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German Pages [397] Year 2016
Astrid Schwarz Alfred Nordmann (Hg.)
Das bunte Gewand der Theorie Vierzehn Begegnungen mit philosophierenden Forschern
tter · Alexander von Humboldt · Adolphe · Heinrich Hertz · Baron Jakob von Uexertheimer und Wolfgang Köhler · Werner hen W. Hawking · Liselotte Schebek
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495861004
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B
Astrid Schwarz / Alfred Nordmann (Hg.) Das bunte Gewand der Theorie
VERLAG KARL ALBER
A
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Das bunte Gewand der Theorie lässt Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die in ihrer Untersuchung von Natur, Gesellschaft und gesellschaftlich verfasster Natur auf philosophische Fragen stoßen. Aus ihren eigenen Worten ergeben sich Reflektionen über die Grenzen des Wissens, über Theorie und Experiment, über ihr Verhältnis zu Technik und Gesellschaft, über die Möglichkeit alternativer Wissensformen, über die Angemessenheit einer Methode zu ihrem Gegenstand. 14 Begegnungen zwischen Wissenschaftsphilosophie und Forscherpersönlichkeiten finden in diesem Buch statt: Martin Carrier trifft auf Antoine Lavoisier, Kristian Köchy auf Alexander von Humboldt, Andreas Woyke auf Johann Wilhelm Ritter, Petra Gehring auf Adolphe Quetelet, Eve-Marie Engels auf Charles Darwin, Mechthild Hetzel auf Sofja Kowalewskaja, Alfred Nordmann auf Heinrich Hertz, Astrid Schwarz auf den Baron Jakob von Uexküll, Moritz Epple auf Felix Hausdorff alias Paul Mongré, Mitchell Ash auf Max Wertheimer und Wolfgang Köhler, Gregor Schiemann auf Werner Heisenberg, Gernot Böhme auf Carl Friedrich von Weizsäcker, Klaus Mainzer auf Stephen W. Hawking und schließlich ganz buchstäblich in Gesprächsform Alfred Nordmann und Astrid Schwarz auf Liselotte Schebek. Die Herausgeber: Astrid Schwarz studierte Biologie und Philosophie und lehrt und forscht aktuell am Institut für Philosophie an der TU Darmstadt. Sie interessiert sich für Fragen der Konstituierung von Wissen und Macht, für ihre Grenzen und Überschreitungsfiguren. Gegenstand der Forschung können Bilder, Diskurse, Begriffe oder Objekte aus den Umweltwissenschaften, der Ökologie und Biologie, sowie den Nanotechnologien sein. Alfred Nordmann lehrt Philosophie und Geschichte der Wissenschaften und Technowissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt. Sein historisches Interesse gilt der Entstehung neuer Disziplinen, dabei geht es vor allem um die Herausbildung spezifischer Wissensund Objektivitätsbegriffe. Sein erkenntniskritisches Interesse bezieht sich auf die Traditionslinie, die von Immanuel Kant über Heinrich Hertz zu Ludwig Wittgenstein und heutigen Analysen wissenschaftlicher Modelle, Bildgebungsverfahren und Simulationen führt.
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Astrid Schwarz / Alfred Nordmann (Hg.)
Das bunte Gewand der Theorie Vierzehn Begegnungen mit philosophierenden Forschern
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009 www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48384-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86100-4
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Inhaltsverzeichnis
Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Astrid Schwarz / Alfred Nordmann
7
Antoine Laurent de Lavoisier und die Chemische Revolution . . . Martin Carrier
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Johann Wilhelm Ritter: Zwischen romantischer Naturphilosophie und exakter Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Woyke
43
Alexander von Humboldts »Naturgemälde«: Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft Kristian Köchy
. . . . . . . . . .
71
Adolphe Quetelet: Sprache und Wirklichkeitsmacht der Bevölkerungsstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Gehring
96
Charles Darwins geheimnisvolle Revolution . . . . . . . . . . . Eve-Marie Engels Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Hetzel Heinrich Hertz an den Grenzen seiner Wissenschaft . . . . . . . Alfred Nordmann
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133
154
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Inhaltsverzeichnis
Baron Jakob von Uexküll: Das Experiment als Ordnungsprinzip in der Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Astrid Schwarz
207
. . . 235
Spielräume des Denkens: Felix Hausdorff und Paul Mongré Moritz Epple
Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und ihr »dritter Weg« zwischen Natur- und Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . . . Mitchell Ash
263
Welt im Wandel: Werner Heisenbergs Ansätze zu einer pluralistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gregor Schiemann
296
Carl Friedrich von Weizsäcker: Produktiv irren Gernot Böhme
. . . . . . . . . 321
Stephen W. Hawking: Kosmologie und Medien im Zeitalter der Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Mainzer Umweltforschung als Technowissenschaft? . . . . . . . . . . . . Liselotte Schebek im Gespräch mit Alfred Nordmann & Astrid Schwarz
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Zur Einfhrung Astrid Schwarz / Alfred Nordmann
Die Gestalt der Natur tritt uns nie nackt entgegen, bemerkte der Physiker Heinrich Hertz. Auch die strengste Wissenschaft wirft ihr ein buntes Gewand über, »dessen Schnitt und Farbe vollständig in unserer Gewalt liegt« 1 . Dieses bunte Gewand ist Theorie, ist aber auch Erkenntnistheorie, Naturphilosophie und das heroische oder auch bescheidene Selbstverständnis der Wissenschaften. In Schnitt und Farbe dieses Gewands begegnen sich Wissenschaft und Philosophie nicht nur bei Heinrich Hertz, sondern in diesem Buch bei vierzehn anderen Naturforschern, deren philosophische Reflektionen wir hier buchstäblich zur Sprache bringen wollen. »Naturforschung zur Sprache gebracht – Philosophieren in den Wissenschaften « hieß die Vorlesungsreihe, die diesem Buch zugrunde liegt. Ihr Titel birgt den Schlüssel zum inhaltlichen und formalen Anspruch des »zur Sprache Bringens« der hier vorgestellten Texte und Persönlichkeiten. Ein Versuch, die inhaltlichen Aspekte in eine Kurzformel zu bringen, könnte mit dem zweiten Satz des Titels lauten, dass es hier zunächst vornehmlich um das Philosophieren in den Wissenschaften gehen soll – und nicht um das Philosophieren über sie. Eine solche Perspektive erfordert eine zugleich größere und geringere Distanz zu den wissenschaftlichen Texten: eine größere Distanz, weil sie den Texten eine größere Selbständigkeit, eine gewissermaßen autonome philosophische Aktivität einräumt; eine geringere Distanz, weil erst aus der Mikroperspektive die behaupteten engen Verflechtungen theoretischen und praktischen Arbeitens zum Vorschein kommen. Als allen hier versammelten Texten zugrunde liegendes Motiv könnte entsprechend die Suche danach ausgemacht werden, wie sich eigentlich philosophische Fragen aus der wissenschaftlichen Praxis heHeinrich Hertz, Untersuchungen zur Ausbreitung der elektrischen Kraft, Leipzig: Barth, 1892, S. 30f.
1
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raus entwickeln. Das Philosophieren erscheint damit als ein unverzichtbarer Bestandteil des wissenschaftlichen Arbeitens; etwa dann, wenn mehrere Theorien oder Bilder möglich wären um ein bestimmtes Phänomen zu beschreiben, aber zwischen ihnen aufgrund der empirischen Befunde, den Tatsachen, nicht entschieden werden kann. Dann müssen andere Kriterien hinzugezogen oder überhaupt erst entwickelt werden, die eine Entscheidung für diese oder jene Theorie plausibel machen – eine Entscheidung, die dann philosophierend herbeigeführt wird (Lavoisier, Hertz). Auch dann ergeben sich philosophische Fragen aus dem wissenschaftlichen Arbeiten, wenn neue Entwicklungen von experimentellen Systemen und Modellorganismen, von Medien und Darstellungsmethoden die Praxis verändern (Uexküll, Hawkings, Schebek). Und was geschieht eigentlich, wenn Wissenschaftler auf ihre Gegenstände treffen? Können wissenschaftliche Gegenstände überhaupt angetroffen werden oder müssen sie nicht vielmehr hervorgebracht werden? Hier spielen Vorstellungen über Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozesse in die Forschung hinein (Quetelet, Darwin, Hausdorff/Mongré, Heisenberg, von Weizsäcker). Und wie werden unscheinbare Dinge zu wissenschaftlichen Objekten transformiert, die überhaupt erst durch diese Aufmerksamkeit zum Mobiliar unserer Welt werden (Wertheimer und Köhler)? Auch die Selbstbehauptung einer Wissenschaft gegenüber Kunst, Poesie, Naturphilosophie, anderen Wissenschaften spielt bei der Herausbildung von Fragestellungen und Begrifflichkeiten eine entscheidende Rolle (Ritter, Humboldt, Kowalewskaja). Ganz wörtlich genommen hat das »zur Sprache Bringen« dann auch Konsequenzen für die Form dieses Buchs. Die hier thematisierten Wissenschaftler werden mit langen Zitaten »zu Gehör gebracht«. Die meisten der zur Sprache gebrachten Forscherinnen und Forscher kommen aus den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, oder der Mathematik. Trotz dieser etwas schiefen Proportionen im Gesamtbild der Naturwissenschaften werden einige der wichtigsten Exponenten der zu Unrecht in den Hintergrund gedrängten Gegenstandsbereiche zu Wort kommen: Lavoisier für die Chemie, Uexküll und Darwin für die Biologie, Köhler und Wertheimer für die Psychologie. So breit die Palette der vertretenen Fächer also letztlich ist, so weit ist auch der zeitliche und geographische Horizont gespannt. Er reicht über knapp 200 Jahre von der französischen Revolution (Lavoisier), über die deut8 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Zur Einfhrung
sche Romantik (Ritter, Humboldt), das viktorianische Zeitalter (Darwin) bis heute (Schebek). Und er umfasst auch ganz unterschiedliche, kontroverse Konzepte von Wissenschaft, seien es die Holismus-Reduktionismus-Debatten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, oder der Positivismusstreit in den 1960er Jahren. Bei aller Differenzierung ist diesen Konzepten jedoch gemeinsam, dass sie sich unter dem großen Überbegriff der Moderne versammeln lassen – selbst wenn wir noch nie modern gewesen sind. Stark unterrepräsentiert sind auch die Sozialwissenschaften – was man mit dem Hinweis darauf erledigen könnte, dass es hier schließlich um Naturforschung gehen soll. Dies verfehlt aber den Sachverhalt insofern, als es gerade die sozialwissenschaftlichen Arbeiten sind, die auch beanspruchen zur exakten Beschreibung der Natur des Menschen beizutragen: Dies gilt insbesondere für die historische Rassenforschung oder die Entwicklungspsychologie, auch die Bevölkerungsstatistik (Quetelet). Dasselbe gilt für die zeitgenössischen Technowissenschaften, die nur in einem Kapitel zu Wort kommen (Schebek). Alle diese Verschiebungen sind weniger Ausdruck einer Planung als vielmehr der vorgefundenen Interessenslagen der in dieser Ringvorlesung vertretenen deutschsprachigen Wissenschaftsphilosophie. Neben in der breiten Öffentlichkeit weniger bekannten Persönlichkeiten, – wer kennt heute noch den Physiker Johann Wilhelm Ritter oder schon die russische Mathematikerin Sofja Kowalewskaja –, werden wir es hier auch mit großen Namen zu tun haben, wie etwa Alexander von Humboldt oder Carl Friedrich von Weizsäcker. Alle diese Namen stehen jeweils für verschiedene Forschungsstile, teilweise sogar für ganze Forschungsprogramme, darüber hinaus aber auch für unterschiedliche wissenschaftliche Produktionsverhältnisse: Ritter und Humboldt erscheinen uns als individuelle Naturforscher, gesellschaftlich mehr oder weniger erfolgreich agierend; Weizsäcker hingegen arbeitete im Zeitalter der industriell organisierten Forschung, charakterisiert durch die Kooperation vieler Forscher an einem Großprojekt – in Weizsäckers Fall etwa die Arbeit am so genannten deutschen Uranprojekt. Die Wissenschaftsgeschichte erzählt entsprechend unterschiedliche Geschichten, je nachdem mit welchen mehr oder weniger wissenschaftskritischen Konzepten und Fragen und mit was für einem Wissenschaftsbegriff der Philosoph oder Historiker arbeitet. Dies zeigt sich an den erzählerischen Formen. So mag die Forschungsleistung ein9 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Astrid Schwarz / Alfred Nordmann
zelner Wissenschaftler vor dem Hintergrund eines Forscherkollektivs konstruiert werden, wobei ein besonderes Augenmerk etwa auf die zeitgenössischen kognitiven und soziopolitischen Strukturen gelenkt wird oder auf die gesellschaftlichen Folgen der hervorgebrachten Objekte reflektiert wird. Dies können ebenso Uranisotope oder Siliziumhalbleiter sein wie Tiermodelle oder so genannte Lebenszyklusanalysen. Nicht in diesem Buch anzutreffen ist jene Geschichtsschreibung, bei der eine einzelne Forscherpersönlichkeit als heroisch überhöhter Einzelkämpfer stilisiert wird, der seine wissenschaftlichen Erkenntnisse einsamen genialen Eingebungen verdankt. Wie die Unterschiede in der historischen Rekonstruktion auch die Vorstellung von Wissenschaft sowohl in der Öffentlichkeit wie in den Wissenschaften selbst beeinflussen, wird im einen oder anderen Beitrag thematisiert. Daraus ergibt sich nun eine Palette verschiedener Möglichkeiten, wie eine Auseinandersetzung mit den zur Sprache kommenden Forschern aussieht: Erstens kann das Werk eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin über eine klassische wissenschaftsphilosophische Problemstellung erschlossen werden. Naturwissenschaftler können zweitens als eigenständige Philosophen vorgestellt und ihr Natur- und Wissenschaftsbegriff diskutiert werden. Drittens wird das Verhältnis zwischen einzelnem Forscher und Forscherkollektiv befragt, sowie die Rolle der Rekonstruktion von Biografien, womit gleichzeitig auch das Verhältnis von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie problematisiert ist. Kennzeichnend für die heutige Wissenschaftsphilosophie ist vielleicht, dass sich die meisten der Autoren dieses Buchs für die zweite Möglichkeit entschieden haben. Kennzeichnend für die heutige Wissenschaftsphilosophie ist auch das oben angesprochene Missverhältnis, dass nämlich unter den vorgestellten Naturwissenschaftlern die Physiker gegenüber Chemikern und Biologen, Psychologen und Geographen immer noch dominieren. Für die naturwissenschaftliche Forschungslandschaft ist dies keineswegs repräsentativ. Schon eher repräsentativ ist dieses Missverhältnis allerdings für das Regime der Aufmerksamkeit in der Wissenschaftsphilosophie, in der wir es ebenfalls mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Kulturen zu tun haben. Erst in der 1970er und 1980er öffnete sich die disziplinäre Regionalisierung der Wissenschaftsphilosophie. Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit 10 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Zur Einfhrung
wandte sich nicht mehr so gut wie ausschließlich auf die Physik und die Mathematik, sondern auch auf andere Naturwissenschaften, später dann auch die Sozialwissenschaften. Allmählich sichtbar wurde beispielsweise eine Wissenschaftsphilosophie der Biologie durch die Einrichtung von Instituten, wissenschaftlichen Gesellschaften und Zeitschriften. Weiterhin wird die wissenschaftsphilosophische Landschaft dadurch strukturiert, wie die Distanz, die wechselseitige Beeinflussung von Philosophie und Wissenschaft vorgestellt wird – nicht nur im Sinne einer gegenseitigen soziokulturellen Kontextualisierung, sondern vor allem auch in der Theoriebildung. In unserer heutigen Wissensgesellschaft jedenfalls, in der wissenschaftliches Wissen sich in alle Lebensbereiche schiebt, scheint es mehr denn je unverzichtbar zu sein, die Wissenschaft auch mit reflexiven Anteilen auszustatten. Im Dialog zwischen Philosophie und Wissenschaft könnte es entsprechend um die Frage gehen, wie die Naturwissenschaften eigentlich zu ihren spekulativen und reflexiven Anteilen stehen. Damit verbindet sich die Frage, wie stark der innerfachliche Diskurs der Philosophie in die jeweilige Fachkultur ihrer Gegenstandsbereiche hineinspielen kann, soll, oder gerade nicht darf. In diesem Sinne reflektiert die vorliegende Sammlung auch das Schicksal der gleichermaßen reizbaren wie reizvollen Beziehung von Wissenschaften und Wissenschaftsphilosophie. Es spiegelt sich in den etwa 200 Jahre zurückreichenden Geschichten über die hier vorgestellten Forscherpersönlichkeiten. Und wie jede andere Beziehung ist auch sie charakterisiert durch Zeiten der Begeisterung aneinander, durch Krisen und Entfremdungen, durch Streit und Versöhnung.
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Antoine Laurent de Lavoisier und die Chemische Revolution Martin Carrier
Antoine Laurent de Lavoisier (1743–1794) ist der Urheber der Chemischen Revolution. Unter dem Einfluss seines Werks hat sich die Chemie der inhaltlichen Beschaffenheit und dem methodischen Zugang nach grundlegend gewandelt. Lavoisiers Arbeiten erschließen sich dem heutigen Leser vergleichsweise leicht, während die Abhandlungen der alten Chemie ohne langwierige Erläuterungen kaum zugänglich sind. Von der Antike an bildeten die so genannten Prinzipien den Angelpunkt chemischen Denkens. Prinzipien sind Träger allgemeiner Eigenschaften wie Festigkeit, Flüchtigkeit oder Brennbarkeit. Die Eigenschaften von Stoffen verweisen darauf, welche Prinzipien in ihnen enthalten sind. Dabei wurde stets nur eine geringe Zahl von Prinzipien angenommen, jedem von diesen also eine Mehrzahl von Eigenschaften zugeordnet. Die Herausforderung bestand entsprechend darin, die Vielzahl der beobachtbaren Merkmale durch wenige Eigenschaftskombinationen zu erfassen. Bei chemischen Umwandlungsprozessen werden Prinzipien übertragen und ausgetauscht, woraus sich die Änderung der stofflichen Qualitäten der beteiligten Substanzen erklärt. Eine der nachhaltigen Wirkungen der Chemischen Revolution bestand in der Abschaffung der Prinzipien. 1
1.
Lavoisier und die Entwicklung der Chemie
Lavoisiers wichtigste Abhandlung, der sein Lebenswerk zusammenfassende Traité élémentaire de chimie von 1789, liest sich nach Anlage Allerdings entfalten die Prinzipien bei Lavoisier selbst noch eine spürbare Wirksamkeit (s. u. 6). Aber bei den Urhebern des Neuen finden sich in aller Regel noch Residuen des Alten. Galilei blieb lange im Bannkreis der Impetusphysik, und Darwin legte sich auf die Lamarckistische Vererbung erworbener Eigenschaften fest.
1
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Antoine Laurent de Lavoisier und die Chemische Revolution
und Darstellung wie eine leicht angestaubte Version eines modernen Lehrbuchs der Chemie. Es werden chemische Elemente vorgestellt, sowie deren Reaktionen und Verbindungen. Analysen und Synthesen werden in systematischem Zusammenhang und in vertrauter Begrifflichkeit präsentiert. In der alten Chemie wurden dagegen in einer retrospektiv verwirrenden Weise Stoffe und Eigenschaften miteinander vermengt. Es musste zum Beispiel aus dem jeweiligen Kontext erschlossen werden, ob der Ausdruck »Quecksilber« die betreffende chemische Substanz oder das gleichnamige Prinzip, also die Eigenschaft der Flüchtigkeit, bezeichnete und entsprechend auf ganz andere Substanzen Anwendung finden sollte. Zwar haben spätere Einsichten nicht selten Lavoisiers Theorie korrigiert, aber in Begrifflichkeit und Zugangsweise hat diese die Chemie bis in die Gegenwart hinein geprägt. Inhaltlich besteht Lavoisiers bekannteste Leistung in der Formulierung der Oxidationstheorie der Verbrennung. Danach stellt sich dieser Prozess als Verbindung zwischen dem brennenden Material und dem Sauerstoff der Luft dar. Diese Lehre ersetzte die von Georg Ernst Stahl (1660–1734) um 1700 formulierte Phlogistontheorie, die als eine Spielart der Prinzipienchemie das Prinzip der Brennbarkeit, eben das Phlogiston, ins Zentrum rückte. Nach dieser herkömmlichen Vorstellung ist Verbrennung Zerlegung: bei der Verbrennung entweicht Phlogiston aus dem betreffenden Körper, und es bleibt unbrennbare Asche zurück. Feuer und Flamme führen schließlich zweifelsfrei vor Augen, dass etwas den brennenden Körper verlässt. Bei Stahl ist das Phlogiston ein »irdisches Prinzip«, also eine Unterform des Elements Erde; es ist nicht frei darstellbar, aber in ölig-fettigen Stoffen ebenso wie in Holzkohle und Ruß in besonders hohem Maß enthalten. Charakteristisch für die Phlogistontheorie ist eine Universalitätsbehauptung des Inhalts, dass sämtliche Verbrennungsprozesse und überdies die sog. Kalzination von Metallen, d. h. deren Rösten zu Metallkalken (ihre »Oxidation« in modernen Begriffen), als Phlogistonabgabe aufzufassen sind. Nicht allein brennbare Stoffe, auch Metalle weisen sämtlich einen Anteil Phlogiston auf; dieser entweicht bei der Kalzination und wird bei der Reduktion aufgenommen. Phlogiston trägt als universeller Bestandteil von Metallen auch zur Ausprägung typischer metallischer Eigenschaften wie Glanz und Biegsamkeit bei. Für Stahl ist demnach die Kalzination von Blei zu Bleiglätte (PbO) chemisch von gleicher Art wie die Verbrennung von Holzkohle. Dass es sich in beiden Fällen um das gleiche Prinzip handelt, zeigt sich darin, 13 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Martin Carrier
dass Bleiglätte durch Glühen mit Holzkohle wieder in Blei verwandelt werden kann. Dabei wird offenbar das durch die Verbrennung aus der Holzkohle ausgetriebene Phlogiston vom Bleikalk aufgenommen und transformiert diesen in das zugehörige Metall. Der Verbrennung von Nichtmetallen und der Kalzination von Metallen liegt daher einheitlich die Freisetzung von Phlogiston zugrunde. Seine gegenteilige Ansicht wird für Lavoisier zum Kristallisationskeim einer fundamentalen Umorientierung der Chemie. Lavoisier beschränkt sich dabei keineswegs auf eine neue Auffassung der Verbrennung, sondern schlägt weitergehend eine neuartige Theorie der Säuren vor, derzufolge Sauerstoff wesentlicher und gemeinsamer Bestandteil aller Säuren ist (woran die Bezeichnung bis zum heutigen Tag erinnert). Daneben tritt bei Lavoisier die Ansicht, dass Wasser eine Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff ist und damit (wie zuvor schon die Luft) seine überlieferte Stellung als elementarer Grundstoff verliert. Endlich geht es Lavoisier um die Wärmestofftheorie, derzufolge Wärme eine unwägbare, unzerstörbare Substanz ist, die Verbindungen mit gewöhnlichen Stoffen eingehen kann. Man sieht, Lavoisier hatte nicht in allem recht. Aber Wahrheit ist ein schwer greifbares Gut. Wissenschaftlicher Erfolg wird eher daran gemessen, dass eine Theorie einer großen Zahl von Befunden auf präzise Weise und in einem einheitlichen Begriffsrahmen Rechnung zu tragen vermag und dabei die wirksamen Kausalfaktoren zutreffend identifiziert. An diesen Maßstäben gemessen war die Oxidationstheorie der alten Lehre weit überlegen. Lavoisier zeichnete sich durch herausragende Innovationskraft aus, die sich in neuartigen, fruchtbaren Deutungen der von anderen Wissenschaftlern gewonnenen Ergebnisse niederschlug, aber auch in der Konzeption aussagekräftiger Versuche. Seine Stärke lag in der durchsichtigen theoretischen Interpretation empirischer Befunde und deren Stützung durch virtuose Experimente und geschickte Gegenproben. Eine seiner wichtigen methodischen Neuerungen war die Berücksichtigung von Gewicht und Volumen der an einer Reaktion beteiligten Substanzen. Zwar war auch zuvor schon in der Chemie auf solche als physikalisch geltenden Verfahren zurückgegriffen worden, aber erst Lavoisier machte von ihnen systematischen Gebrauch. Der Einklang einer Erklärung mit den beobachteten Gewichts- und Volumenverhältnissen wurde zu einem wesentlichen Prüfstein ihrer Korrektheit. In diesem Sinne ist sein Name zu Recht mit der Einführung der Waage 14 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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in die Chemie verknüpft. Insgesamt prägte Lavoisier die Chemie als Theoretiker durch neue Fragestellungen, neue Begriffsbildungen und neue Erklärungsprinzipien. In dieser Hinsicht gleicht der Urheber der Chemischen Revolution dem Schöpfer der klassischen Mechanik: Lavoisier ist der Newton der Retorte – so wie Darwin der von Kant für unmöglich gehaltene »Newton des Grashalms« 2 ist.
2.
Akademiker und Steuerpchter: Die frhe Karriere
Prägend für Lavoisiers Lebensweg war der Eintritt ins Collège Mazarin im Jahre 1754. Charakteristisch für diese herausragende Stätte höherer Bildung war der Einschluss der Naturwissenschaften in den Lehrkanon. Die Lektionen in Mathematik und Experimentalphysik beeindruckten den jungen Antoine nachhaltig und verstärkten seine Neigungen zu den empirischen Wissenschaften. Zusätzlich besuchte Lavoisier öffentliche Vorlesungen in der Chemie, die von François Rouelle gehalten wurden. Rouelle war ein begnadeter Lehrer, der mit seinen berühmten Demonstrationen im »Jardin du roi«, einer der führenden Forschungseinrichtungen der Zeit, eine große Zahl später bedeutender Gelehrter (darunter Diderot, d’Holbach und Rousseau) in seinen Bann zog. Auch Lavoisier wurde durch Rouelle für die Chemie gewonnen. Zugleich begründete der auf diese Weise erfahrene Kontrast zwischen begrifflicher Klarheit und deduktivem Aufbau der Physik auf der einen Seite und konfuser Terminologie und unsystematischer Faktizität der Chemie auf der anderen ein Leitmotiv von Lavoisiers Schaffen, nämlich die Chemie durch einen an der Physik orientierten methodischen Zugang zu reformieren. Durch rigoroses Messen und Wiegen sollte die Chemie den Zustand einer bloßen Tatsachensammlung hinter sich lassen; in einer quantitativ strukturierten Chemie würde den Erfahrungsbefunden ihr Ort in einem klar gegliederten Rahmenwerk theoretischer Grundsätze zugewiesen. 1761 schrieb sich Lavoisier für ein Jurastudium an der Sorbonne ein. Da es kaum Möglichkeiten gab, mit der Wissenschaft sein tägliches Brot zu verdienen, sollte das Recht den Lebensunterhalt Lavoisiers sichern. Nach dem Abschluss 1764 gelang es ihm binnen vier Jahren, den Grundstein für eine akademische und eine bürgerliche Karriere zu le2
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), Berlin: de Gruyter, 1968, § 75.
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gen. 1768 nämlich wurde Lavoisier (aufgrund von Arbeiten zur Chemie und Mineralogie) in die 1660 von Ludwig XIV. gegründete Académie des sciences gewählt. Diese Mitgliedschaft war eine Position von großem Prestige; sie versprach Aufmerksamkeit und Einfluss. Für den Erfolg im Brotberuf wesentlich – wenn auch letztlich fatal – war Lavoisiers Aufnahme in die Ferme générale, die Korporation der Steuerpächter. Diese Fermiers généraux trieben die königlichen Abgaben und Zölle von den Untertanen ein und entschädigten sich für ihre Mühen durch einen Aufschlag auf die an die Krone abzuführenden Beträge. Im Laufe der Jahre häufte Lavoisier auf diese Weise ein großes Vermögen an, aus dem er beträchtliche Summen für die Finanzierung seiner Forschungen einsetzte. In den 1780er Jahren zählte sein privates Labor zu den bestausgestatteten Einrichtungen der Epoche. 1771 heiratete Lavoisier Marie Anne Paulze, die 13-jährige Tochter des Hauptsteuerpächters. Obwohl dieser Ehe karrierepolitische Gründe zugrunde lagen, wurde sie glücklich. Sie entwickelte sich nicht allein zu einer liebevollen Lebensgemeinschaft, sondern auch zu einer fruchtbaren wissenschaftlichen Zusammenarbeit. 3 Die Tätigkeit in der Ferme ließ Lavoisier anfangs hinreichend Muße für seine wissenschaftlichen Aktivitäten, und nach einigen anderen Arbeiten wandte er sich 1772 dem Themenkreis von Verbrennung und Kalzination zu. Tatsächlich hatte sich dort gerade eine neue Problemlage ergeben. Die phlogistische Erklärung dieser Phänomene beinhaltete, dass die Asche und der Kalk jeweils leichter sein sollten als die Ausgangsstoffe; schließlich war einer der Bestandteile entwichen. Für Asche trifft dies in der Tat zu; das im Kamin aufgeschichtete Feuerholz wiegt deutlich mehr als seine verbrannten Rückstände. Aber einige Metallkalke erwiesen sich als schwerer als die zugehörigen Metalle. Stahl selbst hatte diese Schwierigkeit für die Metalle Blei, Zink und Antimon anerkannt, ihr Auftreten allerdings an besondere Umstände gebunden gesehen und ihre Lösung der zukünftigen Forschung überantwortet 4 . Zu Beginn des Jahres 1772 hatte Louis Bernard Guyton de Morveau (1737–1816) durch umfangreiche eigene Untersuchungen und sorgfältige Analyse der Resultate anderer Chemiker festgestellt, dass das Gewicht der Kalke ausnahmslos höher war als Marco Beretta, Lavoisier. Die Revolution in der Chemie. Spektrum der Wissenschaft Biographie, Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft Verlag, 1999, S. 8 f., 24, 29. 4 James R. Partington, A History of Chemistry II, London: MacMillan, 1962, S. 675. 3
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Antoine Laurent de Lavoisier und die Chemische Revolution
Abb.1: Antoine-Laurent de Lavoisier. Stich von Louis Jean Desire Delaistre nach Julien Leopold Boilly. Mit freundlicher Genehmigung: Courtesy Blocker History of Medicine Collections, Moody Medical Library, University of Texas Medical Branch, Galveston, Texas.
das der Metalle 5. Es handelte sich also um einen universellen Effekt, der nicht mehr auf Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls zurückgeführt werden konnte. Am 1. November 1772 hinterlegte Lavoisier beim Sekretär der Königlichen Akademie der Wissenschaften eine versiegelte Note, in welcher er eine wichtige Entdeckung anzeigte. Die Form der Hinterlegung wurde gewählt, um sich einerseits Prioritätsansprüche zu sichern, ohne sich andererseits mit einer möglicherweise irrigen Behauptung öffentlich zu exponieren. Versiegelte Noten kann man widrigenfalls stillschweigend zurücknehmen. In dieser Note hieß es: Vor ungefähr acht Tagen habe ich entdeckt, dass Schwefel bei der Verbrennung keineswegs an Gewicht verliert, sondern im Gegenteil an Gewicht zunimmt […]; das gleiche tritt beim Phosphor ein: Diese Gewichtszunahme stammt aus einer beträchtlichen Menge Luft, die während der Verbrennung 5 Henri Guerlac, Lavoisier: The Crucial Year. The Background and Origins of his First Experiments on Combustion in 1772, Ithaca N.Y: Cornell University Press, 1961, S. 124 f., 131 ff.
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fixiert wird und die sich mit den Dämpfen verbindet. Diese Entdeckung […] hat mich zu der Annahme geführt, dass das, was man bei der Verbrennung von Schwefel und Phosphor beobachtet, auch bei allen anderen Körpern auftreten könnte, deren Gewicht also bei der Verbrennung und Kalzination zunimmt. 6
Lavoisiers Experimente übertrugen also Guytons Resultate für Metallkalke auf Verbrennungsprodukte. Da Kalzination und Verbrennung auf phlogistischer Grundlage von gleicher Art waren, handelte es sich um eine nahe liegende Verallgemeinerung. Aber zum ersten Mal wurden nicht allein die festen Verbrennungsrückstände in Betracht gezogen, die Asche eben, sondern auch die flüchtigen Produkte aufgefangen und berücksichtigt. Auf diese Weise gelang Lavoisier die empirische Bestätigung dieser Vermutung, und damit setzte er einen Prozess in Gang, der binnen zweier Jahrzehnte zur Verbannung des Phlogiston aus der Chemie führte.
3.
Die Evolution der Verbrennungstheorie
Die Gewichtszunahme bei Verbrennung und Kalzination sollte also aus der Bindung von Luft stammen. Damit setzte sich Lavoisier in Gegensatz zu einem weit verbreiteten Erklärungsansatz Robert Boyles (1627–1691), der die Gewichtszunahme von Metallkalken auf die Bindung von Feuerteilchen zurückgeführt hatte. Diese sind fein genug, um die Wandungen geschlossener Gefäße zu durchdringen; sie treten beim Glühen des Metalls in dieses ein, verbinden sich mit dessen Teilchen und erhöhen auf diese Weise das Gesamtgewicht. 7 Lavoisier untermauerte seine gegenteilige Ansicht durch Kalzinationsexperimente in verschlossenen Gefäßen. Dabei wird Zinn oder Blei in eine Retorte gegeben, diese hermetisch versiegelt und dem Feuer ausgesetzt; es bildet sich der zugehörige Metallkalk. Nach Lavoisiers Ansicht geht dabei die in der Retorte eingeschlossene Luft eine Verbindung mit dem Metall ein. Folglich sollte das Gewicht des Metalls um den Betrag zunehmen, um den das Gewicht der Luft verringert wird, so dass das GesamtAnalyse du mémoire sur l’augmentation du poids des métaux par la calcination, Œuvres, II, 1774, S. 97 ff. 7 Robert Boyle, A Discovery of the Perviousness of Glass to Ponderable Parts of Flame, The Works III (1772), Hildesheim: Olms, 1966, S. 726 f. 6
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Antoine Laurent de Lavoisier und die Chemische Revolution
gewicht unverändert bleibt. Nach Boyles Auffassung sollte hingegen das eindringende Feuer das Gewicht der verschlossenen Retorte erhöhen. Lavoisier zeigte, dass unter diesen Umständen keine Gewichtszunahme zu beobachten ist. Vielmehr tritt diese erst bei Öffnen des Gefäßes ein, wenn nämlich die im Kalk gebundene Luft durch Zustrom von außen ersetzt wird. Dabei ist die Gewichtszunahme der Retorte nach dem Öffnen gleich der Gewichtszunahme des Metalls durch die Kalzination, so dass die Aufnahme von Luft der einzige Grund dafür ist, dass der Kalk schwerer ist als das zugehörige Metall. 8 Mit diesem einfachen und doch aussagekräftigen Experiment war es Lavoisier gelungen, die Theorie Boyles in Zweifel zu ziehen und die eigenen, entgegengesetzten Auffassungen zu bestätigen. Ein Experiment, das an solchen theoretischen Scheidewegen eine Richtung weist, heißt bei Francis Bacon »Experimentum crucis«: Zwei unterschiedliche Voraussetzungen haben gegenteilige Konsequenzen, von denen sich eine in der Erfahrung findet, die andere aber nicht. Für Bacon ist dann die Streitfrage entschieden. 9 Zwar hat die wissenschaftsphilosophische Diskussion klar werden lassen, dass Bacon die Schlüssigkeit solcher »Instanzen des Kreuzwegs« überschätzte, aber signifikante Befunde stellen sie in jedem Fall bereit. Tatsächlich führen Beispiele wie dieses Lavoisiers Fähigkeit vor Augen, Erklärungsalternativen zuzuspitzen und sie dem empirischen Urteil zu unterwerfen. Niemand zuvor war auf den Gedanken verfallen zu prüfen, ob bei der Kalzination in verschlossenen Gefäßen eine Änderung des Gewichts auftritt. Für Lavoisier wird dieses Nullresultat zu einer Stütze der neuen Verbrennungstheorie. Andererseits zeigten diese Untersuchungen zur Kalzination, ebenso wie andere zur Verbrennung, dass es nicht die Luft zur Gänze ist, die sich mit dem betreffenden Stoff verbindet. Nach Messungen von Lavoisier und anderen kommen diese Prozesse nämlich bereits zum Stillstand, wenn erst zwischen einem Sechstel und einem Viertel der verfügbaren Luft aufgezehrt ist. Diese Feststellung bildet die Grundlage für das nachfolgende Forschungsprogramm Lavoisiers, für die Frage nämlich, welcher Teil der Luft oder was für eine Art von Luft Mémoire sur la calcination de l’étain dans les vaisseaux fermés et sur la cause de l’augmentation du poids qu’aquiert ce métal pendant cette opération, a. a. O., S. 105 ff. 9 Francis Bacon, Neues Organon. Hrsg. von Wolfgang Krohn, Hamburg: Meiner, 1990, II, § 36. 8
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diese Verbindung eingeht. Hintergrund dieser Frage ist die neue pneumatische Chemie, die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem in England herausgebildet hatte. Eine Schlüsselstellung nimmt Joseph Black (1728–1799) ein, der 1756 aus »Magnesia alba« (Magnesiumcarbonat, MgCO3) eine besondere Art von Luft freigesetzt hatte. Diese Luftart war offenbar zuvor in dem Stoff gebunden gewesen und wurde daher »fixe Luft« (fixed air) genannt; modern gesprochen handelt es sich um Kohlendioxid (CO2). Wesentlich war Blacks Auffassung, dass fixe Luft von qualitativ anderer Beschaffenheit ist als gewöhnliche Luft. Die auch zuvor schon registrierten Unterschiede zwischen Gasen waren stets auf Beimengungen anderer Stoffe zu gewöhnlicher Luft zurückgeführt worden. Blacks Entdeckung eröffnete den neuen Forschungszweig des Studiums der Luftarten, der bald zur Darstellung weiterer Gase (wie Stickoxid oder Wasserstoff) führte. Bei der Reduktion von Metallkalken wird fixe Luft gebildet. Aber dieser Umstand stellt noch nicht außer Zweifel, dass wirklich fixe Luft im Kalk gebunden ist. Die Reduktion verlangt nämlich das Glühen mit einem Phlogistonspender wie Holzkohle, so dass die freigesetzte fixe Luft auch eine Verbindung des gesuchten Gases mit einem Bestandteil der Holzkohle sein könnte. Dafür sprach, dass fixe Luft die Verbrennung nicht unterhält (was schlecht zu der Auffassung passt, diese werde bei Verbrennung und Kalzination gebunden). Stattdessen favorisierte Lavoisier zunächst die These, bei der Verbrennung und Kalzination werde gewöhnliche Luft gebunden. Allerdings passte dazu nicht die bemerkenswerte Entdeckung des Pariser Apothekers Pierre Bayen im Februar 1774, dass »rotes Präzipitat« oder »roter Quecksilberkalk« (Quecksilberoxid, HgO) auch durch bloßes Erhitzen mit dem Brennglas und damit ohne Holzkohle oder eine andere phlogistonreiche Substanz in metallisches Quecksilber umgewandelt werden kann. Hier fehlt entsprechend der störende Einfluss eines zusätzlichen Materials, so dass die Beschaffenheit des dabei frei werdenden Gases direkt Aufschluss über das bei der Kalzination gebundene Gas geben sollte. Bayens Resultat war, dass es sich um fixe Luft handelte. 10 Aus dieser verwirrenden Situation führte erst Priestleys Entdeckung des Sauerstoffs heraus. James Bryant Conant, The Overthrow of the Phlogiston Theory. The Chemical Revolution of 1775 – 1789 (1950), Cambridge Mass.: Harvard University Press, 1968, S. 18; Elisabeth Ströker, Theoriewandel in der Wissenschaftsgeschichte. Chemie im 18. Jahrhundert, Frankfurt: Klostermann, 1982, S. 227.
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Joseph Priestley (1733–1804) war der Ausbildung nach Theologe und als Prediger für unterschiedliche freikirchliche Gemeinden tätig. Daneben fühlte er sich zu verschiedenen Zweigen der Naturlehre hingezogen und konnte dieser Neigung aufgrund von Zuwendungen durch Josiah Wedgwood, der im Keramikgeschäft zu Wohlstand gelangt war, tatsächlich nachgehen. Priestley hing der Aufklärung an und verteidigte die Französische Revolution in England, was ihn ab 1791 zum Opfer tätlicher Übergriffe werden ließ. Am Ende wanderte Priestley entnervt nach Amerika aus und verbrachte das letzte Jahrzehnt seines Lebens im Umland von Philadelphia. Priestleys wissenschaftlicher Stil war demjenigen Lavoisier gerade entgegengesetzt. Lagen Lavoisiers Stärken bei der theoretischen Interpretation, so war Priestleys Werk durch das rastlose Sammeln von Befunden gekennzeichnet. Von einem Baconschen Verständnis der wissenschaftlichen Methode geprägt, strebte Priestley danach, vorurteilsfrei registrierte Tatsachen in großer Zahl anzuhäufen. Die empirischen Verdienste, die sich Priestley dabei unzweifelhaft erwarb, gingen mit einer theoretischen Schwäche einher, die ihn schnell wechselnde und oft genug widersprüchliche Ansichten vertreten ließ. Eine Invariante allerdings blieb für sein Denken charakteristisch: er verteidigte das Phlogiston bis zum bitteren Ende. Jedenfalls wandte sich Priestley 1770 der neuen Chemie der Gase zu und befasste sich im Sommer 1774 mit Bayens Entdeckung. Dabei stellte Priestley schnell fest, dass es sich bei dem freigesetzten Gas keineswegs um Kohlendioxid handelte; stattdessen identifizierte er es als Lachgas (Distickstoffoxid, N2O). Im Oktober 1774 reiste Priestley nach Paris, traf dort unter anderem Lavoisier und berichtete ihm von diesen Ergebnissen. Anscheinend unter dem Einfluss dieses Berichts begann Lavoisier im November dieses Jahres ebenfalls Experimente mit dem roten Präzipitat. Unabhängig voneinander korrigierten beide Priestleys frühere Resultate und gelangten übereinstimmend zu dem Schluss, das freigesetzte Gas sei gewöhnliche Luft. Der Grund für dieses Fehlurteil bestand darin, dass sich beide unabhängig voneinander durch eine bestimmte Indikatorreaktion in die Irre führen ließen. 11 Im März 1775 stellte Priestley seinen Irrtum fest. Er bemerkte, dass sich die Eigenschaften der vom roten Präzipitat abgegebenen Substanz deutlich von gewöhnlicher Luft unterscheiden: eine Kerze brennt mit besonders hel11
Conant, The Overthrow of the Phlogiston Theory, a. a. O., S. 18 ff.
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ler Flamme, und Tiere können in einem gegebenen Volumen des Gases erheblich länger atmen. Damit gab Priestley eine Methode an, mit der man das Gas rein darstellen konnte und identifizierte es als eine spezifische Luftart. Der Sauerstoff war entdeckt. Allerdings unterschied sich Priestleys Auffassung von seiner Entdeckung wesentlich von Lavoisiers späterer Sicht. Dabei ist zu beachten, auf welche Weise die Phlogistontheorie der Tatsache Rechnung trug, dass Verbrennung und Kalzination in verschlossenen Gefäßen nach einiger Zeit zum Stillstand kommen. Die zunehmende Ansammlung von Phlogiston über dem betreffenden Stoff sollte nämlich den weiteren Austritt von Phlogiston blockieren. Die Rolle der Luft bei der Verbrennung und Kalzination bestand entsprechend darin, das austretende Phlogiston wegzuführen. Laufen diese Prozesse aber in verschlossenen Gefäßen ab, so wird die Luft mit Phlogiston übersättigt und kann die ihr zugedachte Rolle nicht mehr übernehmen. Priestleys neues Gas unterhielt die Verbrennung besser und länger als gewöhnliche Luft und war daher in höherem Maße als diese fähig, Phlogiston aufzunehmen. Das bedeutete aber nichts anderes, als dass sie zuvor weniger Phlogiston enthielt. Im Selbstverständnis hatte Priestley also dephlogistizierte Luft entdeckt. 12 Lavoisier hielt dagegen zunächst an dem Irrtum fest, das betreffende Gas sei gewöhnliche Luft. In der ersten Fassung des sog. OsterMemorandums vom April 1775 kam Lavoisier zu dem Schluss, dass das Gas, das bei Erhitzen aus dem roten Präzipitat entweicht, »die Luft selbst ist, ganz, ohne Änderung, ohne Zerlegung«, wenn auch »noch reiner« als die atmosphärische Luft. 13 Im November 1775 wies Priestley Lavoisier darauf hin, das fragliche Gas sei tatsächlich von gewöhnlicher Luft verschieden; es handele sich vielmehr um eine spezifische Luftart, eben dephlogistizierte Luft. 14 Ab dem Frühjahr 1776 übernahm Lavoisier wieder die Führung und gewann zunehmend Klarheit über die wahre Beschaffenheit von Priestleys Luftart. Lavoisier fasste nun Luft als Zusammensetzung zweier qualitativ verschiedener Gase auf, der »reinen Luft« (air pur) oder »Lebensluft« (air vital) und der »schädlichen Luft« (air méphitique) oder dem »Stickstoff« (azote).
12 13 14
Ebd., S. 46; Ströker, Theoriewandel in der Wissenschaftsgeschichte, a. a. O., S. 209. Lavoisier, zit. in Conant, S. 23. Ebd., S. 32 f.
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Priestley hingegen akzeptierte niemals, dass seine dephlogistizierte Luft eine einfache Substanz und Bestandteil der Atmosphäre ist. In der 1778 veröffentlichten korrigierten Fassung des OsterMemorandums hat Lavoisiers neue Theorie feste Gestalt angenommen. Die Kalzination beinhaltet die Verbindung des Metalls mit der reinen Luft der Atmosphäre, während der Stickstoff unbeteiligt bleibt. Wird ein Kalk mit Holzkohle reduziert, so verbindet sich die freigesetzte reine Luft mit der Holzkohle zu fixer Luft. 15 Gleiches gilt sinngemäß auch für die Verbrennung; die Kalzination ist nichts als eine langsame Verbrennung. 16 Ebenso beinhaltet die Atmung eine Verbindung mit reiner Luft; Atmung ist von chemisch gleicher Art wie Verbrennung und Kalzination.
4.
Die Erweiterung: Aggregatzustnde und Suren
Die Vorstellung der Bindung eines Gases bei der Kalzination sah sich dem Einwand ausgesetzt, es sei schlechterdings ausgeschlossen, einen expansiven und flüchtigen Stoff auf den kleinen Raum einer Metallprobe zusammenzupressen. Dies erfordere gewaltige Drücke, die bei gewöhnlichen Kalzinationsversuchen nicht vorlägen. 17 Lavoisier gibt eine chemische Antwort auf diese physikalische Herausforderung und formuliert die erste konsequente Wärmestofftheorie. Während zuvor die Ansicht vorherrschte, Wärme sei innere Bewegung des betreffenden Körpers, betrachtete Lavoisier Wärme als stoffliche Substanz. Die Anhäufung von Wärmestoff in einem Körper ist die physikalische Basis der Wärmeempfindung. 18 Aufgrund ihrer stofflichen Beschaffenheit ist die Wärme unzerstörbar; für sie gilt ein Erhaltungssatz. Die Teile oder Teilchen des Wärmestoffs stoßen einander ab. Diese Abstoßung manifestiert sich in der thermischen Ausdehnung der Körper und
15 Mémoire sur la nature du principe qui se combine avec les métaux pendant leur calcination et qui augmente leur poids, a. a. O., S. 127 f. 16 Traité élémentaire de chimie, Œuvres I, 1789, S. 65. 17 Partington, A History of Chemistry II, a. a. O., S. 607. 18 Zwar hatte bereits Herman Boerhaave (1668–1738) den Wärmestoff eingeführt, jedoch dessen Bewegungen für die fühlbare und messbare Wärme verantwortlich gemacht. Lavoisier war hier konsequenter und wies die thermische Relevanz sämtlicher innerer Bewegungen ab.
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führt zu einem Gleichverteilungsstreben des Wärmestoffs, das sich im Ausgleich von Temperaturunterschieden niederschlägt. Die Wärmestofftheorie ist in Lavoisiers eigener Sicht ein Drehund Angelpunkt seiner ganzen Konzeption. Der Traité élémentaire de chimie wird mit der ausführlichen Darstellung dieser Theorie eröffnet, an anderer Stelle bezeichnet Lavoisier die Annahme des Wärmestoffs als seine zentrale oder gar als seine einzige Hypothese. Ich bestreite nicht, dass die Existenz des Wärmestoffs bis zu einem gewissen Punkt hypothetisch ist. Obschon ich zugestehe, dass es sich dabei um eine Hypothese handelt, die nicht streng bewiesen ist, so ist es doch die einzige, die anzunehmen ich gezwungen bin. 19
Von besonderer Bedeutung für Lavoisiers Konzeption ist dabei der Umstand, dass Wärme als stoffliche Substanz auch mit chemischen Eigenschaften ausgestattet ist. Der Wärmestoff geht also Verbindungen ein, in denen seine Eigenschaften (wie bei anderen Stoffen auch) verändert erscheinen. Insbesondere äußert sich gebundener Wärmestoff nicht mehr als Wärme. Dagegen behält er seine expansive Kraft bei und teilt sie den Materialien mit, mit denen er Verbindungen bildet. Diese innere Elastizität tritt bei Gasen markant zutage. Gase sind demnach chemische Verbindungen zwischen einer jeweils spezifischen Basis und Wärmestoff. Bringt man Wasser zum Kochen, so erhöht sich die Temperatur trotz anhaltender Wärmezufuhr nicht; stattdessen bildet sich gasförmiger Wasserdampf. Für die Wärmestofftheorie wird hierbei die zugeführte Wärme vom Wasser gebunden und bleibt aus diesem Grund ohne Auswirkung auf die Temperatur, während zugleich die abstoßenden Kräfte innerhalb des Wärmestoffs die Teile des Dampfs auseinander treiben. Das Wasser wird zum Gas. Die chemische Bindung reiner Luft bei der Verbrennung und Kalzination stellt sich als Umkehrung dieses Prozesses dar. Wärmestoff, der in der reinen Luft gebunden ist, wird abgespalten, was zu einer Temperaturerhöhung führt (wie sie ja bei solchen Reaktionen typischerweise beobachtet wird). Zugleich verliert die reine Luft durch den Abgang des Wärmestoffs ihre Elastizität und verkleinert folglich ihren Rauminhalt ohne physikalische Kompression. Eine wichtige allgemeine Folge dieses Denkansatzes ist, dass im Grundsatz sämtliche Réflexions sur le phlogistique, pour servir de suite à la théorie de la combustion et de la calcination, Œuvres II, 1777/1783, S. 641.
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Stoffe durch Wärmezufuhr in den gasförmigen Zustand überführt werden können. Zuvor galten gasförmige Eigenschaften als Besonderheit spezifischer Stoffe; einige Materialien sind ihrer Natur nach gasförmig, andere nicht. Durch Lavoisiers Wärmestofftheorie wird Gasförmigkeit zu einem allgemeinen Materiezustand, einem Aggregatzustand. 20 Ausgangspunkt von Lavoisiers Säuretheorie sind die Beobachtungen, dass eine Zahl von Verbrennungsprodukten bei Einleitung in Wasser sauer reagiert (etwa Phosphor, Schwefel und Kohle) und dass umgekehrt Säuren reine Luft enthalten (etwa Salpetersäure, Kohlensäure, Schwefelsäure und Phosphorsäure). Lavoisier sieht sich dadurch zu der Vermutung berechtigt, dass Sauerstoff für die sauren Eigenschaften verantwortlich ist. Sauerstoff (oxygène) ist das säurebildende Prinzip (wie die Bezeichnung bis heute anzeigt). Man sieht, dass Sauerstoff das allen [Säuren] gemeinsame Prinzip ist und dass er ihre sauren Eigenschaften ausmacht. Die Säuren unterscheiden sich dann durch die Natur der gesäuerten Substanz voneinander. 21
Jede Säure ist also die Verbindung eines besonderen Grundstoffs mit Sauerstoff. Diese Vermutung wird durch den weiteren Befund untermauert, dass die Stärke der Säuren mit ihrem Sauerstoffanteil verknüpft ist. Dies ist augenfällig bei salpetriger Säure und Salpetersäure sowie bei schwefliger Säure und Schwefelsäure. Die stärkere Säure enthält jeweils mehr Sauerstoff. Zugleich erklärt dieser Zusammenhang, dass Verbindungen mit geringem Sauerstoffanteil wie die Metallkalke nicht erkennbar sauer reagieren. 22 Allerdings gelang es Lavoisier trotz intensiver Bemühungen nicht, auch in der Salzsäure (HCl) Sauerstoff nachzuweisen. In der Sache unbeirrt führte Lavoisier diesen Fehlschlag darauf zurück, dass die Bindung zwischen dem Grundstoff der Salzsäure und dem Sauerstoff besonders fest ist, so dass letzterer aus der Verbindung nur schwer zu isolieren ist. 23 Eine interessante Verwicklung ergab sich durch eine Entdeckung des schwedischen Apothekers Carl Wilhelm Scheele (1742–1786) aus dem Jahre 1774. Scheele hatte Salzsäure mit BraunTraité élémentaire de chimie, a. a. O., S. 17 ff. Ebd., S. 57. 22 Ebd., S. 50 ff., 61 ff.; Considérations générales sur la nature des acides et sur le principes dont ils sont composés, Œuvres II, 1777/1779, S. 249. 23 Traité élémentaire de chimie, a. a. O., S. 61. 20 21
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stein reagieren lassen und ein grünliches, stechend riechendes Gas (Chlor, Cl2) unter gleichzeitiger Reduktion des Kalks erhalten (MnO2 + 4HCl ! 2H2O + MnCl2 + Cl2). In phlogistischem Rahmen interpretierte Scheele die Reduktion des Braunsteins als Phlogistonaufnahme und identifizierte naheliegenderweise die Salzsäure als Phlogistonquelle. Bei dem entweichenden Gas sollte es sich folglich um dephlogistizierte Salzsäure handeln. Lavoisier deutete generell Phlogistonabgabe in Sauerstoffaufnahme um und schloss daher, dass die Salzsäure Sauerstoff aus dem Braunstein freigesetzt und absorbiert hatte. Das entstandene Gas galt ihm somit als oxidierte Salzsäure. Dann aber sollte es auch gelingen, den Sauerstoff aus dieser zu isolieren. Claude Louis Berthollet (1748– 1822) setzte daraufhin 1785 eine wässrige Lösung oxidierter Salzsäure dem Sonnenlicht aus und fand, dass aus ihr Sauerstoffbläschen entwichen, während sich die Lösung gleichzeitig in gewöhnliche Salzsäure umwandelte. 24 Berthollet sah Lavoisiers Sicht glänzend bestätigt: »Diese Experimente sollten alle Zweifel über die Natur der dephlogistizierten Salzsäure zerstreuen; letztere wird offenbar durch Verbindung von Lebensluft mit Salzsäure gebildet«. 25 Tatsächlich hat hier (blaues oder ultraviolettes) Licht das Chlormolekül in zwei Radikale aufgespalten, die mit Wasser reagieren. Es ist dessen Sauerstoff, der entweicht, nicht derjenige des Chlors (2Cl2 + 2H2O ! 4HCl + O2). Allerdings blieb die Schwierigkeit, dass oxidierte Salzsäure nur überaus schwache saure Eigenschaften besitzt, was Lavoisiers Ansicht zuwiderlief, die Säurestärke steige mit dem Sauerstoffgehalt an. Als Reaktion kreierte Lavoisier eine besondere Oxidationsstufe, die Stufe der Sauerstoffübersättigung (oxygéné), die mit einer geringeren Säurestärke verbunden sein sollte. 26 Obwohl die Säuretheorie nach Lavoisiers Tod mit weiteren Misserfolgen zu kämpfen hatte, etwa dem Scheitern des Bemühens, Sauerstoff in der Blausäure (HCN) nachzuweisen, blieb sie zunächst weithin akzeptiert. Ihr Ende wurde erst 1810 durch Humphry Davys (1778– 1829) vergebliche Versuche zur Freisetzung von Sauerstoff aus der oxidierten Salzsäure eingeläutet. Davy unterwarf Chlor einer Vielzahl Claude Louis Berthollet, Memoir on Dephlogisticated Marine Acid, (1785), Edinburgh: William F. Clay, 1969, S. 18 f. 25 Ebd., S. 20. 26 Traité élémentaire de chimie, a. a. O., S. 61 f. 24
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von Reaktionen, ohne dabei jemals auf Sauerstoff zu stoßen. Insbesondere erreichte er selbst mit einem im Chlorgas auf elektrischem Wege zur Weißglut erhitzten Kohlestab keinerlei Zerlegung. Davys Schluss war, dass weder im Chlor noch in der Salzsäure Sauerstoff enthalten war, was nicht allein die oxidierte Salzsäure, sondern Lavoisiers Sauerstofftheorie der Säuren insgesamt zugrunde richtete. 27
5.
Cavendishs Experimente und die zusammengesetzte Natur des Wassers
Auch an einer anderen Stelle klaffte in Lavoisiers Theorie anfangs eine Erklärungslücke. Sie enthielt nämlich zunächst keine überzeugende Erklärung für die Herstellung sog. brennbarer Luft (inflammable air), dem Wasserstoff (H2). Henry Cavendish (1731–1810) hatte 1766, also Jahre vor Beginn der Untersuchungen Lavoisiers, eine die Gestalt der späten Phlogistontheorie prägende Entdeckung gemacht; er hatte nämlich das Phlogiston in reiner Form dargestellt. In der prinzipienchemischen Tradition ist Phlogiston ein Eigenschaftsträger und als solcher nicht mit einem konkreten Stoff identisch; die Prinzipien sollten stoffliche Eigenschaften erklären und konnten daher nicht sinnvoll selbst als Stoffe gelten. 28 Aber schon bei Stahl selbst und noch stärker bei seinen Anhängern im 18. Jahrhundert vermischte sich dieser Ansatz auf letztlich inkohärente Weise mit einer operationalen Auffassung chemischer Elemente, derzufolge sich auch die Prinzipien dem Zugriff der chemischen Analyse nicht entziehen dürften. Die Darstellung von Phlogiston galt entsprechend zunehmend als Herausforderung der chemischen Forschung. Cavendish gelang es, diese Herausforderung zu bestehen. Er gab die Metalle Eisen, Zink und Zinn in Salzsäure und verdünnte Schwefelsäure und bemerkte, dass eine spezifische, zuvor unbekannte Luftart entwich. Die bei der Gabe von Eisen in Salzsäure ablaufende Reaktion ist, modern gesprochen, Fe + 2HCl ! FeCl2 + H2; gebildet hat sich also Wasserstoff. Cavendish stellte fest, dass das neue Gas extrem leicht und
Partington, A History of Chemistry IV, a. a. O., S. 54 f. James W. Llana, A Contribution of Natural History to the Chemical Revolution in France, Ambix, 32, 1985, S. 74. 27 28
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gut brennbar war und dabei ohne erkennbaren Rückstand verbrannte. Zwar registrierte Cavendish das bei dieser Verbrennung entstehende Wasser, hielt es jedoch für eine Ablagerung der im Gas enthaltenen Feuchtigkeit. Von zentralem Belang war Cavendishs Feststellung, dass die Beschaffenheit der brennbaren Luft unabhängig von der Natur der verwendeten Säure war. Diese führte ihn zu dem Schluss, dass das neue Gas nicht aus der Säure stammte. Das aber ließ nur das Metall als Quelle der brennbaren Luft übrig. Und bei einem leichten, gut brennbaren und rückstandsfrei verbrennenden Gas aus Metallen drängte sich die Hypothese nachgerade auf, dass es sich um reines Phlogiston handelt. Als Gegenprobe gab Cavendish phlogistonfreie Metallkalke in die Säuren. Unter diesen Umständen dürfte keine brennbare Luft entstehen, und genau dies wurde beobachtet. Damit hatte Cavendish die für die späte Phlogistontheorie charakteristische Interpretation formuliert: Phlogiston ist identisch mit brennbarer Luft. 29 Priestley schwenkte schnell auf diese Sichtweise ein und erreichte 1782 eine glänzende empirische Bestätigung dieser Identifikation durch den Nachweis, dass brennbare Luft Metallkalke in Metalle umzuwandeln vermag (was zu den charakteristischen Fähigkeiten des Phlogiston zählte, s. o. 1). Priestley erhitzte mit dem Brennglas Bleimennige (Pb3O4) in brennbarer Luft und stellte fest, dass metallisches Blei entsteht und die brennbare Luft weniger wird oder bei geeigneter Mengenanpassung vollständig verschwindet. Auf phlogistischem Boden folgt sofort, dass der Bleikalk die brennbare Luft aufgenommen hat und dadurch wieder zu metallischem Blei geworden ist. Das Experiment demonstriert folglich, dass brennbare Luft ebenso wie die phlogistonreiche Holzkohle Metallkalke zu Metallen reduzieren kann und untermauert damit die Identität von brennbarer Luft und Phlogiston. Priestley sieht die Phlogistontheorie bestätigt: Da ich sah, dass das Metall in erheblicher Menge wieder erschien und zugleich die Luft abnahm, konnte ich nicht zweifeln, dass der Kalk tatsächlich etwas aus der Luft aufnahm; und aufgrund seiner Wirkung, den Kalk in ein
Henry Cavendish, Three Papers, containing Experiments on factitious Air, Part I. Containing Experiments on Inflammable Air (1766), Thorpe, 1921, S. 78 ff.; Ströker: Theoriewandel in der Wissenschaftsgeschichte, a. a. O., S. 187 ff.; Martin Carrier, Cavendishs Version der Phlogistonchemie, oder: Über den empirischen Erfolg unzutreffender theoretischer Ansätze, in: J. Mittelstraß & G. Stock (Hg.), Chemie und Geisteswissenschaften. Versuch einer Annäherung, Berlin: Akademie-Verlag, 1992, S. 38 f.
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Metall umzuwandeln, konnte es sich um nichts anderes handeln als dasjenige, dem die Chemiker einhellig den Namen Phlogiston gegeben haben. 30
Während die Phlogistontheorie demnach Erfolge feierte, stand Lavoisier vor einem Rätsel. Lavoisier hielt Metalle für elementar, so dass diese nicht den Ursprung der brennbaren Luft bilden konnten. Damit blieb nur die Säure als Quelle übrig, und diese Vermutung unterzog Lavoisier einer empirischen Prüfung. Wenn die brennbare Luft aus der Säure stammte, dann sollte deren Verbindung mit Sauerstoff (als dem säurebildenden Prinzip) wieder eine Säure entstehen lassen. Aber alle Versuche, aus dem Wasserstoff durch Verbrennung eine Säure zu erzeugen, schlugen fehl. 31 Ausgerechnet Cavendish selbst half Lavoisier aus dieser Sackgasse. Er entdeckte 1781 die Knallgasreaktion, stellte also fest, dass brennbare Luft (Wasserstoff) und dephlogistizierte Luft (Sauerstoff) zu Wasser reagieren. Bei einem Volumenverhältnis von 2:1 findet man die vollständige Kondensation beider Gase. Eine Gewichtsveränderung tritt nicht auf, so dass das Gewicht des entstandenen Wassers gleich dem Gewicht der Ausgangsgase ist. 32 Da er einige weitere Aspekte des Experiments für klärungsbedürftig hielt, verzichtete Cavendish zunächst auf die Veröffentlichung seiner Resultate. Im Juni 1783 hielt sich Charles Blagden, der damalige Sekretär der Londoner Royal Society, in Paris auf und berichtete auch Lavoisier von Cavendishs Untersuchungen. Lavoisier wandte sich umgehend diesem Problemkreis zu, reproduzierte Cavendishs Ergebnis und trat im November 1783 mit der These vor die Akademie, Wasser sei eine Verbindung. Dieses einzige Experiment der Verbrennung der beiden Luftarten, und ihre Umwandlung in Wasser, Gewichtsteil für Gewichtsteil, erlauben kaum noch Zweifel daran, dass diese Substanz, die bislang als Element betrachtet wurde, ein zusammengesetzter Stoff ist. 33
30 Priestley, zit. in Partington, 1963, S. 268. Vgl. Mémoire dans lequel on a pour objet de prouver que l’eau n’est point une substance simple, un élément problement dit, mais qu’elle est susceptible de décomposition et de recomposition, Œuvres II, 344. 31 Mémoire dans lequel on a pour objet de prouver que l’eau n’est point une substance simple, a. a. O., S. 336 f. 32 Cavendish, Experiments on Air, a. a. O., S. 167. 33 Mémoire dans lequel on a pour objet de prouver que l’eau n’est point une substance simple, a. a. O., S. 340 f.
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Die Verbrennung von brennbarer Luft ist als Synthese von Wasser zu deuten. Nach der Luft hatte Lavoisier damit dem zweiten der bereits bei den Vorsokratikern, vor allem aber bei Aristoteles angenommenen Grundstoffe (nämlich Erde, Wasser, Luft und Feuer) die elementare Natur bestritten. Lavoisier wird nicht selten vorgeworfen, er habe Cavendish die Anerkennung der Entdeckung der zusammengesetzten Natur des Wassers verweigert. 34 Richtig ist, dass Lavoisier generell die eigenen Prioritätsansprüche mit großer Hartnäckigkeit verfocht, die Leistungen anderer hingegen weit weniger skrupulös erwähnte. Für den fraglichen Fall gilt dies jedoch gerade nicht. Lavoisier erwähnt in seiner Darstellung sowohl Cavendishs Experimente als auch den Umstand, dass er durch Blagden von diesen erfahren hatte. 35 Er sagt nicht, dass Cavendish aus seinen Befunden den Schluss gezogen hätte, Wasser sei kein Element. Aber diesen Schluss hatte Cavendish tatsächlich auch gar nicht gezogen (was nicht selten übersehen wird). Cavendish selbst hatte die von ihm entdeckte Reaktion keineswegs als Synthese von Wasser interpretiert, sondern als dessen Freisetzung aus den beteiligten Gasen. 36 Priestley fasste einige Jahre später Cavendishs Sichtweise dahingehend zusammen, »dass das Wasser in die Zusammensetzung aller Arten von Luft eingehe und ihre gleichsam eigentliche Basis sey« und erklärt, dadurch werde die Annahme der Zusammensetzung des Wassers »unnötig«.37 Die Absage an die elementare Natur des Wassers geht tatsächlich auf Lavoisier zurück. Seine neuartige Auffassung unterwarf Lavoisier einer experimentellen Gegenprobe. Wenn in der Knallgasreaktion tatsächlich Wasser synthetisiert wird, dann sollte auch dessen Analyse gelingen. Wasser sollte also in seine Bestandteile zerlegbar sein. Dazu leitete Lavoisier Wasserdampf über rotglühende Eisenspäne und stellte fest, dass das Partington, A History of Chemistry III, a. a. O., S. 440 ff.; Ströker, Theoriewandel in der Wissenschaftsgeschichte, a. a. O., S. 245. 35 Mémoire dans lequel on a pour objet de prouver que l’eau n’est point une substance simple, a. a. O., S. 338. 36 Cavendish, Experiments on Air, a. a. O., S. 171 f. Für eine Rekonstruktion von Cavendishs Theorie vgl. Carrier, Cavendishs Version der Phlogistonchemie, a. a. O., S. 44 ff. Nach Cavendishs eigener Darstellung hat Blagden Lavoisier lediglich mitgeteilt, dass dephlogistizierte Luft tatsächlich phlogistonfreies Wasser sei (Cavendish, ebd., S. 170). 37 Joseph Priestley, Versuche und Beobachtungen über den sauren Grundstoff, die Zusammensetzung des Wassers, und das Phlogiston. Journal der Physik 1 (1791), S. 247. 34
30 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Abb.2: Die Zerlegung des Wassers: Der Wasserdampf wird durch ein Rohr mit glühendem Eisen geleitet und dort in seine Bestandteile aufgespalten. Das unzerlegte Wasser wird im Kondensator gesammelt, der freigesetzte Wasserstoff im Behältnis aufgefangen (aus: Œuvres II, Pl. III).
metallische Eisen zu Eisenoxid wird (wie es in gleicher Weise bei der Kalzination von Eisen in Sauerstoff gebildet wird) und dass brennbare Luft entsteht. Die Deutung dieses Prozesses als Zerlegung des Wassers wird durch charakteristische Zusammenhänge zwischen den betreffenden Gewichten bestätigt: Die Gewichtszunahme des Eisens und das Gewicht der erzeugten brennbaren Luft zusammen addieren sich gerade zu dem Gewicht des beteiligten Wassers. 38 Das Experiment ist entsprechend so zu deuten, dass das Wasser durch die chemische Einwirkung von Eisen in seine Bestandteile zerlegt wird. Brennbare Luft ist daher richtiger als wasserbildender Stoff zu bezeichnen, als hydrogène, oder kurz als »Wasserstoff«. 39 Die unterstellte Reaktion hat also die Gestalt:
38 Jean-Baptiste Meusnier & Antoine Laurent Lavoisier, Mémoire où l’on prouve, par la décomposition de l’eau, que ce fluide n’est point une substance simple, et qu’il y a plusieurs moyens d’obtenir en grand l’air inflammable qui y entre comme principe constituant, Œuvres II, 1784, S. 362 ff. 39 Traité élémentaire de chimie, a. a. O., S. 68–77.
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Martin Carrier
Eisen + (Sauerstoff + Wasserstoff) ! (Eisen + Sauerstoff) + Wasserstoff Wasser Eisenoxid
Dies erlaubte endlich die Erklärung von Cavendishs ursprünglichen Experimenten zur Erzeugung von Wasserstoff aus Metallen. Lavoisier nahm nun an, dass der Wasserstoff durch Zerlegung des Wassers gebildet wird. Die Idee war, dass das Metall durch Einwirkung der Säure oxidiert und dass der dafür erforderliche Sauerstoff aus der Spaltung des Wassers stammt. Es ist der dabei freigesetzte Wasserstoff, der entweicht. 40 Cavendishs Experimente galten Lavoisier damit als weiterer Beispielfall für den angegebenen Reaktionstypus. Diese Hypothese erklärt zugleich, warum bei der Lösung eines Metalloxids kein Wasserstoff entsteht: da die Wasserzerlegung zur Oxidation des Metalls führt, tritt sie bei bereits oxidierten Metallen nicht auf. Ebenso werden Priestleys Experimente zur Reduktion von Metallkalken in Wasserstoff erklärbar. Priestley hatte angenommen, dass der Kalk Wasserstoff aufnimmt. Lavoisier setzte dem die Deutung entgegen, der Kalk gebe Sauerstoff ab, und dieser verbinde sich mit dem Wasserstoff zu Wasser. Für Lavoisier war somit »klar, dass Monsieur Priestley Wasser hergestellt hat, ohne es zu ahnen«. 41 Allerdings konnte umgekehrt Lavoisiers Resultaten auch im Rahmen der späten Phlogistontheorie Rechnung getragen werden. In deren Rahmen wurde angenommen, dass Wasserstoff mit Phlogiston identisch ist, so dass der in Lavoisiers vorgeblicher Wasserzerlegung freigesetzte Wasserstoff aus dem Metall stammen muss. Weiterhin tritt in diesem Experiment mehr Wasserdampf in die Apparatur ein als aus, so dass an irgendeiner Stelle Wasser aufgenommen worden sein muss. Die einzige plausible Option ist die Absorption von Wasser durch das Eisen. Dies legt insgesamt nahe, dass der Wasserdampf in das Metall eintritt und dort das Entweichen von Phlogiston (also Wasserstoff) verursacht. Dadurch wiederum wird das Metall zum Kalk. 42 Dieser Ansatz reproduziert überdies Lavoisiers Gewichtsresultate. Das Gewicht des Metalls ist nämlich durch diesen Prozess um das Gewicht des Wassers Mémoire dans lequel on a pour objet de prouver que l’eau n’est point une substance simple, a. a. O., S. 342 f. Tatsächlich stammt der Wasserstoff, wie die bei der Darstellung von Cavendishs Experimenten angebene Reaktionsgleichung verdeutlicht, aus der Säure. 41 Ebd., S. 345. 42 Partington, A History of Chemistry III. a. a. O., S. 270. 40
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vermehrt und um das Gewicht des Wasserstoffs vermindert worden, während es bei Lavoisier um das Gewicht des Sauerstoffs vermehrt ist. Beides läuft offenbar auf dasselbe hinaus. Eine Schwierigkeit blieb in Lavoisiers Ansatz ohne überzeugende Lösung. Das Oxid des Wasserstoffs hätte nämlich (wie erwähnt) eine Säure sein sollen, und dies trifft offenbar nicht zu. Lavoisier behalf sich, indem er Wasser als niedrige Oxidationsstufe des Wasserstoffs betrachtete, wie sie auch bei Metallkalken vorliegt und in der keine sauren Eigenschaften ausgeprägt sind (s. o. 4). 43 Allerdings hatte Lavoisier selbst den Sauerstoffanteil im Wasser zu 85 % bestimmt 44 , so dass die Zuordnung zu einer niedrigen Oxidationsstufe wenig plausibel schien. Die phlogistischen Widersacher vergaßen selten, auf diese Schwierigkeit zu verweisen. 45
6.
Die Chemische Revolution
Die Chemische Revolution umfasst die Ersetzung der Phlogistontheorie durch Lavoisiers Oxidationstheorie. Lavoisier hatte zunächst zwei Anomalien oder Gegenbeispiele für die Phlogistontheorie aufgewiesen, nämlich die Gewichtszunahme bei Kalzination und Verbrennung und die Reduktion von rotem Quecksilberkalk mit dem Brennglas, also ohne erkennbare Phlogistonquelle. Beide Schwierigkeiten betrafen sowohl die traditionelle, Stahlsche Variante der Theorie, in der Phlogiston als »irdisches Prinzip« eingeführt worden war (s. o. 1), als auch die von Cavendish konzipierte Fassung, in deren Rahmen Phlogiston mit Wasserstoff identifiziert wurde (s. o. 5). Phlogiston sollte danach Gewicht besitzen und seine Freisetzung folglich den betreffenden Stoff leichter werden lassen. Und die Erzeugung von Quecksilber aus seinem roten Kalk sollte nicht ohne Einsatz von Holzkohle oder Zusatz von Wasserstoff gelingen. Beide theoriegestützte Erwartungen standen im Gegensatz zu den Beobachtungen. Traité élémentaire de chimie, a. a. O., S. 143. Ebd., S. 76. 45 Friedrich Albert Carl Gren, Antwort des Herausgebers auf vorstehendes Schreiben, Journal der Physik, 6, 1792, S. 205 ff.; Jeremias Benjamin Richter: Über die neuern Gegenstände der Chemie. Drittes Stück. Versuch einer Kritik des antiphlogistischen Systems, Breslau: Johann F. Korn, 1793, S. 213. 43 44
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In seinen Réflexions sur le phlogistique (1783) griff Lavoisier die Theorie erstmals frontal an und brachte einen weiteren anomalen Befund gegen sie zum Tragen. Nach phlogistischer Ansicht sollte das aus dem betreffenden Körper entweichende Phlogiston von der Luft aufgenommen werden und diese phlogistizieren. Kommt die Kalzination also in einem verschlossenen Gefäß nach einiger Zeit zum Stillstand, so hat sich phlogistizierte Luft gebildet, deren Phlogistonübersättigung den Austritt weiteren Phlogistons blockiert (s. o. 3). Bei einer Kalzination in dephlogistizierter Luft ist die Aufnahmefähigkeit für freigesetztes Phlogiston erhöht, so dass der Prozess über längere Zeit anhält; am Ende sollte jedoch wieder phlogistizierte Luft entstanden sein. Aus Lavoisiers Perspektive hingegen ist phlogistizierte Luft tatsächlich Stickstoff, ein Bestandteil der Atmosphäre, der bei Oxidationsprozessen keine Rolle spielt. Bei der Oxidation in reinem Sauerstoff sollte demnach keineswegs Stickstoff entstehen. Lavoisier berichtet von Experimenten zur Kalzination von Quecksilber in reinem Sauerstoff, bei denen sämtliches Gas »bis zum letzten Tropfen absorbiert« wurde. Überdies ist bei einer vorzeitigen Unterbrechung der Kalzination das verbleibende Gas unverändert Sauerstoff. Folglich ist hier kein Phlogiston ausgetreten; zumindest hat es keinerlei chemisch fassbare Wirkungen. 46 Im Zentrum von Lavoisiers Angriff in den Réflexions standen jedoch nicht diese beiden herkömmlichen Varianten der Phlogistontheorie, sondern eine 1779 von Pierre Joseph Macquer (1718–1784) formulierte Fassung (deren Grundgedanke auf Priestley zurückgeht). Der Grund für Lavoisiers Aufmerksamkeit bestand darin, dass Macquers Fassung den drei genannten Gegenbeispielen ohne weiteres Rechnung zu tragen vermag. Nach Macquer ist Phlogiston der reine Lichtstoff und als solcher in der Lage, Gefäßwände zu durchdringen. Weiterhin erkennt Macquer an, dass bei der Verbrennung und Kalzination Sauerstoff gebunden wird. Es soll aber dieser Prozess der Sauerstoffbindung sein, der Phlogiston freisetzt. Schließlich demonstriert das Leuchten von Flammen zweifelsfrei, dass bei der Sauerstoffbindung Licht entsteht. In diesem Rahmen ergibt sich die Gewichtszunahme gerade wie bei Lavoisier durch die Aufnahme von Sauerstoff, bei der Reduktion von rotem Quecksilberkalk mit dem Brennglas stellt das konzentriert Réflexions sur le phlogistique, pour servir de suite à la théorie de la combustion et de la calcination, a. a. O., S. 636 f.
46
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einfallende Licht das erforderliche Phlogiston bereit, und bei der Kalzination in reinem Sauerstoff entweicht das freigesetzte Phlogiston in Form von Licht durch die Wände des Gefäßes. Lavoisiers drei Anomalien sind phlogistisch aufgelöst. In seiner Erwiderung wies Lavoisier darauf hin, dass nur eine kleine Zahl von Kalken ausschließlich durch Licht reduzierbar ist, während die Überzahl eine greifbare Phlogistonquelle, etwa Holzkohle, benötigt. Dieser Befund ist schwer mit der Behauptung in Einklang zu bringen, Licht sei reines Phlogiston, da dann das Brennglas die Phlogistonversorgung optimal sicherstellen sollte. 47 Über solche Hinweise auf empirische Schwierigkeiten einzelner phlogistischer Versionen hinaus rückte Lavoisier aber die Versionenvielfalt der Phlogistontheorie in den Mittelpunkt und betonte die gegensätzlichen Eigenschaften, die dem Phlogiston auf diese Weise zugeschrieben werden. Zuweilen durchdringt es Gefäßwände, zuweilen nicht; manchmal ist es im Licht enthalten, manchmal in der Holzkohle, zum Teil wird es für die Erklärung von Farben herangezogen, zum Teil für das Fehlen von Farben. Indem die Theorie eine solche Vielgestaltigkeit annimmt, passt sie sich in ganz unterschiedliche Erklärungszusammenhänge ein. Das Phlogiston »ist ein wirklicher Proteus, der jeden Augenblick seine Gestalt wechselt«. 48 Tatsächlich hatte die Wucht von Lavoisiers Angriff die Kreativität der Phlogistiker in starkem Maße angeregt und eine fast unübersehbare Variantenvielfalt hervorgebracht. In ihrer Spätphase zerfiel die Phlogistontheorie in eine Unzahl disparater Erklärungsansätze, jeweils um bestimmte Phänomene herum entworfen und mit anderen unverträglich. Zum Beispiel erklärte Priestley die Kalzination von Eisen bei Lavoisiers angeblicher Wasserzerlegung durch die Bindung von Wasser (s. o. 5), während Macquer Kalzination stets auf die Bindung von Sauerstoff zurückführte. Eine der in der Agonie entworfenen phlogistischen Konzeptionen sah in der Tat auch ein negatives Gewicht für das Phlogiston vor, so dass sein Entweichen eine Gewichtszunahme zur Folge haben sollte. Allerdings handelte es sich dabei um eine bloß randständige Ansicht, der bei weitem nicht die Bedeutsamkeit zukam, die ihr im Nachhinein oft zugeschrieben wird. Weit nachteiliger als die Unplausibilität dieser oder jener Fassung der Theorie war ihre AufspalEbd., S. 637. Ebd., S. 640. Proteus ist der Meergreis der griechischen Mythologie, der – wie das Meer selbst – in tausenderlei Gestalt auftritt. 47 48
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tung in eine große Zahl gegensätzlicher Doktrinen. Jeremias Benjamin Richter (1762–1807), selbst von phlogistischer Gesinnung und dabei ähnlicher Ansicht wie Macquer, erkennt diesen Klagepunkt an. Fatal ist nämlich, dass sich die Verteidiger des Phlogiston »nicht einig wären, was das Phlogiston sey, indem es der eine für Lichtmaterie, ein anderer für brennbare Luft, ein dritter für die Verbindung der Feuermaterie mit einer Erde, der eine für schwer, der andere für nicht schwer, wiederum ein dritter für negativ schwer halte«. 49 Diese krebsartige Wucherung von Versionen trug wesentlich zum Ableben des Phlogiston bei. Schon in den Réflexions hatte Lavoisier dieses Leitmotiv angeschlagen: Durch ihre Zersplitterung wird die Theorie vage und widersprüchlich und bringt es letztlich zu keinerlei überzeugenden Erklärungsleistungen mehr. Die Oxidationstheorie soll die Chemie auf den Weg der begrifflichen und argumentativen Stringenz zurückführen. 50 Tatsächlich war Lavoisier bei diesem Unternehmen erfolgreich. Nach 1785 schwenkte die französische Chemie auf Lavoisiers Linie ein, ab 1790 die englische und ab etwa 1795 auch die deutsche. Nur Priestley blieb ungebeugt und verfasste bis zu seinem Tode 1804 immer wieder neue Traktate zur Widerlegung Lavoisiers und zum Beweis der Phlogistontheorie. Tatsächlich beinhaltete die Aufgabe der Phlogistontheorie einen tief greifenden Wandlungsprozess, der eine Umorientierung der Chemie nach Erscheinungsbild und Methode umfasste. Lavoisiers Theorie stellte einen einheitlicheren Ansatz dar, der weniger Raum für Beliebigkeit bot und die chemischen Befunde enger an die Grundsätze anband. Den oftmals willkürlichen Anpassungen der Phlogistontheorie setzte Lavoisier einen strengeren Interpretationsrahmen entgegen. Zudem verschob Lavoisier den Fokus chemischer Erklärungen. Durch ihn wurden die Gewichts- und Volumenverhältnisse bei Reaktionen zum Prüfstein für theoretische Ansätze; vordem hatten diese Größen als Teil der Physik gegolten und waren als für die Chemie belanglos eingestuft worden. Komplementär traten bei Lavoisier Eigenschaften wie Festigkeit oder Metallizität in den Hintergrund, zu deren Erklärung die Prinzipienchemie eingeführt worden war. Zwar blieben Residuen der traditionellen Denkweise erhalten: Sauerstoff ist das Prinzip der Richter, Über die neuern Gegenstände der Chemie, a. a. O., S. 203. Réflexions sur le phlogistique, pour servir de suite à la théorie de la combustion et de la calcination, a. a. O., S. 640.
