet, wo es eben nicht wie in der „Dialektik“ des philosophischen Dialogs um Einigung und damit Belehrung auf höherem Niveau, sondern nur um einen „Schlagabtausch“ als „rhetorisch-technische Übung“ gehe. Die Athener hätten „die Fähigkeit zum konstruktiven dialégesthai im Angesicht imperialer Macht“ verloren.2 Mein Blick auf die Theorie und Praxis des politischen Dialogs der Gegenwart im zweiten Teil dieses Vortrags wird hingegen zeigen, dass Thukydides möglicherweise auch hier einen scharfen und tiefen Blick auf ein anthrópinon (etwas „wesenhaft Menschliches“) getan hat, wie er es für sein Geschichtswerk generell in dem schon erwähnten Methodenkapitel 1, 22 ankündigt. Zu den Vorbildern des Thukydides zählen, und auch das wird vielfach betont, die Dialoge im attischen Drama, in Tragödie und Komödie. Nach Aristoteles sind diese Dramenformen sogar durch die Einführung einer Dialogsituation entstanden. Im vierten Kapitel seiner „Poetik“ deutet er an, dass improvisierte Dialoge der Anführer von Chören mit eben diesen am Anfang gestanden seien. Der berühmte Thespis (dessen sprichwörtlicher Theaterkarren erst viel später bei Horaz erwähnt ist) soll als erster dem Chor in Prolog und Einzelrede gegenübergetreten sein und so die Tragödie erfunden haben. 1 Lesky 1971, 525. 2 Sitta von Reden 2013, 217 und passim.

17 Der Dialog ist also gleichsam ein Geburtshelfer des Dramas und prägt es dann in dessen gesamter Entwicklung in einer großen Bandbreite, von einem ganz ‚natürlich‘ scheinenden lockeren Sprecherwechsel bis hin zu gesungenen Partien oder bisweilen sehr künstlich wirkenden Stichomythien (Sprecherwechsel mit jedem Vers) und Antilabai (noch raschere Wechsel). Als ein Beispiel (unter sehr vielen möglichen) sei ein kurzer Blick auf den Dialog geworfen, der im „König Ödipus“ des Sophokles den Protagonisten zur anagnórisis, also zur Erkenntnis seiner Identität, damit aber auch zum Wissen um seine Kapitalverbrechen Vatermord und Mutterehe führt. Ödipus, als König von Theben auf der energischen Suche nach dem Mörder seines Vorgängers (und Vaters!) Laios, presst einem alten Hirten, der ihn einst als Kind in den Bergen hätte aussetzen sollen, aus Mitleid aber einem korinthischen Kollegen übergeben hatte, in gedrängtester Wechselrede die Wahrheit über seine Herkunft heraus. Der rasche Sprecherwechsel in der Stichomythie ab V. 1149 verhindert einen zügigen und ungehinderten Informationsfluss, willkommen für den Hirten, der die schreckliche Wahrheit ja verschweigen, unerträglich für Ödipus, der sie wissen will, aber mit seinen drängenden Einwürfen ihre Kundgabe immer wieder hinausschiebt. Schließlich kann er den Hirten mit der gezielten Frage nach der Identität des Kindes festnageln, doch dieser versucht eine letzte Ausflucht: „O weh, bei mir selbst liegt es nun, das Schreckliche zu sagen“ (V. 1169). Der es nun schon ahnende Ödipus darauf: „Und an mir, es zu hören. Aber gehört werden muss es!“ Nach einem Hinweis des Hirten auf des Königs schon ins Innere des Palastes geflüchtete Gattin (und Mutter!) Iokaste steigert sich die Gesprächsverdichtung nochmals zu Halbversen, in denen die Brutalität der Mutter (und Gattin!) sichtbar und der Ödipus ja schon bekannte Orakelspruch als Ursache ausgemacht werden. Das Weitere ist bekannt: Ödipus blendet sich, und zwar mit einer Fibel vom Kleid Iokastes, die er im Palast erhängt vorgefunden hat. Dieser Dialog bildet fraglos den Höhepunkt des schon von Aristoteles als musterhaft empfundenen Dramas. Seine besondere Kunst besteht darin, die Zuschauer, denen die Fabel ja bereits zur Zeit des Sophokles geläufig war, trotz ihres Vorwissens bis heute nochmals in atemlose Spannung zu versetzen, die sogar beim schlichten Lesen der Passage noch spürbar wird. Keine andere Form scheint diesem Effekt dienlicher als eben der Dialog.

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4. Eine Skizze zur Geschichte des literarischen Dialogs bis zur Neuzeit Auch und gerade bei Platon zeigt sich die Form des Dialogs als angemessenster Träger seiner Inhalte, ja, sie prägt diese mit, wodurch sie erst zu ‚dialektischer‘ Philosophie werden. Diese Dialektik preist Platon selbst als Königsweg an einer Schlüsselstelle für seine Hochschätzung des Gesprächs und dessen Vorrang vor Verschriftlichtem: In den Kapiteln 59 bis 61 seines „Phaidros“ lässt er Sokrates den Mythos vom ägyptischen Gott Theuth erzählen, der nach anderen Wissenschaften die Schrift erfindet und in ihr ein Mittel zur Steigerung von Weisheit und Gedächtnis bei den Menschen sieht. König Thamus widerspricht ihm: Die Schrift werde den Menschen vergesslicher machen, zudem vermittle sie nur Scheinwissen. Geschriebenes, so in der Folge Sokrates selbst, kann keine Antwort auf Nachfragen zu dem von ihm Behaupteten geben und bietet, getrennt von seinem Urheber, keine Hilfe. Das Gespräch hingegen falle in die Seele des Partners wie der Same des Bauern in fruchtbaren Boden und bringe reichen Ertrag. Dieses Eingehen auf Fragen und Einwände des Gesprächspartners lässt diesen am Prozess des Erkennens mitwirken, Sokrates hilft ihm gleichsam, es ‚auf die Welt zu bringen‘, weshalb man von „Maieutik“, „Hebammenkunst“ spricht. Der Prozess kann allerdings auch unvollendet bleiben oder sogar scheitern und in der Aporie enden, was ein Offenhalten der Debatte oder auch eine ironische Brechung ihrer Ergebnisse nach sich ziehen kann. Viele wichtige Fragen und Probleme, die in diesen Zusammenhang gehörten, müssen hier beiseite bleiben, vor allem jene, wie Platon mit seiner eigenen Schriftlichkeit verfährt. Alle Nachfahren sind ja nicht Teilnehmer, sondern eben nur lesende Nachvollzieher seiner Dialoge. Es gibt einige wenige Indizien, dass er dieses Problem sehr wohl gesehen und seine zentralen Botschaften gar nicht der Schrift anvertraut, sondern nur mündlich verkündet habe. Die Gattung des Dialogs gilt in der Antike weiterhin als taugliches und damit kennzeichnendes Gefäß philosophischer Inhalte, sosehr, dass z. B. Senecas philosophische Monographien dialogi heißen, obwohl sie, von einer einleitenden Anrede an einen Adressaten abgesehen, gänzlich ohne dialogische Elemente sind. Das dialogische Element nimmt schon beim ersten bedeutenden Nachfolger Platons, bei Aristoteles, stark ab. Wir haben von den Dialogen, die Aristoteles veröffentlicht hat, allerdings nur Fragmente, seine uns erhaltenen Texte sind Lehrschriften für den internen Gebrauch und waren nicht zur Veröffentlichung gedacht. So wissen wir vor allem aus Cicero, der angibt, seine Dialoge „nach Art des Aristoteles“ (u. a. Ad familiares 1, 9, 23) verfasst zu haben, dass

19 hier der rasche Sprecherwechsel Platons durch längere Lehrvorträge ersetzt wird, die nur kurze Einwürfe von Gesprächspartnern unterbrechen. Cicero kann als Begründer des literarischen Dialogs in der lateinischen Literatur gelten und, analog zu Platon, zugleich auch als dessen Meister, mit einer gewaltigen Wirkung auf die Dialogliteratur späterer Zeiten. Sein formaler Anschluss an Aristoteles hat im Verein mit der Gräkomanie des Neuhumanismus seinen Rang und seine Bedeutung in dieser Gattung eine Zeit lang verdunkelt. Heute ist seine Wertschätzung wieder im Steigen. Wir wissen aus Äußerungen in seinen Briefen, dass er zur Szenerie und den Teilnehmern seiner Dialoge ausgiebige Überlegungen angestellt hat, und sehen deren überaus stimmigen Ergebnisse. In „De oratore“ und „De re publica“ zum Beispiel stehen die jeweiligen Hauptunterredner Crassus bzw. Scipio kurz vor ihrem Lebensende, sodass ihre Beiträge zum Thema gleichsam als Vermächtnis an die Nachwelt zusätzliches Gewicht erhalten. Das Gespräch „Über den Redner“ findet unter einer Platane statt, ein Schauplatz, der an Platons „Phaidros“ erinnert, wo es auch um Rhetorik geht. In der Staatsschrift wollte sich Cicero zuerst selbst als Hauptunterredner einführen, entschied sich dann aber für eine Rückverlegung in die Zeit des jüngeren Scipio, als erstmals römische Politik und griechische Philosophie in eine engere Verbindung traten. So thematisiert schon die Szenerie eine zentrale Botschaft dieses Dialogs insgesamt.3 Der Historiker Tacitus fügt sich im 1. Jh. n. Chr. mit seinem „Dialog über die Redner“ in die Nachfolge Ciceros ein, der Platoniker Plutarch folgt in seinen Dialogen der peripatetischen, von Aristoteles gestifteten, z. T. aber auch der platonischen Tradition. Im zweiten Jahrhundert verbindet der griechische Satiriker Lukian die Gattungen der Komödie und der menippeischen Satire zu sehr wirkungsreichen Dialogen. In einem davon, dem „Doppelt Angeklagten“, lässt er gegen Ende den „Dialogus“ selber auftreten und klagen, dass ihn der „Syrer“ (also Lukian) aus den Höhen der Philosophie zu niedrigen Gattungen heruntergezogen habe. Es entwickeln sich spezielle Untergattungen: Vom gleichnamigen Dialog Platons ausgehend die des „Symposions“, welche gelehrte oder auch heitere Gespräche im Rahmen eines abendlichen Gelages wiedergeben. Hierher wären etwa die „Cena Trimalchionis“ in den „Satyrica“ des Petron zu rechnen oder die „Saturnalien“ des spätantiken Autors Macrobius. Ihren lehrhaften Charakter teilen diese mit einer anderen Untergattung, dem „katechetischen Dialog“, einem Lehrer-Schüler-Gespräch. Hierher gehören etwa die ungemein wirkungsreiche Grammatik des Donat und dann viele Texte christlicher Autoren. An deren Beginn steht mit dem „Octavius“ des Minucius Felix aus dem 3 Zum sorgfältigen Setting Ciceros in seine Dialogen vgl. zuletzt Kofler 2017.

20 frühen dritten Jahrhundert wieder ein Meisterwerk, mit reizvoller Einkleidung und bewusstem Anschluss an Cicero und Seneca. Der bedeutendste und wirkungsreichste Dialogschriftsteller der christlichen Antike, Augustinus, verfasste seine Dialoge vor allem in der Phase nach seiner Bekehrung im Cassiciacum bei Mailand. Sie spiegeln schön die heitere und gelöste Atmosphäre wider, die Augustinus dort zu Gesprächen im Freundeskreis nutzte. Zumeist ist Cicero als formales Vorbild sichtbar, in den zwei Büchern „Soliloquia“ hingegen findet er zu einer neuen Form, einem Selbstgespräch zwischen seiner sinnlichen und seiner rationalen Seite über die Begriffe deus und animus. Über ein Jahrhundert später findet sich in einem weiteren Meisterdialog mit ähnlich nachhaltiger Wirkung eine ähnliche Konstellation: In der „Consolatio Philosophiae“ des Boethius erscheint dem eingekerkerten Ich (zumeist einfach mit dem Autor Boethius gleichgesetzt, dem ja dieses Schicksal widerfuhr, gleichwohl müsste man zwischen ihm und der persona des Dialogs unterscheiden) die eindrucksvolle Gestalt der Philosophie und kündigt ihm Tröstung durch Hinführung zur Erkenntnis der Wahrheit an. Nicht die wankelmütige, unbeständige Fortuna führt zum Glück, sondern nur Gott und eine auf ihn bauende innere Einstellung. Er ist das höchste Gut, seine Vorsehung lenkt die Welt, auf der es daher letztlich nichts Böses gibt. Im inneren Dialog wird der Gesprächspartner hier durch eine Allegorie vertreten, durch die Tiefe und den Reichtum seiner Gedanken, aber auch durch die glanzvolle Form, in der Prosateile mit Gedichten in verschiedenen Maßen wechseln, wird dieser Text am Ausgang der Antike zu einem ihrer bedeutendsten. Das Mittelalter pflegt die Gattung in einigen von der Antike übernommenen Formen weiter, auch in ihrer ursprünglichen Ausformung des philosophischen Disputs, der nun natürlich immer auch eine theologische Ausprägung erfährt, etwa bei Anselm von Canterbury oder Petrus Abelardus. Beliebt ist auch das Lehrer-Schüler-Gespräch in der Tradition des Donat und wohl auch als Reflex auf gängige mündliche Formen des Unterrichtens. Der Neueinsatz der Gattung in der Renaissance beginnt gleich mit einem ihrer Mitbegründer, mit Petrarca, von dem insbesondere zwei Dialoge zu seinen wirkungsreichsten Schriften gehören, das „Secretum“ und „De remediis utriusque fortunae“. Die erstgenannte Schrift, „De secreto conflictu curarum mearum“ oder auch „De contemptu mundi“, verweist deutlich auf die beiden großen antiken Vorbilder Boethius und Augustinus. Als Allegorie erscheint hier die veritas, ebenfalls in Gestalt einer schönen Frau, die allerdings kaum ins Gespräch eingreift, sondern zwei anderen dabei zuhört, Franciscus selbst und Augustinus, der ihm quasi die Beichte über sein bisheriges Leben abnehmen und Hilfe leisten soll. Dessen bohrende Untersuchung bringt als

21 Hauptschwäche des Franciscus seine acidia zutage, eine atra quaedam voluptas („Schwermut“, „eine Art schwarzen Vergnügens“), hinter der als tiefste Ursachen amor und gloria stünden, die Liebe zu Laura und zum Lorbeer (laurea) des Ruhmes. Augustinus empfiehlt diverse Heilmittel, wobei er die gegen die Liebe vor allem dem hier zuständigen Klassiker Ovid, aber auch Vergils Bukolik entlehnt, die gegen die Ruhmsucht aus gängigen Topoi vom eitlen Diesseits (von daher auch der alternative Titel „Von der Verachtung der Welt“), wie man sie bei Boethius oder etwa auch in Ciceros „Somnium Scipionis“ findet, aus dem der Hinweis auf die angesichts der Größe des Kosmos auf einen Punkt geschrumpfte Ausdehnung der Erde und damit des menschlichen Ruhmes stammt. Die Heilmittel verfangen allerdings nicht, Franciscus will seiner poetischen und damit äußerlich-weltlichen Existenz treu bleiben, was man wohl treffend als neuartiges Bekenntnis im Geiste der Renaissance und als Absage an eine vollständig auf Gott und das Jenseits ausgerichtete mittelalterliche Lebenseinstellung gedeutet hat.4 Der zweite der beiden hier genannten Dialoge hat „Heilmittel gegen die beiden Arten der Fortuna“ als Titel, also solche gegen Glück und Unglück. Das erste Buch enthält 122 Kurzdialoge zwischen ratio, gaudium und spes, das zweite 132 zwischen ratio, dolor und metus. Wir sehen schon an dieser Konstellation, dass die Instanz der Vernunft zur Bewältigung von guten und schlechten Lebenslagen verhelfen soll. Bei guten scheint das auf den ersten Blick entbehrlich, weshalb auch Petrarca darin die schwierigere Übung sieht. Hier warnt daher die Vernunft vor jeglichem Überschwang und weist auf die Unbeständigkeit und stete Gefährdung menschlichen Glücks hin. Im Unglück vermag schon die alte Erkenntnis Heraklits omnia secundum litem fieri („dass alles im Streit geschehe“, was seinem bekannteren Satz vom Krieg als dem „Vater aller Dinge“ entspricht) zu helfen, die dann an vielen Beispielen aus der Natur, der Menschen- und sogar der Himmelswelt verdeutlicht wird. Auch in der Fülle der menschlichen Unglücksfälle, vom Zahnschmerz bis zum Verlust der Lieben, findet die Vernunft immer irgendeinen Trostgrund. So wie hier die antike und christliche Trostliteratur, steht im ersten Buch das reiche Arsenal der literarischen Tradition zur Relativierung menschlicher Glücksgüter zur Verfügung, wobei Ciceros Tusculanen und Seneca herausragen. Die Fülle der Kurzdialoge führt zu einer gewissen Eintönigkeit, zu der auch der erwartbare stete Sieg der argumentativ überlegenen Vernunft beiträgt. Vor allem aber diese einfache Struktur hat den Dialog zu einem vielbenutzten „Handbuch der Weltweisheit und zu einer Hausapotheke gegen die Gefahren 4 So etwa Stierle 2003, 422 f.

22 der Auslieferung an die Macht des Unvorhersehbaren“5 gemacht, der im Verlauf der folgenden drei Jahrhunderte an die dreißig Auflagen und Übersetzungen in mehr als fünfzig Sprachen erreichte. Der stete Sieg der Vernunft und die damit einhergehende Schwäche seiner Gegner hat aber auch zur Einschätzung geführt, hier handle es sich um einen „Undialog“6, was an entsprechende Bewertungen erinnert, wie wir sie oben beim Melierdialog des Thukydides gesehen haben: Wenn der Redekampf bereits entschieden und der Ausgang nicht mehr offen scheint, sind manche Interpreten geneigt, dem Dialog sein Eigentliches, sein Wesen abzusprechen, auch wenn das bei dessen klassischstem Vertreter, bei Platon, nicht anders ist, weil auch dort Sokrates letztlich immer als Sieger feststeht. Das führt hin zum zweiten Teil dieses Vortrags, der über das Ende des Dialogs in der modernen politischen Auseinandersetzung räsoniert, sich dabei aber bewusst halten muss, dass der grundsätzlich offene Ausgang eines Streitgesprächs möglicherweise ein nie erreichbares Ideal darstellt.

5. Zum Dialog in der politischen Praxis der Gegenwart: Deliberation vs. A(nta)gonismus Mit dem abrupten Wechsel vom literarischen Dialog der Vergangenheit zu dem der politischen Praxis in der Gegenwart erfolgt einerseits ein radikaler Wechsel der Kategorie, andererseits aber auch eine harte Ellipse, denn die Literaturgeschichte des Dialogs endet natürlich nicht mit Petrarca, sie hätte vor allem im Humanismus und in der Aufklärung noch eine Fülle glänzender Vertreter aufzuweisen. Gleichsam in einer praeteritio sei nur auf Erasmus von Rotterdam hingewiesen, der in seiner Neuübersetzung des Neuen Testaments den lógos vom Beginn des Johannesevangeliums nicht wie einst Hieronymus mit verbum, sondern mit sermo wiedergibt, weil der Vater durch seinen Sohn und also im „Gespräch“ zu uns Menschen spreche. Und Erasmus selbst hat mit einer Fülle von Dialogen weltliterarische Geltung erlangt, allen voran mit den „Colloquia familiaria“, die in mehreren Fassungen erschienen und eine gewaltige Wirkung über mehrere Jahrhunderte erzielten. Anlass für die nun folgenden Überlegungen ist, wie eingangs erwähnt, der Wunsch der Veranstalter dieser Tagung, meine fachlichen Kenntnisse zum Thema mit meinen konkreten Erfahrungen als Politiker in den letzten Jahren (Wissenschaftsminister von 2011 bis 2013, danach Abgeordneter zum Nationalrat auf einem Mandat der Österreichischen Volkspartei bis 2017) in Bezug 5 Stierle 2003, 223. 6 Stierle ebenda.

23 zu bringen. Ich habe mich dazu schon einmal in einer ähnlichen Konstellation geäußert, im Juli 2015 im Eröffnungsvortrag einer internationalen Rhetoriktagung in Tübingen7, und habe dort auf die Diskrepanz zwischen der Gattungsbezeichnung der politischen Rede als genus deliberativum, also Argumente „abwägend“, und ihrer praktischen, jeglicher Argumentation meist unzugänglichen Form hingewiesen. Meine persönliche Erfahrung von den Pseudodebatten in den Ausschüssen und im Plenum des österreichischen Parlaments, wo über längst anderswo Entschiedenes nochmals nicht nur ausgiebig, sondern auch mit großer Heftigkeit gestritten wird, lässt sich durch wissenschaftliche Untersuchungen8 und sauber recherchierte Reportagen9 stützen, die meinen eigenen Eindruck ein Stück weit verallgemeinern. Was für die „argumentierend“ genannte Gattung der politischen Rede gilt, trifft in gleicher Weise auch auf politische Debatten zu: Sie sind fast immer „Scheindebatten“10, da jeder Gesprächsteilnehmer in seiner Position verharrt. Dieses Phänomen scheint aber nicht auf Parlamentsdebatten beschränkt zu sein, sondern generelles Kennzeichen der gegenwärtigen Gesprächs(un)kultur vor allem im Bereich der Politik zu werden. Dazu gibt es inzwischen eine Fülle von Beobachtungen und Erklärungsversuchen. Manfred Kraus hat die internationale Debatte zu dem im Wachsen gesehenen Phänomen des „deep disagreement“ eines „dialogue des sourdes“ zusammengefasst, in dem man einander nicht mehr zuhöre, daher aneinander vorbeirede und nur bestrebt sei, der „eigenen Position Gehör“ zu verschaffen.11 Ziemliche Aufmerksamkeit darin hat z. B. der US-amerikanische Psychologe Jonathan Haidt gefunden, der die zunehmende Dialogunfähigkeit zwischen links und rechts evolutionär auf die nicht hintergehbare Dominanz der moralischen Intuition über das strategisch-rationale Denken zurückführt.12 Mit vielen anderen ortet Olaf Kramer die Ursache für die Ablösung echter durch Pseudodebatten in der „Kolonisierung der Politik durch die Medien“13, weshalb Inszenierung und Symbolisierung dominierten. Ohne Zweifel hat es hier zuletzt Verschärfungen gegeben, allerdings sind solche Phänomene zu allen Epochen feststellbar und in ihren Grundzügen nicht nur zeitlos14, sondern dem Geschäft der Politik inhärent. Sie muss sich eben immer auch darstellen, um in der sie betreffenden Gesell7 Veröffentlicht in Töchterle 2016. 8 Gruber 2015. 9 Willemsen 2014. 10 Gruber 2015, 136. 11 Kraus 2014. 12 Haidt 2012. 13 Kramer 2014, 681. 14 Vgl. Töchterle 2007.

24 schaft wirksam zu werden, und keine Verfassung bedarf der Kommunikation und damit der Medien mehr als gerade die Demokratie. Weil sie damit immer und heute zunehmend in Gefahr läuft, das Anpreisen ihrer Ware über diese selbst zu stellen, schwindet das Vertrauen in ihr Funktionieren. Die Verfassungsform der Demokratie und ihr Wesensmerkmal der argumentierenden Rede durften sich allerdings zu keiner Zeit ungeteilter Wertschätzung erfreuen. Die Antike hat in Theorie und Praxis bekanntlich den ‚Demos‘ weithin geringgeschätzt und seine politische Mitwirkung oder gar Alleinherrschaft deswegen selten gutgeheißen. Das ist natürlich auch der Überlieferungslage und den zumeist aus der Oberschicht stammenden Autoren geschuldet, so schon in dem frühesten uns erhaltenen einschlägigen Text, einer anonymen „Athenaion politeia“ aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., wo der als „alter Oligarch“ titulierte Verfasser mit nahezu grimmiger Zustimmung die Folgerichtigkeit, aber für die reicheren eben auch abträglichen Einrichtungen der jungen athenische Demokratie schildert. Das setzt sich fort in Platons Staatsmodell, in dem nicht das Volk, sondern eine der menschlichen Seele analoge Vernunftinstanz, die Philosophen, zur Herrschaft bestimmt sind, und endet in Ciceros „De re publica“, wo die Demokratie die „am wenigsten zu billigende“ Einzelverfassung, die Monarchie hingegen die beste sei, am allerbesten allerdings eine aus den Einzelverfassungen (als dritte kommt noch die Aristokratie hinzu) gemischte, wie sie Rom im Laufe der Geschichte entwickelt habe. In der modernen westlichen Welt steht nach den totalitären Katastrophen noch des 20. Jahrhunderts der Vorrang der demokratischen Staatsverfassung weithin außer Frage. Debattiert wird allerdings etwa über ihre Reichweite und ihre Ausgestaltung. Die geringe tatsächliche Partizipation des ‚Demos‘ am politischen Geschehen stellt z. B. die „Elitetheorie“ heraus, zu deren Hauptvertretern der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter zählt.15 Er hat in seinem Werk „Capitalism, Socialism, and Democracy“ von 1942 (auf deutsch 1947 erschienen, 8. Auflage von 2005) die Demokratie lediglich als einen Weg zu einer funktionsfähigen Regierung gesehen, die dann eben bis zur nächsten Wahlentscheidung dezidiert ohne die Mitwirkung des Volkes agiert. Ansonsten aber gehe von der Demokratie keine prägende Gestaltung der Gesellschaft aus, indem sie ihr etwa Gleichheit oder Freiheit oder wirkliche politische Teilhabe vermittle. Diese stehe immer nur einer Elite zu. Elitetheoretiker erklären mit dieser Konstellation auch das weitverbreitete Desinteresse an Politik und die niedrige und immer noch sinkende Wahlbeteiligung in entwickelten Demokratien und heißen sie als Zeichen von Zufriedenheit mit den je gegebenen Zuständen sogar gut. 15 Schumpeter 2005.

25 Was die Ausgestaltung der demokratischen Verfassung betrifft, steht seit langem insbesondere die repräsentative Form und deren Wesensmerkmal, das Parlament, in der Kritik. In der aktuellen österreichischen Debatte äußert sich diese etwa darin, dass mancherorts, insbesondere in der FPÖ vor ihrer Regierungsbeteiligung, eine Stärkung von Elementen einer ‚direkten‘ Demokratie verlangt wird. Als Musterland wird hier immer wieder die Schweiz bemüht, wo dafür allerdings eine ganz andere politische Kultur mit starker Tradition zur Verfügung steht. Zu der Debatte um die Formen der politischen Auseinandersetzung und zum Parlamentarismus, und damit kehre ich zum Thema des Dialogs und zu meiner einleitenden Behauptung von seinem Ende zurück, hat kürzlich meine Innsbrucker Kollegin Marie-Luisa Frick eine übersichtliche Darstellung der unterschiedlichen Positionen vorgelegt und Vermittlungsvorschläge gemacht.16 Danach kann man zwei Grundrichtungen ausmachen, eine, die an die Kraft und Sinnhaftigkeit von deliberativer Rede und argumentierender Diskussion glaubt, und eine gegenteilige, in der die stete Unversöhnlichkeit politischer Gegensätze und damit letztlich die Unmöglichkeit eines Dialogs behauptet wird. Zu den bekanntesten Vertretern der ersten Gruppe kann man etwa Walter Jens, Hannah Arendt, Jürgen Habermas oder John Rawls zählen. Frick17 unterscheidet dabei zwischen dem eher strukturellen Ansatz von Rawls, der darauf hofft, dass man unter Ausblendung persönlicher Befindlichkeiten und daraus möglicherweise resultierender Vorteile zu einer gerechten Gesellschaftsordnung gelangen kann, und dem eher substanziellen von Habermas, der auf den freien und allen zugänglichen, von der Vernunft geleiteten Diskurs setzt. Dieser würde letztlich immer zu rationalen und daher für alle tragbaren Entscheidungen führen. Wir kennen dieses optimistische Vertrauen in die Vernunft als entscheidender Instanz des Menschen, ob individuell oder kollektiv, ja schon aus der antiken Philosophie, wo es etwa Platon oder die Stoa kennzeichnet, und wir wissen von dort, dass es ein Konzept von nur begrenzter Tragweite sein kann, weil es eben immer nur einen Teilaspekt des Menschlichen erfasst. In der gegenwärtigen politischen Diskussion wird ihm vor allem vorgeworfen, dass es den nicht zu gewinnenden politischen Gegner der Unvernunft bezichtigt, dessen Position dann eben von anderen Kräften, z. B. von Emotionen bestimmt ist. Oft bemüht werden da derzeit ‚Ängste‘ wie die Xeno- oder die Islamophobie, und der betreffende Diskurs gleitet dann leicht ins Moralische und unterscheidet 16 Frick 2017. 17 Frick 2017, 24 ff.

26 zwischen der guten eigenen und der schlechten anderen Position. Damit aber endet der Dialog, da aus dem politischen Gegner der minderwertige oder eben sogar böse ‚Rechtsextreme‘, ‚Populist‘ und ‚Rassist‘ wird. Aus eigener politischer Erfahrung kann ich z. B. beisteuern, dass es etwa völlig aussichtslos war, Mitglieder unseres Koalitionspartners in der Regierung mit rationalen Mitteln von der Notwendigkeit eines Zugangsmanagements für überlaufene Fächer an der Universität zu überzeugen, wenn ihnen das Dogma vom ‚freien Hochschulzugang‘ über alles ging. Der hier zugrundeliegende Sachverhalt, dass es in der Politik eben kaum je um reine Rationalität, immer aber um Interessen geht, hinter denen viele Motive, von ehrenwerter Ideologie bis zu schlichter Gewinnsucht, stehen können, lässt eine Alternative zur Deliberation plausibel erscheinen, die nach Frick als „agonistische“ oder „radikale Demokratietheorie“ zu bezeichnen wäre.18 Mit dem ersten dieser beiden Termini operiert die Theorie von Chantal Mouffe.19 Sie entwickelt ihn aus früheren skeptischen Ansätzen, vor allem aus dem „Antagonismus“ von Carl Schmitt, der u. a. gegen Hans Kelsen und andere Verteidiger der parlamentarischen Demokratie gerichtet war. Wie er und andere Vorgänger und Zeitgenossen sieht auch Mouffe in der Hoffnung auf rational und dialogisch lösbare politische Konflikte eine Utopie, anders als er meint sie aber, dass diese nicht in einen antagonistischen Kampf von Feinden, sondern in eine „agonistische“ Auseinandersetzung von „Kontrahenten“ münden sollten, die sich nach von beiden Seiten akzeptierten Regeln abspielt.20 Dieser kurze und notgedrungen oberflächliche Ausflug in die aktuelle Debatte zu den Möglichkeiten des politischen Dialogs scheint die Berechtigung, von seinem „Ende“ zu sprechen, zu verstärken. Gleichwohl glaube ich nicht wirklich daran und hoffe auf Mittelwege zwischen der wohl zu optimistischen Hoffnung auf die Macht des rationalen Gesprächs und deren radikaler Leugnung.

18 Frick 2017, 26. 19 Mouffe 2016. 20 Mouffe 2016, 28 f.

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Literatur Föllinger, Sabine/Gernot Michael Müller (Hg.), Der Dialog in der Antike. Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischen Philosophie, Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung, Berlin/Boston 2013 (Beiträge zur Altertumskunde, 315). Frick, Marie-Luisa, Zivilisiert streiten. Zur Ethik politischer Gegnerschaft, Stuttgart 2017. Görgemanns, Herwig, Artikel „Dialog“, in: Der Neue Pauly 3, Stuttgart/Weimar 1997, 517–519. Gruber, Helmut, Formen und rhetorisch-argumentative Funktionen von Bezugnahmen auf vorherige Äußerungen in den Debattenbeiträgen österreichischer Parlamentsabgeordneter, in: Peter Anreiter, Elisabeth Mairhofer, Claudia Posch (Hg.), Argumenta. Festschrift für Manfred Kienpointner zum 60. Geburtstag, Wien 2015, 125–138. Haidt, Jonathan, The righteous mind: Why good people are divded by politics and religion, New York 2012. Hirzel, Rudolf, Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, 2 Bde., Leipzig 1895, Nachdruck Hildesheim 1963. Hösle, Vittorio, Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik, München 2006. Kofler, Wolfgang, Philosophische Räume. Zur Funktion des Settings in Ciceros De finibus, in: Bernhard Zimmermann (Hg.), Cicero. Politiker, Redner, Philosoph, Freiburg 2017, 81–98. Kramer, Olaf, Politik zwischen Gegenwart und Zukunft. Das genus deliberativum in der Mediokratie, in: Gert Ueding, Gregor Kalivoda (Hg.), Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung, Berlin/Boston 2014, 681–701. Kraus, Manfred, Aneinander vorbeigeredet? Zur Rolle von Dissens und polemischer Debatte in der pluralistischen Gesellschaft, in: Gert Ueding, Gregor Kalivoda (Hg.), Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung, Berlin/Boston 2014, 353–372. Lesky, Albin, Geschichte der griechischen Literatur, 3. Aufl. Bern/München 1971. Meyer, Martin F., Zur Geschichte des Dialogs. Platonische Positionen von Sokrates bis Habermas, Darmstadt 2006. Mouffe, Chantal, Agonistik. Die Welt politisch denken. Übers. v. Richard Barth, 2. Aufl. Berlin 2016. Schumpeter, Joseph A., Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Einführung von Eberhard K. Seifert, 8. Aufl. Tübingen und Basel 2005.

28 Stierle, Karlheinz, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München/Wien 2003. Töchterle, Karlheinz, Politische Symbolik bei antiken Akteuren – ein Teilaspekt des politischen Schau-Spiels, in: Heinrich Schmidinger, Clemens Sed­ mak (Hg.), Der Mensch – ein „animal symbolicum“? Sprache – Dialog – Ritual, Darmstadt 2007, 287–300. Töchterle, Karlheinz, Emphase des Politischen, Emphase der Politik, in: Thomas Köhler/Christian Mertens (Hg.), Jahrbuch für politische Beratung 2012/2013, Wien 2013, 17–21. Töchterle, Karlheinz, Von der Absenz des genus deliberativum im Parlament, in: Rheton Beiträge 2016 (http://www.rheton.sbg.ac.at/rheton/2016/06). Von Reden, Sitta, Die Dialogisierung historischer Darstellung: der Melierdialog in einer Wissenskultur im Umbruch, in: Föllinger 2013 (s. d.), 201– 220. Willemsen, Roger, Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament, Frankfurt am Main 2014.

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CHRISTA DÜRSCHEID

Die personale Kommunikation im Internet – (k)ein Dialog?

Das Wort ist eine Brücke, die von mir zum anderen führt. Wenn sie sich mit einem Ende auf mich stützt, dann stützt sie sich mit dem anderen auf den Gesprächspartner. Vološinov (1930 [1975]: 146)

1. Dialog und Dialogizität Im Jahr 2016 erschien in der Zeitschrift für Germanistische Linguistik (ZGL) unter dem Titel „Dialogizität“ ein Themenheft, in dem das Konzept des Dialogischen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Einleitend stellt Wolfgang Imo, Herausgeber des Heftes, dazu fest, dass das, was ein Dialog ist, „intuitiv allen mehr oder weniger klar zu sein“ scheine (Imo 2016: 337), dass der Begriff allerdings umso unklarer würde, je länger man darüber nachdenke. Nun verhält es sich bekanntlich mit vielen Termini so, und mehr noch ist dies der Fall, wenn sie nicht nur in der Fachsprache, sondern auch in der Allgemeinsprache eine zentrale Rolle spielen und man versucht, zu einer verbindlichen Begriffsklärung zu kommen.1 Doch sind mit dem Terminus Dialog in der Linguistik noch weitere, grundsätzliche Aspekte verbunden, die über solch terminologische Fragen hinausgehen und mit den beiden zentralen Modalitäten von Sprache zusammenhängen, mit der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit. Zu nennen sind hier z. B. die folgenden, in der Linguistik zum Teil recht kontrovers diskutierten Punkte: Soll man den Terminus Dialog nur auf den Austausch von Mitteilungen in der gesprochenen Sprache beziehen? Handelt es sich bei einer Briefkommunikation auch um einen Dialog? Ist eine Voraussetzung für Dialogisches, dass 1 Um hier nur einige Beispiele zu nennen: Was sind Medien? Was ist ein Text? Wie kann man Kommunikation definieren?

30 die Äußerungen in einer Sequenz stehen, in welcher der Adressat auf das Vorangehende Bezug nehmen kann (wie ja bei Briefen der Fall)? Und wie verhält es sich mit Texten, die nicht zu dem Zweck geschrieben wurden, dass jemand eine Antwort darauf gibt (z. B. Gebrauchsanweisungen, Zeitungsnachrichten, literarische Werke)? Sind dies Monologe? Dagegen wird aus hermeneutischer Sicht meist angeführt, dass bereits die stille Lektüre eines Textes ein Dialog sei; der Leser2 erschließe sich die Bedeutung gewissermaßen in der Interaktion mit dem Text. Oder es wird geltend gemacht, dass ein Text, an dessen Entstehung mehrere Verfasser beteiligt sind, in sich eine dialogische Struktur haben könne, wenn sich die einzelnen Teile aufeinander beziehen. Diese Auffassung vertritt beispielsweise Markus Saur in einem Beitrag zur Bibelexegese, der den Titel „Dialog als Prinzip“ trägt. Darin erläutert er, dass die Bücher des Alten Testaments „gefrorene Dialoge“ seien, die „durch die historische Arbeit aufgetaut werden können“ (Saur 2014: 142). Liest man die Texte aus heutiger Sicht, dann werde man gewissermaßen Zeuge eines Dialogs, der auf der Basis dieser Texte geführt wurde. Wie diese Anmerkungen bereits vermuten lassen, wird der Terminus Dialog im vorliegenden Beitrag nicht nur aus linguistischer Sicht betrachtet, es werden auch Bezüge zur Theologie und zur Philosophie hergestellt. So verweise ich im Folgenden auf das Werk von Ferdinand Ebner, der sich nach seiner Hinwendung zum Christentum intensiv mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott und der Beziehung des Ich zum Du befasst hat. Im Winter 1918/1919 hatte Ebner an seiner Schrift „Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente“ gearbeitet; diese erschien 1921 in der Zeitschrift Der Brenner und wurde zu einem grundlegenden Werk der Dialogphilosophie. Seine Gedanken zum Wesen der Sprache bringt Ebner mit den folgenden, später vielfach zitierten Worten zum Ausdruck: „Das nun macht das Wesen der Sprache – des Wortes – in ihrer Geistigkeit aus, daß sie etwas ist, das sich zwischen dem Ich und dem Du zuträgt, zwischen der ersten und zweiten Person, wie man in der Grammatik sagt; etwas, das also das Verhältnis des Ichs zum Du einerseits voraussetzt, andrerseits herstellt“ (Ebner 1921a [2009]: 17).3 2 In diesem Beitrag wird keine Geschlechterdifferenzierung vorgenommen. Man möge mir dies verzeihen. Anmerken möchte ich an dieser Stelle auch, dass der vorliegende Beitrag während meines Fellowships am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald entstand. Der Alfried Krupp Stiftung sei an dieser Stelle herzlich dafür gedankt, dass sie mir den Aufenthalt in einem solch inspirierenden Umfeld ermöglichte. 3 Die wichtigsten Schriften Ferdinand von Ebners sind online zugänglich. Man findet sie unter http://wfe.sbg.ac.at/exist/apps/ebner-online/index.html .

31 Ähnliche Gedanken finden sich auch im Werk Martin Bubers, auf den ich im Folgenden ebenfalls Bezug nehmen werde. Hier ist vor allem seine Abhandlung „Ich und Du“ aus dem Jahr 1923 zu nennen, die 1954 zusammen mit drei weiteren Schriften in einem Sammelband unter dem Titel „Die Schriften über das dialogische Prinzip“ erschien (hier und im Folgenden zitiert aus der Ausgabe von 1962; 6. Aufl. 1992). Ein weiterer Text in diesem Band trägt den Titel „Elemente des Zwischenmenschlichen“, und darin wiederum gibt es einen Abschnitt mit der Überschrift „Das echte Gespräch“, in dem Buber die Grundlagen des dialogischen Prinzips ausarbeitet.4 Im Nachwort zu diesem Sammelband erwähnt Buber, dass er, als er am dritten und letzten Teil von „Ich und Du“ arbeitete, mit der Lektüre von Ebners Schriften begonnen habe: „Das Buch zeigte mir, wie kein anderes seither, stellenweise in einer fast unheimlichen Weise, daß in dieser unserer Zeit Menschen verschiedener Art und Tradition sich auf die Suche nach dem verschütteten Gut begeben hatten“ (Buber 1962/1992: 309). Auch an anderer Stelle nimmt Buber auf Ebner Bezug, so z. B. wenn er schreibt, dass Ebner, „ein von Krankheit und Depression schwer heimgesuchter katholischer Volksschullehrer in der österreichischen Provinz“, nach dem ersten Weltkrieg, im Jahr 1919, seine Pneumatologischen Fragmente schrieb und darin „von der Erfahrung der ‚Icheinsamkeit‘ in jenem existentiellen Sinn [ausgeht], den sie in unserer Zeit gewonnen hat“ (Buber 1992: 305f ). Nur in der Begegnung mit dem anderen, im „echten Gespräch“, kann diese Icheinsamkeit überwunden werden. Praktische Konsequenzen hat diese Auffassung bis heute, so beispielsweise in der Psychotherapie. Dazu schreibt Emmanuel J. Bauer (i.d.B.): „Einige der Psychotherapie-Schulen tragen dieser Erkenntnis, dass das Dialogische Prinzip, das heißt die Erfahrung personaler Begegnung und Beziehung, für das gesunde Selbst-Sein wie auch für das Gesunden des angeschlagenen, verunsicherten Selbst-Seins des Menschen von fundamentaler Bedeutung ist, in Theorie und Praxis Rechnung. Explizit geschieht das vor allem in der Gestalttherapie, der Personenzentrierten Psychotherapie und der Existenzanalyse, in gewissem Maß auch in der Logotherapie, Daseinsanalyse und im Psychodrama.“5 4 Ein wichtiges Element des echten Gesprächs ist, den anderen in seinem Anderssein zu akzeptieren. Vgl. das folgende Zitat: „Im echten Gespräch geschieht die Hinwendung zum Partner in aller Wahrheit, als Hinwendung des Wesens also. Jeder Sprecher meint hier den Partner, an den, oder die Partner, an die er sich wendet, als diese personhafte Existenz“ (Buber 1992: 293). 5 Hier sei die Frage erlaubt, ob nicht auch in einer schriftlichen Therapeut-Klient-Interaktion (wie z. B. in einem Online-Chat) eine solch personale Begegnung stattfinden kann. Muss der Therapeut persönlich anwesend sein, damit es zu einem echten Gespräch kommt?

32 Solche Bezüge zu den Schriften von Ebner und Buber stelle ich aber nicht nur deshalb her, weil der vorliegende Beitrag im Kontext eines internationalen Symposions steht, in dem das Dialogische Prinzip und die Frage, welche Rolle der (echte) Dialog in unserer heutigen Zeit spielt, erörtert wurden.6 Der Grund ist auch der, dass sich dadurch für die Linguistik neue Perspektiven eröffnen. Denn der Fokus wird auf diese Weise von der sprachlich-strukturellen Analyse von Dialogen auf die Inhalte solcher Dialoge verlagert und damit auf Aspekte, die in einer linguistisch fundierten Sprachkritik eine wichtige Rolle spielen. Weiter unten gehe ich auf diese Thematik ein (vgl. Abschn. 4), hier sei noch ein Wort zum zweiten Stichwort gesagt, mit dem der vorliegende Abschnitt überschrieben ist: Dialogizität. Auch dazu sei auf Wolfgang Imos Beitrag im ZGL-Themenheft „Dialogizität“ verwiesen: Imo führt aus, dass das Dialogizitätskonzept auf die Arbeiten der russischen Kultursemiotiker Michail Bachtin und Valentin Vološinov zurückgehe und eine sprachtheoretische Haltung meine, die darin bestehe, „Sprache grundsätzlich von ihrem tatsächlichen oder möglichen Potential ihrer dialogischen Wirkung her zu denken“ (Imo 2016: 339). Im Zentrum steht bei diesem Ansatz nicht die Frage, ob faktisch eine bestimmte Konstellation gegeben ist, die man als Dialog bezeichnen kann oder nicht. Der Ausgangspunkt ist vielmehr die Annahme, dass die menschliche Sprache inhärent dialogisch sei und die Bezugnahme des Ich auf das Du eine Grundbedingung sozialen Handelns darstelle. Vor diesem Hintergrund lässt sich Sprache unter keinen Umständen als monologisch ansehen; pointiert gesagt: Alles ist dialogisch, der Dialog ist eine Grundkonstante unseres Daseins. Damit verbunden ist die Annahme, dass – wie Valentin Vološinov es in seiner programmatischen Schrift „Marxismus und Sprachphilosophie“ so treffend formuliert hat – „das Wort ein zweiseitiger Akt“ ist, „das gemeinsame Territorium von Sprechendem und Gesprächspartner“ (1930/1975: 146). In der 6 Das Symposion wurde an der Universität Salzburg unter Mitarbeit der Internationalen Ferdinand Ebner Gesellschaft ausgerichtet. Im Ankündigungstext zu dieser Veranstaltung hieß es: „Seit nunmehr 100 Jahren pocht die Dialogphilosophie auf ein Prinzip, das sich gerade angesichts des hundertjährigen Endes des Ersten Weltkrieges neu zu bedenken lohnt – den echten Dialog, der davon getragen ist, den jeweils anderen ernst zu nehmen, sich auf ihn einzulassen und sich von ihm berühren zu lassen. […] In dem internationalen Symposion wird dieses wirkmächtige philosophische Prinzip aus der Sicht verschiedener Disziplinen wissenschaftlich neu untersucht, seine Wirkungsgeschichte erkundet und seine aktuelle Bedeutung für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft angesichts der Herausforderungen in Politik, Religion und Gesellschaft ausgelotet“ https://philevents.org/event/fileDownload/38358?fileId=4858 . An dieser Stelle möchte ich den Teilnehmerinnen und Telnehmern für ihre wertvollen Rückmeldungen zu meinem Vortrag danken.

33 neueren Linguistik wird diese Auffassung u.a. von Per Linell vertreten. Er sieht die Reflexivität, die wechselseitige Bezugnahme der Kommunikationspartner aufeinander, als fundamentales Prinzip in der Interaktion an.7 Linell hat zwar nur die gesprochene Sprache im Blick, doch kann man seine Ausführungen, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, zu weiten Teilen auch auf schriftliche Dialoge übertragen (vgl. Dürscheid 2016). Auch im Geschriebenen macht die wechselseitige Bezugnahme der Kommunikationspartner aus einer Aneinanderreihung von Nachrichten einen Dialog. Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob dieser Dialog ein „echter“ Dialog im Sinne Bubers ist. Welche Kriterien aus sprachkritischer Sicht erfüllt sein müssen, damit dies der Fall ist, wird weiter unten dargelegt; wie bereits angedeutet, reicht es hierfür nicht aus, Dialoge nur auf sprachlich-struktureller Ebene zu beschreiben. Zum Schluss dieses einführenden Abschnitts zu Dialog und Dialogizität ist noch anzumerken, dass das Wort Dia-log keineswegs nur den Austausch zwischen zwei Personen meint. Dialog wird im Deutschen zwar oft mit Zwie-Gespräch wiedergegeben, das Element Dia- (griech. durch) in diesem Fall aber fälschlich mit dem Präfix Di- (griech. zwei) gleichgesetzt. Darauf weist auch Peter Auer hin, wenn er in dem bereits erwähnten ZGL-Themenheft den Meister zum Schüler sagen lässt: „Du hast deine griechischen Vokabeln nicht gelernt! Ein Dialog ist kein Zwiegespräch! […] Wir wissen als Sprachwissenschaftler doch auch zwischen Dia-lekt und Di-glossie oder zwischen dia-chron und Di-phthong zu unterscheiden. Nur die Diglossie und der Diphthong haben etwas mit Binarität zu tun, aber der Dialekt und die Diachronie genauso wenig wie der Dialog!“ Auer nimmt in seinem ZGL-Beitrag mit dem Titel „Dialogus in Dialogum“, der einen platonischen Lehrdialog inszeniert, auf die Arbeiten der großen Vertreter des Dialogizitätskonzepts Bezug; an späterer Stelle führt er diese auch namentlich an (Bachtin, Vološinov, Linell u.a.). Der Text beginnt mit der folgenden Frage: Ist, geehrter Meister, nicht der Dialog die erste und schönste aller menschlichen Verhaltensweisen, und die Erforschung des Dialogs folgerichtig die schönste aller sprachwissenschaftlichen Künste? Niemand möchte gern allein sein – oder allein vor sich hin fabulieren. Wir brauchen den Anderen, die Widerrede, das Gespräch. Und lehren uns nicht die großen Meister, dass alles Sprechen dem Wesen nach dialogisch ist? Die Grundlage der Wissenschaft von der Sprache muss also der Dialog sein. Auer (2016: 357) 7 Linell (1998) unterscheidet vier Dialogizitätsprinzipien. Das Reflexivitätsprinzip stellt darunter dasjenige dar, dem alle anderen untergeordnet sind.

34 Im weiteren Verlauf des Lehrgespräches wird deutlich, dass Peter Auer dieses dazu benutzt, um den Dialogbegriff kritisch zu hinterfragen und in einem zweiten Schritt – auf rhetorisch sehr geschickte Weise – für den Begriff Interaktion zu plädieren. Den Meister lässt er dies gegenüber dem Schüler damit begründen, dass die Bezeichnung Dialog die Betrachtung auf Sprachliches einschränke, im Gespräch aber weitaus mehr Ausdrucksmittel eingesetzt würden, die ebenfalls einen wichtigen Anteil an der Kommunikation hätten. So heißt es an einer Stelle in Anspielung auf neuere Entwicklungen in der Linguistik: „Wir sprechen viel von Multimodalität; wir glauben, dass die Sprache als kommunikative Ressource nicht allein steht, sondern eingebettet ist in die verschiedensten anderen Ausdrucksressourcen“ (Auer 2016: 358). Wie könne man, so das Argument des Meisters, vor diesem Hintergrund noch von Dialogen bzw. von Dialogforschung sprechen; ist der Terminus Interaktion bzw. Interaktionsforschung nicht treffender, da damit auch nicht-verbale Handlungen einbezogen werden? Tatsächlich steht in der Linguistik heute die Interaktionsforschung im Fokus, von der Dialoganalyse als linguistischer Disziplin ist nur noch wenig die Rede (vgl. z. B. Weigand 1989). In einigen neueren linguistischen Arbeiten wird das Interaktionskonzept aber nur auf solche Situationen bezogen, in denen sich die Kommunikationspartner wechselseitig wahrnehmen (so z. B. bei Hausendorf et al. 2017: 132). Im Geschriebenen ist dies nicht der Fall, weshalb Hausendorf et al. (2018) in Bezug darauf von Textkommunikation, nicht aber von Interaktion sprechen. In seinem Aufsatz zur Interaktionslinguistik schreibt Hausendorf (2015: 51) dazu Folgendes: „So sollte man allen Suggestionen moderner elektronischer Schriftlichkeit zum Trotz schrift- und textbasierte Kommunikation grundsätzlich nicht als Interaktion behandeln“. Doch es muss kritisch angemerkt werden, dass dieser Auffassung ein sehr enger Interaktionsbegriff zugrunde liegt, viele andere Linguisten teilen diese Meinung nicht. Dazu gehören die Vertreter aus der Münsteraner Schule (z. B. Wolfgang Imo, Susanne Günthner, Jörg Bücker), die dafür argumentieren, dass auch solche Situationen, in denen sich die Kommunikation nicht von Angesicht zu Angesicht vollzieht, als Interaktion anzusehen sind, sofern eine wechselseitige Bezugnahme auf die Äußerungen des anderen vorliegt (wie z. B. in einem Chat der Fall). Ich schließe mich dieser Position an (vgl. zu den Argumenten Dürscheid 2016), spreche also auch mit Bezug auf den schriftlichen Nachrichtenaustausch von einer Interaktion. Weiter verwende ich hier den Terminus Dialog gleichbedeutend mit Interaktion. Das ist deshalb legitim, weil es im vorliegenden Beitrag nur um die verbale Dimension der Äußerungen geht, nicht um den Einsatz para- oder nonverbaler Ausdrucksmittel (z. B. die Körperhaltung, die Mimik, Gestik und Position der Kommunikationspartner

35 im Raum). Diese spielen zwar im Gespräch eine wichtige Rolle und können in einer Interaktionsanalyse beispielsweise über Videoaufnahmen dokumentiert werden, all das fällt aber in der schriftlichen Kommunikation weg.8

2. Die personale Kommunikation im Internet Die Kommunikation im Internet ist technisch vermittelt und unterliegt damit – im Vergleich zu einem direkten Gespräch, das ohne technisches Medium erfolgt – Einschränkungen. Diese gibt es auch dann, wenn sich die Kommunikationspartner in einem Videochat sehen können oder wenn sie über das Internet telefonieren. Denn im Telefonat erhalten sie nur akustische Informationen, alle visuellen Eindrücke fallen weg. Im Videochat (z. B. über Skype) wird die Kommunikation zwar durch das Bild angereichert, doch hier sehen die Kommunikationspartner immer nur den Ausschnitt, den ihnen die im Computer eingebaute Kamera zeigt. Es ist in einem solchen Chat also nie möglich, die Situation ganzheitlich, gewissermaßen ‚nur‘ mit den eigenen A ­ ugen wahrzunehmen. Auf der anderen Seite kann man, wie in einem direkten Gespräch auch, den anderen unterbrechen, man kann mitverfolgen, wie der andere etwas formuliert, wie er ggf. nach Worten sucht, wie er sich selbst korrigiert, und man kann durch Hörersignale, Stirnrunzeln, Räuspern, Pausen etc. Zustimmung oder Missfallen bekunden und auf diese Weise das Gespräch in eine bestimmte Richtung lenken – absichtlich oder unabsichtlich. Das ist in der schriftbasierten Kommunikation nicht möglich, die Produktion und die Rezeption der Äußerungen sind hier zeitlich entkoppelt. Zwar mag in einem schriftlichen Nachrichtenaustausch die Zeitspanne zwischen den einzelnen Beiträgen verschwindend gering sein und in diesem Sinne als quasi-synchron bezeichnet werden: Eine synchrone Kommunikation ist es nicht. Befänden sich die Beteiligten aber im selben physischen Raum, dann wäre eine solche Synchronizität denkbar. Das ist etwa der Fall, wenn die Dozentin in einem Hörsaal die wichtigsten Punkte an die Tafel schreibt und die Studierenden ihr dabei zusehen. In einem solchen Szenario wären auch para- und nonverbale Ausdrucksmittel vorhanden, die den Beteiligten zusätzliche Informationen geben.9 Dabei handelt es sich aber um einen atypischen Fall schrift8 Nota bene: Es wäre falsch anzunehmen, dass die schriftliche Kommunikation deshalb defizitär sei. Denn es treten in der Schriftlichkeit typographische und piktorale Ausdrucksmittel hinzu, die es wiederum in der mündlichen Kommunikation nicht geben kann (vgl. dazu Abschn. 3). 9 Wird der Text von Hand geschrieben (wie bei einem Tafelanschrieb der Fall), kom-

36 licher Kommunikation, in der Regel werden Texte erst gelesen, nachdem sie geschrieben wurden, nicht bereits während des Produktionsprozesses. Daraus resultieren einige Vorteile, die die mündliche Kommunikation nicht aufweisen kann: Im Schreiben ist der Schreiber gewissermaßen geschützt; er wird nicht dabei beobachtet, wie er seine Sätze formuliert, wie er sich korrigiert, welche Selbstreparaturen er durchführt (z. B. Wortumstellungen, Worttilgungen), während er seinen Beitrag schreibt. Sofern er den Text noch nicht hochgeladen bzw. an den Empfänger geschickt hat, kann er alle Äußerungen nochmals redigieren und beliebig viele Änderungen vornehmen. Der Leser nimmt seinerseits nicht Anteil am Produktionsprozess und muss auch nicht sofort reagieren: Er kann über die Aussage nachdenken, später antworten oder möglicherweise gar nicht (z. B. unter dem Vorwand, er habe die Nachricht nicht bekommen). Ein weiterer Vorteil schriftlicher Kommunikation besteht darin, dass die Kommunikationsbeteiligten das Geschriebene jederzeit nachlesen können; anders als in der gesprochenen Sprache (sofern diese nicht aufgenommen wird) ist das Wort nicht flüchtig; die Schrift konserviert die Aussagen. Ein längerer, intensiver Nachrichtenaustausch (z. B. eine E-Mail-Korrespondenz unter Fachkollegen) kann deshalb sehr gut dazu geeignet sein, gemeinsam Ideen zu entwickeln; zudem hat dies den Vorteil, dass die Gedanken gleichzeitig fixiert sind. Die „allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Reden“, wie es bei Heinrich von Kleist heißt, kann also im schriftlichen Dialog ihr Pendant finden. Und noch ein Vorteil der schriftlichen Kommunikation sei genannt: Die Schrift ist still, eine Schriftkommunikation kann auch im öffentlichen Raum geführt werden, ohne dass dies andere stören würde. Bei Telefonaten oder Videokonferenzen (z. B. am Smartphone) ist das anders; hier hören andere oft unfreiwillig mit und sind dadurch irritiert.10 Auch Ferdinand Ebner hat sich mit den Unterschieden zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort befasst. In seinen „Glossen zum Introitus des Johannes-Evangeliums“ liest man dazu Folgendes:

men noch weitere Informationen hinzu. So ist die Handschrift ein sehr persönliches Merkmal, das nach Meinung vieler Rückschlüsse auf die Person zulässt. Doch stellt das Handschreiben in der heutigen, weitgehend digitalen Schriftkommunikation die Ausnahme dar, diese Informationen fallen in der Regel also weg (vgl. Gredig i.Dr.). 10 Eine Irritation mag zwar doch erfolgen, so z. B., wenn man eingehende Nachrichten in einer Situation liest, in der sich die Anwesenden dadurch gestört fühlen (am Mittagstisch, im Theater etc.). Das liegt aber auf einer anderen Ebene; eine akustische Störung erfolgt hier nicht.

37 Das geschriebene Wort – mehr aber noch gilt das vom gedruckten – kommt, wie Platon sagt, überall hin, auch zu denen, die es nicht verstehen, und weiß selbst nicht zu sagen, für wen es bestimmt war und für wen nicht. Auf dem Wege durch Druckerschwärze und Maschine wird es, eben weil es durch einen Mechanismus der lebenserfüllten Unmittelbarkeit des persönlichen Moments bereits entrückt ist, selber zu etwas Unpersönlichem […]. Ebner (1921b: 586)

Ersetzt man das Wortpaar „Druckerschwärze und Maschine“ in diesem Zitat durch die beiden Wörter Computer und Internet, dann gilt diese Kritik umso mehr: Durch das Internet kommt das geschriebene Wort überall hin. Aber auch auf das gesprochene Wort trifft dies zu, wenn es massenmedial verbreitet wird (wie z. B. über Rundfunk und Fernsehen). Insofern könnte man – wenn man sich Ebners Urteil anschließen möchte – das, was er damals als das „Unheil des Journalismus“ bezeichnet hat, heute als das „Unheil der Massenkommunikation“ ansehen. Dies führt uns zu der Frage, worin sich die personale Kommunikation von der Massenkommunikation (z. B. über Zeitungen, Firmen-Homepages, Online-Radio und Online-Fernsehen) unterscheidet. Im „Handbuch Kommunikations- und Medienwissenschaft“ findet man dazu den folgenden Eintrag: „Die Aussagen werden [in der Massenkommunikation, C.D.] nicht zwischen zwei oder einer kleinen Gruppe individueller Kommunikatoren bzw. Kommunikanden vermittelt (interpersonale Kommunikation), sondern an eine große Zahl von Rezipienten“ (Bentele et al. 2003: 196). Die Massenkommunikation richtet sich, so heißt es an anderer Stelle, an ein anonymes und ein disperses Publikum,11 die Individualkommunikation dagegen ist adressatengerichtet. Zwar kann man auch auf Facebook beispielsweise auf einen Schlag viele Menschen erreichen, doch diese können dem Absender umstandslos antworten und dieser kann seinerseits wieder darauf antworten. Die Dialogizität stellt hier also ein konstitutives Merkmal dar – unabhängig davon, wie groß der Adressatenkreis ist. Anders ist dies bei einem Zeitungsartikel. Selbst wenn die Möglichkeit besteht, einen Leserbrief zu schreiben oder online einen Artikel zu kommentieren: Ein dialogischer Austausch resultiert daraus nicht, in der Regel werden weder der Verfasser des Textes noch andere Leser darauf antworten.12 Monologische Texte müssen denn auch für sich selbst stehen; sie müssen 11 Das Attribut dispers meint, dass die Rezipienten räumlich voneinander getrennt sind und sich nicht kennen. Ein Austausch unter ihnen und eine Rückmeldung an den Absender findet in der Regel nicht statt, die Kommunikation ist unidirektional. 12 Anders sieht es Valentin Vološinov. Er äußert sich zwar nicht zum Zeitungsartikel,

38 kohärent, abgeschlossen und in sich verständlich sein, Rückfragen sind nicht vorgesehen. Im Schreiben resultieren daraus gewichtige Unterschiede, die man sich umso mehr bewusstmachen muss, wenn man oft zwischen der einen und der anderen Schreibpraxis hin und herwechselt. Kommen wir von der Massen- zurück zur Individualkommunikation: In diesem Fall gelangt das Wort – zumindest de jure – an die Person bzw. an die Personen, für die es bestimmt ist: Ein Brief wird an die angegebene Adresse geschickt, eine Textnachricht an die Handynummer, Facebook-Nachrichten gehen an die Personen, deren Kontaktanfragen man angenommen hat oder die man selbst kontaktiert hat. Und doch kann es auch hier vorkommen, dass das Schreiben Personen erreicht, für die es nicht bestimmt ist. Der Brief kann ohne das Wissen des Absenders weitergeschickt werden, der Facebook-Post kann durch ein Klicken mit vielen anderen ‚geteilt‘ und eine Textnachricht mit einem Tastendruck an eine Vielzahl von Empfängern geschickt werden. Durch die digitale Kommunikation bekommen diese Möglichkeiten eine ganz neue Dimension – und daraus resultieren neue Gefahren und neue Formen des Missbrauchs.13 Die seit Mai 2018 gültige Datenschutzgrundverordnung, aber auch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz aus dem Jahr 2017 zeigen denn auch, wie wichtig es ist, die Privatsphäre des Einzelnen juristisch zu schützen und gegen ehrverletzende Handlungen im Netz strafrechtlich vorzugehen. Würde das Dialogische Prinzip überall gelten, bräuchte es solche Gesetze nicht.

3. Merkmale schriftlicher Dialoge Welches sind die sprachlich-strukturellen Merkmale von schriftlichen Dialogen; worin bestehen die Unterschiede zur mündlichen Kommunikation? Und welche Ausdrucksmittel können im Geschriebenen eingesetzt werden, die es schreibt aber über das Buch, dass es „eine gedruckte sprachliche Handlung“ darstelle, die auf eine Reaktion ausgerichtet sei. Hier seine Erläuterung dazu: Das Buch wird „im unmittelbaren, lebendigen Dialog erörtert und richtet sich außerdem auf eine aktive, mit Verarbeitung und innerer Erwiderung verbundene Wahrnehmung sowie auf eine organisierte gedruckte Reaktion in einer der in dieser Sphäre der sprachlichen Kommunikation herausgearbeiteten Form (Rezensionen, kritische Referate, der bestimmende Einfluß auf die nachfolgenden Arbeiten usf.)“ (1930/1975: 158). Solche Reaktionen sind zwar möglich, der Text baut aber nicht darauf auf. 13 Man denke nur daran, dass häufig sehr private Fotos ohne das Einverständnis der Absender in Umlauf gebracht werden. Bekannt geworden sind Fälle, wo Jugendliche, denen dies widerfahren ist, Suizid verüben (vgl. zu diesem Thema Döring 2012).

39 im Gesprochenen nicht gibt? Zunächst sei zur Klärung dieser Fragen ein Beispiel für einen schriftlichen Dialog präsentiert und dieser mit einem Gespräch verglichen. Bei dem folgenden Screenshot handelt es sich um einen Ausschnitt aus einer Chat-Kommunikation in WhatsApp.

Abb. 1: Auszug aus einem WhatsApp-Chat

Das Beispiel stammt aus einer privaten Sammlung; es sei aber darauf hingewiesen, dass in der Schweiz ein großes Korpus an WhatsApp-Nachrichten mit ca. 750.000 Nachrichten vorliegt, das derzeit bearbeitet wird und nach Abschluss des Projekts für Forschungszwecke zur Verfügung steht (siehe unter www.whatsup-switzerland.ch). Viele dieser Nachrichten stehen in einem privaten Kontext; es sind Nachrichten, die in einem Familienchat ausgetauscht wurden, unter Freunden, Vereinskollegen oder Mitstudierenden. Oft werden hier Alltagsthemen verhandelt, Verabredungen getroffen, kleine Beziehungsbotschaften ausgetauscht (z. B. als Gute-Nacht-WhatsApp an die Freundin). Auf den ersten Blick möchte man meinen, dass in ähnlicher Weise auch Alltagsgespräche geführt werden könnten, doch es gibt wesentliche Unterschiede: Zum einen sind die Beiträge in solch alltagsschriftlichen Dialogen meist relativ kurz; im Schweizer WhatsApp-Korpus liegt die durchschnittliche Länge der Nachrichten bei nur 30 Zeichen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass viele Schreiber ihre Nachrichten in kurzen Abständen abschicken, also in ein-

40 zelne „Häppchen“ portionieren (vgl. Imo 2015). Ein Grund dafür ist, dass auf diese Weise die Aufmerksamkeit des anderen aufrechterhalten wird; es tut sich ja immer etwas auf seinem Bildschirm. In einem Gespräch ist das nicht nötig; hier wäre es nachgerade seltsam, wenn man jeweils nur sehr kurze Beiträge formulieren würde, dann eine Pause folgen würde und man dann weitersprechen würde. Ein weiterer Unterschied zu einem Face-to-Face-Gespräch wurde weiter oben schon genannt: Die Kommunikationspartner nehmen nicht wahr, wie die Nachricht entsteht. Eine Systemmeldung zeigt in der WhatsApp-Kommunikation zwar an, ob der andere gerade etwas schreibt; das weiß man aber nur, wenn man die Applikation geöffnet hat und sich in dem Chat befindet. Zudem sieht man nicht, was der andere schreibt; anders als in einem Gespräch hat man also nicht die Möglichkeit, ihn zu unterbrechen, wenn man die Frage beispielsweise schon erahnt und darauf schnell antworten möchte. Beteiligen sich mehrere Personen an dem Dialog und tippen diese möglicherweise nahezu zeitgleich einen Text ein, dann werden die Beiträge in der Reihenfolge dargestellt, wie sie abgeschickt wurden. Diese Anzeige nach dem ‚Mühlenprinzip‘ kann dazu führen, dass Mitteilungen, die sich unmittelbar aufeinander beziehen, nicht direkt aufeinander folgen – auch dies ein Unterschied zum Gespräch, wo es ungewöhnlich wäre, wenn alle Personen zeitgleich sprechen und die Gesprächsbeiträge nicht in einer sequentiellen Struktur stehen würden. Es bestehen also strukturelle Unterschiede zwischen mündlichen und schriftlichen Dialogen; es gibt aber auch Gemeinsamkeiten, die daraus resultieren, dass der Kommunikationskanal von beiden (bzw. von allen) Seiten geöffnet ist und die Beiträge in kurzen Abständen aufeinander folgen. Ein solches Merkmal ist, dass die Äußerungen oft nicht satzförmig sind. Das sehen wir an obigem Beispiel, in dem eine Antwort gegeben wird, die weder ein Subjekt noch ein Prädikat enthält („Dann gerne so gegen 18 Uhr“). In der gesprochenen Sprache – oder genauer formuliert – in einem mündlichen Dialog ist eine solche Antwort vollkommen unauffällig; es wäre geradezu befremdlich, wenn man antworten würde: Ich komme dann gerne so gegen 18 Uhr. Die Frage-Antwort-Sequenz folgt hier dem klassischen Muster der Thema-Rhema-Struktur: In der Antwort wird nur das Rhema, die neue Information, mitgeteilt, das Thema ist redundant und wird deshalb nicht noch einmal wiederholt. Dasselbe Muster zeigt sich in der Zwischenantwort „Wann es dir geht“, auch hier entspricht die Äußerung einer Formulierung, wie sie in einem Gespräch typisch ist. Der vollständige (und damit unnatürlich wirkende) Satz würde lauten: Ich komme, wann es dir geht. An der Formulierung „Wann es dir geht“ (anstelle von Wann es dir passt) erkennt man ein weiteres Merkmal, das mündliche und schriftliche Alltags­

41 dialoge gemeinsam haben: Die Ausdrucksweisen haben tendenziell informellen Charakter; es finden sich oft umgangssprachliche Elemente, möglicherweise ist der Text auch durchgängig in Dialekt verfasst. Das ist in obigem Beispiel nicht der Fall, hier gibt es nur eine kurze dialektale Sequenz („Liabs grüassle“).14 Schaut man sich die Daten aus dem Schweizer WhatsApp-Projekt aber daraufhin an, dann stellt man fest, dass die meisten deutschsprachigen Nachrichten in Schweizerdeutsch geschrieben sind (vgl. Ueberwasser/Stark 2017). Das verwundert nicht: Man spricht in der Deutschschweiz in fast allen Situationen des täglichen Lebens Dialekt – und man schreibt folglich auch Dialekt, wenn man sich schriftlich in einem Gespräch wähnt. Kommen wir nun zu den graphischen Ausdrucksmitteln, die in schriftlichen Dialogen eingesetzt werden (z. B. Fettdruck), die sich möglicherweise aber auch völlig unbeabsichtigt einstellen. Die durchgängige Kleinschreibung im ersten Beitrag des obigen Chat-Ausschnitts (vom Satzanfang abgesehen) ist sicher eine Schreibweise, die bewusst so gewählt wurde. Es ist müßig, hier nach den Funktionen einer solchen Schreibung zu fragen; am Text selbst kann man die dahinterstehende Absicht nicht erkennen. Was dagegen die Wiederholung des Ausrufezeichens betrifft, so ist anzunehmen, dass dies zur Bekräftigung dienen soll. Auch die Iteration von Frage- und Ausrufezeichen sowie von Buchstaben (vgl. sooo schön) und die durchgängige Großschreibung (Das ist mir zu TEUER) sind häufig eingesetzte Mittel, um dem Geschriebenen mehr Nachdruck zu verleihen. Der Satzschlusspunkt fällt nicht in diese Kategorie. Er ist kommunikativ neutral, er zeigt das Ende einer syntaktischen Sequenz an; seine Wiederholung wäre funktionslos. Die reduplizierten Punkte, die im Beispiel auftreten, haben eine andere Funktion: Es sind Auslassungspunkte, die hier, der Standardorthographie entsprechend, in einer Dreier-Kombination verwendet werden. Zu erwähnen ist auch das Kürzel LG, das als Akronym für Liebe Grüße steht und in dieser Verwendung bereits konventionalisiert ist. Das gilt auch für andere Kurzschreibungen wie CU, LOL, OMG, diesen haftet im Unterschied zu LG aber noch stärker das Merkmal Jugendsprache an. In der früheren Forschung zur SMS-Kommunikation wurde immer wieder betont, dass viele solche Einsparungen dem Umstand geschuldet seien, dass man Zeichen und damit Geld sparen wolle (vgl. Döring 2001). Diese 14 An dieser Stelle sei angemerkt, dass das obige Beispiel auch an anderer Stelle, in dem Buch Schreiben digital verwendet wird (vgl. Dürscheid/Frick 2016: 90). Dort geht es um die Frage, wie häufig sich in WhatsApp-Dialogen noch Begrüßungen und Verabschiedungen finden. Darauf kann ich hier nicht eingehen; es sei nur so viel gesagt, dass die Verwendung von Grußformeln in einem solchen Nachrichtenaustausch eher die Ausnahme darstellt.

42 Aussage trifft (von der Kommunikation über Twitter abgesehen, wo es derzeit eine Beschränkung auf 280 Zeichen gibt) auf die heutige Internetkommunikation nicht zu. Lediglich was das Einsparen von Zeit betrifft, mag das noch ein Grund für Kurzschreibungen sein, doch auch hier stellt sich die Frage, inwieweit dieser Faktor noch eine Rolle spielt, denn die automatische Wortvervollständigung nimmt dem Schreiber die vollständige Eingabe des Wortes ohnehin in vielen Fällen ab. Will man z. B. den Satz Ich komme am Wochenende schreiben, so erscheint am Smartphone in der Software-Version iOS 10.3.3 (Mac) nach der Eingabe der Buchstaben W-o das Wort Wochenende als Vorschlag. Gelegentlich (ver-)führt die Wortvervollständigung auch dazu, dass man ein Wort verwendet, das man eigentlich gar nicht schreiben wollte, von dem man aber weiß, dass das System dieses Wort kennt und man das andere eintippen müsste. Das ist z. B. der Fall, wenn man seinen Schweizer Freunden im Text-Chat schreibt, dass man sich am Abend gerne zu einer Grillparty treffen würde. Hier verwendet man möglicherweise das Verb grillen und nicht grillieren, weil das System diesen Helvetismus nicht kennt und nur der Wortvorschlag grillen erscheint. Ein weiteres Ausdrucksmittel, das im obigen Beispiel auftritt, ist insofern untypisch, als es in diesem kurzen Dialog nur einmal vorkommt: In der dritten Nachricht steht ein Emoji. Hier handelt es sich um ein Gesichtszeichen („Wann es dir geht “). Eine kürzlich durchgeführte Umfrage des Digitalverbands Bitcom ergab, dass die Befragten im Schnitt zwei Emojis pro Nachricht verwenden würden.15 Diese Zahl basiert auf der Online-Befragung von 1.212 Internetnutzern, darunter waren 1.074 Nutzer von Kurznachrichten-Diensten wie z. B. WhatsApp. Befragt wurden nicht nur Jugendliche, sondern Personen ab 14 Jahren bis zur „Generation 65 Plus“ (siehe Pressemitteilung vom 22.05.2018). Das Schreiben mit Emojis scheint also, das lassen die Antworten aus dieser Umfrage vermuten, nicht (mehr) nur unter Jüngeren eine wichtige Rolle zu spielen. Zu bedenken ist allerdings, dass die Angaben auf einer Selbsteinschätzung beruhen, es handelt sich nur um eine indirekte Erhebungsmethode. Bestätigt werden sie aber durch weitere empirische Untersuchungen, wie z. B. durch die Datenauswertungen im Schweizer WhatsApp-Projekt. Diese ergaben, dass 91% aller Chats Emojis enthalten (vgl. Dürscheid/Siever 2017: 276). Ein weiterer Befund aus dieser Erhebung ist, dass es sich bei den meisten Emojis um Gesichtszeichen handelt (65%) bzw. genauer gesagt: dass 15 Genaue Angaben finden sich unter www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Kaumeine-Textnachricht-kommt-noch-ohne-Emoji-aus.html . Der Digitalverband Bitkom wurde 1999 in Berlin gegründet, heute umfasst er mehr als 2.500 Unternehmen, die im Bereich der Digitalisierung tätig sind.