49 50
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Säuren, 51 Wärmestoff der Ursprung von Elastizität und Flüchtigkeit (und damit dem alten Quecksilberprinzip ähnlich (s. o. 4)). Aber abgesehen von diesen Rückständen wurden die Prinzipien aus der Chemie verbannt. Insbesondere galten Lavoisier die Metalle als elementar; die Gemeinsamkeit ihrer Eigenschaften wird nicht mehr durch den gemeinsamen Bestandteil Phlogiston erklärt. Mit der Aufgabe der Säuretheorie zwei Jahrzehnte nach Lavoisiers Tod verschwanden auch diese prinzipienchemischen Reste. Der Wirkung nach beseitigte die Chemische Revolution die Prinzipien aus der Chemie. Mit dieser Abwendung ist die Annahme eines stärker operational geprägten Elementbegriffs verbunden, demzufolge die Endpunkte der chemischen Analyse das Elementare bestimmen. Was nicht weiter zerlegt werden kann, ist elementar. 52 In der Prinzipienchemie wurde diese Forderung der isolierten Darstellung der Elemente dagegen abgewiesen (s. o. 5). Allerdings ist die von Lavoisier in dieser Frage herbeigeführte Wendung wenig markant; eher schrieb er eine säkulare Tendenz fort. Schon vor Lavoisier bekannten sich Phlogistiker zu einem operationalen Elementbegriff; 53 umgekehrt hielt Lavoisier Chlor, die oxidierte Salzsäure, trotz aller gescheiterter Zerlegungsversuche keineswegs für elementar (s. o. 4). Trotz aller Kontinuität in dieser oder jener Hinsicht, insgesamt beinhaltet die Chemische Revolution einen ausgeprägten wissenschaftshistorischen Bruch. Bei Lavoisier ist die Theoriebildung systematischer, durchsichtiger und auch in den Einzelheiten besser durch Erfahrung gestützt. Durch Lavoisier wird die Chemie aus einer eher locker verbundenen Kollektion von Einzeltatsachen in ein theoretisch strukturiertes Lehrgebäude verwandelt. Lavoisier hat dieses methodologische Charakteristikum seiner Arbeiten klar verstanden: Ebenso schädlich wie bloßes Theoretisieren ist eine ungeordnete Häufung von Versuchen, wodurch die Wissenschaft verdunkelt, nicht erleuchtet wird. Es erschwert den Zugang für alle … und bringt nur geringen Lohn für angestrengte Arbeit. Tatsachen, Beobachtungen und Versuche gleichen den einzelnen Bestandteilen eines großen Baues. Bei ihrer Zusammenfügung darf
51 Considérations générales sur la nature des acides et sur le principes dont ils sont composés, a. a. O., S. 259; Traité élémentaire de chimie, a. a. O., S. 57. 52 Ebd., S. 7. 53 Pierre Joseph Macquer, Dictionnaire de chymie I, Yverdon, 1767, S. 71.
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kein Durcheinander entstehen; sie müssen geordnet, das Zusammengehörige vereinigt und dorthin gesetzt werden, wo es hingehört. 54
Hier hat Lavoisier dem Wort die Tat folgen lassen. Teil dieser Umorientierung ist die Terminologiereform, die Lavoisier 1787 auf den Weg brachte. Ziel war es, die verwirrenden Trivialnamen der Tradition oder die irreführenden phlogistischen Bezeichnungen durch eine geordnete Begrifflichkeit zu ersetzen, die die Beschaffenheit der Stoffe vor Augen führt. Einfache Stoffe wurden durch einfache Namen bezeichnet, komplexe Stoffe durch Namen, die deren Zusammensetzung deutlich macht.55 So sollten Lavoisiers vier Oxidationsstufen »oxyde«, »-eux« (wie acide sulfureux, schweflige Säure), »-ique« (wie acide sulfurique, Schwefelsäure) und »oxygéné« den Anstieg des Sauerstoffgehalts erkennen lassen. Diese Idee, in der Benennung eines Stoffs seine Zusammensetzung zum Ausdruck zu bringen, ist bis zum heutigen Tag bewahrt und schlägt sich in Bezeichnungen wie »Kohlendioxid« oder »Distickstoffoxid« nieder. Mit diesem Bemühen, die Verworrenheit des Hergebrachten durch die Durchsichtigkeit einer vernünftigen Neuordnung zu ersetzen, gliederte Lavoisier die Chemie in die Aufklärung ein. Durch Lavoisier wurde die Chemie zu einer Disziplin nach dem Maß der Epoche.
7.
Gesellschaftlicher Aufstieg und Fall
Lavoisier war ein rastloser Geist. Den Morgen und den Abend eines jeden Tages widmete er der Wissenschaft, unterstützt von seiner Frau, die etwa die Experimente protokollierte oder Übersetzungen fremdsprachiger Arbeiten (insbesondere aus dem Englischen) für ihren wenig sprachgewandten Gatten anfertigte. Den Tag über trieb Lavoisier seine bürgerliche Karriere voran. Er reinvestierte konsequent seine Gewinne in die Ferme générale und stieg dadurch in der Organisation der Steuerpächter beständig weiter auf. Lavoisiers ausgeprägter Geschäftssinn drückte sich unter anderem in der Errichtung der Pariser Mauer Mémoire sur la combustion en général Œuvres II, 1777, S. 225. Dt. Allgemeine Betrachtungen über Verbrennung, Das Wasser. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft, 1930, S. 28. 55 Traité élémentaire de chemie, a. a. O., S. 8. 54
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aus. Auf seine Veranlassung hin wurde Paris zum Zweck der effizienteren Eintreibung von Gebühren mit einer Mauer umgeben. Die Fermiers généraux waren unter anderem dazu berechtigt, Zoll auf den Transport von Waren zu erheben und verloren durch Schmuggel erhebliche Summen. Lavoisiers tatkräftig ans Werk gesetztes Unternehmen Stadtmauer sollte den Schmugglern das Handwerk legen und den Gewinn der Steuerpächter mehren. Es nimmt nicht wunder, dass diese fiskalische Maßnahme der Reputation Lavoisiers bei der Pariser Bevölkerung nicht eben förderlich war. Während Lavoisier damit einerseits Bestandteil des Ancien régime war, teilte er andererseits die Ideale und Ziele der Aufklärung. Lavoisier war stellvertretender Abgeordneter des Dritten Standes in der 1787 einberufenen Versammlung der Generalstände und setzte sich 1788, also noch vor der Revolution, für die Abschaffung der Steuerprivilegien von Adel und Klerus ein. Die Besteuerung sollte einheitlich nach wirtschaftlicher Leistungskraft erfolgen. Obwohl dies bei seiner hohen gesellschaftlichen Stellung nicht ohne weiteres zu erwarten war, zählte Lavoisier zu den 1789ern, also den Anhängern der vom liberalen Bürgertum getragenen ersten Phase der Französischen Revolution. Lavoisier war von starkem Geltungsbedürfnis getrieben. In wissenschaftlicher Hinsicht dokumentiert sich dieser Charakterzug in der wiederholten Betonung der eigenen Leistungen und in der eher nachlässigen Anerkennung der Beiträge anderer. In gesellschaftlicher Hinsicht drückt sich der gleiche Zug darin aus, dass Lavoisier Ämter an sich zog und sie alle mit Energie und Tatkraft ausfüllte. 1775 übernahm er die Leitung der staatlichen Pulververwaltung und steigerte die französische Produktion von Schießpulver nach Quantität und Qualität beträchtlich. Lavoisiers Tätigkeit in der Régie des poudres gilt als gelungene Verknüpfung von wissenschaftlichem Sachverstand und organisatorischer Innovationskraft. 56 In den 1780er Jahren wirkte der mittlerweile berühmte Wissenschaftler als Mitglied oder Vorsitzender in diversen königlichen Kommissionen mit. Dabei widmete er sich unter anderem der Verbesserung der zum Teil menschenunwürdigen Verhältnisse in Krankenhäusern und Gefängnissen. Zentrales Anliegen Lavoisiers war dabei die Erhöhung der Luftqualität. Darin verbanden sich eigene Erkenntnisse über den Sauerstoffverbrauch bei der Atmung mit der traditionellen Mias56
Beretta, Lavoisier. Die Revolution in der Chemie. a. a. O., S. 47.
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mentheorie, derzufolge Krankheiten durch verdorbene Luft entstehen. Lavoisiers zentrale Reformempfehlung bestand stets in der Verbesserung der Belüftung, was aber kaum jemals umgesetzt wurde. Nach der Revolution setzte Lavoisier seine Kommissionstätigkeit nahtlos fort. Er wurde Mitglied der nationalen Schatzkommission und wirkte an herausgehobener Stelle bei der Konzeption des durchgängig dezimalen Maßsystems mit, dem wir unter anderem Meter und Gramm (und damit Kilometer und Kilogramm) verdanken. Lavoisier zählte vor und nach der Revolution zu den Spitzen der Gesellschaft. Diese herausgehobene Stellung ließ ihn auch dann noch an seine persönliche Unantastbarkeit glauben, als die Schreckensherrschaft heraufzog. Tatsächlich wurden jedoch im November 1793 sämtliche Steuerpächter des Ancien régime verhaftet – darunter auch Lavoisier. Im Mai 1794 wurden alle in einem Sammelverfahren ohne Würdigung des Einzelfalls zum Tode verurteilt. Am 8. Mai 1794 bestieg Lavoisier das Schafott. In der älteren Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist die Hinrichtung Lavoisiers mit einer wissenschaftsfeindlichen Haltung der Revolution in Verbindung gebracht worden. Bei Lavoisiers Verurteilung soll der Richter geäußert haben, die Revolution brauche keine Wissenschaftler (»La révolution n’a pas besoin de savants«). Aber dies ist keinesfalls glaubhaft. Erstens findet sich diese Äußerung nicht in den Quellen und taucht erst in späteren Darstellungen auf. In den Quellen ist nur summarisch von der Hinrichtung der 28 Fermiers généraux die Rede. Lavoisier ist nicht als Wissenschaftler hingerichtet worden, sondern als Mitglied der verhassten Ferme. Zweitens war die Revolution insgesamt keineswegs wissenschaftsfeindlich. Vielmehr galten wissenschaftliche Rationalität und Effizienz weithin als Vorbild für staatliche Einrichtungen. Die Revolution zählte die Wissenschaft zu ihren Verbündeten, was sich nicht zuletzt darin ausdrückte, dass nicht wenige Wissenschaftler bedeutende politische Ämter bekleideten. Lavoisiers tragisches Ende hatte nichts mit seiner wissenschaftlichen Aktivität zu tun, sondern mit seiner gesellschaftlichen Stellung als Steuerpächter und – vor allem – mit einer außer Kontrolle geratenen Blutjustiz. Lavoisier war eines der zahllosen unschuldigen Opfer eines organisierten Justizmordens, das noch zwei weitere Monate durch das Land raste, bevor es auch seine Urheber hinwegfegte.
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Johann Wilhelm Ritter: Zwischen romantischer Naturphilosophie und exakter Naturwissenschaft Andreas Woyke
1.
Naturforschung und Naturphilosophie in der Romantik – Schlaglichter auf ein schwieriges Verhltnis
Wenn sich Philosophen heutzutage mit Fragen der Naturerkenntnis auseinandersetzen, dann tun sie das in der Regel in enger Anlehnung an das, was die modernen Naturwissenschaften über die Natur zu sagen haben. Der rasante Niedergang der Naturphilosophie als eigenständiger Disziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird von den Vertretern der sogenannten ›modernen Naturphilosophie‹ damit begründet, dass die naturphilosophischen Konzepte der Romantik und des Deutschen Idealismus von den meisten Naturwissenschaftlern der Zeit als völlig unfruchtbar oder sogar schädlich abgelehnt wurden. 1 Zweifellos kann man nicht wirklich behaupten, dass diese Konzepte besonders hilfreich bei der Etablierung der empirischen Forschung in der Physik, Chemie, Biologie oder Medizin gewesen wären, aber man macht es sich doch zu einfach, wenn man bereits hier eine scharfe Zäsur zwischen den empirisch verfahrenden Naturwissenschaften und einer lediglich spekulativ-dogmatischen Naturphilosophie zu ziehen versucht. Das Spektrum der verschiedenen Positionen erscheint nicht nur zu vielgestaltig, es zeigen sich auch fruchtbare Wechselbeziehungen zwischen den beiden nur scheinbar scharf zu trennenden Fronten, was sich eindringlich an der Person Johann Wilhelm Ritters zeigt. Um die Stellung Ritters zwischen Naturforschung und Naturphilosophie etwas deutlicher zu konturieren, sollen einleitend einige Schlaglichter auf die Positionen gerichtet werden, die um 1800 den Diskurs über die verschiedenen Formen des Naturverständnisses bestimmen. Entgegen der Auffassung, dass sich schon in dieser Zeit eine klare 1 Andreas Bartels, Grundprobleme der modernen Naturphilosophie, Paderborn: Schöningh, 1996, S. 11 ff.
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Andreas Woyke
Aufteilung zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und naturphilosophischer Spekulation feststellen lässt, findet sich ein breites Spektrum recht unterschiedlicher Zugangsweisen und Orientierungen. So stehen einer transzendentalen Naturphilosophie im Sinne Kants die spekulativen Entwürfe Schellings und Hegels sowie die verschiedenen Konzepte der romantischen Naturforschung und Medizin gegenüber. Daneben finden sich auch Ansätze zu einer empiristisch begründeten Wissenschaftsphilosophie in enger Anbindung an den Fortgang der naturwissenschaftlichen Forschung. Im Unterschied zu jeder einfachen Gegenüberstellung zwischen Naturforschung und Naturphilosophie ist bedenkenswert, dass sich auch Schelling und Hegel darum bemühen, ihre naturphilosophischen Konzeptionen von den verschiedenen Entwürfen der romantischen Naturforschung abzugrenzen und in wesentlicher Differenz zu diesen ihre enge Bezogenheit auf die konkrete naturwissenschaftliche Arbeit zu betonen. So heißt es etwa bei Schelling in einer Schrift von 1799: Wir wissen nicht nur dieß oder jenes, sondern wir wissen ursprünglich überhaupt nichts als durch Erfahrung, und mittelst der Erfahrung, und insofern besteht unser ganzes Wissen aus Erfahrungssätzen.2
Die seiner Auffassung nach weitgehend unangemessene Rezeption seiner Naturphilosophie durch Naturwissenschaftler und Mediziner der Zeit nimmt Schelling im Jahre 1807 zum Anlass, diesbezügliche Publikationen auf längere Sicht einzustellen. 3 Auch Goethe, den man durchaus in ein affirmatives Verhältnis zur romantischen Naturforschung setzen kann, distanziert sich zum Teil mit deutlicher Polemik von solchen Vereinnahmungen: »Das Romantische ist kein Natürliches, Ursprüngliches, sondern ein Gemachtes, ein Gesuchtes, Gesteigertes, Übertriebenes, Bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikaturartige.« 4 Die Vertreter der romantischen Naturforschung und Medizin Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 1799, in: Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. von Manfred Schröter, München: C. H. Beck, Bd. 2, 19924 , S. 278 [III 278]. 3 Dietrich von Engelhardt, Naturforschung im Zeitalter der Romantik, in: Walther Christian Zimmerli, Klaus Stein & Michael Gerten (Hg.), Fessellos durch die Systeme. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling, Stuttgart/ Bad Canstatt: Frommann-Holzboog, 1997, S. 19–48, hier: S. 23. 4 Johann Wolfgang von Goethe, Äußerung im Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer, 1808, zit. n. ebd., S. 24. Wie der Beitrag von Kristian Köchy in diesem Band zeigt, nimmt auch Alexander von Humboldt eine differenzierte Zwischenposition ein. 2
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Johann Wilhelm Ritter: Zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft
stimmen nun einerseits durchaus in vielem mit den Naturphilosophien Schellings und Hegels überein, sie sehen aber andererseits einen wesentlichen Aspekt der Abgrenzung von ihnen darin, dass sie die Möglichkeit der intellektuellen Erfassung des Absoluten als Grundlage der Natur wie des Geistes maßgeblich in Frage stellen. Auch Johann Wilhelm Ritter bringt diese Auffassung deutlich zum Ausdruck: Die höchste Deduktion a priori ist ein Mißverstand, und der Mensch ist nicht ihr Herr. Sie ist, aber einmal nur; sie ist die Welt selbst. […] Die Kunst ist der einzige Ort, in dem sie erscheint, – nicht als Wieder- sondern als Selbsterscheinung. Zum Bewusstsein kann sie nie kommen. 5
Die affirmative Anerkennung der Grenzen des menschlichen Verstandes muss insofern aus der Sicht Ritters und anderer Vertreter der romantischen Naturforschung nicht in agnostische Resignation führen, sie kann dazu anregen, andere Zugangsweisen zur Natur über den Glauben, das Gefühl, den Traum und die künstlerische Ekstase aufzuwerten und so zu einem insgesamt ganzheitlicheren Naturverständnis zu finden.
2.
berblick zu Leben und Werk von Johann Wilhelm Ritter
Johann Wilhelm Ritter wird am 16. Dezember 1776 im schlesischen Dörfchen Samitz als erstes der sechs Kinder des Pfarrers Johann Wilhelm Ritter und seiner Frau Juliane Fridericke Ritter, geborene Decovius geboren. In seiner Schulzeit zeigen sich früh sein nach Unabhängigkeit strebender Geist und seine Neigung, sich dem etablierten Bildungskanon zu entziehen. Das bei Ritter früh erwachende Interesse an naturwissenschaftlichen und mathematischen Gegenständen konnte durch die vorherrschend humanistische Prägung der höheren Schulen nicht angemessen gefördert werden, weshalb er sich wie andere Wissenschaftler der Zeit auch dazu entscheidet, seinen Einstieg in die naturwissenschaftliche Arbeit über eine pharmazeutische Ausbildung zu nehmen. In der Rückschau beurteilt er die Lehre an der Stadt- und Hofapotheke in Liegnitz, die er im Jahre 1791 aufnimmt, zwar eher als 5 Johann Wilhelm Ritter, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur [= Fragmente], 1810, hg. von Steffen Dietzsch & Birgit Dietzsch, Leipzig/Weimar: Müller & Kiepenheuer, 1984, XII 584, S. 245; Hervorh. i. Orig.
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verschwendete Lebenszeit, aber es steht wohl fest, dass die solide Ausbildung im Umgang mit verschiedenen Stoffen, Experimentier- und Messgeräten ein wichtiges Fundament für seine spätere experimentelle Forschung bildet. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum Apothekergesellen 1796 reißt sich Ritter aus der Enge seines Elternhauses und der ihm vertrauten Umgebung los, um voller Erwartungen, aber nahezu mittellos an der Universität Jena ein Studium der Naturwissenschaften aufzunehmen. Wohl insbesondere durch die Vorlesungen des Physikers Johann Heinrich Voigt angeregt beginnt er, sich intensiv mit den Phänomenen des Galvanismus zu beschäftigen, wodurch er sich bald eine gewisse Bekanntschaft in den interessierten Kreisen Jenas verschafft. So kommt es, dass Alexander von Humboldt, der sich im Frühjahr 1797 in Jena aufhält, in Kontakt mit Ritter kommt und ihn um eine Kommentierung seiner Schrift ›Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Proceß des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt‹ bittet. Ritter nimmt dieses Angebot an und gelangt dabei zu einer weitgehend kritischen Einschätzung der dort vorgetragenen Thesen. Die von ihm selbst erarbeiteten Resultate verwendet er im Herbst 1797 für seinen ersten Vortrag vor der Naturforschenden Gesellschaft zu Jena und lässt dadurch schlagartig sein studentisches Dasein hinter sich, um sich als kompetenter Naturwissenschaftler zu profilieren. Bereits im Frühjahr 1798 erscheint sein erstes Buch ›Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite‹. Mit einer Fülle detailreich dokumentierter Experimente versucht er dort seine allgemeine Vermutung zu begründen, dass Galvanismus und Elektrizität ihre Basis in chemischen Vorgängen haben. Seine systematischen Untersuchungen führen Ritter zum Schluss, dass sich die verschiedenen Metalle anhand ihrer Oxidierbarkeit und gegenseitigen Ausfällbarkeit in einer Spannungsreihe ordnen lassen, womit er mit den zeitgleichen Arbeiten von Alessandro Volta übereinstimmt. Von entscheidender Bedeutung sind diese Ergebnisse unter anderem deshalb, weil sie galvanische Phänomene auf eine allgemeine physikalisch-chemische Grundlage zurückführen und somit die Auffassung widerlegen, dass es sich bei ihnen um Sonderphänomene des Lebendigen handelt. Der zwischen den Anhängern Galvanis und Voltas ausgebrochne Streit darüber, ob die elektrisch initiierten Zuckungen der Froschschenkelpräparate auf eine neue Art von ›Kontaktelektrizität‹ oder eine besondere ›vis vitalis‹ zurückzuführen seien, kann von 46 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Ritter dahingehend aufgelöst werden, dass sie auf spezifischen elektrochemischen Reaktionen zwischen den verschiedenen Metallen und Elektrolyten basieren, die sich auch in anorganischen Systemen problemlos reproduzieren lassen. Er legt auf diese Weise den Grundstein für die Konstitution der Elektrochemie. Volta hat zwar auf der Grundlage seiner Experimente jene Spannungsreihe formuliert, die man heute gewöhnlich mit seinem Namen verbindet, aber den wesentlichen Zusammenhang dieser Ordnung mit den chemischen Eigenschaften der verschiedenen Metalle hat er als solchen nicht gesehen. Über seine erste größere Publikation wird man auch außerhalb Jenas auf Ritter als Fachmann für die Phänomene des Galvanismus aufmerksam, so dass er ab dem Sommer 1798 im chemischen Laboratorium von Alexander Nikolaus Scherer in Weimar-Belvedere mitarbeiten kann. Er erhält dadurch ein bescheidendes Einkommen, das allerdings bald wieder versiegt, als Scherer Weimar im Oktober 1799 verlässt. Das letzte Jahr des 18. Jahrhunderts ist für Ritter aber insbesondere deshalb besonders ereignisreich, weil er in dieser Zeit eine Reihe wichtiger Kontakte knüpft. Er hatte sich zwar durch sein Erstlingswerk eine gewisse Reputation als Wissenschaftler verschafft, führte aber ein recht zurückgezogenes Leben. Novalis als wichtige Figur des frühromantischen Freundeskreises in Jena ist wohl einer der ersten, die Ritter aus seiner Isolation herausreißen und ihn in die dort äußerst lebendige Diskussionskultur einführen. Ritter entdeckt viel Übereinstimmung zwischen dessen spekulativen Entwürfen für eine ›Poetisierung der Wissenschaft‹ und seinen eigenen Überlegungen, so dass sich zwischen beiden eine innige Freundschaft entwickelt, die allerdings durch den frühen Tod von Novalis im März 1801 abrupt beendet wird. Er verliert dadurch aber nicht nur einen wirklichen Freund, sondern auch einen selbstlosen finanziellen Förderer, den er angesichts seiner misslichen wirtschaftlichen Lage bitter nötig hatte. Goethe, den Ritter im Sommer 1800 persönlich kennen lernt, berichtet über den enthusiastischen und kenntnisreichen Physiker zwar voller Begeisterung, kann ihm aber weder bei einem Darlehensgesuch noch bei der Vermittlung einer festen Anstellung helfen. Trotz seiner allgemein schwierigen Lage in dieser Zeit gelangt er im Februar 1801 zu einer weiteren wichtigen Entdeckung: Angeregt durch den Nachweis des infraroten Anteils im Spektrum des Sonnenlichts durch Friedrich Wilhelm Herschel schloss er anhand von Analogiebetrachtungen, dass es ein Pendant hierzu auch im nichtsichtbaren Bereich geben müsse. Mit einem 47 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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genial einfachen Experiment kann er diese Vermutung belegen, was ihn zum Entdecker des ultravioletten Lichts macht. Ein wichtiger Treffpunkt der in Jena schon kurz vor Ritters Ankunft gegründeten ›Romantischen Schule‹ war die Wohnung von August Wilhelm Schlegel. Ritters Schrift ›Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite‹ einschließlich des darin unternommenen Versuchs, die gewonnenen experimentellen Resultate für weitreichende kosmologische Interpretationen zu verwenden, werden in dem Jenaer Kreis aus Philosophen, Dichtern, Literaten und Schöngeistern vielfältig diskutiert. Mit August Wilhelm Schlegel, seiner Frau Caroline, seinem jüngeren Bruder Friedrich und dessen Lebensgefährtin Dorothea Veit pflegt Ritter einen innigen Umgang und fühlt sich sowohl von ihrer literarisch-philosophischen Bildung als auch von ihren unkonventionellen Lebensformen angezogen. Das Verhältnis Ritters zu Schelling, der sich 1796 nur kurze Zeit in Jena aufhält, 1798 dort aber für fünf Jahre eine Professur für Philosophie übernimmt, ist von Anfang an einerseits durch gedankliche Nähe, andererseits aber auch durch unterschiedliche Auffassungen und Temperamente bestimmt. Insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses zwischen spekulativer Naturphilosophie und empirischer Naturforschung sieht Ritter Probleme: Ich verkenne Schellings große Tendenz nicht; ich bin ihm früh gefolgt und ehre ihn, – was kann ich aber dafür, wenn die Natur mit dem Materiellen seines Verfahrens in der Physik Ursach hat, unzufrieden zu sein! […] Es liegt mir schon lange am Herzen, die Physik gegen Nachteile zu schützen, die Schelling selbst jetzt so genau nicht vorhersehen kann. 6
Ein regelrechtes Konkurrenzverhältnis entwickelt Ritter gegenüber Achim von Arnim, der 1799 seine Schrift ›Versuch einer Theorie der elektrischen Erscheinungen‹ publiziert, in der er sich ausgiebig mit den Phänomenen des Galvanismus und Magnetismus beschäftigt. Ritter besucht ihn noch im selben Jahr in Halle; zwei Jahre später begibt er sich allerdings in eine heftige Kontroverse mit ihm, was wohl maßgeblich dafür ist, dass Arnim seine naturwissenschaftlichen Forschungen einstellt und sich auf seine schriftstellerische Tätigkeit konzentriert. 6 Brief an Goethe vom 25. 12. 1800; zit. n. Klaus Richter, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter. Ein Schicksal in der Zeit der Romantik, Weimar: Böhlaus Nachfolger, 2003, S. 96.
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Eine demgegenüber wichtige und für beide Seiten ertragreiche Bekanntschaft aus Ritters Zeit in Jena und Weimar ist die mit dem etwa gleichaltrigen dänischen Physiker Hans Christian Ørsted, den er zwar nur dreimal persönlich traf, dem er aber bis zu seinem Lebensende in Freundschaft verbunden blieb. Die von Ørsted im Jahre 1820 experimentell nachgewiesene magnetische Wirkung des elektrischen Stromes geht unmittelbar auf die Arbeiten Ritters zurück, was auch Schelling in einem Vortrag aus dem Jahre 1832 zum Ausdruck bringt. 7 Trotz der vielfältigen Ablenkungen durch die Integration in den Jenaer Romantikerkreis und seine stets schwierigen materiellen Verhältnisse entfaltet Ritter eine äußerst intensive Forschungstätigkeit. Aufgrund seiner Fähigkeit zur akribischen Beobachtung experimenteller Details gelingt ihm im Dezember 1802 eine besonders originelle Erfindung, nämlich die der sogenannten ›Ladungssäule‹. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die als Elektroden dienenden Drähte verschiedener Metalle auch kurz nach ihrer Trennung von der als Spannungsversorgung verwendeten Voltaischen Säule eine elektrolysierende Wirkung auf Wasser ausüben können: Es war nämlich im Anfang des Dezembers 1802, als mich die ungemeine Ähnlichkeit solcher der Wirkung der Voltaischen Säule ausgesetzt gewesener Drähte mit galvanischen Ketten […] selbst veranlasste, statt der Drähte Platten zu nehmen und zu versuchen, ob sich die Menge kleiner einzelner Spannungen dieser Platten nicht ebenso zu einer gemeinschaftlichen großen Spannung und davon abhängender Wirkung auflösen würde, wie das mit den einzelnen Lagen bei Voltas Batterie der Fall ist. 8
Ritter realisiert diese Idee und wird damit zum Entdecker des Akkumulator-Prinzips: Um sie [die Spannung der Ladungssäule; A. W.] wieder herzustellen, ist nichts nötig, als sie von neuem auf einige Minuten mit der Batterie zu verbinden und dann sie wieder davon zu trennen. So kann man dieses Spiel ungezählte Male wiederholen. 9
Auf einer Festveranstaltung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hält Schelling 1832 einen Vortrag mit dem Titel »Über Faraday’s neueste Entdeckung«, wobei er auch die Pionierarbeit Ritters würdigt (vgl. Hermann Berg & Klaus Richter (Hg.): Johann Wilhelm Ritter, Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelektrochemie und Photochemie, Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig, 1986, S. 10). 8 Versuche und Bemerkungen über den Galvanismus, 1803; zit. n. ebd. S. 64. 9 Ebd., S. 66. 7
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Seine diesbezüglichen Resultate publiziert er zwar noch 1803 in ›Voigts Magazin für den neuesten Zustand der Naturkunde‹, aber unter anderem durch den unscheinbaren Titel seines Aufsatzes ›Versuche und Bemerkungen über den Galvanismus‹ finden sie kaum Aufmerksamkeit. Ritter bewirbt sich mit seinen Experimenten zur Ladungssäule auf den von Napoleon Bonaparte ausgeschriebenen Preis für die Erforschung der galvanischen Elektrizität, erhält ihn jedoch wider Erwarten nicht. Er betrachtet dies aber nicht als einen wirklichen Rückschlag und hält an seiner beinahe fanatischen Vertiefung in die wissenschaftliche Arbeit fest, die ihm all seine Kraft abverlangt und zu einer weitgehenden Vernachlässigung und Geringschätzung der alltäglichen Dinge beiträgt. In einem Brief an Ørsted heißt es: »Über meine Zukunft weiß ich nichts zu sagen. Gott wird schon sorgen. Es ging ja bis dahin.« 10 Weder dieses geringe Maß an Selbstsorge noch sein obsessives Verhältnis zur wissenschaftlichen Arbeit halten Ritter allerdings davon ab, auch Beziehungen zum anderen Geschlecht zu knüpfen. Von Legenden umrankt ist sein Verhältnis zu Louise de Gachet, von der Ritter in seiner autobiographischen Skizze als ›chemisierender Französin‹ spricht. Will man den reichlich drastischen Schilderungen von Clemens Brentano Glauben schenken, soll er auch mit Dorothea Veit – der Lebensgefährtin Friedrich Schlegels – zeitweise eine recht intime Beziehung unterhalten haben. Hinsichtlich seiner Auffassung über die Geschlechterliebe zeigt sich uns Ritter als ein typischer Vertreter der Frühromantik, er bemüht sich in den letzten Jahren seines kurzen Lebens aber auch darum, trotz der immer schwierigen materiellen Verhältnisse ein treu sorgender und liebevoller Familienvater zu sein. Stimmt er noch in seinen ›Fragmenten‹ der von Novalis und anderen vertretenen Ansicht zu, dass die wahre Liebe als Einheit aus Geschlechtlich-Sinnlichem und Geistig-Seelischem zu begreifen sei und dieses »Möglichste […] das Menschenpaar durch alle Welten« zu bringen vermag, 11 so führt ihn die Bekanntschaft mit Dorothea Catherina Münchgesang dazu, die Ehe als besonderen Bund der Liebe auszuzeichnen. Am 17. Juni 1804 werden die beiden in der kleinen Kirche des an der Saale gelegenen Dorndorfs getraut. In einem Brief an den Pfarrer von Dorndorf bedient sich Ritter einer für die Romantik typischen 10 Brief an Ørsted vom 25. 7. 1802; zit. n. Klaus Richter, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter, S. 107. 11 Fragmente I 95; a. a. O., S. 91.
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Analogisierung, indem er den Galvanismus als sein wichtigstes Forschungsgebiet großzügig mit seiner eigenen Lebenssituation verbindet: »Es ist eine höchst wichtige galv[anische] Kette wirksam solange sie geschlossen bleibt, u[nd] sie bleibt ewig geschlossen.« 12 Bei allem Glück ist sich Ritter aber wohl darüber im Klaren, dass er weitgehend mittellos und ohne feste Anstellung mit seiner jungen Familie eine schwierige und sorgenvolle Zukunft vor sich hat. Zuversichtlich stimmt ihn allerdings die Aussicht auf eine mögliche Berufung an akademische Einrichtungen außerhalb Jenas. Ritters erste Tochter Johanne Friederike Henriette Wilhelmine wird bereits zwei Monate nach seiner Hochzeit geboren, nämlich am 21. August 1804; die Schwangerschaft seiner Frau war vermutlich ein wesentlicher Grund für die übereilte Heirat der beiden und in der Umgebung Ritters wurden diese der Konvention widersprechenden Lebensformen durchaus äußerst kritisch kommentiert. In wissenschaftlicher Hinsicht stehen in dieser Zeit neben den Untersuchungen zur Zusammensetzung des Sonnenspektrums und zum Zusammenhang zwischen elektrischen und magnetischen Phänomenen auch noch zwei andere Problemstellungen im Zentrum seiner Aufmerksamkeit, nämlich zum einen die Möglichkeit, Wasser auf galvanischem Wege zu zerlegen und zum anderen der Einfluss galvanischer Reizungen auf den menschlichen Körper. Hinsichtlich der elektrischen Wasserzerlegung war bereits bekannt, dass die Einwirkung der Pole einer Voltaischen Batterie am positiven Pol zur Bildung von Sauerstoff und am negativen Pol zur Bildung von Wasserstoff führt. Es war aber völlig unklar, wie es zu einer getrennten Bildung der beiden Gase in dem als Kontinuum vorliegenden Wasser kommen könne. Der Vorschlag Ritters, dass Wasser ein chemisches Element ist, welches sich mit ›positiver Elektrizität‹ zu Sauerstoff und mit ›negativer Elektrizität‹ zu Wasserstoff verbindet, erweist sich zwar wesentlich später als falsch, erschien aber angesichts des damaligen Kenntnisstandes 13 als 12 Brief vom 6. 6. 1804, zit. n. Klaus Richter, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter, S. 109. 13 Jenseits elaborierter Theorien zur chemischen Bindung erschien es als schwer verständlich, wie im Wasser als Kontinuum durch die Einwirkung des elektrischen Stromes zwei streng separierte Produkte entstehen können. Ritters Überlegung, dass das Wasser als Element mit den beiden unterschiedlichen Arten von Elektrizität Wasserstoff und Sauerstoff zu bilden vermag, kann insofern durchaus als plausibler Ansatz gelten und man kann ihn als Hypothese etwa auch bei Lichtenberg und Schelling wiederfinden. Die
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durchaus vernünftige Deutung. Die Auseinandersetzung mit den Einwirkungen elektrischen Stromes auf menschliche Sinnesorgane nimmt demgegenüber teils erschreckende, teils heroische Ausmaße an. Die gesundheitlichen Auswirkungen dieser Experimente beschreibt Ritter erstaunlich distanziert wie folgt: Es war in der letzten Hälfte des Januars, als ich mich besonders viel mit Versuchen über die Wirkung starker wie schwacher Batterien auf die verschiedenen Sinne abgab. Augenentzündungen nach stärkeren stundenlangen Lichtversuchen, geschwächte Empfindlichkeit der Zunge, Schnupfen nach öfteren Versuchen in der Nase, Schwindel und Kopfweh nach starken Schlägen durch den Kopf, und das nach jedem etwas anhaltenden Experimentieren an diesem oder jenem der genannten Teile des Kopfes beinahe fast unausbleiblich erfolgende Zahnweh war mir seit geraumer Zeit nichts Neues und, die Augenentzündungen abgerechnet, gemeiniglich fast ebenso schnell wieder vergangen als entstanden. 14
Derartige Selbstversuche waren keineswegs ungewöhnlich, auch von anderen Naturforschern der Zeit sind ähnliche Experimente überliefert. Außerordentlich und vermutlich beispiellos in der Wissenschaftsgeschichte ist allerdings, wie stark Ritter diese besondere Art einer Investition des Experimentators in das experimentelle Geschehen betrieb. Auch wenn seine Berichte darüber aus heutiger Sicht als Produkte irregeleiteten Erkenntnisstrebens oder gar als Ausdruck von schlichtem Irrsinn erscheinen mögen, so müssen wir anerkennen, dass er hier weiterhin ernsthafte empirische Forschung betreibt und deren Resultate akribisch protokolliert. Das wesentliche Ziel der von Ritter mit partieller Verleugnung der eigenen Gesundheit und Existenz durchgeführten galvanischen Selbstversuche ist darin zu sehen, die von ihm bisher nur an Froschmuskelpräparaten erschlossenen Gesetzmäßigkeiten zu erweitern und in ihrer allgemeinen Geltung zu erweisen. Die von ihm hinterlassenen Aufzeichnungen zu den verschiedenen Sinneseindrücken sind zwar aufgrund seines umständlichen und zum Teil schwerfälligen Stils schwierig zu lesen, hinsichtlich ihres De1805 von Theodor Grotthuß vorgelegte Deutung bahnt zwar den Weg zu einer molekularen Theorie, von einem wirklichen Verständnis der elektrochemischen Prozesse bei der Wasserelektrolyse ist sie allerdings noch weit entfernt. Erst die von Svante Arrhenius und Wilhelm Ostwald Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Ionentheorie führt zu einer zureichenden Deutung. 14 Wirkung des Galvanismus der Voltaischen Batterie auf menschliche Sinneswerkzeuge, 1801, zit. n. Hermann Berg & Klaus Richter (Hg.), Johann Wilhelm Ritter, S. 101.
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tailreichtums und ihrer Präzision sind sie allerdings zweifellos ein wichtiger Beitrag zur subjektiven Sinnesphysiologie, der bis ins 20. Jahrhundert nachwirkt. Für sein persönlichen Fortkommen, das nun aufgrund von Frau und Kind umso dringlicher war, eröffnen sich für Ritter im Jahre 1804 unterschiedliche Optionen: So teilt ihm sein Freund Ørsted in einem Brief mit, dass er sich darum bemühen wolle, ihm eine feste Anstellung bei der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften und der Literatur in Kopenhagen zu verschaffen. Außerdem wird er von Freunden und Förderern für eine Berufung an die Universitäten Halle und Kiel ins Gespräch gebracht. Als besonders aussichtsreich erscheint allerdings ein Wechsel nach München an die Bayerische Akademie der Wissenschaften, der durch die Vermittlung Franz von Baaders schließlich auch zustande kommt. Die siebentägige Reise von Jena nach München ist für die junge Familie reichlich strapaziös: Ritter hatte die Tage vor der Abreise kaum noch geschlafen, seine Frau musste für das einjährige Töchterchen sorgen und war schon mit dem zweiten Kind im fünften Monat schwanger. Der gemäß der Familientradition nach dem Vater benannte Sohn Johann Wilhelm wird am 5. Oktober 1805 in München geboren. Ritter setzt große Hoffnungen in seinen Neuanfang in München und das feste Salär von 1800 Gulden Jahresgehalt erscheint ihm als eine gute Basis, um sich langsam aus seinen finanziellen Nöten herauszuarbeiten und seine Schulden abzubezahlen. Bald spürt er jedoch den Argwohn der alteingesessenen bayerischen Akademiker und sehnt sich zurück nach der vertrauten Umgebung Jenas und dem persönlichen Umgang mit dem Kreis seiner Freunde und Vertrauten. Tief resigniert schreibt er in einem Brief an Ørsted: »Hier lebe ich, wie in einer Einöde. Nicht einmal das Glück, die Jugend zu begeistern, kann mir hier werden.« 15 Auch die Gehaltszahlungen erfolgen keineswegs so zuverlässig und schnell, wie Ritter es erwartet hatte, so dass sich bald neue finanzielle Schwierigkeiten einstellen. Da er von der Bayerischen Akademie zunächst keine festen Aufgaben erhält, stürzt er sich allerdings bald wieder in seine wissenschaftliche Arbeit, wobei ihm aufgrund der Fülle seiner Ideen, Projekte und Pläne aber langsam die Orientierung abhanden zu kommen scheint. Im Winter 1805/1806 er15 Brief an Ørsted vom 10. 7. 1806, zit. n. Klaus Richter, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter, S. 133.
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arbeitet er einen Plenarvortrag für die Stiftungsfeier der KöniglichBayerischen Akademie der Wissenschaften mit dem programmatischen Titel ›Die Physik als Kunst – Ein Versuch, die Tendenz der Physik aus ihrer Geschichte zu deuten‹. In dem von ihm am 28. März 1806 gehaltenen Vortrag umreißt Ritter wohl am eindringlichsten sein naturphilosophisches Konzept einer romantischen Physik, wobei es allerdings sein umständlicher Stil dem Hörer und Leser keinesfalls leicht macht, seinen emphatischen Gedanken zu folgen. Eine im Sommer 1806 stattfindende Sonnenfinsternis regt ihn dazu an, eine alte Idee wieder aufzugreifen und unter verbesserten Bedingungen experimentell zu untersuchen. Bereits in Jena hatte er die Auffassung entwickelt, dass dem Spannungsverlauf einer Voltaischen Säule ein zyklisches Aktivitätsmuster zugrunde liegt, das unter anderem vom Sonnenstand und anderen astronomischen Einflüssen abhängig ist. In München entwickelt Ritter nun eine äußerst trickreiche Apparatur, mit der er diese möglichen Zusammenhänge durch die Messung der bei der Elektrolyse von Wasser gebildeten Gasmengen untersuchen konnte. Wenn diese Experimente erfolgreich wären, wäre es vielleicht möglich, anhand der Periodizität der Spannung ein meteorologisches Instrument zu konstruieren und so die praktische Relevanz seiner wissenschaftlichen Forschungen zu verdeutlichen. Er positioniert also eine Säule in München und eine zweite auf dem südlich von München gelegenen Peißenberg und führt in der Zeit vom 15. bis zum 24. Juni stündlich und ohne Unterbrechungen Messungen an ihnen durch. Dieser Arbeitsexzess bleibt allerdings nicht folgenlos und die anschließende völlige körperliche Erschöpfung fesselt ihn mehrere Tage ans Bett. Im Herbst 1806 kommt wieder etwas Ordnung in Ritters zerstreutes Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Themen, indem er das Angebot für eine Italienreise erhält, um den Wünschelrutengänger Francesco Campetti kennen zu lernen und seine Fähigkeiten zum Aufspüren von Metallen zu untersuchen. Er hatte sich bereits ein Jahr vorher mit den Phänomenen des Siderismus und der Rhabdomantie beschäftigt und erkannte in ihnen einen Beleg dafür, dass der Zusammenhang zwischen anorganischer und organischer Natur wesentlich mit Polaritäten verbunden ist, wie er sie ausgiebig im Felde des Galvanismus untersucht hatte. Ende November begibt sich Ritter also auf seine Reise nach Oberitalien, von der er erst am 4. Januar 1807 zurück54 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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kehrt. Seine Frau ist in dieser Zeit bereits mit dem dritten Kind schwanger, das kurz nach Ritters Rückkehr am 11. Januar 1807 geboren und auf den Namen Adeline getauft wird. In Italien führt er mit Campetti am Gardasee ausführliche Versuchsreihen durch und sieht seine hohen Erwartungen vollständig erfüllt. Ritter hatte von der Bayerischen Akademie den Auftrag erhalten, Campetti mit nach München zu bringen, wenn sich die mit ihm gesammelten Erfahrungen als positiv erweisen sollten. Dieser Aufforderung entsprechend begleitet Campetti ihn bei seiner Rückreise und wird – in Ermangelung einer anderen Unterkunft – in dessen Wohnung einquartiert. Von der Akademie wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet, die Ritters Arbeit mit Campetti beobachten und kritisch prüfen sollte. Obwohl es unter deren Mitgliedern große Vorbehalte gegenüber dieser Untersuchung eines als okkult geltenden Phänomens gab, wird sie sowohl von Baader als auch von Schelling außerordentlich positiv aufgenommen. In München kommt es insofern wieder zu einer Annäherung Ritters an Schelling, der 1806 zum Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste berufen wird. In einem Brief an seinen Freund Ørsted schreibt er: »Mit Schelling bin ich gegenwärtig ganz auf dem Fuß, auf dem mit ihm zu stehen, Du mir solange wünschtest. Er ist wirklich ein herrlicher und ehrlicher Mensch.« 16 Bei seinen Überlegungen darüber, wie die Fähigkeiten Campettis gedeutet werden können, geht Ritter zunächst davon aus, dass es in der anorganischen Materie neben Magnetismus und Elektrizität zusätzliche, bisher unbekannte Kräfte geben müsse, die auf den menschlichen Körpers einwirken können. Er verwirft diese Vorstellung aber bald und versucht alle von ihm beobachteten Phänomene auf der Basis einer Fortleitung der Elektrizität durch heterogene Leiter unter Mitwirkung der Erregungsfähigkeiten des Körpers zu erklären. Damit greift er letztlich auf jene Art einer Verknüpfung von Physik und Physiologie zurück, wie sie bereits bei seiner Deutung des Galvanismus äußerst erfolgreich war. Im Unterschied hierzu fehlt ihm hier allerdings die Möglichkeit, seine Erklärungsversuche auf experimentellem Wege zu überprüfen, weshalb er sich darauf beschränken muss, durch akribische Protokollierung zu belegen, dass Campetti tatsächlich über die ihm zu16 Brief an Ørsted vom 19. 1. 1807, zit. n. Klaus Richter, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter, S. 143.
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gesprochenen Fähigkeiten verfügt. Obwohl Ritter weiterhin von unterschiedlichen Seiten Unterstützung für seine Arbeiten über den Siderismus erhält, kommen seit dem Winter 1807/1808 vermehrt Zweifel darüber auf, ob sie weiter gefördert werden sollen. Campetti selbst klagt auch zunehmend über Heimweh und kehrt nach längerer Krankheit im Sommer 1808 nach Italien zurück. Ritters mehrjährige Arbeit in einem wissenschaftlichen Grenzbereich, die im Sommer 1808 durch den ersten Band seiner Schrift ›Der Siderismus‹ dokumentiert wird, endet für ihn letztlich äußerst deprimierend. Seine Hoffnung darauf, hier ein Gebiet gefunden zu haben, in dem sich experimentelle Untersuchung und spekulative Interpretation organisch miteinander verbinden lassen, hat sich zerschlagen, wodurch ihm eindringlich nicht nur die Grenzen des experimentellen Zugriffs, sondern auch die Grenzen des wissenschaftlich und öffentlich Akzeptablen verdeutlicht wurden. Neben diesen deprimierenden Erfahrungen im Bereich seiner wissenschaftlichen Arbeiten sieht sich Ritter seit dem Sommer 1808 auch mit neuen persönlichen Problemen konfrontiert, die schließlich wohl mitverantwortlich für seine gesundheitliche Zerrüttung und seinen frühen Tod sind. So verschlechtern sich durch die Geburt des vierten Kindes August die äußeren Lebensumstände gravierend, was Ritters kränkelnder Konstitution keineswegs förderlich ist. Das anfangs stattlich erscheinende Jahresgehalt von 1800 Gulden reicht nun für den Unterhalt der auf sechs Personen angewachsenen Familie nicht mehr aus. Auch die Schulden, die sich aus seiner Zeit in Jena angesammelt haben, waren keineswegs abbezahlt und wirkten sich negativ auf Ritters Stimmungslage aus. Dennoch hält er auch angesichts seiner angeschlagenen Verfassung und der allgemein schwierigen Lage an seiner Begeisterung für die wissenschaftliche Arbeit fest und wendet sich nach dem Abschluss seines Siderismus-Projekts wieder dem breiten Spektrum seiner vielfältigen Interessen zu. Etwa ein Jahr vor seinem Tod beginnt Ritter damit, seine ›Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers‹ aus seinen Tagebüchern und übrigen Aufzeichnungen zusammenzustellen. Den 700 sehr unterschiedlichen Fragmenten, die die Breite seiner Interessen, wissenschaftlichen Arbeiten und philosophischen Spekulationen eindringlich illustrieren 17 , stellt er eine
Im dritten und vierten Teil dieses Beitrags finden sich einige ausgewählte Zitate aus Ritters Fragmenten.
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autobiographische Skizze voran, in der er sein Leben aus der Sicht eines Freundes beschreibt, der beständig mit ihm zusammen war. Ritters Animosität gegenüber der Bayerischen Akademie und ihren Mitgliedern nimmt in seiner letzten Lebenszeit deutlich zu, was wohl nicht nur auf seine vielfältigen Sorgen und seine geschwächte Konstitution, sondern auch darauf zurückzuführen ist, dass er bei seinen gut vorbereiteten Vorträgen immer weniger Resonanz fand und es weitgehend an Fachleuten seines Formats fehlte, mit denen er über seine Arbeit in einen fruchtbaren Austausch hätte treten können. In einem Brief an seinen Freund Ørsted äußert er sich wie folgt: Je was besseres man vorbringt, je scheeler wird man besehen; thut man nichts, so hat es schon weniger zu sagen; am besten genommen aber würde es werden, wenn man völlig ordinäre Dinge brächte. So was bringt keine Freude in die Arbeit, und stärkt den Muth nicht. 18
Insbesondere die immer drückender werdende Last durch die beständigen Geldsorgen lässt Ritter allerdings an der naiven Vorstellung festhalten, dass ein übermäßiges Arbeitspensum zu einer besseren Position in der Akademie und einem damit verbundenen höheren Gehalt führen könne. Um ihm die nötige Ruhe für seine wissenschaftliche Arbeit zu verschaffen, übersiedeln Frau und Kinder ab August 1809 vorübergehend nach Nürnberg, wo nicht nur die Unterhaltskosten wesentlicher günstiger als in München waren, sondern auch hilfreiche Unterstützung zur Verfügung stand. 19 Auch wenn für Ritters Familie auf diese Weise zumindest vorläufig gesorgt war, ließ ihn ihr Wegzug seine Einsamkeit in München nur noch intensiver spüren, so dass er vollends in melancholische Stimmung verfällt. Zunehmend leidet er unter Rheuma, Diarrhö, Atembeschwerden und starkem Husten, große Mengen Wein und gegen die Schmerzen verordnetes Opium sollen seine Missgestimmtheit aufhellen, tragen aber wohl nur weiter zur gesundheitlichen Zerrüttung bei. Bereits im Herbst 1809 ist Ritters Erkrankung soweit fortgeschritten, dass er längere Zeit das Bett hüten muss und auf fremde Hilfe angewiesen ist. Auch die Lage der Familie in Nürnberg verschlechtert sich zusehends, da die Mittel weitgehend 18 Brief an Ørsted vom 31. 3. 1809, zit. n. Klaus Richter, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter, S. 150. 19 In Nürnberg lebte nicht nur ein Studienfreund von Ritters Vater, sondern auch Gottfried Heinrich Schubert, ein Freund und Vertrauter aus Ritters Jenaer Zeit. Schubert nimmt Ritters Frau und die vier Kinder in seinem Haushalt auf.
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aufgebraucht waren und weder der Vater noch die Freunde in Nürnberg für angemessene Abhilfe sorgen konnten. Der jüngste Sohn August ist schwer an Lungenentzündung erkrankt, was Ritter zutiefst betroffen macht und seine Verzweiflung nur noch steigert. Er verfasst in dieser Zeit fast täglich Hilfsgesuche an den Klassensekretär der Akademie Carl Erenbert von Moll, von dem er zwar bisweilen kleine Zuwendungen erhält, die aber nicht mehr bewirken, als ihn vor dem Verhungern oder Erfrieren zu bewahren. Der Chemiker Adolph Ferdinand Gehlen ist der einzige, der sich wirklich um Ritter kümmert, Briefe für ihn verfasst und ihn so gut er kann, zu unterstützen versucht; Gehlen diktiert er schließlich auch sein Testament. Am 23. Januar 1810 gegen 1 Uhr nachts findet das kurze, aber bewegte Leben des genialischen Physikers, Chemikers und Naturphilosophen Johann Wilhelm Ritter sein Ende. Clemens Brentano, dessen Verhältnis zu Ritter aus unterschiedlichen Gründen zwiespältig war und der auch manches böswillige Gerücht über ihn in Umlauf brachte, findet in einem Brief an Joseph Görres die folgende schöne und wohl auch sehr stimmige Charakterisierung: »dies war eine der herrlichsten Naturen, die vielleicht je von ihrer Zeitteufelei sind vernichtet worden.« 20
3.
Ritters Naturverstndnis zwischen exakter Wissenschaft und spekulativer Philosophie im nheren Blick auf die Chemie
Die Chemie, welche eigentlich erst Ende des 18. Jahrhunderts den Status einer neuzeitlichen Naturwissenschaft erlangt, erfreut sich in der Zeit der Frühromantik eines breiten Interesses bei Friedrich Schlegel, Novalis, Goethe, Schelling, Ritter und anderen. Ihr wird das Potential zugesprochen, die vorherrschende Naturwissenschaft im Zeichen der Newtonschen Mechanik überwinden oder zumindest relativieren zu können und so eine neue ganzheitlich-dynamische Weltsicht zu entfalten. Gerade im vielfach rätselhaften materiellen Wandel als Gegenstandsbereich der Chemie erkennt Novalis einen anregenden Anknüpfungspunkt für das romantische Projekt einer ›Poetisierung der Wissenschaft‹, das eine neue ganzheitliche Sicht der Wirklichkeit erClemens Brentano, Brief an Joseph Görres Anfang 1810, zit. n. Klaus Richter, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter, S. 156.
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möglichen soll. Dies drückt sich unter anderem darin aus, dass für ihn nicht nur die Lebenswege der Menschen, sondern die gesamte Natur in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen von einer sinnhaften ›Chiffrenschrift‹ durchzogen sind. 21 In dem gerade für die Chemie charakteristischen Wechselspiel zwischen Naturprozess und experimenteller Kunst erkennt er insofern das besondere Potential, Wissenschaft und Kunst zusammenzuführen. In Goethes Roman ›Die Wahlverwandtschaften‹ wird die Idee einer ›Chiffrenschrift‹, hinsichtlich derer die Lebenswege der Menschen eng mit den Prinzipien der Naturprozesse assoziiert sind, am Beispiel spezifisch chemischer Affinitäten expliziert. Dabei steht einerseits fest, dass sich menschliches Verhalten keinesfalls auf die Gesetzmäßigkeiten des chemischen Wandels reduzieren lässt, andererseits macht man aber auch die Kluft zwischen Mensch und Natur zu tief, wenn man den Verlauf chemischer Reaktionen allein auf die vom Experimentator geschaffene Gelegenheit zurückführt: Man muss diese totscheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen […] dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu […]. 22
In Schellings Naturphilosophie findet dieser literarische Ansatz für eine stärkere Kontinuierung zwischen Unbelebtem und Belebtem, Materiellem und Geistigem zu einer systematischen Explikation. Philosophieren über die Natur ist für ihn entgegen der großen Erfolge der mechanistischen Physik wesentlich damit verbunden, »sie aus dem toten Mechanismus, worin sie befangen erscheint, heraus[zu]heben, sie mit Freiheit gleichsam [zu] beleben und in eigne freie Entwicklung [zu] versetzen«. 23 Die verschiedenen Naturphänomene von der Trägheit der Körper über die chemischen Prozesse und die Prozesse in den verschiedenen Organismen bis zum reflektierenden Geist des Menschen bilden
21 Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hadenbergs, hg. von Hans-Joachim Mähl & Richard Samuel, Darmstadt: WBG, 1999, Bd. 1, S. 201. 22 Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, kommentiert von Herbert von Einem, München: dtv, 1998, Bd. 6, S. 275 f. 23 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 1799, in: Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. von Manfred Schröter, München: C. H. Beck, Bd. 2, 19924 , S. 13 [III 13].
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nur verschiedene Stufen der Natur als »Inbegriff alles Seyns«, 24 wodurch jeder scharfe Dualismus zwischen Geist und Materie unterlaufen wird. Insbesondere den unterschiedlichen Erscheinungsformen des chemischen Prozesses, bei denen die Grundpolarität der Realität durch zwei getrennte Produkte repräsentiert wird, die beide in einen Veränderungsprozess verwickelt werden, gilt dabei Schellings besonderes Interesse. Ritter bemüht sich nun auch als Naturforscher wesentlich um eine Vermittlung zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Poesie und versucht hierbei – ähnlich wie Schelling –, bei Kants Akzentuierung dynamischer Prinzipien anzuknüpfen. Jenseits der akademischen Philosophie sind auch seine naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Arbeiten durch ein Denken in Polaritäten bestimmt: Die Natur ist ein Handeln, und nur insofern ist sie Natur. Handeln erfordert aber ein Mannichfaltiges, denn nur dadurch wird ein Handeln […]. Jedes Handeln also setzt Differenz voraus. Diese aber ist Gegensatz, Polarität. Und da Natur nur ist, wo Handeln ist, so muss deshalb auch überall Polarität sein. 25
Dieses Polaritätsdenken gewinnt in der Philosophie gerade bei Schelling und Hegel zentrale Bedeutung, es lenkt aber auch für Ritter das Augenmerk auf die philosophische Relevanz der Chemie. Die Zusammenführung beider Aspekte zeigt sich etwa in der folgenden Aussage: Ein rein dynamisches System wird gar nicht nach Stoffen … fragen dürfen; alle Chemie und Physik wird bloß Bewegungsgrößen zu messen haben. Denn was sind chemische Zerlegungen und dgl. anders, als Bewegungen? 26
Man könnte dieses Fragment als Ausdruck eines physikalistischen Reduktionismus begreifen, dem steht aber die grundlegende Betonung der Zeitdimension entgegen, womit Ritter die nur scheinbar zeit-invarianten Erkenntnisse der Physik und Chemie gleichsam ›historisiert‹ : Überhaupt wird es immer nötiger, den Einfluss der Zeit anzuerkennen. Wir können nur durch die Geschichte eine Physik haben. Und das Moment aller Prozesse ist bloß das Moment der Zeit in ihnen. […] in jedem Prozess, und in der ganzen Natur sehen wir nichts als diesen Prozess. Die ganze Physik muss darauf ausgehen, ihn nachzuweisen. 27 24 25 26 27
Ebd. Fragmente I 26; a. a. O., S. 70. Ebd., I, 3; a. a. O., S. 67. Ebd., I 95, a. a. O., S. 91; Hervorh. i. Orig.
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Auch bei Ritter findet sich der für die frühromantische Naturphilosophie so typische schwärmerische Zug. Er betont jedoch viel stärker als Schelling und andere die zentrale Bedeutung der empirischen Forschung, was besonders eindringlich in einem Brief an Ørsted zum Ausdruck kommt: Ob es eine Experimentalphysik und eine ganze Physik geben müsse, bezweifle ich sehr. Letztere ist nur immer der Lückenbüsser der ersten. Was auf der Welt ist denn nicht Erfahrung! … Im Grunde lässt sich aber auch alles, was zur Physik gehören kann, auf einem Ort beobachten. Und nur aus Ungeschicklichkeit glauben wir Wunder was erfunden zu haben, wenn wir das a priori und seine Möglichkeit gewittert haben. Dies aber verhält sich zur wahren eigentlichen Beobachtung, wie der Pol zur Indifferenz, denn vom a posteriori soll, glaube ich, die Physik auch nicht viel wissen. Es ist eine Eductio e Medio, wo Gott der Cicerone ist. 28
Ritter geht gewissermaßen davon aus, dass eine wirklich konsequent betriebene empirische Forschung letztlich aus sich heraus zu einer umfassenden Theorie der Natur zu führen vermag, weshalb ihm jede scharfe Grenzziehung zwischen Naturforschung und Naturphilosophie als unsinnig erscheint: Zu jeder Zeit wird also auch die Natur fortfahren, unsere beste Logik zu seyn; die Zusammenstimmung dessen, was wir aus gewissen Erscheinungen unter gewissen Umständen für gewisse andere Umstände folgern, mit dem, was die Natur wirklich unter diesen Umständen thut, wird immer am schönsten die Richtigkeit der aufgefassten Prämissen und ihrer Verarbeitung […] darthun […]. 29
Um zu einer universellen Theorie der Natur zu gelangen, sollte man sich daher nicht unfruchtbaren Hypothesen hingeben, man sollte vielmehr versuchen, der Eigenlogik der Natur zu folgen und sie mit den Mitteln des Experiments zunehmend besser zu erschließen:
28 Brief an Ørstedt vom 16./17. 8. 1805, zit. n. Fragmente, S. 384 (Anmerkungen); Hervorh. i. Orig. 29 Beweis, daß die Galvanische Action oder der Galvanismus auch in der Anorganischen Natur möglich und wirklich sey, 1800, zit. n. Klaus Stein, »Die Natur, welche sich in Mischungen gefällt«, Philosophie der Chemie: Arnim, Schelling, Ritter, in: Walther Christian Zimmerli, Klaus Stein & Michael Gerten (Hg.):»Fessellos durch die Systeme«. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling, Stuttgart/ Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1997, S. 143–202, hier: S. 189.
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Wenn es denn also nichts hilft, Hypothesen auf Hypothesen zu häuffen, wenn ächte Wissbegierde durch kein Etwa, kein Vielleicht, kein Es wäre möglich, Es könnte seyn, befriedigt werden kann, so werden wir uns bloß an die Erfahrung halten dürfen, um jenes Ziel zu erreichen. Bloß an ihrer Hand werden wir glücklich gehen; verlassen wir sie aber, überlassen uns den Flügeln unserer Einbildungskraft, so mögen wir zwar angenehm träumen, aber desto unangenehmer erwachen. 30
Die Erklärung von Anziehungs- und Abstoßungsphänomenen auf der Grundlage unterschiedlicher materieller Grundkräfte erkennt Ritter zwar als einen wichtigen Ausgangspunkt für ein dynamisches Natursystem an, sie erscheint ihm aber auch unzureichend, weil sie uns kein wirkliches Verständnis für die qualitative Verschiedenheit der Materie erlaubt. Die Chemie gewinnt insofern für ihn eine besondere Bedeutung, weil die Qualitäten der Körper, ihre Veränderung und ihre Zurückführung auf elementare Einheiten zu ihren zentralen Gegenständen gehören. Die verschiedenen Stoffe als sinnlich fassbare Repräsentanten solcher Einheiten lassen sich für Ritter auf ein allgemeines Wechselwirkungsverhältnis zwischen der ponderablen, also wägbaren Urmaterie und den für die Ausformung der verschiedenen stofflichen Qualitäten verantwortlichen imponderablen elektrischen Kräfte zurückführen. Dynamische Prozesse, wie sie sich gerade im Bereich des materiellen Wandels zeigen, basieren insofern auf einer energetisch bewirkten qualitativen Veränderung, wobei die materielle Komponente der allgemeinen Schwere erhalten, aber in ihrer jeweiligen Raumerfüllung verschieden ausgeprägt wird. Wo Schelling in abstrakter Weise eine Vermittlung zwischen natura naturans und natura naturata, Natur als Produkt und Natur als beständige Produktivität zu erreichen versucht,31 betont Ritter im näheren Blick auf den Verlauf chemischer Prozesse, dass das Streben nach einem Gleichgewichtszustand verantwortlich für die vielfältige Differenzierung ist und zugleich von den immer wieder neu hervorgebrachten Differenzen und Heterogenitäten angetrieben wird. Lassen sich alle qualitativen Veränderungen Johann Wilhelm Ritter, Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite [= Beweis], Weimar: Verlag des Industrie Comptoirs, 1798, S. X. 31 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Erster Entwurf eines Systems der naturphilosophie, 1799, in: Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. von Manfred Schröter, München: C. H. Beck, Bd. 2, 19924 , S. 18 (Anm. 2) [III 18]; ders., Von der Weltseele, 1800, ebd., Bd. 1, 19793 , S. 561 [II 493]. 30
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der Körper in diesem Sinne prinzipiell als chemische Prozesse verstehen, so liegt ihnen letztlich ein allgemeine Wechselspiel zwischen Oxidations- und Desoxidationsprozessen zugrunde, 32 wodurch das Wasser in eine besondere Nähe zum Konzept einer ›Urmaterie‹ gerückt wird. Vor dem Hintergrund seiner Arbeiten zur elektrolytischen Wasserzersetzung versteht Ritter dabei das Wasser als ein weitgehend qualitätsloses und elektrisch neutrales Element, das sich mit positiver bzw. negativer Elektrizität zu Sauerstoff bzw. Wasserstoff verbinden kann: So ist es also durch Versuche nun […] auf das vollständigste erwiesen, dass die bei der Einwirkung des verstärkten Galvanismus auf Wasser erzeugten beiden Gasarten […] keineswegs von einer sogenannten Zersetzung des Wassers herrühren können; 33
Das Wasser bildet also für Ritter die unterste Stufe einer individualisierenden Entwicklung der ponderablen Urmaterie, von der aus die imponderablen Kräfte der Natur alle weiteren Stufen und Erscheinungsformen hervortreten lassen. 34 Sind die Stoffe der Chemie gleichsam die Symbole dieser als ›höhere Sprache‹ begriffenen Kraftwirkungen, so würde deren Erfassung letztlich den Weg zu einer universellen Theorie der Natur weisen, innerhalb derer die Wechselwirkungen zwischen chemischen, elektrischen, magnetischen, optischen, akustischen und anderen Prozessen erkannt und beschrieben werden können. Das zentrale Phänomen für eine empirisch basierte Metaphysik der Natur war für Ritter der von ihm in vielerlei Hinsicht untersuchte Galvanismus, der sich eben keineswegs als ein Sonderphänomen des Lebendigen, sondern als ein vermittelndes Band zwischen anorganischer und organischer Natur erwies. Wenn der Galvanismus nicht nur das grundlegende Prinzip des Lebens und aller Lebensäußerungen, sondern ebenso auch das Prinzip chemischer Prozesse ist, dann lässt sich damit das für die gesamte romantische Naturforschung entscheidende ganzVgl. Fragmente, I, 58; a. a. O., S. 79; II, 209, ebd., S. 127. Voltas galvanische Batterie nebst Versuchen mit derselben, 1800; zit. n. Berg & Richter (Hg.), Johann Wilhelm Ritter, S. 62. 34 Unter den deutschen Naturforschern, die sich mit dem Problem der Wasserzersetzung beschäftigten, war Ritter der einzige, der auch im Ausland rezipiert wurde. Sowohl seine originelle Experimentierpraxis als auch seine Annahme »Wasser ist einfach« wurden von englischen und französischen Chemikern gewürdigt (vgl. Klaus Richter, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter, S. 83 f.). Ritters spekulative Überlegungen zur besonderen Stellung des Wassers in einer dynamischen Naturphilosophie wurden allerdings nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen. 32 33
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heitliche Naturverständnis stützen. Wenn nämlich die Vorstellung einer prinzipiellen Andersartigkeit der anorganischen gegenüber der organischen Natur unterlaufen wird, dann ergibt sich daraus keinesfalls ein materialistischer oder naturalistischer Reduktionismus, sondern vielmehr die Möglichkeit, alle scharfen Schnitte zwischen Belebtem und Unbelebtem, Bewusstem und Unbewusstem zu verabschieden und einen allgemeinen Holismus zu stützen: Wo ist eine Sonne, wo ist ein Atom, die nicht Theil wäre, der nicht gehörte zu diesem Organischen All […]? Wo bleibt denn der Unterschied zwischen den Theilen des Thieres, der Pflanze, dem Metall und dem Steine? Sind sie nicht sämmtlich Theile des grossen All-Thieres der Natur? – Ein allgemeines bisher noch nicht gekanntes Naturgesetz scheint uns entgegen zu leuchten – Doch, die Folge wird darthun, daß es mehr sey, als Schein. 35
Die Wirkung des Galvanismus in der organischen Natur ist zwar insofern augenfälliger, als sich etwa die Muskelzuckungen von Froschschenkelpräparaten unmittelbar wahrnehmen lassen, aber auch in der anorganischen Natur zeigt sie sich, wenn man die qualitativen Veränderungen der verwendeten Metalle und Elektrolyten untersucht. Ritter geht davon aus, dass sich auf der Ebene abstrahierender Spekulation alle Formen der Raumerfüllung von Körpern als sinnlicher Ausdruck innerer Kraftverhältnisse verstehen lassen und alle davon ausgehende Tätigkeit im Sinne galvanischer Wirkungen auf eine Veränderung von Qualitäten der Körper ausgerichtet ist. Emphatisch äußert er sich über das einheitsstiftende Band des Galvanismus wie folgt: Ueberall ist der Grund und mit ihm das Begründete vorhanden. Und das Begründete ist fortdauernde Tätigkeit in den fortdauernd geschlossenen Ketten. Was steht demnach fester, was ist stärker begründet, als der Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensprozeß in dem Tierreich begleite. 36
Die verschiedenen dynamischen Prozesse, die uns im Naturgeschehen begegnen, bilden demzufolge Symbole des allgemeinen galvanischen Prozesses, welcher eng mit dem Wasser als Repräsentanten der Urmaterie und damit auch mit den Prozessen der Oxidation und Desoxidation verbunden ist. Steht das Wasser für die Urmaterie, so kann die ›reine Elektrizität‹ als ›Urform‹ gelten, aus der man, wenn sie sich jenseits spezifischer Konkretisierungen erfassen ließe, eine Art von ›Urschema‹ 35 36
Beweis, S. 171; i. Orig. teilw. gesperrt gedruckt. Ebd., S. 158 f.; i. Orig. teilw. gesperrt gedruckt.
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ableiten könnte, zu dem sich alle Phänomene im Sinne eines ›SchemenParallelismus‹ verhalten würden. Damit eröffnet sich für Ritter eine bestechende Perspektive: ›Reine Empirie‹ als Beschäftigung mit Stoffen und Prozessen qua Symbolen kann unmittelbar in ›reine Theorie‹ umschlagen, welche das Symbolisierte in Form des ›wahren Systems der Natur‹ behandeln kann. Das Wasser und auch das Feuer stehen für Ursymbole, die gleichsam sich selbst symbolisieren und insofern unmittelbare Winke zur Annäherung an die höhere Ebene des wahren Systems der Natur geben. Das Wasser repräsentiert in dieser Sicht das prozessuale Geschehen im Wechselspiel zwischen Oxidations- und Desoxidationsvorgängen, während das Feuer die in der Natur wirkenden und für die Ausdifferenzierung der verschiedenen materiellen Qualitäten verantwortlichen elektrischen Kräfte repräsentiert: Das chemische Feuer ist jederzeit elektrisches zugleich, ja es ist Feuer überhaupt nur in dem Grade, als es elektrisches genannt zu werden fähig ist; und es gilt dies von allem Feuer, dem hellen wie dem dunklen. 37
Aus dem Zusammenspiel zwischen Wasser als formbarem und Feuer als formgebendem Prinzip erwächst die Vielgestaltigkeit der materiellen Realität, die als ganze als aktiv produzierend begriffen werden kann. Das Feuer als Chiffre für ein allgemeines, in der Natur wirkendes Prinzip versteht Ritter als allgemeines Lebensprinzip und sieht sich darin einig mit den frühen Spekulationen der Menschheit: Dies sind die Hoffnungen gewesen, mit denen fast noch alle, die der Ergründung der Natur […] sich widmeten, begannen. Dass leben – brennen –, Licht und Leben eins sein, hat sie überall zuerst ermuntert. Vom Feuer sind sie sämtlich ausgegangen, und in fester Überzeugung, das Leben sei hier an seiner Quelle zu belauschen, und das Geheimnis seiner Unterhaltung und Beförderung, zur eigenen Anwendung, glücklich auszuspähen. 38
Die konkrete wissenschaftliche Untersuchung chemischer, elektrischer, magnetischer und anderer Phänomene ist also für Ritter der einzig mögliche Weg, um die Grundprinzipien der Natur zu erkennen und so zu einem ganzheitlichen Naturverständnis zu gelangen, in dem experi37 Die Physik als Kunst, 1806, in: Johann Wilhelm Ritter, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur, hg. von Steffen Dietzsch & Birgit Dietzsch, Leipzig/Weimar: Müller & Kiepenheuer, 1984, S. 288-320, hier: S. 307; Hervorh. i. Orig. 38 Ebd., S. 301; Hervorh. i. Orig.
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mentelle Erfahrung und theoretische Spekulation wechselseitig miteinander verbunden werden können. Gegen Ende seiner Abhandlung über die Entdeckung des ultravioletten Lichts bringt er diesen hohen Anspruch romantischer Naturforschung eindringlich zum Ausdruck: Es wird das Resultat einer größeren faktischen Untersuchung, die Polarität der Chemie, der Elektrizität, des Magnetismus, der Wärme usw. ihren Prinzipien nach aufzuzeigen als eine und dieselbe in allen. Dies eins und alles in seiner reinsten und freiesten Erscheinung ist das Licht; […] Das Licht ist die Quelle jeglicher Kraft, die Leben schafft und Tätigkeit; der zeugende Samen alles Guten, was die Erde trägt. Lasst immerhin auf der einen Seite, z. B. im Eisen, es fast sich selber verlieren: im Menschen kehrt es doch zu sich zurück, und feiert selbst mit allen Farben seines Daseins ewiges Fest. 39
4.
Vom Nutzen einer ›Metaphysik der Natur‹ diesseits und jenseits der Naturwissenschaften
Ritter legt seiner Arbeit als Naturforscher eine ›Metaphysik der Natur‹ im starken Sinne zugrunde weil er vom wesentlichen Zusammenhang zwischen Spekulation und Erfahrung zutiefst überzeugt ist. Das, was heute unter der Bezeichnung ›moderne Naturphilosophie‹ rangiert, koppelt sich demgegenüber dezidiert von allen Bezügen zu den Entwürfen einer romantischen Naturforschung und einer spekulativen Naturphilosophie ab und versteht sich als »analytisch gereinigte Wissenschaftsphilosophie in synthetischer Absicht«. 40 Der auch für Ritter zentrale Rekurs auf den Fortgang der empirischen Forschung wird hier zum entscheidenden Referenzpunkt auch der philosophischen Arbeit erklärt, innerhalb derer metaphysische Spekulationen allenfalls heuristische Funktionen übernehmen können. Dennoch scheinen unter anderem die verschiedenen philosophischen Betrachtungen prominenter Naturwissenschaftler insbesondere im Kontext von ›Grundlagenkrisen‹ dazu beigetragen zu haben, dass der metaphysikkritische Furor der Logischen Empiristen als überzogen durchschaut wurde. So ist etwa Karl Popper durchaus von dem möglichen wissenschaftlichen Nutzen ›metaphysischer Hintergrundannahmen‹ überzeugt: Bemerkungen zu Herschels neueren Untersuchungen über das Licht, 1806; zit. n. Hermann Berg & Klaus Richter (Hg.), Johann Wilhelm Ritter, S. 127. 40 Bernulf Kanitscheider, Kosmologie. Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive, Stuttgart: Reclam, 2002, S. 382. 39
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Man kann nicht leugnen, dass es neben metaphysischen Gedankengängen, die die Entwicklung der Wissenschaften hemmten, auch solche gibt […], die sie förderten. Und wir vermuten, dass wissenschaftliche Forschung, psychologisch gesehen, ohne einen wissenschaftlich indiskutablen, also, wenn man will, ›metaphysischen‹ Glauben an [rein spekulative und] manchmal höchst unklare theoretische Ideen wohl gar nicht möglich ist. 41
Bereits im 19. Jahrhundert weist William Whewell auf die heuristische Funktion spekulativer Ideen hin und gelangt dabei zur folgenden Differenzierung: Physical discoverers have differed from barren speculators, not by having no metaphysics in their heads, but by having good metaphysics, while their adversaries had bad: and by binding their metaphysics to their physics instead of keeping the two asunder. 42
So plausibel diese Unterscheidung auf den ersten Blick auch erscheinen mag, sie konfrontiert uns auch mit dem Problem, ob und wie man sie in zukunftsgerichteter Weise anwenden kann. In der Wissenschaftsgeschichte finden sich nämlich auch viele Beispiele dafür, wie sich metaphysische Ideen negativ auf den Fortgang der naturwissenschaftlichen Forschung auswirken können. Bekannt ist etwa Keplers durch Platon beeinflusste Annahme, dass die Anzahl existierender Planeten durch die Anzahl möglicher Platonischer Körper beschränkt ist, weshalb Abweichungen in den Planetenbahnen nicht auf den Einfluss weiterer Planeten zurückgeführt werden können. Vielleicht besteht ein möglicher Ausweg aus dieser Schwierigkeit darin, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass sich die Vielschichtigkeit der modernen Naturwissenschaften und die Rolle entsprechender metaphysischer Hintergrundannahmen durch abstrakte Kategorien zureichend erfassen lassen. Stattdessen wäre anzuerkennen, dass alle scheinbar letztgültigen Unterscheidungskriterien historisch und daher wandelbar sind. Johann Wilhelm Ritter legt seiner erfolgreichen naturwissenschaftlichen Arbeit zum Teil höchst spekulative Prämissen zugrunde, die ihn in vieler Hinsicht dabei unterstützen, zu wegweisenden Erkenntnissen zu gelangen, ihn aber auch falsche Schlussfolgerungen treffen lassen. Dies zeigt sich vor allem an der für seine Erforschung galvanischer Phänomene von Anfang an präsenten Karl Raimund Popper, Die Logik der Forschung, Tübingen: Mohr, 1976, S. 13. William Whewell, The Philosophy of the Inductive Sciences, Bd. 1, London: Parker, 1847, S. X; Hervorh. i. Orig. 41 42
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Vorstellung, dass die dabei auftretenden Kräfte kein Sonderphänomen des Lebendigen, sondern ein vermittelndes Band zwischen organischer und anorganischer Natur sein müssen. Es zeigt sich auch an seiner spektakulären Entdeckung des UV-Lichts, zu der er durch die Interpretation von Herschels Entdeckung der infraroten Strahlung gebracht wird. Ritters naturphilosophische Spekulationen über die Rolle des Wassers in einem allgemeinen System der Natur führen ihn dagegen zu Fehldeutungen seiner akribischen Experimente zur elektrolytischen Wasserzerlegung. Das in seiner Münchner Zeit aufkommende Interesse an den Grenzphänomenen des Siderismus und der Rhabdomantie, welches ihm viel Kritik beschert, wird schließlich verständlich, wenn man es in den Kontext des frühromantischen Strebens nach einer erneuerten Mensch-Natur-Beziehung zu setzen versucht. Wird also die heuristische Bedeutung metaphysischer Annahmen an der wissenschaftlichen Arbeit Ritters einerseits besonders deutlich, so erscheint es andererseits müßig, sein Denken anhand von Whewells Unterscheidung auf Anteile ›guter‹ und ›schlechter‹ Metaphysik hin zu sondieren. Gerade die Programmatik der romantischen Naturforschung Ritters kann uns für die wesentliche Einsicht sensibilisieren, dass sich über die Frage, was eine ›gute‹ oder ›schlechte‹ Metaphysik der Natur ist, auch jenseits des Fortgangs der naturwissenschaftlichen Forschung befinden lässt. Eine ›gute‹ Metaphysik der Natur ist dann eine solche, die sich um ein ganzheitliches Verständnis der Natur bemüht und damit dezidiert auch Perspektiven einzubeziehen versucht, die unabhängig vom naturwissenschaftlichen Wissen Eigengeltung besitzen. Dies bedeutet, dass sie im Sinne einer Synopse auf unterschiedliche Formen des Naturverständnisses rekurriert und dabei auch Fragen der leiblichsinnlichen und ästhetischen Naturerfahrung und einer spekulativen Naturdeutung zu thematisieren versucht. Eng damit assoziiert ist dann auch die Forderung, dass sich eine solche Metaphysik der Natur nicht auf theoretische Aussagen beschränken kann, sondern in wesentlicher Hinsicht auch zu normativen Aussagen über die Orientierung des Menschen in der Welt führen soll. Bei Ritter als reflektiertem Vertreter der romantischen Naturforschung finden sich zu diesem weitläufigeren Konzept einer Metaphysik der Natur zweifellos keine systematischen Erwägungen, aber doch eine ganze Reihe von instruktiven Überlegungen. Einige davon möchte ich an den Schluss meiner Betrachtung stellen. Über die Möglichkeit einer stärkeren Integration des Menschen in die Prozessverläufe der Natur anhand seiner Leiblich68 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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keit äußert er sich etwa durch eine spekulative Variante der Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie: Das physiologische Schema des Individuums ist das physiologische Schema der Erde. Die ganze Welt muss sich im Menschen en miniature wiederfinden. Seine Anatomie, und die des Erdkörpers […] sind eine. 43
Zu Beginn seines Vortrags ›Physik als Kunst‹ skizziert er seine Vorstellung, wie der Mensch durch eine erneuerte Harmonie mit der Natur an seiner Höherentwicklung zu arbeiten vermag, wobei für Ritter in diesem Zusammenhang die theoretische Erkenntnis der Natur in einem organischen Wechselverhältnis zu Dimensionen des ›guten Lebens‹ im ursprünglichen antiken Verständnis steht: Noch gegenwärtig, ja nur um so mehr, ist seine Überzeugung [des Menschen; A. W.], dass möglichste Kultur des Individuums allein das Mittel sei, in jene Harmonie den Eingang sich zu öffnen, aus der man nimmer wieder auszutreten wünschte; und wer von oben seine Hand ihm dazu bietet, ist wie sie selbst [die Natur; A. W.] ihm heilig. 44
Tritt der Mensch durch das Erwachen seines Erkenntnisstrebens gleichsam aus einer »ältere[n] Harmonie zwischen der Natur und sich« heraus, so kann ihm in der Sicht Ritters gerade die neuere Naturforschung im Zeichen des Galvanismus und der Chemie den Weg in eine »völlig neue, höhere Harmonie« weisen: 45 Vor allem habe ich bemerken lassen wollen, wie alle Physik, als Erforschung der Natur und des Natürlichen, von jeher ausging von der Sorge für den Menschen, und wo sich günstige Gelegenheit noch fand, auch immer wieder auf diesen zurückkam. 46
Literatur Bartels, Andreas, Grundprobleme der modernen Naturphilosophie. Paderborn: Schöningh, 1996. Berg, Hermann & Klaus Richter (Hg.), Johann Wilhelm Ritter, Entdeckungen zur Elektrochemie, Bioelektrochemie und Photochemie. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig, 1986. 43 44 45 46
Fragmente IX, 420; a. a. O., S. 184; Hervorh. i. Orig. Die Physik als Kunst, a. a. O., S. 293; Hervorh. i. Orig. Ebd., S. 295. Ebd., S. 316; Hervorh. i. Orig.
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Andreas Woyke Engelhardt, Dietrich von, »Naturforschung im Zeitalter der Romantik«, in: Walther Christian Zimmerli, Klaus Stein & Michael Gerten (Hg.): »Fessellos durch die Systeme«. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling. Stuttgart, Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1997, S. 19–48. Goethe, Johann Wolfgang von, Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, kommentiert von Herbert von Einem, München: dtv, 1998. Kanitscheider, Bernulf, Kosmologie. Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive. Stuttgart: Reclam, 2002. Klemm, Friedrich & Arnim Hermann (Hg.), Briefe eines romantischen Physikers. Johann Wilhelm Ritter an Gotthilf Heinrich Schubert und an Karl von Hardenberg. München: Heinz Moos Verlag, 1966. Köchy, Kristian, Ganzheit und Wissenschaft. Das historische Fallbeispiel der romantischen Naturforschung. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997. Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, 3. Bd. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl & Richard Samuel, Darmstadt: WBG, 1999. Popper, Karl Raimund, Die Logik der Forschung. Tübingen: Mohr, 1976. Richter, Klaus, Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter. Ein Schicksal in der Zeit der Romantik. Weimar: Böhlaus Nachfolger, 2003. Richter, Klaus, »Zur Methodik des naturwissenschaftlichen Forschens bei Johann Wilhelm Ritter«, in: Walter Christian Zimmerli, Klaus Stein & Michael Gerten (Hg.): »Fessellos durch die Systeme«. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling, Stuttgart, Bad Canstatt: Frommann-Holzboog, 1997, S. 317–329. Ritter, Johann Wilhelm, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur. Herausgegeben von Steffen Dietzsch & Birgit Dietzsch, Leipzig,Weimar: Müller & Kiepenheuer, 1984. Ritter, Johann Wilhelm, Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite. Weimar: Verlag des Industrie-Comptoirs, 1798. Ritter, Johann Wilhelm, »Die Physik als Kunst. Ein Versuch, die Tendenz der Physik aus ihrer Geschichte zu deuten«, in: ders., Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur, hg. von Steffen Dietzsch & Birgit Dietzsch, Leipzig, Weimar: Müller & Kiepenheuer, 1984, S. 288–320. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Schellings Werke. Herausgegeben von Manfred Schröter, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, München: C. H. Beck, 1979ff. Stein, Klaus, »Die Natur, welche sich in Mischungen gefällt«, in: Walther Christian Zimmerli, Klaus Stein & Michael Gerten (Hg.): »Fessellos durch die Systeme«. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling. Stuttgart, Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1997, S. 143–202. Wetzels, Walter D., Johann Wilhelm Ritter: Physik im Wirkungsfeld der Deutschen Romantik. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1973. Whewell, William, The Philosophy of the Inductive Sciences (Bd. 1). London: Parker, 1847.