43 65% aller Emoji-Zeichen in ihrer Unicode-Bezeichnung die Sequenz face tragen.16 Das sind in den meisten Fällen abstrakt-schematisierte Darstellungen von Gesichtern, die Emotionen zum Ausdruck bringen sollen (Freude, Trauer, Wut). Auch Katzengesichter sind unter den WhatsApp-Schreibern sehr beliebt, in den Schweizer Daten gehören sie zu den Top-Ten der Emojis (vgl. Dürscheid/Siever 2017: 276). Was das Gesichtszeichen im obigen Beispiel betrifft, so steht dieses am Ende des Beitrags, der Schlusspunkt fehlt. Dass am Ende einer Nachricht der Punkt wegfällt, kommt relativ häufig vor (vgl. Zgraggen 2017). Wie ist vor diesem Hintergrund eine Nachricht zu interpretieren, in der am Ende doch ein Punkt gesetzt wird? Kann man dahinter eine bestimmte kommunikative Funktion vermuten? In den Medien wird dies bereits getan,17 und auch in der Linguistik gibt es eine Arbeit, die in diese Richtung geht (vgl. Gunraj et al. 2016). Für einen Überblick über die kommunikativen Funktionen, die Emojis im Text einnehmen können, sei auf Pappert (2017) verwiesen, sie sollen hier nicht behandelt werden. Halten wir an dieser Stelle lediglich fest, dass Emojis an die Stelle eines Satzschlusspunktes treten können, sie können aber auch als Buchstaben- oder Wortersatz auftreten (vgl. Die S nne scheint, Ich trinke gerne ). Sie kommen in der schriftlichen Alltagskommunikation häufig vor (z. B. als Gesichtszeichen, als Verkehrszeichen oder als Zeichen für Lebensmittel, Sportgeräte etc.) und werden in Zukunft vermutlich noch häufiger verwendet, da auf der virtuellen Tastatur immer mehr Emojis ‚im Angebot‘ sind. Im Resultat führt das dazu, dass das Schriftbild an manchen Stellen bereits Bildcharakter annimmt und diese Bebilderung von Nachrichten möglicherweise noch zunehmen wird. Denn jährlich entscheidet das Unicode-Konsortium, das die Anträge zur Aufnahme neuer Emojis prüft, darüber, welche Emojis im Unicode-Zeichensatz hinzukommen, und macht dies über eine Pressemitteilung, die jeweils ein großes Medienecho findet, bekannt.18 16 Hier muss man wissen, dass alle an der Tastatur verfügbaren Emojis im internationalen Unicode-Zeichensatz gelistet sind (siehe unter www.unicode.org). Im Unicode hat jedes Zeichen eine bestimmte Codierung (z. B. U+1F600) und einen bestimmten Namen (z. B. emojiQfaceWithTearsOfJoy). 17 Vgl. z. B. einen Artikel in dem Nachrichten-Portal Watson, der den provokanten Titel trägt: „Du sollst deine Nachrichten nicht mit einem Punkt beenden“ (https://www. watson.ch/digital/best%20of%20watson/536534716-darum-sollst-du-whatsappnachrichten-nicht-mit-einem-punkt-beenden- ). 18 Dazu ist im Unicode-Blog, in dem jeweils aktuelle Informationen publiziert werden, Folgendes zu lesen: „104 proposed Emoji Candidates (60 characters plus variants) have advanced to Draft Candidate status for 2019“ (blog.unicode.org/2018/05/emoji-draft-candidates-for-2019.html ).

44 Nun wäre es aber falsch anzunehmen, dass nur solche Nachrichten, die an Freunde in einer privaten Kommunikation verschickt werden, Emojis enthalten. Diese machen zwar den größten Anteil aus, doch man findet ­Emojis auch in Newslettern, in Online-Werbeanzeigen oder in den Accounts, die Firmen in sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook unterhalten. Auch alle großen Zeitungen und Nachrichtenmagazine sind mittlerweile auf solchen Plattformen vertreten, und hier gestalten sich die Texte vollkommen anders als in den Printausgaben (s.u.). Die Vorteile solcher Internetauftritte liegen auf der Hand; es können damit mehr Leser gewonnen werden. So heißt es z. B. auf der Facebook-Site des Nachrichtenmagazins Spiegel: „Soziale Netzwerke sind für SPIEGEL ONLINE wichtige Reichweiten- und Dialog-Kanäle: Mit mehr als 25 Millionen Nutzerkontakten in der Woche tragen vor allem Facebook und Twitter zum Erfolg bei.“ Das dialogische Moment wird in diesem Statement besonders hervorgehoben (soziale Netzwerke als „Dialog-Kanäle“). Der Dialog beschränkt sich oft aber nur darauf, dass eine Mitteilung mit dem Daumen-hoch-Zeichen als „Gefällt mir“ markiert wird oder dass die Nachricht ‚geteilt‘ wird. Der Gefällt-mir-Button bietet mittlerweile aber immerhin die Möglichkeit, eine etwas differenziertere Rückmeldung zu geben – und dies wiederum über Emojis. Insgesamt stehen für ein schnelles Feedback nun sechs Emojis zur Verfügung (so u.a. ein Herz-Emoji oder ein Gesichtszeichen, das negative Emotionen zum Ausdruck bringen soll). Und auch in den Texten selbst treten Emojis auf, wie das folgende Beispiel zeigt:

Abb. 2: Beitrag des Nachrichtenmagazins Spiegel auf Facebook vom 28.05.2018

45 Das Sonnen-Emoji steht hier nach dem Satzschlusspunkt; der Satz selbst ist – dies sei eigens hervorgehoben – standardkonform. Das mag damit zusammenhängen, dass die Beiträge von einem Nachrichtenmagazin stammen, das Wert auf die professionelle Gestaltung seines Internetauftritts legt. Privatpersonen dagegen schreiben oft spontan, ungeplant, schnell. Dabei schleichen sich orthographische Fehler ein; die Facebook-Statusmeldungen sind oft aber auch stilistisch in einem informellen Duktus verfasst – und werden umso informeller, je dialogischer die Anschlusskommunikation wird. Einige der piktoralen Elemente in diesem Beispiel (das Flaggen-Emoji, das Sonnen-Emoji und das Foto) sollen Assoziationen zu Italien wecken. Sie haben unterschiedlichen Status: Das Foto tritt zusätzlich zum Text auf, die Bildzeichen sind in den Text integriert. Häufig kommt es auch vor, dass ein Facebook-Post nur aus einem Bild besteht. Das kann ein Foto sein (z. B. von dem Essen, das man gerade vor sich auf dem Teller hat) oder ein Emoji (z. B. das Daumenhoch-Emoji, das man als Kommentar auf eine Nachricht postet). Was der Medienphilosoph Vilém Flusser vor mehr als 30 Jahren als „Technobild“ bezeichnet hat, bekommt dadurch eine neue Dimension. Nicht nur Fotos, Videos, Diagramme und andere Visualisierungen sind Technobilder, auch Emojis fallen in diese Kategorie: Sie sind technisch hergestellt (im Unterschied zu handschriftlichen Skizzen beispielsweise), sie lassen den Text in den Hintergrund treten oder sie ersetzen ihn gänzlich.19

4. Dialog als Ausdruck wechselseitigen Respekts In den vorangehenden Abschnitten wurde dargelegt, dass die Kommunikation im Internet als Dialog bezeichnet werden kann, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen (z. B. wechselseitige Bezugnahme auf die Äußerungen des anderen; im prototypischen Fall quasi-synchrone Kommunikation). Weiter wurde gezeigt, dass schriftliche Dialoge einerseits Merkmale aufweisen, die auch in der gesprochenen Sprache auftreten, andererseits aber neue Merkmale hinzutreten, die in der Mündlichkeit nicht vorkommen. Dazu gehört nicht 19 Florian Krückel schreibt in seiner Dissertation zu Flussers Bildtheorie: „Die moderne Kombination zwischen Texten, die Bilder beschreiben, verkehrt sich: Bilder und Fotografien werden in einer nachmodernen Welt gelesen, Texte durch diese verstanden“ (2015: 100). Krückel bezieht sich nur auf solche Beispiele, die Flusser selbst im Blick hatte (z. B. Fotos in Zeitungen), das Gesagte kann man aber auch auf Emojis beziehen: Emojis werden gelesen, Texte durch diese verstanden. Für den Hinweis auf die Arbeit von Florian Krückel danke ich Aleida Assmann.

46 zuletzt die Tendenz, Emojis zu verwenden. Eine solche Hinwendung zum Piktoralen kann es in der gesprochenen Sprache nicht geben, weshalb allein deshalb die in den Medien häufig gestellte Frage, ob Emojis die Basis für eine neue Universalsprache darstellen könnten, müßig ist. In diesem Abschnitt soll es nun um die Frage gehen, unter welchen Bedingungen man von einem „echten“ Dialog im Internet sprechen kann. In der Dialogphilosophie wird, wie einleitend erläutert, die Auffassung vertreten, dass sich ein „echtes Gespräch“ in der Begegnung zwischen zwei Menschen zeigt, die von Wertschätzung und gegenseitigem Respekt und vom Bezogen-Sein auf den anderen geprägt ist. Das lässt sich auch auf das Geschriebene übertragen: Ein echter Dialog im Sinne Bubers liegt vor, wenn der Dialog von wechselseitigem Respekt zeugt. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass immer dann, wenn gegen diese Maxime verstoßen wird, kein echtes Gespräch, kein echter Dialog geführt wird. Nun wäre es aber falsch anzunehmen, dass dies so häufig der Fall ist, wie die vielen Berichte über Hasskommentare, Hetze und Mobbing im Internet vermuten lassen. Hier möchte ich auf Christian Bendl und Jürgen Spitzmüller verweisen, die in ihrem Aufsatz zum Thema Rassismus in sozialen Netzwerken festhalten, dass man „nicht das Auffallende mit dem Typischen verwechseln“ sollte (Bendl/Spitzmüller 2017: 17). Wenn in diesem Abschnitt dennoch von dem Auffallenden die Rede ist, dann deshalb, weil sich daran zeigen lässt, dass Dialoge, die dem Dialogischen Prinzip nicht entsprechen, zwar Dialoge sind (linguistisch betrachtet); in zwischenmenschlicher Hinsicht sind sie es aber nicht. Betrachten wir dazu ein Beispiel: In der ZEIT vom 24.05.2018 ist ein Interview mit Claudia Roth abgedruckt, der Grünen-Politikerin und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Darin wird sie u.a. dazu befragt, wie sie mit den Anfeindungen umgehe, die ihr in dieser Position entgegengebracht werden.20 Einige Auszüge aus ehrverletzenden und beleidigenden Facebook-Nachrichten und E-Mails, die an Claudia Roth geschickt wurden, sind in dem Artikel abgedruckt, drei werden hier im Zitat wiedergegeben: „Dumme fette Kuh“, „Claudia, ich würde dich vergewaltigen, aber du bist zu alt dafür“ und „An der würd sich nicht mal ein notgeiler Flüchtling vergreifen“ (ZEIT, 24.05.2018, S. 8 (Ressort Politik)). Liest man solche Zitate, dann drängt sich schnell die Vermutung auf, dass das, was in den Medien unter dem Stichwort „Verrohung“ angeprangert wird, im Internet besorgniserregende Ausmaße an20 Claudia Roth wurde bei der Gedenkfeier für die Opfer einer türkischstämmigen Familie, deren Haus 1993 von vier rechtsradikalen jungen Männern angezündet wurde, verbal angegriffen. Im Interview berichtet sie von Morddrohungen, die sie erhalte.

47 nimmt – doch man sollte auch hier daran erinnern, dass man das Auffallende nicht mit dem Typischen gleichsetzen darf. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass von verschiedenen Seiten versucht wird, solchen Hassreden Einhalten zu gebieten. Hier ist zum einen die Tatsache zu nennen, dass soziale Netzwerke dazu gezwungen werden, ehrverletzende Aussagen innerhalb von 24 Stunden zu entfernen. Dieses Netzwerkdurchsetzungsgesetz (das verkürzt auch „Facebook-Gesetz“ genannt wird) trat in Deutschland am 1. Oktober 2017 in Kraft; es verpflichtet Netzbetreiber wie Facebook, Twitter und YouTube dazu, Meldungen über möglicherweise rechtswidrige Inhalte umgehend zu prüfen und die Inhalte ggf. zu löschen. Wer eine Beschwerde einreichen möchte, kann dies nun umstandslos auf der Website der jeweiligen Plattform tun. Was Facebook betrifft, so gibt es z. B. die Möglichkeit, eine entsprechende Meldung direkt von der Seite aus abzuschicken, auf der man den Eintrag gelesen hat. Dazu muss man lediglich auf das entsprechende Symbol klicken (das allerdings schwer zu finden ist), dann öffnet sich ein Menu, das mehrere Optionen vorsieht (z. B. Beitrag speichern, Beitrag verbergen). Eine dieser Optionen lautet: „Gib Feedback zu diesem Beitrag“. Klickt man darauf, dann erscheint die folgende Seite:

Abb. 3: Facebook-Meldefenster: „Gib Feedback zu diesem Beitrag“

Die hier genannten Optionen (Nacktheit, Gewalt, Belästigung u.a.) geben nur einen kleinen Einblick in die vielen negativen Seiten des Internets, die zu Recht mit großer Besorgnis betrachtet werden müssen. Insofern ist es wichtig, dass auf diesem Weg versucht wird, gegen solche Missbräuche vorzugehen. Andererseits gibt es auch berechtigte Kritik an diesem neuen Gesetz. Diese bezieht sich v.a. darauf, dass dadurch die Meinungsfreiheit eingeschränkt werde und die Gefahr einer Internetzensur bestehe. Schwierig sei im Einzelfall auch

48 die Unterscheidung zwischen diffamierenden Aussagen und erlaubter Satire. Angemerkt sei weiter, dass Messenger-Dienste wie WhatsApp nicht unter diese Regelung fallen. Wenn Personen über solche Kanäle diffamiert werden, lässt sich auf diesem Weg also nichts dagegen unternehmen. An dieser Stelle seien noch zwei weitere Maßnahmen genannt, mit denen versucht wird, den Hassreden im Netz zu begegnen. Hier ist z. B. die Website Reconquista Internet zu nennen, die im April 2018 gegründet wurde und derzeit ca. 60.000 Mitglieder hat. Die Site wird von einem dreißigköpfigen Team betrieben, das sich zum Ziel gesetzt hat, gegen ehrverletzende Kommentare vorzugehen und Aktionen zu planen, die darauf aufmerksam machen sollen, dass es auch eine andere, eine menschenfreundliche Seite des Internets gibt.21 Auf der Website ist dazu Folgendes zu lesen: „Wir verstehen uns als aktive, unabhängige und digitale Bürgerrechtsbewegung mit der Verpflichtung, die Menschenwürde eines jeden zu achten und zu schützen“ (https://reconquista-internet.de ). Und schließlich sei die Facebook-Gruppe #ichbinhier genannt, die Menschen für das Thema Hass im Netz sensibilisieren und sie darin bestärken möchte, etwas dagegen zu unternehmen (siehe unter https://www.das-nettz.de/ichbinhier-ev-verein ). Diese Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, in den vielen Kommentarspalten des Internets mitzudiskutieren und damit zu bekunden: ‚Ich bin auch hier. Ich überlasse den Hetzern nicht das Feld‘. Die Gruppe wurde 2016 von Hannes Ley gegründet, im Mai 2018 erhielt er für seine Aktivitäten das Bundesverdienstkreuz. Die Laudatio hierzu wird im Folgenden wiedergegeben, weil sie anschaulich macht, dass im Netz auch vieles unternommen wird, um für Toleranz, Mitmenschlichkeit und Freundlichkeit im Umgang miteinander einzustehen. Solche Aktivitäten setzen damit das um, was Martin Buber in seinen Schriften zu den Elementen des Zwischenmenschlichen beschrieben hat: den anderen in seinem Anderssein zu bejahen. Als mit der Flüchtlingsaufnahme im Sommer 2015 rassistische und menschenverachtende Kommentare und Postings im Internet ständig zunahmen, beschloss Hannes Ley, selbst aktiv zu werden und dagegen vorzuge21 Eine solche Aktion lief z. B. unter dem Motto: „Durchhalten, freundliches Dresden! Ihr seid nicht alleine!“. Dabei handelte es sich um eine Lichtprojektion auf der Dresdner Frauenkirche in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai 2018; zeitgleich wurde in den Medien mit vielen Positivmeldungen über Dresden berichtet. Damit sollte u.a. „auf das Problem einer über das Internet spielend leicht manipulierbaren Medienwirklichkeit“ aufmerksam gemacht werden (siehe unter dem Link „Aktionen“ auf https:// reconquista-internet.de/ ).

49 hen. Er gründete die Internetgruppe #ichbinhier. Nahezu 40.000 Aktive hat er in kurzer Zeit gewonnen. Gemeinsam identifizieren sie Schmähungen, Beleidigungen und Hassäußerungen im Netz, schreiben „Gegenkommentare“ und leiten diese weiter. Die Initiative hat sich zu einem wichtigen Instrument gegen sprachliche Verrohung und für eine demokratische Streitkultur im Netz entwickelt. Das Internet darf kein Tummelplatz für Extremisten werden, die mit verbaler Aggression besonnene Akteure vertreiben. Das Engagement des Unternehmers Hannes Ley ist daher ein herausragender Beitrag für den Schutz der Meinungsfreiheit im digitalen Zeitalter. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-­WalterSteinmeier/2018/05/180522-Verdienstorden-GG.html

Bislang war nur von sozialen Netzwerken wie Facebook die Rede, kommen wir nun noch einmal zurück zur Kommunikation über Nachrichtendienste wie WhatsApp. Auch hier gibt es beides: Dialoge, die von großer Empathie und Wertschätzung getragen sind, und Dialoge, die andere beleidigen oder bloßstellen und im Sinne Bubers keine echten Dialoge sind. Doch muss auch hier davor gewarnt werden, dieses Extrem als den Normalfall anzusehen; ein Großteil dieser Kommunikation ist völlig unauffällig. Befasst man sich aber mit den negativen Seiten der WhatsApp-Kommunikation etwas genauer, dann wird man schnell auf Medienberichte stoßen, in denen beispielsweise Fälle von Cybermobbing geschildert werden. In der Linguistik gibt es dazu eine umfassende Untersuchung (Marx 2017). In dieser werden die charakteristischen Merkmale des Cybermobbings beschrieben und als eine Form digitaler Gewalt bezeichnet. Hier seien nur drei Beispiele genannt. Die Nachrichten stammen aus einem Korpus, das insgesamt über 60.000 Texte umfasst. Sie beziehen sich auf eine Mitschülerin, über die Folgendes geschrieben wird.

Abb. 4: Cybermobbing (aus Marx 2017: 210)

50 In Anbetracht solcher Äußerungen rückt die Frage, wie diese Texte aus sprachlich-normativer Sicht zu beurteilen sind (z. B. im Hinblick auf Grammatik und Orthographie), vollkommen in den Hintergrund. Das führt mich zum nächsten Punkt: Die Linguistik darf sich nicht nur mit den strukturellen Merkmalen von Dialogen befassen, sie muss auch die Inhalte in den Blick nehmen und die Strategien aufdecken, die hinter solch ehrverletzenden Aussagen stehen. Eine Teildisziplin, die zu Fragen der Angemessenheit sprachlicher Äußerungen Stellung bezieht, ist die Sprachkritik. Sie nimmt Bewertungen des Sprachgebrauchs vor, die nach „bestimmten, methodisch begründbaren und begründeten Maßstäben“ erfolgen sollen (Schiewe 2018: 49) und auf dem Kriterium der funktionalen Angemessenheit basieren. Dabei seien, so schreibt Jürgen Schiewe, verschiedene Dimensionen der Angemessenheit zu unterscheiden (z. B. die Angemessenheit von Formulierungen hinsichtlich systembezogener, situativer oder ästhetischer Normen). Eine solche Differenzierung ist sicher wichtig, was in dieser Auflistung aber m.E. fehlt, ist die Frage, ob eine Äußerung auch hinsichtlich der sozialen Normen angemessen ist. Es darf in der kritischen Würdigung des Sprachgebrauchs nicht nur darum gehen, „ob mit einer bestimmten sprachlichen Formulierung im Rahmen der bestehenden Normen oder kommunikativen Praktiken das kommunikative Handlungsziel erreicht wird“ (Schiewe 2018: 56). Wichtig ist auch (oder wichtiger noch ist), ob damit die Integrität anderer Personen bewahrt wird – und zwar sowohl der Personen, mit denen man spricht, als auch der Personen, über die man spricht. Pointiert gesagt: Äußerungen können in fehlerfreiem Deutsch und auf sehr eloquente Weise verfasst werden, in sozialer Hinsicht aber vollkommen unangemessen sein (und umgekehrt). Die linguistische Sprachkritik muss dem Rechnung tragen und in ihrer praktischen Arbeit mehr noch als bisher Bewertungen vornehmen, die über eine Wort- und Stilkritik (z. B. im Bereich der Political Correctness) hinausgehen. Konkret bedeutet das, dass der Sprachgebrauch auch dahingehend beurteilt werden muss, ob er den Erwartungen entspricht, die für den zwischenmenschlichen Umgang gelten und einen echten Dialog ausmachen.

5. Schlussbemerkung Abschließend sei an das diesem Beitrag vorangestellte Zitat von Vološinov angeknüpft: „Das Wort ist eine Brücke, die von mir zum anderen führt.“ Wie gezeigt wurde, reicht ein solcher Brückenschlag nicht aus; ein echter Dialog wird daraus noch nicht. Das gilt sowohl für die gesprochene als auch für die geschriebene Sprache, sowohl im Internet als auch in der Offline-Welt (wie

51 z. B. in einer Briefkorrespondenz). Die im Titel gestellte Frage, ob die Kommunikation im Internet ein Dialog ist, muss deshalb mit Blick auf die personale Kommunikation in zwei Schritten beantwortet werden: 1. Ja, die personale Kommunikation ist ein Dialog – und zwar unabhängig davon, ob dieser mündlich oder schriftlich, online oder offline erfolgt. Wichtig ist einzig, ob die Äußerungen in einer Sequenz bestehen und sich aufeinander beziehen. 2. Und doch kann es sein, dass die Äußerungen im Sinne Martin Bubers keine (echten) Dialoge darstellen. Das ist immer dann der Fall, wenn sich die Beteiligten nicht mit Respekt begegnen. Ob durch das Internet der Umgang miteinander weniger respektvoll als früher ist, sei hier dahingestellt. Es bleibt auf jeden Fall zu wünschen, dass die Zahl an echten Dialogen in Zukunft noch zunehmen wird.

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GÜNTER FIGAL

Die Möglichkeit der Dialogphilosophie

Theunissen, Buber und die Phänomenologie des Zwischen 1. Rehabilitierung des Dialogischen Die Dialogphilosophie, manchmal auch ‚Dialogismus‘ oder ‚Personalismus‘ genannt, spielt in der gegenwärtigen Philosophie eine recht geringe Rolle. Man könnte sogar sagen, dass sie vergessen oder, als zum vergangenen Jahrhundert gehörig, historisiert worden sei. Zwar mögen Motive des dialogischen Denkens in Philosophien eingegangen sein, die das Gespräch, den Dialog oder auch die Kommunikation als wesentlich für das menschliche Leben ansehen. Doch eine eigene, sachlich profilierte Wirkungsgeschichte hat die Dialogphilosophie nicht gefunden. Wie meist in solchen Fällen, ist das kein bloßes Unglück, sondern liegt in der Dialogphilosophie selbst. Das wird von einem Philosophen bekräftigt, der des Vorurteils ganz unverdächtig ist, weil er die Sache des ‚Dialogismus‘ wie kein anderer sonst zu seiner eigenen gemacht hat. Michael Theunissen, dessen zur Rehabilitierung der Dialogphilosophie geschriebenes Buch Der Andere mit seinem Untertitel „Studien zur Sozialontologie der Gegenwart“ verspricht, hält mit kühler Sachlichkeit fest, dass die Vertreter der Dialogphilosophie nicht in die erste Reihe der modernen Philosophie gehören. Wie ihr wirkungsvollster, vielleicht auch wichtigster Vertreter, Martin Buber, blieben „alle Dialogisten hinter Sartre, aber auch hinter Husserl und Heidegger zurück“.1 Das ist im Hinblick auf die Genannten umso gravierender, als Theunissen das dialogische Denken für eine gegenüber Sartre, Husserl und Heidegger unabdingbare Alternative hält und mit dem Anspruch auftritt, die konzeptuellen Mängel seiner dialogphilosophischen Referenzautoren zu beheben, um ihrer Sache zu der Geltung zu verhelfen, die sie nach seiner Überzeugung verdient. Gerade Theunissens Rehabilitierungsversuch des dialogischen Denkens zeigt jedoch, warum diese Rehabilitation schwierig ist. Wenn die Philosophien 1 Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, zweite, um eine Vorrede vermehrte Auflage, Berlin / New York 1977, 258.

56 von Husserl, Heidegger und Sartre das Thema zwischenmenschlicher Beziehung mit der Dialogphilosophie teilen und zugleich methodisch soviel eindrucksvoller und überzeugender sind, wie Theunissen annimmt, dann bietet sich für eine konzeptuelle Verbesserung der Dialogphilosophie nicht zuletzt oder sogar zuerst die von Husserl, vom Heidegger der zwanziger Jahre und von Sartre gleichermaßen vertretene Phänomenologie an. Doch wenn die Sache des dialogischen Denkens, das Dialogische, die Begegnung von ‚Ich und Du‘, wie Theunissen festhält, sich dem „transzendentalphilosophischen Zugriff“ Husserls, Heideggers und Sartres „entzieht“,2 ist eine phänomenologische Rehabilitierung der Dialogphilosophie problematisch. Diese ist keine Philosophie der Subjektivität, und entsprechend fällt der transzendentalphilosophisch-phänomenologische Begriffsapparat für eine angemessene Beschreibung des Dialogischen aus, wenn er, wie bei Husserl und Sartre und auch beim Autor von Sein und Zeit, auf die Perspektive der Subjektivität im weiten Sinne festgelegt ist. In der Phänomenologie Husserls, Heideggers und Sartres wird das Dialogische immer nur aus der Ich-Perspektive oder der Perspektive des ‚jemeinigen‘ Daseins gesehen, so dass die im Dialog unmittelbar begegnende Person, das ‚Du‘, immer nur als ‚der Andere‘ erscheinen kann. ‚Der Andere‘ – und auch ‚die Andere‘ – wird allein in Abgrenzung verstanden, als jemand, der oder die ‚ich‘ nicht bin, und entsprechend bleibt eine ‚Begegnung‘, in der ‚Ich‘ und ‚Du‘ von gleicher Bedeutung sind, unverständlich; sie bleibt, im Leben wie in der Philosophie, eine Leerstelle. Eine solche Leerstelle muss die Begegnung auch dann bleiben, wenn man wie Theunissen die Schwierigkeiten der transzendentalen, subjektivitätsorientierten Phänomenologie sieht und sich trotzdem „die Freilegung der transzendentalphilosophisch erfaßbaren Sozialsphäre“ zur philosophischen Aufgabe macht.3 Gerade weil diese Freilegung dialogphilosophisch motiviert ist, markiert Theunissens Buchtitel, Der Andere, eine echte Verlegenheit. Theunissen bestätigt das beschriebene Dilemma, indem er sich in seinen späteren Arbeiten von der transzendentalen Phänomenologie abwendet, und anders versucht, dem Dialogischen treu zu bleiben. Nach einem dialektischen Zwischenspiel mit dem Versuch, aus Hegels Logik des Begriffs die Grammatik einer „kommunikativen Freiheit“ herauszulesen,4 findet er zu einer Position, die das Dilemma seiner subjektivitätsphänomenologisch geleiteten Reformulierung der Dialogphilosophie sogar festschreibt, verbunden mit der Versiche2 Theunissen, Der Andere, 484. 3 Theunissen, Der Andere, 484. 4 Michael Theunissen, Schein und Sein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt am Main 1980.

57 rung, man könne es nicht überwinden, sondern müsse sich auf es einrichten. Diese Position, die Theunissen selbst „negativistisch“ nennt, besagt, das unverstellte oder unverzerrte und darin wahre menschliche Leben könne sich nur über die Beschreibung seiner Verstellungen und Verzerrungen erschließen.5 Das gelingende Leben und mit ihm die wahrhafte Begegnung zwischen Menschen bleibt auch so eine Leerstelle. Eine Leerstelle ist damit auch philosophisch geblieben. Mit Theunissens Verzicht auf eine konzeptuell und deskriptiv eingelöste Rehabilitierung des Dialogischen verschwindet das dialogphilosophische Thema der Begegnung von ‚Ich‘ und ‚Du‘ von der phänomenologischen Bühne, die nun allein von der Frage nach dem ‚Anderen‘ und seiner Alterität beherrscht wird. Das gilt für das eminent wirkungsvolle Verständnis des ‚Anderen‘ als der jede ethische Verbindlichkeit stiftenden Instanz ‚jenseits des Seins‘, wie Emmanuel Lévinas sie ausgearbeitet hat, und nicht minder für die Diskussion der Frage nach der Möglichkeit der ‚Empathie‘, wie sie in der neueren Phänomenologie geführt wird.6 Damit muss man sich nicht zufriedengeben; das Verschwinden des dialogphilosophischen Themas aus der Phänomenologie ist ein Verlust. Wenn man deshalb eine Wiederholung von Theunissens Rehabilitierungsversuch für sinnvoll hält, bestreitet man wohlgemerkt nicht die phänomenologische Bedeutung der Frage nach der Alterität. Man sagt nur, auch das dialogphilosophische Thema sei sinnvoll und habe eine Rehabilitierung verdient, weil die phänomenologische Alteritätsforschung es nicht abdeckt. Die Philosophie des Dialogs, so hat schon Theunissen festgehalten, „ist nicht die Wahrheit, aber sie hat ihren bestimmten Wahrheitsgehalt“.7

2. Das dialogische Prinzip Um diesen Wahrheitsgehalt zu erkunden und ihm eine angemessene begriffliche Fassung zu geben, sollte man zunächst die Hauptgedanken der Dialogphilosophie rekapitulieren. Das wiederum ist, wie Theunissen vormacht, besonders gut im Anschluss an Martin Bubers Schrift Ich und Du möglich. Diese ist ausgeprägt programmatisch und in ihrer Programmatik gut fassbar. Deshalb bietet 5 Vgl. dazu Michael Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode, Frankfurt am Main 1991. Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991. 6 Dan Zahavi, Self and Other. Exploring Subjectivity, Empathy, and Shame, Oxford 2014. 7 Theunissen, Der Andere, 484.

58 Bubers Schrift sich besonders für eine Revision an, und entsprechend liegt es auch im phänomenologischen Kontext nahe, Theunissens Präferenz zu folgen. Buber unterscheidet zwei „Haltungen“, die das menschliche Leben in der Welt bestimmen, und er kennzeichnet diese mit den Wortpaaren „Ich-Du“ und „Ich-Es“.8 Mit Letzterem ist das intentionale Verhältnis zu etwas in der Welt gemeint, das erkannt und bestimmt werden kann. Es ist die objektivierende und alles objektiv erfahrende Haltung, die wesentlich asymmetrisch ist, weil alles Erkennbare, Bestimmbare und Erfahrbare vom erkennenden, bestimmenden und erfahrenden ‚Ich‘ aus erscheint. Demgegenüber bezeichnet das Wortpaar ‚Ich-Du‘ eine wechselseitige und darin symmetrische Beziehung, in der allein schon, weil die Beziehung sich der Macht der aufeinander Bezogenen entzieht, nichts festgestellt und festgehalten werden kann. Sie lebt aus der offenen Wechselseitigkeit – daraus, dass zwei einander begegnen, statt einander bestimmend festzulegen – Mensch und Naturwesen, Mensch und Mensch oder Mensch und Gott, wobei wohl nur die Begegnung von zwei Menschen im strikten Sinne als wechselseitig verstanden werden kann. Die Begegnung ist weder planbar noch kann sie gesteuert und beherrscht werden, sie ist, wie Buber es ausdrückt, „Erwähltwerden und Erwählen, Passion und Aktion in einem“.9 Sie ist reine Gegenwart, die nur da ist, indem sie geschieht, und also durch keine früheren Erfahrungen, keine Interessen oder Vorurteile und genauso wenig durch Erwartungen und Absichten geprägt ist. In ihrer reinen Gegenwart ist die Begegnung, wie Buber denkt, unfassbar, denn keine Bestimmtheiten irgendwelcher Art gehen in sie ein. In diesem Sinne ist sie unbestimmt, und entsprechend können auch die einander Begegnenden als solche nicht bestimmt sein. Buber versucht, diese Unbestimmtheit einander begegnender Menschen – und nur von der strikt wechselseitigen Begegnung zwischen Menschen wird im folgenden die Rede sein – zu fassen, indem er zwischen „Person“ und „Eigenwesen“ unterscheidet.10 Sofern Menschen ein „Eigenwesen“ haben, sind sie bestimmt – sie haben natürliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Zugehörigkeiten, die von denen anderer bei aller Ähnlichkeit verschieden sind und von denen Andere sich explizit unterscheiden können – so wie man selbst sich im Hinblick auf solche Eigenschaften von den Anderen unterscheiden kann. Als „Personen“ hingegen sind Menschen rein so, wie sie in der Begegnung sind, einfach nur in der Gegenwart oder, wie Buber auch sagt, teilnehmend am Sein.11 8 Martin Buber, Ich und Du, in: Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1965, 5–136, 7. 9 Buber, Das dialogische Prinzip, 15. 10 Buber, Das dialogische Prinzip, 66–70. 11 Buber, das dialogische Prinzip, 66.

59 Es gehört also zum Wesen der Person, dass sie nicht als etwas Bestimmtes zu fassen ist. Anders als das „Eigenwesen“ ist sie nicht feststellbar. Person ist ein Mensch, sofern etwas, das kein Etwas ist, durch ihn hindurchtönt – personat. Entsprechend wird die Personalität immer wieder durch die Bestimmtheit verstellt. Sobald man sich auf eine Begegnung besinnt, wird das ‚Du‘, dem man begegnet war, zum ‚Es‘,12 das man als ‚diesen so und so bestimmten Menschen‘ festhalten kann. Doch andererseits hält Buber so etwas wie eine Mischung von Person und „Eigenwesen“ für möglich. Kein Mensch, so liest man, sei „reine Person, keiner reines Eigenwesen“, sondern jeder Mensch lebe im „zwiefältigen Ich“ und sei dabei mehr „personbestimmt“ oder mehr „eigenwesenbestimmt“.13 Wenn es so ist, muss aber die Personalität und mit ihr das Sein in Begegnung andauern und möglicherweise habituell werden können. „Personbestimmt“ ist man nicht nur in der reinen Gegenwart einer Begegnung, die sich unwillkürlich einstellt und die ebenso unwillkürlich wieder vergeht, sondern als Mensch, der man ist. Zwar kann das personale Sein verstellt werden. Es kann, unbestimmt wie es ist, hinter der Masse des Bestimmten verschwinden, aber es kann nicht vergehen. Also kann es, mit einem Ausdruck Theunissens gesagt, kein „reines Geschehen“ sein.14 Die skizzierte Unstimmigkeit in Bubers Überlegungen ist phänomenologisch von entscheidender Bedeutung. Sie zeigt an, dass das personale Leben in seiner Unbestimmtheit keine deskriptive Leerstelle sein muss. Während das reine Geschehen einer Begegnung als solches wirklich unfassbar ist, da es nur da ist, indem man es unmittelbar erlebt, muss die das bestimmte Leben, das „Eigenwesen“ gleichsam grundierende Unbestimmtheit beschreibbar sein. Sie gehört zum menschlichen Wesen, und wie sollte etwas so Entscheidendes wie die Personalität sich der Beschreibung entziehen? In ihrer Unbestimmtheit erfasst man sie allerdings nicht, indem man von aller Bestimmtheit absieht und sie unmittelbar, wieder wie etwas Bestimmtes zu fassen versucht, sondern derart, dass man sie mitsieht und das Bestimmte in ihrem Zusammenhang sieht. So nimmt man das Bestimmte weniger wichtig, ohne es zu negieren, und wiederholt damit phänomenologisch, was Buber zufolge auch für das personale Leben gilt. In diesem verschwindet die Bestimmtheit des Lebens nicht, sondern sie ist „nur nicht der Blickpunkt, nur eben da, nur eben die notwendige und sinnvolle Fassung des Seins“.15 12 Buber, Das dialogische Prinzip, 21. 13 Buber, Das dialogische Prinzip, 67–68. 14 Theunissen, Der Andere, 268. 15 Buber, Das dialogische Prinzip, 66–67.

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3. Begegnung im Zwischen Was also ist, so gesehen, die Person, und wie kann eine Person anderen Personen begegnen? Was ist Begegnung, und wie ist sie möglich? Die Fragen lassen sich im Anschluss an eine Charakterisierung der „Ich-Du-Relation“ beantworten, die Buber rückblickend im Nachwort zu seinen Schriften über das dialogische Prinzip gibt. Die Relation sei „nicht mehr in der Sphäre der Subjektivität, sondern in der zwischen den Wesen gegründet“.16 Demnach ist die „Relation“ nicht hinreichend als Begegnung zweier ‚Subjekte‘ zu fassen, sondern muss von ihrer Möglichkeit her bedacht werden. Was sie ermöglicht, ist nicht die Fähigkeit zweier Menschen, sich als ‚Subjekte‘ auf einander zu beziehen, sondern eine ‚Sphäre‘, die nicht verständlich gemacht werden kann, wenn man sich an die Erlebnis- und Handlungsperspektive von Menschen, ihr Subjekt-Sein, hält. Es ist die Sphäre zwischen den Wesen. Nimmt man Bubers Auszeichnung dieser Sphäre ernst, so wird man auch Theunissen folgen können, wenn er den „Begriff des Zwischen“ als den „Schlüsselbegriff“ bestimmt, „der den Zugang zur Intention Bubers, ja zum ganzen Dialogismus“ eröffne.17 Wenn die ‚Sphäre‘ des Zwischen die Begegnung von Personen ermöglicht, ist sie selbst allerdings nicht, wie Theunissen vorschlägt, als Begegnung zu fassen. Vielmehr geht sie dem, was Theunissen das „reine Geschehen der Begegnung“ nennt,18 voraus. Nur weil Personen in der ‚Sphäre‘ des Zwischen sind, können sie einander begegnen. Begegnung ist die Weise von Personen, zueinander in der ‚Sphäre‘ des Zwischen zu sein, die in der Personalität durchscheint. ‚Zwischen‘ ist ein räumlicher Ausdruck. Er bezeichnet etwas oder jemanden an seinem Ort, sofern dieser mehr oder weniger eng von mindestens zwei anderen Dingen oder Personen begrenzt ist, also zum Beispiel ein Buch ‚zwischen‘ zwei anderen Büchern oder eine Person, sofern sie ‚zwischen‘ zwei anderen Personen steht. Damit etwas oder jemand derart lokalisiert sein kann, muss es jedoch Raum geben, der als Ort eingenommen werden kann, zum Beispiel den Raum ‚zwischen‘ zwei Büchern für ein drittes Buch oder den Raum ‚zwischen‘ zwei Personen für eine dritte Person. Dieser Raum, der unbesetzte und in diesem Sinne ‚freie‘ Raum inmitten von Dingen oder Personen, der Zwischenraum also, lässt Dinge oder Personen erst ‚zwischen‘ anderem sein. Aber der Zwischenraum muss nicht besetzt werden, sondern kann auch frei und in diesem Sinne leer bleiben. Dann wird er, mehr oder weniger deutlich, als Raum 16 Buber, Nachwort zu den Schriften über das dialogische Prinzip, in: Das dialogische Prinzip, 299–320, 309. 17 Theunissen, Der Andere, 259. 18 Theunissen, Der Andere, 269.

61 erfahren. Raum erfährt man nicht zuletzt am Zwischenraum, und so darf man annehmen, dass der Zwischenraum Aufschluss über das Wesen des Raumes gibt. Der Zwischenraum ist eine begrenzte und darin bestimmte Ausprägung der Leere, die demnach das Wesen des Raumes wäre. So mag es kein Zufall sein, dass in vielen Sprachen das lateinische Wort für Zwischenraum, spatium, zum Wort für Raum überhaupt wurde.19 Der Raum zwischen Personen ist jedoch nicht nur frei oder leer dafür, von etwas oder jemand eingenommen zu werden. Er gibt den Personen auch die Freiheit, einander zu sehen, sich aufeinander zuzubewegen, Abstand voneinander zu halten oder den Abstand zueinander zu vergrößern. All dies wäre einer Person auch möglich, indem sie sich auf ein Ding bezieht, und auch einem Lebewesen, das man nicht als ‚Person‘ bezeichnen würde. Personen jedoch, die einander treffen oder einander gegenüber stehen, ‚beziehen‘ sich nicht aufeinander. Sie erfahren einander im Zwischenraum, der ihre Begegnung ermöglicht, und also in ihrer eigenen Räumlichkeit, indem sie in der Offenheit des Zwischenraums aneinander ihre Räumlichkeit erfahren. Es ist eine Erfahrung im Begegnen, und Begegnung wäre entsprechend die wechselseitige Erfahrung von Personen in ihrer Räumlichkeit. Ohne eine wie auch immer ausgeprägte Wechselseitigkeit gibt es keine Begegnung. Die Räumlichkeit von Personen entspringt nicht erst mit ihrer Begegnung. Vielmehr können Personen einander nur begegnen, weil sie räumlich sind – auch ohne einander zu begegnen. Aber damit ihre wechselseitige Erfahrung den Charakter einer Begegnung haben kann, muss ihre Räumlichkeit von besonderer Art sein – derart, dass zu ihrer Personalität gehört und mit dieser im Begegnen evident ist. Personen müssen nicht erst herausfinden, dass sie selbst und auch andere Personen räumlich sind. Unmittelbar erleben sie einander als räumlich und darin als Personen, und ihre Räumlichkeit ist evident, sofern sie in der Offenheit eines Zwischenraums Raum mit anderen Personen teilen.20 Sie sind nicht nur mit anderen Personen im selben Raum – so wie man im selben Raum mit den Dingen ist – sondern der Raum ist für jede Person immer auch der Raum anderer Personen. Personen sind im selben Raum in der selben Weise räumlich. Was das heißt, lässt sich erläutern, indem man zunächst auf die je eigene Raumerfahrung achtet und von der für das personale Leben wesentlichen Interpersonalität absieht. Die eigene Raumerfahrung ist zentriert – darin, dass alles in seiner Räumlichkeit von einem selbst her bestimmt wird. Alles, was 19 Günter Figal, Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen 2015, 25–26. 20 Vgl. dazu Figal, Unscheinbarkeit, 171–190.

62 man nicht ist und was nicht zu einem gehört, ist dort, während man selbst, zusammen mit allem, das zu einem gehört, hier ist. Man selbst ist immer hier, an jedem Ort, den man einnehmen kann. Ein Ort wird erst ‚hier‘, wenn man an ihm ist, und daran zeigt sich, dass der Ausdruck ‚hier‘ nicht primär diesen Ort bezeichnet, sondern einen selbst. Man selbst ist, mit einem Ausdruck Husserls gesagt, ein „letztes zentrales Hier“.21 Personales Sein ist Hiersein, und alles Räumliche wird in diesem Hiersein erfahren. Davon ausgenommen sind andere Lebewesen und vor allem andere Personen. Zwar lässt sich von diesen auch sagen, dass sie dort sind, an einem anderen Ort als man selbst. Aber sie sind immer auch hier – in dem Hier, das sie selbst sind. Das muss man sich nicht eigens klarmachen, indem man das eigene Hiersein auf andere Personen überträgt, sondern man spürt oder weiß es unmittelbar, sofern man vom möglichen oder aktualen Verhalten anderer Lebewesen und Personen betroffen ist. Man kann gesehen werden oder wird gesehen, andere Lebewesen und Personen können sich einem zuwenden oder wenden sich einem zu. Das tun sie nicht dort, sondern hier, und zwar nicht nur in ihrem jeweiligen Hiersein an ihrem besonderen Ort, sondern in einem Hier, das man selbst mit ihnen teilt und das sie mit einem selbst teilen. Es ist ein dezentrales Hier, das Hier des Raumes, in dem man nicht allein ist. In der vollen Wechselseitigkeit des personalen Lebens kommt dieses dezentrale Hier offen zur Geltung. Personen können miteinander agieren, sie können einander ansprechen und miteinander sprechen, weil sie zusammen in dezentraler Weise hier sind – das gilt auch dann, wenn sie sich an verschiedenen Orten aufhalten und einander nicht wahrnehmen. Und Personen können einander begegnen. In einer Begegnung wird das dezentrale und in seiner Dezentralität geteilte Hiersein offenbar, und zwar, weil Personen als solche den Raum ihres Hierseins erkennen lassen. Dieser Raum scheint durch sie als Personen durch – das ist es, was ihre Personalität ausmacht. Menschen haben, um Bubers Terminus aufzugreifen, zwar immer auch ein ‚Eigenwesen‘ – bestimmte Fähigkeit, Eigenschaften und Zugehörigkeiten, durch die sie bestimmt sind. Als Personen jedoch sind sie das Unbestimmte ihres Hierseins, das alle möglichen Erlebnisse, Erfahrungen und Verhaltensweisen durchstimmt und in der Offenheit des gemeinsamen Raums stellt, der als solcher niemandem gehört und auf keine Person zentriert sein kann.

21 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Husserliana IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag 1952, 158. Vgl. Figal, Unscheinbarkeit, 154–171.

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4. Personbestimmtes Leben Nun lässt sich auf Bubers Gedanken eines „personbestimmten“ Lebens zurückkommen. Im Anschluss an die entwickelten Überlegungen lässt sich sagen, wie dieses genauer zu verstehen ist. Es müsste ein Leben sein, das in allem Erfahren, Denken und Tun ‚personal‘ an die Unbestimmtheit des Hierseins und damit des Raumes gebunden ist und so offen hält, wie alles Erfahren, Denken und Tun in die Offenheit dieses Raumes gehört und sich als Bestimmtes nur in seiner Unbestimmtheit abheben kann; ein Leben außerdem, das diesen Raum als einen dezentralen lebt, als gemeinsamen und geteilten, und darin offen ist für Begegnung; ein Leben schließlich, in dem diese Offenheit nicht als Geschehen gilt, das einem zufällt, sondern als gelebte und zu lebende Möglichkeit. Die Frage, ob ein Leben eher „personbestimmt“ oder „eigenwesenbestimmt“ ist, entscheidet sich im Leben selbst. Das ist eine Konsequenz, die in Bubers Überlegungen zwar anklingt, aber nicht ausgeführt wird. Wenn Buber sagt, man könne „vom Eigenwesen beherrscht“ werden,22 ist deutlich, dass er das „eigenwesenbestimmte“ Leben als unfreies versteht, und entsprechend müsste das personale Leben ein Leben in Freiheit sein. Doch wie die Freiheit des personalen Lebens gelebt werden kann, sagt Buber nicht. Er deutet es bestenfalls an, indem er Sokrates und Goethe als exemplarische Figuren eines solchen Lebens darstellt.23 Offenbar findet er es schwierig, das personale Leben zu konkretisieren, und das wiederum hängt wohl damit zusammen, dass sich in seinem Verständnis dieses Lebens immer wieder die Vorstellung einer reinen, aus jedem Lebens- und Weltzusammenhang gelösten ‚Begegnung‘ vordrängt. In der Begegnung, so heißt es einmal, erscheine die Welt „stets neu“, und man dürfe sie „nicht beim Wort nehmen“; sie sei „dauerlos“, denn sie komme „auch ungerufen“ und entschwinde „auch festgehalten“.24 Das ist wieder das Verständnis der Begegnung als eines Ausnahmezustands, eines reinen Geschehens, das Begegnung ist und sonst nichts. Doch wie soll eine solche Begegnung aussehen? Was können einander rein Begegnende miteinander anfangen? Dass Buber den Gedanken einer reinen Begegnung nicht aufgegeben hat, obwohl er andererseits ein ‚personbestimmtes‘ Leben für möglich hält, lässt sich erklären. Da jede sachliche Bezugnahme auf etwas in der Welt der Relation ‚Ich-Es‘ zugeordnet ist, musste er wohl fürchten, dass mit der Möglichkeit einer sachlich irgendwie bestimmten oder gar sachliche orientierten Begegnung 22 Buber, Das dialogische Prinzip, 68. 23 Buber, Das dialogische Prinzip, 68–69. 24 Buber, Das dialogische Prinzip, 36.

64 die klare Unterscheidung zwischen den beiden verschiedenen Haltungen, ‚IchEs‘ und ‚Ich-Du‘, von der seine Schrift lebt, problematisch werde. Obwohl Buber, wie schon einmal erwähnt, einräumt, dass kein Mensch „reine Person“ und keiner „reines Eigenwesen“ sei und also das Leben immer zu verschiedenen und möglicherweise auch wechselnden Anteilen aus beidem gemischt sein müsste,25 gesteht er nicht zu, dass Personen einander in einer Sache begegnen können. Die beiden Haltungen bleiben als solche voneinander getrennt. Dabei ist die Haltung, in der etwas als „Es“ erscheint, nur im Hinblick auf die Personalität selbst unangemessen. Personen sind in der Tat niemals Sachen, die feststellbar sind, und es heißt, eine Person zu missachten, wenn man sie als Sache betrachtet. Doch kann eine Sache durchaus die Mitte einer Begegnung ausmachen. Sie kann ‚zwischen‘ Personen stehen – nicht als ein Hindernis, sondern so, wie ein Tisch zwischen Personen steht und die Personen, die an ihm versammelt sind, verbindet. Es kommt jeder Sache zugute, von Personen, die ihre Personalität leben, erkundet und erhellt zu werden, weil es solchen Personen nicht um sich selbst geht, sondern darum, den Raum, der sie wesentlich sind, zur Geltung kommen zu lassen. So können sie eine Sache ‚in den Raum stellen‘ und als Gegenstand gelten lassen, statt, befangen in Interessen und Vorurteilen, immer schon im Voraus zu wissen, wie es sich mit einer Sache verhält. Weil Personalität und Sachlichkeit derart zusammengehören, kann sich die Begegnung von Personen im Sachbezug konkretisieren. Was die Begegnung ausmacht, kann sogar habitualisiert werden, weil die Beschäftigung mit einer Sache, damit sie sachgemäß sein kann, besondere Haltungen braucht, solche die von einer besonderen Sache gefordert werden, aber auch solche, die allgemein für jeden Sachbezug und damit auch für das Verhältnis von sachorientierten Personen von Bedeutung sind. Das sind Haltungen, die zur Personalität selbst gehören und, aufgrund der wesentlichen Räumlichkeit von Personen, vor allem den Sinn haben, einander Raum zu lassen, im selben Raum, dessen Gestaltung immer eine, und vielleicht die wichtigste, gemeinsame Aufgabe ist. Das genauer zu beschreiben, ist die Aufgabe einer Phänomenologie, die vom dialogischen Denken gelernt und zugleich Möglichkeiten gefunden hat zu zeigen, dass die Sache des dialogischen Denkens phänomenologisch keine bloße Leerstelle sein muss.

25 Buber, Das dialogische Prinzip, 67.

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EMMANUEL J. BAUER

Das Dialogische Prinzip in der Psychotherapie Dass das Dialogische Prinzip in der Psychotherapie im Allgemeinen und in bestimmten Psychotherapie-Schulen im Besonderen Beachtung fand und findet, ja sogar finden muss, wird Insider bestimmt nicht überraschen. Denn bedenkt man einerseits, was Psychotherapie ihrem Selbstverständnis nach ist und welches grundlegende Ziel sie verfolgt, und führt man sich andererseits vor Augen, welche Bedeutung das Dialogische Prinzip für das authentische Selbst-Sein des Menschen hat, dann leuchtet eo ipso ein, dass der therapeutische Weg zu einer seelisch-ganzheitlichen Gesundung des Menschen nicht ohne das dialogische Moment auskommen kann. Demzufolge wird der Beitrag in einem ersten Schritt kurz die Aufgabe der Psychotherapie im Hinblick auf psychische Krankheit bzw. Gesundheit beleuchten sowie die zentrale Rolle des personalen Dialogs für das SelbstSein bzw. Selbst-Werden des Menschen aufzeigen. In einem zweiten Schritt soll die faktische Bedeutung des Dialogischen in der Psychotherapie exemplarisch anhand der Gestalttherapie, der Personen- bzw. Klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie und der Existenzanalyse und ihrer jeweiligen anthropologischen Voraussetzungen dargelegt werden. Zum Abschluss gilt es dann noch die spezifischen Bedingungen und damit die Grenzen der Anwendbarkeit des genuinen Dialogischen Prinzips im psychotherapeutischen Setting zu problematisieren.

1. Psychische Krankheit und Aufgabe der Psychotherapie Psychische Krankheit stellt ein nicht zu übersehendes, gravierendes Faktum in den westlichen Gesellschaften dar, welches das Leben vieler Menschen negativ beeinflusst. Immer mehr Menschen scheinen in ihrem psychischen Gleichgewicht gestört zu sein. Die einen leben in Angst oder emotionaler Instabilität, andere leiden unter Selbstwertproblemen und wissen nicht, wer sie wirklich sind, sein wollen oder sein dürfen, wieder andere fühlen sich den sozialen, familiären oder beruflichen Herausforderungen nicht mehr ge-

66 wachsen oder sehen in ihrem Leben im Ganzen keinen Sinn mehr. Laut einer unter der Leitung von Hans-Ulrich Wittchen (TU Dresden) durchgeführten Metastudie aus dem Jahre 2011 zu repräsentativen epidemiologischen Studien waren in Europa bei etwa 30% der Erwachsenen innerhalb eines Jahres die Kriterien einer ernstzunehmenden psychischen Störung zumindest zeitweise erfüllt.1 Das Lebenszeitrisiko, also die Gefahr, irgendwann im Laufe des eigenen Lebens von einer psychischen Störung heimgesucht zu werden, wird von Experten der WHO weltweit im Durchschnitt auf 50% geschätzt.2 Gemäß Untersuchungen an 9.280 Über-Achtzehn-Jährigen sind am häufigsten affektive Störungen (wie Depression, bipolare Erkrankungen oder Dysthymie), die vielfältigen Ausprägungen der Angststörung, Persönlichkeitsstörungen, somatoforme Störungen (wie etwa funktionelle Störungen, vegetative Dystonie oder das Chronische Schmerzsyndrom) und Substanzabhängigkeiten anzutreffen. Ob es angesichts der hohen Zahlen berechtigt ist, von einer Zunahme an psychischen Erkrankungen zu sprechen, oder ob es sich bloß um eine verstärkte Wahrnehmung (seitens der Ärzte wie auch seitens der Leidenden) und damit um eine höhere Gewichtung psychischer Probleme handelt, lässt sich schwer exakt feststellen. Vieles spricht aber dafür, dass die Zunahme an registrierten Erkrankungen vor allem eine Folge der höheren Sensibilität für diese Art von Problemen ist. Wie unterschiedlich und vielfältig die psychischen Beschwerden sind, so auch die möglichen Ursachen. Ab wann ist es aber berechtigt, von einer psychischen Störung oder Krankheit zu sprechen? Rein phänomenologisch betrachtet, könnte man sagen, dass eine psychische Störung dann vorliegt, wenn ein Mensch sich infolge von inneren, seelischen Problemen nachhaltig in seinem Lebensvollzug gestört fühlt. Unter anderem operiert die Existenzanalyse mit 1 Vgl. Jacobi, Frank/ Kessler-Scheil, Sonia, Epidemiologie psychischer Störungen. Häufigkeit und Krankheitslast in Deutschland, in: Psychotherapeut 58 (2013) 191–206. – Laut einer europaweiten Studie unter der Leitung von Hans-Ulrich Wittchen aus dem Jahr 2011 sind von 514 Mill. Europäern quer durch alle Altersgruppen 164,8 Mill. von mindestens einer psychischen Störung betroffen. Am weitesten verbreitet waren Angststörungen (14% bzw. 69 Millionen), ca. 7% litten unter Schlafstörungen und schweren Depressionen (30 Millionen), 6,3 % unter somatoformen Störungen (also Symptomen, die sich nicht eindeutig auf organische Ursachen zurückführen lassen), mehr als 4% unter Alkohol- und anderen Drogenabhängigkeiten (14,6 Mill.). Vgl. Wittchen, Hans-Ulrich et al., The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010, in: European Neuropsychopharmacology 21, H. 9 (2011) 656–679. 2 Vgl. Kessler, Ronald C./ Berglund, Patricia/ Demler, Olga et al., Lifetime prevalence and age-of-onset distributions of DSM-IV disorders in the National Comorbidity Survey Replication, in: Arch. Gen. Psychiatry 62 (2005) 593–602.

67 dieser phänomenologischen Definition von psychischer Krankheit: „Krank bzw. psychisch gestört ist der Mensch der Existenzanalyse zufolge dann, wenn er in seinen Lebensvollzügen wiederholt und regelmäßig behindert ist, das, was ihm wichtig ist und wofür er eigentlich leben möchte, zu finden oder danach zu leben.“3 In den letzten Jahrzehnten rückt das Problem der psychischen Erkrankungen nicht zuletzt deswegen mehr ins öffentliche Bewusstsein, weil immer deutlicher wird, wie groß die direkten und indirekten negativen Folgen für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen sind. Abgesehen vom volkswirtschaftlichen Schaden, der schon 2011 auf knapp 400 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt wurde,4 geht es vor allem darum, dass durch eine veritable psychische Störung der personale Selbstvollzug des Einzelnen unterbunden ist, sich ein objektiv schwer messbares Maß an innerem Leiden (Leidensdruck) einstellt, die übliche Fähigkeit der Kompensation psychischer Beeinträchtigungen versagt, ganz allgemein die persönliche Produktivität eingeschränkt ist und letztlich auch die potentielle Entfaltung der Persönlichkeit nachhaltig reduziert werden kann. Das Leid und die Folgen psychischer Störungen zu lindern, ist unter anderem die Aufgabe der Psychotherapie. Sie will den Menschen befähigen, innerlich frei und selbstverantwortlich das eigene Dasein zu gestalten, tragende Beziehungen zu pflegen, Werte und Ziele zu verfolgen und so sich selbst zu verwirklichen. Anders gesagt, Sinn und Zweck der Psychotherapie ist der Versuch, den verschütteten oder behinderten personalen Selbstvollzug von kranken oder belasteten Menschen wieder freizulegen und ins Fließen zu bringen. Das entspricht nicht nur dem Selbstverständnis der Psychotherapeuten.5 So sieht auch der österreichische Gesetzgeber die Rolle der Psychotherapie. Er versteht die psychotherapeutische Praxis als die „erlernte, umfassende, bewusste und geplante Behandlung von psychosozial oder auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen“ mittels wissenschaftlich fundierter Methoden „mit dem Ziel, bestehende Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern.“6 Gesund3 Vgl. Längle, Alfried, Lehrbuch zur Existenzanalyse. Grundlagen, Wien: Facultas 2013, hier 34. 4 Vgl. http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/studie-fast-40-prozent-der-europaeer-sind-psychisch-krank-a-784400.html (zuletzt abgerufen am 09.05.2018). 5 Hier und in ähnlichen Fällen wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die maskuline Form verwendet, jedoch strikt als generisches Maskulinum, das beide Geschlechter umfasst, verstanden. 6 Psychotherapiegesetz, in: Psychologengesetz 2013 / EWR-Psychologengesetz / Psychotherapiegesetz / EWR-Psychotherapiegesetz. Texte Materialien Judikatur, Linz:

68 heit wird in diesem Zusammenhang in einem ganzheitlichen Sinn begriffen, das heißt laut WHO als „ein Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur [als] das Freisein von Krankheit und Gebrechen.“7 In Anbetracht dieses hohen Anspruchs wird sie wohl ein Ideal bleiben, sollte als approximatives Ziel aber dennoch nicht aus den Augen verloren werden. Für die Erlangung und die Persistenz dieser Art von Gesundheit kommt dem Dialogischen Prinzip – direkt oder indirekt – eine entscheidende Rolle zu. Denn psychisch gesundes Leben ist nicht möglich ohne das freie emotionale und geistige Erleben des Menschen als Person, die authentische Stellungnahme und den eigenverantwortlichen Umgang mit sich und der Welt.8 Diese Art eines erfüllten Selbstvollzugs ist nun aber seinerseits nicht denkbar ohne personal-existentiellen Dialog, wie umgekehrt auch ein echter Dialog nicht ohne authentisches Selbst-Sein möglich ist.9

2. Personaler Dialog als Voraussetzung menschlichen Selbst-Seins Der Mensch ist von seiner ontologischen Struktur her auf personalen Dialog angelegt. Denn sein Dasein ist wesentlich geprägt von Sprache, verstanden als eine lebendige Wirklichkeit und Wirksamkeit, in der sich Mensch-Werden und Mensch-Sein vollzieht. Als solche ist Sprache sehr vielschichtig, ihre tiefste Dimension verwirklicht sich jedoch in der personalen Begegnung zwischen Ich und Du. Der österreichische Mitbegründer des personal-dialogischen Denkens Ferdinand Ebner sieht in diesem Sinn das eigentliche, geistige Wesen der Sprache bzw. des Wortes darin, „daß sie etwas ist, das sich zwischen dem Ich und dem Du zuträgt, zwischen der ersten und zweiten Person, wie man in der Grammatik sagt; etwas, das also das Verhältnis des Ichs zum Du einer-

proLIBRIS 22016, 101–150, hier § 1, Abs. 1, S. 101. Unterbrechung des Zitats durch den Verfasser. 7 WHO-Verfassung, 1 (abgerufen am 09.05.2018 über: https://www.bmgf.gv.at/home/ Gesundheit_und_Gesundheitsfoerderung). Ergänzung durch den Verfasser. 8 Vgl. Bauer, Emmanuel J., Ängstliche Sorge, Langeweile und Verzweiflung am Selbst als existentialer Ursprung der Sucht, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 60 (2015) 7–34, hier 33f; und Längle, Lehrbuch zur Existenzanalyse, 24. 9 Vgl. Bauer, Emmanuel J., Personal-existentieller Dialog als Bedingung authentischen Selbst-Seins bzw. Selbst-Werdens, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 62 (2017) 9–29.

69 seits voraussetzt, andrerseits herstellt.“10 Aber auch die Welt, in die der Mensch hineinwächst und in der er Schritt für Schritt bewusster zum Selbst-Sein findet, ist transparent und zugänglich aufgrund von Sprache. Der Mensch ist ursprünglich angesprochen von anderen Menschen und von einer Welt, die ihm einen gewissen Handlungs- und Entfaltungsspielraum eröffnet. Das Angesprochen-Sein fordert ihn zur Antwort heraus, wobei die Antwort nie ohne die Voraussetzung von Vorgegebenheiten möglich ist. Das heißt, das menschliche Ich ist kein cartesianisches ego cogitans, kein völlig unabhängiges, autarkes Subjekt, sondern weist einen ursprünglich responsiven, man könnte aber auch sagen, einen dialogischen Charakter auf.11 Martin Buber bringt diese Tatsache konzis auf den Punkt, wenn er sagt: „Im Anfang ist die Beziehung.“12 Der Mensch kann letztlich nicht Selbst und nicht Person sein ohne ein personales Gegenüber und ein lebendiges Bezogen-Sein auf Welt. Dieses Bezogen-Sein ist ein Spezifikum des Menschen, weil er von seinem Wesen her durch Weltoffenheit, Wahrheitsfähigkeit und Verstehen des Sinns von Sein geprägt ist, oder – um es mit Martin Heidegger zu sagen – weil er nicht nur vorhanden ist, sondern „durch das offenstehende Innestehen in der Unverborgenheit des Seins“13 frei ist. Er hat grundsätzlich die Fähigkeit, die Bedeutung seiner Welt zu verstehen, die sich daraus ergebenden Ansprüche und Möglichkeiten zu erkennen und verantwortlich zu ihnen Stellung zu beziehen. Dabei verhält er sich immer auch gleichzeitig zu sich selbst. Jeder bewusste Vollzug des Lebens ist daher Ausdruck der Freiheit, wirklich selbst zu werden und zu sein oder den Vorgaben und Einflüssen fremder anonymer Kräfte zu folgen. Menschen können aber auch die Verständigung verweigern und sich gegenseitig jeweils in ihrem Ich hinter einer „Chinesischen Mauer“ verschließen, so dass jeder am Anderen nur sein eigenes Ich, seine Abschließung und Einsamkeit erlebt und in der eigenen „Icheinsamkeit“, um hier den Gedanken 10 Ferdinand Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente. Hrsg. von Richard Hörmann. (Gesammelte Werke, hrsg. von Heinrich Schmidinger und Walter Methlagl), Wien-Berlin: Lit-Verlag 2009, fr. 1, S. 18. 11 Vgl. Waldenfels, Bernhard, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 45ff; und Bauer, Emmanuel J., Toleranz und Responsivität, in: Gmainer-Pranzl, Franz/ Schmidhuber, Martina (Hg.), Der Anspruch des Fremden als Ressource des Humanum (Salzburger interdisziplinäre Diskurse, Bd. 1), Frankfurt am Main: Peter Lang 2011, 131–153. 12 Buber, Martin, Ich und Du, in: Ders., Das dialogische Prinzip, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 71994, 5–136, hier 22 und 31. 13 Heidegger, Martin, Einleitung zu „Was ist Metaphysik?“ (1949), in: Ders., Wegmarken. Zweite, erweiterte und durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main: Klostermann 1978, 361–377, hier 370.

70 Ebners aufzugreifen, gefangen bleibt.14 Doch unter diesen Voraussetzungen verkümmert der Mensch. Denn Person-Sein und damit Selbst-Sein ist nicht möglich in einer sozialen Isolation oder im Verhältnis des Einzelnen allein zu sich selbst. Vielmehr setzt es die Kommunikation, gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung zwischen Personen voraus. Nur wenn ein Mensch sich vom Anderen und umgekehrt der Andere sich von ihm in seinem Person-Sein respektiert und vergegenwärtigt fühlt, kann er, wie Buber 1950 in seiner Abhandlung Urdistanz und Beziehung herausarbeitete, ein Selbst werden.15 Personen existieren nur innerhalb eines „apriorischen Beziehungsraum[s]“16, der geprägt ist von einem bestimmten Modus zu sein und von der ursprünglichen Haltung gegenseitiger Anerkennung als Personen. Es ist ein der einzelnen Person vorgängiger Lebensraum, in dem alle möglichen personalen Qualitäten und Beziehungen die Entfaltungsmöglichkeit für das Selbst-Sein der einzelnen Personen garantieren und den Struktur- und Interpretationsrahmen des interpersonalen Miteinanderlebens bereitstellen.

3. Personale Beziehung als Wirkfaktor der Psychotherapie Wenn authentisches Selbst-Sein bzw. -Werden also letztlich nur im Horizont eines dialogischen interpersonalen Beziehungsraumes möglich ist, dann kann es eigentlich nicht anders sein, als dass auch für den Erfolg einer Psychotherapie die Qualität der Kommunikation und der therapeutischen Beziehung zwischen Psychotherapeuten und Klienten von entscheidender Bedeutung ist.17 Innerhalb der therapeutischen Arbeit soll der Patient gleichsam exemplarisch personale Beziehung erleben, sich also selbst – meist im Unterschied zu den krank machenden eigenen Erfahrungen – in allen Verhaltenskonstellationen als Person wert geschätzt und zu personalem Verhalten angeleitet erfahren. Psychotherapie sollte meines Erachtens die Schule sein, in der Person-Sein aktiv und passiv erlebt wird. 14 Vgl. Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten, fr. 2, S. 24. 15 Vgl. Buber, Martin, Urdistanz und Beziehung, in: Ders., Schriften zur Psychologie und Psychotherapie (Werkausgabe, Bd. 10). Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Judith Buber Agassi, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008, 42–53, hier 52. 16 Spaemann, Robert, Personen. Versuche über den Unterschied von ‚etwas‘ und ‚jemand‘, Stuttgart: Klett-Cotta 1996, 196. Einfügung durch den Verfasser. 17 Vgl. u. a. Maaz, Hans-Joachim, Hilfe! Psychotherapie. Wie sie funktioniert und was sie leistet, München: C. H. Beck 2014, 14f.

71 Der bekannte Schweizer Psychotherapie-Forscher Klaus D. Grawe (1943– 2005) erregte 1994 mit seinem Buch Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession Aufsehen.18 Er versuchte, jenseits der konfessionell verfochtenen und abgesicherten Methoden der einzelnen Therapieschulen die allgemeinen psychologisch nachvollziehbaren Wirkfaktoren der Psychotherapie zu eruieren. Dabei identifizierte er fünf Faktoren, die für den Therapieerfolg verantwortlich sein sollen. Zu diesen zählen Ressourcenaktivierung (Ansatz bei den vorhandenen Eigenschaften als Stärken), Problemaktualisierung (unmittelbares Erleben des Problems, um es dann verändern zu können), Motivationale Klärung (Verstehen und Klären der eigenen Intentionen) und Problembewältigung (Hilfe zum Erleben eines besseren Umgangs mit dem Problem). Diesen noch vorausliegend erkannte er jedoch als ersten und grundlegenden Wirkfaktor die therapeutische Beziehung. Deren Qualität entscheidet nach seiner Auffassung wesentlich über das Ergebnis der angewendeten therapeutischen Maßnahmen. Nun kann man sich zu Recht an Grawes einseitiger Orientierung an der Verhaltenstherapie stoßen. Aber unumstritten bedeutsam erscheint mir die Erkenntnis, dass die Beziehung der Schlüssel zum psychotherapeutischen Erfolg ist. Das deckt sich mit der Erfahrung aus der eigenen therapeutischen Praxis. Aus ihr wuchs die Überzeugung, dass der entscheidende, in gewissem Sinn vielleicht sogar der einzige Wirkfaktor die Person des Therapeuten und die von ihr gesetzten personalen Beziehungsakte sind. Demgegenüber sind die schulen-spezifischen Methoden sekundär. Sie wirken auf je ihre Weise, letztlich aber sind sie nur ein Medium, um Beziehungsgeschehen lebendig werden zu lassen. Einige der Psychotherapie-Schulen tragen dieser Erkenntnis, dass das Dialogische Prinzip, das heißt die Erfahrung personaler Begegnung und Beziehung, für das gesunde Selbst-Sein wie auch für das Gesunden des angeschlagenen, verunsicherten Selbst-Seins des Menschen von fundamentaler Bedeutung ist, in Theorie und Praxis Rechnung. Explizit geschieht das vor allem in der Gestalttherapie, der Personenzentrierten Psychotherapie und der Existenzanalyse, in gewissem Maß auch in der Logotherapie, Daseinsanalyse und im Psychodrama.

18 Vgl. Grawe, Klaus/ Donati, Ruth/ Bernauer, Friederike, Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession, Göttingen: Hogrefe 52001.

72

a) Gestalttherapie Die Gestalttherapie wurde vom deutsch-amerikanischen Psychiater und Psychoanalytiker Friedrich Salomon Perls (1893–1970), seiner Frau Lore Posner (1905–1990), einer Gestaltpsychologin, und dem amerikanischen Literaturwissenschaftler und Sozialphilosophen Paul Goodman (1911–1972) begründet und in Europa in der Form der Integrativen Gestalttherapie vor allem durch den deutschen Psychologen Hilarion G. Petzold (* 1944) weiterentwickelt.19 Ungeachtet der spezifischen Ausprägungen (eher konfrontativer Weltküstenstil Fritz Perls, eher integrativer Ostküstenstil Lore Perls und Paul Goodmans, Europäische Variante) weiß sich die Gestalttherapie einem humanistischen Menschenbild sowie den phänomenologischen, existenzphilosophischen, systemtheoretischen und psychodynamischen Methoden verpflichtet. Der Mensch wird als Wesen begriffen, das fähig und angehalten ist, in Eigenverantwortung sich selbst im Kontext seiner Welt als eine Sinn- und Strukturganzheit wahrzunehmen und zu entwerfen. Er bildet eine dynamische Leib-Seele-Geist-Ganzheit, die in permanenter Interaktion mit dem sozialen wie organischen Umfeld steht und nach dem Prinzip der Selbstregulation alle Einflüsse in die eigene Sinn- und Struktur-Gestalt bzw. Bedeutungsganzheit einzufügen versucht. Dringen vorwiegend störende, irritierende Kräfte auf ihn ein und kann das eigene Selbst diese Einwirkungen nicht mehr assimilieren, also nicht mehr mit Hilfe struktureller Anpassung ein neues Gleichgewicht herstellen, kommt es zu einer Erkrankung im Sinne der Dekompensation des Individuums. Gelingt dagegen die Veränderung des Sinn- und Strukturganzen, führt dies zu einem persönlichen Wachsen durch und in Beziehung und Interaktion. Die autopoietische Regulierung des Lebens und Verhaltens des Menschen folgt nach Perls’ Auffassung übrigens dem Prinzip der Homöostase. An diesem Punkt zeigt sich unverkennbar die ursprüngliche Nähe zur Psychoanalyse Sigmund Freuds. Die Behandlungspraxis der Gestalttherapie setzt – mit Blick auf das unumgängliche Erfordernis der Selbst-Aktualisierung und laufenden Herstellung 19 Zu Theorie und Praxis der Gestalttherapie vgl. Hartmann-Kottek, Lotte, Gestalttherapie. Lehrbuch. Unter Mitarbeit von Uwe Strümpfel. 3., vollständig überarbeitete Auflage, Berlin: Springer-Verlag 2012, 7ff; Amendt-Lyon, Nancy, Gestalttherapie, in: Stumm, Gerhard (Hg.), Psychotherapie. Schulen und Methoden. Eine Orientierungshilfe für Theorie und Praxis. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage unter Mitarbeit von Monika Tuczai, Wien: Falter-Verlag 2011, 204–217; und Schwarzinger, Walter/ Stumm, Gerhard, Gestalttherapie, in: Stumm, Gerhard/ Wirth, Beatrix (Hg.), Psychotherapie. Schulen und Methoden. Eine Orientierungshilfe für Theorie und Praxis, Wien: Falter-Verlag 21994, 156–176.