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Alexander von Humboldts ›Naturgemlde‹ : Zum Verhltnis von Kunst und Wissenschaft. Kristian Köchy
An den Beginn seien zwei längere Zitate gestellt, die den Rahmen aufspannen, in dem sich meine folgenden Überlegungen bewegen werden. Es sind dieses eine Reflexion Goethes aus dessen Morphologie sowie ein Auszug aus Emil Du Bois-Reymonds Rede Naturwissenschaft und bildende Kunst. Beide Texte bringen programmatisch zwei sich gegenüberstehende und sich im historischen Gang ablösende Paradigmen der Wissenschaft zum Ausdruck. Zwischen beiden Überlegungen, von denen die erste um 1817, die zweite um 1890 formuliert wurde, erfolgt ein umfassender Wandel des Wissenschaftsverständnisses und der Naturvorstellungen, in dessen Zusammenhang sich auch das Selbstbild der Forscher grundlegend ändert. Allerdings bleiben auch in diesem Fall eines Paradigmenwechsels die Einsichten des Wissenschaftsphilosophen Stephen Toulmin 1 gültig. Nach ihm herrscht trotz frappierender Unterschiede zwischen zwei sich bekämpfenden »Normalwissenschaften« niemals völlige Verbindungslosigkeit, niemals Kuhnsche Inkommensurabilität. Immer existieren Gemeinsamkeiten, die durch Antizipation nachfolgender Wissensbestände oder durch Uminterpretation bisheriger Erklärungen zum Ausdruck kommen. So ist denn auch die analytische Wissenschaft eines Du Bois-Reymond keinesfalls vollkommen von den goetheanisch-romantischen Vorläufern abgekoppelt. Die Verzahnung der goetheanischen Forschung mit ihren positivistisch-mechanistischen Nachfolgern zeigt sich etwa an Forschern, die zwischen beiden Ansätzen stehen, wie der Morphologe Johannes Müller oder der Naturphilosoph und Physiker Gustav Theodor Fechner. 2 1 Stephen Toulmin, Does the Distinction between Normal and Revolutionary Science hold water? In: Imre Lakatos & Alan Musgrave (Hg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge: Cambridge University Press, 1970, S. 44. 2 Kristian Köchy, Der ›Grundwiderspruch der Naturwissenschaften‹ mit umgekehrtem Vorzeichen: Fechners Kritik an Darwin als Fallbeispiel für den verschlungenen Entwick-
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Sie zeigt sich auch in der Umdeutung von Analogien – wie etwa der Kristallisationsanalogie der Romantik 3 in der neuen Zellenlehre von Schwann und Schleiden. Sie zeigt sich drittens in der »feindlichen Übernahme« von Begriffen und Konzepten, wie beispielsweise des Goethischen Terminus »Versammlung« durch Virchow. 4 Der Entwicklungsgang zwischen den beiden Ansätzen, für die Goethe und Du BoisReymond stehen, entspricht deshalb keinesfalls dem linearen Modell von Thomas Kuhns Revolutionskonzept. Vielmehr haben wir es mit einem Netzwerk von sich verzweigenden und erneut verbindenden Pfaden zu tun. »Wenn der zur lebhaften Beobachtung aufgeforderte Mensch mit der Natur einen Kampf zu bestehen anfängt, so fühlt er zuerst einen ungeheurn Trieb, die Gegenstände sich zu unterwerfen. Es dauert aber nicht lange, so dringen sie dergestalt gewaltig auf ihn ein, daß er wohl fühlt, wie sehr er Ursache hat, auch ihre Macht anzuerkennen und ihre Einwirkung zu verehren. Kaum überzeugt er sich von diesem wechselseitigen Einfluß, so wird er ein doppelt Unendliches gewahr, an den Gegenständen die Mannigfaltigkeit des Seins und Werdens und der sich lebendig durchkreuzenden Verhältnisse, an sich selbst aber die Möglichkeit einer unendlichen Ausbildung, indem er seine Empfänglichkeit sowohl als sein Urteil immer zu neuen Formen des Aufnehmens und Gegenwirkens geschickt macht. Diese Zustände geben einen hohen Genuß und würden das Glück des Lebens entscheiden, wenn nicht innre und äußre Hindernisse dem schönen Lauf zur Vollendung sich entgegenstellten. […] Wie wenige fühlen sich von dem begeistert, was eigentlich nur dem Geist erscheint. Die Sinne, das Gefühl, das Gemüt üben weit größere Macht über uns aus, und zwar mit Recht: denn wir sind aufs Leben und nicht auf die Betrachtung angewiesen. Leider findet man aber auch bei denen, die sich dem Erkennen, dem Wissen ergeben, selten eine wünschenswerte Teilnahme. Dem Verständigen, auf das Besondere Merkenden, genau Beobachtenden, auseinander Trennenden ist gewissermaßen das zur Last, was aus einer Idee kommt und auf sie zurückführt. Er ist in seinem Labyrinth auf eine eigene Weise zu Hause, ohne daß er sich um einen Faden bekümmerte, der schneller durch und durch führte; und solchem scheint ein Metall, das nicht ausgemünzt ist, nicht aufgezählt lungsgang der biologischen Theorien, in: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 5, 1998, S. 55–70. 3 Kristian Köchy, Ganzheit und Wissenschaft. Das historische Fallbeispiel der romantischen Naturforschung, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997, S. 128 ff. 4 Rudolf Virchow, Göthe als Naturforscher und in besonderer Beziehung auf Schiller Berlin: Verlag August Hirschwald, 1861, S. 34.
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werden kann, ein lästiger Besitz; dahingegen der, der sich auf höhern Standpunkten befindet, gar leicht das einzelne verachtet, und dasjenige, was nur gesondert ein Leben hat, in eine tötende Allgemeinheit zusammenreißt. […]« »Wenn wir Naturgegenstände, besonders aber die lebendigen, dergestalt gewahr werden, daß wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer solchen Kenntnis am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können; wie denn auch wirklich dieser Weg uns sehr weit zu führen geeignet ist. Was Chemie und Anatomie zur Ein- und Übersicht der Natur beigetragen haben, dürfen wir nur mit wenig Worten den Freunden des Wissens ins Gedächtnis zurückrufen. Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben. Dieses gilt schon von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern. Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Menschen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußern sichtbaren, greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Innern aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen. Wie nah dieses wissenschaftliche Verlangen mit dem Kunst- und Nachahmungstriebe zusammenhänge, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt zu werden. Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissenschaft mehrere Versuche, eine Lehre zu gründen und auszubilden, welche wir die Morphologie nennen möchten. […].« 5 »›Die Natur,‹ sagte Goethe treffend zu Eckermann – ohne zu ahnen, wie herbe Anwendung seine Worte auf eine Seite seiner eigenen wissenschaftlichen Bestrebungen finden könnten –, ›die Natur versteht gar keinen Spaß; sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer Recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen‹. Um die Richtigkeit dieses Ausspruches vollauf zu empfinden, muß man gewohnt sein, indem man als Experimentator oder Beobachter selber Hand ans Werk legt, der Natur ins unerbittliche Antlitz zu schauen, und die, fast könnte man sagen, ungeheure Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen, welche in dem Aufstellen auch des geringfügigsten Sachverhaltes liegt. Was in diesem Augenblick, unter diesen Umständen geschieht, würde unter denselben Umständen vor negativ unendlicher Zeit auch geschehen sein, nach positiv unendlicher Zeit noch gescheJohann Wolfgang Goethe, Zur Morphologie, 1817, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Hamburg: Christian Wegner Verlag, 1955, Bd. 13, S. 53 ff.
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hen: das ist der inhaltschwere Sinn jeder richtig gedeuteten Erfahrung. Nur der Mathematiker, dessen Tätigkeit der des experimentierenden Forschers näher verwandt ist, als man sich vorzustellen pflegt, kennt ewig unverbrüchlichen Gesetzen gegenüber das gleiche Gefühl der Verantwortlichkeit. Geschworene Zeugen vor dem Richterstuhl der Wirklichkeit, streben sie beide nach der Erkenntnis der Welt wie sie ist […]. […] ›Ernst ist das Wissen, heiter ist die Kunst‹, könnte man das Dichterwort wenden, ohne daß es minder zuträfe. Die Kunst ist das Reich des Schönen, des Schaffens dessen, was durch halb sinnliches, halb seelisches Wohlgefallen uns beglückt, und damit ist gesagt, daß sie im weitesten Umfange ein Reich der Freiheit ist. Hier walten keine starren Gesetze; keine strenge Kausalität bindet das Geschehen in der Gegenwart an das in Vergangenheit und Zukunft; kein unbedingtes Merkmal verbürgt das Gelingen; wechselnder Geschmack der Zeiten, Völker und Menschen maßt sich Lob und Tadel an, wie denn die Herrlichkeit gotischen Kirchenbaues dem achtzehnten Jahrhundert zum Gespött geworden war. […]« 6 »Dehnt man den Begriff der Kunst weiter aus bis zu dem des künstlerischen Denkens und Schaffens überhaupt, so fehlt es freilich nicht an Verwandtschaft und Übergängen zwischen Künstler und Forscher, wie weit auch nach dem eingangs Gesagten ihre Pfade sonst auseinandergehen. Doch ist nicht gewiß, daß der Naturforschung künstlerische Auffassung ihrer Aufgaben überall zum Segen gereiche. Die unter dem Namen der Naturphilosophie bekannte Verirrung der deutschen Wissenschaft am Anfange des Jahrhunderts war ebensosehr ästhetischen wie metaphysischen Ursprungs, und auch Goethe’s naturwissenschaftliche Bestrebungen hatten denselben Hintergrund. Diese künstlerische Auffassung der Naturprobleme fehlt darin, daß sie sich damit begnügt, bei schön abgerundeten Bildern stehen zu bleiben, und nicht weiter zum ursächlichen Zusammenhange des Geschehens, zur Grenze unseres Verstehens durchdringt. Sie reicht allenfalls aus, wo es sich darum handelt, mit plastischer Phantasie Analogien organischer Formen zu erkennen, wie des Pflanzenbaues oder des Wirbeltierskeletts; sie kommt zu kurz, wo sie, wie in der Farbenlehre, anstatt mathematisch-physikalisch zu zergliedern, sich am Betrachten vermeintlicher Urphänomene genug sein läßt. […] Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß künstlerischer Sinn nicht auch dem theoretischen Naturforscher von Nutzen sein könne. Es gibt eine Ästhetik des Versuches, welche danach strebt, einer experimentellen Anordnung mechanische Schönheit […] zu erteilen, und nie wird ein Experimentator bedauern, ihren Forderungen nach Möglichkeit zu entsprechen.« 7 6 Emil Du Bois-Reymond, Naturwissenschaft und bildende Kunst, 1890, in: Reden von Emil Du Bois-Reymond in zwei Bänden, hrsg. v. Estelle Du Bois-Reymond, Leipzig: Verlag von Veit & Comp., 1912, Bd. 2, S. 392 ff. 7 Ebd., S. 421.
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Diese beiden Zitate machen vor allem eines deutlich: Es gibt einen Punkt, an dem sich der Umschlag vom romantisch-goetheanischen in das analytische Wissenschaftsprogramm manifestiert. Es ist dieses die Frage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaft und bildender Kunst. In dieser Hinsicht wäre sowohl Goethes Ansatz als auch derjenige der naturwissenschaftlichen Romantik durch eine innige Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft gekennzeichnet. Die entsprechenden Überlegungen reichen von Schellings Forderung nach Auflösung des klassischen Organons der Philosophie im Ozean der Poesie 8, über Ritters Gedanken zur Wiedervereinigung des Menschen mit der Natur in Die Physik als Kunst (1806) 9 bis zu den späten Analogien eines Ørsted, der zwischen experimenteller Naturerkenntnis und dem schöpferischen Akt der Kunst eine Verbindung sieht. 10 Goethe ist für diesen Ansatz eine paradigmatische Leitfigur. 11 Seine morphologische Forschung kulminiert in der Konzeption einer neuen Wissenschaft. Die Morphologie ist ihm eine Gestalt- und Verwandlungslehre, die speziell auf die Bildung und Umbildung von Formen im Lebensreich ausgerichtet ist. Sie ist somit einerseits an der Struktur lebender Einzelbildungen interessiert, versteht diese jedoch andererseits als dynamisch wandelbare Gebilde. Die Fragestellung der Morphologie richtet sich folglich auf die Umgestaltung und Genese von Individuen und den in ihnen zum Ausdruck kommenden Typus. Ihre Suche nach Verallgemeinerung ist dabei durchgängig von einer Skepsis gegenüber Mathematisierung, Abstraktion, Formalisierung und Experiment geprägt. Goethe setzt vielmehr auf das Vermögen der Anschauung und ist in dieser Hinsicht von der Einheit von Kunst und Wissenschaft überzeugt. Seine Morphologie verbindet künstlerische und wissenschaftliche Elemente, ohne die Unterschiede zu nivellieren. Ziel
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus, 1800, in: Schellings Werke. Nach der Originalausgabe hrsg. v. Manfred Schröter, München: C. H. Beck & R. Oldenbourg, 1927, Bd. 2, S. 629 [III 629]. 9 Johann Wilhelm Ritter, Die Physik als Kunst. Ein Versuch, die Tendenz der Physik aus ihrer Geschichte zu deuten, 1806, in: Ders. Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, hrsg. v. S. & B. Dietzsch, Hanau: Müller & Kiepenheuer, 1984, S. 288 -320. 10 Hans Christian Ørsted, Der mechanische Theil der Naturlehre, Braunschweig: Vieweg, 1851, S. 2 ff. 11 Vgl. zum Folgenden Kristian Köchy, Zur Funktion des Bildes in den Biowissenschaften, in: Stefan Majetschak (Hg.), Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München: Wilhelm Fink, 2005, S. 230 ff. 8
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der für Goethe »naturgemäßen Methode« ist die anschauliche Erfassung der Einheit in der Vielfalt des Lebendigen. In Du Bois-Reymonds Äußerungen kommt hingegen die Gegenkonzeption der so genannten analytischen Schule der Biowissenschaften zum Ausdruck. Diese Richtung formierte sich in expliziter Konkurrenz zum Vorgängerkonzept. Sie setzte dabei auf ein vollkommen gewandeltes Wissenschaftsverständnis. Nicht mehr ist die Biologie Leitdisziplin einer »Organisierung der Physik«, sondern umgekehrt sollen in einer neuen »Organischen Physik« 12 Physik und Chemie zu den beiden neuen Leitwissenschaften werden. Mittels des Experiments, der chemischen Analyse und der Mathematik sollen Lebensprozesse auf der elementaren Ebene erklärt werden. Statt morphologischer Forschung geht es vorrangig um Physiologie. Man favorisiert zudem ein mechanisches und materialistisches Verständnis von Natur 13. Damit geht allerdings nicht nur eine Abgrenzung der Naturwissenschaft von der Philosophie einher, sondern wie das obige Zitat deutlich machte, auch eine klare Trennung zwischen Naturwissenschaft und Kunst. Die Überlegungen von Du Bois-Reymond zeigen, wie breit für ihn der Graben zwischen den »Zwei Kulturen« geworden ist 14 . Dabei konstatiert er im Kampf mit den bisher viel prominenteren Geisteswissenschaften um die kulturelle Vorrangstellung 15 einen unaufhaltsamen Siegeszug der Naturwissenschaften. Die Kombination von naturwissenschaftlicher Fragestellung und künstlerischem Vorgehen ist von dieser neuen Warte aus gänzlich verfehlt. Ein derart künstlerisch-deskriptiver Ansatz bleibt bei »schönen Bildern« stehen, er dringt nicht auf die Ebene der Ursachen vor, kann keine Erklärung des Geschehens liefern. Wahre Wissenschaft hingegen erfordert Einsicht in Kausalbeziehungen und die ewigen, unverbrüchlichen Gesetze der Natur. Auf diese Ebene eines wissenschaftlichen Naturverständnisses gelangt man
12 Kristian Köchy, Zwischen der ›Physik des Organischen‹ und der ›Organisierung der Physik‹. Überlegungen zu Gegenstand und Methode der Biologie, in: Journal for General Philosophy of Science, 30, (1), 1999, S. 59–85. 13 Sven Dierig, Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin, Göttingen: Wallstein, 2006. 14 Kurt Bayertz, Myriam Gerhard & Walter Jaeschke (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 1–3, Hamburg: Meiner, 2007. 15 Tomothy Lenoir, Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M., New York: Campus, 1992, S. 18 ff.
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nicht durch bloße Beschreibung, sondern nur durch experimentellen Eingriff und wissenschaftliche Erklärung. Wir wollen uns vor diesem Hintergrund einem Denker zuwenden, der wie kein anderer als Vermittler zwischen dem alten, goetheanischen Anliegen und dem neuen positivistischen Denken aufzufassen ist: Alexander von Humboldt. 16 Seine Schaffensperiode beginnt in der Phase der goetheanischen Naturforschung und reicht weit in die Hochzeit des neuen positivistischen Ideals hinein. Dennoch bleibt Humboldts Naturwissenschaft massiv vom goetheanisch-romantischen Ideal durchdrungen. Dieses deutlich zu machen, ist das eigentliche Anliegen der folgenden Darstellung, die sich zu diesem Zweck dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bei Humboldt widmet. Für den Eindruck, Humboldt denke im Stil der neuen analytischen Zeit, sprechen einige Befunde, etwa seine frühe Begeisterung für die experimentelle Physiologie. Schon als achtzehnjähriger grenzt sich Alexander von seinem Bruder Wilhelm mit den Worten ab, für Philosophie habe er wegen seiner eigenen empirischen Interessen nicht die Zeit und er müsse folglich »die Spekulation an den Nagel hängen« 17 . Während seines Studiums in Göttingen lebte Alexander nach eigenem Bekennen »allein für Naturgeschichte und Sprachen« 18 . In seiner Tätigkeit als Bergbauassessor – später als Bergrat – erforscht Humboldt das Leben unterirdischer Pflanzen (Florae Fribergensis specimen 1793). Er untersucht in den Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen (1794) die Einwirkung chemischer Agentien und mechanischer Reize auf pflanzliche Lebensprozesse. 1798 schreibt er zu Ingenhousz’ Über Ernährung der Pflanzen und Fruchtbarkeit des Bodens eine Einleitung. In dieser heißt es: »Je tiefer wir in das Dunkel der organischen Kräfte eindringen, je mehr wir von dem großen Lebensprocesse errathen, durch den alle vitalen Erscheinungen im Thier- und Pflanzenkörper bewirkt werden, desto eher dürfen wir hoffen, die Mittel aufzufinden, durch welche die schnellere Entwicklung der Organe und die Veredelung ihrer Säfte befördert wird. […] Unermeßlich ist in der That das Feld, welches der Pflanzenbau dem Untersuchungsgeiste des 16 Kristian Köchy, Das Ganze der Natur – Alexander von Humboldt und das romantische Forschungsprogramm, in: HiN Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien III (5), 2002, 16 Seiten [www.hin-online.de]. 17 Otto Krätz, Alexander von Humboldt. Wissenschaftler – Weltbürger – Revolutionäre, München: Callwey, 1997, S. 20. 18 Ebd., S. 21
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Physikers darbiethet. Erfordert die Pflege des thierischen Körpers, daß man, außer der Gestalt und den Verrichtungen seiner Organe, auch die reizende Einwirkung äußerer Stoffe auf denselben kenne, so wird bei der Kultur der Gewächse diese Kenntnis doppelt nothwendig […]. Wissenschaftliche Kenntnis der Pflanzenkultur kann daher nicht ohne Physiologie, diese nicht ohne allgemeine Meteorologie und Chemie bestehen.« 19
Bekannt geworden sind vor allem Humboldts Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser (1797), in denen er die Untersuchungen zur Reizbarkeit von Pflanzen nun in dem seit den Entdeckungen von Volta und Galvani prosperierenden Feld der Nerven- und Muskelphysiologie und der tierischen Elektrizität fortsetzte. Er ist also, grob gesprochen, im Feld der erklärenden Experimentalwissenschaft tätig, also jener Wissenschaft, die Du Bois-Reymond zu seinem Leitbild erhob. 20 Da es in der Frage nach der Reiz- oder Erregbarkeit bei Lebewesen u. a. auch um die Klärung der Annahme von vitalistischen Kräften ging, hat diese Arbeit nicht nur (natur-)philosophisches Potential, sie gerät auch in die Nähe einer Auseinandersetzung mit romantischen Überlegungen zum Status der Irritabilität. 21 Insofern lässt sich an Humboldt durchaus auch eine mit Du BoisReymond geteilte Ablehnung bestimmter Aspekte der romantisierenden Naturphilosophie erkennen. Einige heutige Autoren – so etwa Bunge 22 – sehen deshalb in Humboldt nur den Kritiker und Gegner der Romantik. Allerdings äußert sich Humboldt selbst wie folgt: »Hier, mein theurer Freund, das lezte Heft von Agassiz, das schöner als die vorigen ist. Gerade die Blätter, die man wahrscheinlich Ihnen hat mit Gehässigkeit bezeichnen wollen, (p.59–64) haben mir von dem größten Interesse geschienen, und das seit Aristoteles gebrauchte Wort Naturphilosophie, das man auf alle Aufsuchung des Gesetzlichen in dem Organismus anwenden kann, hat mich, wie es p. 63 steht, nicht erschreckt. Wenn man vorher eine Masse isolierter Beobachtungen über das allmähliche Erscheinen der Organismen nüchtern gegeben, kann man sich ja wohl eine allgemeinere VermutAus Humboldts Einleitung über einige Gegenstände der Pflanzenphysiologie (1798), zitiert nach Ilse Jahn, Dem Leben auf der Spur. Die biologischen Forschungen Humboldts, Leipzig, Jena, Berlin: Urania, 1969, S. 43. 20 Gunther Mann (Hg.), Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jahrhundert. Emil Du Bois-Reymond, Hildesheim: Gerstenberg Verlag, 1981. 21 Manfred Durner, Francesco Moiso & Jörg Jantzen, Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften, Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1994. 22 Mario Bunge, Alexander von Humboldt und die Philosophie, in: Heinrich Pfeiffer (Hg.), Alexander von Humboldt. Werk und Weltgeltung, München: Piper, 1969, S. 17 ff. 19
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hung erlauben. Agassiz sagt ja nicht, daß ein Fisch zum Pachydermen wird, er macht bloß auf die Epochen des Erscheinens aufmerksam. […] Ich glaube nicht, daß man den Gebrauch der Vernunft oder gar das Wort Naturphilosophie verpönen darf, man muß nur dem Worte durch bessere Anwendung der Vernunft zu Ehren helfen. Das Anordnen des Empirischen nach Ideen ist eine erlaubte Naturphilosophie, das Schaffen aus bloßen Ideen, ohne empirisches Substrat, ist eine verderbliche.« 23
Angesichts dieser Überlegung relativiert sich die scheinbar vehemente Ablehnung der Naturphilosophie. Sie wird als Ablehnung von rein spekulativen Konzepten erkennbar, die den Boden der Empirie verlassen. 24 Dabei bleibt die Funktion einer »erlaubten Naturphilosophie« für Humboldt erhalten. Deren Aufgabe ist es, das Empirische nach Ideen anzuordnen. Diese differenzierte Argumentation erklärt womöglich, warum Meyer-Abich eine zu Bunge genau entgegen gesetzte Auffassung vertritt, und in Humboldt den maßgeblichen Vertreter einer naturphilosophischen Ganzheitsidee im Geiste Goethes sieht. 25 Tatsächlich in Übereinstimmung mit dem Forschungsprogramm von Goethe und der Romantik geht Humboldts Blick über eine »mikrologische« Perspektive der Einzelfakten deutlich hinaus und ist explizit auf das Ganze der Natur gerichtet. Dem Versuch einer adäquaten Erfassung, Darstellung und Erklärung des Naturganzen gilt Humboldts gesamte Energie. Er hat diesem Forschungsprogramm den Namen »physische Weltbeschreibung« gegeben, die auf eine Betrachtung alles Geschaffenen als »eines gleichzeitig bestehenden Natur-Ganzen« zielt. »Welt« ist hier gleichbedeutend mit »Kosmos«. Diese Bezeichnung knüpft bewusst an klassische Konzepte an, die das kosmische Ganze als schöne, harmonische Ordnung interpretierten. Dabei macht schon Platons Timaios deutlich, wie sehr in diesem Bild organologische und mathematische Überlegungen zusammenkommen. Die Schönheit, Vollkommenheit und Harmonie des Kosmos ergibt sich schon für Pla23 Humboldt an Ehrenberg 1838 zitiert nach Jahn, Dem Leben auf der Spur. Die biologischen Forschungen Humboldts, a. a. O., S. 147 f. 24 Gerhard Hennemann, Naturphilosophie im 19. Jahrhundert, München: Alber, 1959, S. 107. 25 Adolf Meyer-Abich, Alexander von Humboldts Philosophie der Natur, geistesgeschichtlich interpretiert und in ihrer Bedeutung für die heutige Naturwissenschaft dargestellt, in: Herbert Kessler & Walter Thoms (Hg.), Die Brüder Humboldt heute, Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung, II, Mannheim: Verlag der Humboldt-Gesellschaft, 1968, S. 165–218.
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ton aus den herrschenden Zahlenverhältnissen in dieser Ordnung mindestens ebenso wie aus dem organischen Charakter des Ganzen. Humboldt stellt sein Programm des Kosmos wie folgt dar: »Der erste Band meines Werkes enthält: Einleitende Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und die Ergründung der Weltgesetze; Begrenzung und wissenschaftliche Behandlung der physischen Weltbeschreibung; ein allgemeines Naturgemälde als Uebersicht der Erscheinungen im Kosmos. Indem das allgemeine Naturgemälde von den fernsten Nebelflecken und kreisenden Doppelsternen des Weltraums zu den tellurischen Erscheinungen der Geographie der Organismen (Pflanzen, Thiere und Menschen-Racen) herabsteigt, enthält es schon das, was ich als das Wichtigste und Wesentlichste meines ganzen Unternehmens betrachte: die innere Verkettung des Allgemeinen mit dem Besonderen, den Geist der Behandlung in Auswahl der Erfahrungssätze, in Form und Styl der Composition. […]« 26 »Die Laufbahn, welche wir zu vollenden haben, ist so unermeßlich, daß es mir nicht geziemen würde, von dem Hauptziele unseres Bestrebens, der Ansicht des Naturganzen, abschweifend, das Feld geflissentlich zu erweitern. An ferne Wanderungen gewöhnt, habe ich ohnedieß vielleicht den Mitreisenden den Weg gebahnter und anmuthiger geschildert, als man ihn finden wird. Das ist die Sitte derer, die gern Andere auf den Gipfel der Berge führen. Sie rühmen die Aussicht, wenn auch ganze Theile der Gegend in Nebel verhüllt bleiben. Sie wissen, daß auch in dieser Verhüllung ein geheimnißvoller Zauber liegt, daß eine duftige Ferne den Eindruck des Sinnlich-Unendlichen hervorruft, ein Bild, das […] im Geist und in den Gefühlen sich ernst und ahnungsvoll spiegelt. Auch von dem hohen Standpunkte aus, auf den wir uns zu einer allgemeinen, durch wissenschaftliche Erfahrungen begründeten Weltanschauung erheben, kann nicht allen Anforderungen genügt werden. In dem Naturwissen, dessen gegenwärtigen Zustand ich hier entwickeln soll, liegt noch Manches unbegrenzt; vieles […] wird nur darum unklar und unvollständig erscheinen, weil Befangenheit dem Redenden dann doppelt nachtheilig wird, wenn er sich des Gegenstandes in seiner Einzelheit minder mächtig fühlt. Der Zweck dieses einleitenden Vortrages war nicht sowohl, die Wichtigkeit des Naturwissens zu schildern, welche allgemein anerkannt ist und längst schon jedes Lobes entbehren kann; es lag mir vielmehr ob, zu entwickeln, wie, ohne dem gründlichen Studium specieller Disciplinen zu schaden, den naturwissenschaftlichen Bestrebungen ein höherer Standpunkt angewiesen werden kann, von dem aus alle Gebilde und Kräfte sich als ein, durch innere Regung belebtes Naturganze offenbaren. Nicht ein todtes Ag26 Humboldt, Alexander, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Stuttgart, Tübingen: Cotta, Bd. 1, XII.
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gregat ist die Natur: sie ist ›dem begeisterten Forscher (wie Schelling in der trefflichen Rede über die bildenden Künste sich ausdrückt) die heilige, ewig schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werkthätig hervorbringt‹. Der bisher so unbestimmt aufgefaßte Begriff einer physischen Erdbeschreibung geht durch erweiterte Betrachtung und das Umfassen alles Geschaffenen im Erd- und Himmelsraume in den Begriff einer physischen Weltbeschreibung über. Eine dieser Benennungen ist nach der andern gebildet. Es ist aber die Weltbeschreibung oder Lehre vom Kosmos, wie ich sie auffasse, nicht etwa ein encyclopädischer Inbegriff der allgemeinsten und wichtigsten Resultate, die man einzelnen naturhistorischen, physikalischen und astronomischen Schriften entlehnt. Solche Resultate werden in der Weltbeschreibung nur als Materialien und in so fern theilweise benutzt, als sie das Zusammenwirken der Kräfte im Weltall, das sich gegenseitige Hervorrufen und Beschränken der Naturgebilde erläutern. […] Eine physische Weltbeschreibung darf daher nicht mit der sogenannten Encyclopädie der Naturwissenschaften […] verwechselt werden. In der Lehre vom Kosmos wird das Einzelne nur in seinem Verhältniß zum Ganzen, als Theil der Welterscheinungen betrachtet; und je erhabener der hier bezeichnete Standpunkt ist, desto mehr wird diese Lehre einer eigenthümlichen Behandlung und eines belebenden Vortrags fähig«. 27
Durch die Bezeichnung seines Anliegens als Weltbeschreibung liegt der Verdacht nahe, Humboldt würde für ein Programm eintreten, das im Sinne von Du Bois-Reymond als rein deskriptiver Ansatz ohne explanative Kraft zu bewerten wäre. Für eine solche Deutung spräche auch Humboldts eigene Benennung seines Versuchs als »Naturgemälde«. Die Konzepte der »physischen Weltbeschreibung« und des »Naturgemäldes« haben ihr Gemeinsames darin, dass sie die Vorstellung eines höheren Standpunktes zum Ausdruck bringen sollen. Humboldt will, quasi vom Standpunkt eines Berggipfels aus, eine anschauliche Darstellung des Naturpanoramas und seiner bedeutsamen Teile erstellen. Kunst und Wissenschaft kommen auf dieser konzeptionellen Ebene eng zusammen, denn das Ziel der Darstellung ist Anschaulichkeit. Anschaulichkeit erfordert es jedoch, dass nicht die gesamte »gestaltenreiche Mannigfaltigkeit«, sondern nur die großen geschiedenen Massen im Bild erscheinen. Zudem ist die Darstellung auf Lebendigkeit des Ausdrucks ausgerichtet, so dass sich die sinnliche Anschauung »naturwahr« spiegelt. Diese Vorgabe macht deutlich, dass Humboldt nach einer Form der Repräsentation des Ganzen der Natur sucht, die immer 27
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auch ästhetische Gesichtspunkte berücksichtigt. Dabei sollen unermessliche Verschiedenheit und harmonischer Eindruck zum Ausgleich kommen. Zugleich sind mit diesem Anliegen ein naturwissenschaftliches und ein künstlerisches Problem angesprochen. Naturwissenschaftlich geht es darum, die allgemeinen, gesetzlichen Grundzüge in der Vielfalt der Naturbildungen herauszustellen. Künstlerisch geht es um die kompositorische Aufgabe der Erstellung eines schönen Naturbildes, das den Reichtum der Natur nicht durch die Anhäufung einzelner Details, sondern durch die Ruhe des harmonischen Totaleindrucks versinnbildlicht. »Wenn der menschliche Geist sich erkühnt, die Materie, d. h. die Welt physischer Erscheinungen, zu beherrschen, wenn er bei denkender Betrachtung des Seienden die reiche Fülle des Naturlebens, das Walten der freien und der gebundenen Kräfte zu durchdringen strebt; so fühlt er sich zu einer Höhe gehoben, von der herab, bei weit hinschwindendem Horizonte, ihm das Einzelne nur gruppenweise vertheilt, wie umflossen von leichtem Dufte erscheint. Dieser bildliche Ausdruck ist gewählt, um den Standpunkt zu bezeichnen, aus dem wir hier versuchen das Universum zu betrachten und in seinen beiden Sphären, der himmlischen und der irdischen, anschaulich darzustellen. Das Gewagte eines solchen Unternehmens habe ich nicht verkannt. Unter allen Formen der Darstellung, denen diese Blätter gewidmet sind, ist der Entwurf eines allgemeinen Naturgemäldes um so schwieriger, als wir der Entfaltung gestaltenreicher Mannigfaltigkeit nicht unterliegen, und nur bei großen, in der Wirklichkeit oder in dem subjectiven Ideenkreise geschiedenen Massen verweilen sollen. Durch Trennung und Unterordnung der Erscheinungen, durch ahnungsvolles Eindringen in das Spiel dunkel waltender Mächte, durch eine Lebendigkeit des Ausdrucks, in dem die sinnliche Anschauung sich naturwahr spiegelt, können wir versuchen das All zu umfassen und zu beschreiben, wie es die Würde des großartigen Wortes Kosmos, als Universum, als Weltordnung, als Schmuck des Geordneten, erheischt. Möge dann die unermeßliche Verschiedenartigkeit der Elemente, die in ein Naturbild sich zusammendrängen, dem harmonischen Eindruck von Ruhe und Einheit nicht schaden, welcher der letzte Zweck einer jeden litterarischen oder rein künstlerischen Composition ist.« 28
Jedoch versteht Humboldt Weltbeschreibung nicht wie Du Bois-Reymond als Gegensatz zur Welterklärung durch die Naturwissenschaften. Vielmehr ist Humboldts Programm zugleich ein beschreibendes und ein erklärendes Vorhaben. Nicht bloße Darstellung der Vielfalt 28
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von Einzelbildungen, sondern die Erkenntnis und Erklärung des Zusammenhangs, die Erforschung des Gemeinsamen, ist der höchste Zweck der »physischen Weltbeschreibung«. Dabei entsteht der Zusammenhang aus der Beschreibung als wissenschaftlich fassbares – man könnte sagen – ›ökologisches‹ Gefüge: »Der höchste Zweck der physischen Erdbeschreibung ist aber, […], Erkenntnis der Einheit in der Vielheit, Erforschung des Gemeinsamen und des inneren Zusammenhanges in den tellurischen Erscheinungen. Wo der Einzelheiten erwähnt wird, geschieht es nur, um die Gesetze der organischen Gliederung mit denen der geographischen Vertheilung in Einklang zu bringen. Die Fülle der lebendigen Gestaltungen erscheint, nach diesem Gesichtspunkte geordnet, mehr nach Erdzonen, nach Verschiedenheit der Krümmung isothermer Linien, als nach der inneren Verwandtschaft, oder nach dem, der ganzen Natur inwohnenden Principe der Steigerung und sich individualisirenden Entfaltung der Organe. Die natürliche Reihenfolge der Pflanzen- und Thier-Bildungen wird daher hier als etwas Gegebenes, der beschreibenden Botanik und Zoologie Entnommenes betrachtet. So ist es die Aufgabe der physischen Geographie, nachzuspüren, wie auf der Oberfläche der Erde sehr verschiedenartige Formen, bei scheinbarer Zerstreuung der Familien und Gattungen, doch in geheimnisvoller genetischer Beziehung zu einander stehen […], wie die Organismen, ein tellurisches Naturganze bilden, durch Athmen und leise Verbrennungs-Processe den Luftkreis modificiren und, vom Lichte in ihrem Gedeihen, ja in ihrem Dasein prometheisch bedingt, trotz ihrer geringen Masse, doch auf das ganze äußere Erde-Leben (das Leben der Erdrinde) einwirken.« 29
Das Bild der Natur, das Humboldt hier zeichnet, stellt die naturwissenschaftlich gewendete Form des romantischen Konzepts der Natureinheit dar, wie es etwa Schelling in seiner Weltseele entfaltete. Statt dem romantischen Ideal der Sympathie 30 – ausgedrückt in dem noch für Leibniz 31 wichtigen Motto des Hippokrates Sympnoia panta (Alles atmet gemeinsam) – wird hier im Gedanken eines Kreislaufs der Stoffe auf die Wechselbeziehung der Lebewesen mit ihrer Umwelt hingewiesen. Die geographische Verbreitung von Lebewesen wird anhand der Isothermen – einer von Humboldt geschaffenen bildhaft geographiEbd., S. 55 f. Carl Gustav Carus, Über Lebensmagnetismus und über die magischen Wirkungen überhaupt (1857), Basel: Verlag Benno Schwabe, 1925, S. 84 ff. 31 Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie, in: Leibniz. Philosophische Schriften Bd. 1, hrg. u. übers. v. H. H. Holz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996, S. 467, No. 61. 29 30
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schen Darstellungsweise der Wärmeverteilung auf der Erde – verbunden. Humboldt geht bei all diesen Überlegungen davon aus, dass die Zusammenstellung der Resultate der Beobachtung in einer strukturierten und harmonischen Gesamtbetrachtung die Einsicht in den Kausalzusammenhang fördert. 32 Dabei ist er sich jederzeit darüber im Klaren, dass sein Ansatz angesichts der Fülle der Daten und der Größe des Unternehmens nicht mehr ist, als ein unvollkommener Anfang. So ist auch der geplante Übergang von der Weltbeschreibung zur Welterklärung und damit zur wissenschaftlichen Erfassung des gesuchten Kausalzusammenhangs noch unvollständig. Diese Transzendierung der Beschreibung zur Erklärung wird letztlich zu einem Streben nach dem Unendlichen. 33 Nicht nur die Überlegung, aus dem dargestellten Entwicklungskontext der Natur lasse sich ein genetischer Erklärungsansatz ableiten, sondern auch diese Vorstellung die Erfassung des Ganzen der Natur sei eine unendliche Aufgabe, hat Humboldt mit Goethe und der Romantik gemeinsam. »Eine solche Erinnerung an die Aneinanderreihung der tellurischen Erscheinungen, wie sie das Naturgemälde dargeboten hat, genügt, wie ich glaube, um zu beweisen, daß durch die bloße Zusammenstellung großer und verwickelt scheinender Resultate der Beobachtung die Einsicht in ihren Causalzusammenhang gefördert wird. Die Deutung der Natur ist aber wesentlich geschwächt, wenn man durch zu große Anhäufung einzelner Thatsachen der Naturschilderung ihre belebende Wärme entzieht. So wenig nun in einer, mit Sorgfalt entworfenen, objectiven Darstellung der Erscheinungswelt Vollständigkeit bei Aufzählung der Einzelheiten beabsichtigt worden ist, eben so wenig hat dieselbe erreicht werden sollen in der Schilderung des Reflexes der äußeren Natur auf das Innere des Menschen. […]«. 34 »Das Grundprincip meines Werkes über den Kosmos, […] ist in dem Streben enthalten: die Welterscheinungen als ein Naturganzes aufzufassen; zu zeigen, wie in einzelnen Gruppen dieser Erscheinungen die ihnen gemeinsamen Bedingnisse, d. i. das Walten großer Gesetze, erkannt worden sind; wie man von den Gesetzen zu der Erforschung ihres ursachlichen Zusammenhanges aufsteigt. Ein solcher Drang nach dem Verstehen des Weltplans, d. h. der Naturordnung, beginnt mit Verallgemeinerung des Besondren, mit Erkenntniß der Bedingungen, unter denen die physischen Veränderungen sich gleich-
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mäßig wiederkehrend offenbaren; er leitet zu der denkenden Betrachtung dessen, was die Empirie uns darbietet, nicht aber ›zu einer Weltansicht durch Speculation und alleinige Gedankenentwickelung, nicht zu einer absoluten Einheitslehre in Absonderung von der Erfahrung‹. Wir sind, ich wiederhole es hier, weit von dem Zeitpunkt entfernt, wo man es für möglich halten konnte alle unsere sinnlichen Anschauungen zur Einheit des Naturbegriffs zu concentriren. […] In vielen Gruppen der Erscheinungen müssen wir uns freilich noch mit dem Auffinden von empirischen Gesetzen begnügen; aber das höchste, seltener erreichte Ziel aller Naturforschung ist das Erspähen des Causalzusammenhanges selbst. Die befriedigendste Deutlichkeit und Evidenz herrschen da, wo es möglich wird das Gesetzliche auf mathematisch bestimmbare Erklärungsgründe zurückzuführen. Die physische Weltbeschreibung ist nur in einzelnen Theilen eine Welterklärung. Beide Ausdrücke sind noch nicht als identisch zu betrachten. Was der Geistesarbeit, deren Schranken hier bezeichnet werden, großes und feierliches inwohnt, ist das frohe Bewußtsein des Strebens nach dem Unendlichen, nach dem Erfassen dessen, was in ungemessener, unerschöpflicher Fülle das Seiende, das Werdende, das Geschaffene uns offenbart.« 35
Man sieht also: Humboldts Ziel ist auch das von Du Bois-Reymond. Es geht im Idealfall um die vollständige Erfassung der Kausalgesetzmäßigkeit der Natur. In vollkommener Form dargestellt als mathematischer Formalismus. Allerdings bedeutet die Aufstellung eines solchen Ideals – eines focus imaginarius – für Humboldt keinesfalls eine Entzauberung der Welt. Gegen die, auch in den Reihen der Romantiker, geäußerte Befürchtung, Naturwissenschaft würde unabdingbar zu einer mechanischen und toten Sicht der Natur führen und die vollkommene Aufklärung aller ihrer Geheimnisse bedinge notwendig den Verlust ihres Zaubers, setzt Humboldt die Überzeugung, dass auch in einem umgesetzten Programm der physischen Weltbeschreibung das Gefühl vom Geheimnisvollen und Erhabenen seinen Platz hat. Für Humboldt entsteht durch die Vermessung der Welt und durch das Auffinden numerischer Verhältnisse in ihr, durch sorgfältige naturwissenschaftliche Beobachtung über Mikroskop und Teleskop, eine höhere Kenntnis der Naturgesetze. Dieses hat eine Schärfung des Natursinns zur Folge und geht nicht auf Kosten des Naturgenusses. Statt der Entzauberung entsteht der »Zauber des Unbegrenzten«. 36 Für Humboldt
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Ebd., S. 9 ff. Ebd., Bd. 1, S. 20.
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münden sowohl dunkle Gefühle, als auch die Verkettung sinnlicher Anschauungen und die Tätigkeit der kombinierenden Vernunft in einer übereinstimmenden Einsicht: Nicht die vermeintliche Vielfalt und Heterogenität der Naturerscheinungen bildet die grundlegende Struktur der Wirklichkeit, sondern ein einigendes Band der Ordnung. Allerdings entsteht mit dem Übergang von der bloß gefühlten Ahnung dieser Harmonie zur vernunftmäßigen Gewissheit ein qualitativer Sprung in der Naturerfahrung. »Ich kann daher der Besorgniß nicht Raum geben, zu welcher Beschränkung oder eine gewisse sentimentale Trübheit des Gemüths zu leiten scheinen, zu der Besorgniß, daß, bei jedem Forschen in das innere Wesen der Kräfte, die Natur von ihrem Zauber, von dem Reize des Geheimnißvollen und Erhabenen verliere. Allerdings wirken Kräfte, im eigentlichen Sinne des Worts, nur dann magisch, wie im Dunkel einer geheimnißvollen Macht, wenn ihr Wirken außerhalb des Gebietes allgemein erkannter Naturbedingungen liegt. Der Beobachter, der durch ein Heliometer oder einen prismatischen Doppelspath den Durchmesser der Planeten bestimmt, Jahre lang die Meridian-Höhe desselben Sternes mißt, zwischen dichtgedrängten Nebelflecken telescopische Cometen erkennt, fühlt (und es ist ein Glück für den sichern Erfolg dieser Arbeit) seine Phantasie nicht mehr angeregt, als der beschreibende Botaniker, so lange er die Kelcheinschnitte und die Staubfäden einer Blume zählt […]; aber das Messen und Auffinden numerischer Verhältnisse, die sorgfältige Beobachtung des Einzelnen bereitet zu der höheren Kenntniß des Naturganzen und der Weltgesetze vor. Dem Physiker, welcher […] die ungleich langen Ströme der durch Interferenz sich vernichtenden oder verstärkenden Lichtwellen mißt; dem Astronomen, der mittelst der raumdurchdringenden Kraft der Fernröhre nach den Monden des Uranus […] forscht […]; dem eingeweihten Blick des Botanikers, welcher die Chara-artig kreisende Bewegung der Saftkügelchen in fast allen vegetabilischen Zellen […] erkennt; gewähren die Himmelsräume, wie die blüthenreiche Pflanzendecke der Erde, gewiß einen großartigern Anblick, als dem Beobachter, dessen Natursinn noch nicht durch Einsicht in den Zusammenhang der Erscheinungen geschärft ist. Wir können daher dem geistreichen Burke nicht beipflichten, wenn er behauptet, daß ›aus der Unwissenheit von den Dingen der Natur allein die Bewunderung und das Gefühl des Erhabenen entstehe‹. […] Das Gefühl des Erhabnen, in so fern es aus der einfachen Naturanschauung der Ausdehnung zu entspringen scheint, ist der feierlichen Stimmung des Gemüths verwandt, die dem Ausdruck des Unendlichen und Freien in den Sphären ideeller Subjectivität, in dem Bereich des Geistigen angehört. Auf dieser Verwandtschaft, dieser Bezüglichkeit der sinnlichen Eindrücke beruht der Zauber des Unbegrenzten, sei es auf dem Ocean und im Luftmeere, wo dieses eine isolirte Bergspitze umgiebt, sei es im Weltraume, in den die
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Nebel-auflösende Kraft großer Fernröhre unsere Einbildungskraft tief und ahnungsvoll versenkt. Einseitige Behandlung der physikalischen Wissenschaften, endloses Anhäufen roher Materialien konnten freilich zu dem, nun fast verjährten Vorurtheile beitragen, als müßte nothwendig wissenschaftliche Erkenntniß das Gefühl erkälten, die schaffende Bildkraft der Phantasie ertödten und so den Naturgenuß stören. Wer in der bewegten Zeit, in der wir leben, noch dieses Vorurtheil nährt, der verkennt, bei dem allgemeinen Fortschreiten menschlicher Bildung, die Freuden einer höheren Intelligenz, einer Geistesrichtung, welche Mannigfaltigkeit in Einheit auflöst und vorzugsweise bei dem Allgemeinen und Höheren verweilt. Um dies Höhere zu genießen, müssen in dem mühsam durchforschten Felde specieller Naturformen und Naturerscheinungen die Einzelheiten zurückgedrängt und von dem selbst, der ihre Wichtigkeit erkannt hat und den sie zu größeren Ansichten geleitet, sorgfältig verhüllt werden.« 37
Auch hier eine Reminiszenz an die Romantik und wieder in naturwissenschaftlicher Wendung: Die romantische Suche nach dem »ozeanischen Gefühl« (Freud) bei mystisch-religiöser oder poetischer Verschmelzung unsres Daseins im Unermesslichen 38 wird von Humboldt auch zu einem wissenschaftlichen Motiv erklärt. Wieder nutzt Humboldt ein Grundkonzept der Romantik, indem er die Leitidee des Unendlichen in Verbindung bringt mit der Metapher der Bergwanderung zum hohen Aussichtspunkt einer allgemeinen Weltanschauung als der naturwissenschaftlichen Weise, das Sinnlich-Unendliche zu erfahren. Die generalisierende Perspektive der Weltbeschreibung führt deshalb nach Humboldt zu einem höheren und geläuterten Begriff auch von der Würde und Größe der Natur. So wird nicht nur der Geist geläutert und beruhigt, sondern es wird zugleich jeder Organismus als Teil des Ganzen erkennbar, jedes individuelle Geschehen wird zum Glied in der Gesamtheit der verketteten Naturformen. Das synthetische Anliegen, das in Humboldts Versuch einer engen Verzahnung von empirischer Forschung und Gesetzeswissenschaft oder von Naturgefühl und Naturwissenschaft zum Ausdruck kommt, basiert letztlich auf einer Skepsis gegenüber dem Cartesianischen Dualismus von Natur und Geist. Die Unterscheidung zwischen Physischem und Intellektuellem ist hiervon allerdings ausgenommen. Wissenschaft beEbd., Bd. 1, S. 19 ff. Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München: Carl Hanser, 2007, S. 143. 37 38
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ginnt für Humboldt erst dort, wo sich der Intellekt des Stoffes bemächtigt und wo der Versuch unternommen wird, die Masse der Erfahrungen der Vernunfterkenntnis zu unterwerfen. Gerade deshalb besteht jedoch eine innige Verbindung zwischen Natur und Geist, denn die Außenwelt existiert für uns nur, insofern wir sie in einer Naturanschauung aufnehmen. Die wissenschaftliche Naturbeschreibung, das Naturgefühl, die Naturpoesie mittels der Einbildungskraft, die Landschaftsmalerei – alles dieses sind Varianten und jeweils verschiedene innere Reflexe auf äußere Erscheinungen. Alle genannten Phänomene können deshalb als Beleg für die Verbindung zwischen Geist und Natur dienen. Will man die Natur in ihrer ganzen erhabenen Größe schildern, dann darf man folglich nicht bei den äußeren Erscheinungen stehen bleiben, sondern man muss die Natur auch so darstellen, wie sie sich im Inneren des Menschen spiegelt. Der höhere Standpunkt des Kosmos bedeutet somit auch den Versuch, beide Sphären gleichermaßen in »lichtvoller Klarheit« darzustellen: die äußere, durch die Sinne wahrnehmbare Welt und die innere, reflektierte, geistige Welt. »Man mag nun die Natur dem Bereich des Geistigen entgegensetzen, als wäre das Geistige nicht auch in dem Naturganzen enthalten, oder man mag die Natur der Kunst entgegenstellen, letztere in einem höheren Sinne als den Inbegriff aller geistigen Productionskraft der Menschheit betrachtet; so müssen diese Gegensätze doch nicht auf eine solche Trennung des Physischen vom Intellectuellen führen, daß die Physik der Welt zu einer bloßen Anhäufung empirisch gesammelter Einzelheiten herabsinke. Wissenschaft fängt erst an, wo der Geist sich des Stoffes bemächtigt, wo versucht wird, die Masse der Erfahrungen einer Vernunfterkenntniß zu unterwerfen; sie ist der Geist, zugewandt zu der Natur. Die Außenwelt existirt aber nur für uns, indem wir sie in uns aufnehmen, indem sie sich in uns zu einer Naturanschauung gestaltet. So geheimnisvoll unzertrennlich als Geist und Sprache […], eben so schmilzt, uns selbst gleichsam unbewußt, die Außenwelt mit dem Innersten im Menschen, mit dem Gedanken und der Empfindung zusammen. ›Die äußerlichen Erscheinungen werden so‹, wie Hegel sich in der Philosophie der Geschichte ausdrückt, ›in die innerliche Vorstellung übersetzt.‹ Die objective Welt, von uns gedacht, in uns reflectirt, wird den ewigen, nothwendigen, alles bedingenden Formen unserer geistigen Existenz unterworfen. Die intellectuelle Thätigkeit übt sich dann an dem durch die sinnliche Wahrnehmung überkommenen Stoffe. Es liegt daher schon im Jugendalter der Menschheit, in der einfachsten Betrachtung der Natur, in dem ersten Erkennen und Auffassen eine Anregung zu naturphilosophischen Ansichten. […].«39 39
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»Wir treten aus dem Kreise der Objecte in den Kreis der Empfindungen. Die Hauptresultate der Beobachtung, wie sie, von der Phantasie entblößt, der reinen Objectivität wissenschaftlicher Naturbeschreibung angehören, sind, eng an einander gereiht, in dem ersten Bande dieses Werks, unter der Form eines Naturgemäldes, aufgestellt worden. Jetzt betrachten wir den Reflex des durch die äußeren Sinne empfangenen Bildes auf das Gefühl und die dichterisch gestimmte Einbildungskraft. Es eröffnet sich uns eine innere Welt. Wir durchforschen sie, nicht um in diesem Buche von der Natur zu ergründen, – wie es von der Philosophie der Kunst gefordert wird –, was in der Möglichkeit ästhetischer Wirkungen dem Wesen der Gemüthskräfte und den mannigfaltigen Richtungen geistiger Thätigkeit zukommt; sondern vielmehr um die Quelle lebendiger Anschauung, als Mittel zur Erhöhung eines reinen Naturgefühls, zu schildern, um den Ursachen nachzuspüren, welche, […] durch Belebung der Einbildungskraft so mächtig auf die Liebe zum Naturstudium und auf den Hang zu fernen Reisen gewirkt haben. […] Um die Natur in ihrer ganzen erhabenen Größe zu schildern, darf man nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen; die Natur muß auch dargestellt werden, wie sie sich im Inneren des Menschen abspiegelt, wie sie durch diesen Reflex bald das Nebelland physischer Mythen mit anmuthigen Gestalten füllt, bald den edlen Keim darstellender Kunstthätigkeit entfaltet.« 40 »Naturbeschreibungen, wiederhole ich hier, können scharf umgrenzt und wissenschaftlich genau sein, ohne daß ihnen darum der belebende Hauch der Einbildungskraft entzogen bleibt. Das Dichterische muß aus dem geahndeten Zusammenhange des Sinnlichen mit dem Intellectuellen, aus dem Gefühl der Allverbreitung, der gegenseitigen Begrenzung und der Einheit des Naturlebens hervorgehen. Je erhabener die Gegenstände sind, desto sorgfältiger muß der äußere Schmuck der Rede vermieden werden. Die eigentliche Wirkung eines Naturgemäldes ist in seiner Composition begründet; jede geflissentliche Anregung von Seiten dessen, der es aufstellt, kann nur störend sein. Wer, mit den großen Werken des Alterthums vertraut, in sicherem Besitze des Reichthums seiner Sprache, einfach und individualisirend wiederzugeben weiß, was er durch eigene Anschauung empfangen, wird den Eindruck nicht verfehlen; er wird es um so weniger, als er, die äußere, ihn umgebende Natur und nicht eine eigene Stimmung schildernd, die Freiheit des Gefühls in anderen unbeschränkt lässt. […].« 41 »Wie eine lebensfrische Naturbeschreibung, so ist auch die Landschaftsmalerei geeignet die Liebe zum Naturstudium zu erhöhen. Beide zeigen uns die Außenwelt in ihrer ganzen gestaltenreichen Mannigfaltigkeit; beide sind fä40 41
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hig, nach dem Grade eines mehr oder minder glücklichen Gelingens in Auffassung der Natur, das Sinnliche an das Unsinnliche anzuknüpfen. Das Streben nach einer solchen Verknüpfung bezeichnet das letzte und erhabenste Ziel der darstellenden Künste. Diese Blätter sind durch den wissenschaftlichen Gegenstand, dem sie gewidmet sind, auf eine andere Ansicht beschränkt: es kann hier der Landschaftsmalerei nur in der Beziehung gedacht werden, als sie den physiognomischen Charakter der verschiedenen Erdräume anschaulich macht, die Sehnsucht nach fernen Reisen vermehrt, und auf eine eben so lehrreiche als anmuthige Weise zum Verkehr mit der freien Natur anreizt. […].« 42 »Alle diese Mittel, deren Aufzählung recht wesentlich in ein Buch vom Kosmos gehört, sind vorzüglich geeignet die Liebe zum Naturstudium zu erhöhen; ja die Kenntniß und das Gefühl von der erhabenen Größe der Schöpfung [zu vermehren, meine Ergänzung K. K.] […]. Der Begriff eines Naturganzen, das Gefühl der Einheit und des harmonischen Einklanges im Kosmos werden um so lebendiger unter den Menschen, als sich die Mittel vervielfältigen die Gesammtheit der Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern zu gestalten.« 43
In Humboldts Ansatz finden also die zwei Kulturen zusammen. Angesichts aktueller Wissenschaftsdispute nach Art von Science Wars 44 könnte dieses Vermittlungsangebot eine Alternative bieten. Es bleibt diesbezüglich jedoch zu bedenken, dass auch bei Humboldt eine klare Hierarchie der Wissenschaften und der Seelenvermögen vorausgesetzt wird: Es sind die Naturwissenschaft und die vernunftmäßige Durchdringung der Empirie, die für ihn die Spitze der Naturerkenntnis und den momentanen Endpunkt der historischen Entwicklung der physischen Weltbeschreibung bilden. Die dargestellte zwiefache Richtung seines Schaffens – die naturwissenschaftliche und die ästhetische Seite –, die Humboldt etwa in den Vorreden zu den Ansichten der Natur (1807/1849) hervorhebt sowie sein Versuch, eine harmonische Einheit zwischen beiden Seiten herzustellen, bilden das letzte wichtige Verbindungsstück zwischen Humboldt und Goethe. Auch Humboldt will zugleich durch lebendige Ebd., S. 76. Ebd., S. 94. 44 Andrew Ross (Hg.), Science Wars. Toward a critique of scientific rationality, Durham: Duke University Press, 1996.; Keith M. Ashman & Philip Baringer (Hg.), After the Science wars, New York: Routledge, 2001. 42 43
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Darstellung den Naturgenuss erhöhen und durch harmonische Zusammenstellung der Daten den Stand der Naturwissenschaft auf ein höheres Niveau führen: »Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt: sind die Zwecke, nach denen ich strebe. Jeder Aufsatz sollte ein in sich geschlossenes Ganzes ausmachen, in allen sollte eine und dieselbe Tendenz sich gleichmäßig aussprechen. Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der Composition. Reichthum der Natur veranlaßt Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Styl leicht in eine dichterische Prosa aus. Diese Ideen bedürfen hier keiner Entwickelung, da die nachstehenden Blätter mannigfaltige Beispiele solcher Verirrungen, solchen Mangels an Haltung darbieten. Mögen meine Ansichten der Natur, trotz dieser Fehler […] dem Leser doch einen Theil des Genusses gewähren, welchen ein empfänglicher Sinn in der unmittelbaren Anschauung findet. Da dieser Genuß mit der Einsicht in den inneren Zusammenhang der Naturkräfte vermehrt wird, so sind jedem Aufsatze wissenschaftliche Erläuterungen und Zusätze beigefügt.« 45 »Die zwiefache Richtung dieser Schrift (ein sorgsames Bestreben, durch lebendige Darstellungen den Naturgenuß zu erhöhen, zugleich aber nach dem dermaligen Stande der Wissenschaft die Einsicht in das harmonische Zusammenwirken der Kräfte zu vermehren) ist in der Vorrede zu ersten Ausgabe, fast vor einem halben Jahrhundert, bezeichnet worden. Es sind damals schon die mannigfaltigen Hindernisse angegeben, welche der ästhetischen Behandlung großer Naturscenen entgegenstehn. Die Verbindung eines litterarischen und eines rein scientifischen Zweckes, der Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern: machen die Anordnung der einzelnen Theile und das, was als Einheit der Composition gefordert wird, schwer zu erreichen. Trotz dieser ungünstigen Verhältnisse hat das Publikum der unvollkommenen Ausführung meines Unternehmens dauernd ein nachsichtsvolles Wohlwollen geschenkt.« 46
Seinem inhaltlichen Anliegen trägt Humboldt immer auch in der formalen Gestaltung seiner Werke Rechnung. Während jedoch die Ro45 Alexander Humboldt, Ansichten der Natur (1807/1849), Nördlingen: Greno, 1986, S. 7 f. 46 Ebd., S. 9.
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mantik die Einheit des Seins in seiner Vielfalt auf die Textur der Argumentationssysteme überträgt und diese zu Fragment- oder Aphorismensammlungen umformt 47 , greift Humboldt zu anderen stilistischen Mitteln: Er weist beispielsweise dem Haupttext seiner Arbeiten eine andere literarische Funktion zu als den Fußnoten und erzeugt so zwei parallele, aufeinander verweisende Texte 48. In den Ansichten der Natur transportiert beispielsweise der Haupttext das poetische Anliegen und stellt einen nach dichterischen Maximen komponierten Essay über den Gesamtzusammenhang einer bestimmten geographischen Region dar, während die Fußnoten die naturwissenschaftliche Datensammlung der Einzelfakten ergänzen. Im Kosmos bleiben hingegen beide Texte dem Programm der physischen Weltbeschreibung verpflichtet: Wieder liefert jedoch der Haupttext eine anschauliche und zusammenfassende Darstellung und die Fußnoten ergänzen die Fülle der Einzelfakten. Humboldt ist sich stets im Klaren darüber, dass die sprachliche Fassung seiner Überlegungen selbst den intendierten Inhalten gemäß sein muss: »Gedanken und Sprache stehen aber in innigem alten Wechselverkehr mit einander. Wenn diese der Darstellung Anmuth und Klarheit verleiht, wenn durch ihre angestammte Bildsamkeit und ihren organischen Bau sie das Unternehmen begünstigt, die Totalität der Naturanschauung scharf zu begrenzen; so ergießt sie zugleich, und fast unbemerkt, ihren belebenden Hauch auf die Gedankenfülle selbst. Darum ist das Wort mehr als Zeichen und Form, und sein geheimnißvoller Einfluß offenbart sich am mächtigsten da, wo er dem freien Volkssinn und dem eigenen Boden entsprießt. […] Hochbeglückt dürfen wir den nennen, der bei der lebendigen Darstellung der Phänomene des Weltalls aus den Tiefen einer Sprache schöpfen kann, die seit Jahrhunderten so mächtig auf Alles eingewirkt hat, was durch Erhöhung und ungebundene Anwendung geistiger Kräfte, in dem Gebiete schöpferischer Phantasie, wie in dem der ergründenden Vernunft, die Schicksale der Menschheit bewegt.« 49
Auch in dieser Überlegung werden nicht nur die Einflüsse Georg Christoph Lichtenbergs oder Georg Forsters deutlich, sondern ebenso Kristian Köchy, Perspektiven der Welt: Vielfalt und Einheit im Weltbild der deutschen Romantik, in: Philosophia naturalis 33 (2), 1996, S. 317–342. 48 Vgl. auch Hanno Beck, Zu den Anmerkungen in Alexander von Humboldts ›Kosmos‹, in: Herbert Kessler (Hg.), Die Dioskuren. Probleme in Leben und Werk der Brüder Humboldt, Mannheim: Verlag Humboldt-Gesellschaft, 1986, S. 242–251. 49 Humboldt, Kosmos, a. a. O., Bd. 1, S. 40. 47
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das Programm der Ästhetisierung der Naturwissenschaften wie es vor allem mit dem Namen Goethe verbunden ist. Hier wie dort ist die Kombination von Kunst und Wissenschaft einer bestimmten Vorstellung vom Untersuchungsobjekt und dem Zweck der Untersuchung geschuldet. Hier wie dort geht es um adäquate Darstellung eines Totaleindrucks von Natur als einer harmonischen Verbindung mannigfaltiger Glieder, wobei sowohl die Dynamik der Interaktion als auch die Struktur des Ganzen angemessen zur Geltung kommen sollen. Zugleich ist Humboldt mit seiner Befürwortung des Einsatzes der neuesten Messverfahren und -instrumente, mit seiner betonten Hochschätzung der Mathematik, mit seiner Ausrichtung auf exakte Beobachtung und Vermessung jedoch auch der Idealtypus eines analytischen Forschers in Du Bois-Reymonds Sinne. Alexander von Humboldt repräsentiert deshalb wie kein anderer eine Vermittlungsinstanz zwischen dem goethischen und dem analytischen Forschungsideal. Diese Einschätzung bestätigt auch die nachträgliche Würdingung von Humboldts Anliegen durch die Vertreter beider Strömungen, wie die beiden abschließenden Zitate belegen: »[…] Die Gegenwart des Herrn Bergrat v. Humboldt macht mir […] eine ganz besondere Epoche […] ich darf ihn wohl in seiner Art einzig nennen, denn ich habe niemanden gekannt, der mit einer so bestimmt gerichteten Tätigkeit eine solche Vielseitigkeit des Geistes verbände, es ist inkalkulabel, was er noch für die Wissenschaft tun kann […].« 50 »Den meisten des heutigen Geschlechtes steigt bei seinem Namen das Bild des Verfassers des Kosmos […] auf […]. Der wahre Humboldt ist [jedoch K. K.] nicht der wunderbare, darum aber nicht minder verfallene Greis gewesen, zu dem wir ehrfürchtig emporsahen. Der wahre Humboldt war der kühne, schöpferische, von den edelsten Strebungen durchglühte dreißigjährige Mann, der am 16. Juli 1799 den Fuß auf den südamerikanischen Kontinent setzte, dessen zweiten Entdecker die Wissenschaft ihn nennt; der, ein Meister in jeder Beobachtungs- und Versuchsweise, in den Wildnissen des Orinocos, auf den Höhen der Andes, rastlos Wissensschätze sammelte, während vor seinem inneren Auge die ›Ansichten der Natur‹ sich künstlerisch gestalteten.« 51
50 Goethe an Johann Friedrich Unger zit. n. Krätz, Alexander von Humboldt. Wissenschaftler – Weltbürger – Revolutionäre, a. a. O., S. 119. 51 Du Bois-Reymond, Aus den Llanos. Anzeige und Nekrolog, 1912, Bd. 2, S. 46 f.
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Adolphe Quetelet: Sprache und Wirklichkeitsmacht der Bevlkerungsstatistik Petra Gehring
»Die erste und grundlegende Regel besteht darin, die sozialen Tatbestände als Dinge zu behandeln.« Emil Durkheim (1894)
Mit Adolphe Quetelet möchte ich den Werkzusammenhang eines Autors zu Wort kommen lassen, dessen Name selten genannt wird. Ich weiß nicht, wie viele – sagen wir: deutschsprachige Physiker oder deutschsprachige Soziologen von ihm schon einmal gehört haben. Mitte des 19. Jahrhunderts war Quetelet hingegen weit über Fachkreise hinaus bekannt. Er polarisierte, provozierte das Realitätsgefühl seiner Zeit, und die mathematisch angeleitete Methodenrevolution, die sich mit seinem Namen verbindet, strahlte aus in eine Fülle von Disziplinen. Im Nachhinein wird man sogar sagen: Quetelets Name steht für einen epistemischen Einschnitt – womöglich für einen der wirkungsreichsten Schritte, den Mathematik überhaupt je in ein Anwendungsfeld hinein getan hat. Dieser Einschnitt gehört zu den direkten Entstehungsbedingungen der Soziologie, und mit ihm verwandelte sich in sehr kurzer Zeit der gesamte Bereich des politischen Wissens. Es entstanden die uns heute vertrauten öffentlichen Selbstwahrnehmungstechniken des modernen Sozialstaats. Wohlfahrt wurde flexibel messbar – und mehr noch: messbar wurde das soziale Ganze selbst. Quetelet formulierte das Grundschema einer neuen Mathematisierung des Sozialen: die Gewissheit, es gebe da eine Art Naturobjekt namens »Gesellschaft«, das sich in einer bestimmten Logik der Beziehung des Ganzen zu seinen Teilen zeigt und tiefenscharf darstellen lässt. Womit diese Logik zum Gegenstand ganz neuer »politischer Technologien« werden kann, wie François Ewald es genannt hat. 1 Ewald interessiert sich insbesondere für die »Technologie des Risikos«, also die Versicherungsmathematik. Vgl. François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M.: Suhr-
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Im Zuge des überwältigenden Erfolges desjenigen wissenschaftlichen, aber auch populären Diskurses, dem er maßgeblich seine Instrumente und Sprache verliehen hat, wurde Quetelet bemerkenswerter Weise schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend vergessen. Die Gründe sind gewiss vielfältig. Ich komme darauf noch zurück.
1. Betrachten wir zunächst das Tun und die Texte Quetelets. Will man sein Arbeitsgebiet in mathematischer Hinsicht charakterisieren, so handelt es sich um das Feld der Wahrscheinlichkeitsrechung, also der Zufallsmathematik, die im 17. Jahrhundert mit Pascal und Jakob Bernoulli (zunächst auf der Basis von Überlegungen zum Würfelwurf) entstand und die sich im 18. Jahrhundert nicht nur weiterentwickelte, sondern auch bereits eine Fülle von Anwendungsgebieten suchte: im entstehenden Versicherungs- und Rentenwesen, im Wahlrecht, in der Rechtsprechung, im Außenhandel und in der entstehenden Bevölkerungspolitik – indem man nämlich die Geburtenzahl, die Zahl der Todesfälle und die aktuelle Kopfzahl der Bewohner als Grundgrößen der staatlichen Ökonomie erkannte. Und auch als Größen, die es wissenschaftlich möglichst fundiert zu steuern galt (zugunsten einer »guten Policey«, wie es noch wenige Jahrzehnte zuvor hieß). Die moralische Problematik dieser neu entdeckten Steuerungsnotwendigkeit wurde insbesondere deutlich mit den spektakulären Thesen des britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766–1834). Im Jahr 1792 rechnete Malthus erstmals vor, dass eine Population, die sich ohne Armut, Kindersterblichkeit, Krankheiten und Hunger vermehrte, in kürzester Zeit derart schnell wachsen würde, dass sie das Gemeinwesen ruiniert. Regierungen müssten das Bevölkerungswachstum bremsen, Armut und Kindstod seien daher nichts Bedauernswertes, sondern nützlich, so lautete die malthusianische Botschaft. Bedürftige Neugeborene dürfe die öffentliche Hand nicht unterstützen. Die Politik müsse vielmehr kamp, 1993, S. 173 ff. Ganz sicher zählen aber auch die massenmedialen Vermittlungstechniken von Wohlfahrtspolitik (eine neue Bildrhetorik) zu den politischen Technologien, die sich dem durch Quetelet initialisierten Diskurs verdanken. Jürgen Link behandelt diese unter der Überschrift »Normalismus«, vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998.
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dafür sorgen, dass die Schwachen früh sterben. Für das gerade frisch aufgeblühte Fortschrittsdenken der aufgeklärten bürgerlichen Öffentlichkeit waren Malthus’ Thesen ein Schock und eine Provokation. In der reinen Mathematik spielte die Musik woanders. Durch die Arbeiten der Mathematiker Pierre-Simon Laplace (1749–1827) und Johann Carl Friedrich Gauss (1777–1855) wurde die mathematische Behandlung der Wahrscheinlichkeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf eine neue, gesicherte Grundlage gestellt. Man kann sie so umschreiben, dass nun erstmals die allgemeine Verteilung zufälliger Ereignisse in mathematisch-gesetzmäßiger Form fassbar schien. Unterstellt man – so die entscheidende Überlegung –, dass es einen reinen Zufall gibt, und nimmt man an, dass eine hinreichend große Zahl von Einzeleinflüssen auf als zufällig bestimmt zu betrachtende Variablen wirkt, so nimmt die gemessene Verteilung dieser Variablen, je mehr Messdaten ich habe, umso genauer die Form einer Glockenkurve an. 2 Fast jeder kennt diese Kurve – sie erinnert tatsächlich an eine Glocke mit zwei symmetrisch abfallenden Seiten, wird später, am Ende des 19. Jahrhunderts, »Normalverteilung« heißen. 3 Sie gehört bis heute zu den wichtigsten Errungenschaften der Mathematik – auch wenn eine ihrer wichtigen Voraussetzungen, nämlich die Annahme eines ›real existierenden‹ Zufalls, also eines deterministischen Universums4, in der Zeit nach Laplace eigentlich schon bald wieder verloren geht. Lambert Adolphe Jacques Quételet (1796–1874), geboren in Gent, also im flämischen Teil Belgiens, wo er auch studiert, ist ebenfalls Mathematiker und eine Generation jünger als Gauß. Quetelet promoviert über Kegelschnitte, wird 1815 Dozent der Mathematik, arbeitet dann am Belgischen Landesamt für Statistik und wird 1828 Direktor einer unter seiner Leitung errichteten Sternwarte in Brüssel. Neben diesem astronomischen Hauptberuf ist Quetelet ab 1841 Präsident der statistischen Zentralkommission für Belgien. Von ungefähr kommt das nicht, denn in der Zwischenzeit kennt man ihn nicht nur unter FachgelehrDie dazugehörige Formel ex2 stammt von Gauß und wurde (hinsichtlich der Fehlerfrage) durch Laplaces’ Zentralen Grenzwertsatz gesichert und ergänzt. 3 Diesen Ausdruck prägt der Statistiker Karl Pearson im Jahr 1894. 4 Wie immer man die Treffsicherheit der wahrscheinlichkeitsmathematischen Instrumente einschätzt: Es ist ein Faktum (und, was die Axiomatisierung sozialer Normalitäten angeht, ein Problem), dass ohne die Annahme, die Gesellschaft bilde eine geschlossene und determinierte Ganzheit, die Annahme einer Normalverteilung (der symmetrischen Kurve nach Gauß) keine Grundlage hat. 2
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ten, sondern auch in einer breiteren Öffentlichkeit sowie in der Politik durch etliche Publikationen im Bereich der mathematischen Statistik. Aufsehenerregend sind Quetelets Arbeiten, weil sie sich in gut lesbarer Form von vornherein auf die Frage der Anwendung der neuen probabilistischen, also wahrscheinlichkeitstheoretischen Instrumente konzentrieren. Quetelet interessiert sich dabei insbesondere für die Bedeutung der zufallsmathematischen Verfahren für denjenigen Bereich, in welchem sich die Mathematik unter der Bezeichnung politische Arithmetik bis dahin einen eher fragwürdigen Ruf erworben hatte: die staatliche Sozialpolitik.
2. Mit großem Schwung ergreift Quetelet die wahrscheinlichkeitsmathematischen Werkzeuge seiner Zeit und entwickelt sie an Anwendungsbeispielen weiter – und dies in einer Form, die es auch Juristen, Verwaltungsleuten und mathematisch mehr oder weniger unbedarften Politikern leicht macht, die Welt, mit der sie zu tun haben, anschaulich wiederzuerkennen. Quetelet präsentiert die Wahrscheinlichkeitsrechnung als ein Werkzeug, mit dem man flexibel arbeiten kann. Sur l’homme et le développement de ses facultés, ou essai de physique sociale, also: Abhandlung über soziale Physik, heißt nach diversen kleineren Arbeiten Quetelets erstes umfassendes Werk, das 1835 erscheint. »Soziale Physik« – das ist nicht als Metapher gemeint. Tatsächlich will (und kann) Quetelet seinen Lesern die Augen dafür öffnen, dass mit einem richtig gehandhabten statistischen Werkzeug sich eine quasi physikalische Natur der Gesellschaft ermitteln lässt – denn es gibt nicht nur in einem allgemeinen Sinne sittliche Regeln des sozialen Ganzen, sondern die Gesetze des Sozialen sind Gesetze einer Natur im physischen Sinne: Naturgesetze eines aus Menschen gebildeten Gesellschaftskörpers. Gern verwendet Quetelet die Astronomie als Leitbild, um zu verdeutlichen, welchen Optimismus gerade der an die Suche nach präzisen Gesetzen gewöhnte Astronom in Bezug auf die Möglichkeit empfindet, ähnlich präzise Gesetze für die Welt des Menschen zu finden. Schon immer, so Quetelet, hätten ja Astronomen ihre Suche nach harmonischen Gesetzmäßigkeiten auch auf andere Gebiete als den Himmel gerichtet. Kepler habe sich mit dem Pulsschlag befasst und die ersten 99 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Mortalitätstafeln, also Sterbeverzeichnisse, stammten von dem Astronomen Halley: Die Astronomie zeigt eine so wunderbare Übereinstimmung unter den Resultaten der Beobachtung, und denen, welche das Weltsystem regieren, dass es gewiss nicht befremdend seyn kann, wenn der Astronom an Gesetze der Natur glaubt, und es wagt, auch die zu bestimmen, die sich auf die belebten Wesen beziehen, welche die Oberfläche der Kugel, die der beständige Gegenstand der Forschung ist, bewohnen, und deren Geschlechter sich mit einer solchen Ordnung folgen. Man darf sich also nicht wundern, wenn er seine Hoffnungen höher erhebt, und auf die politischen und moralischen Wissenschaften dieselbe auf Beobachtung und Rechnung gegründete Methode anzuwenden versucht, die ihm in den Naturwissenschaften so wesentliche Dienste geleistet hat. 5
Quetelet wählt seine Beispiele für die Untersuchung der »belebten Wesen« auf der Oberfläche der »Kugel« Erde zunächst aus dem Bereich der körperlichen Beschaffenheit des Menschen – und er verbindet dies mit einem Appell für einen Perspektivwechsel: Man benötige etwa im Bereich der Körpergröße und auch der physiologischen Daten nicht primär ein Wissen über die ungewöhnlichen Fälle und die Kranken, sondern ein Wissen über alle, auch die gewöhnlichen Fälle und die Gesunden. Gerade in der Heilkunde habe man sich auf die Anomalien konzentriert und dadurch »zu oft den Normalzustand aus den Augen verloren«, man habe, »erstaunt über die unendlichen Varietäten der Einzelnen, die Hoffnung aufgegeben, mitten unter diesen Varietäten allgemeine Typen für die verschiedenen Alter und regelmässige Gesetze [von] deren Verbindung zu erkennen.« 6 Man kann, um die künftigen Fortschritte dieser Wissenschaften und die Kenntnis des Menschen im Allgemeinen zu erleichtern, sich nicht genug beeilen, schon jetzt alles an ihm zu messen, was durch Maasse und Zahlen geschätzt werden kann, wobei man sorgfältig von den Ursachen Rechnung zu halten hat, durch die die Resultate verändert werden können. Solange es auf das Physische ankommt, fehlen weder Mittel noch Methoden der Messung. Was kann einfacher seyn, als den Wuchs der Menschen in den verschiedenen Altern zu messen, sein Gewicht anzugeben, seine Kraft durch Kraftmesser zu schätzen u. s. w.? 7 Ueber den Menschen und die Gesetze seiner Entwickelung, Jahrbuch für Statistik 1839, S. 181 6 Ueber den Menschen, a. a. O., S. 183. 7 Ebd., S. 184. 5
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Am Beispiel der Körpergröße von Männern und Frauen und auch an Tabellen über den Gesundheitszustand von Rekruten zeigt Quetelet, dass in der Tat nicht nur die Messzahlen sondern auch eine bestimmte Verteilung von Eigenschaften mit atemberaubender Regelmäßigkeit wiederkehrt: Die Körpergröße von Männern und Frauen steigt bis zu einem gewissen Alter und sinkt dann wieder – wobei die Differenz zwischen den Geschlechtern erhalten bleibt. Was aber genau heißt »Körpergröße«, wenn wir von Größenverhältnissen sprechen? Als die ersten Europäer, so Quetelet, seinerzeit den Fuß auf den Boden der südatlantischen Sandwichinseln setzten, waren sie erstaunt über die Schönheit und die Größe der Einwohner, die sie dort antrafen. Aber: Die Behauptung: die Bewohner von Sandwich sind groß, schließt schon mehrere Voraussetzungen ein. Erstlich kann ein Gegenstand nur im Vergleich mit einem andern derselben Art groß genannt werden; also die Sandwichbewohner überhaupt überragten den Wuchs der sie beobachtenden Europäer. Welches war aber die Größe dieser letzteren? Es waren gewiß darunter eben sowohl Große wie Kleine und Leute mittleren Schlags. Man wollte doch nicht von allen gleichzeitig sprechen, sondern hatte offenbar nur die am meisten gemeinschaftlichen, d. i. die von mir als mittlere Größe im Verhältniß zu den Andern bezeichnete im Auge. Aber so ist die Lage der Dinge, daß zu keiner Zeit und bei keinem Volke bisher noch daran gedacht wurde, die menschliche Mittelgröße, und nicht weniger sein Gewicht und die übrigen ihn betreffenden Machtverhältnisse festzustellen. Cäsar erzählt uns von dem hohen Wuchs der Gallier, der derjenigen der Römer weit überragte, aber auf diese unbestimmte Ausführung beschränkte er sich auch. Selbst heut zu Tage ist man kaum weiter in Vergleichung der Völker hinsichtlich ihrer Körpergröße; und doch stehen uns weit weniger Entschuldigungen in diesem Betracht zur Seite, als den Alten. Die Theorie der mittleren Größe war ihnen so zu sagen gänzlich unbekannt, während wir im Gegenteil mit deren Gebrauch völlig vertraut geworden sind, und demselben größtentheils die Vervollkommnung der Bebachtungswissenschaften zu danken haben. Es wäre wahrlich endlich an der Zeit, diese Methode auch in die Wissenschaft vom Menschen einzuführen und die constanten Erscheinungen festzustellen, die ihn charakterisiren. 8
Die »Theorie der mittleren Größe« – das ist nun Quetelets Domäne. Dass wir Durchschnittsgrößen bilden können, ist eine zwar praktisch durchaus hier und da genutzte Tatsache, aber in Bezug auf die mensch-
Adolphe Quetelet, Du système sociale et des lois qui le régissent (Paris 1848), dt. Zur Naturgeschichte der Gesellschaft, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1856, S. 12 f.
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lichen Verhältnisse hat man damit noch niemals wirklich ernst gemacht. Mit anderen Worten: Die Politik muss erstens systematisch Messgrößen erheben, sie muss zweitens aber auch mit diesen Messgrößen arbeiten. Sie muss die Menschen einer Population unter dem Gesichtspunkt der Mittelwerte ihrer verschiedenen Eigenschaften als – in einer berechenbaren Weise »verteilten« – Masse von typischen Eigenschaften interpretieren. Und mehr noch: Nimmt man alle typischen Eigenschaften zusammen, so lässt sich ein mittleres Wesen konstruieren, ein homme moyen, ein mittlerer oder Durchschnittsmensch, der gleichsam die typischen (also die häufigsten) Eigenschaften zum Beispiel des Bürgers eines Staates auf sich vereint. Durch Zusammenstellung der sämmtlichen Personen desselben Alters und Geschlechts und indem man das Mittel ihrer besonderen constanten Erscheinungen nimmt, erhält man (…) constante Erscheinungen, die ich einem ficitven Wesen beilege, das ich den mittleren Menschen (l’homme moyen) des betreffenden Volkes nennen möchte. 9
3. Der »mittlere Mensch«, der Durchschnittsmensch als Kalkulationsgröße für die Politik – diese Erfindung (und auch geniale Wortprägung) ist wahrscheinlich die populärste Leistung Quetelets. Sie rief auch schon zur damaligen Zeit sofort Kritiker und politische Befürchtungen auf den Plan. 10 Denn zwar kennzeichnet Quetelet den mittleren Menschen nicht als reale Erscheinung. Ihm ist sehr wohl klar, dass jeder empirische Mensch sich im Zweifel stets hier und da ein wenig vom Durchschnittsmenschen als einem Modellfall unterscheiden wird. Der mittlere Mensch ist einfach nur ein personifizierter Mittelwert. Aber Quetelet empfiehlt der Politik, sich nach diesem – und damit eben nach dem mathematischen Konstrukt und nicht nach den leibhaftigen Einzelfällen – zu richten. Und er belässt es nicht bei den physischen Eigenschaften, sondern auch das menschliche Verhalten weist ja dieselbe Regelmäßigkeit auf, es lässt sich womöglich sogar noch besser »mitteln« als die bloßen Naturerscheinungen. So gehen etwa (dieses berühmte Beispiel verwendet bereits Laplace) in jedem Jahr fast die gleiche Zahl 9 10
Zur Naturgeschichte, a. a. O., S. 13. Vgl. Der Vorsorgestaat, a. a. O., S. 191 f.