73 der Gestaltganzheit – folgerichtigbeim unmittelbar Gegebenen an, um dem Klienten zu einem tieferen Verstehen und Integrieren der Person, der Phänomene und des Kontextes zu verhelfen. In den Augen des Therapeuten steht der Patient in der Mitte eines Koordinatensystems, das sich aus existentieller Beziehung sowie Achtsamkeit im Hier und Jetzt zusammensetzt. Perls brachte diesen Ansatz in der Formulierung „I and Thou – Here and Now“ auf den Punkt, wobei das Hier und Jetzt später auf das Dort und Damals (Vergangenheit) bzw. Dann (Zukunft) hin ausgedehnt wurde.20 In der therapeutischen Beziehung soll der Patient durch eine von „awareness“ (Achtsamkeit, Bewusstheit) getragene phänomenologische Zugangsweise des Therapeuten zu einer radikalen Form der Selbstbegegnung finden, in der er sich der störenden Muster im eigenen Erleben und Verhalten bewusst wird und lernt, den Freiheitsspielraum zu sehen, die eigenen Kompetenzen zu entfalten und die Verarbeitungsstrukturen zu verändern. Zentrale Bedeutung kommt dem inneren Zusammenhang von Erkennen und Existieren zu. Beide unterliegen deshalb dem Prozess eines ständigen Austarierens zwischen Integration und Desintegration. Insofern „das Gewahrsein nicht Nachdenken über das Problem ist, sondern als solches eine schöpferische Integration des Problems darstellt“,21 führt der Weg zur Heilung über die bewusste Wahrnehmung der aktuellen Einbindung des eigenen Organismus in das bio-psycho-soziale Umfeld. Die für die Grenzverwaltung zuständige Instanz ist das Selbst. Dieses wird von Perls als „das System der ständig neuen Kontakte“22 definiert und dem entsprechend als „die Kontaktgrenze in Tätigkeit“, als „Integrator“ oder „synthetische Einheit“ dargestellt.23 Schließlich bezeichnet er das Selbst sogar als „Schöpfer des Lebens“24, insofern es in der Organismus-Umwelt-Interaktion die entscheidende Aufgabe der schöpferischen Anpassung innehat. Ihm obliegt es, Bedeutungen zu finden und herzustellen, Schädliches auszusondern bzw. Konstruktives einzugliedern und so auf kreative Weise die eigene Lebensgestalt zu erneuern. Als solches ist das Selbst vielfältig und die immer aktuelle Kontakt- bzw. Grenzregulierung. In diesem Sinn wäre die Maske, die jemand als Reaktion auf eine bestimmte Situation aufsetzt, das im Moment wahre Gesicht.25 Im Hinblick auf diese Aufgabe der Anpassung an je neue Herausforderungen und der Aktualisierung 20 Vgl. Perls, Frederick S./ Hefferline, Ralph F./ Goodman, Paul, Gestalttherapie. Grund­ lagen. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Krege und Monika Ross, München: dtv 31995, 77f. 21 Ebd., 15. 22 Ebd., 17. 23 Vgl. ebd., 17f. 24 Ebd., 18. 25 Vgl. ebd., 166ff, hier bes. 167.

74 des Möglichen unterscheidet Perls drei Hauptaspekte oder Grundfunktionen des Selbst,26 nämlich das Es als der durch Lebensgeschichte und Umwelt „gegebene Hintergrund, der sich in seine Möglichkeiten auflöst“27, das Ich als das permanente Regulieren zwischen Identifikation und Abgrenzung und drittens die Persönlichkeit als die aus dem Assimilierungsprozess gewachsene Figur bzw. als „das System der Einstellungen in zwischenmenschlichen Beziehungen“28, also quasi das eigene Selbstverständnis in der Interaktion mit anderen Menschen. Hinsichtlich der Struktur dieses zentralen Moments des Erkenntnis- und Handlungsprozesses wurde die Gestalttherapie von Martin Bubers wichtiger Unterscheidung zwischen „Ich-Du“ und „Ich-Es“ als den beiden grundlegenden Modi im Beziehungsverhalten inspiriert.29 Buber ging davon aus, dass es kein neutrales oder idealistisches Ich an sich gibt, „sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das des Grundworts Ich-Es“30. Je nach Intention des Ich kommt es zu einer gegenständlichen Erfassung eines Etwas oder zu einer personalen Begegnung mit einem Gegenüber. Darin zeigen sich die beiden Grundarten des Daseins mit dem Seienden: „Das Seiende ist dem Menschen entweder Gegenüber oder Gegenstand. In dieser Zwiefalt des Verhältnisses zum Seienden – Begegnung und Betrachtung – baut sich das Menschenwesen auf.“31 In enger Anlehnung an Buber geht die Gestalttherapie nun davon aus, dass die therapeutische Beziehung eine Mischung aus „Ich-Du“- und „Ich-Es“-Aspekten darstellt, wobei erstere eine von Empathie, Respekt, Nähe, Gesehen-werden, Gemeint-sein und gegenseitigem Verständnis getragene Verbundenheit erzeugen, letztere dagegen die Komponente der distanzierten nüchternen, sachorientierten Beobachtung einbringen. Diese Zwiefalt der Erkenntnisintentionen und Grundhaltungen spielt, so die Auffassung, nicht nur 26 Vgl. Amendt-Lyon, 207; und Schwarzinger/ Stumm, 161f. Perls selbst spricht in diesem Zusammenhang auch von drei Stadien des Selbst. Vgl. Perls et al., 172f. 27 Ebd., 172. 28 Ebd., 177. 29 Vgl. dazu u. a. Hycner, Rich, Die Ich-Du-Beziehung. Martin Buber und die Gestalttherapie, in: Doubrawa, Erhard/ Staemmler, Frank-M. (Hg.), Heilende Beziehung. Dialogische Gestalttherapie. 2., erw. Auflage, Wuppertal: Hammer 2003, 83–94; und Portele, Heik, Martin Buber für Gestalttherapeuten: Fritz und Laura Perls und Buber, in: Doubrawa/ Staemmler (Hg.), Heilende Beziehung, 11–26. 30 Buber, Ich und Du, 8. 31 Buber, Martin, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, in: Ders., Schriften zu Religion und Philosophie. Hrsg. und eingeleitet von Ashraf Noor. Kommentiert von Ashraf Noor und Kerstin Schreck (Werkausgabe, Bd. 12), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2017, 359–444, hier 387. Vgl. auch ders., Ich und Du, 68.

75 – wie bei Buber – im zwischenmenschlichen Bereich und im Weltbezug eine bedeutende Rolle, sondern darüber hinaus auch im intrapsychischen Umgang des Menschen mit sich selbst. Je nach Dominanz des Grundwortes betrachtet sich der Mensch (mittels innerem Beobachter) kontrollierend bis überkritisch oder gütig und verständnisvoll, was wiederum auf lange Sicht eine spürbare Wirkung auf die innere Befindlichkeit, Lebensqualität und Resilienz dieses Menschen entfaltet. Eine der Hauptaufgaben der Psychotherapie sieht die Gestalttherapie daher darin, lebensfeindliche, selbst-abwertende Einstellungen, die oft unbewusst am Werk sind, zu identifizieren und loslassen zu lernen und dagegen die lebensfreundliche Ich-Du-Haltung sich selbst gegenüber zu stärken.32 Diese kurze Darstellung der Gestalttherapie zeigt, dass die Art, wie hier die Zwiefalt der Grundworte Bubers auf die Erkenntnis- und Beziehungsstrukturen umgelegt wird, der Intention des Originals sehr nahekommt. Fragwürdig erscheinen jedoch die von manchen Gestalttherapeuten unternommenen Versuche, diese Dualität von Ich-Du- und Ich-Es-Modus mit Hilfe der Quantentheorie, genauer gesagt mittels des Welle-Teilchen-Dualismus oder mit Hilfe von Antonio Damasios Theorie des Zusammenhangs von Protoselbst und Kern-Selbst zu erklären.33 Denn derartige Unternehmungen bergen letz32 Vgl. Hartmann-Kottek, 21–24. 33 Vgl. ebd., 22f; und Damasio, Antonio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins. Aus dem amerikanischen Englisch von Sebastian Vogel, München: Siedler 2011. Damasio nimmt an, dass das Selbst des Menschen stufenweise aufgebaut ist. Dessen Wesen besteht darin, „dass der Geist sich auf den materiellen Organismus konzentriert, in dem er zu Hause ist“. (Ebd., 193.) Die einfachste Stufe des Selbst, Protoselbst genannt, erwächst aus jenem Gehirnteil, der den Organismus vertritt, und besteht „aus einer Ansammlung von Bildern, die relativ stabile Aspekte des Körpers beschreiben und spontane Gefühle des lebendigen Körpers (ursprüngliche Gefühle) erzeugen“ (ebd.), oder anders gesagt, es ist „eine integrierte Ansammlung verschiedener neuronaler Muster, die in jedem Moment die stabilsten Aspekte der physischen Struktur des Organismus kartieren“ (ebd., 202). Die zweite Stufe, das sogenannte Kern-Selbst, ist das Ergebnis „einer Beziehung zwischen dem Organismus (wie er im Protoselbst repräsentiert ist) und jedem Teil des Gehirns, der ein zu kennendes Objekt repräsentiert“ (ebd., 193). Das heißt, ein Kern-Selbst-Akt entsteht, wenn der Organismus mit einem Objekt interagiert und sich dadurch das Protoselbst und auch die Bilder des Objekts verändern. Grundvoraussetzung für die Entstehung des Phänomens des bewussten Selbst ist das Vorhandensein von „Geist und Wachheit als Gehirntätigkeiten“ (vgl. ebd., 194). Damit also das Protoselbst die Stufe des bloßen „le sentiment de l’être“ (wie man dessen Funktion auch beschreiben könnte) übersteigen kann, muss das geistige Profil weiter geschärft werden und eine Verbindung (Beziehung) zu Ereignissen in der Umwelt bestehen, die auf das Proto-

76 ten Endes die Gefahr in sich, das personale Beziehungsgeschehen mit naturalistischen Parametern zu begründen. Dass die hier monierte Tendenz nicht unerheblich ist, wird auch durch die Ausdeutung des Buber’schen Ansatzes vor dem Hintergrund der konstruktivistisch-biologistischen Erkenntnistheorie von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela34 und die Übernahme des vom physikalischen Prinzip des Energieerhaltungssatzes inspirierten Homöostase-Modells von Sigmund Freud bestätigt.

b) Personenzentrierte Gesprächstherapie Auch die Personenzentrierte Gesprächstherapie orientiert sich explizit an Bubers Dialogischem Prinzip.35 Diese Tatsache lässt allein schon der Name der Therapierichtung wie auch deren Nähe zur Gestalttherapie vermuten. Außerdem kam es im Jahre 1957 auf einer Vortragsreise durch die USA an der Universität Michigan im Rahmen eines philosophisch-theologischen Symposions zu einem öffentlichen Dialog Martin Bubers mit Carl Rogers (1902–1987), dem geistigen Mentor der Klientenzentrierten Gesprächstherapie.36 Diese diselbst rückwirken und aus ihm einen Protagonisten machen. So entfaltet sich das Protoselbst zu einem Kern-Selbst (vgl. ebd., 214f ). Auf dieser Ebene weist das Selbst eine gewisse Art von Subjektivität auf, aber noch nicht bewusste Identität, wie dann auf der Stufe des autobiographischen Selbst. 34 Vgl. Hartmann-Kottek, 44–45. 35 Vgl. dazu Rogers, Carl R., Klientenzentrierte Psychotherapie, in: Ders./ Schmid, Peter F., Person–zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis. Mit einem kommentierten Beratungsgespräch von Carl Rogers, Mainz: Grünewald-Verlag 1991, 185–237; ders., Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit einem Vorwort von Jürgen Kriz. Aus dem Englischen von Gerd Höhner und Rolf Brüseke (Personzentrierte Beratung & Therapie, Bd. 8), München: Reinhardt Verlag 22016; und ders., Die Kraft des Guten. Ein Appell zur Selbstverwirklichung. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Stein (Fischer-Taschenbücher 42271: Geist und Psyche), Frankfurt am Main: Fischer 51992; weiters Hutterer, Robert, Personenzentrierte Psychotherapie, in: Stumm, Gerhard (Hg.), Psychotherapie. Schulen und Methoden. Eine Orientierungshilfe für Theorie und Praxis. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage unter Mitarbeit von Monika Tuczai, Wien: Falter-Verlag 2011, 185–198; und Deister, Bernhard, Anthropologie im Dialog. Das Menschenbild bei Carl Rogers und Karl Rahner im interdisziplinären Dialog zwischen Psychologie und Theologie (Innsbrucker theologische Studien, Bd. 77), Innsbruck: Tyrolia 2007, 45–142. 36 Vgl. Buber, Martin, Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers, 18. April 1957, in: Ders., Schriften zur Psychologie und Psychotherapie. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Judith Buber Agassi (Werkausgabe, Bd. 10), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008, 236–258.

77 rekte persönliche Begegnung dürfte bei beiden deutliche Spuren hinterlassen haben – bei Rogers vermutlich noch mehr als bei Buber.37 Rogers ist von einem zutiefst optimistischen Menschenbild beseelt. Er versteht den Menschen als Wesen, das von Natur aus eine Aktualisierungstendenz in sich trägt. Das heißt als Subjekt, das von seiner Anlage her darauf ausgerichtet ist, alle Fähigkeiten und Potentiale zwecks Optimierung des Organismus zu entfalten. Diese natürliche Neigung zur Aktualisierung manifestiert sich in der Disposition zur Selbstverwirklichung und im Vermögen zur Selbstverantwortlichkeit und Selbstregulierung.38 Dem liegt die fundamentale Annahme zugrunde, „daß die Person in sich selbst ausgedehnte Ressourcen dafür hat, sich selbst zu verstehen und ihre Lebens- und Verhaltensweisen [ways of being and behaving] konstruktiv zu ändern, und daß diese Ressourcen am besten in einer Beziehung mit bestimmten definierten Eigenschaften freigesetzt und verwirklicht werden können.“39 Herrschten optimale soziale Begleitumstände, würde sich jeder Mensch von selbst zu einer „fully functioning person“40, zu einer voll sich verwirklichenden Person entfalten. Dieser Zustand wäre gegeben, wenn die Person, innerlich frei und offen, alle Erfahrungen zulässt und sich flexibel und authentisch den je neuen Anforderungen gemäß aktualisiert. Doch die Realität im Leben sieht meist anders aus. Es gibt störende Einflüsse, die vor allem in der Entwicklung des Selbst im frühen Kindesalter auftreten und sich nachhaltig auswirken. Dabei spielt das Verlangen nach Selbstbeachtung und Anerkennung, das dem Menschen als ein Urbedürfnis innewohnt, eine große Rolle.41 Es führt dazu, dass das Kind das eigene Selbstkonzept an die Erwartungen Anderer anpasst, sodass es sehr leicht zu einer Diskrepanz zwischen dem Selbstkonzept und der ursprünglichen Selbsterfahrung, also dem genuinen Selbsterleben des Organismus, kommen kann. Rogers spricht in diesem Zusammenhang von „Inkongruenz“42. Erreicht diese eine gewisse Stärke, kommt es zu einer Konfusion und Ambivalenz der Aktualisierungstendenz, die zwischen den bewussten Wünschen im Sinn der Absicherung des Selbstkonzepts und der Erfüllung der Bedürfnisse des Organismus hin- und hergerissen ist. Hier klingt unverkennbar der Freudianische Kampf zwischen Über-Ich und 37 Vgl. Groddeck, Norbert, Carl Rogers. Wegbereiter der modernen Psychotherapie, Darmstadt: Primus-Verlag 2002, 121–124. 38 Vgl. Hutterer, Personenzentrierte Psychotherapie, 187. 39 Rogers, Klientenzentrierte Psychotherapie, 187. 40 Ebd., 210. Vgl. auch ders., Eine Theorie der Psychotherapie, 70–72. 41 Vgl. ebd., 58f. 42 „Inkongruenz ist die Diskrepanz, die sich einstellen kann zwischen dem Erleben des Organismus und dem Selbstkonzept.“ Rogers, Klientenzentrierte Psychotherapie, 214. Vgl. dazu auch Deister, 65f.

78 Es nach. Um diesen Antagonismus abzubauen oder ihm vorzubeugen, werden Abwehrmechanismen eingesetzt. In erster Linie das Mittel der selektiven Wahrnehmung von Erfahrungen. Das heißt, dass zum Beispiel Erfahrungen, die dem eigenen Selbstkonzept widersprechen oder für es bedeutungslos sind, von vornherein gar nicht beachtet oder aus dem Bewusstsein verdrängt werden.43 So wird das „Vertrauen in die Weisheit des Organismus“44 und seine konstruktive Tendenz der Entfaltung untergraben. Die Folge ist eine verzerrte Selbst- und Fremdwahrnehmung, welche den Menschen einschränkt oder ihn sogar blockiert, die wirklichen Anforderungen des Lebens zu erkennen und darauf angemessen zu antworten. Ob dieser negativen Auswirkungen diagnostiziert Rogers die Inkongruenz und Dissoziation der konstruktiven Aktualisierungstendenz als den Nährboden für jegliche Art der Psychopathologie.45 Entscheidend für eine gesunde und erfüllende Persönlichkeitsentwicklung ist daher die Reduktion der Inkongruenz bzw. deren Verwandlung in eine Kongruenz zwischen Selbstkonzept und unmittelbarem Erleben. Auf diesem Weg wird das Selbst befähigt, konstruktiv mit den sich stets verändernden Herausforderungen umzugehen. Diese Veränderung ist aber, wie Rogers weiter oben betont hat, letztlich nur möglich innerhalb einer personalen, dialogischen Beziehung. Für den Fall, dass es der Einzelne nicht schafft, die notwendige Kongruenz herzustellen, stellt die Klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Auffassung von Rogers eine exzellente Möglichkeit der Hilfe dar.46 Sie soll zum Ort werden, wo der Klient die in der Kindheit oder bis dato zu kurz gekommene bedingungslose Achtung und Beachtung erfährt und so die Kraft bekommt, es zu wagen, die inneren Diskrepanzen und Dissonanzen wahrzunehmen und deren schmerzlichen Hintergründe ins Erleben zu holen, und es zu lernen, die Selbstheilungskräfte zu aktivieren und eine Restrukturierung des Selbst vorzunehmen. Dies soll und kann im Rahmen der therapeutischen Beziehung gelingen, sofern diese von Authentizität, vorurteilsloser Anteilnahme und einem empathischen, offenen Verstehen seitens des Therapeuten geprägt ist. Im Hinblick auf die notwendige Mobilisierung der selbst-heilenden bzw. selbst-entwickelnden Ressourcen sagt Rogers: „Wenn der Therapeut oder eine 43 Vgl. Rogers, Eine Theorie der Psychotherapie, 61–66. 44 Ders., Klientenzentrierte Psychotherapie, 232. 45 Vgl. ders., Die Kraft des Guten, 277. 46 In diesem Sinn führt Rogers als grundlegende anthropologische Vorannahmen für seinen Ansatz das Vertrauen in die konstruktive Aktualisierungstendenz des Menschen, die Entschlossenheit, diejenigen Bedingungen ausfindig zu machen, die das Potenzial zur Selbstheilung und konstruktiven Selbstverwirklichung freisetzen, und die Überzeugung, dass diese Bedingungen Haltungen eines Beziehungsgeschehens darstellen, an. Vgl. ders., Klientenzentrierte Psychotherapie, 231f.

79 andere hilfreiche Person ihr eigenes Echtsein, ihre Anteilnahme und ein tiefes gefühlsmäßiges, nicht urteilendes Verstehen empfindet und zum Ausdruck bringt, dann ist es am wahrscheinlichsten, daß eine solche Freisetzung und Veränderung stattfindet.“47 Im Einzelnen nennt Rogers folgende Bedingungen für das Zustandekommen eines Prozesses der konstruktiven Persönlichkeitsveränderung, wie er prototypisch (aber nicht ausschließlich) in einer Psychotherapie ablaufen kann:48 1. Die fundamentale Rahmenbedingung besteht darin, dass zwei Personen in psychologischem Kontakt stehen, sich also in einer dialogischen Beziehung befinden. 2. Der Klient befindet sich im Zustand einer (zumindest vagen) Inkongruenz, ist ängstlich oder verletzbar. Er spürt demnach einen gewissen Leidensdruck und sieht Veränderungsbedarf. 3. Der Therapeut zeichnet sich aus durch Echtheit, Kongruenz, Aufrichtigkeit, das heißt bei ihm herrscht Stimmigkeit zwischen unmittelbarem Erleben und Selbstbild bzw. Kommunikation. Er muss zumindest innerhalb der Grenzen der therapeutischen Beziehung eine authentische, integrierte Person und somit frei von jeder Fassadenhaftigkeit sein. 4. Der Therapeut bringt eine bedingungslose positive Zuwendung zum Klienten auf. Damit ist eine vorurteilslose, wertschätzende, anteilnehmend-mitfühlende oder zumindest akzeptierende Haltung gemeint. 5. Der Therapeut empfindet ein feinfühliges, empathisches Verstehen des inneren Bezugsrahmens, also der inneren und äußeren Welt des Klienten und versucht, dies auch adäquat zum Ausdruck zu bringen. 6. Der Klient nimmt wenigstens in geringem Maß die bedingungslose Zuwendung, die Aufrichtigkeit und das empathische Verstehen des Therapeuten ihm gegenüber wahr. Die Wirksamkeit des therapeutischen Geschehens hängt – abgesehen von der Voraussetzung des grundlegenden Beziehungsrahmens – nach Rogers also von beiden Gesprächsteilnehmern ab, sowohl von den erforderlichen Grundhaltungen des Therapeuten (3, 4, 5) als auch von der Therapiewilligkeit und -fähigkeit des Klienten (2, 6). Das eigentliche Geheimnis des Erfolges liegt darin, dass der Klient im Zuge der Therapie langsam beginnt, die vom Therapeuten 47 Ebd., 187. 48 Vgl. ders., Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie, in: Ders./ Schmid, Peter F., Person–zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis. Mit einem kommentierten Beratungsgespräch von Carl Rogers, Mainz: Grünewald-Verlag 1991, 165–184; und ders., Klientenzentrierte Psychotherapie, 192–203 und 214f.

80 erlebte Haltung auch sich selbst gegenüber einzunehmen, also sich selbst zu akzeptieren, wie er ist, und seinen eigenen Erfahrungen und Einschätzungen zu trauen, und so den Grundstein für eine notwendige Reorganisation des Selbst bzw. eine konstruktive Selbstentwicklung zu legen.49 Die innere Nähe dieses Konzeptes zu Bubers Dialog-Verständnis ist unübersehbar. Die drei therapeutischen Grundhaltungen, oft auch Therapeutenvariablen genannt, nämlich nicht-wertende bedingungslose Wertschätzung bzw. Akzeptanz, Kongruenz bzw. Echtheit und einfühlendes Verstehen, decken sich sinngemäß mit den drei wesentlichen Voraussetzungen, die Buber für den echten Dialog anführt:50 1. die Wahrhaftigkeit der Zuwendung, getragen von der Bestätigung und Akzeptanz des Andersseins des Gegenübers, 2. die Überwindung des Scheins, also Rückhaltlosigkeit im Sinn der Authentizität, und 3. die personale Vergegenwärtigung im Sinne des Innewerdens der Person-Ganzheit des Anderen. Die innere Logik des Erfolgsrezepts der Personenzentrierten Gesprächstherapie, dass der Klient durch die therapeutische Beziehung beginnt, sein wahres Selbst zu entdecken, anzunehmen und weiterzuentwickeln, kann als eine praktische Anwendung der Erkenntnis Bubers verstanden werden, dass der Mensch am Du zum Ich wird.51 Trotz dieser Nähe hinsichtlich der angeführten Haltungen und der grundlegenden Bedeutung der personalen Begegnung bestehen aber auch deutliche Differenzen, die bei einer näheren Analyse zum Vorschein kommen und auch im besagten Dialog von 1957 spürbar wurden.52 Ein fundamentaler Unterschied mit vielen Auswirkungen auf andere Fragen zeigt sich in der Einschätzung der Natur des Menschen. Während Rogers – nicht zuletzt in Distanzierung gegenüber der protestantischen Auffassung von der natura lapsa et irreparabilis, von der er durch die streng religiösen Eltern geprägt wurde – von einer grundsätzlichen Vertrauenswürdigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen ausging und dessen Natur als zuverlässig, konstruktiv, schöpferisch, sozial und stets auf eine gesunde Selbst-Entfaltung ausgerichtet betrachtet,53 49 Vgl. dazu auch Hutterer, Personenzentrierte Psychotherapie, 189f. 50 Vgl. Buber, Martin, Elemente des Zwischenmenschlichen, in: Ders., Das dialogische Prinzip, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 71994, 269–298, hier bes. 291–295. 51 Vgl. ders., Ich und Du, 32. 52 Vgl. Groddeck, 122f. 53 Vgl. Rogers, Carl, Ein klientenzentrierter bzw. personzentrierter Ansatz in der Psychotherapie, in: Ders./ Schmid, Peter F., Person–zentriert. Grundlagen von Theorie

81 verstand Buber die menschliche Natur als offen für Gutes und Böses und grundsätzlich der Umkehr (Metanoia) bedürftig.54 Für Rogers war daher – vor allem in der vor-dialogischen frühen Phase seines Wirkens mit der Betonung der „nondirective“ bzw. „client-centered therapy“ – die bedingungslose Akzeptanz die wichtigste und hilfreichste Haltung des Therapeuten gegenüber dem Klienten. Demgegenüber schrieb Buber dem Erzieher oder Therapeuten nach dem Vorbild des alttestamentlichen Gerechten (Zaddik) eine durchaus aktive heilende Rolle zu.55 Er sollte durch die Begegnung Orientierung geben und zum Guten im Sinne der selbstlosen Weltverantwortung herausfordern. Menschsein ist nach Buber wesentlich dialogisch bestimmt, wirklich nur in und durch Begegnung. Rogers begreift dagegen den Menschen stärker individualistisch und stellt die je eigene, organisch verankerte Aktivierungstendenz, die den Menschen mit allen Lebewesen verbindet, in den Vordergrund. Unter der Voraussetzung der genannten grundlegenden Differenzen war es nur allzu verständlich, dass Buber und Rogers auch die Möglichkeit eines echten Dialogs im Rahmen eines therapeutischen Settings unterschiedlich, ja gegensätzlich einschätzten. War Rogers überzeugt, dass eine partnerschaftliche, ebenbürtige Begegnung stattfinden kann und soll, betonte Buber, dass die spezifische Rollenverteilung eine volle Gegenseitigkeit im Sinne einer echten IchDu-­Begegnung nicht erlaube.56 Rogers wurde nicht zuletzt durch diese Kritik Bubers zur Weiterentwicklung seines Ansatzes in Richtung der expliziten Person-Zentrierung angeregt, im Zuge dessen die interpersonale Beziehung gegenüber den therapeutischen Haltungen an Gewicht gewann.

und Praxis. Mit einem kommentierten Beratungsgespräch von Carl Rogers, Mainz: Grünewald-Verlag 1991, 238–256, hier bes. 241. 54 Vgl. Buber, Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers, 253f. 55 Vgl. ders., Heilung aus der Begegnung. Geleitwort zu Hans Trübs gleichnamigem Buch, in: Ders., Schriften zur Psychologie und Psychotherapie. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Judith Buber Agassi (Werkausgabe, Bd. 10), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008, 54–58. Buber sieht den Therapeuten als „Warter und Heiler kranker Seelen“ (54), der aber die bloße Fachmethodik übersteigen und die kranke Seele zu einer Beziehung zur Mitwelt führen sollte, weil die Seele „nie allein krank, immer ein Zwischenhaftes, ein zwischen ihr und anderen Seienden Bestehendes“ (57f ) sei. Vgl. auch ders., Das Unbewußte. Notizen von einem Seminar in der School of Psychiatry in Washington, in: Ders., Schriften zur Psychologie und Psychotherapie (Werkausgabe, Bd. 10). Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Judith Buber Agassi, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008, 217–235, hier 228f. 56 Vgl. ders., Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers, 241–250.

82

c) Existenzanalyse Den größten Stellenwert innerhalb der Psychotherapie-Szene erlangt das Dia­ logische Prinzip in der Existenzanalyse. Bei ihr handelt es sich um jene Psychotherapierichtung, die unter der Leitung von Alfried Längle die Grundgedanken der Logotherapie Viktor E. Frankls zu einem eigenständigen psychotherapeutischen Ansatz in Theorie und Praxis weiterentwickelt hat. Sie setzt ausdrücklich bei der personal-dialogischen Grundstruktur der menschlichen Existenz an. Unter Existenz versteht sie nicht ein faktisches Sein, sondern mit Jaspers und Frankl ein mögliches, fakultatives Sein, mit anderen Worten: ein sinnvoll, in Freiheit und Verantwortung gestaltetes und mit Entschiedenheit vollzogenes Leben in der je eigenen Welt.57 Existieren ist mit Heidegger ein Privileg des Menschen.58 Existieren statt bloßem Vorhanden-Sein ist dem Menschen möglich, weil er Person ist, das heißt eine Ganzheit aus Leib, Seele und Geist darstellt, die kraft ihrer Ansprechbarkeit, ihres Verstehens und ihrer Antwortfähigkeit in der Lage ist, gewissenhaft Stellung zu nehmen, innere Zustimmung zu finden, in Freiheit und Verantwortung authentisch zu leben, Werte zu verfolgen und Sinn zu verwirklichen.59 Person wird von Längle in Anlehnung an Frankl – etwas unspezifisch – als „das Freie im Menschen“60 begriffen. An anderer Stelle präzisiert er sein Verständnis und definiert Person als „das Echte im Menschen, das Tiefe, Authentische, das Eigentliche, das wahre Selbst“61 bzw. als die „tiefe, intime Innerlichkeit“62, die jedem Menschen je alleine gehört und aus der heraus er die persönlichen Entscheidungen verantwortlich treffen kann. Damit wird Person vom bloßen Maske-Sein abgegrenzt und zugleich in unmittelbare Nähe zum Gewissen gerückt bzw. sogar mit ihm gleichgesetzt. Die Existenzanalyse versteht sich auch ausdrücklich als „phänomenologisch-personales Psychothera-

57 Vgl. Längle, Lehrbuch zur Existenzanalyse, 18. 58 Vgl. Heidegger, Einleitung zu „Was ist Metaphysik?“, 370. 59 Vgl. Bauer, Emmanuel J., Verstehen als Existenzial menschlichen Daseins, in: Existenzanalyse 33, H. 1 (2016) 4–14. 60 Frankl, Viktor E., Frankl, Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie, in: Ders./ von Gebsattel, Viktor E./ Schultz, Johannes H. (Hg.), Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie – unter Einschluß wichtiger Grenzgebiete, Bd. 3, München/Berlin: Urban & Schwarzenberg 1959, 663–736, hier 684f. Vgl. u. a. Längle, Lehrbuch zur Existenzanalyse, 25. 61 Längle, Alfried, Die Aktualisierung der Person. Existenzanalytische Beiträge zur Personierung der Existenz, in: Existenzanalyse 31, H. 2 (2014) 16–26, hier 17. 62 Ebd.

83 pieverfahren“, für das der Begriff der Person zentral ist63 und welches das Ziel verfolgt, der Person des Menschen zum Durchbruch zu verhelfen.64 Da sich Person-Sein nur im Horizont eines dialogischen und interpersonalen Bezogen-Seins aktuell entfalten kann, geht die Existenzanalyse davon aus, dass der Mensch sich permanent in einem dynamischen Spannungsfeld von Interaktion und Kommunikation mit den physischen, psychischen und geistigen Wirklichkeiten der konkreten Welt bewegt. Er ist unumgehbar in ein dialogisches Verhältnis des Angesprochen-Seins und Antworten-Könnens bzw. Antworten-Müssens eingebunden. Das Neue gegenüber Bubers Dialogphilosophie liegt darin, dass die Existenzanalyse davon ausgeht, dass die Person nicht nur nach außen, sondern auch nach innen dialogisch offen ist. Längle bezeichnet diesen Grundsatz von der dialogischen Beziehung sowohl zur Außen-Welt als auch zur Innen-Welt als „existenzanalytisches Basistheorem“65. Demgemäß macht es das Wesen einer personal-existentiellen Situation aus, dass der Mensch nicht nur mit seiner Mit- und Umwelt, sondern auch mit sich selbst in einem ständigen dialogischen Austausch steht.66

63 Vgl. ders., Lehrbuch zur Existenzanalyse, 24f. 64 Vgl. ders., Die Aktualisierung der Person, 16 und 19. 65 Vgl. ders., Lehrbuch zur Existenzanalyse, 40ff. Die Intimität als Begegnung der Person mit sich selbst wird auch ausgeführt in: Ders., Psychotherapie – Methode oder Spiritualität? Zum Verhältnis von Immanenz und Transzendenz am Beispiel der Existenzanalyse, in: Schmidinger, Heinrich (Hg.), Geist – Erfahrung – Leben. Spiritualität heute. Im Auftrag des Direktoriums der Salzburger Hochschulwochen als Jahrbuch hrsg. von Heinrich Schmidinger, Innsbruck-Wien: Tyrolia 2001, 177–206, hier 197f. 66 Vgl. Bauer, Emmanuel J., Personal-existentieller Dialog als Bedingung authentischen Selbst-Seins bzw. Selbst-Werdens, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 62 (2017) 9–29, hier 14–18.

84 Dieses Basistheorem ist getragen von der Überzeugung, dass das Leben nur dann ein personales und erfülltes sein kann, wenn der Mensch sowohl mit sich und seinem Gewissen als dem innersten Gespür für das Richtige als auch mit der Welt in einem lebendigen Austausch steht. Die Interaktion mit dem Außen ist wichtig, damit er die konkreten Herausforderungen und realen Möglichkeiten erkennt, die Abstimmung mit dem eigenen Gewissen ist nötig, damit er das Je-Eigene und Wertvollste entdecken und sich für dessen Verwirklichung entscheiden kann. Ohne Beziehung nach außen verkümmert der Mensch, ohne Beziehung mit dem inneren Selbst droht Heteronomie und damit der Verlust von Selbstbestimmung und Authentizität. Ohne Beziehung zu sich selbst wäre vor allem keine personale Stellungnahme möglich. Diese macht aber den entscheidenden Unterschied zu einem bloß psychodynamisch gesteuerten Stimulus-Response-Verhalten aus. Sie spannt gleichsam den Horizont der Freiheit und der Existenz auf. Die auf dem Verstehen aufbauende Stellungnahme im Gewissensurteil bildet so gesehen die personale Mitte zwischen Eindruck und Ausdruck bzw. zwischen Anfrage und Antwort.67 Längle versteht übrigens den inneren Dialog in diesem Zusammenhang – aus meiner Sicht etwas problematisch – als Gespräch zwischen Ich und Person.68 Dabei komme es darauf an, dass der Person der nötige Raum verschafft wird, dass sie im Ich zur Erscheinung kommt und dieses nicht ins Unpersönliche abgleitet, dem rein Körperlich-Triebhaften verfällt oder in seinen Verletzungen gefangen bleibt. So wichtig dieser zweite Aspekt des Dialogischen, also das intrapersonale Gespräch, auch ist, als das ontogenetisch Ursprünglichere und Fundamentalere muss dennoch mit Buber die interpersonale Ich-Du-Begegnung betrachtet werden.69 Schließlich ist der dialogische Austausch mit anderen für den existentiell Fragenden und Befragten unentbehrlich. Denn die großen Fragen des Lebens kann der Mensch nicht allein, im einsamen Zwiegespräch mit sich selbst beantworten. Der echte Dialog eröffnet den Raum, sich existentiell bedrängenden Fragen zu stellen, und wird zum Ort des Aufspürens der subjektiven Wahrheit. Vor allem aber vollzieht sich das Wachsen des Selbst und das Reifen der selbstständigen Existenz nicht primär im Verhältnis des 67 Vgl. ders., Verstehen als Existenzial menschlichen Daseins, 13. 68 Vgl. Längle, Die Aktualisierung der Person, 17. 69 In diesem Sinn betont Buber, dass das Gespräch mit sich selber erst von der Grundtatsache des interpersonalen Gesprächs aus als dessen Verinnerlichung möglich ist. Vgl. ders., Das Wort, das gesprochen wird (1960), in: Ders., Sprachphilosophische Schriften. Bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Asher Biermann (Werkausgabe, Bd. 6), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2003, 125–137, hier 128.

85 Einzelnen zu sich selbst, sondern in der Erfahrung der gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung zwischen Ich und Du.70

4. Kritisches Resümee Aus diesem Überblick ist deutlich geworden, dass das Dialogische Prinzip in den drei dargestellten Psychotherapie-Richtungen jeweils eine durchaus bestimmende Rolle spielt, und das unter den zwei zentralen Gesichtspunkten: Zum einen vor allem unter dem Aspekt des ursprünglichen Verständnisses des Dialogischen Prinzips als Begegnung zwischen Ich und Du. Letztlich wird von allen dreien dem personalen Vollzug der therapeutischen Beziehung eine exemplarische und heilende Wirkung zugeschrieben. In der Gestalttherapie soll das Dialogische Prinzip die eigenen Kräfte zur Selbstorganisation und Selbstheilung stärken und den Prozess der selbstverantwortlichen Persönlichkeitsintegration mobilisieren. In der Personenzentrierten Psychotherapie soll die offene und empathische personale Haltung des Therapeuten dem Klienten die eigene Inkongruenz bewusst machen und ihn zu radikaler Selbstannahme und Reorganisation des Selbst ermutigen. Und die Existenzanalyse sieht im therapeutischen Gespräch den Ort, an dem personale Begegnung exemplarisch erlebt wird, grundlegende personale Kompetenzen – wie Selbstannahme, Selbst-Distanzierung, innere Stellungnahme, Sich-Entscheiden, Selbst-Transzendenz und Sich-Hingeben an eine Person oder eine Aufgabe – gefördert werden und das eigene Person-Sein wieder zu neuem Leben erwacht. Dieser erste Aspekt lässt aber bei näherem Hinsehen auch einige problematische Faktoren zum Vorschein kommen. Denn auch wenn das Dialogische Prinzip seinem Kerngedanken nach von der Psychotherapie aufgegriffen wurde, lassen sich aufgrund der spezifischen Rahmenbedingungen eines therapeutischen Settings meines Erachtens doch nicht alle essentiellen Merkmale und Konstituenten der Ich-Du-Begegnung, wie sie Buber beschreibt,71 umsetzen. Insbesondere ist es kaum vorstellbar, dass zwischen Klienten und Therapeuten die elementare Voraussetzung eines echten Dialogs zu verwirklichen sein 70 Vgl. Bauer, Personal-existentieller Dialog, 28f; und Buber, Urdistanz und Beziehung, 52. 71 Vgl. Buber, Martin, Zwiesprache, in: Ders., Das dialogische Prinzip, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 71994, 137–196; und ders., Elemente des Zwischenmenschlichen, in: Ders., Schriften zur Psychologie und Psychotherapie. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Judith Buber Agassi (Werkausgabe, Bd. 10), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008, 90–105.

86 wird, nämlich die Gegenseitigkeit hinsichtlich der „personale[n] Vergegenwärtigung“72. Diese bedeutet das Innewerden und Meinen des Anderen in seiner Andersheit, was soviel besagt wie, „seine Ganzheit als vom Geist bestimmte Person wahr[zu]nehmen“73. Ob diese Forderung von einem psychisch kranken Menschen von Anfang an und durchgehend erwartet werden kann, erscheint mehr als fraglich. Dieselben Zweifel hegte, wie wir weiter oben sahen, ja auch Buber in seinem öffentlichen Dialog mit Rogers. Der Therapeut vermag wohl den Klienten in seinem Personsein so zu sehen wie er ist, aber umgekehrt könne doch der Klient, der in der Absicht kommt, Hilfestellung zu erhalten, den Therapeuten nicht interesselos als die Person sehen, die er ist.74 Mit Ambivalenz behaftet ist auch die von Buber geforderte gegenseitige rückhaltlose Offenheit. Wenngleich Echtheit und Authentizität für den Therapeuten unverzichtbar sind, wird die rückhaltlose Offenheit aus therapeutischen Gründen doch bisweilen einer gezielten Abstinenz den Vortritt lassen müssen. Die anderen Bedingungen echten Dialogs sollten auf jeden Fall vom Therapeuten verwirklicht werden und in gewissem Maß auch vom Klienten erfüllbar sein, nämlich die Authentizität, der Respekt vor der Würde, Andersheit und Freiheit des Anderen, das Annehmen und das achtsame Da-Sein. Zumindest muss es das Ziel in einer Therapie sein, dass auch der Klient früher oder später zu dieser Art eines personalen echten Gesprächs in der Lage ist. Allerdings kann man wohl auch sagen, dass dann, wenn der Klient zu einem echten personalen Dialog im vollen Sinn des Wortes fähig ist, letztlich auch das Stadium, in dem eine psychotherapeutische Behandlung im engeren Sinn indiziert ist, überwunden wurde. Schließlich gilt es noch einen Punkt aus Bubers Kriterien des echten Dialogs hervorzuheben, der für die psychotherapeutische Praxis von größter Relevanz ist, nämlich seine nachhaltige Mahnung, sich dem Anderen unter keinen Umständen „aufzuerlegen“.75 Echte personale Begegnung kann Bubers Meinung nach nur gelingen, wenn beide Gesprächspartner auf jegliche Art von Suggestion oder Manipulation verzichten. Diese Gefahr, dem Anderen die eigene Wahrheit oder das für den Anderen aus eigener Sicht Beste zu insinuieren, das heißt, es ihm so subtil einzuflüstern, dass er schließlich meint, es sei seine eigene Überzeugung oder Erkenntnis, ist jedoch gerade in einer psychotherapeutischen Beziehung, wo ganz unmerklich ein strukturell bedingtes 72 Buber, Elemente des Zwischenmenschlichen, 98. 73 Ebd., 97. 74 Vgl. ders., Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers, 242. Buber sagt hier vom Klienten: „Aber er ist nicht interessiert an Ihnen als wer Sie sind.“ 75 Vgl. ders., Elemente des Zwischenmenschlichen, 99–102.

87 Autoritäts- und Machtgefälle entstehen kann, besonders groß und darf daher nicht unterschätzt werden.76 Zum anderen findet das Dialogische Prinzip aber auch in der Form des Gesprächs mit sich selbst innerhalb der genannten Psychotherapie-Schulen Beachtung. Dieser Aspekt des Dialogischen spielt zwar bei Perls und Rogers77 auch eine gewisse Rolle, aber nicht in der Intensität wie bei Längle. Allerdings birgt auch diese Konzeption durchaus prekäre Punkte in sich. Das eine Problem, das sich hier auftut, ist die Frage, ob Selbstgespräch überhaupt ein echter Dialog sein kann. Buber hatte damit ja bekanntlich seine Schwierigkeiten. In seinem Beitrag Das Wort, das gesprochen wird 78 verwehrt er sich dagegen, das Selbstgespräch als ursprüngliche Form des Gesprächs anzuerkennen. Es kann streng genommen nicht einmal als „vollgültiges Gespräch“ verstanden werden.79 Viel lieber würde er dafür einen eigenen Begriff zwischen Monolog und Dialog einführen.80 Denn es fehle ihm die entscheidende ontologische Voraussetzung des Gesprächs, nämlich die Andersheit des Gegenübers und damit die Überraschung. „Die menschliche Person ist sich selbst nicht in dem Sinn unvorhersehbar wie irgendeiner ihrer Partner: darum kann sie sich selbst kein echter Partner, kann sich kein realer Fragender und kein realer Antwortender sein.“81 Irgendwie und irgendwo – sei es im Bereich des Unbewussten oder des Bewussten – weiß die Person doch schon ihre Antwort. Diese Kritik ist zweifelsohne ernst zu nehmen. Deswegen sollte man davon ausgehen, dass die innere Zwiesprache ein sekundäres Phänomen darstellt, das nur unter der Voraussetzung der ontogenetisch vorgängigen Erfahrung realer Ich-Du-Begegnungen möglich ist. Allerdings sollte man, um Bubers Kritik 76 Auf diese Gefahr hat Martin Buber selbst in einem von Maurice Friedman aufgezeichneten wissenschaftlichen Gespräch über Grundtheoreme der Psychoanalyse explizit hingewiesen. Buber geht davon aus, dass der gewöhnliche Therapeut sich dem Patienten aufdrängt, ohne es gewahr zu werden, etwa indem die Interpretation dessen, was der Klient vorbringt, für ihn schon im Vorhinein feststeht. Es braucht daher „die bewußte Befreiung des Patienten von dieser unbewußten Aufdrängung des Therapeuten – indem er den Patienten wirklich sich selbst überläßt und abwartet, was dabei herauskommt.“ Ders., Das Unbewußte, 230. Er fordert, anders gesagt, eine phänomenologische Haltung. Vgl. auch ders., Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers, 243f. 77 Rogers betont im erwähnten öffentlichen Dialog mit Buber, dass er „die Beziehung der Person zu sich selbst […] für eine der wichtigsten Arten von Treffen oder Beziehungen halte.“ Ebd., 250. 78 Vgl. ders., Das Wort, das gesprochen wird, 125–137. 79 Vgl. ebd., 129. 80 Vgl. ders., Öffentlicher Dialog zwischen Martin Buber und Carl Rogers, 251. 81 Ders., Das Wort, das gesprochen wird, 129.

88 richtig einordnen zu können, auch bedenken, dass er das Selbstgespräch mit dem denkerischen Monolog gleichsetzt. Doch das deckt sich zum Beispiel mit dessen Verständnis in der Existenzanalyse nicht, wo Selbstgespräch gerade nicht ein vom Kopf dominiertes Grübeln besagt. An diesem intrapersonalen Aspekt des Dialogischen Prinzips eröffnet sich aber noch ein zweiter Problembereich. Nimmt man nämlich die Gewichtung des inneren Gesprächs ernst, dann muss man sich auch der Frage nach dem Verhältnis von Ich und Selbst stellen. Wenn Perls das Selbst als System der je aktuellen Kontakte bzw. Grenz­ interaktionen definiert,82 dann versteht er es als aktive, dynamische Größe, genauer gesagt als Prozess der stets neuen Konstruktion von Wirklichkeit an der Grenze zwischen inneren und äußeren Erfahrungen. An diesem Selbst unterscheidet er, wie wir gesehen haben, drei Hauptfunktionen, nämlich das Es (als den lebensgeschichtlichen Hintergrund), das Ich (als das permanente Regulieren), und die Persönlichkeit (als das gewachsene Selbstverständnis). Nach Auffassung von Rogers ist das Selbst die organisierte, aber stets fließende Gestalt.83 Es konstituiert sich aus den Annahmen der Person über die eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften, die sie aus der je neuen Selbsterfahrung im Umgang mit den verschiedenen Lebenssituationen und aus den bewertenden Rückmeldungen von signifikanten Bezugspersonen ableitet. Das heißt zusammengefasst, „das Selbst ist das Resultat der Interaktion und Auseinandersetzung einer Person mit ihrer Umwelt, insbesondere der sozialen Umwelt.“84 Insofern diese Interaktionen und Rückmeldungen immer quasi ausgewertet werden müssen, manifestiert sich das Selbst unter anderem auch wesentlich als Produkt des intrapersonalen Gesprächs. Längle setzt an manchen Stellen das Ich stillschweigend mit Person gleich.85 Das hieße aber, das Person-Sein auf die rational-aktive Subjektivität des Menschen zu reduzieren. Wohl deswegen betont er dagegen an anderen Stellen explizit die Differenz zwischen Ich und Person, wobei er in beinahe dualistischer Weise dem die Existenz aktiv gestaltenden Ich die als ursprüngliche Tiefe und Seins-Resonanz-Fähigkeit verstandene Person gegenüberstellt.86 Ihnen schreibt er unterschiedliche Aufgaben zu, dem Ich das Fassen des Willens und das Tref82 Vgl. Perls, Frederic S./ Hefferline, Ralph F./ Goodman, Paul, Gestalt-Therapie, Bd. 1: Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung (Orig.: Gestalt Therapy. Excitement und Growth in the Human Personality). Aus dem Amerikanischen übersetzt von Wolfgang Krege und Monika Ross, Stuttgart: Klett-Cotta 51991, 160–163. 83 Vgl. Rogers, Eine Theorie der Psychotherapie, 31. 84 Hutterer, Personenzentrierte Psychotherapie, 188. 85 Vgl. z. B. Längle, Lehrbuch zur Existenzanalyse, 46ff. 86 ders., Die Aktualisierung der Person, 17f.

89 fen von Entscheidungen, der Person das Erschauen des Wesentlichen und Eigentlichen. Allein schon im Hinblick auf diese unterschiedlichen Kompetenzen sei es daher notwendig, dass das Ich mit der Person ständig im Gespräch ist. Das Ich sollte den inneren Zuspruch der Person wahrnehmen und ihm folgen, um ganzheitlich sein zu können. Abgesehen davon, dass in solchen Formulierungen die Vorstellung von zwei eigenständigen Entitäten mitschwingt, wird hier letztlich die Person mit dem Gewissen, dem inneren Gespür für das Wahre und Wesentliche, gleichgesetzt und das Ich aus der Person ausgeklammert. Doch angesichts dieser Implikationen stellt sich die Frage, ob man damit dem Wesen bzw. der Ganzheit der Person gerecht wird. Eine adäquate Lösung könnte darin liegen, das Person-Sein und SelbstSein als in sich dialogisch konstituiert aufzufassen.87 Der Mensch ist Person, insofern er in sich sowohl die Fähigkeit und Aktualität des bewussten Ich als auch die des intuitiven Gewissens hat. Das Selbst als die Mitte der Person des Menschen darf vor allem nicht in rationalistischer Manier mit dem autonomen Subjekt im Sinne des selbstbewussten reflexiven ego cogitans des Descartes gleichgesetzt werden. In anderer Weise griffe es ebenso zu kurz, das Selbst als rein empirische Größe zu begreifen, wie dies bei William James (1842–1910) der Fall war. In seinen Principles of Psychology (1890) trifft er erstmals die nachhaltige Unterscheidung zwischen dem „Mich“ als das zum Bewusstsein kommende empirische Selbst und dem Bewusstsein habenden, rein geistigen „Ich“.88 Doch diese Dichotomie wird der geistig-relationalen Wirklichkeit der Person nicht gerecht. Die Person muss als dasjenige verstanden werden, was in sich das „Ich selbst“ ist. Das heißt sie ist (ihrem Sein nach) ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und – wie Kierkegaard aufgezeigt hat – in diesem Zusich-selbst-Verhalten sich gleichzeitig immer zu etwas oder jemand anderem verhält.89 Dieses Andere können nun menschliche Personen oder Gott oder 87 Vgl. dazu Bauer, Personal-existentieller Dialog, 16–18. 88 Vgl. James, William, Psychologie. Übersetzt von Marie Dürr mit Anm. von E. Dürr, Leipzig: Quelle & Meyer 1909, 174–216; ders., The principles of psychology, New York: Dover Publications, Inc. 1950, 291–401; und ders., Psychology: Briefer course (The Works of William James), Cambridge, Mass. [u.a.]: Harvard Univ. Press 1984, 159–191. 89 Kierkegaard versteht das Geist- und Selbst-Sein des Menschen nicht als absolute, unbedingte Größe, sondern als ein von höherer Macht gesetztes Selbst. „Ein solches abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und sich, indem es sich zu sich selbst verhält, zu etwas anderem verhält.“ Kierkegaard, Sören, Die Krankheit zum Tode. Übersetzt, mit Einleitung und Kommentar hrsg. von Hans Rochol (Philosophische Bibliothek, Bd. 470), Hamburg: Meiner 1995, I.A, 9f.

90 geistige Werte sein, mit denen das Ich in je spezifischer Weise im Gespräch steht. Die personale Struktur des Menschen impliziert, dass er ontologisch gleich ursprünglich mit sich selbst und mit anderen in Beziehung ist. Vollzieht er die Beziehung zu sich selbst bewusst in einem inneren Dialog, dann begegnet das Ich als aktiv Fragendes und Denkendes dem inneren Selbst als passiv Befragtes und gleichzeitig aktiv Antwortendes. Das personale Selbst ist also in sich, auch intrinsisch, durch eine dialogische Struktur konstituiert.90 Das schließt nicht aus, dass das Selbst im weiteren Sinn auch die Überzeugungen, Rollen, Aufgaben und Dinge umfasst, mit denen sich ein Mensch identifiziert.

90 In diesem Sinn geht Hubert J. M. Hermans in seiner Dialogical Self Theory davon aus, dass Differenz, Andersheit und Fremdheit nicht nur interpersonal, sondern auch intrapersonal in der Spannung und im Austausch von verschiedenen Ich-Positionen erfahren werden kann. Vgl. Hubert J. M. Hermans / Thorsten Gieser, Introductory chapter: History, main tenets and core concepts of dialogical self theory, in: Dies. (Hg.), Handbook of dialogical self theory, New York: Cambridge University Press 2012, 1–22.

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ALEIDA ASSMANN

Individuelle und kollektive Grundlagen des dialogischen Prinzips 1. Einleitung: Eine Heidelberger Geschichte Der Dialog als literarische Gattung und Form der Lehre hat eine lange und ehrwürdige Tradition. Ausgehend von Platons philosophischen Lehrgesprächen hat er in Antike und Spätantike, Mittelalter und Neuzeit eine kontinuierliche Nachfolge gefunden. Diese Dialog-Tradition steht ebenso für die Vermittlung von Wissen wie für das Generieren von Ideen und den Prozess des Denkens selbst, der niemals nur aus einem Kopf allein möglich ist, sondern immer schon den Meister und Lehrer oder das alter ego mit einschließt. Das dialogische Prinzip allerdings und das moderne dialogische Denken jedoch, das habe ich erst auf der Tagung gelernt, die diesen Band hervorgebracht hat, hat eine sehr viel kürzere Geschichte. Seine Geburtsstunde geht auf die Zeit vor und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zurück. Damals entstand ein neues Menschenbild und mit ihm eine neue Vorstellung von den sozialen und psychologischen Voraussetzungen und Grundlagen des gemeinsamen Zusammenlebens. Während Siegfried Kracauer über ‚humane Tugenden‘ nachdachte und die Frage nach einem neuen Gesellschaftsvertrag stellte, entwickelten Martin Buber und Ferdinand Ebner ihre Gedanken über die Beziehung zwischen Ich und Du als Basis des sozialen Zusammenhangs. Das dialogische Prinzip hat auch eine Heidelberger Vorgeschichte, an die ich selbst über einige Vermittlungsstufen im Modus der ‚oral history‘ noch angeschlossen bin. An der Universität Heidelberg hat in den 1920er Jahren der Philosoph Karl Jaspers gelehrt. Einer seiner Schüler war Dolf Sternberger, der später eine Stelle als Redakteur an der ‚Frankfurter Zeitung‘ antrat. Sehr viel später, es war wohl 1986, in einem Jubiläumsjahr der Universität Heidelberg, hat er sich in einem öffentlichen Vortrag, den ich gehört habe, über seine Studienzeit geäußert. Er schilderte dabei sehr anschaulich die Themen, Schlüsselworte und den Geist dieser Jaspers-Seminare. „Einer der wichtigen Begriffe war Kommunikation“ teilte uns Sternberger mit. Ich sehe heute noch, wie sich sein Gesichtsausdruck verzog, als er weitersprach, und jetzt zitiere ich

92 seine Worte so gut ich kann aus dem Gedächtnis. Ich habe sie bis heute nicht vergessen, weil sie mir sehr wichtig waren: „Das Wort Kommunikation ist heute entzaubert. Es ist zu einem Allerweltswort geworden und wird mit Gesellschaft, Sprache, Medien oder Technik gleichgesetzt. Jaspers Begriff ‚Communication‘ hatte einen ganz anderen Klang. Dieses Wort wurde mit ‚C‘ geschrieben und bezeichnete eine existentielle Verbindung zwischen zwei Individuen, die miteinander in einen authentischen Dialog treten. Dieser Dialog war keine oberflächliche oder episodische Angelegenheit, sondern eine gemeinsame lebenslange Verpflichtung auf zentrale Grundwerte.“

Und Sternberger fuhr fort: „Damit machte Jaspers auf seine Studenten einen gewaltigen Eindruck. Man konnte es schon bald feststellen: In seinen Seminaren bildeten sich so-genannte ‚Jaspers-Paare‘, die dieses Programm in die Tat umsetzten.“1 Zu diesen Paaren gehörten Erwin Walter Palm und Hilde Domin, die damals ebenfalls in der Vorlesung waren und mir die Richtigkeit der Sternberger-Erinnerungen bestätigten. 1948 ging Jaspers nach Basel, der nicht mitansehen konnte und wollte, wie die Altnazis an der Universität wieder in den Chefetagen einrückten. Zum Netzwerk des ehemaligen Widerstands und Wiederaufbaus gehörten in Heidelberg außer Karl Jaspers und Alfred Weber in der jüngeren Generation Emil Henk, Dolf Sternberger und Alexander Mitscherlich. Mit Mitscherlich gründete Sternberger 1946 die ‚Heidelberger Aktionsgruppe für Demokratie und Freien Sozialismus‘. Ihr stand auch Lambert Schneider nahe, der in Heidelberg nach dem Krieg einen neuen Verlag gründete und sich damit für die Unterstützung einer demokratischen Öffentlichkeit einsetzte. Er war es, der die Werke von Martin Buber herausbrachte, allen voran den Band Ich und Du. Mein Beitrag gliedert sich in drei Teile, die sich dem Thema des Dialogs von unterschiedlichen Perspektiven aus annähern. Im ersten Teil geht es um philosophische und theologische Fragen nach dem Zusammenhang von Dialog und Wahrheit. Denker aus so unterschiedlichen Epochen wie Jaspers (20. Jh.), Milton (17. Jh.) und Lessing (18. Jh.) haben sich gegen absolute Wahrheitsbegriffe ausgesprochen. Für den, der bereits im Besitz der Wahrheit ist, ist der Weg in den Dialog blockiert. Umgekehrt gilt, dass die gemeinsame Suche nach Wahrheit eine Grundvoraussetzung für den Dialog darstellt. Im zweiten Teil geht es um den Aufbau eines modernen Menschenbildes in der frühen 1 Eine gute Bestätigung meiner Erinnerung an diesen Vortrag habe ich bei Sean A. Forner gefunden: German Intellectuals and the Challenge of Democratic Renewal. Culture and Politics after 1945, Cambridge: CUP 2014, 79.

93 Aufklärung in England und um Shaftesbury als Vordenker des Dialogs, den er vom Delphischen Orakel (‚Erkenne Dich selbst‘) und vom Selbstgespräch auf der Theaterbühne ins Innere eines Menschen verlegt. Dieses innere Selbstgespräch macht Shaftesbury erstmalig zur Grundlage einer neuen dialogischen Gesellschaftsordnung. Im dritten Teil wird ein Sprung von der individuellen auf die kollektive Ebene versucht. Die Frage dabei lautet: Lassen sich die Grundlagen des dialogischen Prinzips auch auf die Kommunikation zwischen Nationen anwenden?

2. Jaspers, Milton und Lessing: Der Verzicht auf absolute Wahrheit Die moderne westliche Kultur hat den Monotheismus hervorgebracht und zeichnet sich durch ein starkes Engagement für Wahrheit aus, doch gleichzeitig hat sie die Wissenschaft und mit ihr ein kritisch reflexives Verhältnis zu dieser Wahrheit aufgebaut. Das Infragestellen von Wahrheitsansprüchen, das Untergraben von Sicherheiten und die Forderung nach Innovationen gehören seither zum Kernbestand moderner Kulturen. Absolut gesetzte Ansprüche auf Wahrheit wurden dabei immer wieder selbst-kritisch als ‚Mythen‘ und ‚Fabrikationen‘ durchleuchtet. Im Kontext der Wissenschaft wird Wahrheit als etwas betrachtet, das zwar unentwegt gesucht und entdeckt, aber nicht abschließend erreicht, geschweige denn besessen werden kann. Wahrheit, wenn man so will, existiert in dieser Kultur als ein bewegliches Ziel in einem kontinuierlichen Prozess von Frage und Antwort, Versuch und Irrtum. Der amerikanischer Philosoph Ralph Waldo Emerson hat diese Skepsis gegenüber einer Wahrheit, die man sich aneignen und zum festen Besitz macht, in seinen Texten immer wieder zum Ausdruck gebracht. Er warnte zum Beispiel davor, ihn als einen Guru zu wählen, dem man bedingungslos folgen möchte: „Ich untergrabe alles. Keine Fakten sind mir heilig, keine sind profan. Ich experimentiere einfach und bin immer auf der Suche – ohne Vergangenheit.“2 Wahrheit und Wahrhaftigkeit waren auch zentrale Begriffe in den Werken des deutschen Philosophen Karl Jaspers im 20th Jahrhundert. Er wandte sich entschieden gegen alle Formen der Verzerrung von Wahrheit, darin sah er die Voraussetzung für Akte der Gewalt und die größte Gefahr des Friedens in 2 „I unsettle all things. No facts are to me sacred; none are profane; I simply experiment, an endless seeker, with no Past at my back.“ Ralph Waldo Emerson, „Circles“ (1841) in Selected Writings of R. W. Emerson. Ed.: W.H. Gilman. New York/London: New American Library, 1965, 304.

94 der Welt. Jaspers Gedanken zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit haben in unserem sogenannten postfaktischen Zeitalter von fake news and ‚alternative facts‘ eine neue Dringlichkeit bekommen. „Daher ist die Unwahrheit das eigentlich Böse, jeden Frieden Vernichtende: die Unwahrheit von der Verschleierung bis zur blinden Lässigkeit, von der Lüge bis zur inneren Verlogenheit, von der Gedankenlosigkeit bis zum doktrinären Wahrheitsfanatismus, von der Unwahrhaftigkeit des einzelnen bis zur Unwahrhaftigkeit des öffentlichen Zustandes.“3

Gefahr geht für Jaspers nicht nur von denen aus, die die Wahrheit verdrehen, sondern auch von denen, die sie gepachtet haben. Die größte aller Unwahrheiten ist für ihn die, sich selbst im Vollbesitz und womöglich auch noch Exklusivbesitz der Wahrheit zu wähnen: „Niemand weiß, was die Welt im Ganzen ist, wohin sie geht. Die Reinheit dieses Nichtwissens ermöglicht erst, was wir Wahrheit nennen oder Vernunft oder Gottesdienst.“ Diese Einsicht hat er in zwei weiteren Kernsätzen zusammengefasst: „Mit der Wirklichkeit unserer Wahrheit sind wir immer nur auf dem Wege. Niemand hat sie, wir alle suchen sie.“ Im verzerrten Verhältnis zur Wahrheit sah Jaspers den wichtigsten Grund für den Unfrieden in der Welt. Deshalb dachte er nach dem Zusammenbruch Europas in zwei Weltkriegen verantwortlich über die Zukunft Europas nach. Dabei entwickelte er eine trans-Europäische Perspektive auf die Geschichte, in der er nicht mehr das hervorhob, was Kulturen voneinander unterscheidet, sondern das, was sie gemeinsam haben. Die Betonung der gemeinsamen Reinheit des Nichtwissens spielte dabei eine bedeutende Rolle und war ein wichtiger Beitrag zu Aufklärung und friedlichem Zusammenleben. An dieser Stelle möchte ich einige Sätze eines Engländers einfließen lassen, der Jaspers Gedanken um 300 Jahre vorweggenommen hat. Ich denke an die eindrucksvolle Rede Areopagitica (1644), in der der Dichter John Milton das Englische Parlament adressierte, um die Puritaner von Akten der Zensur abzubringen und die Freiheit der Presse zu verteidigen. Für seine Argumentation griff er auf einen ägyptischen Mythos von Isis und Osiris zurück, den er bei Plutarch fand: „Einst kam die Wahrheit in die Welt mit ihrem göttlichen Meister und war von vollkommener Gestalt und herrlich anzusehen. Doch als er in den Himmel fuhr und seine Apostel danach schliefen, entstand ein böses Pack von Lügnern, die mit der Wahrheit so umgingen wie im ägyptischen My3 Karl Jaspers, „Wahrheit, Freiheit, Friede“, in: Dankesrede für den Friedenspreis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels 1958, 7–13; 13.

95 thos der Verfolger mit dem guten Osiris. Sie bemächtigten sich der Jungfrau Wahrheit, zerschlugen ihre schöne Gestalt in 1000 Stücke und zerstreuten sie in alle Winde. Seither sind die traurigen Freunde der Wahrheit wie vormals Isis landauf landab in einer sorgfältigen Suche damit beschäftigt, die zerstreuten Teile des Osiris Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. Wir haben sie noch nicht alle gefunden, meine Herren, und werden sie auch nicht alle finden bis zur Wiederkunft ihres Herrn.“ 4

Diese wahrhaftig aufgeklärten Worte wurden mitten im englischen Bürgerkrieg ausgesprochen. 150 Jahre vor dem Zeitalter von Lessing und Kant argumentierte Milton, dass es in dieser Welt keinen Anspruch auf Wahrheit als einen exklusiven Besitz gibt. Mit seinen Worten hat Milton den zentralen Unterschied zwischen dem Besitz der Wahrheit und der Suche nach Wahrheit um 130 Jahre vorweggenommen, den die Aufklärer später zum Grundstein ihres Denkens gemacht haben. In einem Essay Über die Wahrheit (1777) hat Lessing dieses Prinzip der Aufklärung eindrucksvoll und unvergesslich zum Ausdruck gebracht hat: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. – Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“5

Wir dürfen nicht übersehen, dass trotz der Ähnlichkeit der Argumentation ein wichtiger Unterschied besteht zwischen den Positionen von Milton und Lessing. Während Milton in einem religiösen demokratischen Zeitalter eines göttlichen Geistes lebt, der von oben in gleicher Weise über alle Menschen 4 „We have not yet found them all, Lords and Commons, nor ever shall do, till her Master’s second coming.“ Milton, Areopagitica, in Milton’s Prose, hg. von Walcom Wallace, London: Oxford UP 1963, 311. 5 Gotthold Ephraim Lessing, Eine Duplik. (1778) In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. 13. Band, hg. Karl Lachmann, Leipzig: Göschen’sche Verlagshandlung, 1897, S. 23–24.

96 ausgeschüttet wird und deshalb in jedem Menschen Fuß oder eher Kopf fassen kann, lebt Lessing in einem säkularen Zeitalter, in dem sich die Menschen auf ihren eigenen Geist verlassen und dessen Antrieb und Bewegung sie optimistisch zur Grundlage ihrer (auf Wissenschaft und Rationalität beruhenden) Fortschrittsideologie einer „wachsenden Vollkommenheit“ machen. Dennoch dürfen wir trotz des Unterschieds zwischen dem religiösen und dem aufgeklärten Denker den wichtigen gemeinsamen Gedanken festhalten, dass der Anspruch auf Vollbesitz der Wahrheit jedem Dialog die Grundlage entzieht. Wir sind heute geneigt, die Epochenschwelle der Aufklärung mit ihrer Sattelzeit um 1770 zu einer absoluten Grenze zwischen religiöser und säkularisierter Weltsicht zu stilisieren. Dabei übersehen und verkennen wir aber wichtige Ähnlichkeiten und Einsichten, die durch diese rigide Kategorisierung verloren gehen. Für das Beispiel Milton bedeutet dies: Das dialogische Prinzip ist nicht erst eine Entdeckung der Aufklärung, sondern bereits als ein liberaler und humanisierender Gedanke innerhalb einer religiösen Weltsicht entstanden. Beispiele für das dialogische Prinzip innerhalb von Religionen können heute eine produktive Grundlage für ein dialogisches ‚Weltethos‘ sein, die durch eine rigide Grenzziehung zwischen unaufgeklärt und aufgeklärt, religiös und säkular vereitelt wird. Karl Jaspers, um auf ihn noch einmal zurückzukommen, ging es angesichts der aktuellen Erfahrung der Selbstzerstörung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg um dieselbe Zähmung des Anspruchs auf das Absolute, um die Einschränkung des Freund-und-Feind-Denkens und um die Überwindung des Eurozentrismus. In seinem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1948) stellte er deshalb sein Konzept einer ‚Achsenzeit‘ als ein neues Denkmodell vor, das als eine Kritik und Revision des von Spengler popularisierten Konzepts der geschlossenen Kulturkreise zu verstehen ist. Jaspers entdeckte Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen und Religionen, wo Spengler nur Unterschiede gesehen hatte, und verwandelte mit dieser Perspektive ein absolutistisch-monologisches Denkmodell in ein global-dialogisches.6

6 Vgl. Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, München: Beck, 2018. Der hier hervorgehobene Gegensatz zwischen Spengler und Jaspers spielt in Assmanns Buch keine Rolle. Der Gedanke findet sich aber auch bei Gilbert Merlio, „Jaspers als Anti-Spengler“, in: Dietrich Harth, Karl Jaspers: Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie, Stuttgart: Metzler, 1989, 65–86.

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3. Shaftesbury und die Kultur des inneren Zwiegesprächs Mit Beginn der Neuzeit entstand ein neues Menschenbild, das sich aus dem christlich-theologischen Weltbild löste und damit auch neue Konzepte von Identität, Alterität und Dialog hervorbrachte. Der Identitätsdiskurs beginnt in der Neuzeit mit der Unterscheidung zwischen zwei grundsätzlichen Formen von Identität, die Paul Ricoeur als zwei wichtige Komponenten des Identitäts-Diskurses herausgearbeitet hat.7 Er unterscheidet einerseits eine ‚Idem-Identität‘, die an unbelebten Gegenständen und Körpern entwickelt wurde und nun auch auf die Selbigkeit und Beständigkeit von Personen übertragen wurde, und andererseits eine ‚Ipse-Identität‘, die auf einem reflexiven Selbstverhältnis beruht. Während der englische Philosoph John Locke zum Beispiel die personale Identität als Selbigkeit über den Wandel der Zeit hinweg mithilfe der Brückenfunktion der Erinnerung etablieren wollte, verweigerte sich sein Landsmann David Hume solchen Konstruktionen, die er als ‚Fiktion‘ zurückwies: „Wir erfinden ein Kontinuum in unserer sinnlichen Wahrnehmung, um den Bruch zu kaschieren; wir erfinden eine Seele, ein Selbst, eine Substanz, um den Wandel unsichtbar zu machen.“8 Hume kehrte Differenz, Bruch und Wandel hervor und wies Kontinuität und Beständigkeit als Konstrukt und Erfindung zurück. Er wollte nichts wissen von der positiven oder verpflichtenden Kraft der Konstruktion und der imaginativen Rahmung eines autobiographischen Narrativs. Shaftesbury dagegen interessierte sich nicht für Identität als das, was das Selbst als identisch zusammenhält, sondern umgekehrt für das, was das Selbst zu sich selbst in Distanz versetzt und damit eine reflexive Beziehung begründet. Auch er hatte kein Interesse daran, den Bruch zu kaschieren, sondern wollte Differenz produzieren. Anders als Locke (und später Ricoeur) gründete er Identität allerdings nicht auf ein durchgängiges Prinzip wie Charakterzüge, ein gegebenes Versprechen oder eine Einheit im Wandel, sondern auf innere Mehrstimmigkeit und Dialog. Die Voraussetzungen dafür erklären sich nicht allein durch einen gedanklichen Paradigmenwechsel, sondern gründen in einer tiefen Zäsur historischer Erfahrung. Ähnlich wie Jaspers das Trauma des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust im Rücken hatte, hatte Shaftesbury die 7 Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung, Band 3: Die erzählte Zeit, München: Fink, 144. 8 David Hume, A Treatise of Human Nature (1739), L.A. Selby-Bigge (ed.), Oxford 1960, p. 254 (übers. A.A.). Vgl. auch Theresa McCormack, Christoph Hoerl, C., ‚The Child in Time: Temporal Concepts and Self-Consciousness in the Development of Episodic Memory‘, In: C. Moore and K. Lemmon (eds.), The Self in Time: Developmental Perspectives, Lawrence Erlbaum, 2001, 203–227.

98 Glaubenskämpfe im Rücken, die im 17. Jahrhundert in England (wie auch in Deutschland) wüteten. Politik und Religion steigerten sich dabei gegenseitig im Kampf um die eine absolute Wahrheit. Anthony Ashley Cooper, der dritte Earl of Shaftesbury, der in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts geboren wurde, war von dieser Erfahrung traumatisiert. Seine gesamte Philosophie umkreist deshalb die Frage, wie ähnliche Schrecken in Zukunft vermieden werden können. Im Gegensatz zu seinem Landsmann Thomas Hobbes war er jedoch der Ansicht, dass dieser blutige Konflikt nicht durch einen neuen starken Staat, sondern nur durch einen neuen selbstkritischen Menschen zu überwinden wäre. Während andere Philosophen der Aufklärung sich mit der Neuordnung der politischen Institutionen befassten, erfand Shaftesbury den selbst-kritischen Menschen als Grundlage einer befriedeten Zivilgesellschaft. Im Mittelpunkt dieser neuen Anthropologie steht die Selbstdomestizierung des Menschen. Während Hobbes von einer rohen und wilden menschlichen Substanz ausging, die nur mit den Gewaltmitteln äußerer Einwirkungen zu zähmen war, ging Shaftesbury von einem rohen Kern aus, der durch ‚Technologien des Selbst‘, wie Foucault sie später nannte, geschliffen werden muss. Die effektivste Technologie dafür war für Shaftesbury das Selbstgespräch. Das Individuum war für ihn alles andere als unteilbar; es bestand vielmehr aus mindestens zwei Stimmen und war somit in sich divers und kontrovers verfasst. Diese Grundverfassung des ‚homo duplex‘ sah Shaftesbury auch im neuen Parteiensystem der Whigs und Tories gespiegelt, das ein wichtiger Teil der neuen demokratischen Verfassung der konstitutionellen Monarchie in England am Anfang des 18. Jahrhunderts war. Shaftesbury hat diese Teilung und Verdopplung der Person zu einer Verhaltenslehre entwickelt, die den Menschen aus einem fanatischen, auf eine exklusive Wahrheit fixierten Wesen in einen sozialen Mitmenschen verwandelt. Fanatismus, Eifer und Intoleranz waren für ihn soziale Krankheiten, die er mit seiner Therapie des Selbstgesprächs kurieren wollte. Sein Vorbild dafür war das Delphische Orakel: „Das war, bei den Alten, der Spruch des berühmten Delphischen Orakels: ‚Erkenne dich selbst!‘ Das bedeutete nichts anderes als: Teile Dich, werde Zwei (divide yourself or be two)“.9 Das andere Vorbild waren die Dramatiker, die den Monolog als Selbstgespräch auf die Bühne brachten. Dieses Modell nannte Shaftesbury „the home-dialect of soliloquy“ das tägliche innere Zwiegespräch, das jeder und jede vor dem eigenen Spiegelbild zuhause nachvollziehen konnte. Aus der Inquisition, jenem blutigen Instrument einer 9 Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Soliloquy or: Advice to an Author, in: Characteristics of Men, manners, opinions, times, hg. von John M. Robertson, Indianapolis 1964, 113.