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von Briefen durch die Post der Stadt Paris – und das doch obwohl jeder einzelne von uns ganz und gar selbst entscheidet, wann er einen Brief schreibt und ob überhaupt. Ja sogar die Zahl der schlecht adressierten und daher unzustellbaren oder der nachlässig zugeklebten Briefe ist in jedem Jahr nahezu gleich. Es gibt hier also Gesetze. Selbst dort, wo wir jeweils einzeln einen freien Willen betätigen, spricht alles dafür, dass der freie Wille im Großmaßstab gleichsam verschwindet: Individuen und individuelle Handlungen müssen sich, wie wir schon bemerkt haben, vor unsern Augen verlieren, welche nur Massen betrachten; nun zeigt die Beobachtung, dass für diese die Wirkungen des freien Willens verschwinden, und man nur die Resultate an dem erkennt, was Natur, bürgerliche Einrichtungen, erbliche Gewohnheiten, das Klima und gesellschaftliche Verhältnisse unter den Menschen hervorbringen. 11
Körperliche Konstitution, menschliches Verhalten – nach Quetelet lassen sich auch die moralischen Verhältnisse einer Nation oder einer Region, ihr Eheschließungsverhalten, ihre Kriminalitätsrate nach dem Modell des mittleren Menschen und dazu der Streubreite der jeweiligen Extreme erfassen. Ausdrücklich fordert Quetelet die Etablierung einer Moralstatistik einschließlich Kriminalstatistik – als Wissenschaft wie auch als Ressort des Regierens. Und er findet gerade für die schockierenden Regelmäßigkeiten im Feld der Kriminalität erneut eine griffige Formel. Jede Gesellschaft hat ein »Budget« der Kriminalität, einen traurigen Haushalt des Übels. 12 Die kriminelle Handlung ist im einzelnen zwar willentliches Resultat und, so gesehen, frei. Dennoch ist es eigentlich die Gesellschaft, der Gesellschaftskörper, der ein bestimmtes, für seinen momentanen Zustand typisches Aufkommen an Verbrechen aufweist. Auch diese Botschaft war, wie man sich denken kann, umstritten. 13 Insbesondere unter moralisch-ethischem Blickwinkel wirkt die Feststellung, dass verbrecherische Handlungen einen stabilen Anteil am Normalverhalten haben, geradezu zynisch. Ist Kriminalität etwa ein Naturgesetz? Soll man vor dem statistisch erwiesenen alljährlichen Ueber den Menschen, a. a. O., S. 188. »Es gibt ein Budget, das mit schauerlicher Regelmässigkeit bezahlt wird, das Budget der Gefängnisse, der Bagnios und der Blutgerüste.« Ebd., S. 192. 13 Vgl. Gerd Gigerenzer, Zeno G. Swijtink, Theodore Porter, Lorraine Daston, John Beatty & Lorenz Krüger, Das Reich des Zufalls. Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten, Häufigkeiten und Unschärfen (1989), Heidelberg, Berlin: Springer, 1998, S. 69 f. 11 12
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»Hang zum Verbrechen« resignieren? Quetelet betont das Gegenteil: Richtig verwendet »wird das Gesetz der Nothwendigkeit, das uns auf den ersten Blick erschreckte, gerade im Gegentheil ein trostbringendes Gesetz, und das einzig mögliche Pfand der gesellschaftlichen Verbesserung.« 14 Denn man wird das Instrument der Mittelwertbildung ja nicht nur zur Festschreibung der beobachteten Verhältnisse nutzen. Die Statistik kann und soll der Politik vielmehr gerade auch mögliche Eingreifpunkte in die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Veränderungen anzeigen: Etwa wenn die Kindersterblichkeit oder ein bestimmtes kriminelles Verhalten aufgrund bestimmter Maßnahmen sinkt. Quetelet entwirft seine Wissenschaft also nicht nur zur besseren Kenntnis des Status Quo, sondern als Reforminstrument. Nur die Statistik bringt die Wirkungen – und also auch Erfolge von Sozialpolitik an den Tag.
4. Ich gehe nicht ausführlicher auf das Theorem des Durchschnittsmenschen ein und auch nicht auf Quetelets Mathematik – wiewohl gerade letztere einige Besonderheiten aufweist, so spricht Quetelet von einem »Gesetz der zufälligen Ursachen«, das wir überall aufspüren können, weil es tatsächlich überall den Körper der Gesellschaft durchzieht). Betrachten wir stattdessen die Sprache, derer sich Quetelet bedient, um seine Gegenstände zu plausibilisieren. Denn die Vermittlungsbedürftigkeit seiner sozialen Physik steht ihm offenkundig scharf vor Augen. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf ein raffiniert angelegtes Vergleichsbild lenken, mit welchem Quetelet die Gültigkeit seiner Methode und auch die neue Realität seines Gegenstandes illustriert, die Realität »der« Gesellschaft als einem Naturobjekt analog zu den Objekten der Physik. Vielleicht sollte man auch sagen, dass Quetelet den springenden Punkt seiner neuen Mathematik regelrecht inszeniert – nämlich die zentrale Frage: Wie komme ich denn von der Perspektive der vielen (ungleichen) Einzelfälle tatsächlich zu jenem errechneten Gleichklang, zu jenen gesetzmäßigen Erscheinungen im Großmaßstab. Quetelet vergleicht die Instrumente der Durchschnittswertberechung mit einem Auge. Der Bevölkerungskörper ist aus Zahlen gemacht, aber 14
Ueber den Menschen, a. a. O., S. 193.
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dennoch können wir ihn »sehen«: »Die Gesetze«, räumt Quetelet ein, »welche den einzelnen Menschen betreffen, sind wesentlich verschieden von jenen, welche ihn an die Menschheit ketten.« Das mache das Studium der Sache schwierig. »Um etwas richtig zu beurtheilen«, müsse man einen Standpunkt einnehmen, der alle Einzelheiten seines Gegenstandes erfasse. »Wie die Beschränktheit unseres körperlichen Auges nur einen gewissen Kreis von Gegenständen in entsprechender Entfernung zu umfassen gestattet«, so sei leider auch »unser geistiges Auge« beschränkt 15 : Wenn ich vom Verdecke eines Schiffes aus meine Blicke über den Ocean schweifen lasse, so erblicke ich unendliche Strecken, welche majestätisch an mir vorüberziehen, ohne dass ich die Stelle erkennen kann, wo sie ihren Ausgang genommen haben, noch die, wo sie ihr Ende erreichen. Wenn ich alsdann vom Schiffe herabsteigend in einem kleinen Boote etwa in gleicher Höhe mit der Meeresfläche meinen Standpunkt nehme und meine Aufmerksamkeit auf die kleinen oscillierenden Bewegungen richte, welche die Oberfläche des Wassers kräuseln, so verliere ich sofort das großartige Schauspiel, das mich zuvor beschäftigt hat; noch mehr gewiß, wenn meine Blicke eine Ausdehnung umfaßten, welche die Grenzen der mich tragenden Welle überschreitet, aber ich sehe eine Unendlichkeit von Einzelheiten, welche mir entgangen wären. Ganz so verhält es sich mit dem Schauspiel, welches die Völker darbieten. In einer gewissen Entfernung gesehen, tauchen sie auf, drängen sich in buntem Gemenge und folgen ihren Bestimmungen, ohne maß man in den meisten Fällen Anfang und Ende erfassen könnte, die einen heftig und stolz, die Andern biegsam, geschmeidig und in ihren wunderlichsten Formen sich entfaltend. Die individuellen Eigenthümlichkeiten aber sind kaum bemerkbar; um sie zu erforschen muß man seine ganze Aufmerksamkeit auf sie concentrieren, auf die Gefahr hin, den unermeßlichen Anblick des so durchschifften Völker-Oceans zu verlieren; es gilt, rasch ihre flüchtigen Gestaltungen fest zu halten, welche nur selten über eine gewisse Entfernung hinaus wirken; aber diese Wellen selbst, unter deren Bild wir uns die Völker vorstellen, sind nichts neben einer riesigen Woge, neben der Fluth, welche den Ocean beherrscht und auf ihrem Triumphzuge majestätisch langsam über ihn hinwälzt. Gerade ebenso verschwinden die einzelnen Völker vor der Menschheit im Ganzen. Der gewöhnliche Blick kann diese universelle Bewegung nicht fassen, man könnte nicht hoch genug, seinen Standpunkt wählen, um sie zu begreifen und das Auge hätte nicht durchdringende Kraft genug, um deren Phasen verfolgen zu können. Hier muß uns die Wissenschaft zur Hülfe kommen und die Schwäche unserer Sinne ergänzen. Dann sehen wir die großen Naturgesetze sich offenbaren, und ihre Thätigkeit 15
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findet sich hier viel deutlicher ausgesprochen als in dem Spiel der Wellen, welche unter dem Einflusse untergeordneter, meist unbekannter Ursachen sich bilden, in tausenderlei Formen sich gestalten und wieder zerfallen, indem sie sich an anderen Wellen kreuzen oder sich an den Felsenriffen brechen. In diesem Sinne kann man, je nach der Höhe des Standpunktes, das großartige Schauspiel des Meeres unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten und so kann auch das menschliche Geschlecht zu den verschiedensten Studien den Stoff bieten. Damit solche Forschungen aber vollständig seien, muß man nach Betrachtung der Einzelheiten seinen Standpunkt so oft zu verschieben wissen, bis man auf dem Punkte angelangt ist, wo man die Dinge in ihrer Totalität und in ihrer größten Allgemeinheit erblicken kann. 16
Wenn wir genau hinhören unterscheidet Quetelet hier drei Perspektiven. Die erste: Wir können im Meer ganz nah dran sein, in einem Boot, und sehen dann ganz kleine Wellen, die ihrerseits quasi nur die unruhige Oberfläche von majestätischen großen Wogen sind, die wir sehen können, wenn wir uns auf dem Verdeck eines höheren Schiffes befinden. Die zweite und für die Logik des Gleichnisses entscheidende: Während ich im Boot bin, sehe ich dieses »großartige Schauspiel« der Wogen bis zum Horizont überhaupt nicht. Schon die erste Woge begrenzt meine Rundumsicht. Aber noch die Sicht vom höheren Bootsverdeck aus – also die Perspektive, in der ich nicht mehr die kleinen Wellen, dafür aber die großen Wogen und über die großen Wogenkämme hinweg sehe – ist ihrerseits begrenzt. Und schließlich die dritte Perspektive: Verschieben wir den Standpunkt noch höher, so entfernen wir uns noch einmal weiter vom Wasserniveau. Quetelet erreicht hier die Grenzen seiner eigenen Analogie, heute würden wir vielleicht an den Flugzeugblick denken oder an Satellitenbilder. Wir erkennen dann von ganz weit weg aber eine einzigartig langwellige Woge: die »Flut«, wie es heißt, die ihrerseits den ganzen Ozean noch einmal bewegt. Vielleicht steht uns, seit wir alle wissen, wie Tsunamis sich bilden, in der Tat vor Augen, dass unterhalb seiner Oberflächenwellen das Meer auch als Gesamtmasse und -volumen noch einmal eine Bewegungsdimension hat: unterhalb der Wellenoberfläche gibt es große Strömungen – und auch deren Hebungen und Senkungen kann man bei passendem Abstand sehen. In der Tat teilt Quetelet den Gegenstand seiner sozialen Physik in drei Untersuchungsniveaus auf: Es gibt die Menschen – die Ebene der 16
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kleinen Wellen, auf die man seine ganze Aufmerksamkeit konzentrieren kann, um dann allerdings bereits die große Dünung des Meeres aus den Augen zu verlieren. Dann gibt es zweitens die Ebene der Völker oder Nationen, die wir betrachten, indem wir von den kleinen Wellen absehen. Und drittens gibt es die Ebene der Menschheit, die noch einmal einen weiteren Abstraktionsschritt erfordert. »Hier muss uns die Wissenschaft zur Hülfe kommen und die Schwäche unserer Sinne ergänzen«, heißt es im Text. Dass wir der Wissenschaft bedürfen, um überhaupt etwas (im Bild gesprochen) »zu sehen«, gilt allerdings natürlich bereits für die mittlere Ebene, die statistischen Sachverhalte etwa des Nationalstaates oder überhaupt größerer Populationen. Die suggestive Kraft von Quetelets großartigem Vergleich steckt darin, dass er vermittelt, zwischen einerseits dem Auge, das wir »natürlich« nennen würden (der Erfahrung des Einzelfalls) und andererseits der mathematisch vermittelten Sicht auf die großen Wellen und aufs Ganze gebe es eine einzige, bruchlose und gleichsam stufenlos hin- und hergleitende Bewegung – mit mehr oder weniger Kontinuität. Wir wechseln die Perspektive, aber wir sind immer »wir« und auch das Objekt (der Mensch – die Nation – die Menschheit), das wir von unterschiedlicher Warte aus betrachten, ist immer ein und dasselbe Wesen. Der Zusammenhang des Sozialen ist eins, er ist ein einziger. Die große Wassermasse – der Ozean, ein riesiger Körper – ist auf jeden Fall gegeben. Und die zum Einsatz gebrachte Mathematik, welche die großen Wellen messbar macht, scheint nicht mehr als eine bloße Ergänzung des »gewöhnlichen Blicks« zu sein.
5. Im Text spricht Quetelet vom »Auge der Wissenschaft«. 17 Gleichwohl ist Sehen genau nicht die Praxis, auf welcher die Wahrnehmung von »Bevölkerung« oder statistischen Variablen wie Kleinwuchs, durchschnittliche Wohnmobilität oder Delinquenz beruht. Im Gegenteil: Am Anfang der Statistik steht die standardisierte Erfassung: Die Entscheidung für Messgrößen (und Variablen), Behördenprotokolle, Registriersysteme, Zählungen, die Übersetzungen von Geschriebenem in Ziffern, Tabellierungsverfahren und vor allem Algorithmen. Rechen17
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operationen. Von »Anschauung« haben alle diese Vorgänge nicht viel, denn die Augen der Mathematik sind keine Augen: Wir haben es vielmehr mit Abstraktion zu tun. Genauer: Mit einer Vielzahl von Abstraktionen und einer methodisch angelegten Mischung von Lese- und Rechentechniken, die genau genommen aus kunstvollen Handlungsketten besteht. Eine Widerlegung durch schlichte Erfahrung ist hier definitiv nicht vorgesehen. Tatsächlich ist die Falsifikationsproblematik der statistischen Orientierungsinstrumente, so wie Quetelet sie entwirft, eine Sache für sich. Der Einzelfall und sogar eine Vielzahl von Beobachtungen beweisen nichts. »Falsch« können Datenerhebung und Prozessierung der Daten im Grunde allein dadurch werden, dass die Zahl der Fälle zu gering ist, dass also die Einzelfälle (im Bild: die kleinen Wellen) noch den Blick verstellen. So erzeugt Statistik einen eingebauten Bedarf nach der großen Zahl, in welcher (wie es in einem früheren Zitat hieß) die Freiheit verschwindet und gerade deshalb das Gesetz, die verborgene Natur der Gesellschaft hervortreten kann. Und zwar die objektiv ermittelte eine Natur der einen Gesellschaft – die nicht etwa ein bloßes Konstrukt ist, sondern die uns auch im Einzelfall »eigentlich« trägt, nämlich den Körper der uns bewegenden Notwendigkeiten ausmacht. »Die« Gesellschaft enthält uns – auch wenn wir sie (als eines) nur mit wissenschaftlichen Augen sehen können, sind wir sie. Viele kleine Körper sind der große, auch wenn wir letzteren nicht sehen können. Vergangene Durchschnitte ergeben ein Wachstum oder eine Schrumpfung, eine Degeneration dieses Körpers und so fort. Künftige mögliche Durchschnitte stecken möglich künftige Qualitäten eines Ganzen ab – auch wenn der Einzelne es nie sehen oder fühlen wird. Quetelets Erfindung liegt in der Glaubhaftmachung dieser unsichtbaren Realität.
6. Quetelet will sein Hauptwerk Du système social (1848) lediglich als eine unvollständige Skizze verstanden wissen, als Skizze einer neuen Wissenschaft, die sich Bahn brechen will und die Untersuchung des Menschen in seinen verschiedenen Vereinigungsstufen, vom Individualitätsstande bis zum höchsten Gesellschaftsverbande, der die ganze Menschheit umfaßt, zum Gegenstand hat.
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Jeder Verband schafft einen besondern Körper, dem ein besonderes Leben innewohnt und der seine Geburt, sein Ende und seine Lebensbedingungen hat. Specielle Gesetze liegen der Entwicklung dieser Körper zugrunde und regeln die Geschicke derselben. (…) Der bemerkenswerteste Verband ist der eine Nation bildende. (…) Keine einzige Lebensphase dieses großen Körpers darf unserer Prüfung entgehen; man muß dessen ganzen Entwicklungsgang unter dem Gesichtspunkte der Physik, Moral und Intelligenz verfolgen. (…) Ein solcher Köper hat seine eigene Physiologie, er denkt, schreibt und spricht sich in seiner eignen Weise aus; er hat auch seine Verbrechen und seine Tugenden. 18
Tatsächlich hat Quetelet mit diesem neuen Naturalismus des Sozialen, der sich auf die Statistik als Methode beruft und sich dabei für die Arbeit mit Durchschnittswerten das Paradigma der Beobachtung zu eigen machen kann, etwas ungemein Machtvolles auf den Weg gebracht. Das Bild einer bloßen Verwendung des Auges (nicht aber der rechnerischen Konstruktion oder des Herantragens einer normierenden Vorschrift an das Material) macht die Konstruiertheit der errechneten Evidenz tatsächlich vergessen. Mit seinem neuen Realismus des Unsichtbaren verschmilzt Quetelet die objektiven und die subjektiven Mittelwerte (also diejenigen »Mitten«, die an direkt gegebenen Objekten hängen, etwa eine durchschnittliche Körpergöße, mit denjenigen, die sich erst nach Rechnung unter der Voraussetzung einer (Normal)Verteilung ergeben, etwa eine mittlere Zuwachsrate wenn man die Normalwerte zweier Generationenkohorten vergleicht) zu einer neuen, kompakten Einheit. 19 In den Worten des Wissenschaftshistorikers Ian Hacking müßte man sagen: Quetelet überbrückt den Widerspruch zwischen »epistemischer« und »frequentistischer« Wahrscheinlichkeit 20 – eben indem er die Gesellschaft zu jenem einen Meer erklärt, das wir nur eben aus unterschiedlichen Perspektiven (und nicht eigentlich mit ganz unterschiedlichen Augen oder Werkzeugen) sehen können. Ein und dasselbe Körper-Objekt »Gesellschaft« realisiert sich im Kleinen wie im Großen. Und sehr schnell, innerhalb von wenigen Jahrzehnten, werden die Diskurse der entstehenden Techniken des statistikgestützten Regierens diesem Ebd., S. VIf. Vgl. Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise (1. Ed. 2000). Berlin, Heidelberg: Springer, 2005, S. 91. 20 Vgl. Ian Hacking, The Emergence of Probability, Cambridge: Cambridge University Press, S. 117. 18 19
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Petra Gehring
(neuen) Objekt »Gesellschaft« eine harte, gegenwartsbestimmende Wirklichkeit verleihen. Wie bedeutend Quetelet rein als Mathematiker einzuschätzen ist, an dieser Frage scheiden sich die Geister. Im deutschen Sprachraum war man vor allem stolz auf Gauss und die angewandte Statistik wurde unter nationaler Perspektive als »französische« Errungenschaft betrachtet: Sie wurde zwar nicht minder benutzt, aber in ihrer weltverändernden Bedeutung verdrängt – weswegen erstens erst Jahrzehnte nach der französischen Soziologie auch in Deutschland eine Soziologie entstand. Und zweitens bis heute das Gewicht jenes epistemischen Einschnittes unterschätzt wird, der mit der Verwandlung der Wahrscheinlichkeitsmathematik in eine Mathematik der Gesellschaft verbunden ist. Quetelet ist gleichwohl einer der wirkungsvollsten Figuren des 19. Jahrhunderts, und zwar als Schöpfer einer Sprache, die, so der Historiker Alain Desrosières, »es ermöglichte, neue Objekte anzubieten, die mit der Gesellschaft und deren Stabilität« 21 zusammenhängen. Das ist vorsichtig ausgedrückt. Quetelet erlaubt es, die Statistik als vermeintlich strenge Wissenschaft im Gefolge der Wahrscheinlichkeitsmathematik als universales Instrument zur Erfassung der unsichtbaren »eigentlichen« Realität des Sozialen zu etablieren. Nicht Auguste Comte, der das Wort Soziologie und mit Blick auf sie den Ausdruck Positivismus prägte, sondern Adolphe Quetelet mag es womöglich zu verdanken sein, dass im 19. Jahrhundert ein positiver oder auch positivistischer Diskurs über die Gesellschaft entsteht – und dass dieser von Anfang an seinen Ort in der Politikberatung hat und mit den Erfassungstechniken des Wohlfahrtsstaates korrespondiert und mit diesen wächst. Anders als andere Statistiker nach ihm ist Quetelet freilich kein Pragmatiker, sondern Kosmologe – und von dieser Inspiration eines Kontinuums zwischen physikalischer Natur und Sozialnatur, die er offen ausspricht, lebt sein (zunächst einmal nicht auf Analysen, sondern nur auf die Bereitstellung von Daten konzentriertes) Wissenschaftsideal. Man kann zwar sagen: Heute würde keiner mehr von einer »Physik« der Gesellschaft sprechen. Freilich: Auch diejenige Soziologie, die sich nicht mehr wie Quetelet zu einem Naturalismus des Sozialen bekennt, verwendet in Grundsätzen sein wahrscheinlichkeits21
Die Politik der großen Zahlen, a. a. O., S. 78.
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Adolphe Quetelet: Sprache und Wirklichkeitsmacht der Bevlkerungsstatistik
mathematisches Instrumentarium! Dies ist tatsächlich ein interessanter Punkt: Auf eine theoretisch nicht wirklich befriedigend zu Ende gedachte Weise leben die statistisch arbeitenden Disziplinen im Grunde durchaus ja – und sei es nur als Arbeitsvorstellung – bis heute mit jenem Queteletschen Bild vom Ozean, welches die Verbindung von kleinen und großen Wellen, ihr Vorkommen im gleichen Ganzen, behauptet. Aus der Betrachtung der großen Zahlen emergieren neue Entitäten: Gerade jener Determinismus, den es im Großen gibt, während wir uns im Kleinen frei wissen dürfen (eigentlich ja eine paradoxe Konstruktion), ist uns ganz selbstverständlich. Wir sind heute vollständig nicht nur an »die« Gesellschaft, sondern auch an die messbaren normalen Durchschnitte aller Phänomene in der Gesellschaft gewöhnt. Und wir lesen die Veränderung von Mittelwerten als Veränderung der Realität. Wir sind uns gewissermaßen »natürlich« sicher, dass es die Bevölkerungsexplosion gibt, dass die Deutschen immer dicker werden und dass das Impfrisiko bei einer Hepatitisimpfung so niedrig ist, dass wir bedenkenlos eine solche Impfung auf uns nehmen. Wir sind auch daran gewöhnt, dass zu Zwecken der Steuerung, um gute Politik zu sein, unsere Politik immer mehr statistisches Wissen braucht. Zwar beklagen wir hier und da den Datenhunger von Behörden, aber wir haben längst vergessen, dass es nicht eine Art behördlicher Neugier und auch nicht einfach eine Notwendigkeit des Regierens ist, mit der wir es hier zu tun haben. Vielmehr handelt es sich um eine direkte Konsequenz des Universalismus der statistischen Wissensform und der Versozialwissenschaftlichung (oder vielleicht besser: der Ver-Menschenwissenschaftlichung) unserer Wahrnehmung vom Gefüge des Zusammenlebens und vom politischen Ganzen. François Ewald spricht von einer »Politik der Soziologie« 22 – wohlgemerkt, einer Soziologie, die als Menschenwissenschaft im Stil einer Art angewandter, auf neue Weise mathematisierter Naturwissenschaft agiert.
7. »Mit dem Paar Statistik – Wahrscheinlichkeitskalkül«, so formuliert Ewald, seien wir eingetreten »in den Kreislauf eines beständigen Anwachsens immer zahlreicherer und präziserer Aufzeichnungen, in die 22
Der Vorsorgestaat, a. a. O., S. 203.
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Petra Gehring
Spirale der Beobachtung […] – eine ständige und ständig erneuerte, sich selbst immer wieder in Schwung bringende Aufzeichnung. Die Utopie des unendlichen Inventars, der perfekten Zählung, der lückenlosen Erfassung.«23 Nach Ewald wird die Statistik zu einer universellen Anstrengung, die – auch in der Hand des Staates – gewissermaßen keine Grenzen kennt. Das klingt pessimistisch und so ist es auch gemeint. Ich denke jedoch, dass Quetelets angewandte Statistik nicht allein wirksam wurde, indem sie eine historisch beispiellose Dynamik der Datensammlung in Gang setzte. Heute nennen wir das: Wissensoder Kontrollgesellschaft. Diese Dynamik kommt nicht nur von oben und sorgt für eine überwachende Registrierung. Sie wird auch in die umgekehrte Richtung wirksam, nämlich in Gestalt einer Bebilderung des Einzelfalls durch die »Gesellschaft«, an der man sich jederzeit und in fast jeder Hinsicht »messen« kann. Wir richten uns nach Statistiken: Wir wissen ob wir überdurchschnittlich viel wiegen, rauchen oder verdienen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir mit unserem Lebenswandel früher sterben als andere und wo anderswo die durchschnittliche Lebenszufriedenheit geringer oder aber höher ist als hier. Wir definieren unsere eigene Realität im Rahmen einer statistischen Normalität. Man kann Quetelets Bild von der sozialen Realität als großem Ozean also auch gleichsam umgekehrt lesen: Eine Logik der gesellschaftlichen Wechselwahrnehmung, die vor allem auf Normalitätswerten beruht, wirkt im Zweifel auch als ein wiederum normalisierender Rahmen auf die konkrete Situation zurück. Man sieht nicht nur auf der Ebene der kleinen Wellen die großen nicht, sondern umgekehrt gehen die kleinen Wellen in den Szenarien verloren, die in der Perspektive aufs große Ganze verfertigt werden. Auch von daher zeigt Quetelets Vergleichsbild die ganze Zweischneidigkeit der Erfindung der Sozialstatistik und ihrer Gegenstände. Kommen statistische Wahrheiten in den überschaubaren Kreisen unserer Alltagswahrnehmung wieder an, dann tragen sie die ganze Abstraktheit jenes errechneten »Körpers« der Gesellschaft in sich – und in die sichtbare, erlebbare Welt der Individuen hinein.
23
Ebd., S. 181.
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Adolphe Quetelet: Sprache und Wirklichkeitsmacht der Bevlkerungsstatistik
Literatur Desrosières, Alain, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise (1. Aufl. 2000). Berlin, Heidelberg: Springer, 2005 Ewald, François, Der Vorsorgestaat (1. Aufl. 1986). Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993. Gigerenzer, Gerd, Zeno G. Swijtink, Theodore Porter, Lorraine Daston, John Beatty & Lorenz Krüger (Hg.), Das Reich des Zufalls. Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten, Häufigkeiten und Unschärfen (1. Aufl. 1989). Heidelberg, Berlin: Springer, 1998. Hacking, Ian, The Emergence of Probability: a philosophical study of early ideas about probability, induction and statistical inference. Cambridge University Press, 1975. Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (1. Aufl. 1997). Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998. Quetelet, Adolphe, »Ueber den Menschen und die Gesetze seiner Entwickelung«, in: Jahrbuch für Statistik, 1839, S. 180–197. Quetelet, Adolphe, Du système sociale et des lois qui le régissent. Paris: Guillaumin, 1848 (dt. Zur Naturgeschichte der Gesellschaft. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1856).
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen 1 Mechthild Hetzel
Kowalewskaja, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Moskau geboren und zuletzt Professor für Mathematik, hat in Heidelberg mit neunzehn Jahren ihr Studium aufgenommen, bevor sie nach drei Semestern den Entschluss fasst, des »bedeutendsten der damals lebenden Mathematiker« 2 wegen nach Berlin zu gehen, zu Karl Theodor Wilhelm Weierstraß, dem ›Vater‹ der modernen Analysis. Ihre Leidenschaft für die Mathematik und das Engagement ihrer Kollegen, namentlich von Weierstraß und dessen Schüler Gösta Mittag-Leffler, führen sie schließlich an die Stockholmer Universität. Die Professur in Schweden wird, neben häufigen Aufenthalten in Paris und vorübergehender Rückkehr nach Petersburg, auf ihrem beruflichen Weg die letzte Etappe sein. 1891 stirbt Sofja Kowalewskaja nach kurzer Krankheit in Stockholm, über die Maßen verausgabt im Alter von einundvierzig Jahren. Ich habe mir mein Leben lang nicht darüber klar werden können, ob mir die Schriftstellerei oder die Mathematik lieber war. Es ist möglich, dass ich auf dem einen oder anderen Gebiete hätte mehr leisten können, wenn ich mich demselben ganz gewidmet hätte. Aber es war mir nicht möglich, eines von beiden ganz aufzugeben. 3
Kowalewskajas Leben ist an Spannungen und Begebenheiten, Begegnungen und Ereignisdaten so reich, dass eine Biographie mehrere Bände umfassen könnte. Verheiratet, geschieden, allein erziehend. Studium, Promotion, Habilitation, Privatdozentur, Professur. Politisch engagiert. Pionier der Wissenschaft. In ihrer Liebe zur Poesie wie zur Für Anregungen und Kritik danke ich Gerlinde Uphoff und Andreas Hetzel. Cordula Tollmien, Fürstin der Wissenschaft: die Lebensgeschichte der Sofja Kowalewskaja, Weinheim: Beltz und Gelberg, 1995, S. 61. 3 Sofja Kowalewskaja an die Schriftstellerin Elisabeth Alexandrowna von Schabelskaja, Stockholm im Herbst 1890, zit. n. Tollmien, Fürstin der Wissenschaft, a. a. O., S. 168. 1 2
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen
philosophischen Seite der Mathematik von starker Anziehungskraft. Ausgezeichnet mit dem renommierten Bordin-Preis für ihre mathematische Forschung auf dem Gebiet der klassischen Mechanik starrer Körper. Begabt und zielstrebig, lebendig und lebenslustig nimmt sie nach Heidelberg die Etappen Berlin, Göttingen, Paris, Petersburg und Stockholm. Alle meine gelehrten Abhandlungen sind in deutscher oder französischer Sprache geschrieben. Ich bin derselben eben so mächtig, wie meiner Muttersprache, der russischen.4
Die biographischen und historischen Daten, nicht bloß beiläufige Accessoires von Kowalewskajas Forschungsergebnissen, geben Denkwelten und Ausdrucksformen von Mathematik als Wissenschaft Kontur. In dem Sinne ist mein Anliegen ein genuin wissenschaftsphilosophisches. Was lässt sich über eine Disziplin ihrem ›Wesen‹ nach in Erfahrung bringen, geraten die diskursiven und sozialen Eingangsschwellen in den Blick, die um sie errichtet werden? Hindernisse, die in historischen ›Verwerfungen‹ augenscheinlich werden und spätestens von diesem historischen Augenblick an, so sie erstmals überwunden werden, nicht länger ignoriert werden können. Ereignisdaten, die im Kontrast zur Idee einer kohärenten Erzählung gemeinhin als ›Bruchlinien‹ und ›Verwerfungen‹ verrechnet werden, erweisen sich heuristisch als ertragreich, insofern genauer in den Blick gerät, was Mathematik ›eigentlich‹ ausmacht: nicht so sehr als Ort der reinen Geltung, sondern als Institution, als Praxis, als akademisches Fach. »Wenn etwas nicht ins Bild passen will, so gibt es dafür einen Grund, und den gilt es herauszufinden.« 5 Die Spur, die ich hier aus wissenschaftsphilosophischem Interesse vorzeichne, steht zur Heuristik Barbara McClintocks biologischer Forschung in verblüffender Nähe: Die Biologie habe, führt die Nobelpreisträgerin aus, zahlreiche Möglichkeiten zu neuen Einsichten zu gelangen (zu ›verstehen‹) ungenutzt verstreichen lassen, insofern sie das, was aus dem Rahmen fällt, ignoriert oder allenfalls als Ausnahme zur Bestätigung überkommener Regeln heranzieht und nicht als Indiz der Verwerfung über lange Jahre bewährter Erklärungsmethoden interpreSofja Kowalewskaja, Autobiographische Skizze, Deutsche Rundschau, 108, 1901, S. 157 f. 5 Barbara Mc Clintock, zit. n. Evelyn Fox Keller, Barbara McClintock. Die Entdeckerin der springenden Gene, Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 1995, S. 16. 4
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Mechthild Hetzel
tiert. 6 – Forschung handelt immer auch davon, was Wissenschaft »eigentlich« sei. Mit dem Akzent auf der Selbstreflexivität ist ein Verständnis von Wissenschaftsforschung aufgerufen, die im Ausgang der Frage nach ihrem ›Wesen‹ die reflexive Bewegung von Wissenschaft auf sich selbst abtastet. Spreche ich von Wissenschaftsphilosophie, dann in diesem Sinne, in Zurückweisung des metawissenschaftlichen Gestus, den Blick von außen und aus überlegener Distanz auf Teilgebiete oder -disziplinen zu richten. Nicht zuletzt an den »Grenzen des Wissens« koinzidieren die Philosophie und die Selbstreflexion von Forschungspraxis in einer genuin wissenschaftsphilosophischen Perspektive. Im Nachgang von Leben und Zeit, Werk und Wissenschaft Sofja Kowalewskajas soll diese wissenschaftsphilosophische Perspektive im Folgenden auf Mathematik eröffnet werden.
Erstbegegnung Zu gern möchte ich wissen, ob wohl jemand genau den Augenblick in seinem Leben feststellen kann, da er zum erstenmal sein eigenes Ich empfand, der erste Schimmer eines bewussten Lebens in ihm auftaucht. 7
Diese Worte eröffnen Kowalewskajas Erinnerungen an meine Kindheit (1889); ein Romandebüt von nachhaltigem Erfolg. Geboren wird Sofja zu Beginn des Jahres 1850, in einer Zeit realer (und sich abzeichnender) gesellschaftlicher Umbrüche. Karl Marx ist in Folge der Publikation des Kommunistischen Manifests gerade von Preußen des Landes verwiesen. Die spätere Pädagogin und Frauenrechtlerin Ellen Key, geboren im Dezember 1849, ist wenige Wochen alt; sie wird der erwachsenen Sofja in Stockholm zur Vertrauten werden. Als Mitte der 1860er ein Fotograf die jugendliche Sofja ablichtet, hat der russische Schriftsteller und Freund des Hauses, Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij, gerade seinen Roman Schuld und Sühne veröffentlicht. Zur selben Zeit wird dem schwedischen Chemiker Alfred Nobel, auf den Kowalewskaja am Ende des Jahrhunderts Eindruck machen wird, das Patent für die Entwicklung des Sprengstoffs Dynamit zuerkannt. Sofja selbst ist in dieser Zeit nachhaltig beeindruckt vom polnischen Aufstand 1863 gegen die russische Herrschaft (in Folge des 6 7
Ebd. Erinnerungen an meine Kindheit, Weimar: Kiepenheuer, 1960, S. 5.
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen
Abbildung 1: Sofja Kowalewskaja (Traudel Weber-Reich (Hrsg.), Des Kennenlernens werth. Göttingen: Wallstein Verlag 1993).
Regierungsantritts von Zar Alexander II.). Die gleich alte Maria Jankowska erlebt diesen Aufstand als Kind aus nächster Nähe. Als Revolutionärin verschlägt es sie nach Paris, wo die Exilantin Sofja Kowalewskaja im Juni 1822 treffen wird: klein, aber mit einem sehr großen Kopf, unregelmäßigen Zügen, mit Augen von undefinierbarer Farbe, aber starkem Glanz, sehr lebhaften Bewegungen, überhaupt von außerordentlich lebhaftem Wesen, ließ mich von Anfang an in ihr eine geistige Größe und eine Persönlichkeit vermuten, für welche man sich enthusiasmieren konnte. 8
Ähnlich behält die damals, auch außerhalb ihres Herkunftslandes Schweden, bekannte Schriftstellerin Anna Charlotte Leffler, Schwester von Kowalewskajas Mentor Gösta Mittag-Leffler, die Erstbegegnung mit der Mitdreißigerin Sofja in Erinnerung:
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Tollmien, Fürstin der Wissenschaft, a. a. O., S. 113 f.
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Mechthild Hetzel
klein, zart, nervös mit eckigen Bewegungen, befangen durch ihre starke Kurzsichtigkeit (sie trug keine Brille, weil sie nicht wie eine gelehrte Frau aussehen wollte), aber immer strahlend und begeistert. 9
Maksim Maksimowitsch Kowalewski und Sofja Kowalewskaja, geborene Korvin-Krukowskaja, lernen einander im Jahr 1887 kennen und lieben. Er, darauf deutet beider Nachname nicht zufällig, ist entfernt verwandt mit ihrem Mann aus erster Ehe. Maksim zeigt sich »fasziniert von Sofjas Lebendigkeit, ihrem sprühenden Witz, der sich bis zur Albernheit steigern konnte, ihrer Ernsthaftigkeit und ihrem Enthusiasmus, wenn sie von einer Sache überzeugt war, ihrer Diszipliniertheit in der Arbeit und … von ihrem Erfolg« 10 . Ihre Kindheit und Jugend verbringt Kowalewskaja im Gouvernement Witebsk. Das fünfhundert Kilometer entfernte Petersburg ist die nächste Großstadt; dort wird sie mit achtzehn Jahren ihren mathematischen Unterricht fortsetzen und noch als Jugendliche Dostojewskij kennen lernen. In den Petersburger Skizzen aus dem Jahr 1836 vergleicht der russische Schriftsteller Nikolaj Wassiljewitsch Gogol, der jahrelang an beiden Orten gelebt hat, in ausgewählten Beispielen Moskau mit Petersburg. Doch welch ein Unterschied, welch ein Unterschied zwischen beiden Städten! Die eine bis auf den heutigen Tag ein bärtiger Russe, die andere schon ein akkurater Deutscher. … Petersburg ist ein kecker Bursche, der nie zu Hause sitzt, immer adrett gekleidet, tut schön vor Europa, macht seine Verbeugung vor den Leuten jenseits des Meeres. 11
Im modern konzipierten, westlich orientierten Petersburg kommt Kowalewskaja, salopp formuliert, mit den 68ern im Russland des 19. Jahrhunderts zusammen; eine Bewegung, die mit ›Nihilismus‹ überwiegend abschätzig bezeichnet wird. Namentlich steht er für die Ablehnung positiver Werte und Autoritäten, welche die Vätergeneration verkörperte; eine Zurückweisung, die in der Phase der Umgestaltung Russlands von den Jüngeren für unumgänglich gehalten wird. Der womöglich bekannteste Nihilist ist so besehen Basarow, der Held des Romans Väter und Söhne (1862) von Iwan Turgenjew. – Die EmEbd., S. 126. Ebd., S. 155. 11 Nikolaj Wassiljewitsch Gogol, »Petersburger Skizzen«, in: Der Zeitgenosse, 1836, zit. n. Thomas Köster, Artikel ›Nikolaj Wassiljewitsch Gogol‹, Microsoft Encarta Enzyklopädie, 2001. 9
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen
phase der Freiheit, wie sie gesellschaftlich konkret wird in den Aufständen der Bauern und Arbeiter und der Bildung von und durch Frauen, wird von Kowalewskaja im umfänglichen Wortsinn ›gelebt‹ und findet ihre Resonanz in der Begeisterung für die Mathematik, die womöglich unbedingteste aller Wissenschaften. Unter dem emanzipativen Einfluss nihilistischer Ideen geht Kowalewskaja eine fiktive Ehe ein. In einer Zeit, in der Frauen in den Ausweispapieren ihrer Väter oder Ehegatten eingetragen sind, rückt mit der Ehe die Ausreise ins westliche europäische Ausland in greifbare Nähe: die Voraussetzung schlechthin, ein Studium aufnehmen zu können. Mit Sofjas bester Freundin Julia Lermontowa, die sie in der festen Absicht begleitet, bei dem bekannten Robert Bunsen Chemie zu studieren, beziehen sie in Heidelberg zu dritt eine gemeinsame Wohnung, eine frühe Form der Wohngemeinschaft. Im liberalen Baden dieser Zeit sind zum Studium weibliche wie männliche Studierende zugelassen. Die Mathematik begeistert Sofja in einem Maße, dass sie schon bald beschließt, in Berlin bei einem ihrer bedeutendsten Vertreter seiner Zeit vorstellig zu werden, der sie nach anfänglichem Zögern als Student aufnehmen und ihr außergewöhnliches Talent erkennen wird. Seine Unterstützung hat auf ihrem weiteren Weg vorbehaltlos Bestand. Rückblickend akzentuiert Sofja die Erstbegegnung und ihre Nachhaltigkeit mit den Worten: Das günstige Urteil der Heidelberger Professoren, sowie meine guten Vorkenntnisse und mein Wunsch nach einem ernsten Studium, das ich nicht aus Modethorheit betrieb, bewogen den berühmten Professor Weierstraß zu dem Vorschlag, mir Privatunterricht zu ertheilen. Derselbe hat den allerwichtigsten Einfluß auf meine ganze mathematische Carrière. 12
Weib und Wissenschaft Aller Männerkultur und Kunst, allen Weiberkörpern und Balletts zum Trotz, widmen wir uns der Mathematik und den Naturwissenschaften.
Mit diesem Leitsatz meldet sich die promovierte Mathematikerin Marie Vaerting in ihrem Roman Anna Hasskamps (1912) zu Wort. 13 GinAutobiographische Skizze, a. a. O., S. 155. Renate Tobies (Hg.),»Aller Männerkultur zum Trotz«: Frauen in Mathematik und Naturwissenschaften. Frankfurt/M.: Campus Verlag, 1997, S. 7. 12 13
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ge es mir hier in erster Linie darum, aufs Neue die Rolle von Frauen in den modernen Naturwissenschaften zu untersuchen, so wären vielleicht mit Emmy Noether oder Lisa Meitner in dieser Hinsicht typische Vertreter ihres Geschlechts in den exakten Wissenschaften getroffen. Doch ist es mir nicht darum zu tun, meinen Beitrag in eine solche Erzählung einzubetten: von der angemessenen Würdigung als legendäre Forscherin, der tragischen Verfolgung oder, im Falle Meitners, der absichtsvollen Verkennung der Bedeutung ihrer Forschungen in ihrem ganzen Ausmaß. Wie anders verläuft demgegenüber Kowalewskajas Leben, die am 18. Dezember 1888 einen Brief vom Institut de France (Académie des Sciences) erhält: Madame, Wir haben die Ehre Ihnen mitzuteilen, dass die Akademie der Wissenschaften Ihnen den Bordin-Preis (für die Weiterentwicklung der Theorie von der Bewegung eines starren Körpers um einen festen Punkt) verliehen hat. 14
Es stellt keine geringe Herausforderung dar, Sofja Kowalewskaja nicht als eine Ausnahmeerscheinung zu inszenieren, die sie selbst zu keiner Zeit vorzustellen erstrebt oder beansprucht hat: erste Frau der Neuzeit, die einen akademischen Lehrstuhl inne hat; erster weiblicher Student, der in Mathematik promoviert; erste ihres Geschlechts als Mitherausgeber einer internationalen Fachzeitschrift usf. Mit der Akzentsetzung auf der Ausnahme würden Vorstellungen und Erwartungen des Irregulären (einer weiblichen Beschäftigung mit und in den exakten Wissenschaften), die bis in die Gegenwart wirkmächtig sind, erneut aufgerufen und gefestigt. Kowalewskaja wird die Habitualisierung des Narrativs Besonderheit von Frauen in der Wissenschaft zurückweisen. In der Geringschätzung der gebildeten Frau, wie sie von Sofjas Vater überliefert ist, und in der Erinnerung Anna Charlotte Lefflers an Kowalewskajas Widerstreben der Brille gegenüber als deren Indiz, tritt die ›gelehrte Frau‹ in die Welt. Sie muss in einem Referenzrahmen, der Frauen die Verantwortung in den Bereichen Küche, Kirche, Kinder überträgt, als Chimäre gelten: in der feminin konstituierten Welt gilt ihre Weiblichkeit als zu unspezifisch (nicht allein des Vermögens zum abstrakten Denken wegen), um Aufnahme zu finden. In der Welt der Gelehrten wird sie auf ihre Weiblichkeit festgelegt und so vom Gespräch ausgeschlossen. Es 14
Tollmien, Fürstin der Wissenschaft, a. a. O., S. 9.
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen
ist mit Blick auf die Ausgangsfrage (»was lässt sich über eine Disziplin ihrem ›Wesen‹ nach in Erfahrung bringen, geraten die diskursiven und sozialen Eingangsschwellen in den Blick, die um sie errichtet werden?«), aussichtsreich, die Zurückweisung der habitualisierten Ausnahmeerscheinung als Signatur der Forderung zu lesen, eine Geschlechtszugehörigkeit zu dekonstruieren, die von Platon an zugleich die Initiation in die (mathematische) Wissenschaft verwehrt oder ermöglicht. Um die Freiheit des Geistes leben zu können, wird Kowalewskaja einen langen Weg gehen. Er konfrontiert sie mit den Bedingungen der Institution Wissenschaft, die sich mit der geistigen Unbedingtheit von Mathematik im Widerstreit befinden: mit einem bis auf Platon zurückreichenden Nimbus der Mathematik, sie mit Abstraktion, Herrschaftswissen und Männlichkeit schlechthin zu assoziieren. Mathematik, so zeigt der Weg Kowalewskajas, hat ein Geschlecht. Die Bindung der Disziplin an ein Geschlecht lässt sich indessen, auch davon gibt ihr Leben Zeugnis, lösen, widerrufen, in seinem Anspruch erschüttern. Die Gabe des abstrakten Denkens und der Dichtkunst zu vereinen, erschüttert nicht allein die Ordnung der Geschlechter. Kowalewskajas wissenschaftliche Arbeit treibt sie stets aufs Neue bis ans Äußerste: ihr Forschen führt das Denken bis an die Grenzen des Wissens und bis an die Grenzen ihrer körperlichen Kraft die Aufkündigung eines geordneten Tagesablaufs, eines ausgewogenen Rhythmus von Tag und Nacht, von Erschöpfung und Erholung über Wochen obsessiver Arbeit. Die Perspektive, die Kowalewskaja auf Mathematik eröffnet, ruft zahlreiche Akzentsetzungen auf, die auch unter der Überschrift einer ›Philosophie der Mathematik‹ nicht zu bündeln oder vollständig zu erfassen sind: Welcher Art sind die Fragen, auf die Mathematik in systematischer Behandlung eine Antwort zu finden sucht? Welchen Nutzen trägt eine Wissenschaft davon, auf deren Aufgaben durchaus Kraft und Mühe verwendet werden, ohne zu wesentlichen Resultaten zu führen? Erschöpfen sich die Methoden und Zugangsweisen mathematischer Forschung in Abstraktion und Deduktion? Welche Bedeutung kommt in der Mathematik der Idee ›unbedingter Geltung‹ zu und wie positioniert sich diese Idee zwischen dem Anspruch von Wissenschaft im allgemeinen und Philosophie im speziellen? Welchen Status hat in der Mathematik ein Wissen um das Nichtwissen? Welcher Reflex auf die philosophisch relevanten Begriffe Erkenntnis, Problem, Wahrheit, Konsistenz, Paradox usf. lässt sich von hier her ausmachen? 121 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Während meines ganzen Lebens hat mich die Mathematik überhaupt mehr durch ihre philosophische Seite angezogen und war mir stets diejenige Wissenschaft, die ganz neue Aussichten eröffnet. 15 In mathematischen Arbeiten spielt die Sprache übrigens eine äußerst unwesentliche Rolle. Die Hauptsache ist ihr Inhalt, Idee und Begriff; daher bedienen sich Mathematiker zu ihrem Ausdruck einer eigenen Sprache – der Formel. 16
Auf eine alte Vorliebe, Nähe und Neigung wiederum der Philosophen zur ›mathematischen Form‹ verweist Heinrich Heine. Den Zusammenhang von Philosophie und Mathematik aus der Perspektive ›der Philosophen‹ führt Heine in seinen Schriften über Religion und Philosophie in Deutschland (1831) aus: Diese Vorliebe beginnt schon mit Pythagoras, der die Prinzipien der Dinge durch Zahlen bezeichnete. Dieses war ein genialer Gedanke. In einer Zahl ist alles Sinnliche und Endliche abgestreift, und dennoch bezeichnet sie etwas Bestimmtes und dessen Verhältnis zu etwas Bestimmten, welches letztere, wenn es ebenfalls durch eine Zahl bezeichnet wird, denselben Charakter des Entsinnlichten und Unendlichen angenommen. Hierin gleicht die Zahl den Ideen, die denselben Charakter zueinander haben. Man kann die Ideen, wie sie in unserem Geiste und in der Natur sich kundgeben, sehr treffend durch Zahlen bezeichnen; aber die Zahl bleibt doch immer das Zeichen der Idee, nicht die Idee selber. Der Meister bleibt dieses Unterschiedes noch bewußt, der Schüler aber vergißt dessen, und überliefert seinen Nachschülern nur eine Zahlenhieroglyphik, bloße Chiffern, deren lebendige Behauptung niemand mehr kennt, und die man mit Schulstolz nachplappert. 17
Gegenüber der wechselseitigen Verwiesenheit von ›lebendiger Behauptung‹ und ›Chiffer‹, von bestimmtem und unendlichem Charakter, bezieht ein Differenzdenken Position, das Sinnlichkeit und Abstraktion nicht nur in striktem Gegensatz zueinander als zwei differente Momente, sondern auch jedes, um das je andere reduziert, für sich separat konzeptualisiert. So kultivieren die institutionalisierten Vertreter der mathematischen Fachdisziplin bis in die Gegenwart die Mathematik als Inbegriff dessen, zu dem das weibliche Geschlecht keinen Zugang habe: der unbedingten Geltung (als Charakteristikum des Mathematischen Autobiographische Skizze, a. a. O., S. 154. Ebd., S. 158. 17 Heinrich Heine, »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« (1. Aufl. 1831), in: Werke und Briefe in zehn Bänden, Bd. 5, hrsg. v. Hans Kaufmann, Berlin, Weimar: Aufbau Verlag, 1972, S. 263. 15 16
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen
sui generis) werden Intuition, Phantasie, Dichtkunst entgegengesetzt und im Zuge dieser Abgrenzung als feminine Tugenden stilisiert, von der sich die Fähigkeit zu Abstraktion und Analyse als spezifisch männliche abheben. Dass Mathematik stets mit dem Nimbus des schwer Zugänglichen schlechthin versehen wird, trägt ein Übriges dazu bei. Wie anders ließe sich begründen, dass es von Bedeutung ist, ob es weibliche oder männliche Wissenschaftler sind, die den Schritt über das Anschauliche hinaus oder über die Grenzen des Verstandes hinweg vollziehen?
Dichtkunst und abstraktes Denken Viele, die nie Gelegenheit hatten, viel über Mathematik zu lernen, verwechseln sie mit Rechnen und halten sie für eine trockene und kalte Wissenschaft. In Wirklichkeit aber ist sie eine Wissenschaft, die die größte Phantasie verlangt. 18 [E]s ist wahr, ein Mathematiker, der nicht etwas Poet ist, wird nie ein vollkommener Mathematiker sein. 19
Um die Wahrheit dieser Aussage zu begreifen, muss man das alte Vorurteil zurückweisen, nach dem ein Dichter etwas produziert, was nicht existiert und nach dem Phantasie bedeutet, sich etwas auszudenken. Mir scheint dagegen, dass der Dichter sehen muss, was andere nicht sehen, dass er tiefer sehen muss als andere Leute. Und der Mathematiker muss dasselbe tun. 20 Dem Verhältnis von Poesie und Mathematik gibt Kowalewskaja die Wendung, Phantasie sei das dem Dichter wie dem Mathematiker in gleicher Weise notwendig unverzichtbare Moment. Die Schriftstellerei wie die Mathematik sei dem Anspruch verpflichtet, zu ›sehen, was andere nicht sehen‹ ; was darum nicht weniger existiert, aber allein durch die Gabe genauester Beobachtung und Analyse zu Tage tritt.
18 Sofja Kowalewskaja an Schabelskaja, Stockholm im Herbst 1890, in: Tollmien, Fürstin der Wissenschaft, a. a. O., S. 166. 19 Karl Weierstrass an Sofja Kowalewskaja vom 27. August 1883, in: Karl Weierstrass, Briefwechsel zwischen Karl Weierstrass und Sofja Kowalewskaja, Berlin: Akademie Verlag, 1993, S. 292. 20 Sofja Kowalewskaja an Schabelskaja, Stockholm im Herbst 1890, in: Tollmien, Fürstin der Wissenschaft, a. a. O., S. 166 f.
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Mechthild Hetzel
Der Mathematik ihre poetische, philosophische, phantasievolle Seite abzugewinnen, prägt Kowalewskajas Arbeit; im buchstäblichen Sinne handgreiflich wird ihre Erfindungsgabe, indem sie neue Anwendungen erschließt. Exemplarisch steht dafür ihre Arbeit zum dritten integrablen Spezialfall der klassischen Mechanik starrer Körper, bekannt geworden als Dynamik des ›Kowalewskaja Kreisels‹. Die Mathematikerin schreibt im Rückblick: Im Jahre nach meiner Ankunft in Schweden habe ich viel und ernst gearbeitet. Unter Anderem habe ich dort meine größte mathematische Arbeit verfasst … Ich habe darin die Frage ›Über die Bewegung eines starren Körpers um einen festen Punkt unter dem Einfluss der Schwerkraft‹ erforscht. Sie hat eine sehr hohe Bedeutung und umfasst auch die Theorie des Pendels. Dabei ist sie, so zu sagen, eine klassische Frage in der Mathematik. Die bedeutendsten Größen haben sich mit ihr abgemüht, darunter Euler, Lagrange und Poisson. Demungeachtet ist sie noch lange nicht völlig gelöst, und wir kennen nicht viele Fälle, in denen sie sich praktisch anwenden ließe. In der Geschichte der Mathematik begegnen wir wenig Aufgaben, deren Lösung so sehnlich erwünscht wäre und an die so viel Mühe und Kräfte verwendet worden sind, ohne zu wesentlichen Resultaten zu führen. 21
Zieht Kowalewskaja am Ende ihres Lebens die Summe aus ›ihrer‹ Geschichte (mit) der Mathematik, so soll sie hier noch einmal am Beginn anheben: Bei der Renovierung des Hauses in Witebsk 1861 sind, noch bevor die Kinderzimmer ein neues Gesicht erhalten haben, die Tapeten ausgegangen. Man nimmt kurzerhand Bögen bedruckten Papiers, die auf dem Dachboden zu finden waren. Ich zählte damals etwa elf Jahre. Beim Betrachten der Wände bemerkte ich, daß da Verschiedenes abgebildet sei, wovon ich den Onkel bereits hatte reden hören. Elektrisirt, wie ich ohnehin schon durch seine Erzählungen war, fing ich an, die Wände mit besonderer Aufmerksamkeit anzuschauen, da mich die von der Zeit vergilbten Blätter mit ihren geheimnisvollen Hieroglyphen belustigten, deren Sinn mir vollständig dunkel blieb, die aber, wie ich heraus fühlte, etwas sehr Interessantes und Kluges bedeuten mussten. Ganze Stunden lang stand ich vor ihnen und las dort das Gedruckte immer wieder. Ich muß gestehen, dass ich damals geradezu nichts davon verstand, aber es war, als ziehe mich eine unwiderstehliche Macht zu dieser Beschäftigung. 22
21 22
Autobiographische Skizze, a. a. O., S. 159. Ebd. S. 153.
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen
Was ist passiert? Das als Ersatz für Tapeten verwendete Papier enthält Bogen für Bogen mathematische Formeln, die Sofja wie in der geschilderten Szene über Jahre aufmerksam studiert. – Die literarisierte Szene nimmt ein Klischee des sich in Szene setzenden Gelehrten auf; in antiken Legenden präfiguriert 23 , lebt es bis in die Kinofilme der Gegenwart 24 fort: Die Selbstinszenierung des Gelehrten korrespondiert mit der Inszenierung von Mathematik. Als Raum unbedingter Geltung konstituiert, wird der Nimbus der Mathematik, dass sie nicht jedem respektive jeder zugänglich sei, dadurch zu sichern und zu verteidigen gesucht, dass die Kriterien der Aufnahme im Dunkeln bleiben. Der jeweilige Aspirant lässt sich weder dabei beobachten, ein Problem als solches zu entdecken 25 , noch dabei, die Lösung der Aufgabe sukzessive zu erschließen. Stattdessen gelangt er einer jähen Eingebung folgend zum Resultat. Die Evidenz tritt ihm dabei ebenso unvermittelt wie unmissverständlich ›vor Augen‹, oft im buchstäblichen Sinn. – Im Kontrast zu Kowalewskajas Selbststilisierung, profiliert ihr Leben und Werk ein Wissenschaftsverständnis, wonach Mathematik Fragen aufwirft, auf deren Antworten »viel Mühe und Kräfte verwendet werden, ohne zu wesentlichen Resultaten zu führen« 26 . Darum bemühen sich die Mathematiker, für verschiedene Probleme bestimmten Typs Existenzbeweise zu finden. Wenn ein mathematisches Problem, zum Beispiel eine Differentialgleichung, gewisse formale Voraussetzungen erfüllt, dann ist garantiert, dass es eine Lösung besitzt. Diese Existenzbeweise sind oft mühevoll und langwierig, aber für die Mathematik unerlässlich. Es gibt einen Witz, der seit Jahren unter Mathematikern über diese Problematik kursiert: Ein Ingenieur, ein Physiker und ein Mathematiker bekommen die Aufgabe gestellt, zwei mal zwei zu berechnen. Der Ingenieur bestimmt das Ergebnis im Kopf und hat die Lösung sofort. Der Physiker tippt die Zahlen in seinen 23 Michel Authier, Archimedes: Das Idealbild des Gelehrten, in: Michel Serres (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995, S. 177– 228. 24 Vgl. u. a. Good Will Hunting 1997, Mercury Rising 1998, Beautiful mind, 2001. 25 »Problem (vom gr. problema ›das Vorgelegte‹), eine ungelöste, zwecks ihrer Lösung bearbeitete Aufgabe oder Frage. Das Problembewusstsein (dessen Existenz selbst ein Problem ist) vermittelt die Einsicht, dass ein Erkenntnisgegenstand unter Umständen nicht vollständig erfasst ist, es ist ein Wissen um das Nichtwissen.« Vgl. Georgi Schischkoff, Artikel ›Problem‹, in: Philosophisches Wörterbuch (1911), Stuttgart: Kröner, 1974, S. 524. 26 Autobiographische Skizze, a. a. O., S. 159.
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Taschenrechner ein und braucht auch nur einige Sekunden, um das Problem zu lösen. Der Mathematiker aber schreibt sich die Aufgabe sorgfältig auf, zieht sich auf sein Kämmerlein zurück, denkt einige Stunden über das Problem nach, wälzt viele Bücher und verkündet dann stolz: Es existiert eine Lösung!27 Zu wissen, ob eine Aufgabe lösbar ist (oder nicht), ist demnach nicht allein für die Fälle lösbarer Aufgaben ein erster Schritt, sondern wäre ebenso für Aufgaben ohne Lösung von großem Vorteil.
Mathematik erfinden Neben dem Onkel Wassilewitsch väterlicherseits treten unter den Augen des, gegenüber gebildeten Frauen skeptischen, ja voreingenommenen Vaters, bald eine Reihe mathematisch begeisterter wie begabter Lehrer (ausnahmslos Männer) in Sofjas Leben; einer davon ist Josif Ignatjewitsch Malèwitsch. Im Rückblick berichtet sie von der Zeit seiner Unterrichtung: Besonders gut und eigenartig lehrte Malèwitsch die Arithmetik. Ich muss gestehen, dass mich diese Anfangs nicht besonders interessierte. Dank wahrscheinlich dem Einflusse des Onkels Wassilewitsch, beschäftigten mich allerlei abstracte Begriffe, wie z. B. derjenige der Unendlichkeit, weit mehr. Während meines ganzen Lebens hat mich die Mathematik überhaupt mehr durch ihre philosophische Seite angezogen und war mir stets diejenige Wissenschaft, die ganz neue Aussichten eröffnet. Außer in der Arithmetik unterrichtete mich Malèwitsch auch in der elementaren Geometrie und Algebra. Nachdem ich mit letzterer einigermaßen bekannt geworden war, fühlte ich einen so starken Zug zur Mathematik, dass ich alle übrigen Fächer vernachlässigte. 28
Eines Tages fragt Sofja ihn nach einem mathematischen Zusammenhang, in den Einsicht zu gewinnen Malèwitsch in seinem, nach systematischen Kriterien aufgebauten ›Lehrplan‹ für sie noch nicht vorgesehen hatte. Das Moment des ›Nichtwissens‹, hier ihres Lehrers, der vorgibt, es mangle ihm selbst an Kenntnis, ist für Sofja Motivation, unbeirrt eine eigenständige Methode der Erklärung zu entwickeln. Heinrich Hemme, »Probleme ohne Lösungen«, Das Beste aus dem Mathematischen Kabinett, hrsg. v. Thiagar Devendran, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1990, S. 93. 28 Autobiographische Skizze, a. a. O., S. 154. 27
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen
Die Phantasie und Erfindungsgabe der Heranwachsenden in der Ausarbeitung einer sinnfälligen Argumentation zeugt von einer langsamen Schärfung des analytischen Blicks, wie sie sich im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte abbildet. Ihrem Gutsnachbarn Nikolai Nikanorowitsch Tyrtow, Physikprofessor an der Petersburger Marineakademie, erstattet sie bei einem seiner Besuche Bericht und erwähnt, dass sie die Lektüre seines Buches, er hatte es ihr bei einer vormaligen Begegnung geliehen, habe abschließen können. Um seine Zweifel zu zerstreuen, sieht sich Sofja veranlasst, vor seinen Augen die von ihr entdeckte Erklärung Schritt für Schritt zu entfalten. Von dem Ergebnis ist Tyrtow letztlich so beeindruckt, dass er, überzeugt, sie habe die Mathematik »ein zweites Mal erfunden« 29 , begeistert aller Welt davon Mitteilung macht.
Grußadresse Je Vous prie, cher Monsieur, de voulois [sic] me rapeler au bon souvenir de Mme Poincaré et d’agreér Vous-même l’expression de ma plus haute considération. Sophie Kowalewski 30
Die Art und Weise, wie Kowalewskaja die Gattin des Kollegen adressiert (Abb. 2), erscheint auf den zweiten Blick als Ausdruck dafür, die tradierte Geschlechterordnung zu verstören. Im Gruß an die Gattin des Kollegen parodiert Kowalewskaja die Konvention. Als Absender bezieht sie dabei eine Position jenseits der Geschlechterordnung. Zugleich ist die Grußadresse Indiz für den Tribut, der zur Aufrechterhaltung zweier als unvereinbar verfasster Welten entrichtet wird: die Hervorbringung gegensätzlicher Geschlechter, die auf je eine der beiden Sphären, wissenschaftliche oder hauswirtschaftliche, reduziert werden. In Berufe für Frauen (1931) schreibt Virginia Woolf dass ich immer, wenn ich ein Buch besprach, nolens volens mit einem gewissen Phantom kämpfen musste. Und dieses Phantom war eine Frau, und als ich sie besser kennengelernt hatte, nannte ich sie nach der Heldin eines bekannTollmien, Fürstin der Wissenschaft, a. a. O., S. 26. Sofja Kowalewskaja an Henri Poincaré, Stockholm, 1. Mai 1887, in La correspondance de Henri Poincaré, hrsg. von Université Nancy 2, Archives Henri Poincaré, http:// www.univ-nancy2.fr/poincare/chp/index.html (27. 09. 2007). 29 30
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Mechthild Hetzel
Abbildung 2: Sofja Kowalewskaja an Henri Poincaré, Stockholm, 1. Mai 1887 (La correspondance de Henri Poincaré, hrsg. von Université Nancy 2, Archives Henri Poincaré, http://www.univ-nancy2.fr/poincare/chp/index.html, mit freundlicher Genehmigung von Henri Poincaré Archives, Nancy, France).
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen
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ten Gedichts ›Der Engel im Haus‹. Sie war es, die immer zwischen mich und das Papier trat, wenn ich Kritiken schrieb. Sie war es, die mich plagte und meine Zeit fraß und mich so quälte, dass ich sie schließlich ermordet habe … Hätte nicht ich sie ermordet, hätte sie mich ermordet. 31
In der Frage nach einem Minimum an häuslichen Annehmlichkeiten und dem lebenslangen Verzicht darauf, der mit dem rückhaltlosen Einsatz Kowalewskajas in und für die Wissenschaft verbunden ist, wird für sie – ohne den Vorteil ihrer Kollegen, »eine hübsche kleine Hausfrau« 32 um sich zu haben, wie sie dem Physiker Gustav Hansemann beiläufig anvertraut – der Unterschied, ein weiblicher Mathematiker zu sein, lebenspraktisch bedeutsam. Sofja Kowalewskajas lakonischer Hinweis auf die ›kleine Hausfrau‹ soll die Widerstände, denen sie sich konfrontiert sieht (welche weit über häusliche Unannehmlichkeiten hinausgehen), nicht trivialisieren oder leugnen. Erst mit der Berufung auf den Lehrstuhl an der Stockholmer Universität (zunächst befristet) bezog sie erstmals, acht Jahre vor ihrem Tod, ein regelmäßiges Gehalt. 33 An ihrem Lebensweg lässt sich ablesen, in welcher Weise die weiblichen Pioniere der Wissenschaft das Spiel von Regel und Ausnahme zurückweisen. Damit Frauen der nächsten Generation tatsächlich würden davon profitieren können, war es notwendig, dass die weiblichen Pioniere ihren Platz in der Wissenschaft nicht ›als Frau‹ einnahmen. 34 Gleichwohl ist Kowaleskaja Wegbereiterin geworden. Sie hat sich in diesem eminent politischen Sinne verstanden wissen wollen. Welche Neubestimmung bedeutet es für Wissenschaft im ›eigentlichen‹ Sinne, wenn in den Blick gerät, was diejenigen zur Forschung treibt und was sie forschend treiben, die über lange Zeit von Institutionen und Diskursen, zu denen sie nicht zugelassen sind, aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verdrängt werden? Von dieser Frage nahm der Beitrag zu Leben und Werk Kowalewskajas seinen Ausgang: Was lässt sich über eine Disziplin ihrem ›Wesen‹ nach in Erfahrung bringen, geraten die diskursiven und sozialen Eingangsschwellen in den Blick, 31 Zit. n. Wolfgang Wicht, Die Ermordung des Hausengelchens,Virginia Woolf: Ein eigenes Zimmer; Drei Guineen, Essays, Leipzig: Reclam, 1992, S. 285 f. 32 Sofja Kowalewskaja an Gustav Hansemann, in: Tollmien, Fürstin der Wissenschaft, a. a. O., S. 144. 33 Fürstin der Wissenschaft, a. a. O., S. 130. 34 Vgl. in Abgrenzung dazu Tollmien, Fürstin der Wissenschaft, a. a. O., S. 98: »Wenn es ihr als Frau gelingen würde, sich einen Platz in der Wissenschaft zu erobern […]«
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Sofja Kowalewskaja: Von der Sehnsucht, unbedingte Fragen zu stellen
die um sie errichtet werden? Daran schlossen sich weiterführende Überlegungen an, Fragen und Problematisierungen, die sich an Kowalewskajas Denken ablesen lassen, in ihren wechselseitigen Bezugnahmen: der Bruch mit der Anschaulichkeit des euklidischen Kosmos, damit an die Grenzen des Begreiflichen zu gehen und doch erneut daraus Handgreifliches (im Sinne neuer Anwendungen) zu gewinnen; die Zurückweisung des Habitus der ›gelehrten Frau‹, die als bloße Ausnahme gesehen in der Tat nicht ernst genommen wird; die Sehnsucht danach, unbedingte Fragen zu stellen; die politischen Strategien wiederum, die erforderlich sind, einen Raum reiner Geltungen zu eröffnen. Es liegt in der Sache, der Beschäftigung mit der Lebens- und Zeitgeschichte Sofja Kowalewskajas, die Frage nach erschwerten oder erleichterten Möglichkeiten des Zugangs zum Wissen aufzuwerfen. Was die Grenzen des Wissens betrifft, schreibt Michel Serres an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert: In gewisser Weise haben wir es nicht mehr nötig, Wissen zu ›erwerben‹. Es ist bereits da, überall um uns herum und in unserer Reichweite. Damit verkürzt sich das Problem auf die Frage, wo das Wissen, das ich suche, zu finden ist. […] Denn in der Vergangenheit bestimmte das Wissen um den Inhalt diesen seltenen, konzentrierten Ort: Bibliothek, Laboratorium, Observatorium … Heute verlangt die Flut des überall verteilten, dekonzentrierten Wissens, dass wir uns mit der Frage nach der Adresse auseinandersetzen. Der Inhalt hat immer weniger Bedeutung, der Zugang wie die Validierung dafür immer mehr. 35
Wo ist das Wissen, das ich suche, zu finden? Damit wird die Frage nach den Grenzen des Wissens umgebrochen auf seine Adresse.
Literatur Authier, Michel, »Archimedes: Das Idealbild des Gelehrten«, in: Michel Serres, Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995, S. 177–228. Fox-Keller, Evelyn, Barbara McClintock. Die Entdeckerin der springenden Gene. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 1995.
35 Michel Serres und Nayla Farouki (Hg.), Thesaurus der exakten Wissenschaften, Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2001, S. XV.
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Mechthild Hetzel Heine, Heinrich, »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« (1831), Werke und Briefe in zehn Bänden (Bd. 5). Herausgegeben von Hans Kaufmann, Berlin, Weimar: Aufbau Verlag, 1972, S. 167–308. Hemme, Heinrich, »Probleme ohne Lösungen«, Das Beste aus dem Mathematischen Kabinett, hrsg. v. Thiagar Devendran, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1990, S. 93–98. Köster, Thomas, Nikolaj Wassiljewitsch Gogol, in: Microsoft Encarta Enzyklopädie, 2001. Kowalewskaja, Sofja, Autobiographische Skizze, Deutsche Rundschau 108, 1901, S. 152–160; Wiederabdruck des Autographs http://www.tollmien.com (2007– 09–27). Kowalewskaja, Sofja, Erinnerungen an meine Kindheit. Weimar: Kiepenheuer, 1960. Kowalewskaja, Sofja, Zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen. Berlin: Reimer, 1874,Wiederabdruck Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: Digitalisierungszentrum, http://gdz.sub.uni-goettingen.de/ dms/load/toc/?IDDOC=293776 (2007–09–27) Philosophisches Wörterbuch (1911), Artikel?, (19. Auflage), begründet von Heinrich Schmidt und neu bearbeitet von Georgi Schischkoff, Stuttgart: Kröner, 1974. Université Nancy 2, Archives Henri Poincaré, La correspondance de Henri Poincaré. http://www.univ-nancy2.fr/poincare/chp/index.html (2007–09–27) Farouki, Nayla & Michel Serres (Hg.), Thesaurus der exakten Wissenschaften, darin: »Astrophysik, Biochemie, Chemie, Genetik, Geowissenschaften, Informatik, Mathematik, Physik«, Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2001. Tobies, Renate (Hg.), Aller Männerkultur zum Trotz: Frauen in Mathematik und Naturwissenschaften. Frankfurt/M.: Campus, 1997. Tollmien, Cordula, Fürstin der Wissenschaft: die Lebensgeschichte der Sofja Kowalewskaja. Weinheim: Beltz & Gelberg, 1995. Vogt, Annette, »Wissenschaft und Persönlichkeit: Karl Weierstraß und Sonja Kovalevskaja«, Wissenschaftliche Zeitschrift Friedrich-Schiller-Universität Jena, Naturwissenschaftliche Reihe, 37, 1988, S. 271–278. Weierstrass, Karl, Briefwechsel zwischen Karl Weierstrass und Sofja Kowalewskaja. Berlin: Akademie, 1993. Wicht, Wolfgang, »Die Ermordung des Hausengelchens«, in: Virginia Woolf: Ein eigenes Zimmer; Drei Guineen, Essays. (2. veränderte Auflage), Leipzig: Reclam, 1992, S. 282–297.
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Heinrich Hertz an den Grenzen seiner Wissenschaft Alfred Nordmann
Ich habe in der letzten Zeit ziemlich viel auf dem Lesezimmer in den ersten Bänden der Leipziger Acta eruditorum von 1682 an geblättert, worin sich außerordentlich viel Interessantes findet, besonders die Arbeiten Leibnizens, so die ersten Aufsätze über Differentialrechnung, welche die Erfindung selbst enthalten. Es macht einem einen besonderen Eindruck, wenn man die sehr unscheinbaren Knospen sieht, aus denen sich die ganze Wissenschaft entfaltete, den unbehilflichen Druck und die sehr unausgebildete Zeichensprache. Auch wenn man bedenkt, daß das, was einem jetzt wie das Stammeln eines Kindes vorkommt, seinerzeit nur den ersten Gelehrten verständlich war. Da die Akten zum größten Teil eine fortlaufende Kritik aller neu erschienenen, bedeutenderen Bücher bilden, so bekommt man zugleich einen anziehenden Einblick in den Stand der damaligen Wissenschaft und Anschauungen. Sehr ergötzlich sind dann wieder die noch mit unterlaufenden scholastischen Bücher, so die Physik eines Jesuiten, in denen er alle Fragen beantwortet, bis auf einzelne, die er dem Scharfsinn des Lesers überläßt, darunter folgende: was ein größeres Wunder sei, eine Mücke von einer Elle Größe oder ein Walfisch von 1000? num detur realiter (!) culex, deren einer Flügel die ganze Erde bedecken kann? Ob es eine solche Kälte gäbe, daß die Wörter zusammenfrieren? Ob Eva die Tochter oder Schwester des Adam genannt werden müßte usw. Dann wieder Bücher, in denen die Wirklichkeit der Hexerei nachgewiesen wird, sehr viele theologische Bücher, dazwischen dann aber immer die Spuren der neuen Wissenschaft, und zwar die glänzendsten Entdeckungen. Es tut mir wirklich manchmal leid, daß ich nicht damals gelebt habe, wo es noch so viel Neues gab; es gibt zwar auch jetzt genug Unbekanntes, aber ich glaube nicht, daß noch jetzt leicht etwas gefunden werden kann, was so umgestaltend auf die ganze Anschauungsweise einwirken kann wie in jener Zeit, wo Teleskop und Mikroskop noch neu waren. Indessen mag dies Gefühl auch teilweise ein falsches sein, ganz ohne Recht ist es aber, glaube ich, nicht. Ich weiß nicht, ob Euch diese Erzählungen aus dem, was ich gelesen, interessieren; Mama hörte wohl etwas anderes lieber, aber ich möchte Euch doch gerne etwas schreiben, und ohne dies könnten meine Briefe nur sehr kurz sein;
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denn augenblicklich ist für mich das, was ich lese, ziemlich identisch mit dem, was ich erlebe. 1
Dies steht in einem Brief aus den Studententagen von Heinrich Hertz, der am 22. Februar 1857 in Hamburg zur Welt kam und erst 36 Jahre alt am 1. Januar 1894 in Bonn starb. Sein Ruhm verdankt sich seinem experimentellen Nachweis der so genannten Radiowellen, aber auch seine philosophische Bedeutung ist unumstritten. Henri Poincaré, Hermann Cohen, Ernst Cassirer, der so genannte Wiener Kreis und vor allem Ludwig Wittgenstein haben seine Gedanken aufgenommen. Der Nachhall von Hertz, insbesondere in der Philosophie Wittgensteins, kann gar nicht überschätzt werden, deutliche Spuren hierfür finden sich in dessen frühem und spätem Werk. Mir geht es aber nicht um Hertz als Anreger oder Vorfahre Wittgensteins, sondern um Hertz als eigenständigen Philosophen, der seine spezifische Problemsituation im Umfeld des Kantianismus bearbeitete, der aber nicht nur die Auseinandersetzungen eines Hermann von Helmholtz zu den Grundlagen der Geometrie reflektiert, sondern auch mit der Zuspitzung der kantischen Philosophie durch Arthur Schopenhauer vertraut ist. Wie ich zeigen werde, hat Hertz somit in Bezug auf die Physik und ihre Bedeutung für den Menschen im Ausgang des 19. Jahrhunderts eine ähnliche Bedeutung wie Max Weber für die Soziologie. Mit Hertz als originellem Denker geht es im Folgenden also nicht um ein paar philosophische Gedanken, die Hertz der Nachwelt thesenartig überlassen hat, sondern um ein philosophisches Problem, mit dem er sich sein Leben lang herumschlagen musste. Dieses Problem stelle ich in zwei Teilen vor. Zunächst erscheint es als Frage danach, was Physik eigentlich ist, wo sie beginnt und wo sie aufhört. Wo die Physik aufhört – das erfährt im zweiten Teil eine Ausweitung. Hier geht es um den Geltungsbereich der Physik in Bezug auf das so genannte Lebensproblem.
1 Johanna Hertz (Hg.), Heinrich Hertz: Erinnerungen, Briefe, Tagebücher/Memoirs, Letters, Diaries, 2. Auflage, Weinheim: Physik Verlag, 1977, S. 80.
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Heinrich Hertz an den Grenzen seiner Wissenschaft
1.
Bilder
Hertz war nicht nur Naturwissenschaftler und Philosoph, sondern auch als Physiker ein Doppeltalent. Er gilt nicht nur als Theoretiker, als der er uns heute vornehmlich beschäftigen wird, sondern ebenso als hervorragender Experimentator. Schon zu Schulzeiten ergänzte sich seine mathematisch-sprachliche Bildung mit handwerklicher Tätigkeit, einschließlich des Baus wissenschaftlicher Präzisionsinstrumente. Darum nahm er zunächst ein Ingenierusstudium auf, wechselte nach einigen Semestern aber zur Physik. Ganz zu Anfang seines Studiums hörte er bei Fritz Schultze Vorlesungen über Kants Erkenntnistheorie und die ›Scheinbilder‹, mit denen sich der menschliche Verstand auf die Wirklichkeit bezieht. Physik studierte er hauptsächlich bei Hermann von Helmholtz und Gustav Kirchhoff; in Berlin promovierte er im März 1880. Wie es seinerzeit noch üblich war, stellte der Doktorand drei Thesen zur Diskussion, die er in der Disputation verteidigen musste. 1. Ein Fehler von 1/100 des wahren Wertes bildet die Grenze für die wünschenswerte Genauigkeit, ein Fehler von 1/1000 des wahren Wertes die Grenze für die mögliche Genauigkeit in der Bestimmung einer physikalischen Konstanten; genauer als bis auf 1/10000 ihres Wertes lässt sich kaum eine Konstante auch nur definieren. 2. Obwohl es verfehlt sein würde, im Verlaufe einer Untersuchung eine vorgefasste Meinung beständig festzuhalten, so ist doch im Beginn der Untersuchung eine solche vorgefasste Meinung nicht nur nicht schädlich, sondern sogar notwendig. 3. Die untergeordnete Stellung, welche in dem Gymnasialunterricht die Studien mathematischen und naturwissenschaftlichen Inhalts gegenüber den humanistischen Studien einnehmen, ist gerechtfertigt. 2
Mit den drei Thesen bewegt Hertz sich gleich dreimal an die Grenzen der Physik. In der ersten These geht es um das zunächst technische Problem der Messgenauigkeit. In der zweiten These geht es um die Grenze des Induktivismus und jeder sinnesphysiologischen Erkenntnistheorie, also jedes Versuchs, allein durch den Erwerb von Mess-
Ueber die Induction in Rotirenden Kugeln, Berlin: Schade, 1880, S. 93 ff. Ohne die Thesen findet sich der Text der Dissertation auch in den Schriften vermischten Inhalts, Leipzig: Barth, 1895, S. 37–134. 2
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werten und Sinnesdaten zu einer Erkenntnis vorzudringen. Die dritte These betrifft die Grenze des Geltungsbereichs der Physik als Ganzer, hier gegenüber den humanistischen Studien, die Hertz selbst intensiv betrieb, später auch gegenüber dem Lebensproblem, das von der Physik überhaupt nicht berührt werde. In allen drei Thesen verficht Hertz eine Grenzziehung und weist die Physik in ihre Grenzen. Vorschnell ließe sich hieraus schließen, Hertz meine, die Physik müsse sich nun auch in diese Grenzen fügen. Dies jedoch steht in einer unauflösbaren Spannung zu einem Grundmotiv der Physik, wie sie insbesondere bei Helmholtz in Berlin betrieben wurde, nämlich ihrem Auftrag die Wissensgrenzen durch neue Entdeckungen permanent zu erweitern. Diese Spannung macht die lebenslange philosophische Problemsituation aus, in der Hertz die durchaus variablen, aber dennoch nicht hintergehbaren Grenzen der Physik zu bestimmen sucht. Einen allerersten Eindruck dieses Spannungsverhältnisses lässt sich angesichts der ersten These gewinnen. Eine Messgenauigkeit von mehr als 1/1000 des wahren Wertes sei bei der Bestimmung einer physikalischen Konstante nicht möglich, meinte Hertz in seiner Disputation. Tatsächlich entschied sich Hertz schon vor der Promotion gegen die Bearbeitung einer von Helmholtz für ihn formulierten Preisaufgabe, weil der gesuchte Effekt die Bestimmung des Millionstels einer Größe erfordert hätte. Neun Jahre später gelang Hertz im Zusammenhang seiner elektrodynamischen Experimente eine derartige Verstärkung und Isolation dieses Effekts, dass er auf eine präzise Messung verzichten konnte und nur noch seine Existenz feststellen musste. Weitere acht Jahre später postuliert die Einleitung zu den Prinzipien der Mechanik ein empirisches Kriterium, wie prinzipiell zwischen zwei Darstellungen der Mechanik unterschieden werden könne, wobei der hierzu nötige experimentelle Nachweis eine prinzipiell unerreichbare Messgenauigkeit verlangen würde. Die Spannung zwischen Grenzziehung und Erweiterung der Physik wird nun aber dort schwieriger, wo das jeweils gültige Gleichgewicht nicht einfach durch technische Innovationen, feinere Instrumente, größere Effekte, bessere Irrtumskontrolle verschoben werden kann. Bald schon sollte Hertz auf eine weitere Dimension dieses Spannungsverhältnisses stoßen. Diesmal geht es um die Entzauberung einer Neuentdeckung durch ihre Erklärung und theoretische Darstellung – wodurch die Physik, wie Hertz einmal sagte, philologisch werde. Dagegen steht der experimentelle Durchbruch, der philologische Querelen hin136 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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ter sich lässt und zu einer wirklichen Klärung der Lage führt – was Hertz als ein philosophisches Ergebnis der Physik bezeichnet. Schon bald nachdem er vom Ingenieursstudium in die Physik wechselte, schreibt Hertz in seinem wöchentlichen Brief an die Eltern: Um auf Papas Brief zu antworten, sage ich zunächst, daß Papa ganz recht hat und daß ich wirklich schwelge in meiner neuen Beschäftigung und in dem Gedanken, daß das Studium nun nicht nach ein paar Jahren aufhört, sondern das ganze Leben fortdauern soll. Freilich ist man nie ganz zufrieden, und so brenne ich denn auch vor Ungeduld, ans Ende des bisher Erreichten zu kommen und von da in ein unbekanntes Land weiterzugehen; aber der Weg ist entsetzlich weit und zum großen Teil derart, daß er auch bei der größten Anstrengung viel Zeit braucht und daß dabei das festina lente nur gar zu sehr gilt. Ich suche jetzt also so viel wie irgend möglich in mich aufzunehmen, und es wird wohl noch eine Weile dauern, ehe ich darüber hinauskomme. Der Stoff ist ganz ungeheuer, und ich amüsiere mich darüber, daß ich früher eigentlich immer die Absicht hatte, das, was ich jetzt treibe, gleichfalls, aber nebenbei zu treiben. Dabei kommen, wenn man weitergeht, immer mehr Fragen und immer weniger Antworten zum Vorschein; denn nur das bereits Erklärte bekommt der Laie zu hören. Aber das ist gerade schön, denn gerade das Aufklären macht Freude, die erklärte Natur kommt mir fast weniger schön vor als die unerklärte. 3
Hier und im eingangs zitierten Brief besteht die Ernüchterung allein darin, dass das einmal verstandene Naturphänomen nicht mehr geheimnisvoll und aufregend ist. Schon bald nach der Promotion sollte diese Ernüchterung andere und konkretere Form annehmen. Nun ging es statt um die Erklärung der Entdeckung erstmals nur noch um Philologisches, also um Worte und Zeichen und deren Auslegung, wobei ihr physikalische Inhalt aber gleich blieb und unbedeutend wurde. Diese erste Erfahrung betraf seinen Beitrag Über die Berührung fester elastischer Körper aus dem Jahr 1881. 4 Sein Herausgeber wies ihn darauf hin, dass der berühmte Gustav Kirchhoff von der wichtigen physikalischen Einsicht zwar überzeugt sei, aber »an der Form noch manches auszusetzen« habe: Ich war zuerst verwundert und fühlte mich sogar geschmeichelt, daß Kirchhoff sie so genau durchgearbeitet habe, aber abgesehen von einem Vorzeichenschnitzer, den ich allerdings übersehen, schienen seine Anmerkungen Johanna Hertz (Hg.), Heinrich Hertz: Erinnerungen, Briefe, Tagebücher, a. a. O., S. 68 f. 4 Schriften vermischten Inhalts, a. a. O., S. 155 ff. 3
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nur dasselbe zu sagen und keineswegs besser, als was in der Arbeit stand. Teilweise sind die Dinge auch in einer Kirchhoff besonders eigenen Manier ausgedrückt, die mir durchaus nicht gefällt und die ich mir sehr ungern oktroyieren lasse. Ich ging deshalb zu ihm, um mit ihm die Sache zu besprechen; er war auch sehr freundlich und lobte die Arbeit sehr, aber da er offenbar der Meinung war, sehr wesentliche Fehler gefunden und verbessert zu haben und zu glauben schien, ich sei gewissermaßen zufällig zu den richtigen Resultaten gekommen (er sprach immer von seinen Rechnungen und von meinen als von etwas Verschiedenem, während beides ganz dasselbe ist), so ging mein anfängliches Vergnügen in ziemlichen Ärger über und in die größte Unlust, an der Arbeit das geringste zu ändern. Indessen werde ich mir wohl so helfen, daß ich einfach seinen Ausdruck für meinen setze; so habe ich nicht viel Mühe, und er muß zufrieden sein, obwohl ich nicht glaube, daß dadurch das Ganze besser wird. 5
In der Sprache der heutigen Wissenschaftstheorie waren die unterschiedlichen mathematischen Formulierungen empirisch äquivalent, weil sie die gleichen bekannten Phänomene beschreiben. In der Sprache des späteren Hertz handelt es sich um zwei Bilder. Wer sich zwischen diesen theoretischen Darstellungen oder Bildern entscheiden will, kann sich nicht auf verfügbare empirische Evidenz stützen, sondern muss andere Kriterien heranziehen, beispielsweise das Kriterium der Einfachheit, der Schönheit, der Konvention. Wiederum in der Sprache der heutigen Wissenschaftstheorie: Die Entscheidung zwischen den Bildern wird nicht von den bekannten Tatsachen erzwungen oder diktiert – die Fakten lassen verschiedene Darstellungen zu. Die Entscheidung gilt somit als empirisch unterdeterminiert und die Abwägung wird zu einer philologischen Angelegenheit, die physikalisch gesehen ziemlich steril und dennoch so unausweichlich wie unverzichtbar ist. Ein Ausweg aus der Situation besteht prinzipiell nun darin, dass sich die verschiedenen Darstellungen und Bilder vielleicht in Bezug auf noch nicht bekannte Tatsachen unterscheiden. Hier kann ein Experiment also Bestimmtheit schaffen, indem es eine neue Tatsache etabliert und somit die Bedeutung einer theoretischen Darstellung fixiert: Die Wirklichkeit wird auf die Darstellung festgelegt, die Darstellung auf die Wirklichkeit. Und so ging es Hertz im Feld der Elektrodynamik. Es gab mindestens drei in Bezug auf bekannte Phänomene empirisch äquivalente Theorien, eine davon war Maxwells, eine andere wurde von Hermann 5 Johanna Hertz (Hg.), Heinrich Hertz: Erinnerungen, Briefe, Tagebücher, a. a. O., S. 146 ff.
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von Helmholtz ins Spiel gebracht. In Bezug auf wenigstens eine noch nicht bekannte Tatsache unterschieden sie sich, diese Tatsache jedoch lag jenseits der Messgenauigkeit. Wir wissen, dass Hertz in diesem Fall den Ausweg gefunden hat, was zum endgültigen Durchbruch und zur begrifflichen Klärung der Theorie Maxwells führte. Interessanterweise beschrieb Hertz seine Erfolgsgeschichte als Übergang von Philologie zu Philosophie. Hier eine vereinfachte Darstellung: Hertz begann 1884 mit einer philologischen Vorarbeit, die er trotz ihrer enormen Bedeutung nach seinem philosophischen Durchbruch nie mehr zitierte. Er schrieb einen Aufsatz mit dem langen Titel Über die Beziehungen zwischen den Maxwell’schen elektrodynamischen Grundgleichungen und den Grundgleichungen der gegnerischen Elektrodynamik. Hier klärte er das Verhältnis der rivalisierenden Theorien zunächst einmal auf und entwickelte die erste Darstellung von Maxwells Theorie in der mathematischen Form, die sich bis heute weitgehend unverändert durchgehalten hat. Hertz zeigte nun, dass seine Fassung der Maxwell’schen Gleichungen einen gemeinsamen Nenner für alle konkurrierenden Theorien darstellte, dass die Theorien sich allein dadurch unterschieden, welche physikalische Bedeutung bestimmten Variablen in den Formeln zugewiesen wurde. Vor diesem Hintergrund interpretierte Hertz dann seinen experimentellen Nachweis der heute so genannten Radiowellen. Die Experimente zeigten, dass sich ein elektrodynamischer Effekt nicht als Fernwirkung mit unendlicher Geschwindigkeit, sondern wie das Licht mit sehr hoher endlicher Geschwindigkeit fortpflanzte, was ihn dann auf die Wellenstruktur dieser Fortpflanzung führte und die von Maxwell postulierte Analogie von Licht und Elektrizität bestätigte. Aus dem Hochgefühl seiner äußerst diffizilen experimentellen Erkundungen, Entdeckungen, Erfindungen heraus schreibt er an seine Eltern: Ich habe jetzt Stoff für viele Arbeiten, die alle der Mühe wert sind und zwischen denen ich nur die Qual der Wahl habe. Kann ich genügende derselben ausführen, so glaube ich die Mittel zu haben, um große Gebiete, die bisher ohne Abschluß waren, zur Vollendung zu bringen. Auch würdet Ihr die Wichtigkeit der Versuche wohl einsehen können, wenn ich mich bemühte, sie Euch auseinanderzusetzen. In wissenschaftlichen Arbeiten ist dazu ja kein Grund vorhanden, da vom Leser vorausgesetzt werden darf, daß er die Folgerungen, die auf der Hand liegen, von selber zieht. Ich habe jetzt die Annehmlichkeit bei der Arbeit, mich sozusagen auf eigenem Grund und Boden zu fühlen und fast sicher zu sein, daß es sich nicht um einen ängstlichen Wett-
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Alfred Nordmann
lauf handelt und daß ich auch nicht auf einmal in der Literatur finde, ein anderer habe das längst gemacht. Hier fängt eigentlich erst das Vergnügen des Forschens an, wo man mit der Natur sozusagen allein ist und nicht mehr über menschliche Meinungen, Ansichten oder Ansprüche disputiert. Das philologische Moment fällt fort, und das philosophische bleibt allein übrig, um mich mehr gelehrt als klar auszudrücken. 6
Über diesen Weg vom philologischen zum philosophischen Aspekt berichtet Hertz auch in der Einleitung seiner Schriften zur Ausbreitung der elektrischen Kraft. Zunächst zeigt er, dass unterschiedliche physikalische Theorien die gleiche innere Bedeutung haben können: Mancher hat sich mit Eifer an das Studium des Maxwell’schen Werkes gemacht und, ohne auf ungewöhnliche mathematische Schwierigkeiten gestossen zu sein, dennoch darauf verzichten gemusst, sich eine völlig widerspruchsfreie Vorstellung von Maxwells Ansichten zu bilden. Mir selbst ist es nicht besser gegangen. Bei der grössten Bewunderung für die mathematischen Beziehungen der Maxwell’schen Theorie war ich doch hinsichtlich der physikalischen Bedeutung seiner Behauptungen nicht immer vollständig sicher, Maxwells wahre Meinung errathen zu haben. 7
Welche physikalische Bedeutung kommt nun aber bestimmten Zeichen in Maxwells Gleichungen zu? Verdankt sich eine gewisse Polarisation einer Fernkraft, die unmittelbar wirkt, oder einer sich mit endlicher Geschwindigkeit ausbreitenden Kraft, die gewissermaßen ein Signal transportiert? Hier konnte Hertz mit seinen Radiowellen letzteres nachweisen und auch Maxwells physikalische Auffassung bestätigen: In mathematischer Hinsicht können wir die Behandlung [des Maxwell’schen] Standpunktes vollständig zusammenfallen lassen mit dem Grenzfall des [Helmholtz’schen]. Aber physikalisch betrachtet bleibt er gleichwohl vollständiger von demselben verschieden. 8 Werfen wir einen Blick zurück. Durch die Gesammtheit der geschilderten Versuche ist zum ersten Male der Beweis geliefert worden für die zeitliche Ausbreitung einer vermeintlichen Fernkraft. Diese Thatsache bildet den philosophischen, in gewissem Sinne zugleich den wichtigsten Gewinn der Versuche. 9
Ebd., S. 254. Heinrich Hertz, Untersuchungen zur Ausbreitung der elektrischen Kraft, Leipzig: Barth, 1892, S. 22. 8 Ebd., S. 27. 9 Ebd., S. 20. 6 7
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Heinrich Hertz an den Grenzen seiner Wissenschaft
Mit seinen experimentellen und theoretischen Arbeiten zur Elektrodynamik hat Hertz den zeitgenössischen Physikern erfolgreich den Weg aus einer verworrenen Lage gezeigt. Nachzutragen bliebe hier nur, dass Hertz natürlich nicht lange »allein mit der Natur« blieb. Wie auch er nicht anders erwarten konnte, wurde er bald von philologischen Interpretationsfragen eingeholt, als nämlich auch seine experimentellen Resultate zeitweilig anders gedeutet und seine Schlussfolgerungen in Frage gestellt wurden. Als weniger erfolgreich, dafür besonders aufschlussreich gilt schließlich seine dritte und letzte Auseinandersetzung mit empirisch äquivalenten Darstellungen. In den Prinzipien der Mechanik greift er ein Thema auf, das ihn schon zu Studienzeiten beschäftigte. In einem Brief an die Eltern berichtet er, wie er sich bei der Lektüre klassischer Texte zu Mechanik und Mathematik immer wieder von der Suche nach einer einfacheren, klareren Darstellung unterbrechen lässt. Sehr viel Zeit verliere ich auch durch eigenes Probieren, indem ich für die Aufgaben einfachere Lösungen und für die Sätze einfachere Beweise suche, und wenn ich dann solche finde, so finde ich sie gewöhnlich ein paar Tage darauf auch schon in irgendeinem Buche, so daß ich ruhig hätte weiterlesen können; ich kann mich dessen aber nicht enthalten, und es wird mir auch der Sinn vieler Sätze und ihrer Beweise dadurch bedeutend klarer. Dann brauche ich auch viel Zeit, um über die Sachen selbst nachzudenken, und gerade die Prinzipien der Mechanik, wie schon die Worte: Kraft, Zeit, Raum, Bewegung sagen, können einen hart genug beschäftigen, ebenso in der Mathematik die Bedeutung der imaginären Größen, des unendlich Kleinen und Großen und ähnliches. Wenn ich nur lesen wollte, ohne über alles dies nachzudenken, könnte ich freilich viel mehr lesen, aber [dies] ist mir […] nicht möglich[.] 10
Ich kann hier nicht auf die Geschichte des Kraftbegriffs eingehen und warum die metaphysiche Dunkelheit gerade dieses Begriffs Hertz solche Schwierigkeiten bereitete. Allein die Nennung der drei Newtonschen Bewegungsgesetze ruft in Erinnerung, dass es dort um Kräfte und Gegenkräfte geht, dass ›Kraft‹ ein Grundbegriff der Newtonschen Mechanik ist. Interessant ist nun vor allem, wie Hertz mit dem Problem umgeht. Einige hatten vorgeschlagen, den Kraftbegriff durch einen kaum weniger schwierigen Begriff zu ersetzen, nämlich dem der Energie, wobei sie zeigen mussten, wie sich der neue Begriff zum alten verhielt. Andere hatten versucht, den Kraftbegriff aufzuhellen, indem 10
Johanna Hertz (Hg.), Heinrich Hertz: Erinnerungen, Briefe, Tagebücher, a. a. O., S. 76
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sie ihn klar definierten – indem sie also Aussagen darüber machten, wie ›Kraft‹ zu verstehen sei. Hertz verfolgt eine ganze andere Strategie – keine neuen Aussagen machen und weitere Verwirrung stiften, lieber weniger sagen. Auf die Zeichen ›Kraft‹ und ›Elektrizität‹ aber hat man mehr Beziehungen gehäuft, als sich völlig miteinander vertragen; dies fühlen wir dunkel, verlangen nach Aufklärung und äußern unsern unklaren Wunsch in der unklaren Frage nach dem Wesen von Kraft und Elektrizität. Aber offenbar irrt die Frage in Bezug auf die Antwort, welche sie erwartet. Nicht durch die Erkenntnis von neuen und mehreren Beziehungen und Verknüpfungen kann sie befriedigt werden, sondern durch die Entfernung der Widersprüche unter den vorhandenen, vielleicht also durch Verminderung der vorhandenen Beziehungen. Sind diese schmerzenden Widersprüche entfernt, so ist zwar nicht die Frage nach dem Wesen beantwortet, aber der nicht mehr gequälte Geist hört auf, die für ihn unberechtigte Frage zu stellen. 11
Hertz entfernt die schmerzenden Widersprüche, indem er neben die bekannten Bilder der Mechanik ein drittes setzt, das die gleichen Bewegungsphänomene beschreibt wie die überlieferte Mechanik und das den anderen Bildern also empirisch äquivalent ist. An Stelle der vier Grundbegriffe Raum, Zeit, Materie und Kraft oder Energie beruht die Hertz’sche Mechanik allein auf den drei Grundbegriffen Raum, Zeit und Materie. Dies ist zwar mathematisch zu kompliziert, um Einzug in den physikalischen Alltag zu halten, und sollte bald durch die ganz neue Mechanik Einsteins abgelöst werden, aber es zeigt doch, dass der Begriff der ›Kraft‹ für die Mechanik nicht wesentlich ist. Er muss kein Grundbegriff sein und ihm entspricht wohl auch nichts in der Natur; er gehört zu dem Vokabular, mit dem wir ein Vorstellungsbild oder Modell ausstaffieren, um leichter über die Phänomene nachzudenken. Ein Bild, so Hertz, muss logisch zulässig, also widerspruchsfrei sein, es muss richtig oder empirisch korrekt sein, und es muss schließlich dem Denken angemessen, also einfach, klar und deutlich sein. Jedes Bild der Mechanik, so Hertz, enthält überflüssige Begriffe und Beziehungen, jedes ist gewissermaßen ein selbständiger Apparat, der sich nur an zwei Punkten auf die Wirklichkeit bezieht, die wir modern gesprochen als ›input‹ und ›output‹ bezeichnen: Unsere Vorstellungsbilder knüpfen an einen bestimmten Zustand an und führen zu Vo11 Heinrich Hertz, Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig: Barth, 1894, S. 9.
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raussagen über einen zukünftigen Zustand. Was dazwischen liegt und unser Denken von der Bestandsaufnahme zur korrekten Voraussage führt ist eine begriffliche Maschinerie, von der wir nicht wissen, ob ihr in der Wirklichkeit etwas entspricht. Und da es verschiedene solcher Apparate geben kann, entsteht die philologisch vertrackte Situation, dass wir nur nach weichen Kriterien der Angemessenheit zwischen ihnen entscheiden können. In den Prinzipien der Mechanik zeigt Heinrich Hertz, dass ein Bild der Mechanik, das ohne den Kraftbegriff auskommt, dem Zweck der Klarheit besonders angemessen ist. Es möchte nun so scheinen, als verzichte der inzwischen schwer kranke Physiker Hertz auf den Anspruch, allein mit der Natur philosophische Ergebnisse zu erzielen, als ziehe er sich recht genügsam auf das philologische Projekt einer klaren Modellkonstruktion zurück. Ganz zum Schluss seiner Einleitung findet sich jedoch eine oft übersehene Stelle, in der es Hertz um ein empirisches Kriterium geht, das zwischen den Bildern der Mechanik eindeutig entscheiden könnte – nur liegt dieses Kriterium wirklich jenseits aller Messmöglichkeit. Auch mit dieser philologischen Übung möchte er also das Philologische hinter sich lassen Die Ungeduld des Physikers jedenfalls drückt sich besonders schön in einer Passage aus, in der er sich über die Newtonsche Mechanik auf eine Weise lustig macht, die auch heute noch ungebührlich klingt. Eine Konsequenz des Hertz’schen Bildes der Mechanik ist nämlich, dass Systeme in ihrem Zustand der Bewegung oder der Ruhe beharren, dass es also einen Zustand der Ruhe gibt, in dem nichts passiert und über den demnach nichts weiter zu sagen ist. Ganz anders in der herkömmlichen Mechanik: Wir sehen etwa ein Stück Eisen auf dem Tische ruhen, wir vermuten demnach, daß keine Bewegungsursachen, keine Kräfte daseien. Die Physik, welche auf unserer Mechanik aufgebaut und durch dies Fundament notwendig bestimmt ist, belehrt uns eines anderen. Jedes Atom des Eisens wird zu jedem anderen Atom des Weltalls durch die Gravitationskraft hingezogen. Jedes Atom des Eisens ist aber auch magnetisch arid dadurch mit jedem anderen magnetischen Atom des Weltalls durch neue Kräfte, verbunden. Aber die Körper des Alls sind auch erfüllt mit bewegter Elektrizität und von diesen bewegten Elektricitäten gehen weitere verwickelte Kräfte aus, welche an jedem magnetischen Atom des Eisens ziehen. Und insofern die Teile des Eisens selbst Elektricität enthalten, haben wir wieder andere Kräfte in Betracht zu ziehen; neben diesen dann noch verschiedene Arten von Molekularkräften […]
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So beginnt eine Aufzählung der vielfältigen Kräfte, die im und auf das Stück Eisen wirken. Einige dieser Kräfte sind nicht klein; wäre von allen Kräften nur ein Teil wirksam, so könnte dieser Teil das Eisen in Stücke reißen. In Wahrheit aber sind alle Kräfte so gegen einander abgeglichen, daß die Wirkung der gewaltigen Zurüstung Null ist; daß trotz tausend vorhandenen Bewegungsursachen Bewegung nicht eintritt; daß das Eisen eben ruht. Wenn wir nun diese Vorstellungen unbefangen Denkenden vortragen, wer wird uns glauben? Wen werden wir überzeugen, daß wir noch von wirklichen Dingen reden und nicht von Gebilden einer ausschweifenden Einbildungskraft? Wir selbst aber werden nachdenklich werden, ob wir wirklich die Ruhe des Eisens und seiner Teile in einfacher Weise geschildert und abgebildet haben. Ob sich die Verwickelung überhaupt vermeiden läßt, ist zunächst ja fraglich; aber das ist nicht fraglich, daß ein System der Mechanik, welches sie vermeidet oder ausschließst, einfacher und in diesem Sinne zweckmäßiger ist […] 12
2.
Das Lebensproblem
Wir haben uns nun also mit Philologie als einer Grenze der Physik beschäftigt und sind dabei auf einen Kontrast gestoßen, der nun vertieft werden soll. Da ist einerseits der handwerklich verkörperte Experimentalphysiker Heinrich Hertz – allein mit der Natur und unberührt von Disputen über Meinungen, Ansichten und Ansprüchen. Da ist andererseits der brillante Mathematiker und Theoretiker Hertz, der sich dem geistigen Problem der theoretischen Darstellung widmet – inmitten der Meinungsdispute, da sich die theoretischen Darstellungen nur hier und dort mit der Wirklichkeit berühren und sich darum einer Vielfalt empirisch adäquater Darstellungsweisen öffnen. Zwischen der Erfahrung des Experimentators und der Erfahrung des Theoretikers liegt nichts und nichts vermittelt also zwischen Hand und Kopf, Körper und Geist. Der Körper steht allein in der Natur, der Geist bildermachend der Natur gegenüber. Die Unvermitteltheit dieses Gegensatzes stellt eine weitere Grenze einer Physik dar, die für ihre Fortschritte zwar auf experimentelle Entdeckungen angewiesen ist, deren Aufgabe aber darin besteht, theoretische Darstellungen zu produzieren. Diese Grenze theoretischen Wissens benennt Hertz mit aller Deutlichkeit in den allerersten Sätzen seinen Prinzipien der Mechanik: 12
Ebd., S. 15 f.
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Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewußten Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können.
Das Verfahren hierzu sei dieses: Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen. der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt erfüllbar sei, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geiste. 13
Gegen Schluss des Buches kehrt Hertz im Abschnitt über dynamische Modelle zu dieser Auffassung zurück. Was zunächst als erkenntnistheoretische Vorannahme gelten konnte, stellt sich jetzt als Konsequenz seiner Mathematiserung der Mechanik dar: § 427 Anmerkung 1. […] so ist es überhaupt unmöglich, in der Erkenntnis des Zusammenhanges natürlicher Systeme weiter zu gelangen, als soweit, als man Modelle der wirklichen Systeme angeben könne. Wir können dann in der That keine Kenntnis haben, ob die Systeme, welche wir in der Mechanik betrachten, mit den Systemen der Natur, welche wir zu betrachten meinen, in irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein darin, daß die einen Modelle der anderen sind. § 428 Anmerkung 2. Das Verhältnis eines dynamischen Modells zu dem System, als dessen Modell es betrachtet wird, ist dasselbe, wie das Verhältnis der Bilder, welche sich unser Geist von den Dingen bildet, zu diesen Dingen. […] Die Übereinstimmung zwischen Geist und Natur lässt sich also vergleichen mit der Übereinstimmung zwischen zwei Systemen, welche Modelle von einander sind […] 14
Was bedeutet nun diese Grenze des Wissens? Auch mit dieser Frage hat sich Hertz immer wieder beschäftigt, denn sie betrifft den Geltungsbereich der Physik und vielleicht aller theoretischen Naturwissenschaft. Wenn das Verhältnis von Geist und Natur darin besteht, dass der Geist Modelle entwickelt, und wenn wir über deren Übereinstimmung mit der Natur nicht mehr wissen können, als dass es sich tatsächlich um Modelle handelt, dann können wir weder in der Natur 13 14
Ebd., S. 1. Ebd., S. 199.
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noch an uns selbst so etwas wie Spontaneität, Intentionalität oder Lebendigkeit entdecken. In der physikalischen Abbildung eines dynamischen Systems durch ein anderes schränkt sich die Physik und vielleicht die ganze Naturerkenntnis auf die unbelebte Natur ein. Dies bedeutet auch, dass die sinnesphysiologischen und die so genannten psychophysischen Forschungen von vielen seiner Zeitgenossen, einschließlich seines Lehrers Helmholtz, unsinnig sind. Wir können nichts darüber aussagen, wie unser Wissen entsteht und wie wir von den Wahrnehmungen des verkörperten Experimentators zu den Darstellungen des geistigen Theoretikers gelangen. All dies kann ich hier nicht so gründlich darstellen, wie Hertz es selbst tut, aber vielleicht kann ich auch diese explizite Selbstbeschränkung des Geltungsbereichs der Physik als ein von Hertz lebenslang betriebenes Projekt skizzieren. Hier beginne ich mit Hertz’ erst vor wenigen Jahren veröffentlichten Vorlesungen aus dem Jahr 1884 über die Constitution der Materie. Auch in diesen Vorlesungen möchte Hertz vor allem genau trennen können zwischen dem, was sich der Denknotwendigkeit, was sich der Erfahrung und was sich der Zweckmäßigkeit oder Angemessenheit verdankt. Diese Art der Sortierungs- oder Reinigungsarbeit gelingt Hertz in Bezug auf die Vielzahl der Materiebegriffe nicht. Nachdem er sich mit der Undurchdringlichkeit, der Unzerstörbarkeit, Unerschaffenheit, der Konstanz als Charakteristika der Materie befasst hat, zieht er Bilanz: Wir haben nun diejenigen Eigenschaften der Materie betrachtet, welche wir als die allgemeinen und Wesentlichen derselben bezeichnen. Was ist unser Resultat? Offenbar ein sehr wenig befriedigendes, wir sehen, daß wir kaum Aussicht haben, uns über die Bedeutung und Tragweite dieser Eigenschaften völlig klar zu werden. Dieselben sind zusammengesetzt aus Resultaten unserer Beobachtung und aus Forderungen unseres Verstandes, sie entsprechen daher nur zum Theil den Eigenschaften der Dinge, zum Theil vielmehr den Eigenschaften unseres Geistes. Über die Bedeutung keiner dieser Eigenschaften besteht Übereinstimmung zwischen den Nachdenkenden, in vielen Punkten finden wir geradezu widersprechende Behauptungen. Ist es nun zu hoffen, daß auf so unsicherer Grundlage ein befriedigendes Gebäude sich werde aufbauen lassen? Dürfen wir erwarten, die complicirten Beziehungen der Materie zu enträthseln, solange uns ihre elementarsten Eigenschaften noch unklar sind? Der Erfolg der Physik scheint uns in diesem Punkte sicher zu stellen. Aber können wir auch verstehen, wie dies möglich ist, wie uns die Betrachtung der Materie nützlich sein kann, eines Dinges, dessen allereinfachste Eigenschaften wir nicht anzugeben vermögen? Gewiß
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können wir das verstehen. Ich glaube ich kann mich am ehesten deutlich machen, wenn ich einen etwas längeren Vergleich benutze. 15
Tatsächlich hebt Hertz hier zu einem längeren Vergleich an. Er soll erklären, wie physikalische Erkenntnis in einer mathematisch und logisch unreinen Welt möglich ist. Und erstaunlich an dieser Erklärung ist, dass Hertz auch hier ganz unempirisch argumentiert, nicht die Psychologie, nicht die Beschränktheit des Verstandes, nicht die Beschaffenheit von Sinneswahrnehmungen zitiert. Ich vergleiche die Materie mit einem Papiergeld, welches unser Verstand ausgiebt, um seine Beziehungen zu den Dingen zu regeln. Das Papiergeld ist ein Zeichen für etwas anderes und gerade in diesem, daß es ein Zeichen ist, liegt sein Werth und seine Bedeutung. Seine eigene Beschaffenheit ist gleichgültig; ob es diesen oder jenen Stich enthält, in rother oder blauer Farbe gedruckt, groß oder klein ist, darauf kommt es nicht an. Ähnlich ist der Begriff der Materie ein Zeichen für etwas anderes, und die eigenen Merkmale, die der Verstand diesem Begriff aufgeprägt hat, sind mehr oder weniger gleichgültig für die Dienste, die er uns leisten soll. Ganz gleichgültig sind diese Eigenschaften nicht, und so ist es auch für den Staat nicht ohne Interesse, daß sein Papiergeld dauerhaft und schwer nachzuahmen sei. Aber das Wesentliche liegt in beiden Fällen in der Bedeutung. Das Wesentliche am Papiergeld ist dies, daß ich es erhalte für eigene Arbeit und jederzeit dafür wiedererhalten kann die Arbeit anderer. Und das Wesentliche am Begriff der Materie ist dies, daß der Verstand ihn mir giebt als Grundlage meiner Empfindungen. Das Papiergeld circulirt täglich durch Tausende, welche sich nie klar gemacht haben, daß es nur ein Zeichen ist, sondern es als etwas an sich begehrenswerthes ansehen; so erscheint uns auch die Materie, welche wir uns vorstellen und wie wir sie uns vorstellen, mit allen ihren allgemeinen Eigenschaften als etwas außerhalb unserer an sich bestehendes, nicht mehr als ein Zeichen für etwas, was wir an sich nicht fassen und vorstellen können. […] Dem Kaufmann ist jeder Schein erfreulich, den er einnimmt, ob nun eine hübsche Figur sich darauf befindet oder eine häßliche, während gleichzeitig vielleicht ein Kupferstecher entrüstet ist über den schlechten Stich, das gewöhnliche Papier; in ähnlicher Weise ist der Physiker völlig zufrieden mit seiner roh und unklar definirten Materie, während der Philosoph sich als gänzlich unbefriedigt von derselben erklärt. Wollte der Philosoph wegen dieser unsicheren Definition alles verwerfen, was der Physiker aussagt über die Materie, so befände er sich in der Lage eines Mannes, der keine Bezahlung annehmen will, weil ihn die Prägung des Geldes zu unschön dünkt; anderer15 Heinrich Hertz, Die Constitution der Materie: Eine Vorlesung über die Grundlagen der Physik aus dem Jahre 1884, Berlin: Springer, 1999, S. 117.
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seits ist der Physiker, welcher die Bemühungen des Philosophen um die Materie verlacht, in der Lage desjenigen, der den Nutzen einer gut geprägten Münze leugnet. Am schlimmsten ist freilich in beiden Fällen derjenige daran, der nicht unterscheidet zwischen dem, was die Gegenstände bedeuten und dem was sie sind. 16
Wir sind schlimm dran, wenn wir nicht unterscheiden können, was die Gegenstände bedeuten und was sie sind. Warum? Und warum soll der Physiker den Philosophen ernst nehmen, warum soll er den Wert einer gut geprägten Münze schätzen? Indem sie Aufmerksamkeit auf sich selbst, auf ihre bloße Zeichenhaftigkeit zieht, kann die gut geprägte Münze wie die gute theoretische Darstellung dem Physiker einen Dienst erweisen. Nur nicht das eine für das andere halten! Nur nicht das Zeichen für die Sache selbst halten, nur nicht die Maschinerie, die unsere Vorstellungsbilder und Modelle in Gang hält, für Beschreibungen der Wirklichkeit halten, nur nicht den entbehrlichen, aber manchmal zweckmäßigen Begriff der Kraft für die Bezeichnung von etwas Wirklichem halten, und schon gar nicht die farbenfrohen Bedürfnisse des Lebens für die Gestalt der Natur halten! Auch in den Arbeiten zur Elektrodynamik finden wir diese Forderung: Wünscht man der Theorie mehr Farbe zu verleihen, so ist nichts im Wege, dass man noch nachträglich der Einbildungskraft zu Hilfe komme durch concrete sinnliche Vorstellungen von dem Wesen der elektrischen Polarisation, des elektrischen Stromes u. s. w. Aber die Strenge der Wissenschaft erfordert doch, dass wir dies bunte Gewand, welches wir der Theorie überwerfen, und dessen Schnitt und Farbe vollständig in unserer Gewalt liegt, wohl unterscheiden von der einfachen und schlichten Gestalt selbst, welche die Natur uns entgegenführt und an deren Formen wir aus unserer Willkür nichts zu ändern vermögen. 17
Wenn wir uns fragen, warum wir uns eigentlich vor derlei Verwechslungen schützen müssen, dann stoßen wir in den Prinzipien der Mechanik auf zwei Stellen, an denen uns Hertz deutlich erklärt, welchen Schaden die Verwechslungen verursachen und warum die Verwendung des Kraftbegriffs mehr ist als die Verletzung eines logisch-ästhetischen Klarheitsideals. Wenn wir die Bedeutung mit der Sache selbst verwechseln, bilden wir uns nämlich ein, wir wüssten schon, was Kraft sei, da 16 17
Ebd., S. 117 ff. Untersuchungen zur Ausbreitung der elektrischen Kraft, a. a. O., S. 30 f.
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wir ja beispielsweise selbst Kraft aufwenden, um Dinge zu heben, und da wir die Gegenkraft spüren, wenn wir den Stein an einer langen Schnur um uns herumschleudern. Und so wie wir das Spüren der Kraft in die Natur hineinprojizieren, als sei etwa der Mond mit einer langen Schnur an der Erde befestigt, so projizieren wir umgekehrt angebliche Naturkräfte in unsere Auffassung organischen Lebens, sprechen von Lebenskräften, geistigen Kräften und dergleichen, suchen im Kraftbegriff Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Organischen und Anorganischen. Die Anthropomorphisierung der Natur ist für Hertz aber genauso illegitim, wie die Ausweitung der Mechanik auf Prozesse, die wir nicht für mechanisch halten. Nachdem Hertz eine Mechanik ohne Kraftbegriff konzipiert hat, stellt er daher die Frage nach ihrem Geltungsbereich. Es ist gewiß eine gerechtfertigte Vorsicht, wenn wir im Texte das Gebiet unserer Mechanik ausdrücklich beschränken auf die unbelebte Natur und die Frage vollkommen offen lassen, wie weit sich ihre Gesetze darüber hinaus erstrecken. In Wahrheit liegt die Sache ja so, daß wir weder behaupten können, daß die inneren Vorgänge der Lebewesen denselben Gesetzen folgen, wie die Bewegungen der leblosen Körper, noch auch behaupten können, daß sie andern Gesetzen folgen. Der Anschein aber und die gewöhnliche Meinung spricht für einen grundsätzlichen Unterschied. Und dasselbe Gefühl, welches uns antreibt, aus der Mechanik der leblosen Welt jede Andeutung einer Absieht, einer Empfindung, der Lust und des Schmerzes, als fremdartig auszuscheiden, dasselbe Gefühl läßt uns Bedenken tragen, unser Bild der belebten Welt dieser reicheren und bunteren Vorstellungen zu berauben. Unser Grundgesetz, vielleicht ausreichend die Bewegung der toten Materie darzustellen, erscheint wenigstens der flüchtigen Schätzung zu einfach und zu beschränkt, um die Mannigfaltigkeit selbst des niedrigsten Lebensvorganges wiederzugeben. 18
Normalerweise würde es so scheinen, als wäre eine Theorie durch eine solche Einschränkung ihres Geltungsbereichs geschmälert. Nach all dem, was wir bisher gehört haben, kann es uns aber nicht mehr überraschen, wenn Hertz die Unfähigkeit seiner Mechanik, auch nur den geringsten Lebensvorgang wiederzugeben, anders bewertet: Daß dem so ist, scheint mir nicht ein Nachteil, sondern eher ein Vorzug unseres Gesetzes. Eben weil es uns gestattet das Ganze der Mechanik umfassend zu überblicken, zeigt es uns auch die Grenzen dieses Ganzen. Eben weil
18
Prinzipien der Mechanik, a. a. O., S. 45.
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es uns nur eine Thatsache giebt, ohne derselben den Schein der Notwendigkeit beizulegen, läßt es uns erkennen, daß alles auch anders sein könnte. Vielleicht wird man solche Erörterungen an dieser Stelle für überflüssig halten. In der That ist man auch nicht gewöhnt, sie in der gewöhnlichen Darstellung der Mechanik bei den Elementen behandelt zu sehen. Aber dort gewährt die völlige Unbestimmtheit der eingeführten Kräfte noch einen weiten Spielraum. Man behält sich stillschweigend vor, später etwa einen Gegensatz zwischen den Kräften der belebten und der unbelebten Natur festzustellen. In unserer Darstellung ist das betrachtete Bild von vornherein so scharf umrissen, daß sich nachträglich kaum mehr tief eingreifende Einteilungen werden vornehmen lassen. 19
Hiermit etabliert Hertz eine Grenze zwischen dem Ganzen der exakten Wissenschaft und einem gesunden und natürlichen Gefühl, das durch die Behauptung verletzt würde, auch die belebte Natur folge den Gesetzen der Mechanik. Dies bedarf einer Verdeutlichung, damit Hertz nicht etwa in falschen Metaphysikverdacht gerät. Die Grenze, um die es hier geht, ist nicht etwa eine Grenze des Mechanischen gegenüber dem Organischen oder eine Grenze zwischen belebter und unbelebter Natur. Ob es eine solche Grenze gibt, wie oder wo sie zu ziehen sei, gerade darüber will und muss Hertz sich nicht äußern. Das ist der Vorteil seiner Darstellung. Die Grenze, um die es hier geht, verdankt sich den Prinzipien der Mechanik selbst, sie wird durch das Bild der Mechanik überhaupt erst gesetzt. Die Mechanik konstituiert nämlich ihren eigenen Gegenstand. Per definitionem haben wir es dort, wo es mechanische Erklärungen gibt, auch mit mechanischen Problemen zu tun. Indem wir etwas mechanisch erklären, sehen wir es also als mechanisch an. Und da es bei Hertz nur ein Grundgesetz der Mechanik gibt, sehen wir etwas als mechanisch an, indem wir mit § 320 unterstellen, dass es »mit gleichbleibender Geschwindigkeit eine geradeste Bahn« verfolgt. Mechanische Erklärungen gehen davon aus, dass sich alle Bewegungen aus solchen Bewegungen zusammensetzen. Damit sind bestimmte Bewegungen ausgeschlossen, solche nämlich, die ihren Ursprung in sich selbst haben. In der Mechanik gibt es so etwas nicht, da kann keine Bewegung entstehen. Das »gesunde und natürliche Gefühl« aber, von dem Hertz spricht, geht davon aus, dass es solche Bewegungen doch vielleicht geben könne – Bewegungen beispielsweise, die sich einem inneren Impuls oder sogar einer Intention verdanken und die mit der 19
Ebd., S. 45 f.
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Idee des Lebendigen assoziiert werden. Wie gesagt, ob es solche Bewegungen gibt oder nicht, lässt Hertz offen. Wer solche Bewegungen aber für möglich hält, kann dann nicht gleichzeitig behaupten, dass sie mechanisch erklärbar wären oder dass es einen übergreifenden Kraftbegriff gibt. Mit dieser Reflektion etabliert Heinrich Hertz aber auch eine Grenze zwischen sich selbst und seinem Lehrer und Mentor Hermann von Helmholtz. Dies will ich noch abschließend an einem wunderbaren Text verdeutlichen, den Hertz gegen Ende seines eigenen Lebens zum 70. Geburtstag von Helmholtz schrieb, also während er an den Prinzipien der Mechanik arbeitete. Wunderbar ist dieser Text, weil er den Physiologen und Physiker Helmholtz würdigt und dabei äußerst subtil zum Ausdruck bringt, dass der Physiker Hertz mit dem Physiologen Helmholtz nichts anzufangen weiß. Helmholtz untersucht nämlich mit seiner Physiologie der Sinne ein Grenzgebiet, das demjenigen unzugänglich ist, der sich der Grenzen bewusst ist. In unserem Bewußtsein finden wir eine innere geistige Welt von Anschauungen und Begriffen, außerhalb unseres Bewußtseins liegt fremd und kalt die Welt der wirklichen Dinge. Zwischen beiden zieht sich als schmaler Grenzstreif das Gebiet der sinnlichen Empfindung hin. Kein Verkehr zwischen beiden Welten ist möglich, als über diesen Grenzstreifen hinüber; keine Änderung in der Außenwelt kann sich uns bemerklich machen, als indem sie auf ein Sinnesorgan wirkt und Kleid und Farbe dieses Sinnes entborgt, keine Ursachen unserer wechselnden Gefühle können wir uns in der äußeren Welt vorstellen, als nachdem wir denselben, wenn auch noch so ungern, sinnliche Attribute beigelegt haben. Von höchster Wichtigkeit für jede Erkenntnis der Welt und unser selbst ist es also, daß uns jener Grenzstreifen gründlich bekannt sei, damit wir nicht das, was ihm angehört, für das Eigentum der einen oder der anderen der durch ihn geschiedenen Welten halten. 20
Der Vorbehalt von Hertz ist tief in seine Metaphorik eingeschrieben. Hier gibt es streng geschiedene Welten, kein Verkehr zwischen ihnen ist möglich. Und nun will einer das Grenzgebiet zwischen ihnen erkunden. Wozu kann das gut sein, außer um die Grenzen zu befestigen und alles, was sich in diesem Grenzgebiet finden lässt, fein säuberlich der einen oder anderen Welt zuzuschreiben. Und wer meint, eine genuin sinnesphysiologische Forschungsfrage auszumachen, der stellt Fragen, auf die es keine wissenschaftlich exakten Antworten gibt – und dies 20
Schriften vermischten Inhalts, a. a. O., S. 364.
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nicht, weil die Fragen an sich besonders mysteriös seien, sondern einfach weil die exakten Wissenschaften nur dadurch exakt sind, dass sie ihren Geltungsbereich scharf eingrenzen und ihre Objekte als rein mechanische Objekte konstituieren. Dies verdeutlicht er an Helmholtz’ hochberühmter Lehre von den Tonempfindungen. Werden seine Ansichten der Philosophie als ein Besitztum für alle Zeiten gelten? Wir dürfen nicht vergessen, daß wir die Grenzen der exakten Wissenschaft schon überschritten haben; der Appell an die Natur fehlt, und Meinung steht der Meinung, Ansicht der Ansicht gegenüber. 21 Hochberühmt und auch in weiteren Kreisen gekannt ist seine Lehre von den Tonempfindungen. Was außerhalb unser eine Luftbewegung ist, wird in unserer Seele ein erfreuender Akkord. Den Physiker beschäftigt nur die Luftbewegung, den Musiker, den Psychologen nur der Akkord. Aber hier wird der Übergang beider erforscht in der Empfindung, welche den bestimmten physikalischen Vorgang verbindet. Was entspricht außer uns dem musikalischen Tone, dem Klange der Instrumente, des menschlichen Gesanges, den Lauten der Sprache? Was der Konsonanz und der Diskonsonanz? Woher rührt der ästhetische Gegensatz beider? Welche innere Gesetzmäßigkeit entwickelte die Tonleitern, die Regeln der Musik? Nicht alle Fragen, welche die Wißbegierde stellt, lassen sich beantworten, aber fast alle Fragen, welche Helmholtz vor dreißig Jahren offen lassen mußte, sind auch jetzt noch offen geblieben. 22
Die Physik studiert Luftbewegungen und somit gewisse Bedeutungszusammenhänge, den Musiker interessieren Akkorde in anderen Bedeutungszusammenhängen. Der Sinnesphysiologe macht einen ersten Fehler, indem er unterschiedliche Bedeutungen mit unterschiedlichen Dingen assoziiert. So kommt er auf die Idee, dass Luftwellen zunächst einmal etwas Anderes als Akkorde seien und dass es nun also einer Theorie bedürfe, um ihre Beziehung zu erhellen. Dies ist nun schon der zweite Fehler des Sinnesphysiologen, der hier eine Frage stellt, die sich im Irrtum befindet auf die Antwort, die sie erwartet. Der wahrgenommene Akkord kann in der äußeren Natur nicht vorkommen und die äußere Natur nicht in unser Wahrnehmung. Statt die Frage zu stellen, sollten wir ihr wie im Falle der Kraft die Grundlage, den Anlass entziehen. Und dies tun wir beispielsweise, indem wir uns auf das begrenzte Ganze der exakten Wissenschaft zurückziehen und es als etwas 21 22
Ebd., S. 365. Ebd., S. 364 f.
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Begrenztes überblicken. Und so gebe ich Hertz das letzte Wort, wenn er in seiner Würdigung erleichtert vom Physiologen Helmholtz zum Physiker übergeht: Groß und mannigfaltig und farbenbunt, wie alle diese Entdeckungen auch sind, am unverlöschbarsten dürfte dennoch Helmholtz’ Name mit einer Entdeckung verbunden sein, welche einem abstrakteren Gebiete angehört, dem der Physik. Hier tritt der beobachtende Mensch in den Hintergrund mit seinen Empfindungen; Licht und Farbe erblassen, der Klang wird leiser […] 23
Literatur Baird, Davis, R. I. G. Hughes und Alfred Nordmann (Hg.) Heinrich Hertz: Classical Physicist, Modern Philosopher. Dordrecht: Kluwer, 1998. Buchwald, Jed, The Creation of Scientific Effects: Heinrich Hertz and Electric Waves. Chicago: University of Chicago Press, 1994. Fölsing, Albrecht, Heinrich Hertz: Eine Biographie. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1997. Hertz, Heinrich, Ueber die Induction in Rotirenden Kugeln. Berlin: Schade, 1880. Hertz, Heinrich, Die Constitution der Materie: Eine Vorlesung über die Grundlagen der Physik aus dem Jahre 1884. Berlin: Springer, 1999. Hertz, Heinrich, Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt. Leipzig: Barth, 1894. Hertz, Heinrich, Schriften vermischten Inhalts. Leipzig: Barth, 1895. Hertz, Heinrich, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft. Leipzig: Barth, 1892. Hertz, Johanna (Hg.), Heinrich Hertz: Erinnerungen, Briefe, Tagebücher/Memoirs, Letters, Diaries 2. Aufl.). Weinheim: Physik Verlag, 1977. Lützen, Jesper, Mechanistic Images in Geometric Form: Heinrich Hertz’s Principles of Mechanics. Oxford: Oxford University Press, 2005.
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Charles Darwins geheimnisvolle Revolution Eve-Marie Engels
Wir glauben nicht, dass Herr Darwin die Notwendigkeit einer solch intelligenten Lenkung zu leugnen beabsichtigt. Aber so weit wir sehen können, geht sie nicht in seine Gesetzesformel ein. Und ohne sie können wir nicht verstehen, wie das Gesetz zu diesen Resultaten geführt haben kann. Sir John Herschel, 1861 1
1.
Die Entstehung von Darwins Forschungsgegenstand – Zur Einfhrung
Während seiner Weltreise auf dem Vermessungsschiff Beagle macht Charles Darwin Entdeckungen, die für ihn die Entstehung der Arten zu einem Geheimnis werden lassen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen hat er bis dahin den biblischen Schöpfungsbericht wörtlich genommen und ist von der absichtlichen Erschaffung jeder einzelnen Tierund Pflanzenart und des Menschen durch Gott ausgegangen. In diesem Rahmen unhinterfragter religiöser Gewissheit stellte sich die Frage der Entstehung der Arten gar nicht, sie war mit der Annahme Gottes als Ursprung aller Arten entschieden. Während der Reise und verstärkt danach beginnt sich in Darwin allmählich ein theoretischer Gestaltwechsel zu vollziehen. Er kann sich nicht mehr mit dem biblischen Schöpfungsbericht und dessen wörtlicher Auslegung begnügen, weil damit zu viele Phänomene unerklärbar bleiben, die er während seiner 1 John Herschel, Physical Geography, Edinburgh: Adam and Charles Black 1861, S. 12, Fußnote: »We do not believe that Mr. Darwin means to deny the necessity of such intelligent direction. But it does not, as far as we can see, enter into the formula of his law; and without it we are unable to conceive how the law can have led to these results.«
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Charles Darwins geheimnisvolle Revolution
Reise erfahren und beobachten konnte. Wissenschaftsphilosophische Fragen und solche der Übereinstimmung von überliefertem Gottesbild und der Empirie drängen sich in den Vordergrund und werden unabweisbar. So entsteht für Darwin ein neuer Forschungsgegenstand, das Problem der Entstehung von Arten, für das er eine Lösung sucht. Darwin entwickelt das ehrgeizige Ziel, die »Gesetze des Lebens« zu entdecken und verfolgt zunächst die Absicht, an die Stelle des damals durchweg wörtlichen Verständnisses des biblischen Schöpfungsberichts und des »Dogmas separater Schöpfungen« 2 Naturgesetze treten zu lassen, die der Schöpfer selbst absichtsvoll eingerichtet hat und durch die nach seinem Plan allmählich alle Arten von Lebewesen in ihrer zweckmäßigen Gestaltung entstehen. Dabei lässt sich Darwin ein Stück weit von progressiven wissenschaftsphilosophischen Ideen renommierter Naturforscher und Philosophen inspirieren. Er organisiert seine Beobachtungen und Erfahrungen, die er auf der Weltreise gemacht hat, im Lichte einer neuen Idee und kommt zu einer anderen Vorstellung von der Entstehung der Arten und der Zweckmäßigkeit in der Natur als der gängigen Ansicht. Aber auch hier wirft die Annahme des Schöpfers für Darwin noch unlösbare Probleme auf. Darwin erkennt, dass die von ihm formulierte Theorie auch die Voraussetzung Gottes als den Schöpfer und Regenten von Naturgesetzen zur Erklärung der Entstehung von Arten und Anpassungen verzichtbar macht. Mit diesem »wesentlich neuen schöpferischen Gedanken«, wie Hermann von Helmholtz die Grundidee dieser Theorie charakterisiert, löst Darwin nicht nur eine wissenschaftliche Revolution in der Biologie aus, sondern auch eine Revolution in deren philosophischen Grundlagen. In der Lösung des Problems der Entstehung von Arten und Anpassungen geht Darwin gegenüber seinen Zeitgenossen, die ihn inspiriert haben, schließlich eigene Wege und sprengt den von ihnen abgesteckten und gebilligten Rahmen. Darüber hinaus hat Darwins Theorie Konsequenzen für unser Menschen- und Naturbild und damit für die Philosophie und andere Geisteswissenschaften. Naturphilosophie, philosophische Anthropologie, Erkenntnistheorie, Ethik – um nur die in diesem Kontext wichtigs»dogma of separate creations«, in Charles Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, 2. Aufl. 1874, rev. und erw. 1877. 2 Bände. Paul H. Barrett u. R. B. Freeman (Hrsg.): The Works of Charles Darwin, Bde. 21, 22. London: William Pickering, 1989, Bd. 1, S. 65.
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Eve-Marie Engels
ten philosophischen Disziplinen zu nennen – müssen sich den von Darwin damals wie heute nachhaltig ergehenden Herausforderungen auch im Lichte neuer Forschungsergebnisse stellen. In meinem Beitrag soll der Kern der Darwinschen Revolution herausgeschält und die wichtigsten Schritte auf Darwins Denkweg dorthin nachgezeichnet werden. Auf diesem Weg begegnen wir Charles Darwin als einem äußerst gründlichen und sensiblen Denker, der die Dinge unerschrocken in ihrer Tiefe beleuchtet und sich dabei gleichzeitig den Blick für die größeren Zusammenhänge bewahrt. Der besondere Reiz einer Beschäftigung mit Darwin liegt in der Verknüpfung von Naturwissenschaft und Philosophie, die seine Fragestellung und die Ausführung seines Programms bestimmt. Ohne das Verständnis dieses Zusammenhangs lässt sich der Kern der Darwinschen Revolution nicht begreifen. Philosophische, bis in die Antike zurückreichende Grundannahmen und Begriffsbildungen bestimmen noch das Denken des 19. Jahrhunderts und damit auch die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Darwin seine Fragestellung und seine revolutionäre Lösung entwickelt, die schließlich den ursprünglichen Bezugsrahmen sprengt. Obwohl Darwin mit den Revolutionären der Astronomie, Physik und Geologie, mit Kopernikus, Galilei, Newton und Lyell verglichen wurde, wird er in diesem Beitrag als eigenständiger philosophischer Denker vorgestellt, der sich nicht nur durch die Philosophiegeschichte ansprechen lässt, sondern umgekehrt mit seiner Theorie für die Philosophie auch eine Herausforderung darstellt. In meinem Artikel muss jedoch eine Einschränkung auf den Wissenschaftsphilosophen Darwin erfolgen. Darwin hat sich darüber hinaus auch ausführlich mit der Moralfähigkeit des Menschen befasst und deren Möglichkeit im Rahmen seines evolutionären Naturalismus nachgewiesen, ohne das Phänomen der Moral umzudeuten und auf eine biologische Funktion zu reduzieren. 3
2.
Aufgeklrte Vorfahren
Charles Darwin ist ein durch die Idee der Aufklärung und den Gedanken der Humanität geprägter Denker. In dieser Familientradition ist er aufgewachsen, sie bestimmt seine Grundeinstellung in vielen BereiSiehe hierzu Eve-Marie Engels, Charles Darwin, München: C. H. Beck 2007, Reihe Denker 575, Kap. V »Der Mensch, das moralfähige Tier«.
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chen seines Lebens und Denkens. Schon die Großeltern setzen sich in Gesellschaft, Politik und Erziehung für die Überwindung herkömmlicher Dogmen ein und unterstützen die Ideale der französischen Revolution, die Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien vom britischen Mutterland und die Abschaffung der Sklaverei. Sie sind Zeitgenossen des Aufklärungsphilosophen David Hume. Darwins Großväter sind Nonkonformisten. Sein Großvater väterlicherseits, der Arzt, Naturforscher und Poet Erasmus Darwin, wird während seines Studiums in Edinburgh durch seinen Studienfreund Albert Reimarus, den Sohn des deutschen Aufklärungsphilosophen Hermann Samuel Reimarus, im skeptischen Deismus unterwiesen. Erasmus Darwin wird vor allem als Naturforscher und Verfasser von Lehrgedichten bekannt. In die Geschichte der Biologie geht er als einer der ersten Vertreter des Evolutionsgedankens ein. Auch unter dem Einfluss von David Humes Dialogues Concerning Natural Religion (1779) wendet er sich noch vor Lamarck gegen die vorherrschende biblische Lehre einer besonderen Schöpfung jeder einzelnen Art. Der Keramikfabrikant Josiah Wedgwood, Darwins Großvater mütterlicherseits, ist Angehöriger der Unitarier, einer Religionsgemeinschaft, welche die christliche Dreifaltigkeitslehre ablehnt und von Gott als Unitas, Einheit, ausgeht. Charles Darwins Eltern besuchen auch eine unitarische Schule. Charles Robert Darwin wird am 12. Februar 1809 als fünftes von sechs Kindern des erfolgreichen und beliebten Arztes Dr. Robert Waring Darwin (1766–1848) und seiner Frau Susannah Darwin (1765– 1817), geb. Wedgwood, in Shrewsbury geboren. Seine Eltern verbindet ein großes Interesse an der Natur und moderner Naturgeschichte (natural history), an Botanik und Zoologie. Auf ihrem Grundstück züchten sie seltene Pflanzen und ziehen Vögel und andere Tiere auf. Die bei den Großeltern gepflegte humanitäre und aufgeklärte Grundhaltung und ihr kritisches Potential wirken sich prägend auf Charles Darwins Elternhaus aus und beeinflussen damit auch seinen Denkweg. Seine Mutter ist bekennende Unitarierin, der Vater gilt als insgeheim ungläubig. Dennoch wird Charles in der Anglikanischen Kirche getauft. 1817 wird er in Shrewsbury in die unitarische Schule eingeschult und besucht dort anschließend eine der führenden Internatsschulen Englands (1818–1825).
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Eve-Marie Engels
3.
Universittsstudium und die Bedeutung der Naturtheologischen Tradition
Gemäß der Familientradition beginnt Darwin ein Studium der Medizin, das ihn nach Edinburgh führt. Er betreibt es jedoch nur halbherzig. Zweimal ist er bei Operationen anwesend, ergreift jedoch die Flucht, bevor sie beendet sind. Sie werden noch ohne Anästhesie durchgeführt – Chloroform wird erst einige Jahre später entwickelt –, so dass diese Operationen für Darwin noch viele Jahre danach Albträume sind. Von seinem Vater berichtet er, dass diesem »beim bloßen Gedanken an eine Operation schon übel« wurde. Darwin nutzt die Zeit in Edinburgh für die intensive Beschäftigung mit der Naturgeschichte und philosophisch-naturwissenschaftlichen Grenzgebieten. Das geistige Klima ist für ihn äußerst stimulierend. Hier lernt er auch den Meereszoologen Dr. Robert E. Grant (1793–1874) kennen, der informell einer seiner einflussreichsten und prägendsten Tutoren wird. Grant ist bereits ein überzeugter Anhänger des Evolutionsgedankens und bewundert Lamarck. Darwin wird Mitglied der Plinian Society, einer Gruppe von Studenten, die sich regelmäßig treffen, um brennende philosophische Fragen zu diskutieren, wie das Leib-Seele-Problem, die Beziehung zwischen Geist und Materie, das Verhältnis von Mensch und Tier und die Naturtheologie, auf die ich gleich noch näher eingehen werde. Als Darwins Vater erkennt, dass sich sein Sohn nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, den Beruf des Arztes zu ergreifen, schlägt er ihm vor, Geistlicher zu werden. Die Vorstellung, Landpfarrer zu werden, gefällt Darwin. Ich bat um etwas Bedenkzeit, denn nach dem wenigen, was ich zu diesem Thema wußte und bedacht hatte, hatte ich doch Bedenken, mich zu allen Lehren der Anglikanischen Kirche zu bekennen; aber andererseits gefiel mir die Vorstellung, als Landpfarrer zu leben. Also las ich Pearsons On the Creed und ein paar andere theologische Bücher aufmerksam durch; und da ich damals nicht den mindesten Zweifel daran hatte, daß jedes Wort in der Bibel in strengem Sinn und buchstäblich wahr sei, konnte ich mich schnell zu der Überzeugung bringen, daß unser Glaubensbekenntnis uneingeschränkt akzeptiert werden müsse. hMir fiel nicht auf, wie unlogisch es war, zu sagen, ich glaubte an etwas, was ich nicht verstehen konnte, was auch gar nicht zu verstehen ist. Ich hätte vollkommen der Wahrheit entsprechend sagen können, ich wolle keinen Glaubenssatz bestreiten; aber so töricht war ich nie, dass ich gemeint und gesagt hätte: »credo quia incredibile«.i Wenn ich bedenke, wie heftig ich von den Rechtgläubigen angegriffen worden bin, scheint es
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beinahe grotesk, daß ich einmal den Plan hatte, Pfarrer zu werden. Diese Absicht und meines Vaters Wunsch wurden aber nie ausdrücklich widerrufen, sie starben einfach eines natürlichen Todes, als ich nach dem Weggang aus Cambridge als Naturforscher auf der Beagle mitfuhr. 4
Darwin wechselt daher zum Studium nach Cambridge, um dort zunächst den allgemeinen akademischen Grad eines Bachelor of Arts zu erwerben. Zur Auffrischung seiner Kenntnisse in den alten Sprachen nimmt er zunächst Privatunterricht und beginnt sein Studium am Christ’s College in Cambridge nicht im Oktober 1827, sondern erst im Januar 1828. Auch in Cambridge, wo er für ein geisteswissenschaftliches Studium eingeschrieben ist, werden gleichsam auf Nebenschauplätzen entscheidende Weichen für Darwins geistige Entwicklung und sein gesamtes weiteres Leben als Naturforscher gestellt. Er widmet sich mit großem Engagement seinen naturwissenschaftlichen Interessen, wofür ihm Cambridge ein ideales Umfeld bietet. Wissensdurstig und neugierig knüpft er Kontakt zu den renommiertesten Experten in verschiedenen Bereichen der Naturgeschichte und Philosophie und wächst zwanglos in ihre scientific community hinein. Von 1829–1831 schreibt er sich außerhalb seines Curriculums freiwillig für die Vorlesungen des Botanikprofessors John Stevens Henslow (1796–1861) ein, der Darwin mit seinen Vorlesungen, Praktika und Exkursionen fasziniert. Henslow wird für Darwin zu einer fast unerschöpflichen Wissensquelle und zu einem seiner wichtigsten Mentoren und Freunde. Einen Umstand habe ich noch gar nicht erwähnt, der meine ganze Laufbahn mehr als alles andere beeinflußt hat. Das war meine Freundschaft mit Professor Henslow. Schon bevor ich nach Cambridge kam, wußte ich von meinem Bruder, daß Henslow ein Mann war, der sich in allen Bereichen der Wissenschaften auskannte; entsprechend bereit war ich, ihn zu verehren. Einmal in der Woche stand sein Haus den Studenten offen; und alle undergraduates und etliche ältere Mitglieder der Universität, die in den Wissenschaften arbeiteten, trafen sich abends dort. Fox vermittelte mir bald eine Einladung, und ich ging regelmäßig hin. Es dauerte nicht lange, bis ich gut Charles Darwin, Mein Leben 1809–1882, vollständige Ausgabe der »Autobiographie« hg. von Nora Barlow, mit einem Vorwort von Ernst Mayr, übers. von Christa Krüger, IT 3370, Frankfurt am Main: Insel Verlag 2008, S. 65 f. Die Passagen aus Darwins Originalmanuskript, die in den ersten Ausgaben seiner Autobiografie der Familienzensur unterworfen und ausgelassen wurden, wurden von seiner Enkelin Nora Barlow ergänzt und in winkelige Klammern gesetzt h i.
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bekannt mit Henslow war, und in der zweiten Hälfte meiner Zeit in Cambridge machten wir fast jeden Tag lange Spaziergänge zusammen; manche Dons nannten mich deshalb »den Mann, der mit Henslow spazieren geht«; abends lud er mich sehr oft zum Essen im Familienkreis ein. Er verfügte über umfassendes Wissen in Botanik, Entomologie, Chemie, Mineralogie und Geologie. Minutiöse Beobachtungen über lange Zeit kontinuierlich durchzuführen und dann Schlüsse daraus zu ziehen war ganz nach seinem Geschmack … Er war zutiefst religiös und so orthodox, daß er mir eines Tages anvertraute, es wäre ihm sehr schmerzlich, wenn auch nur ein einziges Wort der Neununddreißig Glaubensartikel geändert würde. Seine moralischen Züge waren in jeder Hinsicht bewundernswert. … Henslows Güte war grenzenlos; das bewies er immer wieder mit seinen hervorragenden Hilfsprogrammen für die Armen seiner Gemeinde, als er in späteren Jahren die Pfarrstelle von Hitcham innehatte. 5
Wie David Kohn et al. in ihrem bemerkenswerten Artikel gezeigt haben, beeinflusste Henslow seinen Schüler noch auf eine viel spezifischere Weise, als bisher angenommen wurde. 6 Darwins Mitwirkung an dem von Henslow groß angelegten Herbarium, das dieser zur Fundierung seines eigenen kreationistischen Artkonzeptes nach dem Muster der »collation«, Vergleichung, Kollationierung, ordnete, erwies sich ironischerweise später für Darwins Überwindung dieses Artkonzeptes als relevant. Von Bedeutung für Darwins geistige Entwicklung sind auch der Geologieprofessor Adam Sedgwick (1785–1873) und der Wissenschaftsphilosoph, Mathematiker und Historiker William Whewell (1794–1866), Professor für Mineralogie an der Cambridge University und später Master am Trinity College. Neben John Stuart Mill und John Herschel ist Whewell einer der führenden und einflussreichsten britischen Wissenschaftsphilosophen des 19. Jahrhunderts. »Mit seiner Fähigkeit, über gewichtige Themen gewandt zu konversieren, kam er für mich gleich nach Sir J. Mackintosh.« 7 James Mackintosh hatte er im Sommer 1827 im Haus seines Onkels Josiah Wedgwood II in Maer kennen gelernt. Darwin nimmt begierig alles auf, was dieser sagt, weil die historischen, politischen und moralphilosophischen Themen neu für ihn sind. Aus Mackintoshs Dissertation on the Progress of Ethical William Fox war Darwins Cousin zweiten Grades. Mein Leben, op. cit., S. 72–74. David Kohn, Gina Murrell, John Parker, Mark Whitehorn: »What Henslow taught Darwin«, Nature, Bd. 436, 2005, S. 643–645. 7 Mein Leben, op. cit., S. 75. 5 6
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Philosophy (2 1837) mit ihrem ausgezeichneten Vorwort von William Whewell wird Darwin später viele Anregungen für seine ethischen Überlegungen in Descent of Man schöpfen. Die wichtigsten Wegbereiter Darwins, Henslow, Whewell und Sedgwick, sind nicht nur ausgewiesene Experten in ihren Fächern, sondern auch Geistliche der Anglikanischen Kirche. Die Naturtheologie, auf die ich gleich noch zu sprechen komme, spielt für sie und in Darwins Ausbildung eine wesentliche Rolle. In seinem letzten Jahr in Cambridge liest Darwin Alexander von Humboldts persönlichen Reisebericht, der 1814–29 in englischer Übersetzung in London erschien, und den Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy (1831) des Astronomen und Wissenschaftsphilosophen Sir John Herschel. Diese Werke entfachten den brennenden Wunsch in mir, wenigstens einen kleinen Stein zum großartigen Bauwerk der Naturwissenschaften beizutragen. Nie wieder hat ein einzelnes Buch, nicht einmal ein Dutzend Bücher zusammengenommen, auch nur annähernd so viel Wirkung auf mich gehabt wie diese beiden. 8
Von Humboldts Reisebeschreibungen schwärmt Darwin auch in zahlreichen Briefen an Familie und Freunde. »Meine Begeisterung ist so groß, dass ich kaum auf meinem Stuhl stillsitzen kann.«, schreibt er an seine Schwester Caroline und empfiehlt seinem Vater deren Lektüre, wenn er sich einen Begriff von den Tropen machen wolle. 9 Darwin sandte Humboldt seinen eigenen Reisebericht, das 1839 erschienene Journal of Researches, für dessen Erhalt sich dieser am 18. September 1839 in einem ausführlichen Brief bedankt und Darwin einen sicheren Platz in der scientific community prophezeit. Bei dieser Gelegenheit äußert er auch seinen Respekt vor dem Autor der Zoonomia, Darwins Großvater Erasmus, der ihn inspiriert habe. 10 Zu Darwins Pflichtprogramm als Examenskandidat in Cambridge gehört die intensive Beschäftigung mit William Paley. Für die Vorbereitung muss er gründlich dessen Evidences of Christianity und seine Principles of Moral and Political Philosophy studieren. Aber auch Paleys Natural Theology begeistert ihn. ebd., S. 76 f. Frederick Burkhardt, Sydney Smith, Hg., The Correspondence of Charles Darwin, Cambridge: Cambridge University Press, Bd. 1, 1985; Brief an Caroline, S. 122, Brief an Robert Waring Darwin, S. 204. 10 ebd., Bd. 2, 1986, 218–222. 8 9
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Hier leistete ich gründliche Arbeit, und ich bin überzeugt, daß ich die Evidences vollkommen korrekt und lückenlos hätte schriftlich wiedergeben können, wenn auch nicht in der klaren Sprache Paleys. Die Logik dieses Buches, auch der Natural Theology, das möchte ich hinzufügen, begeisterte mich genauso wie der Euklid. Das genaue Studium dieser Werke … war der einzige Teil des akademischen Studienganges, der überhaupt zur Schulung meines Denkens beitrug; das meinte ich damals, und daran halte ich heute noch fest. Ich zerbrach mir damals nicht den Kopf über die Angemessenheit von Paleys Voraussetzungen; ich nahm sie unbesehen hin und war von seiner langen Argumentationskette bestrickt und überzeugt. 11
Darwin schreibt dies auch in einem Brief an John Lubbock im November 1859 kurz vor dem Erscheinen seines revolutionären Werkes Origin of Species. »Ich glaube nicht, dass ich jemals ein Buch mehr bewundert habe als Paley’s ›Natural Theology‹. Ich konnte es früher fast auswendig wiedergeben.« 12 Die im 17. Jahrhundert in England entstehende Physikotheologie (physico-theology) setzt sich das Ziel, Gottes Allmacht, Weisheit und Güte in seiner Schöpfung, der Zweckmäßigkeit und Harmonie der Natur, zu demonstrieren. Die bekanntesten Vertreter sind John Ray und William Derham. Im 19. Jahrhundert wird vorzugsweise der Begriff Naturtheologie verwendet. Paleys Natural Theology (1802) ist deren Standardwerk und ihres »argument from design«. Dieses Argument besagt, dass sich aus der Ordnung in der Natur, ihrem Design, auf die Existenz und Wirkung eines ordnenden Schöpfers, eines intelligenten göttlichen Designers, schließen lässt. Paley greift auf viele Beispiele aus der Anatomie zurück, um Gottes wohlwollendes Wirken in jedem Detail des Körpers aufzuspüren und zu beweisen. Sein Designmodell ist die Uhr, deren Dasein und Funktionsweise eines Uhrmachers bedarf: Es kann kein Design ohne einen Designer; Erfindung ohne einen Erfinder; Ordnung ohne Wahl; Organisation ohne etwas, was zur Organisation fähig ist; Dienlichkeit und Zweckbezogenheit ohne etwas, das einen Zweck beabsichtigen könnte; zweckdienliche und zweckerfüllende Mittel ohne Zwecküberlegung oder Mittelanpassung geben.« 13 Mein Leben, op. cit., S. 67 f. »I do not think I hardly ever admired a book more than Paley’s ›Natural Theology.‹ I could almost formerly have said it by heart.« in Francis Darwin (Hg.): The Life and Letters of Charles Darwin, Bd. 2, London: John Murray 1887, S. 219. 13 »There cannot be design without a designer; contrivance, without a contriver; order, without choice; arrangement, without any thing capable of arranging; subserviency and 11 12
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Für Paley sind die »Anzeichen für Design zu stark, als dass sie übergangen werden könnten. Design muss einen Designer gehabt haben. Jener Designer muss eine Person gewesen sein, jene Person ist Gott.« 14 Paley weist die deistische Vorstellung zurück, wonach Gott die Welt erschaffen und sie mit Gesetzen ausgestattet habe, sich aber danach zurückgezogen habe. In Paleys christlicher Naturtheologie wirkt Gott durch seine universellen Gesetze und bleibt damit als Regent der Natur allgegenwärtig. 15 Mit der Naturtheologie gab es bereits eine Jahrhunderte lange enge Verbindung zwischen Naturwissenschaft und Religion. Hier war Wissenschaft als Suche nach Kausalgesetzen und Wirkursachen zugleich Gottesdienst, indem die Naturtheologie ihre Aufgabe darin sah, die Spuren der Allmacht, Weisheit und Güte des Schöpfers im minutiösen Studium seiner Schöpfung nachzuweisen. »Science, in a sense, was religion.« 16 . Vom 17. Jahrhundert an gab es führende Wissenschaftler und Wissenschaftsphilosophen, die Naturtheologen waren, unter ihnen Francis Bacon, Isaac Newton, Joseph Priestley und William Whewell. Obwohl sich Darwin später kritisch von der Metaphysik der Naturtheologie abgrenzt, schätzt er stets die Sorgfalt ihrer Vertreter. Die Akribie naturwissenschaftlicher Beobachtung und empirischer Detailforschung, auf die es ihm ankommt, wurde durch das Erkenntnis leitende Interesse der Naturtheologie ja geradezu gefördert. Die wichtigsten Wegbereiter Darwins sind nicht nur ausgewiesene Experten in ihren Fächern, sondern meist auch Geistliche der Anglikanischen Kirche und Vertreter der Naturtheologie. Diese bildet auch den Hintergrund für die Entwicklung seiner Theorie der natürlichen Selektion, mit der er die Naturtheologie schließlich überwindet. Zur Unterstützung dieses naturtheologischen Weltbildes hinterließ der achte und letzte Earl of Bridgewater, selbst Geistlicher, dem relation to purpose, without that which could intend a purpose; means suitable to an end, and executing their office in accomplishing that end, without the end ever having been contemplated, or the means accomodated to it.« William Paley, Natural Theology; or Evidences of the Existence and Attributes of the Deity, collected from the Appearances of Nature, London 1802, zitiert nach The Whole Works of William Paley, London: William Johnson, 1835, S. 3. 14 »The marks of design are too strong to be gotten over. Design must have had a designer. That designer must have been a person, That person is God.« Natural Theology, op. cit., S. 111. 15 ebd., S. 112. 16 Janet Browne, Charles Darwin Voyaging, London: Pimlico, 1995, S. 129.
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Präsidenten der Royal Society für einen oder mehrere Wissenschaftler 8000 Pfund, die aus der Perspektive ihres Faches die Wahrheit der natürlichen Religion bekräftigen sollten. In der Erläuterung hieß es, dass der jeweilige Autor ein Werk »On the Power, Wisdom and Goodness of God, as manifested in the Creation« verfassen sollte und diese Attribute Gottes auf vielfältige Weise demonstrieren sollte, etwa durch Gottes Schöpfungen im Tier-, Pflanzen- und Mineralreich, die Konstruktion der menschlichen Hand, durch alte und moderne Entdeckungen in den Künsten und Wissenschaften. 17 Acht Autoren von Rang und Namen wurden nominiert. Zu ihnen gehört auch William Whewell. Ein Zitat aus seinem naturtheologischen Werk wird Darwin als Epigraf neben das Titelblatt von Origin abdrucken. Die Bridgewater Treatises erleben mehrere Auflagen und werden auch übersetzt. Die meisten Autoren heben nicht nur Gottes Rolle als Schöpfer der Natur und ihrer Gesetze hervor, sondern auch als aktuellen Regenten der Welt 18 . Allerdings gibt es bereits im 18. Jahrhundert auch kritische Stimmen namhafter Philosophen gegen naturtheologische Gottesbeweise. Hierzu gehört David Hume mit seinen 1779 posthum veröffentlichten Dialogues Concerning Natural Religion. Auch Kant widerlegt später in seiner Kritik der reinen Vernunft die Möglichkeit eines physikotheologischen (teleologischen) Gottesbeweises. Der Mathematiker, Philosoph und Erfinder einer Rechenmaschine, Charles Babbage (1791–1871), der an der Universität Cambridge Professor für Mathematik war und den Darwin persönlich kannte, verfasste inoffiziell einen Neunten Bridgewater Treatise, dessen erste Auflage 1837 erschien und in dem Ausschnitte eines Briefes von John Herschel an den Geologen Charles Lyell abgedruckt waren. Dieser Brief bestärkte Darwin in seinem Vorhaben, die Naturgesetze der Entstehung von Arten zu entdecken. Auf Babbages besondere Variante der Naturtheologie werde ich gleich zurückkommen. Im Januar 1831 machte Darwin sein Bachelor of Arts-Examen, das aus schriftlichen Prüfungen über Homer, Virgil, Euklid, Arithmetik, Algebra, Paley’s Evidences of Christianity, seine Principles of Moral D. W. Gundry, »The Bridgewater Treatises and Their Authors«, History. The Journal of the Historical Association. New Series, Bd. XXXI, 114, 1946, S. 144. 18 Charles C. Gillispie, Genesis and Geology. A Study in the Relations of Scientific Thought, Natural Theology, and Social Opinion in Great Britain, 1790–1850, Cambridge, Mass., London: Harvard University Press, 1996 (1 1951), S. 19. 17
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and Political Philosophy und John Lockes An Essay concerning Human Understanding bestand. Darwin erlangte Platz 10 von 178 Examenskandidaten, »poll candidates« 19 , den »hoi polloi, der Masse der Studenten, die kein Examen mit Auszeichnung anstreben.« 20 Da Darwin sein Studium in Cambridge erst im Januar 1828 begonnen hat, muss er nach seinem Examen aus formalen Gründen noch zwei Trimester Vorlesungen hören und studiert auf Henslows Rat hin bei Sedgwick Geologie. Mit ihm unternimmt er auch eine Exkursion nach Nord-Wales. Darwin erwartet nun noch eine Ausbildung in Theologie, um anschließend die »Holy Orders«, die Priesterweihe erlangen und damit Geistlicher der Anglikanischen Kirche, der Church of England, werden zu können. 21 Unerwartet bekommt er noch vor seiner geplanten Theologieausbildung die Einladung, als unbezahlter Naturforscher unter dem Kommando von Kapitän FitzRoy an einer Weltreise auf der H.M.S. Beagle teilzunehmen. Der Zweck dieser Reise ist der Abschluss von Vermessungsarbeiten des südamerikanischen Kontinents, die vor fünf Jahren mit dem Ziel begonnen haben, einen reibungslosen Handel mit Südamerika zu ermöglichen. Auch soll eine Reihe chronometrischer Messungen rund um die Erde vorgenommen werden. Darwin möchte das Angebot spontan annehmen, stößt bei seinem Vater jedoch zunächst auf Widerstand. Dieser führt acht Einwände gegen diese Reise an, macht seinem Sohn aber ein Fünkchen Hoffnung, indem er sein Einverständnis an eine Bedingung knüpft: »Wenn du auch nur einen Mann mit gesundem Menschenverstand findest, der dir rät, mitzufahren, dann will ich meine Zustimmung geben.« 22 An oberster Stelle der Einwände steht, dass die Reise später Darwins Ansehen als Geistlichem schaden werde. Darwin schreibt diese Einwände für seinen Onkel und späteren Schwiegervater Josiah Wedgwood auf, so dass dieser zu jedem einzelnen der acht Bedenken Stellung beziehen kann. Auf den ersten Einwand erwidert er: Ich kann mir nicht denken, daß die Reise seinem Ansehen als Pfarrer später schaden würde. Im Gegenteil, ich meine, das Angebot ist eine Ehre für ihn;
19 20 21 22
John van Wyhe, Darwin in Cambridge, Cambridge: Christ’s College, 2009, S. 48. Mein Leben, op. cit., S. 68. Darwin in Cambridge, op. cit., S. 18. Mein Leben, op. cit., S. 80.
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und das Interesse an Naturgeschichte paßt sehr gut zu einem Geistlichen, auch wenn es nicht eigentlich zu seinem Beruf gehört. 23
Die anfänglichen Bedenken können in einem persönlichen Gespräch, das Darwins Onkel mit seinem Vater in Shrewsbury führt, ausgeräumt werden. »Da mein Onkel meinte, es sei gut für mich, wenn ich das Angebot annähme, und da mein Vater immer betont hatte, der Onkel sei einer der vernünftigsten Menschen auf der Welt, gab er sofort und auf die freundlichste Art seine Zustimmung.« 24
4.
Die Weltreise auf der Beagle – »das wichtigste Ereignis meines Lebens«
Die für Darwins Theoriebildung wohl wichtigsten Stationen seiner Weltreise sind das Kapverdische Archipel, Südamerika und der Galapagos-Archipel.25 In Südafrika am Kap der Guten Hoffnung lernt Darwin im Juni 1836 zudem Sir John Herschel, der dort von 1834–1838 astronomische Beobachtungen durchführt, persönlich kennen. Darwin nimmt den ersten Band von Charles Lyells Principles of Geology (1830) mit an Bord und erhält den zweiten Band 1832 in Montevideo. Lyells neue Geologie ist für die Konzeption von Darwins eigener Theorie von entscheidender Bedeutung. Lyell (1797–1875) ist Vertreter des von ihm mitbegründeten Aktualismus oder auch Uniformitarismus und grenzt sich damit kritisch gegen die damals vorherrschende Katastrophentheorie ab. Er geht von einer Uniformität, das heißt Gleichförmigkeit der in Vergangenheit und Gegenwart wirkenden erdgeschichtlichen Kräfte aus und nimmt an, dass das jetzige Erscheinungsbild der Erde durch die gleichförmige Summierung vergangener Veränderungen entstanden ist. Obwohl Lyell selbst zunächst kein Anhänger der Theorie des Artenwandels war, bildete seine Theorie eine wichtige Voraussetzung für Darwins Abstammungstheorie. Da für die Entstehung von Arten sehr lange Zeiträume erforderlich sind, müssen entsprechende erdgeschichtliche Bedingungen gegeben sein, eine Kontinuität der Entwicklungsmöglichkeiten statt zahlreicher plötzlicher Katastroebd., S. 264. ebd., S. 81. 25 The Correspondence of Charles Darwin, op. cit. Bd. 1, 1985, Appendix I, gibt die Stationen im Überblick wieder. 23 24
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phen. Die durch Darwin angestoßene Revolution in der Biologie setzte also eine Revolution in der Geologie voraus. Während seiner Londoner Jahre lernt Darwin später Lyell persönlich kennen, und es beginnt eine jahrzehntelange Freundschaft zwischen ihnen. Obwohl Lyell lange Zeit kein Vertreter der Idee des Artenwandels ist, unterstützt und fördert er Darwin fortwährend. Statt geplanter zwei Jahre dauert die Reise fünf Jahre. Darwins zuvor bereits erwähnter ausführlicher Reisebericht, sein erstmals 1939 erschienenes Journal of Researches, findet überall großen Anklang und wird in mehreren Auflagen sowie Übersetzungen in zahlreichen Sprachen veröffentlicht. Auf dieser Reise macht Darwin Beobachtungen, die für ihn die Entstehung der Arten schließlich zu einem »Geheimnis der Geheimnisse« werden lassen. Die Reise mit der Beagle war das wichtigste Ereignis meines Lebens und hat meine ganze Berufslaufbahn bestimmt … Ich hatte immer das Gefühl, daß ich der Reise die erste wirkliche Übung oder Bildung meines Denkvermögens verdanke. Ich mußte meine Aufmerksamkeit zwangsläufig intensiv auf verschiedene Sparten der Naturgeschichte richten, und dadurch schärfte sich meine Beobachtungsgabe weiter, auch wenn sie schon vorher ganz gut entwickelt war. 26
Doch wird er auf dieser Reise auch mit ausgesprochen belastenden Erfahrungen konfrontiert. In Südamerika kommt er mit der Sklaverei in Berührung, die er Zeit seines Lebens als ein »großes Verbrechen« 27 betrachtet. Am 19. August verließen wir zum letzten Mal die Küste von Brasilien. Ich danke Gott, daß ich nie wieder ein Sklavenland zu besuchen haben werde. … In der Nähe von Rio de Janeiro lebte ich einer alten Dame gegenüber, welche sich Schrauben hielt, um die Finger ihrer weiblichen Sklaven zu quetschen … Auch würde ich die oben erwähnten widerwärtigen Einzelheiten nicht erwähnt haben, wären mir nicht mehrere Leute begegnet, welche von der konstitutionellen Heiterkeit des Negers so geblendet waren, daß sie von der Sklaverei als von einem erträglichen Übel sprachen. Derartige Leute haben meist Häuser der oberen Klasse besucht, wo die Haus-Sklaven gewöhnlich gut behandelt werden; und sie haben nicht, wie ich, unter den niederen Klassen gelebt. … Diejenigen, welche den Sklavenbesitzer mit zarter Rücksicht betrachten und den Sklaven selbst mit einem kalten Herzen, scheinen sich niemals in die Lage des letzteren versetzt zu haben; was für eine traurige Aus26 27
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sicht mit nicht einmal einer Hoffnung einer möglichen Veränderung eröffnet sich hier! … Und diese Handlungen werden von Leuten ausgeführt und verteidigt, welche bekennen, ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben, welche an Gott glauben und welche beten, daß sein Wille auf Erden geschehe! Es macht unser Blut aufwallen und doch unser Herz erzittern, wenn wir bedenken, daß wir Engländer und unsere amerikanischen Nachkommen mit ihrem übermütigen Geschrei nach Freiheit so schuldbeladen sind und noch sind.« 28
Mit Kapitän FitzRoy hat er auf der Reise eine Auseinandersetzung in Bezug auf die Sklaverei. 29 In einem Brief vom 16. April 1866 an seinen nordamerikanischen Freund Asa Gray bringt Darwin sein Glück über die »bedeutende und großartige Tatsache« zum Ausdruck, dass in Nordamerika die Sklaverei abgeschafft wurde. 30 Nach der Rückkehr von seiner Weltreise wird Darwin Privatgelehrter. 1839 heiratet er seine Cousine Emma Wedgwood, die Tochter seines Onkels Josiah und zieht mit ihr 1842 in das Dorf Down, südlich von London, wo er mit seiner Familie bis zu seinem Tode im Jahr 1882 lebt. Emma und Darwin bekommen zehn Kinder, von denen sieben die Eltern überleben und teilweise ein beträchtliches Alter erreichen. Obwohl Darwin kein Landpfarrer geworden ist, nimmt er in der Pfarrgemeinde wichtige Funktionen wie die des Friedensrichters wahr.