99 repressiven Staatsgewalt, machte er auf diese Weise die Auto-Inquisition, die gegen sich selbst gerichtete Kontrolle. Auf diese Weise baute er eine totalitäre Politik in eine zivile Praxis um. Man könnte hier vielleicht einwenden: Wenn jeder sein eigener Zensor ist, kann die staatliche Zensur ruhig abgeschafft werden. Das Ergebnis ist das gleiche, ja, das angestrebte Resultat der Beherrschung ist sogar noch vollkommener erreicht. Shaftesburys Verhaltenslehre der Introspektion, so könnte dieses Argument lauten, läuft auf Internalisierung und damit auf eine weiche Form der Anpassung hinaus. Diese Beschreibung geht jedoch an den Intentionen Shaftesburys vollkommen vorbei. Ihm geht es nicht nur um einen „Prozess der Zivilisation“ als Form einer fortschreitenden Domestizierung des Menschen, sondern auch um zusätzliche Freiheit, worunter er die Erhaltung von Differenz versteht. Die Rohmasse Mensch soll geschliffen werden, aber dabei dürfen die individuellen Kanten auf keinen Fall mit abgeschliffen werden. Damit gingen nämlich auch jene Reibungsflächen einer „amiable collision“ verloren, ohne die eine Gesellschaft ihre Spannungskraft, Erneuerungsfähigkeit und Elastizität einbüßt. Shaftesbury schreibt um 1710; seine Texte sind wie Türen, die ins 18. Jahrhundert aufgestoßen werden. Aber er ist nicht nur eine eminente Figur des 18. Jahrhunderts, er ist auch eine graue Eminenz des 20. Jahrhunderts. Die Soziologie eines G.H. Mead, der den Menschen in die Komponenten von ‚I‘, der subjektiven Qualität und ‚me‘, der sozialen Person zerlegte, ist ohne Shaftesburys Analysen des Selbstgesprächs ebenso wenig zu denken wie die Kommunikationstheorie eines Jürgen Habermas.

4. Nationale Gedächtniskonstruktionen: monologisch oder dialogisch? Ich möchte hier von den individuellen zu kollektiven Selbstbildern übergehen und dabei auf die Konstruktionsrahmen des Erinnerns zu sprechen kommen. Erinnern, das hat uns Maurice Halbwachs gelehrt, ist kein isoliertes und solipsistisches Geschehen, tief verborgen und eingeschlossen in die Subjektivität eines einzelnen Menschen. Halbwachs betonte demgegenüber, dass man sich erinnert, um zu erzählen, sich mitzuteilen und dazuzugehören. Er prägte den Begriff des Rahmens, um die Gelenkstellte zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven näher zu beschreiben. Da die Rahmen erst dann entstehen, wenn sich der Mensch einer Gruppe anschließt, kommen sie gewissermaßen von außen; aber sie werden erst wirksam, wenn sie benutzt und internalisiert werden. Indem er auf die äußeren Faktoren im Prozess des Erinnerns aufmerk-

100 sam machte, hat Halbwachs die Gedächtnisforschung, die damals von Psychologie, Philosophie und Literatur dominiert war, für die Soziologie geöffnet. Seine These war, dass erst die Gruppenbindung des Einzelnen Ordnung in den Wust an individuellen Erinnerungen bringt, indem sie Relevanz und Bedeutung in diese Erinnerungen einschreibt. Erinnern wird in dieser Sicht zu einer sozialen Handlung, denn die Gesellschaft vermittelt dem Einzelnen die jeweils geltenden Auswahl-, Bewertungs- und Deutungsmuster für die eigenen Erinnerungen. Mit unseren Erinnerungen, so Halbwachs, sind wir niemals allein. „Es ist nicht notwendig, dass andere Menschen anwesend sind; (…) denn wir tragen stets eine Anzahl unverwechselbarer Personen mit und in uns.“10 Erinnerungen bilden sich überhaupt erst in diesem sozialen Rahmen und sie zerfallen mit diesem auch wieder. Rahmen sind dabei Stützen der Erinnerung, die diese zugleich auch in eine gewisse Form bringen. Durch Übernahme der Perspektiven anderer weitet sich unser Erfahrungs- und Wahrnehmungsraum; diese Rahmen, die wir mit anderen teilen, ergänzen sich gegenseitig. Durch gemeinsame Rahmen kann es aber auch zu Angleichungen, Verfestigungen und spürbaren Grenzen kommen. Durch sie pendeln sich die Erinnerungen der Teilnehmer einer Gruppe aufeinander ein. Der Rahmen hält das gemeinsame Gedächtnis zusammen und aufrecht und hat darüber hinaus zwei zentrale Aufgaben: er ermöglicht Anschluss- und Ausschlussoperationen. Wie ein Bilderrahmen schließen auch die sozialen Rahmen etwas ein und vieles aus. Je größer und stabiler die Gruppe, so können wir fortfahren, desto stärker wird der normative Druck des Rahmens. Besonders deutlich wird das bei den Rahmen des nationalen Gedächtnisses. In Paris zum Beispiel gibt es unter den Metrostationen solche, die nach den Siegen Napoleon benannt sind wie Iena und Austerlitz. Was undenkbar ist in Paris, ist eine Metrostation, die den Namen Waterloo trägt. Diese Station gibt es dagegen in London. Das Siegergedächtnis der Nation erinnert die Siege und ‚vergisst‘ die Niederlagen. In diesem Sinne hat Ernest Renan betont nach der Niederlage Frankreichs gegen Bismarcks Reiche betont, dass die Identität einer Nation nicht nur darin besteht, was die Angehörigen dieser Nation gemeinsam erinnern, sondern auch in dem, was sie gemeinsam vergessen. Fragen wir noch etwas spezifischer nach den Erinnerungs-Thematisierungs-Regeln einer Gesellschaft. Worüber kann, soll, darf gesprochen werden und was wird übergangen und ins Schweigen verbannt? Welche Erinnerungen lässt man wieder aufleben, welche behält man für sich? Wofür gibt es Interesse, Aufmerksamkeit, Empathie, was bleibt ausgeschlossen und im Dunkeln? 10 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt: Fischer 1985, 2.

101 Diese Frage hängt aufs Engste mit den Emotionen zusammen, die die Stütze der Erinnerung sind und ihren Treibstoff bilden. Während Stolz, der Wunsch nach Anerkennung und ein positives Selbstbild die Auswahl des zu Erinnernden bestimmen, sind Gefühle wie Schuld und Scham verantwortlich für die Ausgrenzung und Verdrängung von Gedächtnisinhalten. Das hat Nietzsche bereits genau gewusst: Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.11

Es ist sehr schwer, sich gegen diese psychologische Grundregel zu richten und dem sozialen Konformitätsdruck zu widerstehen. Denn was für den Einzelnen gilt, gilt auch für Wir-Gruppen: man erinnert und vergisst, um dazuzugehören und vermeidet tunlichst alles, was den Ostrazismus einer Gruppe nach sich ziehen könnte. Der soziale Rahmen ist somit ein verbindliches Programm, wir können auch sagen: er wirkt wie ein Filter, der die Auswahl der Erinnerungen steuert und ihre Relevanz bestätigt. Erinnert wird, was die Identität der Gruppe stärkt, und die Identität der Gruppe befestigt die Erinnerungen; mit anderen Worten: das Verhältnis zwischen Erinnerungen und Identität ist zirkular. Wie lange sich diese Rahmen halten und weitergegeben werden, hängt davon ab, ob sie gebraucht werden, d. h.: ob sie dem gewünschten Selbstbild der Gruppe und ihren Zielen entsprechen oder nicht. Ihre Dauer wird nicht dadurch begrenzt, dass die Träger wegsterben, sondern dadurch, dass sie dysfunktional und durch andere ersetzt werden. Das nationale Gedächtnis wurde im 19. Jahrhundert geschaffen, um die nationale Identität zu stützen und ein positives heroisches Selbstbild zu zelebrieren. Das Prisma des nationalen Gedächtnisses tendiert deshalb stets zur Vereinfachung. „Das kollektive Gedächtnis vereinfacht, schreibt Peter Novick; „es sieht alles aus einer einzigen, emotional besetzten Perspektive. Es kann keine Ambiguitäten aushalten und reduziert Ereignisse zu Archetypen.“12 In nationalen Gedächtniskonstruktionen verstärken sich mentale Bilder zu Ikonen und Narrative zu Mythen, die mit Überzeugungskraft und emotionalem Gewicht ausgestattet sind. Diese Mythen heben die geschichtliche Erfahrung aus ihren historischen Kontexten heraus und verwandeln sie in zeitlose Erzählungen, die das Selbstbild der Gruppe stärken und von Generation zu Generation weitergegeben werden. 11 Friedrich Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“, in: Sämtliche Werke hg. v. Giorgio Colli und Martino Montinari. Berlin, New York, 1988, Bd.V, 86. 12 Peter Novick, The Holocaust in American Life. Boston: Houghton Miflin 1999, 4.

102 Die Geschichte verengt sich dabei auf einen ruhmreichen, ehrenwerten oder zumindest akzeptablen Ausschnitt. Angesichts einer schuldhaften oder traumatischen Vergangenheit gibt es üblicherweise überhaupt nur drei sanktionierte Rollen, die das nationale Gedächtnis akzeptieren kann: die des Siegers, der das Böse überwunden hat, die des Widerstandskämpfers und Märtyrers, der gegen das Böse gekämpft hat, und die des Opfers, das das Böse passiv erlitten hat. Was jenseits dieser Positionen und ihrer Perspektiven liegt, kann gar nicht oder nur sehr schwer zum Gegenstand eines akzeptierten Narrativs werden und wird deshalb auf der offiziellen Ebene ‚vergessen‘. Nach Ende des Kalten Krieges kam es zu einer Öffnung der osteuropäischen Archive. Angesichts des neuen Zugangs zu historischen Dokumenten komplizierte sich das Geschichtsbild Europas. Wir wurden Zeugen von mehreren Erinnerungsschüben, die den Holocaust ins allgemeine Bewusstsein rückten und dabei fest etablierte positive nationale Selbstbilder ins Wanken brachten. Aufgrund neuer Dokumente über Vichy und die Geschichte des Antisemitismus in Ostdeutschland waren Frankreich und die DDR plötzlich nicht mehr ausschließlich Widerstandskämpfer, nach der Affäre Waldheim und einer Rede des Bundeskanzlers Vranitzkys in Israel sowie den Diskussionen um Jedwabne waren Österreich und Polen nicht mehr ausschließlich Opfer, und selbst die neutrale Schweiz musste sich mit den Banken und der Grenze als neuen ‚nationalen Erinnerungsorten‘ auseinandersetzen. Überall kamen Erinnerungen hoch und wurden debattiert, die die Eindeutigkeit und Ausschließlichkeit des herrschenden nationalen Narrativs in Frage stellten. Während im Westen Europas inzwischen neue Daten über Kollaboration und Indifferenz gegenüber dem Generalverbrechen des Holocaust zu einer Krise nationaler Gedächtniskonstruktionen geführt und deren Umbau in Richtung größerer Komplexität angestoßen hat, kam es gleichzeitig im Osten Europas zu einer Gegenbewegung. Dort entstanden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neue nationale Gedächtniskonstruktionen, die sich über die Erinnerung an die eigene Leidensgeschichte durch die kommunistische Verfolgung und Okkupation konsolidierten. Mit der starken Fokussierung auf die eigene Opfergeschichte wurde die Verantwortung für eigene Schuld ‚vergessen‘. Die Logik des nationalen Gedächtnisses ist immer vom Platzmangel bestimmt: das eigene Leid braucht in aller Regel sehr viel Platz und verdrängt das Leid, das man anderen zugefügt hat. Den monologischen Charakter des nationalen Gedächtnisses hat Marc Bloch bereits in den 1920er Jahren kritisiert. Er schrieb: „Hören wir doch endlich damit auf, uns ewig von Nationalgeschichte zu Nationalgeschichte zu unterhalten, ohne uns gegenseitig zu verstehen.“ Er sprach von einem „Dialog unter Schwerhörigen, bei dem jeder völlig verkehrt auf die Fragen des ande-

103 ren antwortet.“13 Das nationale Gedächtnis existiert im heutigen Europa keineswegs mehr in Isolation, sondern ist mit anderen nationalen Gedächtnissen untrennbar verbunden. Mit Blick auf den Holocaust ist es Teil eines Welt-Gedächtnisses, mit Blick auf den zweiten Weltkrieg ist es Teil eines europäischen Gedächtnisses geworden. Meine These ist, dass die Europäische Integration nicht wirklich fortschreiten kann, solange sich die monologischen Gedächtnis-Konstruktionen weiter verfestigen. In diesem Zusammenhang könnte mein viertes Modell, das ‚dialogische Erinnern‘ zum Tragen kommen. Dabei handelt es sich zwar noch keineswegs um eine allgemein praktizierte Form des Umgangs mit einer geteilten Gewaltgeschichte, aber doch um eine große kulturelle und politische Chance, die in dem Projekt Europa enthalten ist. Dialogisches Erinnern soll hier für die wechselseitige Verknüpfung und Aufrasterung allzu einheitlicher Gedächtniskonstruktionen entlang nationaler Grenzen stehen.14 Die Konstellation der Europäischen Union bietet einen einmaligen Rahmen für den Umbau von monologischen in dialogische Gedächtnis-Konstruktionen. Richard Sennett hat betont, dass es einer Vielfalt widerstreitender Erinnerungen bedarf, um unangenehme historische Fakten anzuerkennen.15 Genau darin liegt das besondere Potential, das der europäische Erinnerungsrahmen bereithält, und das bisher erst ansatzweise genutzt worden ist. Die Europäische Union ist selbst eine Folge des Zweiten Weltkriegs und eine Antwort auf ihn. Es wird immer offenkundiger, dass das traumatische Erbe dieser verschränkten Gewaltgeschichte nicht länger in der beschränkten Grammatik traditioneller nationaler Gedächtniskonstruktionen bearbeitet werden kann. In dieser Geschichte gibt es vieles, was die Historiker wissen, was jedoch keinen Platz im nationalen Gedächtnis erhält, weil bisher der Innenoder Außendruck dazu fehlte. Dazu gehören viele Gräuel des Zweiten Weltkrieges, die die Deutschen an ihren Nachbarn verübt haben, was dort meist in sehr guter Erinnerung behalten wurde. Während die jüdischen Opfer im Rahmen einer internationalen Erinnerungskultur ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sind, wissen in Deutschland die nachwachsenden Generationen so gut wie nichts von den polnischen oder russischen Opfern der deutschen Kriegsführung. Während die Bombardierung Dresdens fest im deutschen 13 Matthias Middell, Hg., Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994, 159. 14 Dazu ausführlicher: Aleida Assmann: „Europe: A Community of Memory?“ Twentieth Annual Lecture of the GHI, November 16, 2006, in: GHI Bulletin, No.

40 (Spring 2007), S. 11–25.

15 Richard Sennett: „Disturbing Memories“, in: Patricia Fara, Keraly Patterson, Hgg., Memory, Cambridge UP 10–26; hier: 14.

104 nationalen Gedächtnis verankert ist, weiß man hierzulande kaum etwas von der Zerstörung Warschaus durch die Deutschen in Vergeltung des Warschauer Aufstands (1944), der hierzulande meist mit dem durch Brandts Kniefall (1970) berühmt gewordenen Ghetto-Aufstand (1943) verwechselt wird. Auch die Leningrader Blockade von 1941–1944 durch die Wehrmacht, eine der längsten und destruktivsten ‚Belagerungen‘ der neueren Geschichte, bei der annähernd eine Million Russen verhungerten, hat keinen Platz im deutschen historischen Gedächtnis.16 Für diejenigen, denen die traumatische Gewalt widerfahren ist, sind diese Ereignisse nicht vergangen, sondern zu einem festen Eintrag im nationalen Gedächtnis geworden. Deshalb machen sie noch immer einen erheblichen Teil der Last der Vergangenheit aus und verformen nachhaltig die europäische Binnenkommunikation. Auch sie sind europäische ‚lieux de mémoire‘, doch bilden sie keinen Schulstoff, finden kaum Erwähnung in Diskursen und sind ausgeschlossen aus symbolischen Repräsentationen im öffentlichen Raum. Während die monologische Erinnerung die eigenen Leiden ins Zentrum stellt, nimmt die dialogische Erinnerung das den Nachbarn zugefügte Leid mit ins eigene Gedächtnis auf. Dialogisches Erinnern meint keinen auf Dauer gestellten ethischen Erinnerungspakt, sondern das gemeinsame historische Wissen um wechselnde Täter- und Opfer-Konstellationen in einer geteilten traumatischen Gewaltgeschichte. Ein vereinigtes Europa braucht kein einheitliches, wohl aber ein kompatibles europäisches Geschichtsbild. Es geht mir keineswegs um ein vereinheitlichtes europäisches Master-Narrativ, sondern allein um die dialogische Bezogenheit und gegenseitige Anschlussfähigkeit nationaler Geschichtsbilder. Die italienische Historikerin Luisa Passerini hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Unterscheidung eingeführt. Sie spricht von ‚shared narratives‘ (oder geteilten Geschichten) und ‚shareable narratives‘ im Sinne von anschlussfähigen Geschichten.17 Dialogisches Erinnern ist im nationalen Gedächtnis verankert, überschreitet jedoch die Grenze der Nationen durch eine transnationale Perspektive. Erst auf der Basis der wechselseitigen Anerkennung von Opfern kann sich der Blick auf eine gemeinsame Zukunft öffnen. Solange allerdings die verengten nationalen Geschichtsbilder dominieren, herrscht in Europa weiterhin ‚ein Dialog unter Schwerhörigen‘, um nicht zu sagen: ein schwelender ‚Bürgerkrieg der Erinnerungen‘. Aus der Sackgasse heroischer Mythen und Opferkonkurrenz führt allein, um mit Peter Esterhazy zu sprechen, „ein geteiltes europäisches Wis16 Peter Jahn: „27 Millionen“, in: Die ZEIT Nr. 25 vom 14. Juni 2007. 17 Luisa Passerini: „Shareable Narratives? Intersubjectivity, Life Stories and Reinterpreting the Past“, Berkeley Paper 11–16 August 2002, 5, 14.

105 sen über uns selbst als Täter und Opfer“.18 Das Prinzip des transnationalen dialogischen Erinnerns in Europa hat ein weiterer ungarischer Schriftsteller, nämlich György Konrad auf den Punkt gebracht: „Es ist gut, wenn wir Erinnerungen austauschen und erfahren, was die anderen von unseren Geschichten denken. (…) Die gesamte europäische Geschichte ist zusehends Allgemeingut, das für einen jeden ohne die Verpflichtung nationaler oder anderer Befangenheiten zugänglich ist.“19 Damit hat Konrad zwar noch keinen Ist-Zustand beschrieben, aber doch das besondere Potential beim Namen genannt, das der kulturelle Rahmen der EU für seine Mitgliedsstaaten bereithält. Diesen gemeinsamen europäischen Rahmen hat Adam Michnik bündig zusammengefasst, indem er daran erinnerte, dass die EU nicht nur ein wirtschaftlicher Zweckverband, sondern auch die Folge einer verschränkten Gewaltgeschichte ist: „Die Europäische Union entstand aus einer Verneinung totalitärer Diktaturen, die voller Grausamkeiten und Barbareien waren. Die europäischen Werte sind Humanismus und Toleranz, gleiche Würde für alle Bürger, Freiheit des Individuums, Solidarität mit den Schwachen und politischer Pluralismus. Es ist dieses Zeugnis und dieses Wertsystem, das Europa in die Welt einbringen kann.“20 Da der Wert der Menschenwürde aus der äußersten Vernichtung der Menschenwürde gewonnen wurde, bleibt die positive Geltung dieses Wertes an seine negative Genese gebunden.21 Die gemeinsame Erinnerung an die Gewaltgeschichte ist deshalb die wirksamste Methode, um die Voraussetzungen, die sie möglich gemacht haben, zu überwinden. Es ist wichtig, die trennende und spaltende Kraft von Erinnerungen zu erkennen und darüber nachzudenken, wie sie überwunden werden kann. Dabei geht es keineswegs um eine einheitliche Erinnerung für Europa – das wäre für die europäische Vielfalt ein völlig verfehltes Projekt, sondern um die Überwindung spezifischer Erinnerungsblockaden. Dieser Weg führt von einem verengten exklusiven Erinnern zu einem inklusiven Erinnern, das über den eigenen Opfern, die zu beklagen sind, nicht die Opfer der eige18 Peter Esterhazy: „Alle Hände sind unsere Hände“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 236, 11. Oktober 2004, 16. 19 György Konrad: „Aufruhr“. Rede zur Eröffnung des 50-jährigen Bestehens der Aktion Sühnezeichen am 3. Mai 2008 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. (www. asf-ev.de/fileadmin/asf_upload/aktuelles/Jubilaeum2008/gyoergy.pdf ) 20 Adam Michnik, „A European Russia or a Russian Europe“, in: Baltic Worlds, IV:1 März 2011 (Södertörn University, Stockholm), 4–6; 6 (Übersetzung: Aleida Assmann). 21 Vgl. dazu Hans Joas, Gewalt und Menschenwürde. Wie aus Erfahrungen Rechte werden (Ms. 2009), sowie Jay Winter, Vorwort zu: Memory and Political Change, hg. von Aleida Assmann und Linda Shortt, Palgrave Macmillan 2011.

106 nen Gewalt vergisst, die zu bereuen sind. Erst die Anerkennung solcher wechselseitiger Perspektiven ermöglicht die Überwindung des Trennenden in einer europäischen Erinnerungskultur, die auf die Anschließbarkeiten unterschiedlicher Erfahrungen und Erinnerungen ausgerichtet ist.

5. Zurück ins 19. Jahrhundert? Während die EU nach 1990 die Bedeutung der historischen Wahrheit, die Anerkennung gegenseitiger Gewaltgeschichten, sowie die Menschenrechte zu Grundpfeilern ihres Wertesystems gemacht hat, gibt es derzeit in fast allen Staaten Europas derzeit heftige Gegenbewegungen gegen diese neuen Errungenschaften. Allenthalben wird das Rad der Geschichte wieder zurückgedreht und es werden die alten Prinzipien eines souveränen Nationalstaats wieder eingesetzt, der auf Stolz und Ehre gegründet ist und selbstherrlich über seine Geschichte entscheiden kann. Dabei wird gerade wieder vergessen, dass es genau diese egomanen und monologischen Nationen waren, die den ersten und zweiten Weltkrieg entfesselt haben. Im Januar 2017 forderte Björn Höcke in Dresden „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“: „Wir brauchen so dringend wie niemals zuvor diese erinnerungspolitische Wende um 180 Grad, liebe Freunde. Wir brauchen keine toten Riten mehr in diesem Land. Wir haben keine Zeit mehr, tote Riten zu exekutieren. Wir brauchen keine hohlen Phrasen mehr in diesem Land, wir brauchen eine lebendige Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt.“ In platter Form recycelt Höcke einen allgemeinen Topos vom Überdruss an ‚toten‘ Riten und dem Wunsch nach einer ‚lebendigen‘ Erinnerungskultur. Was dann folgt, ist die Absage an ein selbstkritisches Geschichtsbild und die Forderung nach einem selbstfeiernden Geschichtsbild. Gefühle wie Verantwortung und Reue, Anerkennung und Empathie angesichts der Leiden und Opfer der eigenen Geschichte sind weggefegt und übrig bleibt der Stolz als das einzige Gefühl, das eine Nation zusammenbinden kann. Bedrohlich an dieser Forderung ist, dass sich in diesem Punkt zurzeit alle rechten Parteien in Europa einig sind. Sie überspringen die Erfahrung der Katastrophen der beiden Weltkriege und des Holocaust und wiederholen das Muster des 19. Jahrhunderts, als die Nationalstaaten entstanden und sich ihre Geschichte als Triumpherzählung oder Leidensnarrativ zurechtlegten. Der Stolz regiert wieder und erzwingt das Vergessen, wie die Beispiele Ungarns oder Polens zeigen, wo jede selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte unter

107 Strafe gestellt wird. Diese Entwicklung bestätigt noch einmal die große Aktualität des dialogischen Prinzips – in der Philosophie, in der Religion, im Menschenbild, in der Politik, in Europa und der Welt. Deshalb ist es so wichtig, auf die Ideen dieser Denker zurückzukommen, sie wiederzuentdecken, zu erneuern und umzusetzen.

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KARL-JOSEF KUSCHEL

Interreligiöser Dialog als bleibende Herausforderung der Religionen

Wenn es einen Denker des Dialogs im 20. Jahrhundert gegeben hat und gibt, dann Martin Buber.1 1921 erscheint sein Hauptwerk zum Dialog „Ich und Du“. Es läutet eine „kopernikanische Wende“ im philosophischen Denken ein, die ihre Wirkung bis weit über die Philosophie hinaus entfaltet: von der Erziehungswissenschaft und der Psychologie bis hin zur Religionswissenschaft und Theologie. Denn Buber, tief verwurzelt in der Tradition des prophetischen Judentums, hatte gezeigt, dass „Wahrheit“ nie allein von einem „Ich“ gefunden werden kann, sondern immer nur in der dialogischen Relation zu einem Gegenüber, insbesondere im personalen Zwiegespräch von Ich und Du. Buber selber zog daraus praktische Konsequenzen, indem er sich in den 20er Jahren immer stärker dem Religionsgespräch mit Christen öffnete und es engagiert betrieb. Voll Zuversicht schreibt er noch 1930 in seinem Buch „Zwiesprache“: „Eine Zeit echter Religionsgespräche beginnt, – nicht jener so benannten Scheingespräche, wo keiner seinen Partner in Wirklichkeit schaute und anrief, sondern echter Zwiesprache, von Gewissheit zu Gewissheit, aber auch von aufgeschlossner Person zu aufgeschlossner Person. Dann erst wird sich die echte Gemeinschaft weisen, nicht die eines angeblichen in allen Religionen aufgefundenen gleichen Glaubensinhalts, sondern die der Situation, der Bangnis und der Erwartung.“2 1 Grundlage des folgenden Vortrags ist: Karl-Josef Kuschel, Martin Buber. Seine Herausforderung an das Christentum, Gütersloh 2015. Zur Vertiefung der Problematik, für Belege und weiterführende Literatur muss auf dieses Buch verwiesen werden. Die Texte Bubers werden, wo immer möglich, nach der laufenden Martin Buber Werkausgabe, hrsg.v. Paul Mendes-Flohr u. Bernd Witte, Gütersloh 2001ff zitiert mit MBW plus arab. Bandzahl plus Seite. Texte, die noch nicht in der MBW vorliegen werden, wo immer möglich, zitiert nach der Ausgabe Werke Bd. I–III, Heidelberg 1962–1964 = W plus röm. Bandzahl plus Seite. 2 M. Buber, Zwiesprache (1930), in: W I, 180.

110 Was aber sind „echte Religionsgespräche“? Buber unterscheidet im selben Zusammenhang „dreierlei Dialog: den echten – gleichviel geredeten oder geschwiegenen –, wo jeder der Teilnehmer den oder die anderen in ihrem Dasein oder Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, dass lebendige Gegenseitigkeit sich zwischen ihm und ihnen stifte; den technischen, der lediglich von der Notdurft der sachlichen Verständigung eingegeben ist; und den dialogisch verkleideten Monolog“. Eine Analyse „von gestern“, durch die heutige Situation „überholt“? Keineswegs. Bubers dreifache Unterscheidung von „Dialog“ hilft auch heute, Klarheit über eine unübersichtlicher gewordene Situation zu gewinnen. Denn diese drei Formen von „Dialog“ sind vielfach auch heute noch anzutreffen. Schauen wir genauer zu.

1. Der „technische“ Dialog Es ist unbestreitbar, dass jeder Dialog „sachliche Verständigung“ braucht. Denn ernsthafter Dialog zielt auf „Verstehen“ des Gegenüber. Und zum Verstehen braucht man ein Höchstmaß an Sachinformationen und zwar in doppelter Hinsicht: Sachinformationen über das eigene Selbstverständnis und Sachinformationen über das Selbstverständnis des Gegenüber. Jeder am Dialogprozess Beteiligte muss informieren können über den eigenen Glauben und erwartet das auch vom Gegenüber. Heutige religionswissenschaftliche und religionstheologische Literatur liefert eine solche „sachliche Verständigung“. Sie kann umso glaubwürdiger gelingen, als man sich über den je anderen nicht bloß aus eigenen, sondern aus authentischen Quellen informiert. In noch zu vielen Ländern kommen Informationen über die je andere Religion – ob in religiösen Unterweisungen, Predigten oder Lehrbüchern – „von aussen“. Zu viele Christen wissen über Juden und Muslime nur aus christlichen Schriften. Zu viele Muslime hören von Juden und Christen nur aus dem Mund ihrer eigenen Prediger und Lehrer. Nicht das Selbstverständnis des je Anderen interessiert, sondern die eigene Perspektive, die eigenen Propaganda. „Man“ weiß ja längst, was man vom je Anderen zu glauben hat. Das hat mit „sachlicher Verständigung“ nichts zu tun. Der andere wird zur Projektionsfolie meiner Stereotypen und Klischees. Von Dialog kann deshalb keine Rede sein. Und selbst wer das Ideal einer „sachlichen Verständigung“ erfüllt, führt nicht wirklich „Dialog“. Denn Dialog ist mehr als Austausch von Sachinformationen.

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2. Der „dialogisch verkleidete Monolog“ Das Wort „interreligiöser Dialog“ ist heute in aller Munde. Nicht nur Intellektuelle benutzen es, sondern auch Politiker aller Couleur, Vertreter von Religionen, ja sogar Päpste, insbesondere die beiden letzten: Johannes Paul II und Benedikt XVI. Auf fast allen ihren Auslandsreisen lassen sie es zu Treffen mit Nichtchristen kommen. Und fast ritualmäßig sprechen sie sich dabei für „interreligiösen Dialog“ aus. Er sei keine „Saisonentscheidung“ wie Benedikt XVI in der Synagoge in Köln 2006 sagte, sondern eine bleibende Verpflichtung für die Kirche.3 Was aber verstehen diese Päpste unter „interreligiösem Dialog“? Verstehen sie darunter ein Kommunikationsgeschehen zwischen gleichwertigen Partnern im Bemühen um ein besseres Verstehen gerade auch der tiefgreifenden Unterschiede? Begreifen sie, wenn sie Synagogen und Moscheen besuchen, nichtchristliche Religionen wie das Judentum und den Islam als für die jeweiligen Gläubigen legitime Wege zu Gott, den sie respektieren, für den sie dankbar sind, sind doch die Andersglaubenden immer auch Andersglaubende? Und sind diese auch eine Herausforderung an den eigenen Glauben? Eine Anfrage gar an das exklusive eigene Verständnis von Wahrheit? Viele verstehen die Päpste so, wenn sie heutzutage derart programmatisch öffentlich zum Dialog auffordern. Aber meinen sie wirklich Dialog oder vertreten sie einen „dialogisch verkleideten Monolog“? Die Frage kommt nicht von ungefähr. Im Jahr 2001 lässt Papst Johannes Paul II ein lehramtliches Dokument unter dem Titel „Dominus Jesus“ veröffentlichen, für das sein Nachfolger, Benedikt XVI, als damaliger Kardinal Joseph Ratzinger die Verantwortung trägt.4 Hier waren ganz andere Töne er­ klungen: Heilsexklusivität Jesu Christi! Heilsnotwendigkeit der Kirche! Missionsauftrag der Kirche zur Bekehrung der nichtchristlichen Welt zu Christus. Besonders zwei Passagen in „Dominus Jesus“ scheinen die Rede vom „Dialog“ weitgehend als schönfärberische Rhetorik zu entlarven. Denn der „interreligiöse Dialog“ sei Instrument des „Evangelisierungsauftrags“ der Kirche, liest man dort. Instrument! Und die Kirche erfüllt ihren Auftrag bekanntlich nur dann, wenn sie die nichtchristliche Welt zu Christus zu bekehren trachtet. Wobei für Päpste zusätzlich klar ist: Wahren Christusglauben hat man immer nur in der katholischen Kirche, in die man durch die Taufe eingegliedert wird. 3 Einzelheiten und Belege dazu in: Karl-Josef Kuschel, Juden, Christen, Muslime: Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007, S. 34–40. 4 Einzelheiten und Belege in: Karl-Josef Kuschel, Juden, Christen und Muslime, S. 53– 68 (s. Anm. 3).

112 Bekehrung zu Christus ist für Päpste somit identisch mit Eingliederung in die alleinseligmachende römisch-katholische Glaubensgemeinschaft. Woraus folgt: Nichtchristen sind keineswegs in ihrer Glaubensentscheidung akzeptiert. Sie befinden sich vielmehr – so wörtlich in „Dominus Jesus“ – „objektiv in einer schwer defizitären Situation“ – und zwar „im Vergleich zu jenen, die in der Kirche die Fülle der Heilsmittel besitzen“. Von all dem aber in den öffentlichen Ansprachen derselben Päpste kein Wort. Warum nicht? Verschweigen sie die Bekehrungsaufforderung, weil sie die nichtchristlichen Partner nicht verschrecken wollen? Wie würde das denn auch in nichtchristlichen Ohren klingen? Vor jüdischem Publikum – beim ersten Besuch einer Synagoge, der zu Rom, 1986 – hatte sich schon Johannes Paul II. für „Toleranz, Respekt, Freundschaft und Frieden“ ausgesprochen. Muslime hatte er nicht als Ungläubige, sondern als „Freunde“ angeredet, nicht als Gegner, sondern ausdrücklich als „Partner für das Wohl der Menschheitsfamilie“. So bei seinem ersten Moscheebesuch 2001 in Damaskus. Benedikt XVI. hat ebenfalls – bei seinem Besuch der Synagoge zu Köln 2006 – gegenüber Juden einen „aufrichtigen und vertrauensvollen Dialog“ gefordert und die Auffassung vertreten, Christen und Juden müssten sich gerade auch angesichts ihrer Differenzen „gegenseitig respektieren und lieben“. Lieben! Muslimen gegenüber hatte derselbe Papst – bei seinem Besuch in Istanbul 2008 – von einer „menschlichen und geistigen Einheit“ in Ursprung und Bestimmung gesprochen, von einem „gemeinsamen Weg“, von „brüderlichem Respekt“! Wie hätten wohl Juden und Muslime in Rom, Köln, Damaskus oder Istanbul reagiert, wenn ihnen gleichzeitig durch dieselben Päpste öffentlich gesagt worden wäre, sie lebten als Nichtchristen „objektiv in einer schwer defizitären Situation“? Wie gar eine öffentliche Aufforderung zur Taufe als Eintritt in die katholische Kirche zu ihrem „ewigen Heil“? Was also gilt gegenüber Nichtchristen? Dialog oder Mission oder beides? Sind die Päpste nur konsequent, wenn sie die Kirche als missionarische Kirche zur Bekehrung der nichtchristlichen Welt begreifen? Oder sind sie nicht aufrichtig, wenn sie bei ihren Begegnungen mit Nichtchristen den Missionsauftrag ihrer Kirche verschweigen? Jedermann weiß ja, was „Mission“ im traditionellen Sinn zum Ziel hatte und hat, ob christlich oder muslimisch verstanden. Gerade nicht die Respektierung des Glaubens Anderer, sondern dessen Verschwinden. Erklärtes Ziel ist, dass die nichtchristliche oder nichtmuslimische Welt letztlich christlich oder muslimisch werden soll. Sind die Päpste also doch vor allem Völkermissionare, welche die Begegnung mit Nichtchristen dazu benutzen, den christlichen Glauben wirkungsvoll ins Spiel zu bringen? Nur dass man heute das modische Tarnwort „interreligiöser Dialog“ benutzt und nicht offen von „Mission“, von „Bekehrung“ und „Taufe“ redet? Manche behaupten denn

113 auch, dass ein interreligiöser Dialog „im engen Sinne“ gar nicht möglich sei, ohne den eigenen Glauben gewissermaßen in Klammern zu setzen. Entsprechend lehnen sie einen Begriff vom interreligiösen Dialog ab, der angeblich „die Wahrheit“ zur Diskussion stellt und so zu einer indifferenten Gleichmachung aller religiösen Überzeugungen und Bekenntnisse führe. Ähnliche Töne kommen aus dem zeitgenössischen Judentum und dem Islam. Fundamentalisten bestärken sich gegenseitig in ihrer Haltung schroffster Zurückweisung. Dialog sei sinnlos, gefährlich und überflüssig, hört man. Sinnlos, weil er am Judentum und Islam ohnehin nichts ändern könne; Tora und Halacha stünden ein für alle Mal genau so fest wie Koran und Scharia. Gefährlich, weil ein „Dialog“ unweigerlich zur Verwischung, ja zur Erosion der Glaubensidentität führe: zur Verwischung und Erosion der Einzigartigkeit der Offenbarung Gottes am Berg Sinai oder im Koran. Und überflüssig, weil es im Verhältnis zu Andersgläubigen nicht auf theologische Debatten, sondern bestenfalls auf Zusammenarbeit in Fragen gesellschaftlicher Praxis ankomme. In der Welt des Islam kommt ein lebendiger und mit großen finanziellen Mittel geförderter Missionarismus hinzu, der von einer Bekehrung der Welt zum Islam träumt und die Welt dualistisch aufteilt in Wahrheit und Lüge, Glaube und Unglauben, Heil und Unheil, „Haus des Friedens“ und „Haus des Krieges“. In diesem Sinn wird vor allem von christlichen und muslimischen Institutionen heutzutage weltweit offensiv Mission getrieben. Das nicht zu sehen, wäre blauäugig und realitätsfern. Es gibt ja auch spektakuläre „Missionserfolge“ – zum einen auf Seiten des Islam in Afrika, aber vor allem auf christlicher Seite durch Zeltprediger, Baptisten und wiedergeborene Evangelikale. Inzwischen gibt es, wie das deutsche Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL 2009 recherchiert hat, mehr als 400 Millionen Freikirchler weltweit. „Es sind die christlichen Fundamentalisten, die gegenwärtig die Erfolgsgeschichte in Glaubensdingen schreiben. Ihre Prediger findet man in den Bretterbuden lateinamerikanischer Slums und in den Stadien Afrikas … Selbst in China gibt es inzwischen mehr Christen als die 76 Millionen KP-Mitglieder, und die meisten von ihnen sind unabhängige Protestanten.“5 Christentum und Islam ringen denn auch – global gesehen – um „Vorherrschaft“, kann man in der genannten SPIEGEL-Ausgabe von 2009 lesen. Begründung: „Sie geben Milliarden Dollar dafür aus, ihren Glauben auch in den entferntesten Ländern zu stärken. Und sie haben Erfolg. Neue, vor Gotteseifer brennende Gemeinden – in den Slums von Rio de Janeiro, in den makellos gepflegten Vorstädten amerikanischer Metropolen, in den quirrligen, chaotischen asiatischen Megacity – beweisen, dass das Geld gut angelegt ist. Missionar zu sein ist kein altmodischer Beruf mehr, 5 In: DER SPIEGEL Nr. 52/2009, S. 108.