5.
Eine Skizze von Darwins Theorie – Gttliche Gesetze oder blinder Zufall?
Bevor ich auf die Entstehung von Darwins Theorie eingehe, werde ich diese auf der Grundlage seines erst zwanzig Jahre später erschienenen revolutionären Werkes Origin of Species, das von Darwin als »zweifellos das wichtigste Werk meines Lebens« bezeichnet wurde, in aller Kürze vorstellen. 31 Darwin bezeichnet sie als »theory of descent with modification through natural selection«, »Abstammungstheorie mit Abänderung durch natürliche Selektion« und später korrekter als »theory of descent with modification through variation and natural Charles Darwin, Reise eines Naturforschers um die Welt, ausgewählt und mit einer Einleitung von Julia Voss, IT 3355, Frankfurt am Main: Insel Verlag, 2008, S. 267–270. 29 Mein Leben, S. 83. 30 The Correspondence of Charles Darwin, op. cit., Bd. 14, 2004, S. 130. 31 Ausführlicher siehe Eve-Marie Engels, Charles Darwin, München: C. H. Beck 2007, Kap. II und III. 28
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selection«, wobei aber die Variation als wesentliches Element von Anfang an in seiner Theorie enthalten ist. Darwin geht von der Beobachtung aus, dass es zwischen den Organismen einer Art immer individuelle Unterschiede oder Varianten gibt und damit auch unterschiedlich gute Anpassungen an die jeweiligen Umweltbedingungen. Diejenigen Organismen, die im Hinblick auf die jeweiligen Überlebenserfordernisse auf Grund ihrer Eigenschaften besser angepasst sind, d. h. zweckmäßiger ausgestattet sind als ihre Artgenossen, haben größere Überlebenschancen und können sich durchschnittlich erfolgreicher vermehren als die anderen, d. h. es findet eine natürliche Selektion der besser Angepassten statt. Ihre für das Überleben vorteilhaften Eigenschaften können sich daher über viele Generationen hinweg allmählich durch Vererbung anhäufen und sich dabei gegenüber den Merkmalen der Stammart zunehmend verändern. Dieser sich graduell vollziehende Vorgang führt nach Darwin zur Entstehung neuer Varietäten, aus denen schließlich neue Arten hervorgehen. Die natürliche Selektion erfüllt hier also nicht nur die Funktion einer Erklärung des Aussterbens von Arten, sondern in erster Linie die konstruktive Funktion einer Erklärung der Entstehung neuer Arten. Darwin konzipiert die natürliche Selektion in Analogie zur Pflanzen- und Tierzucht. Allerdings lässt sich bei der natürlichen Selektion im Unterschied zur künstlichen Selektion kein planvoll handelnder Züchter angeben, wenn wir in der Biologie auf die Annahme des Schöpfergottes als intelligenten Designer verzichten wollen. Wer bewirkt also in der freien Natur die natürliche Auslese? Es sind die je spezifischen, überlebensrelevanten Herausforderungen, mit denen die Organismen einer Art unter ihren jeweiligen Lebensbedingungen konfrontiert werden. Darwin bezeichnet diese Herausforderungen mit dem Begriff ›struggle for life‹ oder auch ›struggle for existence‹ und erläutert dies anhand von Malthus’ Bevölkerungsgesetz, das er im September 1838 durch Lektüre von Malthus’ Essay on the Principle of Population kennen lernt. Da sich die Anzahl der Individuen einer Art nach Darwin im Großen und Ganzen stabil hält, muss es in der Natur einen Mechanismus geben, der diese Stabilität bewirkt. Knappe Ressourcen, die bei Malthus ausschlaggebend sind, können dabei eine von vielen Äußerungsweisen dieses ›struggle for existence‹, des Ringens um die Existenz, sein, es sind aber nicht die einzigen. Darwin legt das Bevölkerungsgesetz weiter aus als Malthus selbst und fasst unter diesen Begriff sämtliche Bewährungsproben, denen Organismen während 169 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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ihres Lebens ausgesetzt sind und die einen Einfluss auf Überleben und Fortpflanzung haben können. Dabei können die kleinsten Unterschiede, Varianten, zwischen den Lebewesen einer Art bzw. Population, ein »Körnchen in der Waagschale«, für Überleben und Fortpflanzung ausschlaggebend sein 32 . Darwins Ausdruck ›struggle for existence‹ wurde vielfach missverstanden und dabei auf die Bedeutung eines schonungslosen Kampfes aller mit allen eingeengt. Er weist jedoch von Anfang an auf das weite Bedeutungsspektrum des Begriffs hin, der je nach Lebenskontext die Konkurrenz zwischen Individuen derselben Art (innerartliche Konkurrenz), die Konkurrenz zwischen Individuen unterschiedlicher Arten (zwischenartliche Konkurrenz), das Ringen um die Existenz eines Lebewesens mit Umweltbedingungen (Trockenheit, Dürre, Kälte, Nässe usw.), das Hinterlassen von Nachkommenschaft und die Abhängigkeit der Lebewesen untereinander bedeuten kann. Der Begriff ist situationsspezifisch auszulegen, und es gibt demnach unterschiedliche Bewältigungsstrategien des Ringens um die Existenz, zu denen Konkurrenz ebenso gehört wie die Kooperation. In einem Brief an William Preyer äußert Darwin seine Vermutung, dass der deutsche Ausdruck »Kampf« usw. nicht ganz dieselbe Vorstellung wiedergebe wie ›struggle for existence‹ 33 . Der Ausdruck ›struggle for existence‹ sei anwendbar, wenn zwei Individuen während einer Hungersnot nach derselben Nahrung jagen, aber auch, wenn ein einzelnes Individuum nach Nahrung jage oder wenn ein Schiffsbrüchiger gegen die Wogen des Meeres kämpfe. Begriffe wie ›struggle for life‹ und ›war of nature‹ wurden auch nicht von Darwin geprägt, sondern waren bereits geläufig, als er sein Buch verfasste. Wie können sich aber aus einer Art mehrere Arten entwickeln? Das »Ei des Kolumbus« ist für Darwin die Neigung von Lebewesen einer Stammform, im Zuge ihrer Modifikation eine Merkmalsdivergenz zu entwickeln 34 und sich an verschiedene Stellen im Naturhaushalt anzupassen: Für die Entwicklung der ›Divergenz der Charaktere‹ (divergence of character) und die Möglichkeit der reproduktiven Isolation boten gerade die Galapagos-Inseln exemplarische Voraussetzungen. Darwin vertritt einen Gradualismus und lässt sich vom natur32 33 34
Charles Darwin, Die Entstehung der Arten, Stuttgart: Reclam, S. 650. In W. Preyer, »Briefe von Darwin«, in Deutsche Rundschau, LXVII, 1891, S. 362. Mein Leben, op. cit., S. 130.
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philosophischen Kontinuitätsmodell »natura non facit saltum« leiten 35 . Die Entstehung von Arten und Anpassungen ist für Darwin also das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von externen Lebensbedingungen und der internen Struktur von Organismen, welches Naturgesetzen und Voraussetzungen unterschiedlicher Art (Gesetz der natürlichen Selektion, Vererbungs- und Variationsgesetze usw.) unterworfen ist, selbst wenn diese im Einzelfall nicht oder noch nicht bekannt sind. Darwin bezeichnet in Origin of Species die individuellen Variationen als »spontan« und »zufällig« 36 , räumt jedoch ein, dass die Rede vom »Zufall« (chance) eine völlig unkorrekte Ausdrucksweise sei, die nur die Unkenntnis der Ursache jeder einzelnen Variation zum Ausdruck bringe 37 . Obwohl Darwin die Variations- und Vererbungsgesetze noch nicht kannte und hierüber aus heutiger Sicht teilweise falsche Vorstellungen hatte, ist die Struktur seiner Theorie mit ihren Bestandteilen Variation, natürliche Selektion und Vererbung nach wie vor gültig. Bemerkenswert sind die von Darwin gewählten Epigrafen neben dem Titelblatt von Origin of Species. Er wählt Zitate von William Whewell und Francis Bacon, die ab der zweiten Auflage durch ein Zitat von Bischof Joseph Butler ergänzt werden. Das Zitat von Whewell stammt aus dessen Astronomy and General Physics Considered with Reference to Natural Theology (1833), einem der acht Bridgewater Treatises, mit denen die »Power, Wisdom and Goodness of God, as manifested in the Creation«, nachgewiesen werden soll. Whewell schreibt im Kapitel On the Physical Agency of the Deity, dem das Zitat entnommen ist, dass die Wissenschaft uns zeige, wie unendlich weit entfernt wir von jeder Fähigkeit sind zu begreifen, wie das materielle und moralische Universum Gottes Werk ist. Und er fährt fort: Aber in Bezug auf die materielle Welt können wir zumindest so weit gehen;– wir können verstehen, dass Ereignisse nicht durch isolierte Eingriffe der göttlichen Macht hervorgebracht werden, die in jedem einzelnen Fall ausgeübt wird, sondern durch die Einrichtung allgemeiner Gesetze. 38
Entstehung der Arten, op. cit. S. 265, 654. ebd., S. 648. 37 ebd., S. 188. 38 »But with regard to the material world, we can at least go so far as this;– we can perceive that events are brought about, not by insulated interpositions of divine power exerted in each particular case, but by the establishment of general laws.« William 35 36
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Darwin zitiert auch eine Stelle aus dem Werk The Advancement of Learning des Philosophen Francis Bacon, der die Idee verteidigt, dass Gott die ›Erstursache‹ ist, die »in der Natur nur durch sekundäre Ursachen wirkt« (second cause), und er setzt sich hier für eine gründliche Erforschung der Natur (›natural philosophy‹) zur Abwehr des Atheismus ein. Während »der Geist des Menschen durch wenig oder oberflächliches Wissen von der Philosophie zum Atheismus neigen kann, bringen ihn weitere Fortschritte darin zurück zur Religion.« 39 Aus diesem Kontext zitiert Darwin nun Bacons Schlussfolgerung: Um daher abzuschließen, niemand soll aus einem schwachen Dünkel der Besonnenheit oder falsch verstandener Bescheidenheit denken oder behaupten, dass jemand im Buch von Gottes Wort oder im Buch von Gottes Werken zu weit forschen oder zu gut unterrichtet sein kann, in Theologie oder Philosophie; vielmehr soll der Mensch endlosen Forschritt oder Fähigkeit in beidem anstreben. 40
Ab der zweiten Auflage nimmt Darwin ein Zitat von Bischof Butler aus The Analogy of Religion, Natural and Revealed (1848) hinzu, in welchem dieser davon spricht, dass alles Natürliche eine Intelligenz voraussetze. Der geistesgeschichtliche Hintergrund der hier zitierten Positionen ist die alte theologische und philosophische Unterscheidung zwischen der Erstursache und Zweitursachen, die im Mittelalter exemplarisch durch Thomas von Aquin vertreten wird. Mit der Erstursache oder auch Zweckursache, Finalursache, ist traditionellerweise Gott gemeint, der als Schöpfer alles kreiert, in Gang setzt und nach Maßgabe seiner göttlichen Zwecke darauf einwirkt. Zweitursachen oder Zweitgesetze sind solche Ursachen bzw. Gesetze, denen das Naturgeschehen im Einklang mit Gottes Absichten unterworfen ist. Wenn Physiker und Astronomen Naturgeschehen und -prozesse erklärten, griffen sie zu Darwins Zeiten seit langem auf Naturgesetze zurück, statt alles auf eine direkte Einwirkung durch Gottes Willen in jedem einzelnen Fall Whewell, Astronomy and General Physics considered with Reference to Natural Theology, London: William Pickering, 1833, zit. nach der Aufl. von 1836, S. 356. 39 Francis Bacon, The Advancement of Learning (1 1605), Philadelphia: Paul Dry Books 2001, S. 9, S. 93 f. 40 »To conclude therefore, let no man upon a weak conceit of sobriety or an ill-applied moderation think or maintain, that a man can search too far, or be too well studied in the book of God’s word, or in the book of God’s works, divinity or philosophy; but rather let men endeavour an endless progress or proficience in both«. ebd.
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zurückzuführen. Auch der Vorstellung naturimmanenter Finalursachen im Sinne des Aristoteles hatte man weitgehend abgeschworen. Nach Francis Bacon, dem Begründer der neuzeitlichen Wissenschaftsphilosophie, stellt die Untersuchung von Zweckursachen, Finalursachen, bei der Erforschung der Natur ein Hemmnis dar und blockiert die Suche nach den eigentlichen physikalischen Ursachen.41 Bacons Kritik hat ihren beispielhaften Ausdruck in seinem viel zitierten Diktum gefunden, dass die Erforschung von Finalursachen, Zweckursachen, »unfruchtbar« oder »wie eine gottgeweihte Jungfrau« 42 sei, eine Anspielung auf die vestalischen Jungfrauen. Damit lehnt er die Erforschung von Zweckursachen jedoch nicht prinzipiell ab, sondern unterscheidet streng nach Zuständigkeitsbereichen. Die Untersuchung von Zweckursachen gehöre in den Aufgabenbereich der Metaphysik, während die Physik »Zweitursachen« zu erforschen habe 43. Es ist interessant, dass sich die Unterscheidung zwischen Erst- und Zweitursachen bis in die Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts hinein erhalten hat. Darwins Werk endet mit der biblischen Anspielung, dass das Leben einigen wenigen oder nur einer Form eingehaucht wurde, ab der zweiten Auflage wird hier, angeregt durch einen Korrespondenten, »der Schöpfer« hinzugefügt. Aus dem Kampf der Natur, aus Hunger und Tod geht also unmittelbar das Höchste hervor, das wir uns vorstellen können: die Erzeugung immer höherer und vollkommener Wesen. Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, daß der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und daß, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht. 44
Darwin rief damit zahlreiche Kritiker auf den Plan, da er zur Erklärung der Entstehung des Lebens überhaupt nach wie vor auf den Schöpfergott statt auf ein Naturgesetz zurückgreife. Auch an einer anderen Francis Bacon, op. cit., S. 93 f. Francis Bacon, The Advancement of Learning. London 1605. J. Devey (Hrsg.), New York 1901. The Online Library of Liberty: http://files.libertyfund.org/files/1433/ 0414_Bk.pdf, S. 168. 43 Fancis Bacon, op. cit. 2001, S. 9, S. 93 f. 44 Entstehung der Arten, op. cit., S. 678. Im Original beginnt das Zitat mit den Worten »Thus, from the war of nature …« 41 42
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Stelle wird dem Schöpfer eine klare Funktion zugesprochen. Hier kann der Eindruck entstehen, Darwin betrachte ihn als Erstursache, welche Naturgesetze als Zweitursachen hervorgebracht habe. Meines Erachtens stimmt es nach allem, was wir wissen, besser mit den vom Schöpfer der Materie eingeprägten Gesetzen überein, daß das Entstehen und Vergehen der früheren und heutigen Erdenbewohner genauso wie Geburt und Tod der Individuen eine Folge sekundärer Ursachen ist. Wenn ich die Organismen nicht als Sonderschöpfungen, sondern als unmittelbare Nachkommen weniger Wesen betrachte, die schon lebten, ehe die erste kambrische Schicht sich gebildet hatte, so scheinen sie mir dadurch veredelt zu werden.« 45
Ist Darwins Origin of Species also ein Werk im Sinne der naturtheologischen Tradition? Und besteht das Revolutionäre seines Ansatzes darin, dass er die klassische Variante des Kreationismus, wonach Gott durch einzelne Akte in seiner Schöpfung wirkt, durch eine Gesetzesvariante austauscht? Für die unbelebte Natur hat Whewell in seinem Bridgewater Treatise Gott bereits als den Schöpfer von Naturgesetzen angenommen. Tritt Darwin in dessen Fußstapfen und tut dasselbe einfach nur für die belebte Natur? Mit anderen Worten, ist die Darwinsche Revolution damit eine Umwälzung innerhalb eines naturtheologischen Rahmens, aber keine Überwindung der Naturtheologie als solcher? Solche Fragen müssen auch den amerikanischen Botaniker und Naturtheologen Asa Gray bewegt haben, der sich in Amerika für die Verbreitung von Darwins Theorie einsetzte und sich für die Vereinbarkeit der Theorie der natürlichen Selektion mit der Naturtheologie aussprach. Es sei »nicht zu leugnen, dass sich Mr. Darwin absichtlich über die philosophischen und theologischen Anwendungen seiner Theorie ausgeschwiegen« habe. 46 Gray geht jedoch davon aus, dass in Darwins Origin eine theistische Naturauffassung vertreten werde, und etwas anderes könne so lange nicht angenommen werden, »bis das Gegenteil logisch aus seinen Prämissen abgeleitet werde«. 47 Falls Darwin aber irgendwo behaupte, ebd., S. 677. »However that may be, it is undeniable that Mr. Darwin has purposely been silent upon the philosophical and theological applications of his theory.« In »Natural Selection not inconsistent with Natural Theology« (1860), in: Hunter Dupree (ed.), Darwiniana. Essays and Reviews Pertaining to Darwinism, by Asa Gray, Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press 1963, S. 118. 47 »As already stated, we think that a theistic view of Nature is implied in his book, and 45 46
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dass die natürlichen Ursachen, durch welche Arten entstehen, ohne eine ordnende und leitende Intelligenz wirken und dass die geordnete Organisation und die bewundernswerten Anpassungen um uns herum zufällige oder blinde, ungeplante Resultate sind – dass das Auge, obgleich es auf das Sehen hinausläuft, nicht dafür geplant war, noch die Hand für den Gebrauch – dann, vermuten wir, ist ihm zu recht vorzuwerfen, dass er jedes Design in der belebten Natur leugnet, und sehr grundlos leugnet. 48
Zumindest solange die »materielle Ursache der Variation völlig unbekannt und geheimnisvoll« sei, empfiehlt Gray Darwin daher, in der »Philosophie seiner Hypothese« anzunehmen, dass die Variation »entlang bestimmter nützlicher Linien geführt worden sei.« 49 Tatsächlich zieht sich Darwins Kritik an der Lehre von der Schöpfung jeder einzelnen Art von Anfang bis Ende wie ein roter Faden durch Origin of Species. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass sein Ziel die Widerlegung dieser speziellen, wörtlich ausgelegten Schöpfungslehre ist und er mit seiner Theorie den Weg für eine Naturtheologie bahnen möchte, wonach Gott nicht durch einzelne Akte, sondern planvoll durch die von ihm eingerichteten Naturgesetze wirkt. Die Radikalität von Darwins Ansatz, die in den folgenden Abschnitten aufgedeckt werden soll, ist bei der Lektüre von Origin of Species nämlich nicht unmittelbar sichtbar, zumal Darwin in seinem Werk den Schöpfer mehrfach erwähnt. Im Kapitel Schwierigkeiten der Theorie schreibt er im Abschnitt über Organe höchster Perfektion im Kontext seiner Erklärung der Entstehung des Auges: »Haben wir irgendein Recht zu der Annahme, dass der Schöpfer durch intellektuelle Fähigkeiten wirkt, die denen des Menschen vergleichbar sind?« 50 »Dürfen we must charitably refrain from suggesting the contrary until the contrary is logically deduced from his premises.« ebd., S. 119. 48 »If, however, he anywhere maintains that the natural causes through which species are diversified operate without an ordaining and directing intelligence, and that the orderly arrangements and admirable adaptations we see all around us are fortuitous or blind, undesigned results–that the eye, though it came to see, was not designed for seeing, nor the hand for handling–then, we suppose, he is justly chargeable with denying, and very needlessly denying, all design in organic Nature; otherwise, we suppose not.« ebd., S. 119 f. 49 »at least while the physical cause of variation is utterly unknown and mysterious, we should advise Mr. Darwin to assume, in the philosophy of his hypothesis, that variation has been led along certain beneficial lines.« ebd., S. 121 f. 50 »Have we any right to assume that the creator works by intellectual powers like those of man?« in: Charles Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection,
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wir nicht annehmen, dass ein lebendes optisches Instrument auf diese Weise geformt werden könnte, das einem Instrument aus Glas überlegen ist, so wie die Werke des Schöpfers denen des Menschen überlegen sind?« 51 Solche Äußerungen werden bei einer aufmerksamen Leserschaft Ratlosigkeit erzeugt haben. Darwins Radikalität erschließt sich erst bei einem Blick hinter die Kulissen, in Darwins Notizbücher, in die Abrisse seiner Theorie von 1842 und 1844 und in die Korrespondenz, die er im Anschluss an die Veröffentlichung von Origin of Species mit Freunden wie Kritikern führt. All diese Quellen wurden jedoch erst posthum veröffentlicht. Neun Jahre nach der Publikation von Origin of Species, in seinem Werk The Variation of Animals and Plants under Domestication (1868), diskutiert Darwin ganz am Ende die von Asa Gray aufgeworfenen Themen, indem er, fast wie in einem sokratischen Dialog, wiederum vor allem kritische Fragen stellt, die auf den Nachweis hinauslaufen, dass sich auch die Gesetzesvariante der Naturtheologie in Aporien und unlösbare Probleme verstrickt.
6.
Zweifel an der Konstanz der Arten
Darwin beginnt seine Ausführungen in Origin of Species sogleich mit der Beschreibung seines ehrgeizigen Forschungsprogramms. Als ich mich als Naturforscher an Bord der H.M.S. ›Beagle‹ befand, war ich sehr erstaunt über bestimmte Tatsachen hinsichtlich der Verbreitung der Bewohner [Tiere und Pflanzen] Südamerikas und der geologischen Beziehungen der gegenwärtigen zu den früheren Bewohnern jenes Kontinentes. Diese Tatsachen schienen mir einiges Licht zu werfen auf die Entstehung der Arten, jenes Geheimnis der Geheimnisse, wie es von einem unserer größten Philosophen bezeichnet wurde. Nach meiner Heimkehr im Jahr 1837 kam ich auf die Idee, dass man über diese Frage durch geduldiges Sammeln und Reflektieren über alle möglichen Tatsachen, die vielleicht mit ihr zusammenhängen könnten, etwas herausfinde könnte. 52 or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London: John Murray 1859, Reprint Cambridge, Mass, London, England: The Balknap Press of Harvard University Press, 1964, S. 188. 51 »… and may we not believe that a living optical instrument might thus be formed as superior to one of glass, as the works of the Creator are to those of man?« ebd., S. 189. 52 Übersetzung von E.-M. E. Die deutschen Standardübersetzungen sind hier so ungenau, dass eine eigene Übersetzung bevorzugt wurde. Original: »WHEN on board H.M.S. ›Beagle,‹ as naturalist, I was much struck with certain facts in the distribution
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In seiner Autobiografie spezifiziert er noch, welche Entdeckungen ihn besonders beeindruckten. Auf der Reise mit der Beagle hatten mich drei Entdeckungen tief beeindruckt: Ich hatte in der Pampasformation große tierische Fossilien gefunden, die die gleichen Panzer trugen wie die noch heute existierenden Gürteltiere; weiter war mir aufgefallen, wie nahe verwandte Tiere im Lauf des Vorrückens über den Kontinent nach Süden einander ablösen; und drittens hatte mich beeindruckt, daß die meisten auf dem Galapagos-Archipel vorkommenden Tierund Pflanzenarten südamerikanischen Charakter trugen und vor allem, wie sie auf jeder Insel der Galapagos-Gruppe leichte Verschiedenheiten zeigen; keine dieser Inseln scheint geologisch gesehen sehr alt zu sein. Es lag auf der Hand, daß derartige Tatsachen, wie viele andere auch, sich erklären ließen, wenn man annahm, daß die Arten sich allmählich verändern; und dieses Thema ließ mir keine Ruhe. Es lag aber ebenso auf der Hand, daß weder die Einwirkung der Umwelt noch der Wille der betreffenden Organismen (besonders im Falle der Pflanzen) als Erklärung dafür fungieren konnten, daß Organismen aller Arten ihrer Lebensweise so wunderbar angepaßt sind – zum Beispiel ist ein Specht oder ein Baumfrosch so ausgerüstet, daß er auf Bäume klettern kann, oder ein Same kann sich mit Hilfe seiner Haken oder seiner Flügel verbreiten. Anpassungen dieser Art hatte ich immer sehr erstaunlich gefunden, und solange sie nicht zu erklären waren, schien mir der Versuch, durch indirekte Beweisführung darzulegen, daß Arten sich ändern, verlorene Mühe zu sein. 53
Darwin erwähnt hier drei Entdeckungen, es handelt sich jedoch um vier, denn bei den Erfahrungen auf den Galapagos-Inseln macht er zwei unterschiedliche Beobachtungen. Die erste der beiden bezieht sich auf die Beziehungen zwischen der südamerikanischen Tier- und Pflanzenwelt und der auf dem Galapagos-Archipel, die zweite auf die Variationsbreite der Lebewesen auf dem Archipel selbst. Weder der biblische Schöpfungsbericht im wörtlichen Sinne noch Lamarcks Erklärung zur Entstehung von Arten und Anpassungen überzeugen Darwin, so dass er nach einer neuen Lösung sucht. of the inhabitants of South America, and in the geological relations of the present to the past inhabitants of that continent. These facts seemed to me to throw some light on the origin of species – that mystery of mysteries, as it has been called by one of our greatest philosophers. On my return home, it occurred to me, in 1837, that something might perhaps be made out on this question by patiently accumulating and reflecting on all sorts of facts which could possibly have any bearing on it.« ebd., S. 1, Hervorhebung in der Übersetzung von E.-M. E. 53 Mein Leben, op. cit., S. 127 f., Hervorhebung von E.-M. E.
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Ab Juli 1837 beginnt Darwin, eine Reihe umfangreicher Notizbücher anzulegen, die er ausschließlich dem Thema ›Artenwandel‹ (transmutation of species) widmet. Eine zweite Serie, die er Mitte 1838 eröffnet, befasst sich schwerpunktmäßig mit philosophischen Themen (metaphysical enquiries). 54 Daneben gibt es aber weitere Notizbücher, auch zu geologischen und ornithologischen Fragen. Diese Notizbücher vermitteln einen lebendigen Eindruck von Darwins Arbeit in seiner Theoriewerkstatt. Sie eröffnen auch einen Einblick in das breit gefächerte Spektrum an Literatur, mit dem sich der junge Darwin befasst, das er geradezu verschlingt. Er rezipiert, exzerpiert und kommentiert Autoren aus Medizin, Psychologie, Naturwissenschaften, Philosophie, Theologie, politischer Ökonomie, Geschichte und anderen Disziplinen. Daher haben die Notizen einen fragmentarischen Charakter. Sie geben Darwins Ideen wieder, die ihm beim Lesen und Reflektieren kommen, auch seine Gedankenexperimente zur Auslotung der theoretischen Möglichkeiten. Wir können »seine Gedanken fast am Flügel fangen«, »almost catch his thought on the wing«. 55 Darwins Aufzeichnungen sind in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. In diesen privaten Notizbüchern, die er ausschließlich für seinen persönlichen Gebrauch anlegte, war es nicht erforderlich, auf mögliche Empfindlichkeiten anderer Rücksicht zu nehmen und auf Reinschrift zu achten. Sie zeigen Darwins intellektuelle Unabhängigkeit und Unerschrockenheit beim Durchbrechen von Denktabus. Darwin wirft hier viele grundsätzliche Fragen auf, welche die Sicherheit des menschlichen Erkennens, die Eigenschaften Gottes und seines Wirkens in der Natur, die Stellung des Menschen im Verhältnis zu anderen Lebewesen und vieles mehr betreffen. Auch sind die Notizen für die Rekonstruktion der Entstehung von Darwins Abstammungstheorie und das Verständnis seines philosophischen und geistesgeschichtlichen Hintergrundes unverzichtbar. Überall finden wir die Spuren seiner gerade entstehenden bzw. schließlich entstandenen Theorie. Obwohl die Notizen häufig wie Aphorismen erscheinen, sind Darwins philosophisches Programm, seine Forschungslogik und die Auseinandersetzung mit der traditionellen Paul H. Barrett, Peter J. Gautrey, Sandra Herbert, David Kohn, Sydney Smith (Hg.), Charles Darwin’s Notebooks, 1836–1844, Ithaca, New York: Cornell University Press 1987. 55 Howard E. Gruber, Paul H. Barrett, Darwin on Man, London: Wildhouse 1974, S. xv. 54
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Naturtheologie und Metaphysik in viel stärkerem Maße diesen Notizbüchern und dem Briefwechsel als Origin of Species zu entnehmen. Wie die Notebooks D und E zeigen, entwickelt Darwin bereits in den Jahren 1838 und 1839 die wesentlichen Elemente seiner Theorie: die Annahme individueller Variationen, die unterschiedliche Vor- und Nachteile für den betreffenden Organismus beinhalten, die Idee der natürlichen Selektion und den Mechanismus, der den Selektionsdruck ausübt, auf den er bei der Lektüre von Malthus’ Bevölkerungsgesetz kam. Und er reflektiert gleichzeitig die philosophischen Konsequenzen seiner Theorie, wie seine Kommentare über John Maccullochs Werk Proofs and Illustrations of the Attributes of God (1837) eindrucksvoll belegen. Zudem verdeutlichen die Notizbücher unmissverständlich, dass der Mensch von Anfang an zum intendierten Anwendungsbereich der Darwinschen Theorie gehört. Darwin wagt auch im Rahmen seines gerade entstehenden evolutionären Naturalismus neue Deutungen für klassische philosophische Fragen zu denken und alte Antworten als obsolet zurückzuweisen. Hier sticht auch Darwins Kritik am Anthropozentrismus hervor. Schließlich eröffnen die Notizbücher einen Einblick in die damals aktuelle naturwissenschaftliche Literatur und ihre Verflechtung mit theologischen und philosophischen Fragen und sind damit ein bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument. Darwin hinterlässt auch in den von ihm durchforsteten Werken aus den unterschiedlichsten natur- und geisteswissenschaftlichen Bereichen seine Spuren in Form von unzähligen Randbemerkungen, die ebenfalls herausgegeben wurden. 56 In seiner Autobiografie schreibt er: Im Oktober 1838, fünfzehn Monate nachdem ich mit meiner Untersuchung begonnen hatte, las ich zufällig zum Vergnügen Malthus’ Buch über Population, und weil ich durch meine lange Beobachtung der Verhaltensweisen von Tieren und Pflanzen wohl darauf vorbereitet war, anzuerkennen, daß ein Kampf ums Dasein überall stattfindet, wurde mir sofort deutlich, daß unter solchen Bedingungen vorteilhafte Variationen eher erhalten bleiben und unvorteilhafte eher vernichtet werden. Das Ergebnis dieser Tendenz mußte die Bildung neuer Arten sein. Jetzt hatte ich endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte; ich war aber so ängstlich darauf bedacht, Voreingenommenheit auszuschließen, daß ich beschloß, noch geraume Zeit nichts aufzuschreiben, auch keinen noch so kurzen Entwurf. Erst im Juni 1842 gestattete ich mir 56 Mario Di Gregorio, with the assistance of Nicholas W. Gill, Charles Darwin’s Marginalia, Bd. I, New York, London: Garland Publishing, 1990.
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die Genugtuung, einen sehr kurzen Abriß meiner Theorie schriftlich zu fixieren, 35 Seiten, mit Bleistift geschrieben; im Sommer 1844 arbeitete ich ihn aus, nun waren es 230 Seiten, die ließ ich ins reine schreiben; ich besitze sie heute noch. 57
Auch wenn Darwin in seinen Notizbüchern die Begriffe ›natural selection‹ und ›struggle for life‹ noch nicht verwendet, so werden dort die damit ausgedrückten Sachverhalte im Kontext seiner Kommentare über Malthus jedoch beschrieben. Man kann sagen, dass es eine Kraft wie hunderttausend Keile gibt, die versuchen, jede Art angepasster Struktur in die Lücken des Naturhaushaltes zu treiben oder eher Lücken zu bilden, indem sie schwächere ausstößt. hhDer Zweck all dieses Einzwängens muss es sein, die passende Struktur auszusuchen und sie dem Wandel anzupassen. …ii 58
Anhand einiger weiterer Beispiele aus Darwins Notizbüchern soll ein Einblick in sein Umdenken gegeben werden: Es ist absurd zu sagen, dass ein Tier höher als ein anderes steht.– Wir betrachten jene, bei denen die Gehirnstrukturen, die intellektuellen Fähigkeiten, am weitesten entwickelt sind, als die höchsten.– Eine Biene würde dies zweifellos tun, wenn die Instinkte am weitesten entwickelt wären. 59
Mein Leben, op. cit., S. 129 f. In der von mir verwendeten Übersetzung steht »Jetzt hatte ich endlich eine Arbeitshypothese«. Da Darwin jedoch im Original den Begriff »theory« verwendet und er großen Wert darauf legt zu betonen, dass seine Theorie nicht nur eine »Hypothese« sei, bin ich hier von der Übersetzung abgewichen. 58 Charles Darwin’s Notebooks, op. cit., D 135e, S. 375 f. Die erste Zahl bezieht sich auf die Seitenzahl im Notizbuch D, die zweite auf die in der Ausgabe von Barrett et al. Die Zeichen hh ii bedeuten Einfügungen von Darwin, h i bedeuten Darwins Streichungen. »One may say there is a force like a hundred thousand wedges trying to force hintoi every kind of adapted structure into the gaps hofi in the oeconomy of Nature, or rather forming gaps by thrusting out weaker ones. hhThe final cause of all this wedgings, must be to sort out proper structure & adapt it to change. …ii. Allerdings finden wir die Eintragungen über Malthus im Notizbuch im September 1838, nicht im Oktober, wie er in seiner Autobiografie schreibt. 59 Bei diesem wie anderen Zitaten aus Darwins Notizbüchern ist zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um Darwins Aufzeichnungen seiner Gedanken handelt, die in dieser Weise nicht für die Publikation bestimmt waren, sondern für seinen persönlichen Gebrauch als Vorbereitung seiner Werke. Viele Formulierungen und Sätze sind daher hinsichtlich der Orthografie, Interpunktion und Grammatik nicht druckreif. »It is absurd to talk of one animal being higher than another.– We consider those, where the cerebral structure intellectual faculties most developed, as highest.– A bee doubtless would when the instincts were. –« in Charles Darwin’s Notebooks, op. cit., B 74, S. 189. Die Aus57
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Wenn alle Menschen tot wären, dann würden die Affen zu Menschen und die Menschen zu Engeln. 60 In seiner Arroganz hält sich der Mensch für ein großes Werk, das es würdig ist, durch Gottes Wirken hervorgebracht zu sein. Bescheidener und, wie ich glaube, zutreffender ist die Annahme, dass er aus Tieren erschaffen wurde. 61 Wenn man einmal zugesteht, dass Arten einer Gattung ineinander übergehen.– zugesteht, dass ein Instinkt erworben wird …, dann gerät das ganze Gebäude ins Wanken und fällt in sich zusammen.– schaut ins Ausland, erforscht die Abstufungen, erforscht die Einheit des Typus– Erforscht die geografische Verteilung, erforscht die Beziehungen zwischen den fossilen und lebenden Organismen, so bricht das Gebäude zusammen! Aber der Mensch, – der wunderbare Mensch. »mit seinem göttlichen Antlitz zum Himmel gewandt«, ist eine Ausnahme. – Er ist ein Säugetier – er existiert nicht von ewig her – er ist keine Gottheit, seine Ende hhin der gegenwärtigen Formii wird kommen, … dann bildet er keine Ausnahme. Er besitzt einige derselben allgemeinen Instinkte & hmoralischei Gefühle wie Tiere.– diese können andererseits denken– aber der Mensch hat statt eindeutiger Instinkte im Übermaß Denkfähigkeiten. … Welche Umstände mögen für die Entstehung des Menschen notwendig gewesen sein! … der Mensch, (der rohe, unzivilisierte Mensch), hätte vielleicht nicht gelebt, wenn bestimmte andere Tiere, die ausgestorben sind, noch leben würden. 62 Der Ursprung des Menschen ist nun bewiesen. – Die Metaphysik muss aufblühen. – Wer den Pavian versteht, würde mehr zur Metaphysik beitragen als Locke. 63 drücke »cerebral structures« und »intellectual faculties« stehen bei Darwin übereinander und sind durch eine Klammer miteinander verbunden. 60 »If all men were dead then monkeys make men.– Men makes angels –« (sic), ebd., B 169, S. 213. Ich danke Walter Nilson für seinen Übersetzungsvorschlag. 61 »Man in his arrogance thinks himself a great work. worthy the interposition of a deity, more humble & I believe true to consider him created from animals.– ebd., C 196 f., S. 300. 62 »Once grant that hhspeciesii one genus may pass into each other.– grant that one instinct to be acquired … & whole fabric totters & falls.– look abroad, study gradation. study unity of type– Study geographical distribution study relation of fossil with recent. the fabric falls! But Man – – wonderful Man. »divino ore versus coelum attentus« is an exception.– He is Mammalian.– his hhasi origin has not been indefinite– he is not a deity, his end hhunder present formii will come … then he is no exception.– he possesses some of the same general instincts, hasi & hmorali feelings as animals.– they on other hand can reason– but Man has reasoning powers in excess. Instead of definite instincts … What circumstances may have been necessary to have made man! … man (rude, uncivilized man) might not have lived when certain other animals were alive, which have perished.« ebd., C 76–79, S. 263 f. 63 »Origin of man now proved.– Metaphysic must flourish.– He who understands baboon hwilli would do more towards metaphysics than Locke.« ebd., M 84e, S. 539.
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Eve-Marie Engels
Unsere Abstammung ist also der Ursprung unserer bösen Leidenschaften!! Der Teufel in Gestalt des Pavians ist unser Großvater! 64 Platon … sagt im Phaidon, dass unsere »notwendigen Ideen« aus der Präexistenz der Seele entstehen und nicht aus Erfahrung ableitbar sind.– Lies »Affen« statt »Präexistenz«. 65 Die Affen verstehen die Ähnlichkeit mit dem Menschen besser als der prahlerische Philosoph selbst. 66
Darwins Tagebuch enthält beim Jahr 1837 einen aufschlussreichen Eintrag zum Anlass für seine Notizbücher über den Artenwandel. »Im Juli begann ich das erste Notizbuch über ›Artenwandel‹. Ich war ungefähr im März zuvor vom Charakter der südamerikanischen Fossilien und der Arten auf dem Galapagos-Archipel tief beeindruckt worden. Diese Tatsachen (vor allem die letztgenannten) sind der Ursprung all meiner Ansichten.« 67 Was war im März 1837 geschehen, das ihn nun veranlasste, Notizbücher zum Thema »Artenwandel« anzulegen? Im Januar 1837 hatte Darwin der Zoologischen Gesellschaft von London an die 500 Tiere übereignet, die er von seiner Reise mitgebracht hatte, und sein Geschenk an die Bedingung geknüpft, dass alle Exemplare von Experten präpariert und taxonomisch eingeordnet würden. 68 Darwin war hier auf die Kompetenz von Fachleuten aus der scientific community angewiesen, welche seine Funde in mehreren Sitzungen der Zoologischen Gesellschaft bestimmten. Zu diesen gehörten auch John Gould und Richard Owen. Von Januar bis März 1837 präsentierte Gould in mehreren Sitzungen der Zoologischen Gesellschaft von London besonders auffällige Exemplare der Vögel, die Darwin von den Galapagos-Inseln mitgebracht hatte. Dabei handelte es sich auch »Our descent, then, is the origin of our evil passions!!– The Devil under form of Baboon is our grandfather! –« ebd., M 123, S. 550. 65 »Plato … says in Phaedo that our »necessary ideas« arise from the preexistence of the soul, are not derivable from experience. – read monkeys for preexistence –« ebd., M 128, S. 551. 66 »The monkeys understand the affinities of man, better than the boasted philosopher himself.« ebd., M 138, S. 553 f. 67 »In July opened first note book on ›Transmutation of Species‹– Had been greatly struck from about Month of previous March on character of S. American fossils– & species on Galapagos Archipelago. These facts origin (especially latter) of all my views.« In: Charles Darwin, »Journal«, in: Gavin de Beer (Hg.), Bulletin of the British Museum (Natural History) Historical Series, Bd. 2, 1959, S. 7. 68 Zum folgenden siehe ausführlicher Eve-Marie Engels, Charles Darwin, op. cit., Kap. II.2 und die dort angegebene Literatur. 64
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um diejenigen Finkenarten, die später als »Darwin-Finken« in die Biologiegeschichte eingegangen sind. Darwin selbst hatte diese mit recht unterschiedlichen Schnäbeln ausgestatteten Tiere für Vertreter verschiedener Gattungen oder sogar Familien gehalten, sie als Finken, Kernbeißer und Ikterusse klassifiziert und ihnen während der Reise keine besondere Bedeutung beigemessen. 69 Gould erkannte jedoch, dass es sich bei allen diesen Exemplaren um Finkenarten handelte. Bezüglich des von Darwin gefundenen Straußes hatte er selbst schon vermutet, eine neue Art vor sich zu haben, was von Gould bestätigt wurde. Gould gab ihr den Namen Rhea Darwinii. Ausschlaggebend für Darwins Zweifel an der Konstanz der Arten war auch Goulds Bestimmung einer Gruppe von Vögeln der Galapagos-Inseln als Spottdrosseln. Während Darwin angenommen hatte, er habe Varietäten einer einzigen Art vor sich, bestimmte Gould diese Vögel als drei neue, voneinander getrennte Arten. Hinzu kam, dass diese mit den auf dem amerikanischen Kontinent lebenden Spottdrosselarten nahe verwandt waren. Im März 1837 teilte Gould Darwin diese Ergebnisse mit. Dieser war tief davon beeindruckt. In seinem Ornithologischen Notizbuch findet sich 1835 eine Eintragung darüber, unter welchen Bedingungen die Annahme der Artkonstanz unterminiert würde, nämlich wenn sich herausstellen würde, dass die von Darwin beobachteten Schildkröten und Vögel auf den Galapagos-Inseln nicht Varietäten, sondern Arten wären 70 . Aber erst mit Goulds Unterstützung konnte er die ihm zur Verfügung stehende Empirie, seine Vogelpräparate, richtig deuten und dieses Ergebnis nun für die Konzeption seiner Theorie fruchtbar machen. Nicht seine reinen Beobachtungen auf der Beagle-Reise also, sondern erst deren Identifikation und Einordnung in das biologische Klassifikationssystem durch Spezialisten wie Gould, Owen und andere führten ihm die Bedeutung seiner Funde für die Frage der Entstehung von Arten vor Augen. Die sogenannten »Darwin-Finken« konstituierten sich erst nach Darwins Rückkehr von den Galapagos-Inseln im Kreis der scientific community zu bedeutenden, für Darwins Theoriebildung relevanten Entdeckungen. 69 Frank Sulloway, »Darwin and His Finches: The Evolution of a Legend«, in: Journal of the History of Biology, Bd. 15, 1982, S. 8 f. 70 Nora Barlow (Hrsg.), »Darwin’s Ornithological Notes«, in: Bulletin of the British Museum (Natural History) 2, 1963, London, S. 262. Zur Datierungsfrage siehe Frank Sulloway, »Darwin’s Conversion: The Beagle Voyage and Its Aftermath«, in: Journal of the History of Biology 15, 1982.
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Ohne dieses Netzwerk von Experten, in das er eingebettet war, hätten ihm wesentliche Voraussetzungen für die Formulierung seiner revolutionären Theorie gefehlt. Darwin selbst war an der Entwicklung der Legende, er sei der Entdecker dieser Finken, nicht beteiligt. Diese empirischen Befunde und ihre Deutung sind zwar wesentlich für Darwins Zweifel an der Schöpfung jeder einzelnen Art und ihrer Unveränderlichkeit, doch gibt es weitere ebenso gewichtige Gründe. Dies sind wissenschaftstheoretische und -historische Überlegungen und theologische Reflexionen über die mit der Idee der speziellen Schöpfung jeder Art verbundene Gottesvorstellung. Diese lassen sich vor allem anhand von Darwins Notizbüchern und den Abrissen seiner Theorie von 1842 und 1844 rekonstruieren.
7.
Darwins Wissenschaftstheorie
Darwin hat sich an zahlreichen Stellen in seinen Notizbüchern, in der Korrespondenz mit seinen Freunden und Kritikern und in seinen Werken zu seinen wissenschaftsphilosophischen Grundsätzen und Vorstellungen geäußert. Trockene methodologische Prinzipien werden durch den Entdecker und Forscher Darwin lebendig und erweisen hier sowie in der positiven Aufnahme seiner Theorie durch die scientific community ihre Fruchtbarkeit. Darwins Theoriebildung und -überprüfung erfolgt von Anfang an im Lichte wissenschaftstheoretischer Reflexionen, die zeigen, dass er ein feines Gespür für die Komplexität wissenschaftlicher Erkenntnis sowohl im Entdeckungszusammenhang (context of discovery) als auch im Rechtfertigungszusammenhang (context of justification) wissenschaftlicher Theorien hat, um es in der Sprache der heutigen Wissenschaftstheorie auszudrücken. Solche wissenschaftsphilosophischen Reflexionen sind konstitutiv für Darwins Arbeit, er praktiziert seine Wissenschaftsphilosophie. Man gewinnt den Eindruck, dass er viele Themen aus der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts vorweggenommen hat. Einzelne Äußerungen von ihm können aus den Schriften von Popper, Lakatos und Kuhn stammen. Darwin statuiert ein Exempel dafür, dass nicht nur eine einzige Schule zum Erfolg führt, sondern dass erfolgreiche Forschungslogik eine Kombination verschiedener Schlussweisen und Prinzipien beinhaltet. Darwin ist von Herschels Wissenschaftsphilosophie angetan, wie bereits ausgeführt. Auch von Whewell, mit dem er persönlichen Kon184 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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takt pflegt, kennt er mehrere Werke. Herschel und Whewell heben die Bedeutung von Induktion und Deduktion für die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung hervor. Wissenschaft hat Naturgesetze unterschiedlicher Allgemeinheit zu entdecken und die ›wahren Ursachen‹ (verae causae) der Dinge im Sinne Newtons aufzuspüren, d. h. Ursachen, »die in der Natur wirklich existieren und die keine reinen Hypothesen oder Hirngespinste sind.« 71 . Für das Aufspüren solcher wahren Ursachen ist nach Herschel die Analogie zentral, d. h. die auffallende Ähnlichkeit zwischen zwei Phänomenen. Ist von einem dieser Phänomene die Ursache bekannt, können wir nach Herschel kaum eine analoge Ursache beim anderen Phänomen ablehnen 72 , was in dieser Allgemeinheit jedoch fraglich ist. Ein wahres Naturgesetz muss nach Herschel Quantifizierbarkeit und Voraussagen ermöglichen 73 . Für Whewell besteht die Stärke einer wissenschaftlichen Theorie darüber hinaus in ihrer Möglichkeit, Phänomene aus ganz unterschiedlichen Tatsachenbereichen aus gemeinsamen »wahren Ursachen« zu erklären. Hierfür prägt er den Begriff »Übereinstimmung von Induktionen« (Consilience of Inductions) 74 . In solchen Fällen haben wir es mit den »best etablierten Theorien der Wissenschaftsgeschichte« zu tun. Sowohl die Analogie als auch die Idee der Übereinstimmung der Induktionen spielen in Darwins Forschungslogik nachweislich eine zentrale Rolle, und der Begriff »vera causa« ist ihm geläufig. Darwin entwirft die natürliche Selektion bis zu einer bestimmten Grenze nach Analogie zur künstlichen Selektion und betont immer wieder die erklärende und integrative Kraft seiner Theorie. »Beim Vergleich meiner Theorie mit einer anderen sollte beachtet werden, sie nicht nach ihren vergleichbaren Problemen zu beurteilen, (sofern diese nicht überwältigend sind), sondern nach ihren vergleichbaren Lösungsmöglichkeiten und ihrer Vernetzung von Fakten.« 75 71 »To such causes Newton has applied the term verae causae; that is, causes recognized as having a real existence in nature, and not being mere hypotheses or figments of the mind.« John F. W. Herschel, A Preliminary Discourse on the Study of Natural Philosophy. Faksimile von 1830, hrsg. mit einer neuen Einleitung von M. Partridge, New York, London: Johnson Reprint Corporation, 1966, S. 144. 72 ebd., S. 149. 73 ebd., S. 25. 74 William Whewell, The Philosophy of the Inductive Sciences, 2 Bände, London: John W. Parker 1840, Bd. 2, S. 230. 75 »In comparing my theory with any other. It should be observed not what comparative
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Im engen Sinn ist mit einer Voraussage die Prognose zukünftiger Ereignisse gemeint. In einem weiteren Sinn ist dieser Begriff jedoch auch unabhängig von zeitlichen Verhältnissen anwendbar. Mit »Voraussage« kann auch der Schluss von Prämissen auf zu Erwartendes gemeint sein, auf bereits existierende Phänomene, die noch zu entdecken oder zu verifizieren sind. Ob die Voraussage zutrifft, muss durch Erfahrung entschieden werden. Voraussetzung hierfür sind eine Theorie und entsprechende Randbedingungen. Beispiele sind die Voraussage des Vorhandenseins von Rudimenten in einem Organismus auf Grund seiner Abstammungsgeschichte, der Schluss auf die Funktion bestimmter Organe auf Grund ihrer Struktur und materiellen Beschaffenheit, der Schluss von einzelnen Knochenfunden auf den Organismus, dem sie entstammen und von der Form eines Organismus auf seine Umwelt, in der er lebt. Diese Schlüsse nennt Charles S. Peirce »Hypothesen«, »Abduktionen« oder auch »Retroduktionen« 76 . Dieses Verfahren liegt auch bei Indizienbeweisen zugrunde, es ist die Methode von Sherlock Holmes. Wissenschaftler stehen häufig vor der Situation, dass sie zunächst auf intuitiver Basis ratend Hypothesen bilden, die später erst überprüfbar werden. 77 Bereits in seinen Notizbüchern sieht Darwin den Vorteil der Entdeckung von Naturgesetzen in ihren Erklärungs-, Voraussage- und Systematisierungsmöglichkeiten. 78 (vgl. Abschnitt 8) Die von Darwin durchgängig verfolgte Strategie besteht darin, wie er selbst schreibt, durch Induktion eine Hypothese zu bilden und diese anschließend auf andere Phänomene anzuwenden, um zu überprüfen, ob sich diese damit erklären lassen. 79 Doch auch der erste Schritt, die Beobachtung difficulties (as long as not overwhelming) What comparative solutions & linking of facts –«, Charles Darwin’s Notebooks, op. cit., D 71, S. 356. 76 Charles S. Peirce, Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Bde 2 und 5, Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard University Press, 2. Aufl. 1958, Bd. 5, 1960 Bd. 2. 77 Thomas A. Sebeok, Jean Umiker-Sebeok, »Du kennst meine Methode« Charles S. Peirce und Sherlock Holmes, Frankfurt: Suhrkamp 1982 (You know my method, Bloomington 1980). 78 »… the end of science. namely prediction.– till facts are grouped. & called. there can be no prediction.– The only advantage of discovering laws is to foretell what will happen & to see bearing of scattered facts. –« Charles Darwin’s Notebooks, op. cit., D 67, S. 355. 79 »The line of argument hhoftenii pursued throughout my theory is to establish a point as a probability by induction, & to apply it as hypothesis to other points. & see whether it will solve them.« ebd., D 117, S. 370.
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vieler Einzelphänomene, erfolgt bei ihm bereits im Lichte einer Fragestellung. In seiner Korrespondenz mit Wallace übermittelt Darwin diesem seine Wertschätzung des theoretischen Gehaltes eines Artikels von Wallace und betont, dass unter Naturforschern eine solche Zustimmung zu einem »theoretischen Papier« sehr selten vorkomme. Dabei hebt er die Rolle theoretischer Konzepte für die Beobachtung hervor, »dass es ohne Spekulation keine gute und originelle Beobachtung« gebe. 80 In einem Brief an Henry Fawcett gibt Darwin diesem eine positive Rückmeldung auf das Manuskript seiner Rede vor der British Association for the Advancement of Science in Manchester über Darwins Origin und die darin befolgte Methode, mit der Fawcett eine Kontroverse auslöste. Darwin schreibt: Sie werden einen guten Dienst erwiesen haben, indem Sie Naturwissenschaftler auf die Mittel und Gesetze des Philosophierens aufmerksam machen. So weit ich es von den Vorträgen her beurteilen konnte, waren Ihre Gegner Ihrer unwürdig. … Wie hochgradig ignorant muss B. über die eigentliche Natur der Beobachtung sein! Etwa vor dreißig Jahren wurde viel darüber gesprochen, dass Geologen nur beobachten und nicht theoretisieren sollten; und ich erinnere mich gut daran dass jemand sagte, dass in diesem Fall jemand ebenso gut in eine Kiesgrube gehen, die Steine zählen und die Farben beschreiben könne. Wie skurril es ist, dass jemand nicht sehen sollte, dass alle Beobachtung für oder gegen eine Ansicht sein muss, um überhaupt von Nutzen zu sein! 81
Darwin »sagte häufig, dass niemand ein guter Beobachter sein könne, ohne ein aktiver Theoretisierer zu sein.« 82 . Er sammelt also bereits im Lichte seiner Abstammungshypothese alles, was ihm für deren Untermauerung dienlich sein konnte. Auch orientiert er sich am Sparsamkeitsprinzip, wonach nicht mehr Entitäten oder Annahmen zur Erklärung von etwas vorauszusetzen sind als nötig. Dass für Darwin jede The Correspondence of Charles Darwin, op. cit. Bd. 6, 1990, S. 514. »You will have done good service in calling the attention of scientific men to means and laws of philosophising. As far as I could judge by the papers, your opponents were unworthy of you … How profoundly ignorant B must be of the very soul of observation! About thirty years ago there was much talk that geologists ought only to observe and not theorise; and I well remember some one saying that at this rate a man might as well go into a gravel-pit and count the pebbles and describe the colours. How odd it is that anyone should not see that all observation must be for or against some view if it is to be of any service!« The Correspondence of Charles Darwin, op. cit. Bd. 9, 1994, S. 269. 82 Francis Darwin, »Reminiscences of my Father’s everyday Life«, in ders. Life and Letters, Bd. 1, S. 149. 80 81
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Beschreibung eines Forschungsobjekts nur im Lichte einer Theorie möglich ist, sich erst dadurch als Objekt konstituiert, wurde besonders augenfällig, als er sich zur Deutung seiner Funde an die scientific community wandte.
8.
Darwins Forschungsprogramm – Die Suche nach Zweitursachen
Darwins brennender Wunsch ist es, die Entstehung der Arten, »origin of species«, aufzuklären und damit das »mystery of mysteries« zu lüften, »wie einer unserer größten Philosophen es genannt hat« 83 . Hinter diesem Philosophen verbirgt sich John Herschel, den Darwin bewundert und den er sich zum Vorbild nimmt. Während seines Studiums in Cambridge hatte ihn Herschels Einführung in die Wissenschaftsphilosophie beeindruckt und fasziniert, wie wir gehört haben, und während seiner Weltreise besuchte er ihn am Kap der Guten Hoffnung. In einem denkwürdigen Brief aus Südafrika an seinen Freund Charles Lyell vom 20. 02. 1836 dankt Herschel diesem für sein Geschenk der Neuauflage der Principles of Geology, ein Werk, das er nun zum dritten Mal mit wachsendem Interesse lese und das ihm eine jener Arbeiten zu sein scheine, welche »eine vollständige Revolution in ihrem Gegenstandsbereich bewirken, indem sie völlig die Perspektive ändern, aus der er von nun an zu betrachten sei.« 84 . Herschel spielt hier auch auf das »mystery of mysteries«, das »Geheimnis der Geheimnisse« an, womit er den »Ersatz ausgestorbener Arten durch andere« (»the replacement of extinct species by others«), »the origination of fresh species«, meint. Herschel kann es »nur als ein unangemessenes Verständnis des Schöpfers betrachten, es als erwiesen vorauszusetzen, dass sich seine Kombinationen auf irgendeinem der Schauplätze ihres früheren Wirkens erschöpft haben, obgleich wir hier wie in allen anderen seiner Werke durch sämtliche Analogie zu der Vermutung geführt werden, dass er durch eine Reihe von Zwischenursachen Origin of Species, op. cit., S. 1. »it appears to me one of those productions which work a complete revolution in their subject, by altering entirely the point of view in which it must thenceforward be contemplated.« Herschel in Charles Babbage, The Ninth Bridgewater Treatise, 2. Aufl. New York: New York University Press 1989, London: John Murray 1838 (1. Aufl. 1837), S. 94. Hervorh. in der Übers. Von E.-M. E.
83 84
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wirkt und dass sich konsequenterweise die Hervorbringung neuer Arten, sofern sie jemals zu unserer Kenntnis käme, als natürlicher im Gegensatz zu einem übernatürlichen Prozess, einem Wunder, erweisen würde – obgleich wir keine Anzeichnen irgendeines Prozesses wahrnehmen, der tatsächlich im Gang ist und mit Wahrscheinlichkeit zu solch einem Resultat führt.« 85
Auszüge aus diesem Brief wurden 1837 im Ninth Bridgewater Treatise von Charles Babbage abgedruckt. Der vollständige Brief wurde von Walter F. Cannon veröffentlicht 86 . Darwin bezieht sich bereits 1837 in einem Brief an seine Schwester Caroline darauf 87 und kommentiert ihn Ende 1838 enthusiastisch in seinem Notizbuch: »Herschel bezeichnet das Erscheinen neuer Arten das Geheimnis der Geheimnisse & hat eine großartige Passage über das Problem! Hurrah. – ›Zwischenursachen‹.« 88 Herschel drückt in dem Brief auch seinen Zweifel über das im Alten Testament angegebene Alter der Erde aus, da diese Zeit für die Entwicklung der Vielfalt menschlicher Sprachen, die alle einen gemeinsamen Ursprung haben, nicht ausreiche. »Zeit! Zeit! Zeit!– wir dürfen nicht die Chronologie der Heiligen Schrift anfechten, aber wir müssen sie im Einklang mit dem deuten, was auch immer sich bei redlicher Untersuchung als die Wahrheit herausstellt, denn es kann nicht zwei Wahrheiten geben.« 89 .
85 »For my own part, I cannot but think it an inadequate conception of the Creator, to assume it as granted that his combinations are exhausted upon anyone of the theatres of their former exercise, though in this, as in all his other works, we are led, by all analogy, to suppose that he operates through a series of intermediate causes, and that in consequence the origination of fresh species, could it ever come under our cognizance, would be found to be a natural in contradistinction to a miraculous process – although we perceive no indications of any process actually in progress which is likely to issue in such a result.« ebd., S. 95; Hervorhebung von E.-M. E. 86 Zur Bedeutung des Briefes s. auch Walter Cannon, »The Impact of Uniformitarianism. Two Letters from John Herschel to Charles Lyell, 1836–1837«, Proceedings of the American Philosophical Society, Bd. 105, 1961, S. 301–314, wo dieser Brief vollständig abgedruckt ist. Cannons Veröffentlichung enthält auch eine Einleitung zu den von Babbage vorgenommenen redaktionellen Änderungen und seinen Kürzungen. 87 Charles Darwin, »Nichts ist beständiger als der Wandel«, Briefe, Frankfurt am Main: Insel Verlag 2008, S. 131; übersetzt nach The Correspondence of Charles Darwin, op. cit., Bd. 2, 1986, S. 8 f. 88 »Herschel calls the appearance of new species. the mystery of mysteries. & has grand passage upon problem.! Hurrah.– ›intermediate causes‹«. Charles Darwin’s Notebooks, op. cit., E 59, S. 413. 89 »Time! Time! Time!– we must not impugn the Scripture Chronology, but we must
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Herschels Brief und Darwins Reaktion verdeutlichen, wie untrennbar und selbstverständlich Wissenschaft und Philosophie im England des 19. Jahrhunderts noch miteinander verbunden sind. Der Begriff der »Zwischenursachen« ist vor dem Hintergrund der alten theologischen und philosophischen Unterscheidung zwischen der Erstursache und Zweitursachen zu verstehen, die in Abschnitt 5 erläutert wurde. Durch Herschels Ausführungen, der in der Tradition von Bacon argumentiert, sieht sich Darwin in seinem eigenen Projekt bestärkt. Sein Forschungsinteresse gilt nun der Auffindung von Zwischenursachen (intermediate causes), Zwischenmitteln (intermediate means) Zweitgesetzen (secondary laws) oder auch Zweitmitteln (secondary means) zur Erklärung der Entstehung neuer Arten. Mit all diesen Begriffen sind Naturgesetze gemeint. Darwins Interesse ist naturwissenschaftlicher Art im Sinne der Baconschen Tradition. Die vorherrschende Lehre von der Sonderschöpfung (special creation) jeder einzelnen Spezies ist für ihn wissenschaftstheoretisch unbefriedigend. In den anderen Naturwissenschaften hatte man sich längst von der Idee verabschiedet, dass Gott ständig in das Naturgeschehen eingreift. Die Erforschung des Lebendigen soll den Anschluss an das in den Wissenschaften der unbelebten Natur, Physik und Astronomie, bereits erzielte Niveau erreichen, wo man längst Naturgesetze voraussetzt. Warum sollte dies nicht auch für die Wissenschaften von der belebten Natur gelten? Auguste Comtes Dreistadiengesetz, wonach der Mensch in der Entwicklung seines Geistes drei Stadien durchläuft, das theologische, das metaphysische bis hin zum wissenschaftlichen Stadium, hält Darwin für eine großartige Idee zur Einordnung des gegenwärtigen Stadiums der Biologie: »Die Zoologie selbst ist heutzutage rein theologisch.« 90 . Auch geht der Kreationismus der Sonderschöpfung jeder einzelnen Art nach Darwin von einer zu simplen Gottesvorstellung aus, die Gottes nicht würdig ist und Darwin wie ein Affront gegen Gott vorkommt. Wir ziehen den Schöpfer auf das Niveau seiner schwachen Geschöpfe herab, wenn wir bei allem Zweckmäßigen in der Natur von seiner direkten Wirkung statt von Naturgesetzen ausgehen. Derartige Reflexionen finden sich durchgängig in Darwins Notebooks und in den interpret it in accordance with whatever shall appear on fair enquiry to be the truth for there cannot be two truths.« Herschel in Cannon, op. cit., S. 308. 90 »M. Le Comte’s idea of theological state of science, grand idea: … Zoology itself is now purely theological. –«, in Charles Darwin’s Notebooks, op. cit., N 12, S. 566 f.
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frühen Abrissen seiner Theorie von 1842 und 1844, wie anhand einiger prägnanter Beispiele gezeigt werden soll. Die Astronomen könnten früher gesagt haben, dass Gott jeden einzelnen Planeten lenkte, damit er sich auf der für ihn bestimmten Bahn entsprechend Gottes Vorsehung bewegte. – Auf dieselbe Weise leitet Gott die Erschaffung jedes einzelnen Tieres mit einer bestimmten Form in einem bestimmten Land, doch wie einfacher und erhabener ist die Macht, wenn sie als Schwerkraft nach bestimmten, unvermeidlichen Gesetzen wirkt; konsequenterweise soll das Tier ebenso wie seine Nachkommen nach feststehenden Entwicklungsgesetzen erschaffen werden. 91 Was würde der Astronom dazu sagen, dass die Planeten sich nicht nach dem Gesetz der Schwerkraft bewegen, sondern durch den Schöpfer, der mit seinem Willen jeden einzelnen Planeten dazu zwingt, sich auf seiner speziellen Bahn zu bewegen? 92 Der Kreationist glaubt, dass drei Rhinozerosse erschaffen wurden … ; ebenso gut kann ich glauben, dass sich die Planeten in ihren gegenwärtigen Bahnen nicht durch ein einziges Gravitationsgesetz, sondern durch den jeweils einzelnen Willen des Schöpfers bewegen. 93 Die Abneigung gegen die Vorstellung, dass Gott durch Gesetze regiert, ist wahrscheinlich darauf zurück zu führen, dass unsere Bewunderung für etwas größer ist, wenn wir jeden Gegenstand als einen Schöpfungsakt für sich betrachten. Auf diese Weise können wir ihn mit dem Maßstab unseres eigenen Geistes vergleichen. Dies ist nicht mehr möglich, wenn wir davon ausgehen, dass die Entstehung von Gesetzen auf Gesetze zurückzuführen ist, die schließlich sogar die Wahrnehmung einer Zweckursache hervorbringen. 94 Zweifellos übersteigt es zunächst unsere bescheidenen Kräfte, Gesetze 91 »Astronomers might formerly have said that God ordered, each planet to move in its particular destiny. – In same manner God orders each animal created with certain form in certain country, but how much more simple, & sublime power let attraction act according to certain laws such are inevitable consequen let animal be created, then by the fixed laws of generation, such will be their successors. –« (sic) ebd., B 101, S. 195.; vgl. ebd., Mac 55r, S. 633 f. 92 »what would the Astronomer say to the doctrine that the planets moved hnoti according to the law of gravitation, but from the Creator having willed each separate planet to move in its particular orbit?« (h i Einfügung des Herausgebers), The Foundations of the Origin of Species, Essay von 1842, op. cit., S. 17. 93 »Now the Creationist believes these three Rhinoceroses were created … ; as well can I believe the planets revolve in their present courses not from one law of gravity but from distinct volition of creator.« ebd., S. 38. 94 »This unwillingness to consider Creator as governing by laws is probably that as long as we consider each object an act of separate creation. we admire it more. because we can compare it to the standard of our own minds. which ceases to be the case when we consider the formation of laws invoking laws. & giving rise at last even to the perception
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zu begreifen, die individuelle Organismen hervorbringen, von denen sich jeder durch die vorzüglichste Kunstfertigkeit und sich weit erstreckende Anpassungen auszeichnet. Es geschieht im Einklang mit unserem … niedrigen Vermögen, anzunehmen, dass jeder von ihnen der Ermächtigung durch einen Schöpfer bedarf, aber in demselben Maße sollte die Existenz solcher Gesetze unseren Begriff von der Macht des allwissenden Schöpfers erhöhen. 95
Dies ist auch die Botschaft von Babbage in seinem Neunten Bridgewater Treatise, der seinen Zeitgenossen bekannt war und dessen Treatise bereits vor seinem Erscheinen allgemeines Gesprächsthema war. 96 Die Vorstellung, dass Gott die Welt bei der Schöpfung mit Gesetzen ausgestattet hat, auf Grund derer aus vorherbestimmten Kombinationen nach und nach alles entsteht und er dies alles am Anfang vorhersehen konnte, »manifestiert einen Grad an Macht und Wissen einer weitaus höheren Ordnung.« 97 »Je größer die Anzahl der Konsequenzen ist, die aus irgendeinem Gesetz resultieren, und je mehr sie vorhergesehen werden, um so größer ist das Wissen und die Intelligenz, die wir dem Wesen zuschreiben, durch das dieses Gesetz eingerichtet wurde.« 98 Babbage orientiert sich dabei am Modell der Rechenmaschine, »calculating engine« 99 . Die Maschine verfügt durch ihre intrinsische Struktur nicht nur über bestimmte Gesetze, durch die geordnete Zahlenreihen generiert werden können, sondern auch über die Möglichkeit, in bestimmten Intervallen und in unbegrenzter Folge neue Gesetze hervorzubringen, aus denen andere Zahlenreihen resultieren. Diese Gesetze sind bereits in dem allgemeinen Gesetz, das in der Struktur der of final cause. –« Charles Darwin’s Notebooks, op. cit., M 154, S. 559; Hervorheb. von E.-M. E. 95 »Doubtless it at first transcends our humble powers, to conceive laws capable of creating individual organisms, each characterized by the most exquisite workmanship and widely-extended adaptations. It accords with … the lowness of our faculties to suppose each must require the fiat of a creator, but in the same proportion the existence of such laws should exalt our notion of the power of the omniscient Creator.« The Foundations of the Origin of Species, Essay von 1842, op. cit., S. 40. 96 Zu Babbage siehe auch Adrian Desmond, James Moore, Darwin, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994 (Darwin, London 1981), S. 244–248. 97 »manifests a degree of power and of knowledge of a far higher order.« Charles Babbage, The Ninth Bridgewater Treatise, 2. Aufl. New York: New York University Press 1989, London: John Murray 1838 (1. Aufl. 1837), S. 10. 98 »The greater the number of consequences resulting from any law, and the more they are foreseen, the greater the knowledge and intelligence we ascribe to the Being by which it was ordained.« ebd., S. 4. 99 ebd., S. 5 ff. Babbage hat selbst eine Rechenmaschine erfunden.
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Rechenmaschine verkörpert ist, enthalten, sie sind Sondergesetze dieses allgemeinen Gesetzes und treten sukzessiv in Erscheinung. Die Änderungen sind nach Babbage jeweils nur notwendige Konsequenzen höherer Gesetze. Nach der Konstruktion und ersten Adjustierung dieser Rechenmaschine durch ihren Erbauer bedarf es keiner weiteren Leitung (no superintendance). 100 In Analogie zu dieser Rechenmaschine und ihren eingebauten Gesetzen konzipiert Babbage die geologischen Veränderungen auf der Erde wie auch die sukzessive Entstehung von Organismengruppen. Gott hat bei seiner Schöpfung alle vorhersehen können, da alle Gesetze und deren Resultate notwendige Konsequenzen höherer Gesetze sind, die wiederum ihren Ursprung in Gottes Plan haben. Damit verläuft alles in der Natur streng determiniert, auch wenn die volle Äußerung dieses höheren Gesetzes, das eine unbegrenzte Folge von kleineren Konsequenzen umfasst, jenseits der Reichweite mathematischer Analyse liegen möge. Darwin hat sich nun kein geringeres Ziel gesteckt, als die »Gesetze des Lebens« zu entdecken. Die große Frage, die jeder Naturforscher vor Augen haben sollte, wenn er einen Wal seziert oder eine Milbe, einen Pilz oder ein Wimpertierchen klassifiziert, ist die: ›Was sind die Gesetze des Lebens?‹ 101
Sein erkenntnisleitendes Interesse gilt jedoch nicht der näheren Bestimmung der Erstursache, also Gottes, sondern der Konzentration auf Zweitursachen. Deren gründliche Erforschung ist bei ihm im Unterschied zu zahlreichen naturtheologischen Zeitgenossen von Anfang an nicht mit der Absicht verbunden, damit die göttliche Erstursache zu beweisen. Darwin verfolgt zunächst einmal nur das Ziel, die Naturgesetze der Artentstehung zu entdecken und damit an die Stelle des biblischen Schöpfungsberichts von der speziellen Schöpfung jeder einzelnen Art eine naturwissenschaftliche Erklärung der Entstehung von Arten treten zu lassen. Seine Abrisse von 1842 und 1844 legen die Deutung nahe, dass es Darwin zusätzlich um eine Entlastung Gottes geht. Wenn Gott jede ebd., S. 8. »with respect to past & future. The Grand Question, which every naturalist ought to have before him, when dissecting a whale, or classifying a mite, a fungus, or an infusorian. is ›What are the laws of life‹. –« Charles Darwin’s Notebooks, op. cit., B 229, S. 228. Der fett gedruckte Satz wurde von Darwin nachträglich hinzugefügt, eine genaue Zeitangabe fehlt. 100 101
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einzelne Art separat geplant und erschaffen hat, geraten wir angesichts der Grausamkeit in der Natur, maßloser Fortpflanzung und verschwenderischer Erzeugung von Lebewesen, die notwendig in einen struggle for life münden, in Erklärungsnot. Hat ein allweiser, allmächtiger und allgütiger Gott dies alles absichtlich so erschaffen? Darwin wirft damit – ohne es so zu nennen – das Theodizeeproblem auf, die Frage, wie sich das Übel in der Welt mit dem Glauben an einen Gott vereinbaren lässt, der über die Eigenschaften der Allmacht, Weisheit und Güte verfügt. Auch deshalb greift Darwin nun zur Erklärung der Entstehung von Arten auf Zwischenursachen zurück, weil diese die Möglichkeit eines Abstandes zwischen der Erstursache, Gott, und den Resultaten eröffnen. Gott ist für diese Grausamkeiten nicht persönlich verantwortlich, da sie durch Naturgesetze hervorgebracht werden. Es ist herabwürdigend, dass der Schöpfer unzähliger Universen durch individuelle Akte seines Willens die unzähligen kriechenden Parasiten und Würmer erschaffen haben sollte, die seit der frühesten Dämmerung des Lebens auf dem Land und in den Tiefen des Ozeans wimmelten. Wir sind nicht mehr erstaunt, dass eine Gruppe von Tieren geformt worden sein sollte, ihre Eier in die Eingeweide und das Fleisch anderer empfindungsfähiger Wesen zu legen; dass einige Tiere durch Grausamkeit leben und sich sogar daran erfreuen sollten; dass Tiere durch falsche Instinkte irregeleitet werden sollten, dass es jedes Jahr eine unermesslich Verschwendung von Pollen, Eiern und unreifen Lebewesen geben sollte; denn wir sehen in all dem die unvermeidbaren Konsequenzen eines einzigen großen Gesetzes, der Vermehrung von Lebewesen, die nicht als unveränderbare Wesen erschaffen wurden. Aus Tod, Hungersnot und dem Ringen um die Existenz sehen wir, wie das höchste Ergebnis, das wir wahrzunehmen in der Lage sind, nämlich die Erzeugung der höheren Lebewesen direkt hervorgegangen ist. Zweifellos ist unser erster Eindruck der, daran zu zweifeln, dass irgendein Zweitgesetz unendlich viele Lebewesen hervorbringen könnte, von denen jedes durch die vorzüglichste Kunstfertigkeit und sich weit erstreckende Anpassungen auszeichnet. Auf den ersten Blick stimmt es besser mit unseren Fähigkeiten überein anzunehmen, dass jedes der Ermächtigung durch einen Schöpfers bedarf. 102 102 »It is derogatory that the Creator of countless Universes should have made by individual acts of His will the myriads of creeping parasites and worms, which since the earliest dawn of life have swarmed over the land and in the depths of the ocean. We cease to be astonished that a group of animals should have been formed to lay their eggs in the bowels and flesh of other sensitive beings; that some animals should live by and even delight in cruelty; that animals should be led away by false instincts; that annually there should be an incalculable waste of the pollen, eggs and immature beings; for we see in all this the inevitable consequences of one great law, of the multiplication of organic beings
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Im Anschluss daran folgt die Passage ähnlich der, mit der Darwins Origin of Species endet: Es ist etwas Erhabenes um die Auffassung, daß das Lebens mit seinen Kräften des Wachstums, der Reproduktion und des Fühlens ursprünglich in die Materie in wenige oder nur eine Form eingehaucht wurde und dass, während dieser Planet sich weiterhin nach den feststehenden Gesetzen der Schwerkraft gedreht hat und während Land und Wasser einander weiterhin ersetzt haben – dass aus einem so schlichten Anfang unzählige der schönsten und wunderbarsten Formen durch die Selektion winziger Varietäten entstanden sind. 103
Bereits in seinen Notizbüchern verabschiedet sich Darwin von der Idee einer direkten Einwirkung Gottes in der Natur zugunsten der Annahme von Naturgesetzen zur Erklärung der Zweckmäßigkeit. Dies wird augenfällig in seinen kritischen Kommentaren über John Maccullochs Werk Proofs and Illustrations of the Attributes of God (1837). Das ganze Universum ist voll von Anpassungen.– aber diese sind, so glaube ich, nur direkte Konsequenzen von noch höheren Gesetzen.– Ich glaube hhdannii nicht, dass der Pappus [Haarkranz] irgendeines Samens (alle haben ihn nicht) Direkt zum Zweck des Transports erschaffen wurde. Er folgt aus irgendeinem allgemeineren Gesetz. 104 All diese Tatsachen sind nur Beziehungen eines einzigen allgemeinen Gesetzes. Pflanzen wurden ebensowenig erschaffen, um den Schlamm aufzuhalten, wie die Erde sich dreht, um Regen zu bilden, um für diese Sumpf-
not created immutable. From death, famine, and the struggle for existence, we see that the most exalted end which we are capable of conceiving namely, the creation of the higher animals, has directly proceeded. Doubtless, our first impression is to disbelieve that any secondary law could produce infinitely numerous organic beings, each characterized by the most exquisite workmanship and widely extended adaptations: it at first accords better with our faculties to suppose that each required the fiat of a Creator.« The Foundations of the Origin of Species, Essay von 1844, op. cit., S. 189 f. 103 »There is a [simple] grandeur in this view of life with its several powers of growth, reproduction and of sensation, having been originally breathed into matter under a few forms, perhaps into only one, and that whilst this planet has gone cycling onwards according to the fixed laws of gravity and whilst land and water have gone on replacing each other – that from so simple an origin, through the selection of infinitesimal varieties, endless forms most beautiful and most wonderful have been evolved.« ebd. 104 »The whole universe is full of adaptations.– but these are, I believe, only direct consequences of still higher laws.– I do not hhthenii believe the pappus of hthi any one seed (all have not it) was directly created. for transportation. it follows from some more general law. –« Charles Darwin’s Notebooks, op. cit., Mac 53r, S. 632.
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pflanzen Erde von den Bergen wegzuspülen, die durch Vulkankräfte emporgehoben wurden. Alles folgt aus einigen großen und einfachen Gesetzen. 105
Darwin argumentiert hier wissenschaftstheoretisch mit dem Einwand der mangelnden Erklärungs- und Prognosekraft der Lehre von den Sonderschöpfungen. Diese Annahme ist nach Darwin aus Gründen unserer Unkenntnis der Eigenschaften Gottes nicht fruchtbar. Da wir Gottes Willen nicht kennen, nicht wissen, ob er beständig oder unbeständig (!) wie der des Menschen ist, sind Erklärungen, die auf Gottes Willen rekurrieren, »höchst nutzlos«. Der Wille Gottes kommt für ihn als Erklärung dieser Phänomene nicht in Frage, weil eine solche Erklärung nicht den Charakter eines physikalischen Gesetzes habe. Sie erlaube keine Vorhersage. Die Erklärung von Strukturtypen in Tierklassen– als Resultate von Gottes Willen, Tiere nach bestimmten Plänen zu erschaffen– ist keine Erklärung– sie hat nicht den Charakter eines physikalischen Gesetzes, hh& ist daher höchst nutzlos– sie erlaubt keinerlei Vorhersageii, weil wir über Gottes Willen nichts wissen, nicht, wie er wirkt, ob konstant oder unbeständig wie der Wille des Menschen.– bei gegebener Ursache kennen wir die Wirkung nicht. 106 Bevor Fakten geordnet und benannt werden, kann es keine Vorhersage geben. Der einzige Vorteil der Entdeckung von Naturgesetzen ist es, Vorhersagen machen zu können über das, was geschehen wird und die Konsequenzen für sonst verstreute Tatsachen zu sehen. 107
Allerdings zeigen diese Eintragungen nicht nur, dass Darwin die Idee der direkten Einwirkung Gottes auf der Erde hinter sich gelassen hat. Hier deutet sich bereits auch an, dass die Stoßrichtung von Darwins kritischen Überlegungen weiter geht und nicht nur die Idee der Sonderschöpfung jeder einzelnen Art, sondern auch die wissenschaftstheo105 »All such facts are merely relations of one general law. the plants were no more created to arrest the earth, than the earth revolves to form rain to wash down earth, from the mountains upheaved by volcanic force, for these Marsh plants. All flow from some grand & simple laws. –« ebd., Mac 54r, S. 633. 106 »The explanation of types of structure in classes– as resulting from the will of the deity, to create animals on certain plans.– is no explanation– it has not the character of a physical law, hh& is therefore utterly useless– it foretells nothingii because we know nothing of the will of the Deity. how its acts & whether constant or inconstant like that of Man.– the cause given we know not the effect«, ebd., Mac 55r, S. 634 f. 107 »till facts are grouped. & called. there can be no prediction.– The only advantage of discovering laws is to foretell what will happen & to see bearing of scattered facts. –« in ebd., D 67, S. 355.
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retische Validität der Annahme Gottes als Schöpfer von Naturgesetzen trifft. Denn die Überlegungen, die Darwin hier gegen die spezielle Schöpfung jeder einzelnen Art durch Gottes Willen anstellt, gelten ja auch für die Gesetzesvariante der Arterschaffung. Da wir Gottes Willen nicht kennen, können wir letztlich auch nicht wissen, welcher Art die von ihm erschaffenen Naturgesetze sind. Auch stellt uns das Leiden der Lebewesen, die Verschwendung in der Natur, nicht mehr vor ein Erklärungsproblem, wenn wir auf die Hypothese Gottes verzichten. Dies alles, sowohl das Leiden als auch die Freude, sind zu erwarten, wenn wir Darwins Gesetz voraussetzen. Die Notizen geben damit deutliche Hinweise auf einen sich abzeichnenden Agnostizismus, der sich für Darwin sowohl aus wissenschaftstheoretischen als auch aus theologischen Gründen der Theodizeeproblematik aufdrängt. Darwins Anspruch und Ziel ist es jedoch nicht, mit Hilfe seiner Theorie letzte metaphysisch-theologische Fragen zu klären oder gar die Nichtexistenz Gottes zu beweisen. Hierzu ist der Mensch mit seiner fehlbaren Vernunft nach Darwin gar nicht in der Lage. Vielmehr möchte er Naturgesetze in der Biologie etablieren und die Naturgeschichte aus ihrem theologischen Stadium herausführen. Darwins Abstract über Macculloch ist in seiner wissenschafts- und geistesgeschichtlichen Bedeutung daher kaum zu überschätzen. In diesem Notizbuch fragt er sich auch, ob seine Verwendung des Begriffs »Finalursache« eine »Anomalie« darstelle, und er ermahnt sich, »diese unfruchtbaren Jungfrauen« zu überdenken, womit er eine Anspielung auf Bacon macht. 108 Vielleicht ist Darwin die revolutionäre Bedeutung seiner hier angestellten Überlegungen selbst nicht einmal in ihrer ganzen Tragweite bewusst. Denn er verwendet auch in seinen Abrissen von 1842 und 1844 weiterhin den Begriff des Schöpfers. Doch legt er lange vor der Veröffentlichung von Origin of Species den Grundstein für seine wissenschaftliche Revolution. Nach den von Darwin hier und in seinen Abrissen von 1842 und 1844 angestellten Überlegungen können die Zweitgesetze, welche er sucht, aber nicht die Art von Gesetzen sein, nach denen die Rechenmaschine von Charles Babbage funktioniert. Bei dessen Maschine sind die Endergebnisse vorprogrammiert. Dies würde bedeuten, dass Gott 108 »The Final cause of innumerable eggs is explained by Malthus.– [is it anomaly in me to talk of Final causes: consider this!–]CD consider these barren Virgins« in ebd., Mac 58r, S. 637. [ ]CD Dies bedeutet, dass dies Darwins Klammern sind.
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von Anfang an jedes einzelne Resultat geplant hat, also auch die Grausamkeit in der Natur und die Verschwendung von Lebewesen. Da wir letztlich Gottes Willen und seine Handlungsweise nicht kennen, durchbricht Darwin die Verbindung zwischen der göttlichen Erstursache und den in der Natur erfahrbaren Zweitursachen. Dies wird in Darwins Diskussionen mit seinen Freunden und Kritikern im Anschluss an die Veröffentlichung von Origin of Species deutlich.
9.
Kritische Einwnde seitens der Naturtheologie und Darwins Paroli
Zahlreiche Wissenschaftler, mit denen Darwin seit langem in Kontakt und auf gutem Fuße stand, wie Herschel, Whewell, Sedgwick und Gray, äußerten sich kritisch zu seinem Naturgesetz. Vor allem über Herschels Kritik war Darwin enttäuscht, da Herschel, »einer unserer größten Philosophen«, sein Vorbild war. Ihm kam zu Ohren, dass ausgerechnet Herschel, der die für die damalige Zeit fortschrittliche Idee möglicher Naturgesetze der Artentstehung gefasst hatte, Darwins Gesetz als das »Gesetz des kunterbunten Durcheinanders«, das »Gesetz von Kraut und Rüben« (law of higgledy-pigglety) abkanzelte. 109 Herschel richtet sich gegen das »Prinzip der willkürlichen und zufälligen Variation und natürlichen Selektion«, das keine »hinreichende Erklärung als solche der vergangenen und gegenwärtigen organischen Welt« sein könne und vergleicht es mit der »Laputaschen Methode« des Bücherschreibens. 110 Besondere Vorbehalte hatte er auch dagegen, die Entstehung des Menschen auf diese Weise erklären zu lassen. Auch Asa Gray wendet sich, wie bereits ausgeführt, gegen den Verzicht auf einen göttlichen Regenten des Darwinschen Naturgesetzes und schlägt
The Correspondence of Charles Darwin, op. cit. Bd. 7, 1991, S. 423. Physical Geography, op. cit., S. 12, Fußnote. Kurz zum Hintergrund: Laputa ist eine der Stationen auf Gullivers Reisen in dem Roman von Swift. In der dortigen Akademie von Lagado hat ein Professor eine Apparatur entwickelt, die es ermöglichen soll, durch die Betätigung von Kurbeln aus einer Anzahl vollkommen beliebig zusammengewürfelter Wörter im Laufe der Zeit Bücher mit sinnvollen Texten herzustellen. Wie diese Methode aber nicht ausreiche, so Herschels Einwand, um daraus Newtons Principia oder Shakespeares Werke entstehen zu lassen, könne Darwin mit seinem Zufallsprinzip keine Zweckmäßigkeit im Lebendigen erklären. 109 110
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ihm vor, in die Gesetzeshypothese eine göttliche Lenkung der Variationen einzubauen. Genau dieses Zugeständnis kann Darwin jedoch nicht machen. Damit würde das Gesetz der natürlichen Selektion vollkommen überflüssig, und die Erklärung der Entstehung neuer Arten würde dem Zuständigkeitsbereich der Wissenschaften entzogen, wie er sich mehrfach äußert. Variationen seien für ihn nicht von Anfang an durch Vorsehung zweckmäßig, sondern werden dazu erst durch die natürliche Selektion im struggle for life und unter wechselnden Existenzbedingungen. 111 Darwin sieht keine Anzeichen für einen wohlwollenden Plan oder überhaupt für irgendeinen Plan im Detail. An die Vorherbestimmung jeder Variation als spezielles Ziel kann er nicht mehr glauben als an die Vorherbestimmung des Punkts, auf den der Regentropfen fällt. 112 Hinzu kommt die bereits oben angesprochene Frage, wie sich die Annahme Gottes mit dem Leiden in der Welt vereinbaren lässt. Auch hierüber äußert er sich in einem Brief an Asa Gray. Er habe keine Absicht gehabt, »atheistisch zu schreiben«, doch könne er keine Hinweise auf design und allseitige Wohltätigkeit (beneficence) sehen. Hat ein wohlwollender und allmächtiger Gott absichtlich Lebewesen erschaffen, die auf Kosten anderer existieren? Hat er die Schlupfwespe absichtlich erschaffen, damit sie sich in lebenden Raupen ernährt? Will er, dass die Katze mit der Maus spielt? Da Darwin dies nicht glaubt, sieht er auch keine Notwendigkeit für die Annahme, dass das Auge ausdrücklich geplant worden ist. 113 Andererseits kann er sich nicht mit dem Gedanken zufrieden geben, dass dieses wunderbare Universum und vor allem die menschliche Natur ein Resultat roher Kräfte ist. Er »neige dazu«, schreibt er an Asa Gray, alles als Resultat geplanter Gesetze (designed laws) zu sehen, wobei die Ausarbeitung der Details, ob gut oder schlecht, jedoch dem Zufall (chance) überlassen sei. Mit »Zufall« meint Darwin keine Gesetzlosigkeit, sondern Ungeplantheit. Merkmale von Lebewesen erweisen sich in den vielfältigen Bewährungsproben dieser Wesen als zweck111 The Correspondence of Charles Darwin, op. cit. Bd. 9, 1994, S. 226; vgl. auch Brief an F. J. Wegwood, ebd., S. 200. 112 Francis Darwin, A. C. Seward, More Letters of Charles Darwin, 2 Bde, London: John Murray, 1903, Bd. 1, S. 321. 113 The Correspondence of Charles Darwin, op. cit. Bd. 8, 1993, S. 224.
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mäßig. Dies ist eine ebenso einfache und elegante wie für die damalige Zeit provozierende Erklärung. Das alte Argument vom Bauplan in der Natur, das Argument Paleys, das mir früher so schlüssig vorgekommen war, hat inzwischen, seit das Gesetz der natürlichen Selektion entdeckt ist, seine Kraft verloren. Wir können nicht mehr argumentieren, daß zum Beispiel ein so wundervoller Gegenstand wie eine zweischalige Muschel ebenso von einem intelligenten Wesen gemacht sein muß wie eine Türangel von Menschen. In der Variabilität organischer Wesen und in dem Vorgang natürlicher Selektion scheint uns nicht mehr Planung zu stecken als in der Richtung, aus der der Wind bläst. 114
Darwin ist von der Durchsetzung seiner Theorie aus wissenschaftstheoretischen Gründen wegen ihrer Erklärungskraft und ihrer integrativen Leistung überzeugt und sich ihres revolutionären Potentials bewusst. Mit ihr ließen sich verstreute Phänomene aus ganz verschiedenen Disziplinen der Biologie in einen systematischen Zusammenhang bringen. 115 Wäre seine Theorie falsch, so würde sie angesichts der Vielzahl von Wissenschaftlern sicherlich bald vernichtet (annihilated). Die Wahrheit lasse sich nur erkennen, wenn sie aus jedem Angriff siegreich hervorgehe, 116 ein Argument, das von Popper stammen könnte. Auch Kuhn wirft seine Schatten voraus: Wenn meine Sichtweise jemals allgemein akzeptiert wird, wird dies durch die jungen heranwachsenden Männer sein, welche die alten Arbeiter ersetzen werden, und dann werden die Jungen entdecken, dass sie auf der Basis des Abstammungsbegriffs besser Fakten anordnen und neue Forschungswege aufspüren können als auf der Grundlage der Schöpfungslehre. 117
Dem Einwand, dass seine Theorie keiner direkten Bestätigung fähig sei, begegnet Darwin mit dem Hinweis auf längst etablierte und akzeptierte physikalische Theorien, wie die Wellentheorie des Lichts und das Gravitationsgesetz, auf welche dieser Einwand dann ebenso zutreffen müsse. Die Wissenschaftstheorie des 20. Jh. hat zudem das generelle Mein Leben, op. cit., S. 96 f. Brief an Herschel, The Correspondence of Charles Darwin, op. cit. Bd. 9, 1994, S. 135 f. 116 Brief an Sedgwick, ebd., op. cit. Bd. 7, 1991, S. 403. 117 Brief an Huxley, »I can pretty plainly see that if my view is ever to be generally adopted, it will be by young men growing up & replacing the old workers, & these young ones finding that they can group facts & search out new lines of investigation better on the notion of descent, that (sic) on that of creation.« The Correspondence of Charles Darwin, op. cit. Bd. 8, 1993, S. 507. 114 115
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Problem einer direkten Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Theorien deutlich gemacht. Lakatos zeigte mit seinem über Popper hinausgehenden Ansatz eines »raffinierten Falsifikationismus«, dass Theorien selbst dann noch nicht aufgegeben werden, wenn es reproduzierbare Ereignisse gibt, die ihnen widersprechen, sondern dass sie erst dann abgelöst werden, wenn eine bessere Theorie verfügbar ist, die über eine größere Erklärungskraft als ihre Vorgängerin verfügt, deren Probleme vermeidet und zur Entdeckung neuer Tatsachen führt. In diesem Sinne wurde mit Darwins Theorie eine progressive Problemverschiebung vollzogen. Darwins neue Idee der Einheit des Lebendigen gab den Anstoß für eine Fülle von Forschungsprojekten bis in unsere Zeit. Tatsächlich war es die systematisierende Leistung der Darwinschen Theorie, ihre Erklärungskraft, die bereits zahlreiche von Darwins Zeitgenossen überzeugten und auch auf manche Skeptiker, welche die noch vorhandenen empirischen Lücken dieser Theorie aufspießten, eine Anziehungskraft ausübte. So formulierte Darwins erster Übersetzer, Georg Heinrich Bronn, zwar Einwände gegen Darwins Theorie, stellte aber gleichzeitig ungeachtet des »Wankens ihrer Grundlage« deren Stärken heraus, die er vor allem in den bereits genannten wissenschaftstheoretischen Aspekten sah. Die Möglichkeit nach dieser Theorie alle Erscheinungen in der organischen Natur durch einen einzigen Gedanken zu verbinden, aus einem einzigen Gesichtspunkt zu betrachten, aus einer einzigen Ursache abzuleiten, eine Menge bisher vereinzelt gestandener Thatsachen den übrigen auf’s innigste anzuschliessen und als nothwendige Ergänzungen derselben darzulegen, die meisten Probleme auf’s Schlagendste zu erklären, ohne sie in bezug auf die andern als unmöglich zu erweisen, geben ihr einen Stempel der Wahrheit und berechtigen zur Erwartung auch die für diese Theorie noch vorhandenen grossen Schwierigkeiten endlich zu überwinden. Diese glänzenden Leistungen der Theorie (ihre Wahrheit einmal zugestanden) sind es, die uns so mächtig zu ihr hinziehen, wie sehr wir auch des Wankens ihrer Grundlage uns bewusst sind. 118
118 Heinrich Georg Bronn, »Schlusswort des Übersetzers«, in: Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn, hrsg. und mit einer Einl. von Thomas Junker, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, Reprint der 1. deutschen Ausgabe (1860), S. 518.
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Im Verlagsprospectus zu seiner Übersetzung hob Bronn die Bedeutung von Darwins Theorie für Botaniker, Zoologen, Paläontologen, Physiologen, Geologen und Philosophen hervor, die ohne Kenntnis von Darwins Werk nicht auf der Höhe ihrer Wissenschaften stünden und ihnen eine Reihe der wesentlichsten Ausgangspunkte ihrer weiteren Entwicklung verborgen blieben. Gerade diese Systematisierungs- und Integrationsfunktion der Darwinschen Theorie machte für viele ihren Reiz aus. Er wurde als der »bedeutendste Pfadfinder« der Wissenschaft im 19. Jahrhundert gewürdigt. 119 Es gehört zu Darwins revolutionärem Format, dass er seiner Grundintuition vertraute und an seiner Theorie festhielt, obwohl ihm zahlreiche Bausteine, wie die Variations- und Vererbungsgesetze, gemäß dem wissenschaftlichen Stand seiner Zeit noch nicht zur Verfügung standen und es auch noch Entwicklungen in anderen Wissenschaften, wie der Physik, bedurfte, um die theoretischen und empirischen Rahmenbedingungen für die Fundierung seiner Theorie bereitzustellen. Für Darwin hat seine Theorie aber auch noch einen anderen wesentlichen Vorteil. Sie hat nicht nur eine größere Erklärungskraft als ihre naturtheologischen Konkurrentinnen, sondern vermeidet auch deren Probleme: Mit Hilfe seines Gesetzes lässt sich die Zweckmäßigkeit in der Natur ohne göttliches intelligentes Design erklären ebenso wie sich das Leiden in der Natur ohne göttliche Bosheit erklären lässt. Darwin entkommt auf diese Weise einem religiösen Dilemma, das sich wie folgt darstellt: Entweder er nimmt an, dass Gott deterministische Gesetze erschaffen hat und damit alles, auch die Grausamkeit in der lebendigen Natur, vorherbestimmt hat. An einen derartigen Gott will Darwin aber nicht glauben. Oder er nimmt an, dass Gott Gesetze erschaffen hat, mit denen er keinen Einfluss auf das Einzelne hat. Aber wozu bedarf es eines Gottes, der seiner Allmacht beraubt ist oder freiwillig darauf verzichtet? Die geniale Lösung ist der Verzicht auf die Annahme einer göttlichen Erstursache zur biologischen Erklärung der Lebensphänomene. Damit gelingt es Darwin, sich den angesprochenen theologischen Dilemmata zu entziehen und gleichzeitig die Naturgesetze der Artentstehung für die Biologie als Naturwissenschaft zu etablieren. Dabei versteht er unter »Natur« »die vereinigte Wirkung und
119 A. Dodel-Port, »Charles Robert Darwin. Sein Leben, seine Werke und sein Erfolg«, Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens, Bd. 1, 1883, S. 105–119.
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Leistung vieler Naturgesetze und unter Gesetzen die nachgewiesene Aufeinanderfolge der Ereignisse.« 120 Damit steht im Einklang, dass Darwin keinen Anspruch erhebt, die Entstehung der ersten Formen des Lebens und der ersten Regungen des Geistes in der Natur zu erklären. Es sei gegenwärtig ebenso unsinnig, an den Ursprung des Lebens zu denken wie an den der Materie überhaupt 121 , was ihm von verschiedenster Seite Kritik eintrug. Diese Enthaltsamkeit zieht sich durch sein gesamtes Werk, angefangen von den ersten Abrissen seiner Theorie über Origin of Species und Descent of Man, seine Korrespondenz bis hin zu seiner Autobiografie. Kommt Gott damit nicht zumindest als Schöpfer der allerersten Lebensformen ins Spiel, zumal Darwin am Ende von Origin of Species den Schöpfer erwähnt? Dieser Hinweis auf den Schöpfer ist als Captatio Benevolentiae, nicht jedoch als kreationistische Erklärung des Anfangs allen Lebens zu deuten. Denn damit hätte sich Darwin um den Gewinn seiner Theorie gebracht, die nicht zuletzt in der Entlastung Gottes von der Verantwortung für das Leiden in der Welt liegt. Und selbst wenn Gott als Erstursache den Anfang des Lebens erschaffen hätte, so spielte dies in Darwins Theorie für den weiteren Verlauf der Evolution keine Rolle, weil Darwin seine Theorie der Zweitursachen mit ihrem Naturgesetz unabhängig von einer Erstursache und deren möglichen Attributen konzipiert. Gerade weil wir Gottes Willen nicht kennen, müssen wir die Naturgesetze ohne Spekulationen über ihn entwerfen. »Das Mysterium vom Anfang aller Dinge können wir nicht aufklären; und ich jedenfalls muß mich damit zufrieden geben, Agnostiker zu bleiben.« 122 Mit Babbages Rechenmaschine hätte sich Darwin viel Schlimmeres eingehandelt. Diese Ausführungen werfen ein neues Licht auf Darwins geheimnisvolle Äußerung an Joseph Hooker nach Abschluss seines Abrisses von 1844. Ich habe massenweise Bücher über Landwirtschaft und Gartenbau gelesen und nie aufgehört, Fakten zu sammeln. Endlich hat sich ein Lichtstrahl gezeigt, und ich bin nahezu überzeugt (völlig entgegengesetzt zu meiner anfänglichen Absicht), daß die Spezies nicht unveränderlich sind (mir ist, als gestände ich einen Mord). … Ich glaube, das einfache Mittel entdeckt zu 120 121 122
Entstehung der Arten, op. cit., S. 122. The Correspondence of Charles Darwin, op. cit. Bd. 11, 1999, S. 278. Mein Leben, op. cit., S. 103.
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haben (das ist die Vermessenheit!), durch das die Spezies so ausgezeichnet an verschiedene Zwecke angepaßt sind. 123
Nach meiner Deutung bezieht sich Darwin hier nicht nur auf die Zurückweisung der Lehre von der Sonderschöpfung jeder einzelnen Art. Ihm sind vielmehr die weitaus radikaleren Implikationen seiner Wissenschaft bewusst geworden. Er hat eine Theorie der Zweitursachen entworfen, die die Annahme einer intelligenten Ersten Ursache verzichtbar macht. Durant hat die These vertreten, dass Darwins Origin »das letzte große Werk der Viktorianischen Naturtheologie« ist, obwohl »es auch das größte (wenn nicht eigentlich das erste) Werk des Viktorianischen evolutionären Naturalismus ist«. 124 Darwins Origin of Species war aber kein naturtheologisches Werk mehr, sondern erwies sich als ein trojanisches Pferd, mit dem der evolutionäre Naturalismus ohne eine intelligente Erstursache seinen erfolgreichen Einzug in die Biowissenschaften hielt.
Literatur Babbage, Charles, The Ninth Bridgewater Treatise, 2. Aufl. New York: New York University Press 1989, London: John Murray 1838 (1. Aufl. 1837). Bacon, Francis, The Advancement of Learning. London 1605. J. Devey (Hrsg.), New York 1901. The Online Library of Liberty: http://files.libertyfund.org/ files/1433/0414_Bk.pdf. Bacon, Francis, The Advancement of Learning (1 1605), Philadelphia: Paul Dry Books 2001 Barrett, Paul H., Gautrey, Peter J., Herbert, Sandra, Kohn, David, Smith, Sydney (Hg.), Charles Darwin’s Notebooks, 1836–1844, Ithaca, New York: Cornell University Press 1987. Browne, Janet, Charles Darwin Voyaging, London: Pimlico, 1995. Burkhardt, Frederick, Smith, Sydney et al. (Hg.), The Correspondence of Charles Darwin, Cambridge: Cambridge University Press, Bd. 1, 1985, bisher bis Bd. 17, 2009. Cannon, Walter, »The Impact of Uniformitarianism. Two Letters from John Herschel to Charles Lyell, 1836–1837«, Proceedings of the American Philosophical Society, Bd. 105, 1961, S. 301–314.
»Nichts ist beständiger als der Wandel«, op. cit., S. 169. John Durant, »Darwinism and Divinity: A Century of Debate«, in: ders. Ed, Darwinism and Divinity, Oxford: Basil Blackwell 1985, S. 16. 123 124
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Baron Jakob von Uexkll: Das Experiment als Ordnungsprinzip in der Biologie Astrid Schwarz
»Es ist ein Glück,« schreibt Giorgio Agamben im Jahr 2002, »dass der Baron Jakob von Uexküll, der heute zu den wichtigsten Zoologen des 20. Jahrhunderts und zu den Begründern der Ökologie gezählt wird, während des ersten Weltkriegs ruiniert wurde« […] »(A)ls er sein Familienvermögen verlor, war er gezwungen, die Sonne des Südens zu verlassen […] und sich an der Universität Hamburg niederzulassen, wo er jenes Institut für Umweltforschung gründete, das ihm Ruhm verleihen sollte«. 1 1925 kam Jakob von Uexküll, 61-jährig, an die noch junge, erst 6-jährige Universität Hamburg. Es war ihm dort eine Stelle als »Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter« angeboten worden, die erste bezahlte Stelle überhaupt in seinem Leben. 2 Zwar wurde er noch vor Ende des Jahres zum Honorarprofessor ernannt, aber erst im folgenden Jahr bezog er, nach zähem Ringen mit städtischen und universitären Behörden, das Aquarium im Zoologischen Garten, Tiergartenstr. 1. Es trug fortan den Namen »Laboratorium für Umweltforschung«, im Hamburger Jargon das »Institut im Zigarettenkiosk« und war ab 1926 zunächst der Sitz des »Instituts für Umweltforschung«. Mindestens der Anfang der Geschichte von Uexkülls Umweltforschung in Hamburg ist also nicht unbedingt als ruhmvoll zu bezeichnen und auch später hatte das Institut mit erheblichen institutionellen, persönlichen und auch inhaltlichen Hindernissen zu kämpfen, gerade auch bei dem Versuch das umweltwissenschaftliche Unternehmen zu verstetigen. Was Agamben jedoch ganz richtig feststellt, ist, dass es in Uexkülls wissenschaftlichem Leben mindestens einen Bruch gibt, der 1 Giorgio Agamben, Das Offene, Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003, S. 49. 2 Torsten Rüting, History and significance of Jakob von Uexküll and of his institute in Hamburg, Sign Systems Studies, 32, 2004, S. 35 ff.
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Astrid Schwarz
sich auch in der Ortsveränderung nach Hamburg manifestiert. Während uns der Uexküll des sonnigen Südens als ein knallharter Physiologe begegnet, einer der Tiere zunächst als Maschinen beschreibt und auch als solche behandelt, ist der norddeutsche Uexküll ein theoretischer Biologe, der eine Philosophie des Tieres als Subjekt entwickelt hat und nun experimentell fruchtbar zu machen sucht. Mit der Entwicklung dieser komplexen und weit verzweigten BioPhilosophie beginnt Uexküll allerdings schon lange vor seinem Umzug nach Hamburg. Schon während seiner Zeit als Experimentalphysiologe können ihre Spuren ausgemacht werden und sie begleitet ihn auf der nicht immer freiwilligen Wanderschaft durch Europa. Uexküll zielt mit seinem philosophischen Entwurf explizit auf eine neue Epistemologie der Biologie: Das Tier soll nicht mehr auf der Folterbank der Physiologie gestreckt werden, stattdessen interessiert die Wahrnehmung seiner spezifischen Umwelt. Die Zecke oder der Seestern werden nach den jeweiligen Merk- und Wirkmalen ihrer Welten befragt und nicht als Modell zum Studium allgemeiner Gesetzmäßigkeiten, etwa der Impulsleitung in einer Nervenbahn. Für Uexküll ist dies ein Forschungsprogramm der permanenten Hinterfragung aber auch Einforderung der »Rolle des Subjekts in der Biologie«: »Die Bemühungen der Physiologen, die Lebensvorgänge in mechanische Massenwirkungen aufzulösen, haben nur an der Peripherie der Organismen zu wirklichen Erfolgen geführt. […] Wir werden daher das Subjekt bei der Aufstellung biologischer Baupläne mit in Rechnung ziehen müssen und uns die Frage vorlegen, welche Beziehungen bestehen zwischen den biologischen Subjekten und Objekten?« 3
In Uexkülls Werk scheint sich also eine radikale Umorientierung ausmachen zu lassen, ein epistemologischer Bruch, eine »rupture épistémologique«, um mit Gaston Bachelard zu sprechen. 4 Und genau einem solchen, so die Behauptung, auch mit einer Ortsveränderung einhergehenden Bruch – insbesondere im Aufbruch von Neapel Richtung Norden – gilt nachfolgend das Interesse. Dieser Bruch manifestiert sich in der experimentellen Praxis, in der Theoriebildung und den Methoden der Uexküllschen Biologie. Nicht übersehen werden darf bei der Thematisierung von Brüchen in Uexkülls wissenschaftlichem Leben aber, dass den Ortsveränderun3 4
Die Rolle des Subjekts in der Biologie, Die Naturwissenschaften, 19, 1931, S. 388. Gaston Bachelard, La Formation de l’esprit scientifique, Paris: Vrin, 1977.
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Baron Jakob von Uexkll: Das Experiment als Ordnungsprinzip in der Biologie
gen und wechselnden Kontextualisierungen des Epistemischen die Konstanz dessen gegenüber steht, was Uexküll selbst als »biologische Weltanschauung« bezeichnete. Erhaltung von Ordnung, planvolle und plangebende Strukturen bilden das Rückrat dieser Biologie, ob es um die Umweltforschung als »Plangebung für alle lebenden Gestalten geht« 5 oder den »Schrei der Ordnung« nach einem Staatsorganismus. 6
1.
Neapel: Der unerbittliche Experimentator
Zunächst soll ein Blick auf die Experimentaltechniken des unerbittlichen Physiologen geworfen werden, der seine Objekte buchstäblich auf die Folterbank der Wissenschaft spannt, um ihnen die Wahrheit zu entreißen. Uexküll (1864–1944) kommt als frisch diplomierter Biologe, als »Kandidat der Zoologie«, von der estnischen Universität Tartu nach Heidelberg zu dem berühmten Physiologen Wilhelm Kühne (1837– 1900), bei dem er sich einführt als »desertierter Biologe« – desertiert von einer Biologie, die er viel zu spekulativ fand: […] ich (bin) völlig davon durchdrungen, dass, wenn es jemals wieder eine Biologie geben sollte, die den Namen einer Wissenschaft verdient, dieses lediglich das Verdienst der Physiologie ist, die allein weiter das Experiment gepflegt hat, während die Biologie in der Spekulation unterging. 7
Was Uexküll in Heidelberg suchte, war also eine Erneuerung der Biologie durch den verstärkten Einsatz von Experimenten, die es erlauben sollten, Theorien zu testen und bestenfalls zu Naturgesetzen führen würden. Was sich Uexküll erhofft von einer experimentellen Forschung ist
5 Jakob von Uexküll & F. Brock, Das Institut für Umweltforschung, in: Ludolf Brauer, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy & Adolf Meyer (Hg.), Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele, Hamburg: Hartung Verlag, 1930, S. 234. 6 Brief Uexküll an Chamberlain 1918. Die hier abgedruckten Briefzitate und Briefe stammen aus den Uexküll-Archiven in Hamburg und Tartu. Ich danke Torsten Rüting für die unkomplizierte Hilfestellung bei meinen Recherchen zu den Briefdokumenten und Riin Magnus (Tartu) für die Überlassung von digitalen Briefdokumenten. 7 Leitfaden in das Studium der experimentellen Biologie der Wassertiere, Wiesbaden: J. F. Bergmann, 1905, p. III.
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Struktur(en) und ihre Funktionen aufzudecken, … Natürlich muss man sich streng davor hüten, durch unlösbare Fragen nach Empfindungen, Gedanken usw. der Tiere das reine Experiment zu trüben. Ebenso unfruchtbar sind die Versuche mit Hilfe der Logik oder der Mathematik an die biologischen Probleme heranzutreten. 8
Wie also sieht nun Uexkülls experimentelle Forschung aus, die weder einer unanschaulichen Logik verfallen noch unlösbare metaphysische Fragen etwa nach der Seele des Tieres stellen soll, sondern einen Beitrag zur Erforschung der Planmäßigkeit im tierischen Organismus? Uexküll interessierte sich für neurophysiologische Forschung, die in den 1890er Jahren vor allem um Fragen der Erregungsleitung in Nerven- und Muskelfasern kreiste. Sein erster publikationsrelevanter Modellorganismus ist Elodene moschata, eine im Mittelmeer weit verbreitete Krakenart. Das in der physiologischen Forschung am häufigsten verwendete Experimentalsystem war indessen der Froschschenkelmuskel. Uexküll betrat also mit der Erprobung der Krake ein experimentell noch offenes wenn auch nicht gänzlich unerkundetes Gelände. Leitende Forschungsfragen waren, wie die Muskeln angeregt werden, wie dann die Kraftübertragung erfolgt und woher diese Kraft eigentlich kommt. Das physikalische Modell, nach dem Uexküll die Mechanik des Zusammenwirkens der Muskeln und die Verteilung der nötigen Energie für die Tätigkeit der Muskeln konstruiert, kommt aus der Hydraulik, es handelt sich dabei um ein hydromechanisches Modell. Als Agens, das Bewegung und Stillstand der Muskeln verursacht, wird der sogenannte Tonus angenommen. Der Tonus ist die konstante Einwirkung der Nerven auf die Muskeln. Bei niederen Tieren, zu denen auch die Krake zählt, ist der Tonus verteilt in einem zentralen Netz, das als Tonusreservoir dient und von wo aus der Tonus in bestimmten Bahnen dorthin fließt, wo er gebraucht wird. In solchen abgeschlossenen Bahnen herrschen dann die gleichen Verhältnisse wie im ursprünglichen Netz. Oder es treten neue Einrichtungen hinzu, die dem Tonus nur in einer bestimmten Richtung zu fliessen gestatten. Wir stellen uns diese Einrichtungen nach Analogie von Ventilen vor, die ein Fluidum nur in einer Richtung passieren lassen. 9 […] Von diesem Gesichtspunkt aus stellt sich das zentrale Netz als ein grosses Tonus-Reservoir dar, aus dem ein 8 Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung. Gesammelte Aufsätze, München: F. Bruckmann, 1913, S. 32. 9 Leitfaden in das Studium der experimentellen Biologie der Wassertiere, a. a. O., S. 55.
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Baron Jakob von Uexkll: Das Experiment als Ordnungsprinzip in der Biologie
Abbildung 1: Repräsentant (Leitfaden in das Studium der experimentellen Biologie 1905, S. 51).
jeder Muskel mittels seines Nerven, das für ihn momentan nötige Quantum von Tonus abzapft. 10 Hart an der Eintrittsstelle des Muskelnervs in das zentrale Netz findet sich ein Organ, das man den Kopf des Muskels nennen könnte[, weil es] die Aufgabe hat, die Bedürfnisse seines Gefolgsmuskels dem übrigen Zentralnervensystem gegenüber zu repräsentieren, so habe ich ihm den Namen ›Repräsentant‹ gegeben. 11 […] Die Repräsentanten sind nach dem Tonusschema Organe, die Tonusmenge in Tonusdruck verwandeln. 12
Der Repräsentant ist also die Stelle, an der die Tonusentnahme reguliert wird. Er ist der »innere Regulierungsapparat« der bewirkt, dass die Muskeln je nach Beanspruchung mit Verlängerung oder mit Verkürzung reagieren. Uexkülls wesentlichster Beitrag zu dieser Forschung bestand darin, das Zusammenspiel zwischen Nervenerregung und der Muskelspannung – dem Tonusdruck – zu erkennen. Im so genannten Uexküllschen Gesetz wird dieser Zusammenhang festgehalten. Die Erregung fließt immer zu den verlängerten Muskeln, das heisst die Erregungs10 11 12
Ebd., S. 46. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49.
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wellen nehmen immer diese eine Richtung. Uexküll beschreibt damit das Zusammenspiel von Nerven- und Muskelsystem als einen kausal geschlossenen Steuerungsmechanismus, vor allem behauptete er damit aber auch die Notwendigkeit rückwirkender Abläufe auf das Nervensystem: Nicht nur steuert das nervöse Zentrum – und damit die Sinnesorgane – die Muskeln, sondern umgekehrt wirken die Muskeln auch zurück auf das sie steuernde nervöse Zentrum. Und es sind die Repräsentanten, die hier an der entscheidenden Vermittlungsstelle sitzen: Man mag sich vom Bau der Repräsentanten ein Bild machen, welches man wolle, eine Tatsache bleibt davon unberührt, dass die Repräsentanten ihre Gefolgsmuskeln in effigie [also symbolisch] darstellen. 13
Es gibt eine ganze Reihe von Autoren die geneigt sind, die Tonus-Experimente und die damit verbundene Begriffs- und Theoriebildung als Vorwegnahme der kybernetischen Sichtweise zu interpretieren. Soweit zur Theorie – doch wie sah nun konkret die experimentelle Praxis aus, auf die Uexküll ja so großen Wert legte?
2.
Im Labor ber die Schulter geschaut
Uexküll experimentierte nicht nur mit der Moschuskrake, sondern auch mit marinen Würmern, mit Seesternen, mit Seeigeln, auch mit anderen Cephalopoden, also Kopffüßern, wie etwa Tintenfischen oder größeren Krakenarten. Auch methodisch war Uexküll innovationsfreudig. 1894 fuhr er nach Paris um die chronophotographische Methode von Etienne-Jules Marey (1830–1904) zu lernen. Zu Mareys berühmter fallender Katze gesellten sich bald fallende Schlangensterne oder der schwimmende Rochen, alles »Bewegungsstudien über den Tonus« 14 . Durchgeführt wurden die Experimente zum Tonus in Kühnes Labor in Heidelberg und an der Zoologischen Station von Anton Dohrn in Neapel, wo Uexküll einen Arbeitsplatz von der »hohen königlich preussischen Regierung« 15 bzw. der »hohen württembergischen RegieEbd., S. 69. Studien über den Tonus II. Die Bewegungen der Schlangensterne, Zeitschrift für Biologie, 46, 1904, S. 1. 15 Physiologische Untersuchungen an Eledone moschata. IV. Zur Analyse der Functionen des Centralnervensystems, Zeitschrift für Biologie, 31, 1894, S. 609. 13 14
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rung« 16 finanziert bekam. Die allgemeine Schwierigkeit dieser Forschung bestand vor allem darin, einen Zusammenhang zwischen äußerlich sichtbarer Bewegung und gleichzeitigen Veränderungen im Nervensystem festzustellen. Aus diesem Grunde umfassten die Experimente an Elodene moschata auch Vivisektionen. Blicken wir also dem Experimentator Uexküll über die Schulter, wie er sich seinen Modellorganismus aneignet, welche Instrumente und Methoden gezückt werden, um das Experimentalsystem zur Beantwortung seiner Fragen zu bewegen. Fredericq spricht sich in seiner »Physiologie du poulpe commun« über die Schwierigkeiten aus, die einer ausreichenden Fesselung der Cephalopoden entgegenstehen, und löst die Frage, indem er das Tier einfach annagelt. Dieses Verfahren ist aber unzulässig, wenn das Thier die Operation überleben soll, ohne die unangenehmsten Begleiterscheinungen an den verletzten Armen zu zeigen. […] Ein an beiden Enden offener Schlauch aus grober Leinwand, der 30cm in der Länge und 22cm im Umfang misst, wird von rückwärts über die Elodene gezogen und mittels einer eingenähten Schnur halskrausenförmig dicht hinter dem Ansatz der Arme mit aller Kraft zugezogen und festgebunden. … Einerseits ist es wünschenswerth so viel wie möglich vom Kopfe frei zu lassen, andrerseits ist die ganze Fesselung umsonst, sowie man nicht hinter, sondern auf den Arm gebunden hat; denn die Octopodenarme vermögen sich aus jeder Schlinge herausziehen. Der Schlauch wird nun über die Arme herübergezogen und noch zweimal … mit dünner Schnur um die Arme eingebunden. […] Nachdem man sich äusserlich mit dem Finger davon überzeugt hat, wo die feste Schädelkapsel liegt, schneidet man über derselben Haut und Muskel weg. […] Ein Schnitt in die Medianebene eröffnet unmittelbar die Schädelhöhle, und das Gehirn liegt vor uns. […] Um an die tieferen Partien des Gehirns heran zu kommen, muss man ein Auge opfern. Nun ändert der Verlust eines Auges mit oder ohne dem dahinter liegenden Sehganglion am Benehmen des Tieres nichts. […] Je nach Art der Operation leben die Thiere einige Stunden bis zu einer Woche. 17
Getestet wurden dann sogenannte Reiz-Reaktionsschemata, also welchen Einfluss hat es auf die Krake, wenn an dieser oder jener Stelle der Haut oder der Mantelmuskeln eine elektrische Spannung (Dubois 16 Physiologische Untersuchungen an Eledone moschata, Zeitschrift für Biologie, 28, 1892, S. 565. 17 Physiologische Untersuchungen an Eledone moschata. IV. Zur Analyse der Functionen des Centralnervensystems, a. a. O., S. 586 f.
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Abbildung 2: Präparation des Mantelnerv von Elodene moschata (Uexküll, J. von, »Physiologische Untersuchungen an Eledone moschata«, Zeitschrift für Biologie, 28, 1892, S. 551).
Schlitten) angelegt wird oder wenn dieser oder jener Muskel- oder Nervenstrang durchschnitten wird, – es gelingt die Athmung normal zu erhalten, wenn man nach tiefer Durchschneidung der hinteren Commissuren das Thier in frisches Seewasser wirft […] Die Mantelathmung bleibt sogar bestehen, wenn man das Pedalganglion durchschneidet, […] und schließlich arbeitet noch eine Mantelhälfte weiter, wenn nur die zu ihr gehörige Hälfte des Visceralganglions allein noch erhalten ist. Es folgt daraus, dass in jeder Hälfte des Visceralganglions sich ein kleiner automatisch arbeitender Mechanismus befinden muss, […] Diese beiden automatischen Maschinen sind, obgleich unabhängig von einander, dennoch so eng miteinander verknüpft, als wenn sie beide in dasselbe Sperrad eingreifen würden. Denn sowie beide einmal in Thätigkeit sind, ist auch ihr Rhythmus absolut der gleiche. 18
Vor allem aber interessierte sich Uexküll für elektromotorische Untersuchungen am isolierten Muskel der Krake. Lassen Sie uns noch einen letzten Blick in das »wet lab« werfen – auf den Labortisch und seine
18
Ebd., S. 592.
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Baron Jakob von Uexkll: Das Experiment als Ordnungsprinzip in der Biologie
Instrumente mit deren Hilfe Organismen zu Forschungsgegenständen gemacht werden. Elodene moschata erwies sich, was die Dauerhaftigkeit und Grösse ihrer Nerven betraf, über Erwarten brauchbar. […] Um das Thier zu tödten, setzt man es in eine Präparirschale und öffnet ihm dann mit einem Schnitt in der Medianlinie zwischen den Augen die knorplige Schädelkapsel und zerstört das Supraösophageal-Ganglion. Hierauf werden die Arme abgetragen, die noch nach einer halben Stunde spontane Bewegungen zeigen. … Der Mantelnerv ist leicht zu finden; jederseits nahe dem Mantelrande verbindet ein platter Muskelbalken den Körper mit dem Mantel. In ihm liegt der Nerv, der beim Uebertritt in den Mantel selbst sich mit dem charakteristischen Ganglion stellatum vereinigt. Nun wird das Thier mit der linken Hand in’s Handtuch genommen, und, wie es Fig(ur) 1 zeigt, der Zeigefinger von oben her unter den Muskelbalken gesteckt. Die schräg vorgezogene Muskelduplikatur entfernt man durch einen seitlichen Schnitt, dann geht man mit einer spitzen Scheere seitlich vom durchschimmernden Nerven in die Muskulatur mit einem langen Schnitt ein […] Die Wände des muskulösen Hohlraumes, in dem der Nerv liegt, klaffen auseinander und der Nerv wird frei. […] Um dem Nerv bequem beizukommen, schneidet man nun auch unterhalb des Nerven, dem Verlauf desselben folgend, die Leibeswand durch, so dass derselbe auf ein schmales muskulöses Band zu liegen kommt, das man nach Belieben über den Finger nehmen und dehnen kann. […] Der sich stark zusammenziehende Nerv wird nun, nachdem das Thier hingelegt worden, am centralen Ende mit der Pincette gefasst, gehoben und zurückgeschlagen, wobei das etwa noch anhaftende Bindegewebe und einige abgehende Nervenfasern durchschnitten werden. 19
Uexküll nahm diese komplizierte Präparation auf sich, obwohl die Herstellung des Nervenmuskelpräparates von Elodene doppelt so viel Zeit in Anspruch nahm wie die Präparation des Froschschenkels. Außerdem war das Muskelpräparat des Frosches in der zeitgenössischen Forschung sehr viel weiter verbreitet, geradezu ein Standardobjekt. Aber der Mantelnerv von Elodene, ein markloser motorischer Nerv, erwies sich als besonders gut geeignet für die Messung des Elektrotonus – das Experimentalsystem erwies sich sogar als so erfolgreich und produktiv, dass Uexküll vier Jahre vor allem Arbeiten über die Moschuskrake publizierte und ihr auch die experimentelle Basis seiner Einsicht verdankt, die uns auch heute noch als Uexküllsches Gesetz begegnet. Uexküll verwendete das Elodene-Präparat auch zur Klärung der 19
Ebd., S. 552 f.
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Abbildung 3: Der Haartrommler (Zur Methodik der mechanischen Nervenreizung 1894, S. 158).
allgemeinen Frage, ob mechanische oder elektrische Reizung besser geeignet wären bei der Erforschung der Reizübertragung zwischen Nerv und Muskel und der antagonistischen Regulationsmechanismen von Dehnung und Verkürzung der Muskeln. Dazu stellte Uexküll eine systematische Vergleichsstudie einer ganzen Reihe von gängigen aber auch von neuen Instrumenten an. Der Mantelnerv von Elodene war dabei die Konstante im jeweiligen Experimentalsystem. Mechanische Reizung bedeutete tatsächlich, die Präparate mit mehr oder weniger großen, schweren und spitzen hammerartigen Gebilden mehr oder weniger anhaltend zu reizen. Es ist leicht vorstellbar, dass die Präparate dadurch stark beansprucht und relativ rasch »verbraucht« – also durchtrennt oder dauerhaft gequetscht – wurden. Uexküll wollte hier Abhilfe schaffen und setzte Instrumente ein, die er nach eigenen Plänen hatte fertigen lassen, so etwa den Haartrommler. Bei diesem Gerät erwies sich als Vorteil, dass das Nervenmuskelpräparat mechanisch beliebig gereizt werden konnte ohne es dabei zu beschädigen, jedoch war die Fixierung des Präparats am Gerät zu kompliziert und nur schwer reproduzierbar. Diese Arbeiten schloss Uexküll mit der tastenden Bemerkung ab, dass der elektrische Reiz wohl wegen seiner Kürze und strengen Lokalisation das Ideal der mechanischen Reizung sein könne, wenn es nur gelänge die »übrigen Wirkungen«, er nennt hier Polarisation und Elektrolyse, auszuschließen. Er benennt damit die aktuelle epistemische Grenze der technischen Umgebung seiner Forschung. Sie erfüllt nicht die Zwecke für die sie gebaut wurde und ist damit auch keine Antwort216 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Baron Jakob von Uexkll: Das Experiment als Ordnungsprinzip in der Biologie
maschine mehr, wie Hans Jörg Rheinberger die Rolle der Instrumente und Aufzeichnungsapparaturen in einem Experimentalsystem genannt hat, sondern wird selbst zu einer Fragemaschine – zu einem »epistemischen Ding« um in der Terminologie zu bleiben. 20 Am Ende dieses Abschnitts über den aktiven Experimentator Uexküll, der gleichzeitig auch als der Uexküll des sonnigen Südens angesprochen werden mag, möchte ich auf zweierlei hinweisen: Zum einen wird deutlich, wie komplex diese physiologische Forschung war und wie eng Instrumente, Methoden und Organismus aufeinander bezogen und miteinander verflochten sind. Vor allem wird auch deutlich, wie dominant die damit jeweils verbundenen Praktiken für das ganze Forschungsunternehmen sind und wie sehr sich Uexküll darüber auch im Klaren war. In einem solchen Unternehmen ist das Experiment weniger ein wohldefiniertes Prüfverfahren, das Theorien zu bestätigen oder zu widerlegen hat. Eines der berühmtesten Statements hierzu stammt von Karl Popper: »Der Theoretiker ist es, der dem Experimentator den Weg weist«. 21 Auf Uexkülls Verständnis vom Experiment scheint eher Ludwik Flecks Beschreibung der Forschungspraxis zuzutreffen. Ein Einzelexperiment, so Fleck, beweise wenig. »Es gehört immer ein ganzes System der Experimente und Kontrollen, einer Voraussetzung (einem Stil) gemäß zusammengestellt und von einem Geübten ausgeführt.« 22 Ein anderer Aspekt, wenn man Experimente nicht vor allem in der Funktion zur Überprüfung von Theorien sieht, ist, die Unschärfen und das Zweideutige im Forschungsprozess hervorzuheben, das vor allem im so genannten Entdeckungszusammenhang eine Rolle spielt. Dies kann auch genutzt werden, um die Grenzen zwischen Begriff und Handeln, zwischen Zeichen und Objekt auf ihre Durchlässigkeiten und Mischungsverhältnisse hin zu erkunden. Begriffliche Unbestimmtheit wird dann nicht als defizitär aufgefasst, sondern als handlungsbestimmend und als genauso gerechtfertigt wie die begrifflich bereits verfestigten Resultate der Forschung.23 20 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen: Wallstein Verlag, 2001, S. 25, 29. 21 Karl R. Popper, The logic of scientific discovery, London: Hutchinson, 1968, S. 72. 22 Ludwig Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980, S. 126. 23 H.-J. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 24; Rheinberger plädiert hier für eine Rehabilitation des Entdeckungszusammenhangs ge-
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Was gewinnen wir dadurch für das Uexküllsche Verständnis vom Experiment, wenn wir uns auf solche Übergangszonen, auf eine »Logik des Unscharfen« einlassen. Eine Logik, bei der »[z]wischen Ja und Nein, zwischen Null und Eins unendlich viele Werte [erscheinen] und damit unendlich viele Antworten«, in denen Dinge noch Objekte und schon Zeichen, noch Zeichen und schon Objekt sein können. 24 Sehen wir uns vor dem Hintergrund dieser Überlegungen noch einmal das Uexküll-Zitat aus dem »Leitfaden in das Studium der Experimentellen Biologie der Wassertiere« von 1905 an: »Man mag sich vom Bau der Repräsentanten ein Bild machen, welches man wolle, eine Tatsache bleibt davon unberührt, dass die Repräsentanten ihre Gefolgsmuskeln in effigie darstellen.« 25 In diesem Zitat scheint genau das, was oben als Mischzone und unscharfe Logik beschrieben wurde, vollzogen. Uexküll entschärft hier gewissermaßen die Grenze zwischen dem Forschungsobjekt und dem Zeichen, dem »Bild vom Repräsentanten« und dem Repräsentanten, der die Gefolgsmuskeln darstellt. Die Begriffsbildung wird zurück gebunden an die experimentelle Praxis, umgekehrt verweist bereits die Wahl des Begriffs selbst – Repräsentant – auf seinen Zeichencharakter. Damit fügt sich die Uexküllsche Forschung auch nicht der Einteilung in theoretische oder analytische Biologie auf der einen und experimentelle Biologie auf der anderen Seite. Für Uexküll durchdringen sich beide Methodologien. Seine theoretische Biologie hat zwar auch ein begriffliches Rahmenwerk zu entwickeln in dem die Experimente interpretiert werden können. Umgekehrt verändern die Experimente aber auch das Rahmenwerk, weil sich hier die materielle und die zeichenhafte Seite der Forschungsobjekte durchdringen. Dies alles charakterisiert allerdings vor allem den Experimentbegriff jenes Experimentators, als den wir Uexküll soweit kennen gelernt haben. Der spätere Uexküll gesteht den Experimentalsystemen sehr viel weniger Offenheit oder Potential zur Veränderung zu. Die Bedeutung der Forschungspraxis fällt hinter die der Begriffsbildung zurück, die Begriffe selbst sind nicht mehr unscharf, sondern so stark schematisiert, dass sie geradezu immunisiert werden gegenüber den genüber dem Rechtfertigungszusammenhang, und damit für eine »grundsätzliche Neubewertung der wissenschaftlichen Praxis«. 24 Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987, S. 89. 25 Leitfaden in das Studium der experimentellen Biologie der Wassertiere, a. a. O., S. 69.
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materiellen Objekten, die sie beanspruchen zu erklären. Zur Aufgabe der Biologie wird dann die Planmäßigkeit der organischen Wesen zu erforschen, wie Uexküll 1913 in den »Neue(n) Fragen« der »Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung« schreibt. Damit scheint auch ein Bruch in der Experimentalpraxis Uexkülls und seinem Experimentalbegriff verbunden. Die damit einhergehenden Veränderungen in Epistemologie und Ontologie lassen sich sowohl in der Beschreibung dessen, was dann überhaupt ein Experiment ist nachvollziehen wie an der Beschreibung der Phänomene. Darauf werden wir gleich zurückkommen. Zunächst sei noch eine Strömung innerhalb der Biologie wenigstens genannt, die für die weitere Entwicklung des Experimentalbegriffs bei Uexküll wichtig war und auf die er umgekehrt auch selbst großen Einfluss nehmen sollte. Ein Buch des Biologen und Philosophen Hans Driesch leitet hier eine entscheidende Wende ein, – so argumentiert jedenfalls der französische Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem. Mit den »organischen Regulationen« von 1901 tritt zur in der Physiologie des 19. Jahrhunderts stabilisierten Opposition von Außenregulation und Innenregulation (Comte gegen Bernard) des Organismus eine dritte Position hinzu. Regulatorische Netzwerke gelten von nun an als Schlüssel zum Verständnis biologischer Funktionen. 26 Das hydromechanische Modell von Uexküll zur Beschreibung der Muskelfunktionen in einem marinen Wurm (Sternwurm) kann zwanglos als ein Beispiel für diese dritte Position aufgefasst werden. Die weitere Entwicklung der Uexküllschen Bio-Philosophie ist die Ausarbeitung dieses Funktionsbegriffs und die Beschreibung dessen, was er als vorgegebene planmäßige Ordnung der Natur bezeichnet. Verbunden mit beiden ist die Erfindung und Weiterentwicklung des biologischen Funktionskreises, der auch heute noch mit Uexkülls Name verbunden ist – ebenso wie der Begriff der Umwelt, dem in diesem komplexen Begriffssystem eine ganz zentrale Rolle zukommt. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Umgebung und Umwelt wurde sowohl in der Soziologie wie der Ökologie aufgegriffen. Luhmann verweist ausdrücklich auf die Uexküllsche Unterscheidung von Umgebung und Umwelt und thematisiert diese im Zusammenhang der Ein26 Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006, S. 69.
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führung seines Beobachterbegriffs. Auf der einen Seite gibt es dann die Umwelt für das System und auf der anderen Seite die Umgebung wie sie für den Beobachter des Systems erscheint. 27
3.
Der biologische Funktionskreis
Jedes Tier ist ein Subjekt, das dank seiner ihm eigentümlichen Bauart aus den allgemeinen Wirkungen der Außenwelt bestimmte Reize auswählt, auf die es in bestimmter Weise antwortet. Diese Antworten bestehen wiederum in bestimmten Wirkungen auf die Außenwelt und diese beeinflussen ihrerseits die Reize. Dadurch entsteht ein in sich geschlossener Kreislauf, den man den Funktionskreis des Tieres nennen kann. 28 Das Schema eines Funktionskreises ist leicht zu übersehen. Wie mit zwei Gliedern einer Zange für das Merken und für das Wirken, umfaßt das Tiersubjekt ein jedes Objekt. Bestimmte Eigenschaften des Objekts, deren Auswahl vom Bau der Sinnesorgane (Receptoren) des Subjekts abhängt, dienen als Reiz um im Merkorgan eine Anzahl (…) Merkzeichen zum Anklingen zu bringen. Diese werden an die Reizquelle als Merkmal hinausverlegt und machen die reiz-aus-sendenden Eigenschaften des Objektes zu Merkmalträgern des Subjektes. 29 Wollen wir selbst einen lückenlosen maschinellen Funktionskreis bauen, der, in dem wir z. B. eine automatische Lokomotive mit einem optischen Apparat versehen, der von den Merkmalen der grünen und roten Einfahrstszeichen erregt wird, und daraufhin die Steuerung der Lokomotive beeinflusst, so müssen wir auch die Umwelt, d. h. in diesem Falle den Schienenstrang ebenso planmäßig bauen wie die Lokomotive selbst. Die Tiere sind nun derart in die Natur hineineingebaut, dass auch die Umwelt wie ein planmäßiger Teil des Ganzen arbeitet. 30
Tier und Umwelt bilden also eine funktionale Einheit. Die Umwelt setzt sich zusammen aus einer Auswahl von Elementen, die aus der Umgebung ausgewählt werden. Es sind die Merkmalsträger, die das Tier mit seinen Receptoren wahrnehmen kann. Das Tier kann nur bestimmte Merkzeichen erkennen an einem Objekt, nämlich jene, die als Reiz überhaupt für das Merkorgan wahrnehmbar sind. Erst dann werNiklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag, 2002, S. 83. 28 Theoretische Biologie (1. Aufl. 1920), Frankfurt: Suhrkamp, 1973, S. 150 (Hervorh. i. Orig.). 29 Die Rolle des Subjekts in der Biologie, a. a. O., S. 390. 30 Theoretische Biologie, a. a. O., S. 153. 27
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den Merkzeichen zu Merkmalen, die Wirkzeichen werden Wirkmale. Uexküll verlagert über diese Verzahnung von Receptor und Merkzeichen die funktionale Grenze des Organismus nach außen, jenseits seiner biologischen Gestalt. Das Netz gehört dann ebenso zur Spinne, wie ihre Spinndrüsen. Beide Seiten der Beziehung zwischen Tier und Objekt, den Gliedern der Zange wie Uexküll sagt, werden durch Handlungen erzeugt und stabilisiert. Objekte wirken dabei auf Subjekte als Stimuli ein, Subjekte auf Objekte als Impulse. Uexküll orientiert sich mit seinem Schema zwar an der physiologischen Beschreibung von Reflexbögen. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Lebensvorgänge in rein mechanische Massenwirkungen auflösbar wären, die auch »nur an der Peripherie des Organismus« 31 zu wirklichen Erfolgen führen könne. Im Gegenteil zwingt uns die Auffassung, dass das Tier als Subjekt und nicht mehr als Objekt aufgefasst wird, »eine andere Betrachtungsweise auf.« 32 Diese andere Betrachtungsweise besteht darin, daß biologischen Bauplänen, so auch den Reflexen, genau keine unveränderbare Mechanik zugrunde liege. Uexküll weißt hier mit Vorliebe auf die Arbeiten von Pawlow hin, der zeigen konnte, dass der Speichelfluss bei Hunden auch anders als durch Geruch, etwa durch Licht oder Geräusche ausgelöst werden kann und damit auch der Speichelreflex ein flexibler ist. Üblicherweise wird das Merkwelt-Wirkwelt Schema an der Zecke veranschaulicht, Uexküll spielte das Schema aber auch für eine ganze Reihe weiterer Tiere durch, beispielsweise für das Huhn. Im folgenden Zitat beschreibt Uexküll wie sich Umwelt und subjektives Huhn ordnungsgemäß zusammenfügen. Nehmen wir einen ganz einfachen Fall: ein Huhn sieht ein Korn und pickt es auf. Dabei haben die optischen Eigenschaften des Kornes dem Auge des Huhnes als Merkmal gedient, und der Körper des Kornes hat die Wirkung des Hühnerschnabels erduldet. Die Wirkung hat die Merkung ausgelöscht. Damit das erfolgen kann, müssen die Merkzeichen, die das Huhn durch Vermittlung des Auges erhält, in dem zentralen Merkorgan im Hirn des Huhnes durch ein Merkschema zusammengefasst werden, damit das Korn überhaupt Die Rolle des Subjekts in der Biologie, a. a. O., S. 388. Uexküll unterscheidet drei verschiedene Beziehungstypen zwischen Subjekten und Objekten: die mechanische Wirkung, wenn Objekte auf Objekte stoßen und die Induktion, wenn Subjekte auf Subjekte treffen. Die komplizierteste Beziehung ist die zwischen Subjekt und Subjekt, von Uexküll als Induktion bezeichnet (a. a. O., S. 388). 31 32
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Abbildung 4: Die Merkwelt und Wirkwelt des Huhnes (Die Entplanung der Welt: Magische, mechanische und dämonische Weltanschauung, Deutsche Rundschau, 236, 1933, S. 38-43, S. 113).
wiedererkannt wird. Das Merkschema induziert, wie wir uns ausdrücken, ein Wirkschema im Wirkorgan des Gehirnes. Das Wirkschema beherrscht die Willensimpulse des Huhnes, die zur Ausführung der Pickbewegung nötig sind. 33
Die Aufgabe des Biologen, wenn er ein Tier beobachtet, besteht darin, die Merkmal-Träger – oder Bedeutungsträger – zu erkennen, die dessen Umwelt definieren. Konsequenterweise will Uexküll das Verhältnis zwischen Tier und Umwelt auch nicht durch den Darwinschen Begriff der Anpassung beschrieben wissen, sondern wählt den Begriff der Einpassung, um die Komplementaritäten von paarweise aufeinander abgestimmten Umwelten oder von Tier und Umwelt zu betonen. Die menschliche Haut ist so gebaut, dass die Mundwerkzeuge der Mücke sie durchdringen können; die Spinne webt ihren Faden so dünn, dass er in der Merkwelt der Fliege nicht sichtbar ist und die Fliege deswegen zur Beute der Spinne werden kann. Obwohl die Spinne, mit anderen Merkwelten und »Receptoren« versehen als die Fliege, die Umwelt der Fliege also auch nicht sehen kann, passt das Netz genauso in die Umwelt der Fliege, dass sie es nicht sehen kann. Agamben nannte dies die paradoxe Koinzidenz der gegenseitigen Blindheit von Spinne und Fliege. 34 Zusammenfassend kann man sagen, dass Uexküll mit seiner subDie Entplanung der Welt: Magische, mechanische und dämonische Weltanschauung, Deutsche Rundschau, 236, 1933, S. 112 f. 34 Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, a. a. O., S. 52. 33
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jektiven Biologie vor allem hervorhebt, dass wir es in der Biologie mit einer Vielfalt von Wahrnehmungswelten zu tun haben. Und diese Welten sind jede für sich vollkommen. Eine Kommunikation zwischen diesen Subjekten gibt es kaum, die Merkzeichen bleiben uns ewig unbekannt. Jedes Tiersubjekt ist eine Seifenblase für sich. Auf diese Metaphorik greift Uexküll häufig zurück: Seifenblasen kugeln und schweben durch die Welt, sie durchfliegen Gärten und können bis zum Platzen aufgeblasen werden. Damit die Welt aber nicht zu einem ungeordneten Tummelplatz von Seifenblasen verkommt, verweist Uexküll an dieser und ähnlichen Stellen auf die ordnende Natur der Natur, die dem Geschehen der ineinandergreifenden und doch isolierten Mannigfaltigkeiten übergeordnet ist. Diese übergeordnete und machtvolle Natur hat konsequenterweise auch kein zentrales Subjekt, das ja an ein Merken und Wirken gebunden wäre. Sie ist, so Uexküll, der alles beherrschende Plan, in dem das Merken und Wirken sämtlicher Subjekte repräsentiert ist. Um diese allumfassende, planmäßige Natur näher zu beschreiben, greift Uexküll häufig auf die Metapher der Partitur oder Komposition zurück, in der all die verschiedene Qualitäten von Tönen und Konstellationen von Instrumenten in einem harmonisch erklingenden Ganzen zusammengeführt werden. 35 An anderen Stellen wird die Natur als Gott-Natur Goetheanischer Prägung angesprochen. Solange wir es mit einem Subjekt zu tun haben, dessen Umwelt, wie z. B. bei der Wespe kleiner und ärmer ist als die unsere, können wir diese Seifenblase aus unserer Welt herausschneiden und behaupten, die richtige Welt sei doch die des Menschen, von der die Wespe nur einen kleinen Teil wahrnimmt. Drehen wir aber einmal das Verhältnis um und denken wir uns unsere Welt als Seifenblase in einer umfassenderen und reicheren Welt schwebend, von der wir infolge unserer beschränkten Sinnlichkeit nichts wahrnehmen, so würde uns auch unsere Vorstellung, mit der wir unsere Seifenblase bis zum Platzen aufblasen, nichts helfen, um von der anderen Welt irgend etwas zu erkennen. Und doch wäre die grössere Welt dann die richtigere. In dieser Lage befinden wir uns tatsächlich der Natur gegenüber. Wir erfahren von ihr ebenso wenig wie die Wespe von unserer Welt, weil wir wie die Wespe an die Grenzen unserer Sinnlichkeit gebunden sind und mit unserer Seifenblase in ein unbekanntes Etwas hineingestellt sind, von dem wir gerade soviel erfahren, als wir von ihm Bilder in unserer menschlichen 35 Das eindringlichste Duett liefert der nimmer ermüdende Wettgesang zwischen Männchen und Weibchen« (Die Rolle des Subjekts in der Biologie, a. a. O., S. 391).
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Bildersprache in uns aufnehmen können. Diese Bilder verknüpfen wir in der Vorstellung zu einem größeren Gesamtbild, wie das auch die intelligente Wespe tun würde, wenn sie mit ihrer Seifenblase unseren Garten durchfliegt und die geschauten Wespendinge zu einem Gesamtbilde in ihrer Vorstellung vereinigte. Es ist daher ein menschlich vielleicht verzeihlicher Irrtum, wenn die Physiker und Astronomen vermeinen, mit ihrem in der Vorstellung geschaffenem Weltbilde die Grenzen der Natur selbst aufgezeigt zu haben. Aber es bleibt ein Irrtum, weil dies Weltbild eine wesentliche Seite der mannigfaltigen Natur übersieht. Unsere menschliche Welt verdankt ihren Ursprung den Elementen unserer Sinnlichkeit und ihrer Verknüpfung in unserem Gemüte. So bleibt sie unter allen Umständen unsere Merkwelt, die sich aus menschlichen Merkzeichen zusammensetzt. Sobald wir das Vorhandensein anderer Subjekte mit anderen Merkzeichen zugeben, vervielfältigt sich auch die Zahl der Welten. Eine Tatsache, die die Physiker vollständig übersehen haben. Das Studium dieser Welten hat uns nun gelehrt, dass diese zahllosen Subjektumwelten keineswegs eine planlose Anhäufung von Seifenblasen darstellen, sondern dass sie alle auf das planvollste miteinander verknüpft sind. Die Natur ist also mehr als ein blosser Tummelplatz der Umweltseifenblasen, auf dem diese planlos durcheinander kugeln. Nein, sie ist ein planvolles Gesamtgefüge, das in dauernder planvoller Umgestaltung und Erneuerung begriffen ist. Nur fehlt ihr das zentrale Subjekt, das wie alle Subjekte an Merken und Wirken gebunden wäre. An Stelle des zentralen Subjektes tritt ein alle Subjekte verbindender und beherrschender Plan. Ihm ist das Merken und Wirken aller Subjekte gleichmässig unterworfen. Dieser Plan bestimmt für jedes Subjekt, was und wie es zu merken habe, und umschreibt damit seine Merkwelt. Er bestimmt aber auch, wie das Subjekt zu handeln habe, und umschreibt damit seine Wirkungswelt. 36
4.
Staat als Organismus und Organismus als Staat
Der begriffliche Grenzverkehr zwischen Biologie und Politik 37 durchzieht Uexkülls gesamte Schriften, zum Teil auch seine physiologischen Schriften. Besonders deutlich wird dies, während und kurz nach dem Wie sehen wir die Natur und wie sieht sie sich selbst, Die Naturwissenschaften, 10 (12) 1922, S. 316 f. 37 Sabine Maasen, Everett Mendelsohn & Peter Weingart (Hg.), Biology as Society, Society as Biology: Metaphors, Dordrecht: Kluwer, 1995; Uwe Pörksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik, Tübingen: Narr, 1994. 36
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ersten Weltkrieg, den Uexküll zunächst auf einem Familiensitz in Estland verbringt. Nach der Annektierung der Güter durch die rote Armee zieht die Familie auf den Besitz seiner Frau im hessischen Londorf zwischen Marburg und Gießen. Uexküll korrespondiert in dieser Zeit mit Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern aus ganz Europa und ist außerdem, mit Unterstützung der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler – der späteren Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) – auch wissenschaftlich tätig: 1922 veröffentlicht er eine Arbeit über Experimente zur Flügelbewegung des Kohlweißlings, Methode der Wahl ist die stroboskopisch-stereoskopische Photographie, also wiederum eine chronophotographische Technik, und schließt damit an seine FallExperimente mit den Schlangensternen an. Auch der englische Schriftsteller Houston Chamberlain gehört zum illustren Kreis seiner Briefpartner. Chamberlain hatte starke deutschnationale Sympathien, war verheiratet mit Eva Wagner, Richard Wagners Tochter, und residierte in Bayreuth. 38 In diesem Umfeld hatte er schon früh Kontakte zu Nationalsozialisten aber auch zum deutschen Adel, wie überhaupt der politischen und militärischen Elite Deutschlands. Für Uexkülls Werk hatte er ein besonderes Interesse gefasst, in einem Brief am 23. Mai 1919 schreibt er: »Besonders entzückt war ich über Ihren Aufsatz (wohl die Darmstädter Rede?) über ›Staat und Organismus‹. Das ist eine Ihrer glänzendsten Leistungen: klar wie Kristall und überzeugend wie ein Evangelium.« Umgekehrt war Uexküll fasziniert von Chamberlains Schriften. So trug er etwa mit einem Vorwort zu den Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899) bei, ein Buch, das heute als ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus gilt. Im Jahr des Kriegsendes, der deutschen Novemberrevolution, der Abdankung des deutschen Kaisers und dem Morgengrauen der Weimarer Republik schreibt Uexküll an seinen verehrten Freund Chamberlain (siehe Abb. 5). 39 Der Staat als Organismus und der Organismus als Staat ist die leitende Metapher, die sich jetzt durch Uexkülls Schriften zieht: Bahnen der Reizübertragung binden die Individuen des Staates und die 38 Chamberlain war seit 1916 deutscher Staatsangehöriger; mit Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, Erstauflage 1899, nahm er starken Einfluss auf die nationalsozialistische Rassenlehre, stellte sich gewissermaßen in die Nachfolge von Gobineau, das Germanentum verherrlichend. 39 Zu den Briefdokumenten siehe Fussnote 6.
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Abbildung 5: Brief Uexküll an Chamberlain 1918.
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Zellindividuen der Körpermaschine zusammen, überall gibt es Zapfen und Fugen, das Ordnungsgefüge wird durch Zwang, Verschiedenheit und Unterordnung stabilisiert. Demgegenüber stehen Protoplasma und Volk, die derselben Parole folgen – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – und Hunger, Krebs und Anarchie in Staat und Organismus hervorrufen, wenn sie nicht kontrolliert in einem harmonischen Verhältnis zwischen Protoplasmateil und Werkzeugteil, Volksleben und Staatspflichten gehalten werden. 40 Diese wechselseitigen Übergriffe der politischen und biologischen Sphären können hier nur Randbemerkung bleiben, sie verdienten einen eigenen Aufsatz. Immerhin deutlich wird dadurch jedoch hoffentlich, wie weit der Anspruch von Uexküll nach einer biologischen Sprache, und auch der Biologie als Wissenschaft in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hinein ragt. Einer Wissenschaft, deren Aufgabe es ist die »die Planmäßigkeit der organischen Wesen« zu erkennen. 41 Die Umweltlehre besteht, wie gesagt, aus zwei Hauptpunkten. Neben der Anerkennung der planerzeugten Umwelten fordert sie die Anerkennung des Zusammenhangs aller Umwelten in einer allumfassenden Planmäßigkeit. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Wiedereinsetzung der von Goethe gepriesenen Gott-Natur, die sich nach tausend Plänen in tausend Gestalten verkörpert und durch tausend Augen in tausend Umwelten schaut. In der planlosen objektiven Welt, die nur physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten kennt, herrscht der Zufall. Das Leben selbst ist nur ein nebensächliches Zufallserzeugnis planlos waltender Kräfte. Sie wird dadurch zur Gott-Natur, zu der wir Stellung nehmen müssen, und die den Ausbau unserer Umwelt merklich beeinflußt. Wir gewinnen eine durchaus andere Einstellung, wenn wir uns mit unserer Umwelt in ein großes Ganzes planvoll eingewoben fühlen, wie wenn wir als planloser Atomhaufen in einer sinnlosen Weltwüste umhergetrieben werden. Mit dieser Neueinstellung rollen sich eine Anzahl scheinbar gelöster Fragen von neuem auf. Als wichtigste erscheint mir die Frage nach der persönlichen Unsterblichkeit. Solange man annimmt, die wirkliche Welt enthalte nur Stoffe und Kräfte, sind auch nur diese unzerstörbar und unsterblich. […] In ganz anderem Licht erscheint das Problem, wenn der Zusammenschluss der Atome durch einen unzerstörbaren Naturfaktor, nach dem akti-
40 Der Organismus als Staat und der Staat als Organismus, Der Leuchter, Darmstadt: Otti Reichl Verlag, 1919, S. 94 f. 41 Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung, a. a. O., S. 33.
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ven Plan erfolgt ist. Dann erhebt sich die Frage, ob dieser unzerstörbare Naturfaktor, dieser aktive Plan nicht gerade das ist, was wir unsere Persönlichkeit nennen? Die Beantwortung dieser Frage wird beim Aufbau unserer Umwelt eine nicht unerhebliche Rolle spielen. 42
Uexküll wendet sich entsprechend auch mit Nachdruck gegen die verbreitete institutionelle Vorherrschaft der physikalischen Disziplinen. Dass die Erforschung der einen objektiven Welt, wie sie die Physik oder die Astronomie betreibt, gegenüber der Erforschung der vielen subjektiven Welten nicht überlegen sei, hat Uexküll gebetsmühlenhaft in Zeitschriftenartikeln und Zeitungskommentaren wiederholt. 43 Schließlich gebe es nicht nur eine Wirkungswelt und man könne nicht so tun als seien die Merkwelten nur Scheinwelten. Und die Erforschung der vielen subjektiven Welten obliege der Biologie, die sich hierin auch gegenüber allen anderen Naturwissenschaften systematisch unterscheidet, woraus für Uexküll auch ihre Überlegenheit resultiert: Die Biologie ist vollauf imstande, uns davor zu bewahren, dass die Welt auf jenes armselige Niveau herabsinkt, auf das blinde Überschätzung der Physik sie herabdrücken will. […] Das Universum besteht aus Subjekten mir ihren Umwelten, die durch Funktionskreise zu einem planvollen Ganzen verbunden sind. Hier liegen die wirklichen Naturfaktoren, die aufzusuchen die Zukunftsaufgabe der Biologie bildet. 44
Theoretische Biologie, a. a. O., S. 45 f. »Da wir die Wirkungswelt mit allen Tieren gemeinsam haben, lassen sich die effektorischen Apparate wenigstens in Gedanken miteinander vertauschen. Da aber die Aufgabe der rezeptorischen Organe im Aufsuchen von Merkmalen besteht und ein jedes Tier nur genau so viele Merkmale in seiner Welt besitzt, als seine Merkmalssucher ihrem Bau nach auffinden können, so sind die rezeptorischen Organe ihrem eigentlichen Wesen nach Weltbildner, während die effektorischen Organe nur Weltbearbeiter sind. Tauscht man ein weltbearbeitendes Organ, so tauscht man bloß ein Werkzeug gegen das andere. Tauscht man die Weltbildner, so tauscht man die Welt. […] Es gibt, wie wir sahen und wie eigentlich jedermann weiß, nur eine objektive, dagegen Hunderttausende von subjektiven Welten. Darum hat sich auch der Wahn eingeschlichen, als bedeute die objektive Welt eine höhere Realität als die subjektiven Welten, als gäbe es nur eine Wirkungswelt und als wären die Merkwelten nur Schein.« (Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung, a. a. O., S. 200 f.). 44 Theoretische Biologie, a. a. O., S. 66, 339. 42 43
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Abbildung 6: Brief Kaiserin Hermine an Uexküll 1926.
5.
Uexkll und die Umweltforschung in Hamburg
Die Bestallung Uexkülls in Hamburg eröffnete ihm die Chance zur Entwicklung einer solchen Lehre der Merkwelten. Allerdings hielt die institutionelle Situation und wohl auch die akademische Umgebung für Uexküll von Anfang an Hindernisse bereit, wie ich bereits zu Beginn angedeutet hatte. Die Finanzierung des Instituts ist eine sogenannten Mischfinanzierung, wie man heute sagen würde. Vier verschiedene Träger beteiligen sich: die Universität Hamburg, das dem Institut angegliederte Aquarium, bzw. die Einnahmen von den Aquariumsbesuchern, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Notgemein229 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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schaft deutscher Wissenschaftler. Uexküll empfindet diese Lage von Anfang an als prekär, insbesondere von der »Großzügigkeit der beteiligten Persönlichkeiten« abhängig zu sein. 45 So versucht Uexküll permanent diesem Zustand abzuhelfen. Unter anderem wendet er sich mit seinem Anliegen auch an das deutsche Kaiserpaar. Kaiser Wilhelm II und Kaiserin Hermine sind seit 1918 Exilanten im holländischen Doorn, wo Uexküll sie im Jahr 1926 besuchte, also schon kurz nach Antritt seiner Stelle in Hamburg. Der Kaiser kann für Uexküll jedoch nichts erreichen. Die Situation des Instituts bleibt also weiterhin unsicher und stark mit der Person Uexkülls verbunden. Gegenüber der Universitätsverwaltung erzwingt Uexküll schließlich, dass er erst mit 75 Jahren in Rente gehen muss – so lange dauert es, bis sein erster Schüler Friedrich Borck habilitiert ist und auch akzeptiert wird als sein Nachfolger. Das ist 1940. Das Institut überdauert die Abdankung Uexkülls immerhin um knapp 20 Jahre, bevor es dann 1960 aufgelöst wird.
6.
Was leistet die Umweltforschung im Uexkllschen Sinne?
Zuallererst ist festzuhalten, dass diese Umweltforschung eine Wissenschaft ist, die wir heute als Ethologie, als Verhaltensforschung bezeichnen würden. Das erklärt das, wenn auch eher verhaltene, Interesse von Wolfgang Köhler und von Konrad Lorenz an Uexkülls Forschung. Lorenz etwa besuchte das Institut in Hamburg, umgekehrt war Uexküll auch in Österreich eingeladen. Über seinen Vortrag, den er 1933 an der Wiener Urania hält, berichtet die »Neueste(n) Zeitung« unter der Rubrik »Wald, Feld, Wasser und ihr Getier« mit der Überschrift »Wunder der modernen Umweltforschung: Wie sieht das Tier die Welt?« 46 Mit den Ökologen seiner Zeit scheint Uexküll hingegen recht wenig Kontakt gehabt zu haben. Auch die Kontakte, die sich an der Universität Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele, a. a. O., S. 236 f. 25. 4. 1933 Neueste Zeitung, Illustrierte Tageszeitung. »Wir müssen nicht glauben, dass die Welt so ist, wie wir sie sehen und daß sie jedem anderen Lebewesen ebenso erscheint. Jeder Mensch und jedes Tier hat seine Umwelt, aber diese Umwelten sind nebeneinander sehr verschieden.« »Um jedes Tier schließt sich also eine Umwelt, die seine einzige Wirklichkeit ist. Soviel Subjekte es gibt, soviel Umwelten gibt es. Die Umwelt ist eine unteilbare Wirklichkeit; alle Umwelten sind die wahren Bausteine der Natur, nicht nur des Menschen.«
45 46
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Hamburg angeboten hätten, etwa mit den Hydrobiologen und Ökologen Ernst Hentschel oder Hans Lohmann, blieben wohl eher unauffällig. Dies jedenfalls legt der sehr sporadische Briefkontakt zwischen den Gelehrten nahe, der sich zudem vor allem auf formale gesellschaftliche Anlässe, also etwa Jubiläen oder Geburtstage, bezog. Der Kern von Uexkülls biologischem Programm und vor allem seiner Umweltforschung ist also auch nach der Gründung des Instituts eine Forschung, die um etwas kreist, was Uexküll im Jahre 1900 als »vergleichende Physiologie« bezeichnet hatte – jedenfalls macht er noch dieselben »Gespenster« 47 aus. Die Abgrenzung richtet sich zum einen gegen die neo-darwinistische Ausrichtung der Verhaltensforschung, die so gut funktionierte, dass die Lorenz-Schule praktisch keine Notiz nahm von der Uexküllschen Umweltlehre. Andere sich hartnäckig haltende Feinde waren der amerikanische Behaviorismus einerseits und die Tierpsychologie, die Tieren Selbstbewusstsein oder eine Seele zuschrieben. Gegen beide zog er voll Verve und Polemik ins Feld. Zweierlei setzt uns beim Behaviorismus in Staunen. Das ist erstens das Ziel, das ihm bei seiner Menschenbeglückung vorschwebt, nämlich alle Menschen in lauter gleichartige Uhrwerke zu verwandeln, die im gleichen Takt arbeiten. Für jeden denkenden Menschen, der noch kein subvokales Uhrwerk geworden ist, ist dies Ziel die reine Hölle, in der er vor Langerweile explodieren müsste. Zweitens muss es uns mit Verwunderung erfüllen, wie rasch die mechanische Weltanschauung, die im ›Behaviorismus‹ gipfelt, auf der ganzen Linie gesiegt hat. Die mechanische Weltanschauung hat nur deshalb den Vitalismus über den Haufen rennen können, weil die älteren Psychologen in den Tieren verkleinerte Menschen sahen. Sie sprachen vom Seelenleben der Infusorien, und selbst Darwin redet von einer verzweifelten Ameise. 48
In seinem eigenen Programm, das er zunächst physiologische Psychologie und dann später als Umweltforschung oder Umweltlehre bezeichnet, verwahrt er sich strikt gegen die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen Bewusstseinsvorgängen und materiellen Gehirnstrukturen, zwischen psychischen und physischen Qualitäten. Dass es dennoch einen Zusammenhang gebe, betont er mehrfach, wo-
47 Ueber die Stellung der vergleichenden Physiologie zur Hypothese von der Tierseele, Biologisches Centralblatt, 20(15), 1900, S. 502. 48 Die Entplanung der Welt: Magische, mechanische und dämonische Weltanschauung, a. a. O., S. 11 f.
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Astrid Schwarz
bei er der physiologischen Psychologie zwar die Entwicklung von Regeln, aber nicht von Gesetzen zugesteht. Ganz und gar streitet er ab, dass wir jemals in der Lage sein können so etwas wie Ameisenempfindungen kennenzulernen – eine sarkastische Anspielung auf Darwins verzweifelte Ameise. Auch dann nicht, wenn das Nervensystem der Ameise bis in das letzte Ganglion erforscht und physiologisch verstanden ist. 49 Die Leistungsfähigkeit seines Programms versucht er auf vielerlei Weise unter Beweis zu stellen. Und zwar nicht nur in der Grundlagenforschung, sondern auch in Bereichen, die üblicherweise als angewandte Forschung bezeichnet werden. So bschäftigte sich das Institut in den 1930 Jahren mit der Ausbildung von Blindenhunden. Uexküll wird nie müde immer wieder zu betonen, dass das Zusammenspiel von Merken und Wirken objektiv erforscht werden könne, wobei sich die Methode von selbst ergebe, wie er sagt. Was er damit meint ist im Wesentlichen die Beobachtung von Tieren in ihrer naturgegebenen Umgebung. Die Aufmerksamkeit gilt dann jenen Dingen, die dem Tier als Merkmal dienen könnten und auf die es seinerseits einwirkt. Damit ist Uexküll bei einer Methode angekommen, die man – im Vergleich zu seinen physiologischen Studien – als minimal invasiv bezeichnen könnte. Folgt man der Charakterisierung des Wissenschaftsphilosophen Ian Hacking, nach dem die wissenschaftliche Tätigkeit sich unter den Überbegriffen von Intervenieren und Repräsentieren charakterisieren lässt, könnte man sagen, dass die Intervention, die experimentelle Seite der Wissenschaft, hier durch die Repräsentation, das Darstellen von Theorien und die Entwicklung von Begriffen, zurückgedrängt wird. Diese Umweltforschung lässt sich eher als eine Spurensuche nach Merk- und Wirkmalen, allgemein nach Zeichen beschreiben und damit als eine Methode, die vor allem in der Geographie, aber auch der Ökologie verbreitet ist. In diesem Sinne nähert sich dann auch die Uexküllsche Umweltlehre dem an, was heute – zumindest auch – unter Umweltforschung verstanden wird. Das Experiment jedenfalls scheint in dieser epistemischen Umgebung nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen. Obwohl Uexküll zu seiner Zeit mit der Umweltforschung durchaus Erfolge verzeichnen konnte, räumte er der Durchsetzungsfähigkeit 49 Ueber die Stellung der vergleichenden Physiologie zur Hypothese von der Tierseele, a. a. O., S. 500 f.
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Baron Jakob von Uexkll: Das Experiment als Ordnungsprinzip in der Biologie
seiner Forschungsrichtung nicht allzu große Chancen ein. Lassen wir abschließend den durchaus auch selbstironischen Baron Jakob von Uexküll zu Wort kommen, mit einer Passage aus einem Vortrag, den er 1928 auf der 90. Tagung der altehrwürdigen Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte hielt: Ich zweifle daran, dass die Umweltlehre in unserem Zeitalter, das für die Gleichheit schwärmt, Anklang finden wird. Sie ist, das darf nicht verschwiegen werden, durchaus nicht demokratisch. Selbst wenn man sie aristokratisch nennen wollte, so wäre damit noch zu wenig gesagt. Ein jedes Subjekt ist in seiner Umwelt absoluter König. Freilich gehört dazu, daß er auch seine Mitmenschen als Könige anerkennt. […] Jeder König wird dabei nach seinem Königreiche, für das er die volle Verantwortung trägt, beurteilt werden. Wenn er aus seiner Umwelt einen Schweinestall gemacht hat, wird man ihn für ein Schwein halten. […] Man wird es gewiß der Umweltlehre zum Vorwurf machen, daß sie jedem Aberglauben und jedem Aberwitz Tor und Tür öffne, indem sie auch den Narren als König in seiner Umwelt anerkennt. Aber ist es in Wahrheit nicht so? Entspringen seine närrischen Handlungen nicht ganz folgerichtig seiner närrischen Welt? Zugleich baut die Umweltlehre den festen Damm gegen die Narrheit auf, indem sie diese auf die Umwelt des Narren beschränkt. 50
Literatur Agamben, Giorgio, Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bachelard, Gaston, La Formation de l’esprit scientifique. Paris: Vrin, 1977. Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980. Hacking, Ian, Representing and intervening. Introductory topics in the philosophy of natural science. Cambridge: Cambridge University Press, 1983. Luhmann, Niklas, Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag, 2002. Popper, Karl R., The logic of scientific discovery. London: Hutchinson, 1968. Rüting, Torsten, »History and significance of Jakob von Uexküll and of his institute in Hamburg«, Sign Systems Studies, 32, 2004, S. 35–72. Rheinberger, Hans-Jörg, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Göttingen: Wallstein Verlag, 2001. Rheinberger, Hans-Jörg, Epistemologie des Konkreten. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006. 50 Welt und Umwelt, Aus deutscher Geistesarbeit, 5, 1929, S. 45 (Vortrag gehalten 1928).
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Astrid Schwarz Serres, Michel, Der Parasit. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. Uexküll, Jakob von, »Physiologische Untersuchungen an Eledone moschata«. Zeitschrift für Biologie, 28, 1892, S. 550–566. Uexküll, Jakob von, »Physiologische Untersuchungen an Eledone moschata. II. Die Reflexe des Armes«. Zeitschrift für Biologie, 30, 1893, S. 179–183. Uexküll, Jakob von, »Physiologische Untersuchungen an Eledone moschata. III. Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung in den Nerven«. Zeitschrift für Biologie, 30, 1894, S. 317–327. Uexküll, Jakob von, »Physiologische Untersuchungen an Eledone moschata. IV. Zur Analyse der Functionen des Centralnervensystems«. Zeitschrift für Biologie, 31, 1894, S. 584–609. Uexküll, Jakob von, »Ueber die Stellung der vergleichenden Physiologie zur Hypothese von der Tierseele«. Biologisches Centralblatt, 20(15), 1900, S. 497–502. Uexküll, Jakob von, »Studien über den Tonus II. Die Bewegungen der Schlangensterne«. Zeitschrift für Biologie, 46, 1904, S. 1 – 37. Uexküll, Jakob von, Leitfaden in das Studium der experimentellen Biologie der Wassertiere. Wiesbaden: J. F. Bergmann, 1905. Uexküll, Jakob von, Bausteine zu einer biologischen Weltanschauung. Gesammelte Aufsätze. München: F. Bruckmann, 1913. Uexküll, Jakob von, »Der Organismus als Staat und der Staat als Organismus«. Der Leuchter, Darmstadt: Otti Reichl Verlag, 1919, S. 79–110. Uexküll, Jakob von, »Wie sehen wir die Natur und wie sieht sie sich selbst«. Die Naturwissenschaften, 10 (12), 1922, 316–322. Uexküll, Jakob von, »Welt und Umwelt«. Aus deutscher Geistesarbeit, 5, 1929, S. 20–26, S. 36–46. Uexküll, Jakob von & F. Brock, »Das Institut für Umweltforschung«. In: Ludolf Brauer, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy & Adolf Meyer (Hg.), Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele. Hamburg: Hartung Verlag, 1930, S. 233–237. Uexküll, Jakob von, »Die Rolle des Subjekts in der Biologie«. Die Naturwissenschaften, 19, 1931, S. 385–391. Uexküll, Jakob von, »Die Entplanung der Welt: Magische, mechanische und dämonische Weltanschauung«. Deutsche Rundschau, 236, 1933, S. 38–43, S. 110– 115. Uexküll, Jakob von, Theoretische Biologie (1. Aufl. 1920). Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973.