114 er wird gelehrt an US-Hochschulen oder unterstützt durch phantastisch reiche Stiftungen aus Saudi-Arabien.“6 Zwei Paradigmen des Denkens innerhalb der Religionen prallen hier aufeinander: Ein missionarisches Sendungsbewusstsein, das die Identität der eigenen Anhänger stärkt: Identität durch Verwerfung Anders- oder Ungläubiger. Dabei bleibt die Welt dualistisch aufteilt: in Wahrheit und Irrtum, Gläubige und Ungläubige, Erlöste und Verdammte. Entsprechend steht in dieser Welt interreligiöser Dialog unter dem Verdacht des Indifferentismus: will sagen, der Vergleichgültigung der Wahrheit und damit zur Auflösung der eigenen Religion. Woraus folgt: In vielen Fällen, wo vom „Dialog“ gesprochen wird, handelt es sich in Wirklichkeit um einen „dialogisch verkleideten Monolog“. Martin Buber hat das klar gesehen. Der Andere, mein Gegenüber, wird nicht eigentlich in seinem Wahrheitsanspruch respektiert oder zur Herausforderung an meinen eigenen Glauben, sondern zum Objekt meines religiösen Bekehrungsdrangs. Die Begegnung wird nicht genutzt, um den anderen besser kennenzulernen, sondern als Chance einer monologischen Selbstexplikation des eigenen Glaubens – mit dem Ziel, den anderen von seinem „Weg des Irrtums“ abzubringen und zum „wahren Glauben“ zu bekehren. Wer „Mission“ will, will folglich weder Dialog noch Toleranz, der will in letzter Konsequenz das Verschwinden des Glaubens des je Anderen und die weltweite Durchsetzung der eigenen als der einzig „wahren Religion“.

3. Das echte Religionsgespräch Gegen dieses Paradigma stellt Buber „echte Religionsgespräche“. Sie haben für ihn nicht das Ziel „gleiche Glaubensinhalte“ zu identifizieren mit der Absicht, die Differenzen zwischen den Religionen zu überspielen oder zu bagatellisieren. Vielmehr geht es um „echte Zwiesprache“ und zwar von „aufgeschlossner Person zu aufgeschlossner Person“. Das ist das Gegenteil von „Scheingesprächen“, die in zwei Monologen bestehen. Echte Zwiesprache erfolgt aus Begegnungen mit Menschen welcher religiösen Herkunft auch immer. Begegnungen, die so tief, so existentiell sein können, dass die Partner sich gegenseitig bereichern und verwandeln und so in ihrem Wahrheitsverständnis vertiefen. Man lebt nicht länger mit dem Rücken zum anderen. Man begegnet dem anderen, indem man in sein offenes Antlitz blickt und sich so buchstäblich „ergreifen“ lässt. Die Existenz des je anderen ist für das eigene Selbstverständnis nicht mehr gleich-gültig. 6 Ebd., S. 102.

115 Daraus ergibt sich für beide am Dialog Beteiligten die Frage: Welchen Ort hat der je andere für mich? Welchen Raum hat das je andere Glaubenszeugnis neben mir? Welche Herausforderung stellt es für mich dar? Herausforderung zum selbstkritischen Nachdenken vor allen reflexhaften Bekenntnissen. Diese Herausforderung ist keineswegs schon mit äußerer Solidarität zwischen Juden, Christen und Muslimen in gesellschaftspolitischen Fragen und Konfliktfeldern angenommen, so wichtig diese wechselseitige Solidarität gesellschaftlich und politisch ist. Sie besteht im Versuch der Erhellung der inneren Beziehungen der Religionen, insbesondere von Synagoge, Kirche und Umma, die gemeinsame Überlieferungen biblischen Ursprungs miteinander teilen: von Adam und Abraham angefangen bis zu Jesus und Maria. Echte Religionsgespräche entstehen durch wechselseitiges Nachdenken über die Zeichen Gottes in der Geschichte: Warum existieren trotz aller feindseliger Abstoßung in der Vergangenheit Synagoge, Kirche und Umma nebeneinander? Was bedeuten sie füreinander in ihrem dreifachen und dreifach verschiedenen Bekenntnis zu dem einen Gott Abrahams, dem Schöpfer, Bewahrer und Richter von Welt und Mensch? Das ist das Gegenteil von „indifferenter Gleichmacherei“ aller religiösen Überzeugungen. Werfen wir noch einmal einen Blick auf die drei monotheistischen Religionen. Zwar ist der Missionarismus eine politische Realität, die mit gewaltigen Geldsummen und modernsten Kommunikationsmitteln Weltbekehrung anstrebt, aber er besitzt keinen Monopolanspruch. Im Gegenteil gilt: Je höher das Bildungsniveau der Gläubigen, desto stärker die Ablösung eines simplen dualistischen Denkmusters durch ein komplexeres Denken, das die eigenen normativen Traditionen neu interpretiert. Im Judentum ist seit der jüdischen Aufklärung, der Haskala (Moses Mendelsohn und die Folgen), die Selbstisolation durch Rückzug in die geschlossene Welt der Halacha überwunden und durch ein Denken ersetzt, dass Israels Auftrag für die Völkerwelt ebenso ernst nimmt, ja für Menschen aus den Weltvölkern Wege zum Heil ermöglicht und zwar durch Rückgriff auf die 7 noachidischen Gebote.7 Selbst das orthodoxe Judentum war nie so weit gegangen wie der kirchliche Exklusivismus. Es hat in keiner Form des Judentums je ein „Dogma“ wie „Außerhalb kein Heil“ gegeben. Auch Nichtjuden haben Anteil an der kommenden Welt, wenn sie die Grundgebote der Humanität leben, die es seit Gottes Bund mit seiner Schöpfung, seit dem Bund mit Noah, gibt. Aus dieser gottgewollten Beziehung Israels zu den Völkern folgt Weltverantwortung. Ja, der Stammvater des jüdischen Volkes, Abraham, soll nach dem 7 Zur Figur der „noachidischen Gebote“ im Judentum als „Tora für die Völker“ Einzelheiten bei: Karl-Josef Kuschel, Juden, Christen und Muslime, S. 282–295 (S. Anm. 3).

116 Zeugnis der Tora ein Segen für alle Geschlechter sein: „Ich will segnen, die dich segnen. Wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.“ (Gen 12, 3) Interreligiöser Dialog ist also für weltoffene Juden nicht der Beginn einer Auflösung jüdischer Identität, sondern Ausdruck jüdischen Glaubens an den Schöpfergott, der alle Menschen nach seinem Bild geschaffen (Gen 1,26) und ein segensreiches Miteinander von Israel und den Weltvölkern gewollt hat. Ausdruck der Überzeugung, dass Gott nicht nur das Gemeinsame in der einen Menschheit will, sondern ebenso die Unterschiede und dass es Aufgabe der an Gott Glaubenden ist, ob Jude, Christ oder Muslim, einem Glauben Ausdruck zu geben, den der britische Großrabbiner Jonathan Sax in seinem wegweisenden Buch „Dignity of Difference“ 2002 in die Worte fasste: „Was mich betrifft, glaube ich, dass wir von Gott aufgerufen sind, im menschlich Anderen eine Spur des göttlichen Anderen zu finden. Der Test – so erbärmlich die Großmächte des 20sten Jahrhunderts versagt haben mögen – ist, die göttliche Präsenz auf dem Gesicht des Fremden zu erblicken; den Schrei derer zu hören, die machtlos sind in einem Jahrhundert beispielloser Mächte; die hungrig, arm, unwissend und ungebildet sind, und denen die Chance verweigert wird, dies zum Ausdruck zu bringen.“8

Echte Religionsgespräche also können dazu führen, die „göttliche Präsenz“ im Angesicht des Fremden zu entdecken, im menschlich Anderen die Spur des göttlich Anderen zu erblicken. In der Welt des Christentums haben seit der Aufklärung Denker wie Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder und viele andere neuem Denken Bahn gebrochen. Sie haben vor allem die Gewaltgeschichte analysiert, die der Missionarismus weltweit erzeugt hat: die verheerenden Folgen von Kreuzzügen (Lessing spiegelt sie in seinem Drama „Nathan der Weise“, 1779), von Pogromen an Juden, von „Bekehrungen“ ganzer Völker, ob in Lateinamerika, Indien oder China. Eine grauenhafte Spur religiösen Vernichtungswahns gegenüber den als „heidnisch“ gebrandmarkten Glaubensformen, eine moralische Überfremdung ganzer Kulturen, eine „Inbesitznahme“ ganzer Völker durch eine angeblich allein selig machende Kirche9. 8 J. Sacks, The Dignity of Difference. How to Avoid the Clash of Civilizations? LondonNew York 2002, S. 208. 9 Einzelheiten zu Lessings Religionsdialog vor dem Hintergrund seiner Zeit bei: KarlJ­osef Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, Düsseldorf 1998; ders., Im Ringen um den wahren Ring. Lessings „Nathan der Weise“ – eine Herausforderung der Religionen, Stuttgart-Ostfildern 2011.

117 Diese Dialektik des Missionarismus führte zu einer Neubesinnung auf das ursprünglich Christliche: das von Jesu Bergpredigt her ausgehende Liebes- und Egalitätsgebot. Es führte nach dem 2. Weltkrieg zu einer neuen Grundeinstellung auch zu Menschen anderen Glaubens, zu einer Wertschätzung ihrer Kultur und Religion, zu einer Bereitschaft wechselseitigen Lernens und Sich Befruchtens. Seither sind im Raum des Christentums gewaltige geistige Energien investiert worden, um Würde und Reichtum anderer Kulturen und Religionen zu wahren und zu erschließen. Ein selbstkritisches und dialogisches Verhältnis wurde möglich zum Judentum und zu den großen Weltreligionen. Aber es hat bis zum Jahr 1965 gedauert, bis diese neue Einstellung zu den nichtchristlichen Religionen erstmals in einem kirchlichen Schlüsseldokument Ausdruck gefunden hat. In diesem Jahr verabschiedet das 2. Vatikanische Konzil der Katholischen Kirche die „Erklärung über die Beziehungen der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ („Nostra aetate“). Schlüsselsatz: „Die katholische Kirche verwirft nichts von dem, was in den (großen) Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtiger Hochachtung betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Gebote und Lehren, die … nicht selten einen Strahl jener Wahrheit wiedergeben, die alle Menschen erleuchtet … Deshalb ermahnt sie ihre Kinder, dass sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Anhängern anderer Religionen, indem sie ihren christlichen Glauben und ihr christliches Leben bezeugen, jene geistlichen und sittlichen Güter sowie jene soziokulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern.“ (NA 2) Dieses Dokument kann man mit Fug und Recht als die Magna Charta des interreligiösen Gesprächs für Christen bezeichnen10. Entscheidend ist hier die Einsicht, dass der Einsatz für den interreligiösen Dialog nicht ein „Einklammern“ der Wahrheitsfrage bedeutet, nicht der Erosion des Glaubens Vorschub leistet, sondern dem Zeugnis für die christliche Wahrheit entspringt, also aus der Mitte christlichen Glaubens kommt, die im Liebesgebot konkret wird. Wenn man den Anderen so lieben soll wie sich selbst, ist ein Höchstmaß an Verstehen angesagt, des Verstehens gerade auch der Andersheit des je Anderen. Gewiss, so wie es eine Dialektik des Missionarismus gibt, gibt es auch eine Dialektik der Dialogizität: die Standpunktlosigkeit, die Preisgabe eines Wahrheitsgewissens, die Hybridisierung, sprich: Verwässerung der Identitäten. Eine Religion aber, die sich selbst ernst nimmt, kann das nicht ermöglichen wol10 Einzelheiten dazu: Karl-Josef Kuschel, Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, Stuttgart-Ostfildern 2017, bes. Ers­ter Teil.

118 len. Ist doch, wie schon „der Volksmund“ sagt, der, der „für alles offen ist“, „nicht ganz dicht“. Echte Religionsgespräche sind etwas anderes. Sie haben nicht das Ziel, die Differenzen zwischen den Religionen zu überspielen oder die Wahrheitsfrage auszuklammern oder zu bagatellisieren. Echtem Dialog ist aufgegeben, aus der Perspektive des jeweils eigenen legitimen Glaubenszeugnisses heraus die Existenz des anderen vor Gott mit zu bedenken. Zur Identitätsgewinnung käme es von daher nicht länger durch Ausgrenzung oder Verwerfung anderer, sondern in Relationalität zum anderen. Beziehungsdenken ist verlangt. Interreligiöses Lernen beginnt mit der Umkehr des Sehens bzw. mit einer tieferen Wahrnehmung. Die anderen sind nicht mehr bloß vorhandene Objekte oder für eigene Interessen vorhandene Wesen zu konstatieren, sondern mit dem ‚dritten Auge‘, mit den Augen des Glaubens, zu sehen. Wenn die Menschen aus der Tiefe des Glaubens betrachtet werden, sind sie als Geschöpfe Gottes, als originelle Einfälle des Schöpfers zu erkennen. Die Anders-Gläubigen sind als Anders-Gläubige zu entdecken. Auch in der Welt des Islam haben viele erkannt, dass man den Herausforderungen des 3. Jahrtausends nicht mit den alten, simpel dualistischen Antworten beikommen kann. Testfall ist eine innerislamische Begründung der Menschenrechte und damit auch des Rechts jedes Menschen auf Religionsfreiheit, die nach modernem Verständnis eine dreifache Freiheit ist: Die Freiheit, eine Religion öffentlich auszuüben, die Freiheit eine Religion zu wechseln und die Freiheit, keine Religion zu wollen. Innerislamisch ist die Diskussion in vollem Gang, wie diese dreifache Religionsfreiheit sich zum Apostasie-Verbot verhält. Hier gibt es, vor allem im Schutz westlicher Länder, viele innovative Stimmen im Islam. Grundlage für eine islamische Authentifizierung der Menschenrechte ist die Anerkennung des religiösen Pluralismus als gottgewollt. Hier hat die europäische Imame- Konferenz durch drei Erklärungen (Graz 2003, Wien 2006 und 2010) wichtige Signale gesetzt. Nach der Wiener Erklärung von 2006 gilt: „Der Islam trägt einen lösungsbezogenen Ansatz in sich, indem Vielfalt als gottgewollt nicht in Frage gestellt werden soll, sondern gelassen in mehr Kenntnis mündend nutzbar zu machen ist. ‚Gute Werke‘ bilden eine Maxime des Handelns. Wie eng Frieden und Gerechtigkeit zusammen liegen, zeigt der Anspruch diskriminierungsfreien, gerechten Umgangs miteinander auf, unabhängig von Herkunft, Religion, gesellschaftlichen Ansehens oder Alter.“ Echte Religionsgespräche suchen nicht nach Gleichmacherei. Sie suchen nach Gemeinsamkeiten nicht auf Kosten aller Unterschiede, aber auch nicht verbissen nach Dissens auf Kosten aller möglichen Konsense. Stets bleibt den Partnern bewusst, dass die Religionen bleibende Wahrheitsprofile gegeneinander haben, die nicht auflösbar sind. Gemeinsamkeiten und Differenzen sind

119 gleichzeitig zu thematisieren und das eine im Lichte des je Anderen zu bedenken. So werden Dialoge zu mehr als sachlichem Informationsaustausch. Die eigene Glaubensüberzeugung wird nicht „eingeklammert“, vielmehr aktiviert. Interreligiöser Dialog lebt nicht von Indifferenz, sondern von Gottesleidenschaft. Nimmt man sie ernst, führt das zu einer theozentrischen Selbstrelativierung aller coram deo, der nach biblischem und koranischem Zeugnis der unverfügbare, unsagbare, unfassbare je grössere Gott bleibt. Das Bilderverbot der Tora soll ja gerade die Unverfügbarkeit Gottes schützen und bewahren und auch das Christusbekenntnis der Christen will sie nicht aufheben. Auch der Koran bezeugt die Unerschöpflichkeit des Wortes Gottes, die sich hier in eindrücklichen Vergleichen beschrieben findet: „Sag“, wird der Prophet aufgefordert, „Wäre das Meer Tinte für die Worte meines Herrn, ginge es zu Ende, bevor die Worte meines Herrn zu Ende gingen, selbst wenn wir noch einmal so viel hinzubrächten“ (Sure 18, 109: M II). Oder mit einem anderen Vergleich: „Wäre alles, was es auf der Erde an Bäumen gibt, Schreibrohre und kämen nach dem Meer (als Tinte) noch sieben weitere dazu, gingen Gottes Worte nicht zu Ende“ (Sure 31, 27: Mk III).11 Woraus folgt: Auch wer als Jude, Christ oder Muslim die Wahrheit seines Glaubens bezeugt und bezeugen muss, weiss zugleich, dass keine Religion die „ganze Wahrheit“ hat. Die die ganze Wahrheit hat „nur Gott allein“. Hans Küng hat in einer seiner Schriften auf diesen wichtigen Gedanken der Theozentrik noch einmal aufmerksam gemacht und auf die Religionenfrage angewandt12. Auch Christen können nicht beanspruchen, ihn, den Unbegreiflichen zu begriffen, ihn, den Unerforschlichen, erfasst zu haben. Denn auch Christen erkennen nach dem Zeugnis des Apostels Paulus die Wahrheit selbst, die Gott ist, nur in rätselhaften Umrissen, bruchstückhaft, facettenhaft, abhängig von unserem ganz bestimmten Standpunkt und Zeitpunkt (1 Kor 13, 4–8). Entsprechend ist auch die Christenheit als Glaubensgemeinschaft ‚in via‘, auf dem Weg: Ecclesia peregrinans, homines viatores. Aber auch Christen sind auf ihrem Weg nicht allein, sondern mit Abermillionen anderer Menschen aus allen möglichen Konfessionen und Religionen unterwegs, die ihren eigenen Weg gehen, mit denen Christen heute aber je länger desto mehr in einem Kommunikationsprozess stehen, wo es nicht um Mein und Dein, meine Wahrheit – deine Wahrheit, geht, wo man vielmehr, lernbereit, von der 11 Zur Theologie des Wortes Gottes im Koran vgl. Karl-Josef Kuschel, Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, Stuttgart-Ostfildern 2017, bes. Ers­ ter Teil. 12 H. Küng, Gibt es die wahre Religion? Versuch einer ökumenischen Kriteriologie, München 1987, S. 374–306, bes. S. 305f.

120 Wahrheit der anderen aufnehmen und von seiner eigenen Wahrheit neidlos mitteilen sollte. Wohin aber wird das alles führen? Die Geschichte ist nach vorne offen, und nach vorne offen ist auch der interreligiöse Dialog. Sicher, was die Zukunft betrifft, ist nach meiner Überzeugung nur das eine: am Ende sowohl des Menschenlebens wie des Weltenlaufs werden nicht Buddhismus oder Hinduismus stehen, aber auch nicht der Islam und nicht das Judentum. Ja, am Ende steht auch nicht das Christentum. Am Ende wird überhaupt keine Religion stehen, sondern steht der eine Unaussprechliche selbst, auf den alle Religion sich richtet, den auch die Christen erst dann, wenn das Unvollkommene dem Vollkommenen weicht, ganz so erkennen, wie sie selbst erkannt sind: die Wahrheit von Angesicht zu Angesicht. Und am Ende steht so zwischen den Religionen nicht mehr trennend ein Prophet oder ein Erleuchteter, steht nicht Mohammed und nicht der Buddha. Ja, auch der Christus Jesus, an den die Christen glauben, steht hier nicht mehr trennend. Sondern er, dem nach Paulus dann alle Mächte (auch der Tod) unterworfen sind, „unterwirft sich dann Gott, damit Gott selbst wahrhaft nicht nur in allem, sondern alles in allem sei. (1 Kor 15,28)“. Ich schliesse mit einem nochmaligen Rückgriff auf Buber.

4. „Die Religionen müssen zu Gott demütig werden“ „Ich und Du“: das ist auch zwischen Gott und Mensch ein wechselseitges Geschehen. Buber hat das immer wieder eingeschärft. Der Mensch fragt Gott seit Abrahams Zeiten, fordert ihn heraus, behaftet ihn auf seinen Zusagen: „Alles Erdlands Richer, wird der nicht das Recht tun?“ (Gen 18, 25) Aber Gott fragt auch den Menschen von Urzeiten an, seit der Frage Gottes an Adam im Urgarten: „Er, Gott, rief den Menschen an und sprach zu ihm: Wo bist du?“ (Gen 3, 9) Zur Illustration dieser Herausforderung gibt es keine eindrücklichere Geschichte als die, die man in Bubers Schrift „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ aus dem Jahr 1948 finden kann. Die Geschichte, die ich meine, findet sich schon im ersten Kapitel mit dem Titel „Selbstbesinnung“13. Sie spielt in einem Gefängnis St. Petersburgs noch zur Zeit der Zarenherrschaft. Eingekerkert ist Rabbi Schnëur Salman, der Rabbiner von Reussen. Er war bei der Regierung verleumdet worden und sieht einem Verhör entgegen. Da kommt der Oberste der Gendarmerie in seine Zelle, und es entspannt sich ein „christlich-jüdischer Dialog“ der besonderen 13 Martin Buber, Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre (1948), in: W III, S. 713–738.

121 Art, denn der Wächter erweist sich als ein „nachdenklicher Mann“. Er verwickelt den Gefangenen in ein Gespräch, denn beim Lesen der Bibel ist ihm ein Widerspruch aufgefallen. Jetzt möchte er den Rabbi „testen“: „Wie ist es zu verstehen“, fragt er den Gefangenen, „dass Gott der Allwissende zu Adam spricht: ‚Wo bist du‘?“. Kann Gott etwas erfragen wollen, was er als „Allwissender“ eigentlich längst wissen müsste? Der Rabbi antwortet: „Glaubt Ihr daran, dass die Schrift ewig ist und jede Zeit, jedes Geschlecht und jeder Mensch in ihr beschlossen sind?“ Als der Wächter die Frage bejaht, sagt der Rabbi: „Nun wohl, in jeder Zeit ruft Gott jeden Menschen an: ‚Wo bist du in deiner Welt? So viele Jahre und Tage von den dir zugemessenen sind vergangen, wie weit bist du derweilen in deiner Welt gekommen?‘ So etwa spricht Gott: ‚Sechsundvierzig Jahre hast du gelebt, wo hältst du?‘“ Als der Oberste überraschend die Zahl seiner Lebensjahre nennen hört, legt er dem Rabbi die Hand auf die Schulter und ruft: „Bravo!“. Aber sein Herz „flattert“. Warum erzählt Buber diese Geschichte? Und warum erzählt er sie so? Ihm kommt es auf eine entscheidende Einsicht an. Die Frage des Obersten ist ja eine Art Fangfrage, gestellt in der Position des scheinbar Überlegenen. Sie ist im Grunde, so Buber, „keine echte Frage, sondern nur eine Form der Kontroverse“. Deshalb zielt die Antwort des Rabbi auf etwas ganz Anderes. Sie zielt darauf, den Fragenden aus der Rolle des Überlegenen zu holen und ihn zum Betroffenen zu machen. Zielt darauf, dass der Fragende sich selber als „Adam“ begreift, an den Gott die entscheidende Frage richtet: „Wo bist du?“ Nicht der angebliche Widerspruch Gottes steht zur Debatte, sondern der Standort des Fragenden. „Wo bist du in deiner Welt?“ Und wenn Gott so fragt, will er, meint Buber, „vom Menschen nicht etwas erfahren, was er noch nicht weiß; er will im Menschen etwas bewirken, was eben nur durch eine solche Frage bewirkt wird, vorausgesetzt, dass sie den Menschen ins Herz trifft, dass der Mensch sich von ihr ins Herz treffen lässt.“ Die Pointe dieses Dialogs zwischen einem Juden und einem Christen läuft also auf die exemplarische Erkenntnis heraus: Alles kommt darauf an, ob Menschen sich in der Begegnung in Frage stellen, ob sie sich von Gott nach ihrem Ort befragen lassen. Die Begegnung zwischen Juden und Christen hört dann auf, zur Wahrheitsrechthaberei zu werden. Beide stellen sich unter die „Frage Gottes“, eine Frage, die, so Buber, die Menschen „aufrühren“ will. Eine Frage, die ihnen ihren „Verstecksapparat zerschlagen“ und so zeigen will, wo der Mensch „hingeraten“ ist. Das Zusammenkommen von Jude und Christ wäre dann, wenn beide sich von Gott befragen ließen: „Wo bist du?“, keine „Vergegnung“, sondern eine echte „Begegnung“. Wie hatte Buber doch fast zur selben Zeit, 1949, an den katholischen Theologen Karl Thieme geschrie-

122 ben: „Judentum und Christentum stehen miteinander im Geheimnis unseres Vaters und Richters: so darf der Jude vom Christen und der Christ vom Juden nicht anders als in Furcht und Zittern vor dem Geheimnis Gottes reden. Auf dieser Grundlage allein kann es zwischen Jude und Christ echte Verständigung geben.“14 „In Furcht und Zittern vor dem Geheimnis Gottes reden“: Dass „Religionen“ in ihrer institutionalisierten Form dieses Geheimnis Gottes oft genug zerredet haben, weiß Buber wie kaum ein Anderer. Sie haben dadurch vielen Menschen den Weg zu Gott verstellt. Und diese Linie der Religionskritik um der Unverfügbarkeit Gottes willen hat Buber im Alter noch einmal verstärkt. Er hatte genügend erlebt, wie die Rede von Gott in die „Eswelt“ abgesunken war. Sein geistiges Vermächtnis im Blick auf die Religionen der Welt (auf alle Religionen) hat er in einem kurzen Text niedergelegt, den er bescheiden „Fragmente über Offenbarung“ nennt. Er erscheint in dem Sammelband „Nachlese“ 15, dessen Veröffentlichung Buber nicht mehr erlebt, da er am 13. Juni 1965 in Jerusalem verstirbt. Fahnenkorrekturen hat er noch vornehmen können. Der kurze, aber dicht geschriebene Text ist sein Vermächtnis am Ende eines langen Lebens: „Die geschichtlichen Religionen haben die Tendenz, Selbstzweck zu werden und sich gleichsam an Gottes Stelle zu setzen, und in der Tat ist nichts so geeignet, dem Menschen das Angesicht Gottes zu verdecken, wie eine Religion. Die Religionen müssen zu Gott und zu seinem Willen demütig werden; jede muss erkennen, dass sie nur eine der Gestalten ist, in denen sich die menschliche Verarbeitung der göttlichen Botschaft darstellt, – dass sie kein Monopol auf Gott hat; jede muss darauf verzichten, das Haus Gottes auf Erden zu sein, und sich damit begnügen, ein Haus der Menschen zu sein, die in der gleichen Absicht Gott zugewandt sind, ein Haus mit Fenstern; jede muss ihre falsche exklusive Haltung aufgeben und die rechte annehmen. Und noch etwas ist not: die Religionen müssen mit aller Kraft darauf horchen, was Gottes Wille für diese Stunde ist, sie müssen von der Offenbarung aus die aktuellen Probleme zu bewältigen suchen, die der Widerspruch zwischen dem Willen Gottes und der gegenwärtigen Wirklichkeit der Welt ihnen stellt. Dann werden sie, wie in der gemeinsamen Erwartung der Erlösung, so in der Sorge um die noch unerlöste Welt von heute verbunden sein.“16 14 M. Buber, in: MBW 9, S. 192. 15 M. Buber, Fragmente über Offenbarung, in: ders., Nachlese, Heidelberg 1965, S. 107–112. 16 Ebd., S. 111f.

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Die Autoren ALEIDA ASSMANN, Studium der Anglistik und Ägyptologie; von 1993–2014 Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Zahlreiche Fellowships (Wissenschaftskolleg zu Berlin, Aby-Warburg-Haus Hamburg) sowie Gastprofessuren an amerikanischen Universitäten. Forschungsthemen: Semiotik und Hermeneutik, individuelles und kulturelles Gedächtnis, Gewalt, Trauma und vergleichende Geschichtspolitik. Aktuelle Publikationen: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur (2013); Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Niedergang des Zeitregimes der Moderne (2013), Im Dickicht der Zeichen (2015), Formen des Vergessens (2016), Menschenrechte und Menschenpflichten. Auf der Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag (2017). EMMANUEL J. BAUER, geb. 1959 in Mistelbach (NÖ), 1977–1984 Studien der Theologie und Philosophie an den Universitäten Wien, Salzburg und Innsbruck (Mag. theol., Mag. phil.), neben pastoralen Aufgaben Promotion (1986) und Habilitation (1995) für Philosophie in Innsbruck, 1994–2001 Rektor des Kollegs St. Benedikt, 1996–2002 Ausbildung zum Psychotherapeuten (Existenzanalyse), seither Arbeit als Psychotherapeut in freier Praxis, 2000–2018 Ao. Univ.-Prof. für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg; seit 2018 Professur für Christliche Philosophie an der Universität Salzburg; philosophische und psychotherapeutische Vortragstätigkeit und zahlreiche Publikationen; wissenschaftliche Leitung des Universitätslehrgangs „Existenzanalyse und Logotherapie“; 2005–2009, 2013–2015 und seit 2017 Leiter des Fachbereichs Philosophie/ KTH der Universität Salzburg. Wichtige Publikationen: Freiheit in philosophischer, neurowissenschaftlicher und psychotherapeutischer Perspektive, München: Wilhelm Fink 2007 (Hg.); Wenn das Leben unerträglich wird. Suizid als philosophische und pastorale Herausforderung (Forum Systematik, Bd. 40), Stuttgart: Kohlhammer 2011 (mit Beiträgen von A. Nindl u. R. Fartacek); Auf der Suche nach dem Glück. Antworten aus der Wissenschaft. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2011 (hg. mit U. Tanzer); Verstehen als Existenzial menschlichen Daseins, in: Existenzanalyse 33, H. 1 (2016) 4–14; Personal-existentieller Dialog als Bedingung authentischen Selbst-Seins bzw. Selbst-Werdens, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 62 (2017) 9–29.

124 CHRISTA DÜRSCHEID hat einen Lehrstuhl für germanistische Linguistik an der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Grammatik, der Sprachdidaktik, der Varietätenlinguistik und der Medienlinguistik. So untersuchte sie in einem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekt, ob die neuen Medien einen Einfluss auf den Sprachgebrauch in der Schule haben. In diesem Kontext entstand die Monographie „Wie Jugendliche schreiben. Schreibkompetenz und neue Medien“ (de Gruyter 2010). Zurzeit leitet sie zwei SNF-Forschungsprojekte: das Projekt „Variantengrammatik des Standarddeutschen“ und eines der vier Subprojekte zur WhatsApp-Kommunikation in der Schweiz. Ihr neuestes Buch (zus. mit Karina Frick) trägt den Titel „Schreiben Digital. Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert“ (Kröner 2016). GÜNTER FIGAL, geb. 1949, Studium, Promotion (1976) und Habilitation (1987) an der Universität Heidelberg. Von 1989 bis 2002 Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Von 2002 bis zur Emeritierung 2017 Ordinarius für Philosophie an der Universität Freiburg im Breisgau. Zahlreiche Gastprofessuren, u.a. an der Kwansei Gakuin Universität in Nishinomiya, als Inhaber des Kardinal-Mercier-Lehrstuhls an der Universität Leuven, als Gadamer Distinguished Visiting Professor am Boston College und an der Universität Turin. 2017 „Derrida, Law and Culture“-Preis der Universität Turin. Seit 2015 vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar archiviert. Bücher (Auswahl): Ando. Raum Architektur Moderne (2017); Freiräume. Phänomenologie und Hermeneutik (2017); Unwillkürlichkeit. Essays über Kunst und Leben (2016); Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie (2015); Simplicity. On a Bowl by YoungJae Lee / Einfachheit. Über eine Schale von Young-Jae Lee (2014); Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, revidierte Neuauflage (2013); Kunst. Philosophische Abhandlungen (2012); Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie (2010); Verstehensfragen. Studien zur phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie (2009); Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie (2006); Nietzsche. Eine philosophische Einführung (1999); Der Sinn des Verstehens (1997). KARL-JOSEF KUSCHEL, geboren 1948 in Oberhausen/Rhld; 1967–1972 Studium der Germanistik und Katholischen Theologie an den Universitäten von Bochum und Tübingen; 1977 Promotion zum Doktor der Theologie in Tübingen mit einer Arbeit zum Thema „Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“; 1989 Habilitation für „Ökumenische Theologie“ in Tübingen mit einer Arbeit zum Thema „Geboren vor aller Zeit? Der Streit

125 um Christi Ursprung“; von 1995 bis 2013 Professur für „Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs“ an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Tübingen und Ko-Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung; 1997 Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Lund (Schweden); Mitglied im Kuratorium der Stiftung Weltethos (Tübingen). 2015 Berufung in den Stiftungsrat zur Vergabe des Friedenspreises des deutschen Buchhandels und Wahl zum Präsidenten der Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft; Forschungen und Publikationen in den Bereichen „Theologie der Kultur“ mit dem Schwerpunkt: Religion und Literatur, „Theologie des interreligiösen Dialogs“ mit dem Schwerpunkt: Judentum, Christentum, Islam sowie zum Thema „Weltreligionen im Spiegel der Literatur“. Publikationen (kleine Auswahl): Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, 1995 Neuausgabe 2001 (Patmos); Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, 1998 (Patmos); Jesus im Spiegel der Weltliteratur. Eine Bilanz des Jahrhunderts, 1999, Neuausgabe 2010 (Patmos); Juden-Christen-Muslime: Herkunft und Zukunft, 2007 (Patmos); Leben ist Brückenschlagen. Vordenker des interreligiösen Dialogs, 2012 (Patmos); Festmahl am Himmelstisch. Wie Mahlfeiern Juden, Christen und Muslime verbindet, 2013 (Patmos); Martin Buber – seine Herausforderung an das Christentum, 2015 (Gütersloh); Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, 2017 (Patmos); Im Fluss der Dinge. Hermann Hesse und Bertolt Brecht im Dialog mit Buddha, Laotse und Zen, 2018 (Patmos). KARLHEINZ TÖCHTERLE, geb. 1949 in Brixlegg, Studium der Klassischen Philologie und Germanistik an den Universitäten Innsbruck, Konstanz und Padua, 1976 Promotion und 1986 Habilitation in Klassischer Philologie; nach Stationen in Graz und München ab 1997 bis 2017 Ordinarius für Klassische Philologie an der Universität Innsbruck; Forschungen vor allem zum antiken Drama, zur neulateinischem Literatur, zur Rezeption antiker Texte und zur altsprachlichen Fachdidaktik; 2007–2011 Rektor der Universität Innsbruck, 2011–2017 zuerst österreichischer Wissenschaftsminister, dann Abgeordneter zum Nationalrat; seit 2015 Präsident der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Aktuelle Publikationen: Oedipus, in: Brill’s Companion to Seneca, Philosopher and Dramatist, hg. v. Gregor Damschen, Andreas Heil (2014); Wo beginnt die Schuld, wo endet die Sühne? Am Beispiel Ödipus, in: Schuld und Sühne. Nach dem Ende der Verantwortung, hg. v. Konrad Paul Liessmann (2015).