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Spielrume des Denkens – Felix Hausdorff und Paul Mongr Moritz Epple
Beginnen wir mit zwei Texten. Sie stammen aus derselben Feder, und doch von zwei Autoren. Eine Menge ist eine Zusammenfassung von Dingen zu einem Ganzen, d. h. zu einem neuen Ding. Man wird dies allerdings schwerlich als Definition, sondern nur als anschauliche Demonstration des Mengenbegriffs gelten lassen, die auf einfache Beispiele verweist: wie etwa die Menge der Einwohner einer Stadt, die Menge der Wasserstoffatome in der Sonne. Diese beiden Mengen sind endlich, sie bestehen aus einer endlichen, die zweite freilich aus einer ungeheuer großen Anzahl von Gegenständen. Es ist das Verdienst Georg Cantors, auch unendliche, d. h. nicht endliche Mengen in den Kreis der Betrachtung gezogen, und damit, über populäre Vorurteile und philosophische Machtsprüche hinwegschreitend, eine neue Wissenschaft, die Mengenlehre, begründet zu haben; denn eine bloße Theorie der endlichen Mengen wäre ja nichts weiter als Arithmetik und Kombinatorik. Die Menge der natürlichen Zahlen, die Menge der Punkte des Raumes sind die nächstliegenden Beispiele unendlicher Mengen. Die Mengenlehre ist das Fundament der gesamten Mathematik; Differenzial- und Integralrechnung, Analysis und Geometrie arbeiten in Wirklichkeit, wenn auch vielleicht in verschleiernder Ausdrucksweise, beständig mit unendlichen Mengen. Über das Fundament dieses Fundamentes, also über eine einwandfreie Grundlegung der Mengenlehre selbst ist eine vollkommene Einigung noch nicht erzielt worden. Die nächstliegenden Schwierigkeiten und Vorurteile dürfen zwar als erledigt gelten: viele anscheinende »Paradoxien des Unendlichen« sind nur so lange paradox, wie man an der unberechtigten Forderung festhält, daß für endliche und für unendliche Mengen unterschiedslos die selben Gesetze gelten sollen. Die naturgemäßen Abweichungen zwischen beiden Gebieten bedingen keinen Widerspruch innerhalb des Unendlichen. Dagegen ist eine wirkliche Paradoxie noch nicht befriedigend aufgeklärt, auf die der naive Mengenbegriff, mit seiner Zusammenfassung beliebig vieler Elemente zu einer Menge, letzten Endes hinausführt. In einer typischen Form, die allerdings noch der mathematischen Be-
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Spielrume des Denkens – Felix Hausdorff und Paul Mongr
stimmtheit entbehrt, lautet dieses Paradoxon folgendermaßen: wenn es zu jeder Menge von Dingen noch ein weiteres, von ihnen allen verschiedenes Ding gibt, so ist die Gesamtheit aller Dinge offenbar selbst keine Menge. Ein solches System von Dingen, das nicht als Menge aufgefaßt werden kann, bilden, wie wir sehen werden, die (endlichen und unendlichen) Kardinalzahlen oder auch die Ordnungszahlen. Den hiernach notwendigen Versuch, den Prozeß der uferlosen Mengenbildung durch geeignete Forderungen einzuschränken, hat E. Zermelo unternommen. Da indessen diese äußerst scharfsinnigen Untersuchungen noch nicht als abgeschlossen gelten können und da eine Einführung des Anfängers in die Mengenlehre auf diesem Wege mit großen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte, so wollen wir hier den naiven Mengenbegriff zulassen, dabei aber tatsächlich die Beschränkungen innehalten, die den Weg zu jenem Paradoxon abschneiden. Wir fassen also irgendwelche Dinge a, b, …, endlich oder unendlich viele, zu einer Menge A zusammen; diese Dinge heißen die Elemente der Menge A. Wir sagen auch, a gehört zu A, a liegt in A, a ist in A enthalten, oder A hat das Element a, A enthält a. Von der Beschaffenheit dieser Elemente sieht die reine Mengenlehre gänzlich ab; indessen empfehlen wir dem Leser, sich nach Möglichkeit mathematische Objekte (Punkte, Figuren, Zahlen, Funktionen u. dgl.) darunter vorzustellen. 1 Tiefste Stille Welches neues Schweigen wuchs um dich, Fromme lust’ge Schwärmerin, O meine Seele? Wie verrollter Donner Erinnerung Liegt’s in der Luft; so überschweigt dein Jetzt Alle stillsten Stunden deines Lebens. Ist das der Tod? Deines Tages Abend? Oder lösten überräumliche Hände Dich Perle von der Schnur des Werdens, – Träumtest du dich wieder hinaus Aus der Zeit in die Überzeit? Denn solches ist unsere Weisheit, Die aus blauen Himmeln In Abgrundherzen regnet, Des Augenblicks verratnes Geheimnis: Daß er viele Zeiten Augenblick ist,
1 Felix Hausdorff, Grundzüge der Mengenlehre, Leipzig 1914, S. 1 f. Auch in ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin u. a. 2002, S. 101 f. Im folgenden werden Hausdorffs Gesammelte Werke kurz zitiert als Hausdorff, Werke.
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Spielrume des Denkens – Felix Hausdorff und Paul Mongr
Abbildung 1: Der junge Felix Hausdorff.
Vieler Nebenwelten Mündung in diese Welt, Vieler Möglichkeiten in die Wirklichkeit. So lernten wir leben, Du, meine Seele, und ich, Aus der Welt hinaus leben, ohne zu sterben; Des Tages Straße wandernd In Traumesbrunnen fallen, An Bergwänden schwebend Gute reife Dinge pflücken, Zwischen Blumenblättern gefangen In Überräume den Flug entfalten. Dieser seligen Augenblicke, Da viele Welten zusammenstrahlen, Dieser Welt-Mitten und Zeiten-Kreuzwege
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Spielrume des Denkens – Felix Hausdorff und Paul Mongr
Gedenkend, O meine Seele, Wardst du stille und überstill […] 2
Der erste der beiden Texte leitet das Hauptwerk des Mathematikers Felix Hausdorff ein, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs erschienenen Grundzüge der Mengenlehre; das andere erschien 1900 in einem Gedichtband des Schriftstellers Paul Mongré mit dem Titel Ekstasen. Der mathematische Text beschäftigt sich mit den abstrakten Möglichkeiten und bizarren Konstruktionen der noch jungen Theorie von Mengen verschiedener Unendlichkeitsstufen, die Georg Cantor zwischen den 1870er und 1890er Jahren angestoßen hatte; das Gedicht nähert sich der Stille des Augenblicks eines Bewusstseins, in dem sich die Möglichkeiten vieler erlebter Zeitverläufe, vieler Weisen der Raumerfüllung kreuzen, berühren und vielleicht wieder trennen. Der Name Hausdorff ist heute den meisten Mathematikstudenten und vielen Philosophen, die sich für die Grundlagen der Wissenschaften interessieren, wohl bekannt. Seine Grundzüge der Mengenlehre und einige der darin skizzierten Begriffe wie der des topologischen Raumes gelten zu Recht als bahnbrechende Leistungen, als entscheidende Schritte auf dem Weg zur Durchsetzung der Vorstellung, dass die Theorie der unendlichen Mengen als Fundament der gesamten Mathematik und zugleich als feines Instrument vieler moderner Zweige mathematischer Forschung angesehen werden kann. Der Schriftsteller Paul Mongré dagegen – und ebenso der Erkenntniskritiker Mongré, der noch nicht zur Sprache kam – mag zwar vielen Mathematikern anekdotisch geläufig sein, sein literarisches Werk jedoch ist den allermeisten ebenso unbekannt wie Teilen der heutigen germanistischen Literaturwissenschaft und der Philosophiegeschichte. Das war nicht immer so. Um 1900 und bis in die frühen 1930er Jahre war die Lage nahezu umgekehrt. Paul Mongré war in der literarischen Moderne präsent – als in den Spuren Nietzsches schreibender Aphoristiker, als Verfasser eines Theaterstückes, das in etlichen deutschsprachigen Städten aufgeführt wurde und von Autoren wie Frank Wedekind ernst genommen wurde, als Lyriker und als regelmäßiger Essayist in der Neuen Deutschen Rundschau, der führenden deutschsprachigen Literaturzeitschrift. Der Mathematiker Hausdorff dagegen war um 1900 nur einem kleinen Kreis von Kollegen bekannt. 2 Auszug aus dem Gedicht Tiefste Stille, Paul Mongré, Ekstasen, Leipzig, 1900. Erscheint auch in Hausdorff, Werke, Bd. 8.
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Um 1930 war er zwar in der mathematischen Profession wohlbekannt, aber kaum darüber hinaus. Ein weit verbreitetes »Handbuch des jüdischen Wissens«, das zuletzt 1936 in dritter Auflage erschienene PhiloLexikon, kennt zwar Paul Mongré als Schriftsteller und als Philosophen – der »Nietzscheschen Richtung« zugerechnet – und es nennt auch den bürgerlichen Namen Mongrés, Felix Hausdorff. Aber unter den ebenfalls aufgezählten jüdischen Mathematikern – von denen es ja zahlreiche gab – taucht Hausdorff nicht auf. Es ist leicht zu sagen, was diese Verschiebung im kulturellen Gedächtnis bewirkt hat. Im Nationalsozialismus wurde die Erinnerung an den jüdischen Schriftsteller Mongré getilgt. Der 1868 geborene Hausdorff selbst nahm sich am 26. Januar 1942 zusammen mit seiner Frau Lotte (geb. Goldschmidt) und deren Schwester das Leben, als die Verhaftung durch die Gestapo und die Internierung in Bonn-Endenich unmittelbar bevorstand; der Abtransport in ein Konzentrationslager hätte nicht lange auf sich warten lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Werk des Mathematikers Hausdorff jedoch längst internationale Anerkennung gefunden. Es wurde durch die Emigration europäischer Mathematiker weiter verbreitet und konnte durch die Nazis nicht mehr getilgt werden. Ich möchte hier vor allem jene Seiten Hausdorffs wieder zur Sprache bringen, die von der deutschen Geschichte bedroht waren, also den Menschen Hausdorff und den Schriftsteller Mongré. Ich kann dies vor allem deshalb tun, weil seit knapp 10 Jahren ein interdisziplinäres Editorenteam die Herausgabe der Gesammelten Werke Hausdorffs vorbereitet. Die von Egbert Brieskorn initiierte Edition wird das mathematische, philosophische und literarische Werk umfassen und durch viele Stücke aus dem fast 26000 Blatt umfassenden Nachlass ergänzt. Erschienen sind bislang fünf von acht Bänden. Vieles, was Sie im Folgenden erfahren werden, verdankt sich der gemeinsamen Arbeit an dieser Edition. Zu entdecken – wiederzuerinnern – gibt es dabei einiges, und es wird mir nicht möglich sein, hier alles auch nur anzudeuten. Insbesondere lasse ich den größten Teil des literarischen Werkes unerwähnt. Eingehen möchte ich dagegen auf die nietzscheanisch inspirierte Erkenntniskritik Paul Mongrés, die manches von dem vorwegnahm, was später im sogenannten Wiener Kreis verhandelt wurde. Ich möche dabei versuchen, deutlich zu machen, wie der Schriftsteller Mongré und 239 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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der Mathematiker Hausdorff miteinander verbunden waren. Ich werde das vor allem an einem Thema tun, das Hausdorff in beiden Rollen lange beschäftigt hat, das der Zeit bzw. der Ordnung der Zeit. Andere Themen, die in dem Gedicht, das Sie eben gelesen haben, angeklungen sind, werden ebenfalls eine Rolle spielen – so das Problem des erfahrenen und des mathematischen Raumes, oder das der erlebten und gedachten Vielfalt sowie der mathematischen Mengen. 3
Die Bildung zweier Autoren Felix Hausdorff wurde am 8. November 1868 in Breslau geboren, als Sohn des jüdischen Textilkaufmanns Louis Hausdorff und seiner Frau Hedwig, geb. Tietz. Als Felix drei Jahre alt war, wechselte die Familie nach Leipzig, wo der Vater Louis ein angesehenes, die orthodoxen Laien vertretendes Mitglied der jüdischen Gemeinde wurde. Ob der junge Hausdorff selbst traditionell erzogen wurde, wissen wir nicht. Der damalige Rabbi der florierenden jüdischen Gemeinde, Abraham Meyer Goldschmidt, war jedenfalls stärker durch die Tradition der jüdischen Aufklärung als durch die Orthodoxie geprägt. Seine Frau Henriette Goldschmidt leitete zusammen mit Louise Otto-Peters und anderen den Allgemeinen Deutschen Frauenverein seit dessen Gründung im Jahr 1865. Hausdorffs spätere Frau war eine der Enkelinnen der Goldschmidts. Es ist auch gut möglich, dass Hausdorff bereits während seiner Schulzeit auf dem angesehenen humanistischen Nicolai-Gymnasium die traditionellen Ansichten seines Vaters ablegte. Dort jedenfalls begegnete er jener klassischen deutschsprachigen Bildung, die für ihn zur wertvollen Ressource wurde. Im Jahr 1887 nahm Hausdorff sein Studium an der Leipziger Universität auf. Es handelte sich um eine der lebendigsten deutschsprachigen Universitäten der Zeit. In Preußen besaß lediglich Berlin eine noch Der vorliegende Text stützt sich in den interpretierenden Teilen auf zwei frühere Arbeiten: Moritz Epple, »Felix Hausdorff’s Considered Empiricism«, José Ferreiros & Jeremy J. Gray (Hg.), The Architecture of Modern Mathematics. Essays in History and Philosophy, Oxford, 2006, S. 263–289; ders., An Unusual Career between Cultural and Mathematical Modernism. Felix Hausdorff, 1868–1942, Ulrich Charpa & Ute Deichmann (Hg.), Jews and Sciences in German Contexts. Case Studies from the 19th and 20th Centuries, Tübingen, 2007, S. 77–99. Biographische Informationen verdanke ich ferner einer Vorlesung von Egbert Brieskorn an der Universität Bonn 2000/2001.
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größere Anziehungskraft. Vor allem die Mathematik und die Naturwissenschaften waren in Leipzig stark, und es ist wohlbekannt, dass Leipzig einer der wenigen deutschsprachigen Orte war, an denen damals eine empiristisch-naturwissenschaftliche Orientierung auch unter Philosophen Aufmerksamkeit fand. Zwei Jahre bevor Hausdorff seine Studien aufnahm, hatte Felix Klein Leipzig zugunsten von München verlassen; sein Nachfolger war der norwegische Mathematiker Sophus Lie, dessen mathematisches Spezialgebiet – die Theorie der Transformationsgruppen – in einem breiten Feld physikalische Anwendungen fand. Hausdorff, der sich mit Lies Assistenten Friedrich Engel befreundete, dachte offenbar darüber nach, bei Lie zu arbeiten; er entschied sich jedoch – vielleicht auch wegen Lies schwieriger Persönlichkeit – schließlich für eine Promotion und Habilitation bei dem Leipziger Astronomen Heinrich Bruns. Bruns war seit 1882 Direktor der Sternwarte und ein an mathematischen Methoden hochinteressierter Astronom. Thema sowohl der Hausdorffschen Dissertation wie der Habilitation war die geometrische Optik der Atmosphäre. Die Brechung von Lichtstrahlen in der Atmosphäre zu verstehen war notwendig, wollte man astronomische Beobachtungen auf der Erdoberfläche in präzise Positionsdaten am Sternhimmel umrechnen. Bruns’ und Hausdorffs Arbeiten auf diesem Gebiet blieben jedoch in den Grenzen des damaligen Wissensstands der Astronomie; sie wurden nur wenig später durch die Erhebung luftfahrtgestützter atmosphärischer Daten und den Beginn der Radioastronomie weitgehend überflüssig. Hausdorffs Anfänge als Mathematiker blieben mithin nicht ohne Brechung. Dazu kam der verbreitete akademische Antisemitismus dieser Zeit. Als Heinrich Bruns im Jahr 1897 ein kurzes Gutachten an Felix Klein schrieb, der mittlerweile in Göttingen war und dort ein Extraordinariat für Astronomie zu besetzen hatte, beschrieb er Hausdorffs Vorlesungstätigkeit als Privatdozent so: »Er hat seinen regelrechten Anteil an den rein mathematischen Vorlesungen, ausserdem haben wir ihm die theoretischen Vorlesungen über Versicherungswesen zugewiesen. Für die letztgenannte Aufgabe kommen ihm unzweifelhaft die specifischen Anlagen seiner Rasse (ungetauft) zu statten.« 4 Berufen wurde in Göttingen der theoretische Astronom Martin Brendel. 4
Heinrich Bruns an Felix Klein, 7. Juli 1897. Zit. n. Birgit Bergmann & Moritz Epple
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Um zu verstehen, wie aus diesen mathematisch durchaus nicht gradlinigen Anfängen der vielleicht erfolgreichste Mengentheoretiker der Weimarer Zeit werden konnte, müssen wir uns seinen anderen akademischen Aktivitäten zuwenden. Ganz offensichtlich war Hausdorff in seinen Universitätsjahren von mehr und von anderem fasziniert als nur von der Mathematik. Er hörte Vorlesungen in Physik, Kriminologie, Geschichte (darunter ein Kurs über die Geschichte des Sozialismus, den der jüdische Historiker Adolf Warschauer hielt) und Philosophie. Während eines Semesters, das Hausdorff 1888/1889 in Berlin verbrachte, machte ein Seminar Friedrich Paulsens über Kant großen Eindruck auf ihn, und ähnliches gilt, wie seine Schriften zeigen, für das Werk des – ebenfalls jüdischen – Neukantianers Otto Liebmann, mit dessen Sohn Heinrich Hausdorff während ihrer gemeinsamen mathematischen Privatdozentenzeit eine Freundschaft verband. Noch mehr als diese Studien könnte allerdings die Verbindung zu einer Gruppe wichtig gewesen sein, die in Leipzig ein Forum für modernistische Tendenzen in Wissenschaft, Literatur, Musik und Künsten war: der 1866/1867 von einigen der Leipziger Empiristen (u. a. Richard Avenarius, Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Wundt) gegründete Akademisch-Philosophische Verein. Dort traf man sich regelmäßig, um über Themen wie den Darwinismus, die gerade aufblühende Psychologie, Schopenhauer und Nietzsche, den Marxismus, die Emanzipation der Frauen, Wagners Musik und zeitgenössisches Theater und Literatur zu debattieren. In den 1890ern scheint es ein lebhaftes Vereinsleben gegeben zu haben, Nächte wurden durchzecht, und führende Vereinsaktivisten führten ein Leben der Bohème. Es scheint, dass Hausdorff sich dort durchaus wohlfühlte. Wahrscheinlich wurde der Schriftsteller Paul Mongré in diesen Kreisen geboren. Dort jedenfalls begegnete Hausdorff dem Nietzscheschen Denken und der symbolistischen Literatur, also jenen Strömungen, denen seine ersten literarischen Schriften am meisten verdankten. So begegnete er unter anderen auch Otto Erich Hartleben, einem Schriftsteller der Bohème, entschiedenen Erotizisten und satirischen Kritiker von Gesellschaft und Moral. Nachdem 1886 eine erste deutsche Übersetzung der symbolistischen Lyrik Albert Girauds unter dem Titel (Hg.), Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur, Heidelberg, 2008, S. 190.
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Spielrume des Denkens – Felix Hausdorff und Paul Mongr
Pierrot Lunaire erschienen war, machten sich sowohl Hausdorff als auch Hartleben an eigene Nachdichtungen. Diejenigen Hartlebens waren erfolgreicher – Arnold Schönberg sollte sie als Textbasis seines Pierrot Lunaire (op. 21) wählen. Hartleben widmete seine Nachdichtungen einzelnen Leipziger Freunden – darunter findet sich auch eine Widmung an Hausdorff, und eine an den Sprachkritiker Fritz Mauthner, mit dem Hausdorff sich später auseinandersetzte. Zwei Jahre nach seiner Habilitation und ein Jahr nach dem Tod seines Vaters hatte Paul Mongré seinen ersten literarischen Auftritt. Sein erstes Buch trug den offen auf Nietzsche anspielenden Titel St. Ilario: Gedanken aus der Landschaft Zarathustras; es erschien 1897 im Verlag C. G. Naumann, in dem auch Schriften Nietzsches gedruckt wurden. Das gewählte Pseudonym trug ebenfalls nietzscheanische Konnotationen, die französische Wendung à mon gré, nach meinem Geschmack, betonte die ästhetizistische, individualistische Orientierung des Autors. Hausdorff war bereits früher in Kontakt mit dem von Elisabeth Förster-Nietzsche geleiteten Nietzsche-Archiv in Weimar getreten, und er war mit dem 1895 gestorbenen Kurt Lauterbach befreundet, der als Übersetzer Nietzsches und Herausgeber von Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum bekannt geworden war. Hausdorff zählte so zu jenen jungen jüdischen Intellektuellen, die Nietzsches Freidenken attraktiv fanden – bevor sich im 20. Jh. antisemitische Lesarten Nietzsches verbreiteten. 5 Hausdorff/Mongré war freilich kein distanzloser Nachahmer Nietzsches; er stellte sich neben ihn, nicht hinter ihn, wie der zuständige Herausgeber der Hausdorff-Edition Werner Stegmaier es formuliert hat. Diese Eigenständigkeit tritt nicht zuletzt im letzten Abschnitt der Aphorismensammlung heraus, der unter dem Titel Zur Kritik des Erkennens steht. Die dort versammelten Aphorismen führen das erkenntnistheoretische Grundmotiv ein, das Hausdorff die folgenden Jahre beschäftigen würde und ihn schließlich auch zur mathematischen Theorie der Mengen führte. Ich sah Ameisen auf pfadlosem Waldboden, den jahrelang kein Mensch betrat. Die »Weltanschauung« dieser Thiere mag in der Anpassung an die Umwelt noch so fein, in der Sammlung älterer Erfahrungen noch so umfassend sein, sie mag den Besonderheiten der näheren und ferneren Umgebung, den 5 Vgl. Werner Stegmaier & Daniel Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin, 1997.
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Spielrume des Denkens – Felix Hausdorff und Paul Mongr
klimatischen Schwankungen in Tag und Jahr, allen normalen Vorfällen des einzelnen und socialen Ameisenlebens gerecht werden, – die Erscheinung des Menschen, so selten, so unberechenbar, wird sicherlich aus diesem Rahmen heraustreten und den Eindruck einer Discontinuität, einer irrationalen, übernatürlichen Durchbrechung aller Gesetzte hinterlassen. – Was aber hindert uns, den Menschen und seine Welt auch in solch einem einsamen Winkel des Alls gelegen anzunehmen, den aller Jahrmyriaden irgend ein gewaltsam tappender Tölpel von Gott betritt? Mit anderen Worten: ist unsere »Weltanschauung«, die nicht an plötzliche Eingriffe in den gesetzlichen Gang der Begebenheiten glauben will, nicht vielleicht eine Local- und Intermezzo-Philosophie, gewachsen in der ruhigen Zwischenzeit zwischen zwei solchen Eingriffen? Also nur ein Bewusstsein von Gestern und Heute, vielleicht schon nicht mehr von Morgen, die wissenschaftlich ausgedrückte Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit unseres Ameisenhaufens, der sich vom letzten Fusstritt bis zum Vergessen erholt hat und nicht ahnt, wie fern oder nah ihm der nächste ist? 6
Der Aphorismus deutet an, in welche Richtung Mongré seine Erkenntniskritik führen wollte. Das Erkennen der Ameisen mag ganz anders sein als das unsere; beide Weltperspektiven sind wenig mehr als eine »Local- und Intermezzophilosophie«, entstanden aus der Anpassung einer tierischen Spezies an ihre Umwelt. Solche Gedankenfiguren hatten bereits andere zeitgenössische Autoren bewegt, nicht zuletzt auch Nietzsche. Sie hatten ihren wissenschaftshistorischen Hintergrund zum einen in physiologischen und wahrnemungstheoretischen Untersuchungen des mittleren 19. Jahrhunderts, zum anderen in Darwins Theorie der Evolution der natürlichen Spezies. Mongré radikalisierte das Motiv im Folgenden: Nicht nur jede Spezies, sondern jedes einzelne Bewusstsein, so führte er aus, entwickelt seine individualle Weltperspektive. Wir selbst sind es, die aus einer möglicherweise chaotischen Welt einen geordneten Kosmos machen, »auslesen«, wie Mongré schreibt. Chaos und Kosmos – das sind die beiden Ausdrücke, um die Mongrés Aphorismen kreisen. Der von uns als geordnet erfahrene Kosmos erlaubt keine Rückschlüsse auf die Welt »an sich«, die – wie Mongré in Rückgriff auf ein Schlüsselmotiv Kants argumentiert – für uns unerkennbar, strukturlos, eben ein Chaos bleiben muss. Mongré erläutert die so skizzierte Konfiguration durch eine musikalische Metapher. Paul Mongré, Sant’Ilario. Gedanken aus der Landschaft Zarathustra, Leipzig, 1897, Aphorismus 402, S. 342. Auch in Hausdorff, Werke, Bd. 7, Berlin 2004, S. 436.
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Spielrume des Denkens – Felix Hausdorff und Paul Mongr
Der naive Realismus, der den scheinbaren, empirischen Weltverlauf für eine unmittelbar getreue Abbildung des wirklichen, transcendenten hält – was für eine ungeheure Zumuthung stellt er eigentlich an die Weisheit und Harmonie dieses transcendenten Verlaufs! Man versuche im Ernst, die Complikation und wunderbar verzweigte Structur unseres Kosmos nachzudenken, im Kleinen und Grossen, im Ganzen und Einzelnen, von den Vorgängen in der Infusorienwelt eines Wassertropfens bis hinauf zu den Kreisläufen der Sonnen- und Milchstrassensysteme. Mit welch umfassendem und gegliedertem Inhalt ist eine einzige Secunde empirischen Geschehens erfüllt: in dieser Secunde beschreibt die Sonne ein Stück ihrer Bahn im Astralgebäude, die Erde und sämmtliche Planeten ein Stück ihrer Bahnen um die Sonne, Monde, Kometen und unzählige Meteorsplitter ebenfalls ihre vorgeschriebenen Wegfragmente, sammt und sonders unter Innehaltung bestimmter Gesetze und Eins auf das Andere Rücksicht nehmend und Fernkraft ausübend. In dieser selben Secunde fällt auf Erden jeder Regentropfen, wie er fallen soll, wächst jede Blume um ein Bestimmtes, vollzieht jedes Insect nothwendige und determinirte Bewegungen, tauchen in jedem Menschengehirn Vorstellungen auf, die das genaue Resultat von Vergangenheit und Umgebung sind – und dieser ganze vieltönige vielfarbige vielgestaltige Mechanismus soll sich in Wirklichkeit so abspielen, mit minutiöser Beachtung aller der Millionen Nothwendigkeiten und »Naturgesetze«, die hier bunt durcheinander commandiren? Welch eine Virtuosität, welch ein Aufmerken, Blicken, Lenken wird da nach allen Seiten vorausgesetzt, welch ein Seiltanz wäre nöthig, um hier nicht zu fallen! welch ein Dirigent müsste dies unendlich vielstimmige Orchester zusammenhalten! Und schließlich mündet der naive Realismus nie weit von dem Ziel, eben den Dirigenten zu beweisen, den Gott hinter der Natur zu beweisen; er ist das physico-theologische Argument oder die Vorbereitung dazu. Dagegen lehrt der Idealismus, dass der zweckmässige, causale, reichorganisirte Verlauf der empirischen Wirklichkeit gar nichts über den transcendenten besagt, dass ein »an sich« willkürliches Geschehen ausreicht, uns als subjectiven Effekt ein determinirtes Geschehen zu garantiren, dass auch der vollkommenste Kosmos nur als Durchsiebungsproduct aus dem wüstesten Chaos hervorgeht. Das Orchester also bedarf keines Dirigenten, es bedarf nicht einmal der Noten oder reingestimmter Instrumente, es kann ungeleitet, disharmonisch durcheinander toben: wir, die Hörer, haben jene wunderbare Vorrichtung in den Ohren, vermöge deren wir stets eine rhytmisch klare, rein harmonisirte Melodie vernehmen. Wie das? wir hören überhaupt nur, wenn jene kosmische Ausnahme-Musik ertönt, alle übrige Zeit sind wir nicht allein taub, sondern existenzlos. Sobald wir nun uns selbst als existirend vorfinden – und wann könnten wir uns existenzlos antreffen? – finden wir mit uns auch den Kosmos vor, der unsere Existenzbedingung ist: d. h. wir glauben uns beständig von Kosmos, nie von Chaos umgeben. 7 7
Mongré, Sant’Ilario, Aphorismus 408. Auch in Haudorff, Werke, Bd. 7, S. 449–451.
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Spielrume des Denkens – Felix Hausdorff und Paul Mongr
Auch aus dem wildesten Zufallsspiel eines unkoordinierten Orchesters könnte mein Bewusstsein, das nur in seiner eigenen Zeit wahrnimmt, aktiv ist, eine geordnete Musik heraushören. Der Kern der Metapher ist ein Spiel mit der Zeit, genauer: mit zwei Zeiten. Mit der Reihe der Augenblicke meines Hörens, und mit jener »transzendenten Zeit«, in der das Weltorchester spielen mag, die mir jedoch ganz unzugänglich ist.
Mathematik als Selbstkritik der Wissenschaft Wo war in dieser radikal individualistischen Figur Platz für den Mathematiker Hausdorff, wo war in Mongrés Kosmos Platz für die Mathematik? Zwei Antworten hierauf sind möglich. Zunächst ist für den Autor des St. Ilario auch die Wissenschaft eine menschliche Leistung und in letzter Instanz stets das Werk eines Individuums, eine schöpferische Leistung, die ebenso beurteilt werden kann wie ein Kunstwerk oder ein Gedicht. Zum anderen aber, und dies war vielleicht das wichtigere Motiv, konnte die Mathematik als Instrument der Kritik an einer falsch verstandenen Wissenschaft dienen. »Uns fehlt eine Selbstkritik der Wissenschaft«, schrieb Mongré, »Urteile der Kunst, der Religion, des Gefühls über die Wissenschaft sind so zahlreich wie unnütz. Vielleicht ist dies die letzte Bestimmung der Mathematik.« 8 Wie war dies gemeint? Die Antwort auf diese Frage mag Hausdorff selbst noch nicht ganz klar gewesen sein. Man kann seine erkenntniskritischen Überlegungen der folgenden Jahre als schrittweise Präzisierung und Radikalisierung einer Anwort lesen, eine Präzisierung, die ihn als Mathematiker in die Theorie der unendlichen Mengen führen würde. Der Ansatz war jedoch schon 1897 klar: Wo immer eine Vorstellung – sei sie wissenschaftlich, sei sie philosophisch – glaubte, einen Aspekt der Welt in einen festen Begriff zwängen zu können, konnte die mathematische Analyse darauf hinweisen, dass es Alternativen gab. Am deutlichsten führte Mongré dies im St. Ilario an der zeitlichen Ordnung vor, und zwar zunächst an einem viel diskutierten Gedanken Nietzsches, dem der ewigen Wiederkehr. Ein zyklischer Verlauf der Zeit, so Mongré, mochte empirisch möglich sein, aber dies war bei weitem nicht die einzige Möglichkeit 8
Mongré, Sant’Ilario, Aphorismus 401. Auch in Haudorff, Werke, Bd. 7, S. 436.
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und es wäre daher ein grober Irrtum zu glauben, dass eine metaphysische Aussage zugunsten eines zyklischen Zeitverlaufs – d. h. eine Aussage über eine absolute Struktur der transzendenten Zeitordnung – irgendeinen Sinn hatte. Kurz zuvor waren die Fragmente in Nietzsches Nachlass bekannt geworden, die darauf hindeuteten, dass Nietzsche an einen quasi-naturwissenschaftlichen Beweis dieser Aussage glaubte. Mongré nahm diesen in seinen Aphorismen genüsslich mit mathematischen Argumenten auseinander – so glaubte er. Schaut man jedoch genauer hin, so zeigt sich, dass er selbst 1897 noch höchst fragwürdig argumentierte. Das zentrale mathematische Werkzeug zur Kritik von naiven Aussagen über Zeit und Raum, die in den 1880ern entstandene Mengenlehre Georg Cantors, mit deren Hilfe unendliche und kontinuierliche Mengen mathematisch genauer beschrieben werden konnten, kannte er noch nicht. Ein Jahr später, in der zweiten Schrift Mongrés dagegen spielte dieses Werkzeug eine zentrale Rolle. Das 1898 wiederum bei C. G. Naumann gedruckte Buch Das Chaos in kosmischer Auslese griff die erkenntniskritischen Motive der Aphorismen auf und verdichtete sie zu einem Generalangriff auf die Schulphilosophie der Zeit, namentlich auf alle metaphysischen Theorien von Zeit, Raum und Wirklichkeit, wie sie in Deutschland im späten 19. Jahrhundert in verschiedenen Varianten wieder auflebten (auch innerhalb der dominierenden Richtung des Neukantianismus). Verfolgen wir Mongrés Argument wieder an der Vorstellung der Zeit. Mongré griff erneut die Vorstellung der zwei Zeiten auf, die Zeit des erfüllten, von einem individuellen Bewusstsein empirisch wahrgenommenen Geschehens, und jene eines unabhängig von aller Erfahrung bestehenden transzendenten Weltlaufs. Um das Verhältnis zwischen beiden deutlich zu machen, bediente Mongré sich nun des Cantorschen Mengenbegriffs. Beide Zeiten konnten als Mengen gedeutet werden, die durch eine je eigene Relation des früher und später geordnet sind. Die Beziehung zwischen beiden beschrieb Mongré dann als eine Abbildung von einer Zeit in die andere, von der transzendenten Zeit in die empirische (oder umgekehrt). Mongré nannte dies eine »Bewegung des Gegenwartpunktes« eines Bewusstseins; der Gegenwartpunkt bewegt sich durch die erlebte Zeit, während die Zeit, in der sich diese Bewegung abspielt, die absolute Zeit ist. Seine grundlegende These ist, dass wir über diese Bewegung schlechterdings nichts aussagen können. 247 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Die zeitliche Succession Die Bewegung des Gegenwartpunktes auf der Zeitlinie erzeugt für uns den Abfluss der empirischen Zeit: was lässt sich daraufhin über diese Bewegung aussagen? Der naive Realist würde sich nichts anderes vorstellen können, als dass der Punkt die Zeitlinie in immer derselben Richtung mit constanter Geschwindigkeit durchschritte; das wäre die unmittelbare Übersetzung unserer gewöhnlichen Meinung vom gleichförmigen Zeitflusse ins Transcendente. Hieran ist, soviel mir bekannt, nur die eine Verallgemeinerung angebracht worden, dass man eine veränderliche Geschwindigkeit des Fortschreitens zuliess. In der That ist ja unser Zeitmass so relativ wie das Raummass; wenn das Spiel der Weltvorgänge sich plötzlich hundertfach beschleunigte oder verlangsamte, so würde dieser transcendente Tempowechsel unserer Wahrnehmung völlig entgehen, da neben den messbaren Zeitlängen auch auch die messende Zeiteinheit an der allgemeinen Veränderung theilnimmt. Von hier wäre für den Mathematiker, der sofort von der beliebigen Geschwindigkeit auf den beliebigen Ort, vom willkürlichen Differentialquotienten auf die willkürliche Function schliesst, nur ein Schritt zu dem von uns aufzustellenden Theorem; aber selbst bei rein begrifflichen Versuchen, einen Zusammenhang zwischen empirischen und transcendenten Zeitbestimmungen zu fixiren, gleiten die beiden Sphären so völlig beziehungslos von einander ab, dass wir hypothetisch den folgenden Fundamentalsatz wagen dürfen: Der Gegenwartpunkt bewegt sich auf der Zeitlinie in ganz beliebiger, stetiger oder unstetiger Weise. Die transcendente Succession der Weltzustände ist willkürlich und fällt nicht in unser Bewusstsein. Ein beweglicher Punkt kann zu einer festen Linie während einer endlichen Zeitstrecke verschiedene Arten des Verhaltens zeigen: er kann sich ausserhalb der Linie befinden, kann einen ihrer Punkte momentan passiren, kann in einem ihrer Punkte ruhen, kann endlich irgend ein begrenztes Stück der Linie in der einen oder der entgegengesetzten Richtung durchschreiten. Aus diesen Elementarvorgängen ist also die Bewegungen des Gegenwartspunktes auf der Zeitlinie in beliebiger Weise zusammensetzbar; ein etwaiger transcendenter Weltzuschauer, der die absolute Zeit zur Daseinsform hätte, würde das Gewebe simultaner Veränderungen, das unsere empirische Welt ausmacht, in ganz willkürlicher Anordnung durchleben, in beliebiger Reihenfolge, beliebiger Richtung, beliebiger Geschwindigkeit, mit beliebigen Unterbrechungen, Ruhepunkten, Wiederholungen, Sprüngen, Umkehrungen – ohne dass für unser Bewusstsein der bekannte, uns geläufige fluxus temporis gestört würde. 9
Paul Mongré, Das Chaos in kosmischer Auslese. Ein erkenntnisskritischer Versuch, Leipzig, 1898, Beginn des zweiten Kapitels, S. 15 f. Auch in Hausdorff, Werke, Bd. 7, S. 609 f. (Hervorh. i. Orig.).
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Das Buch entfaltete zwei Strategien, um diesen Gedanken auszuführen. Die eine war ein knappes, prinzipielles Argument zum »Beweis des Fundamentalsatzes«, das ich hier überspringe; die andere erläuterte durch eine immer radikalere Variation der »Bewegung des Gegenwartspunktes« die schrittweise Auflösung jeglicher metaphysischer Zeitvorstellung. Mein Gegenwartspunkt könnte sich – transzendent gesehen – rückwärts bewegen, er könnte Intervalle des Weltgeschehens überspringen (erinnern Sie sich an das rasende Orchester), usw. Dabei bediente Mongré sich nun auch ausführlich der Ideen der Theorie der Punktmengen und ihrer Abbildungen – wie auch aus dem handschriftlichen Nachlass hervorgeht, hatte er nun Cantors Theorie ausführlich rezipiert. Durch die Auflösung der Vorstellung einer transzendenten Zeitordnung sollte nicht nur der naive Realismus der falsch, nämlich metaphysisch verstandenen Naturwissenschaft getroffen werden, sondern auch alle philosophischen, ethischen und religiösen Systeme, die von einer absoluten Zeitordnung ausgehen. Das christliche Konzept der zukünftigen Erlösung wird ebenso getroffen (denn was ist Zukunft, was Vergangenheit?) wie die Prinzipien einer utilitaristischen oder auf gegenwärtiges Glück abzielenden Moral. Man denke sich die Welt mit lauter glückseligen Wesen bevölkert; nur einmal in grauer Vorzeit, etwa vor zehn oder zwanzig Jahrtausenden, habe ein einziges Individuum einen qualvollen Tod erlitten oder sonstwie Ursache gehabt, das Nichtsein der Welt ihrem Dasein vorzuziehen. Die Stimme dieses einen Märtyrers wird nun überstimmt von Millionen Individuen, die ihrerseits das Dasein dem Nichtsein vorziehen, und der genealogische Metaphysiker, der den hedonistischen Massstab anlegt, würde einer solchen Welt das Prädicat nahezu vollendeter Vortrefflichkeit und Wünschbarkeit ertheilen; über den einen peinlichen Ausnahmefall würde er sich damit trösten, dass er ja wenigstens vorbei und damit glücklich überstanden ist. Hier aber liegt der Fehlschluss, die met€basi@ ¥i@ ˝llw gffno@, die Verwechselung zweier Realitätsklassen; die von jenem Genealogen absolut verstandene Voraussetzung, dass der Weltverlauf den Zeitpunkt des Martyriums bereits überschritten habe, ist nur empirisch zu verstehen und besagt nichts weiter, als dass es zu diesem Zeitpunkt ein inhaltliches Posterius gebe. Der fragliche Bestandtheil der Weltgeschichte erscheint, als Glied eines von uns ausgehenden regressus, fern und vergangen; er wird, sobald unsere Gegenwart transcendent gesetzt wird, von uns als graue Vorzeit gleichsam perspectivisch mitgesetzt, unabhängig davon, ob und wie ihn der transcendente Zeitverlauf selbst als Gegenwart setzt. »Jenes Martyrium ist längst vorüber« – das bedeutet nur eine aus
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inhaltlichen Beziehungen geschöpfte Localisation innerhalb der empirischen, nicht der absoluten Zeit, eine Distanzmessung auf der Zeitlinie, nicht aber eine definitive Vernichtung seiner unantastbaren existentia potentialis; auf unsere Gegenwart, in der vielleicht eben ein Keilschriftbericht vom Schicksale jenes Gefolterten ausgegraben wird, kann in der absoluten Zeit unmittelbar die Folterung selbst in identischer Wiederholung folgen. 10
Die Vermessenheit, aus meiner Erfahrung auf die absolute Zeitordnung zu schließen, zeigt sich schließlich darin, dass neben der von mir erlebten Zeitordnung unendlich viele weitere Bewegungen eines Gegenwartspunktes denkbar sind, dass meine Bewegung des Gegenwartspunktes nur eine von vielen ist, die nebeneinander herlaufen, oder sich auch einmal in einem Augenblick treffen, der »vieler Zeiten Augenblick« ist, »vieler Nebenwelten Mündung in diese Welt«: Fangen wir nun einmal umgekehrt an, indem wir den genannten Specialfall von dem Gegenwartpunkt auf den coordinirten Begriff Zeitlinie, vom Zeitablauf auf den Zeitinhalt übertragen. Mehr als ein Gegenwartpunkt, mehr als eine Zeitlinie! D. h. es braucht nicht nur das eine Continuum von Weltzuständen zu geben, in das wir hineinverflochten sind; neben ihm sind beliebig viele andere Welten beliebigen Inhalts denkbar, dargestellt durch Zeitlinien, auf denen Gegenwartpunkte ihr Spiel treiben. Also eine pluralité des mondes, die anzuerkennen uns obliegt, gerade weil wir uns nicht von ihr durch Erfahrung überzeugen können, sondern immer auf unsere Eine Zeitlinie angewiesen bleiben. […] Mit einer discreten Vielheit von Zeitlinien ist nun freilich nicht viel anzufangen. Um zu Stetigkeitsannahmen überzugehen, empfielt sich eine anschauliche Nachhülfe, die sich als Symbolik des Translinearen fast von selbst aufdrängt. Wenn man eine Linie zeichnet, braucht man ein Blatt Papier; um die Zeitlinie deutlich zu imaginiren, denkt man beinahe unwillkürlich eine Ebene oder einen Raum hinzu. Als wir die beliebige Bewegung des Gegenwartpunktes analysirten, besprachen wir auch den Fall, dass der Punkt sich nicht auf der Linie befände; fragen wir, wo ist er denn sonst? so verlegen wir ihn in gedanklicher Anschauung in irgend ein räumliches Ausserhalb, d. h. wir beziehen die Zeitlinie auf irgend eine übergeordnete Raummanigfaltigkeit, auf flächen- oder körperhafte Gebilde. Es hindert uns nichts, diese graphische Verdeutlichung mit Bewusstsein anzuwenden, wobei als Symbol eines mehrdimensionalen Zeitgebildes vorläufig die Ebene genügen wird. In dieser Ebene haben wir eine beliebige Anzahl beliebig gestalteter Curven zu zeichnen: das sind unsere Zeitlinien A, B, C, … Bei dieser Zwischenstufe wird
Mongré, Chaos, a. a. O. S. 42–43. Auch in Hausdorff, Werke, Bd. 7, S. 636–637 (Hervorh. i. Orig.).
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man sich aber hier, wo die gedankliche Lücke geradezu räumlich, als noch verfügbarer Flächeninhalt, sichtbar wird, nicht aufhalten wollen; alles drängt zum Grenzübergang, zu jener natürlicheren und allgemeineren Auffassung, dass jeder Punkt der Ebene einen Weltzustand, jedes lineare Gebilde einen Weltverlauf bedeutet. 11
So, wie durch die Möglichkeit einer Vielfalt von (mathematisch beschreibbaren) Beziehungen zwischen erfahrener und absoluter Zeit die Vorstellung einer transzendenten Zeitordnung sich auflöst, ergeht es auch der Vorstellung des Raumes. Auch die Idee einer schlechthin bestehenden Ordnung der vierdimensionalen Raumzeit (noch nicht relativistisch verstanden) erfordert nach Mongré ganz dieselbe Kritik wie die Zeit für sich. Auch hier sind beliebige Variationen der Beziehung zwischen erfahrener und transzendenter Ordnung denkbar, die Punkte unserer wahrgenommenen Raumzeit könnten wie eine bizarre Punktmenge in einer angenommenen transzendenten Raumzeit verstreut sein. Noch einmal dient Cantors Theorie als metaphorisches Werkzeug, das, wie Mongré schreibt, einem transzendenten Nihilismus zuarbeitet, einer vollständigen und unvermeidlichen Auflösung jeder Annahme, es gäbe eine von unseren Wahrnehmungen und Erfahrungen unabhängige, objektive Struktur der Welt. Neben der Mengenlehre gibt es eine zweite mathematische Theorie, die Hausdorff sich in den späten 1890ern aneignete, und die er in die Schriften Mongrés einfließen ließ, nämlich die neueste höhere Geometrie. Dass es neben dem traditionellen Euklidischen System der Geometrie inzwischen neue, nichteuklidische Geometrien gab, ja eine unendliche Vielfalt noch stärker abweichender differentialgeometrischer Systeme, wie sie sich in der Theorie der Riemannschen Mannigfaltigkeiten entwickelte, war ihm ein weiterer Beleg für die Unerkennbarkeit der Welt »an sich«. Von einschneidender Bedeutung für die weitere Entwicklung Hausdorffs war schließlich das Erscheinen der von David Hilbert verfassten kleinen Monographie zu den Grundlagen der Geometrie im Jahr 1899. Auch wenn das Verfahren einer formalen axiomatischen Analyse der geometrischen Grundbegriffe darin nicht mehr wirklich neu war (italienische Geometer waren Hilbert in dieser Hinsicht vorausgegangen), lernte Hausdorff es doch wie viele seiner Zeitgenossen erst durch Hilberts Schrift näher kennen. Er trat schon bald in einen 11
Mongré, Chaos, a. a. O., S. 152–153. Auch in Hausdorff, Werke, Bd. 7, S. 746 f.
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Briefwechsel mit Hilbert über die Details der Grundlagen. Gleichzeitig – und für uns interessanter – machte er sich das formale axiomatische Verfahren in seinen mathematischen Vorlesungen nach der Jahrhundertwende rasch zu eigen. Zu den Themen dieser Vorlesungen gehören – und damit ging Hausdorff deutlich über das frühere, zugewiesene Lehrprogramm in Leipzig hinaus – nun auch die Mengenlehre (1901, die erste deutschsprachige Vorlesung über dieses Gebiet überhaupt) und eine Vorlesung über Zeit und Raum im Wintersemester 1903/ 1904, in welcher Hausdorff nun eine formale axiomatische Analyse der Begriffe Zeit und Raum skizzierte. Die Themen Mongrés hatten damit Eingang in die mathematische Lehre Hausdorffs gefunden. 12 An dieser Stelle verzweigt sich die Bewegung des Gegenwartspunktes dieses Texts. In einer der Mongréschen Nebenwelten könnte ich nun den weiteren Weg des Mathematikers Hausdorff detailliert beschreiben, von den ersten Publikationen zur Theorie der geordneten Mengen über den Ruf auf die erste bezahlte Professur (1910, auf ein Extraordinariat in Bonn) und die erste ordentliche Professur (1913, in Greifswald), zu seiner bahnbrechenden Monographie Grundzüge der Mengenlehre von 1914 und seiner nicht weniger aufsehenerregenden Arbeit Dimension und äußeres Maß von 1919, in der Hausdorff einen Dimensionsbegriff skizzierte, demzufolge Punktmengen und Räume nicht nur 0, 1, 2, 3- oder höherdimensional sein konnten, sondern auch gebrochene, ja aus einem Kontinuum gewählte Dimension besitzen konnten. Dann könnte die Rückberufung nach Bonn im selben Jahr beschrieben werden und die folgende weltweite Anerkennung als führender Vertreter der immer weiter aufblühenden Forschung im Bereich der höheren Mengentheorie und ihren Anwendungen im Bereich der Analysis. Ebenfalls aufgreifen müsste ich auf diesem Weg die von Herbert Mehrtens gegebene Beschreibung Hausdorffs als eines entschiedenen Vertreters dessen, was Mehrtens die »mathematische Moderne« genannt hat. 13 – Statt diesen Weg zu gehen, will ich jedoch in den Jahren kurz nach 1900 verweilen und den Kreuzungspunkt von Mongré und Hausdorff noch etwas näher beleuchten. Beide Vorlesungsmanuskripte finden sich im Nachlass Felix Hausdorff (= NL Hausdorff) an der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Abt. Handschriften und Rara, Fasz. 12 und Fasz. 71. Die Vorlesung Zeit und Raum wird in Hausdorff, Werke, Bd. 6 erscheinen. 13 Herbert Mehrtens, Moderne – Sprache – Mathematik. Frankfurt/M. 1990, bes. Kap. 2.3. 12
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In der Tat scheint es, als ob das Thema der Geometrie und das damit verbundene Problem der wissenschaftlichen Beschreibung des Raumes Hausdorff die Möglichkeit gab, die erkenntniskritischen Überlegungen Paul Mongrés nun auch in seiner Rolle als Vertreter der modernen Mathematik aufzugreifen und zu formulieren. Wir können das an mehreren Texten verfolgen, an der erwähnten Vorlesung über Zeit und Raum, an Hausdorffs Antrittsvorlesung in Leipzig 1903, als er dort ein unbezahltes Extraordinariat erhielt, und an einem ungedruckten Manuskript für einen populären Aufsatz über nichteuklidische Geometrie, der zur selben Zeit entstand. Vermutlich arbeitete Hausdorff in diesen Jahren sogar an einem Buch über Zeit und Raum, das jedoch nie fertiggestellt wurde. Das bislang ungedruckte Material hierfür wird in Band 6 der Hausdorff-Edition erscheinen. Beginnen wir mit dem Manuskript zur Nichteuklidischen Geometrie. Gleich zu Beginn stellt Hausdorff klar, dass es ihm nicht nur um eine Einführung in ein wenig bekanntes Gebiet geht, sondern um mehr. Wie kommt nichteuklidische Geometrie in eine allgemeine Naturforscherzeitung? Soll unserer mit Mathematik hinlänglich inficirten Naturwissenschaft schon wieder ein Stück angewandter Mathematik einverleibt, eine specifisch mathematische Betrachtungsart als unentbehrliches Requisit aufgedrängt werden? Will diese ancilla philosophiae naturalis uns zu guter Letzt ihre allereigensten Fragestellungen als Probleme aufzwingen, uns, die wir doch an Problemen wahrhaftig keinen Mangel haben? Soll es wirklich damit enden, dass der Chemiker sich mit Invariantentheorie und der Biologe mit unstetigen Functionen befassen muss, um allen Ansprüchen seiner eigenen Fachwissenschaft gerecht werden zu können? […] Wenn die Periode des nicht-als Specialistenthums, unter deren Zeichen die letzten Jahrzehnte aller Wissenschaften standen, wieder einmal von einer entgegengesetzten Periode umfassender, synthetischer Bildung abgelöst sein wird – und diese Reaction scheint sich bereits da und dort anzukündigen –, dann wird auch der Mann der exactesten Wissenschaft nicht umhin können, an die mathematischen und philosophischen Grundlagen seiner Disciplin einige Denkarbeit zu verschwenden. Die erkenntnisstheoretische Bedeutung der Form, in denen das äussere und innere Weltbild sich abspielt, und die wir Raum, Zeit, Ordnung nennen, wird seinen Blick auf sich lenken, und ganz von selbst wird er, eben als Naturforscher, sich wenigstens im Grundplan der der vollkommensten aller Naturwissenschaften, der Geometrie, zu orientieren suchen, nicht um später nach Spinozas oder Herbarts Vorbilde seine eigene Forschung in ein scheinmathematisches Gewand zu kleiden,
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sondern weil von jeder naturwissenschaftlichen Disciplin Seitenlicht auf jede andere, und von der Geometrie Oberlicht auf alle fällt. 14
Worin besteht dieses Oberlicht, das von der Nichteuklidischen Geometrie auf alle Wissenschaften fällt? Anders als fast alle seiner Zeitgenossen ist Hausdorff nicht daran interessiert, welches der verschiedenen geometrischen Systeme denn nun für die Beschreibung des Raumes der Physik, des Raumes der Erfahrung das zutreffendste oder auch nur geeignetste ist. Vielmehr geht es ihm darum, dass die mathematische Entwicklung der nichteuklidischen geometrischen Systeme gezeigt hat, dass es ein ganzes Spektrum mathematischer Beschreibungsmöglichkeiten für den Raum gibt. Dieses Spektrum zu erkunden ist Aufgabe der durch nichts als durch die Forderung der inneren formalen Konsistenz eingeschränkten reinen – nach einem Wort Cantors »freien« – Mathematik. Hausdorffs kunstvolle Einleitung in sein Thema weist alle denkbaren Einwände gegen ein solches Herangehen zurück. Weder aus empirischen noch aus metaphysischen Überlegungen kann die Frage der »richtigen« Geometrie entschieden werden. Und auch das im Neukantianismus breit diskutierte Argument, dass unser menschlicher Erkenntnisapparat durch die Formen seiner Anschauung nur die gewöhnliche Euklidische Geometrie als mathematische Beschreibung des Raumes anerkennen könne, weist Hausdorff mit klaren Worten zurück. Was aber die zweite, oben berührte Function der »freien« Mathematik anbelangt, dass sie sich nämlich ihre reinen Gedankengebilde auch anschaulich vorzustellen sucht und hierin mit freier Benutzung der Wirklichkeitselemente verfährt, so ist über ihre Berechtigung zu solcher Thätigkeit schwer etwas Abschliessendes, Definitives zu sagen, weil das Wort »anschaulich« zu vielerlei und eigentlich bei Jedem etwas Anderes bedeutet. Denkbar und undenkbar: darüber kann man einig werden und ein Zugeständniss erzwingen, vorausgesetzt dass man mit geistig Gesunden discutirt. Aber die Grenzen des anschaulich Vorstellbaren sind für jeden Intellekt anders gezogen, je nach dem Umfang der individuellen Erfahrung und nach der Stärke der metaphorischen, analogiebildenden Phantasie. Helmholtz gab Anleitung, einen nichteuklidischen Raum anschaulich vorzustellen, und Grassmann hatte gewiss eine deutlichere Anschauung vom vierdimensionalen Raum als sie etwa Hegel (dem wir die Entdeckung der drei Dimensionen der Zeit verdanken!) vom 14 Felix Hausdorff, Nichteuklidische Geometrie, Unveröffentlichtes Manuskript, NL Hausdorff, Fasz. 994, S. 1 f. (Hervorh. i. Orig). Der Text wird erscheinen in Hausdorff, Werke, Bd. 6.
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dreidimensionalen besass. Gerade der Antheil der Phantasie wird gern von Denen unterschätzt, die keine haben, und es ist sonderbar, dass eben die Aprioristen der Geometrie sich hier ganz wie Sensualisten gebärden und das Anschaubare durchaus auf das thatsächlich Erfahrene einschränken wollen, als gälte es den berühmten Locke’schen Satz »nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu« zu beweisen. Zweifellos ruht der Überbau des Vorstellbaren immer auf dem Fundament des wirklich Geschehenen und Erlebten; darum eben ändert es sich mit diesem Fundament und ist individuell so verschieden. Aber daneben spielt jene Thätigkeit, die wir Phantasie oder Analogiebildung nennen, eine entscheidende Rolle: sie ergreift die Elemente der Erfahrung, um sie in neuen Anordnungen und Verknüpfungen zu combiniren, und hat hierbei eine ebenso bestimmte, wenn auch nicht ebenso mühelose und glatt ablaufende Reihe unserer Anschauungen, wie bei denjenigen Verknüpfungen und Anordnungen, die ihr die Erfahrung aufnöthigt. 15
Individuelle Phantasie und die Kunst des formalen Denkens, das sind für Hausdorff die Ressourcen, mit denen Mathematik das Spektrum der Möglichkeiten einer mathematischen Beschreibung des Raumes erkundet. Indem sie dies tut, liefert die Mathematik auch die Instrumente einer »Selbstkritik der Wissenschaft«: Wann immer eine naturwissenschaftliche Theorie glaubt, einen Ausschnitt der Natur – handele es sich nun um die Geometrie des Raumes, die Ordnung der Zeit oder etwas anderes – so und nicht anders beschreiben zu müssen, muss es auch Ziel der mathematischen Bemühungen sein, die eventuell bestehenden Beschreibungsalternativen bereitzustellen. Hören wir noch einmal Hausdorff, diesmal aus seiner Leipziger Antrittsvorlesung über »das Raumproblem« von 1903. Sie begann mit einer Unterscheidung verschiedener Bedeutungen des Raumbegriffs, um dann die zentrale Fragestellung zu formulieren. Erstens eine gewisse freie Schöpfung unseres Denkens, keinem anderen Zwange als dem der Logik unterworfen, ein System willkürlich gewählter Voraussetzungen, sogenannter Axiome, nebst den daraus deduktiv abgeleiteten Folgerungen: dies ist der Raum des Gedankens, der Raum der Geometrie, der mathematische Raum. Zweitens ein System wirklicher Erlebnisse und Erfahrungen, das in unserem Bewußtsein tatsächlich vorübergleitende Phänomen der raumerfüllenden Außenwelt: dies wollen wir den subjektiv-psychologischen Raum, den Bewußtseins- oder Erfahrungsraum, den empirischen Raum nennen. Drittens endlich wird ein gewisses Verhalten der Dinge unabhängig von unserem Bewußtsein vorausgesetzt, um unsere
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Hausdorff, Nichteuklidische Geometrie, a. a. O., S. 12–14 (Hervorh. i. Orig.).
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Abbildung 2: Titelblatt von »Das Raumproblem«.
Raumanschauung zu erklären: das wäre der objektiv-naturwissenschaftliche Raum, der »intelligible« oder absolute Raum. […] Nun ist aber offenbar die erste Bedingung für eine künftige Regelung der Angelenheit die, daß man sich für jeden einzelnen der drei Räume die Frage vorlegt, innerhalb welcher Grenzen er überhaupt eindeutig bestimmt ist. Ist der mathematische, der empirische, der absolute Raum nur auf eine einzige, alle Abweichungen ausschließende Art definiert, oder haben wir vielleicht die Wahl zwischen verschiedenen gleichberechtigten Hypothesen? Da ist zunächst klar, daß wir beim zweiten, empirischen Raume keine Wahlfreiheit haben, daß wir die Erfahrungen und Bewußtseins-Erscheinungen, die ihn konstituieren, als fait accompli über uns ergehen lassen müssen in reiner Receptivität, mögen wir naiv beobachten oder willkürlich experimentieren. Wie steht es aber mit den beiden anderen Räumen? Hier ist in der Tat – und das möchte ich heute in seiner ganzen Paradoxie zur Erwägung stellen – die vermutete Wahlfreiheit vorhanden, und mit dem allergewaltigsten Spielraum: nämlich Wahlfreiheit zwischen unendlich vielen Hypothesen, von denen keine mehr oder weniger berechtigt ist als die andere. Für den mathe-
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matischen Raum ist dies Resultat bekannt, seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, nämlich seit der Begründung der sogenannten nichteuklidischen Geometrie; hier befinden wir uns auf gesichertem Gebiet. Für den objektiven Raum ist jene behauptete Unbestimmbarkeit im Grunde zwar identisch mit der Kantischen Lehre, daß die Beschaffenheit der Dinge an sich, also auch die des Raumes an sich, für unser Bewußtsein transzendent und unerkennbar sei, und insofern wäre auch dies Resultat nicht neu; aber die Beweismethode Kants mußte durch eine andere, bisher noch unerprobte, ersetzt werden. 16
In dieser Haltung sind der Erkenntniskritiker Mongré und der Mathematiker Hausdorff miteinander verbunden. Das zeigt sich schon philologisch: Hausdorff zitiert Mongrés Argumente ohne weiteres als eigene. Und im Text dieser mathematischen Antrittsvorlesung gestattet sich nun auch Hausdorff die Imaginationen des Schriftstellers, um die Perspektivität der vermeintlich so sicher geglaubten Geometrie des wirklichen Raumes, ihre Abhängigkeit von den Zufällen unserer Beschaffenheit deutlich zu machen. Es könnte ja ganz anders sein. Denken wir uns eine Welt, in der es keine starren Körper gäbe, d. h. nicht einmal nahezu starre Körper, nur Flüssigkeiten und Gase; wir selbst wären etwa ätherisch zerflossene, aber geistbegabte Bewohner des Orionnebels. Dann könnten wir keine Messungen anstellen, könnten mit unseren rein arithmetisch hergeleiteten trigonometrischen Formeln gar nichts anfangen und sie so wenig auf die Außenwelt anwenden wie etwa auf unsere Träume; wir könnten nicht einmal entscheiden, ob unser Raum ein Raum freier Beweglichkeit, geschweige ob er euklidisch oder nichteuklidisch ist. Bei diesem objektiven Verhalten der Dinge hätten wir also nicht den geringsten psychologischen Anreiz und Anhalt zur Ausbildung einer Raumanschauung, zur Anwendung der Geometrie auf die Wirklichkeit; ein unbesonnener Empirist wie J. St. Mill würde hinzufügen: wir hätten dann überhaupt keine Geometrie. Aber das ist eine Verwechselung zwischen Psychologie und Logik: an dem logischen oder arithmetischen Aufbau der Geometrie wären wir dadurch so wenig gehindert, wie wir durch den euklidischen Raum, in dem wir leben, von der spekulativen Betrachtung nichteuklidischer Räume ausgeschlossen sind. 17
Im Licht dieser Überlegungen sind auch die späteren mathematischen Arbeiten Hausdorffs, seine Theorie geordneter Mengen und die maß16 Felix Hausdorff, Das Raumproblem, Ostwalds Annalen der Naturphilosophie, 3, 1903, S. 1 ff. (Hervorh. i. Orig.). Der Text wird wiederabgedruckt in Hausdorff, Werke, Bd. 6. 17 Hausdorff, Raumproblem. S. 18.
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geblich auf ihn zurückgehende Theorie topologischer Räume, die beide in den Grundzügen der Mengenlehre zusammengefasst sind, stets mehr als nur Beiträge zur Forschung in einem noch unerschlossenen Feld der Mathematik. Auch in ihnen geht es um Spektren von Beschreibungsmöglichkeiten für Anordnungs- und Nachbarschaftsstrukturen, die frei entworfen, aber gerade deshalb auch auf vielseitige und unüberschaubare Weise einsetzbar sind. Wird sich irgendwann einmal herausstellen, dass der Raum unserer Sehwahrnehmung nicht dreioder zweidimensional, sondern z. B. 2.7-dimensional ist? Werden wir irgendwann physikalische Raumzeitbegriffe heranziehen, die nicht differenzierbare Mannigfaltigkeiten, sondern bizarrere topologische Räume sind? Wir wissen es nicht. Zur Aufgabe der Mathematik, das ist Hausdorffs und Mongrés Pointe, wird es immer gehören, trügerische Festlegungen in solchen Fragen durch die aktive Erweiterung unserer mathematischen Möglichkeiten zu unterlaufen. Die Tätigkeit als ordentlicher Professor der Mathematik hat Felix Hausdorff in späteren Jahren so in Anspruch genommen, dass er die von Paul Mongré gesponnenen Fäden nicht mehr weitergeführt hat. In einem der großen wissenschaftlichen Umbrüche der Zeit sah er sich jedoch bestätigt: In der Entstehung der Einsteinschen Relativitätstheorie zeigte sich wieder einmal, dass vermeintlich sicher Geglaubtes über Raum und Zeit anders gesehen werden konnte. Als Moritz Schlick – jener Philosoph, der zusammen mit dem Mathematiker Hans Hahn und dem Ökonomen Otto Neurath in den 1920ern den sog. »Wiener Kreis« um sich versammelte – im Jahr 1917 seine eigene erkenntnistheoretische Bestandsaufnahme Über Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik veröffentlichte, ging er in mancher Hinsicht Pfade, die Mongré bereits beschritten hatte. Hausdorff nahm Kontakt zu Schlick auf und sandte ihm sein Chaos in kosmischer Auslese, was Schlick zu einem sehr anerkennenden Brief und zur Aufnahme einer ebenso anerkennenden Fußnote in der 3. Auflage seiner Schrift veranlasste. 18 Die beiden mögen sich auch deshalb gegenseitig gut verstanden haben, weil auch Schlicks intellektueller Weg in einer Nietzsche-Rezeption begonnen hatte. Auf diese Weise fand Mongrés Erkenntniskritik Eingang in den wissenschaftsphilosophischen Debatten des Wien der Zwischenkriegszeit – ganz ebenso wie seine Mengenlehre von den führenMoritz Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, 3. Aufl., Berlin, 1920, S. 24, Anm. 1.
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Abbildung 3: Hausdorff am Schreibtisch.
den Mathematikern des Wiener Kreises (von Hans Hahn, Karl Menger und anderen) aufgegriffen und genutzt wurde. Die Weimarer Zeit entwickelte sich so für Hausdorff zu einer Zeit der Anerkennung – nicht weniger als zu einer Zeit fortgesetzter mathematischer Produktivität. Auch politisch scheint Hausdorff sich damals wohlgefühlt zu haben; ohne politisch aktiv zu sein, wurde er doch Mitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei. Seine Vorlesungsaktivitäten in der zweiten Bonner Periode waren ebenso eindrucksvoll wie seine vielfältigen Forschungsbeiträge, und soweit wir aus der spärlich überlieferten Korrespondenz wissen, pflegte er auch weiter den einen oder anderen literarischen Kontakt. Diese Zeit sollte nicht andauern. Im Jahr 1935 konnte Hausdorff zwar noch auf ordentliche Weise in Bonn emeritieren, aber nach den Novemberpogromen des Jahres 1938 geriet sein Leben ernsthaft in Gefahr. Im Frühjahr 1939 schrieb der Emeritus einen Brief an Richard Courant, den einflussreichen Göttinger Mathematiker, der nach New York emigriert war und dort die Emigration weiterer Mathematiker nach Kräften unterstützte, und bat um ein Forschungsstipendium in den USA. Andere renommierte Mathematiker, darunter Hermann 259 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Weyl und John von Neumann, unterstützten Hausdorffs Wunsch, aber die versuchte Emigration scheiterte aus noch zu entdeckenden Gründen. 19 Der Vergleich mit ähnlichen Fällen legt nahe, dass Hausdorffs Alter im Wege stand.
Lassen wir sowohl Paul Mongré als auch Felix Hausdorff zum Schluss noch ein Mal zu Wort kommen: Zwei kosmische Augenblicke, beide vielleicht nur in einem und demselben Gehirn möglich, beide kurz, schwer, unendlich wie Mittagsträume … Der eine: schwindelndes Entsetzen vor der Unbegreiflichkeit der Welt, marternde Unbefriedigung jedes Verlangens nach Schönheit, Güte, Vernunft. Alle Bänder des Zusammenhanges scheinen gelöst zu flattern; wohin die Phantasie mit klammernden Händen greift, zerbröckelt alles in sinnlose Einzelheiten, in farblose wärmelose gestaltlose Atome, die in ihrer grauen Unbeschaffenheit doch nicht verständlicher werden. Ein gähnender Zweifel, der selbst die Identität schwanken macht; ist wirklich Gleiches noch gleich? Das andere Weltbild: tiefste, athemlose Ruhe und Sättigung, Dasein und Leben zu durchsichtiger Klarheit verglast, vergeistigt. Musik des Schweigens; wir würden jede irdische Musik durch sie hindurch hören, wie wir durch Glas sehen. Die Thatsache »Welt« ist so undenkbar begreiflich, so unbegreiflich denkbar geworden, die Einheit aller Einheiten, und doch hat sie nichts von ihrer Vielfachheit verloren: jede Farbe leuchtet, jede Blüte duftet, jedes Leiden brennt, jede Erlösung kühlt. Ist es die wissenschaftliche, die sittliche, die künstlerische, die religiöse Entschleierung des Welträthsels, die uns zu Theil geworden? Kaum, aber es scheint, als könnten wir alles, was wir wissen, zweifeln, lieben, anbeten, mit Einem Worte aussprechen. Mit welchem? – aber wenn wir darüber nachsinnen, ist der Traum bereits verflogen. 20
Es folgen Beginn und Schluss des Abschiedsbriefes, den Hausdorff am Vorabend seines Todes an den mit ihm befreundeten jüdischen Rechtsanwalt Dr. Hans (Lot) Wollstein geschrieben hat. Hausdorffs gute Wünsche für Wollstein erfüllten sich nicht. Wollstein wurde am 27. Juli 1942 über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, wo er ermordet wurde. Das Datum seines Todes ist nicht bekannt.
Vgl. Reinhard Siegmund-Schultze, Mathematiker auf der Flucht vor Hitler. Quellen und Studien zur Emigration einer Wissenschaft, Wiesbaden, 1998, S. 121. 20 Hausdorff, Sant’Ilario, Aphorismus 386. Auch in Hausdorff, Werke, Bd. 7, S. 422. 19
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Bonn, 25. Januar 1942. Lieber Freund Wollstein! Wenn Sie diese Zeilen erhalten, haben wir Drei das Problem auf andere Weise gelöst – auf die Weise, von der Sie uns beständig abzubringen versucht haben. Das Gefühl der Geborgenheit, das Sie uns vorausgesagt haben, wenn wir erst einmal die Schwierigkeiten des Umzugs überwunden hätten, will sich durchaus nicht einstellen, im Gegenteil: Auch Endenich Ist noch vielleicht das Ende nich! Was in den letzten Monaten gegen die Juden geschehen ist, erweckt begründete Angst, dass man uns einen für uns erträglichen Zustand nicht mehr erleben lassen wird. Sagen Sie Philippsons, was Sie für gut halten, nebst dem Dank für ihre Freundschaft (der vor allem aber Ihnen gilt). Sagen Sie auch Herrn Mayer unseren herzlichen Dank für alles, was er für uns getan hat und gegebenenfalls noch getan haben würde […]. Verzeihen Sie, dass wir Ihnen über den Tod hinaus noch Mühe verursachen; ich bin überzeugt, dass Sie tun, was Sie tun können (und was vielleicht nicht sehr viel ist). Verzeihen Sie uns auch unsere Desertion! Wir wünschen Ihnen und allen unseren Freunden, noch bessere Zeiten zu erleben. Ihr treu ergebener Felix Hausdorff 21
Literatur Bergmann, Birgit, Moritz Epple (Hg.), Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur. Heidelberg: Springer, 2009. Epple, Moritz, »Felix Hausdorff’s Considered Empiricism«, José Ferreiros, Jeremy J. Gray (Hg.), The Architecture of Modern Mathematics. Essays in History and Philosophy. Oxford: Oxford University Press, 2006, S. 263–289. Epple, Moritz, »An Unusual Career between Cultural and Mathematical Modernism. Felix Hausdorff, 1868–1942«, Ulrich Charpa, Ute Deichmann (Hg.), Jews and Sciences in German Contexts. Case Studies from the 19th and 20th Centuries. Tübingen: Mohr und Siebeck, 2007, S. 77–99. Hausdorff, Felix, »Das Raumproblem«, Ostwalds Annalen der Naturphilosophie 3 (1903). Hausdorff, Felix, Gesammelte Werke. Berlin u. a.: 2002. 21 Der Abschiedsbrief ist vollständig reproduziert in Bergmann/Epple, Jüdische Mathematiker, S. 101.
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Spielrume des Denkens – Felix Hausdorff und Paul Mongr Mehrtens, Herbert, Moderne – Sprache – Mathematik. Frankfurt/M.: 1990. Mongré, Paul, Sant’Ilario. Gedanken aus der Landschaft Zarathustras. Leipzig: 1897. Mongré, Paul, Das Chaos in kosmischer Auslese. Ein erkenntnisskritischer Versuch. Leipzig: 1898. Mongré, Paul, Ekstasen. Leipzig: 1900. Schlick, Moritz, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik (3. Aufl.). Berlin: 1920. Stegmaier, Werner und Daniel Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus. Berlin: 1997.
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Max Wertheimer und Wolfgang Khler: Gestalttheorie als »dritter Weg« zwischen Natur- und Geisteswissenschaft Mitchell G. Ash
Bereits mit dem Titel dieses Beitrags wird offen gelegt, mit welchem Anspruch die Gestalttheorie antritt, was sie sein will. Dieser Anspruch wird zunächst erläutert um dann die Frage zu stellen, warum ihn die Gestalttheorie, historisch gesehen, verfolgen sollte. Hauptsächlich werden jedoch zwei der drei Forscherpersönlichkeiten vorgestellt, die bei der Entstehung und Verbreitung der so genannten »Berliner Schule« der Gestalttheorie eine zentrale Rolle spielten: Max Wertheimer und Wolfgang Köhler.
1.
Gestalttheorie: Drei Thesen
Was also ist Gestalttheorie? 1 Es handelt sich um einen gleichermaßen philosophischen wie psychologischen Ansatz, der im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka entwickelt wurde. In Lexika finden Sie diese Theorie eher unter Gestaltpsychologie denn unter Gestalttheorie. Tatsächlich ging sie aus der Psychologie hervor, sie blieb aber weder in ihrem theoretischen Anspruch noch in der Suche nach empirischer Bestätigung auf diese Disziplin begrenzt. Mit der Gestalttheorie werden drei zentrale Thesen aufgestellt. Die erste lautet nicht, wie in den Lexika oft steht, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, sondern dass das Ganze wesentlich anders als eine Summe von Teilen ist. Gemeint ist damit, dass die seit dem 18. Jahrhundert gängige Vorstellung des Bewusstseins als einer Ansammlung von einzelnen Empfindungen, die erst auf einer anderen, höheren Ebene bzw. infolge höherer psychischer Zum Folgenden vgl. ausführlicher in: Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967. Holism and the Quest for Objectivity, New York, Cambridge: Cambridge University Press, 1995.
1
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Vorgänge zu dem zusammengefasst werden, was wir tatsächlich erleben, grundlegend in Frage gestellt und zugunsten eines Primates des Ganzen im Bewusstsein überwunden werden soll. Gedacht wird dieses »Ganze« als ein selbst organisierendes Erlebnisfeld, in dem die Gegenstände und deren Verhältnisse zueinander Teile eines immanent gegliederten, strukturierten Ganzen sind. Es geht also nicht allein um Dinge als Ganze und auch nicht um die vage Idee einer Einheit des Bewusstseins an sich, sondern um die als Ganze erlebten Dinge und auch ihr Verhältnis zueinander in einem strukturierten Wahrnehmungsfeld, wenn vom Primat des »Ganzen« die Rede ist. An diese These schließt sich ein methodologisches Korrelat an: Wollen wir wissen, wie dieses Erlebnisfeld zustande kommt, nach welchen Prinzipien oder Gesetzmäßigkeiten es sich konstituiert, dürfen wir nicht von den so genannten »Empfindungen« ausgehen, sondern müssen, wie Wertheimer immer wieder sagte, »von Oben her«, also vom Ganzen kommen. Die zweite These lautet, dass nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch das menschliche und tierische Verhalten Gestaltcharakter hat. Das heißt, dass dieses Verhalten einen sinnvollen Bezug zum jeweiligen Handlungszweck hat. Es schließt aber auch die Fähigkeiten des Menschen wie auch des Tieres, Relationen als solche wahrzunehmen mit ein, sowie die noch weiter gehende Behauptung, dass diesen Bezügen wie auch den Handlungen, die auf der Grundlage solcher Relationswahrnehmungen geschehen, wiederum eine wahrnehmbare Form entsprechen. Wie sich zeigen wird, ist es vor allem Wolfgang Köhler, der diese These in den Mittelpunkt seiner Forschung stellte. Der dritten, ebenfalls von Wolfgang Köhler formulierten These zufolge gibt es Gestalten und Gestaltverhältnisse nicht nur im menschlichen Erleben und Verhalten, sondern auch in der nicht-lebendigen Natur. Behauptet wird dabei, dass physikalische Systeme Gestalteigenschaften zugeschrieben werden können. Was es mit dieser kühnen These auf sich hat, wird weiter unten genauer erläutert werden. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass Gestalttheorie nicht nur auf die Tieroder Humanpsychologie beschränkt, sondern von Anfang an viel allgemeiner gemeint war. Sie wurde als Fundament einer einheitlichen Weltanschauung gedacht, die das Menschliche, das Lebendige und die Natur insgesamt prägt. Aber wie kam es überhaupt zu solchen Behauptungen? Handelt es sich hier um drei Spinner, die als Außenseiter der scientific community auftraten? Nein, Wertheimer, Köhler und Koffka 264 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Max Wertheimer und Wolfgang Khler
waren drei ganz typische Gestalten ihrer Zeit und genau das möchte ich Ihnen nahe bringen. Die ersten Psychologen im deutschsprachigen Raum, die experimentelle Arbeiten durchführten, waren von der Ausbildung her mehrheitlich Philosophen. 2 Sie waren der Ansicht, dass es möglich und geboten sei, grundlegende Fragen der Philosophie, insbesondere der Erkenntnistheorie mittels empirischer Methoden zu lösen. Ein Hauptvertreter dieser Richtung, innerhalb der Philosophie wohl bemerkt, war Carl Stumpf, der Lehrer aller Gestaltpsychologen. Schon in einem der ersten seiner wesentlichen Werke mit dem Titel Tonpsychologie hat Stumpf beispielsweise von einer »messenden Urteilslehre« gesprochen. 3 Diese Urteilslehre wäre auf empirischer und nicht auf werttheoretischer oder allgemein philosophischer Grundlage zu erarbeiten. Stumpf war seit seiner Berufung nach Berlin im Jahre 1893 Leiter des psychologischen Seminars dort, welches anfänglich seinem eigenen Wunsch entsprechend so hieß und erst sieben Jahre nach dessen Gründung in psychologisches Institut umbenannt wurde, während Stumpf den Titel Professor für Philosophie beibehielt. Diese Doppelidentität als Professor der Philosophie und Leiter eines Laboratoriums für Psychologie war wesentlicher Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses von Carl Stumpf sowie aller anderen Mitglieder der Gründungsgeneration der Experimentalpsychologie in Deutschland; wie wir sehen werden, trifft das auch für Max Wertheimer und Wolfgang Köhler zu.
Dies gilt nicht für den Begründer des ersten experimentalpsychologischen Labors, Wilhelm Wundt, der aus der Physiologie kam, dafür aber für fast alle andere Mitglieder der Gründungsgeneration der Experimentalpsychologie, z. B. Franz Brentano und seine Schüler Georg Elias Müller und Carl Stumpf. Und auch Wundt teilt die im folgenden Satz formulierte Ansicht. Näheres hierzu in: Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967. Holism and the Quest for Objectivity, a. a. O., Teil 1; Mitchell G. Ash, Psychologie in Deutschland um 1900: Reflexiver Diskurs des Bildungsbürgertums, Teilgebiet der Philosophie, akademische Disziplin, in Christoph König u. a. (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kulturwissenschaften um 1900. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999. 3 Carl Stumpf, Tonpsychologie, Bd. 1, Leipzig: Hirzel, 1883, S. 43. 2
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Mitchell G. Ash
2.
Max Wertheimer
Bevor ich nun näher auf Max Wertheimer eingehe, will ich ihn in einem Text zu Wort kommen lassen, in dem er sich über seinen Lehrer Carl Stumpf äußert: 4 Wie anders sind Sie! Bei Ihnen sind die Tatsachen keine Angriffsobjekte, nichts, was blinkende Resultate bringen soll – wie in Vaterhänden sind bei Ihnen die Tatsachen. – In Afrika gibt es bei einem Volk die Sitte: wenn man einem Gast sein Vertrauen zeigen will, so legt ihm die Mutter den Säugling auf den Arm und sagt: Halte das Kindchen. So halten Sie die Tatsachen in Händen, und so haben Sie uns gelehrt: Ehrfurcht vor dem Wirklichen. Ehrfurcht und Liebe zu den Tatsachen (keine fahrigen Bewegungen!).
Und: Noch in einem andern Sinne ist nichts von Konzentrischer Gesichtsfeld-Einengung 5 bei Ihnen. So sehr Sie die Arbeit in der Einzelwissenschaft lieben und fördern, so haben Sie uns doch gelehrt, überall den Blick auf die grossen prinzipiellsten Zusammenhänge gerichtet zu halten; in fruchtbarer Arbeitsgemeinschaft von Psychologie und Erkenntnistheorie, im Angesicht der höchsten Probleme der Philosophie zu arbeiten. Keiner von uns mag sich in die Stube der Einzelwissenschaft sperren lassen.
Und nun Max Wertheimer über sich selbst, aus dem Lebenslauf, den er seiner Dissertation im Jahre 1904 voranstellte: 6 Ich, Max Wertheimer, österreichischer Staatsangehörigkeit, bin geboren am 15. April 1880 zu Prag (Böhmen) als Sohn des Handelsschuldirektors Wilhelm Wertheimer und seiner Frau Rosa, geborenen Zwicker, jüdischer Konfession. […] Belehrung, Förderung und Unterstützung bei Studien im Gebiete der experimentellen Psychologie genoss ich in den psychologischen Instituten Berlin und Würzburg und im physiologischen Institut in Prag, insbesondere durch die Herren Professoren Külpe, Stumpf, Schumann, Gad.
Was hier noch nicht erwähnt wurde, ist die philosophische Seite der Ausbildung Max Wertheimers, die vor allem durch Christian von Ehrenfels geprägt wurde. Christian von Ehrenfels hatte bereits 1890 von Beitrag zur Feier zu Carl Stumpfs 70. Geburtstag, 21. April 1918. Nachlass Max Wertheimer, Universitätsbibliothek Boulder, Colorado/USA. 5 Konzentrische Gesichtsfeldeinengung (K.G.E.) ist ein damals häufig studiertes Wahrnehmungsphänomen. 6 Lebenslauf Max Wertheimers, in ders., Experimentelle Untersuchungen zur Tatbestandsdiagnostik. Leipzig: Barth, 1904, S. 1. 4
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Gestaltqualitäten gesprochen, als Qualitäten der Empfindungen oder Wahrnehmung, die es neben den Empfindungen wie Farbe oder Ton gibt und die eine eigene Qualität haben. 7 Diese drückt sich zum Beispiel darin aus, dass eine Melodie wieder erkennbar ist, egal in welcher Tonart sie gespielt wird. Laut Ehrenfels macht dies die Gestaltqualität dieser Melodie aus; Wertheimer führt diesen Gedanken weiter aus und radikalisiert ihn im oben bereits beschriebenen Sinne eines Primats des Ganzen im Erleben. Im Jahr 1910, nach Jahren der Wanderschaft, beginnt Wertheimer in Frankfurt am Main mit seinen »Experimentellen Studien über das Sehen von Bewegungen«, die er 1912 als Habilitationsschrift veröffentlicht. Seine These ist, dass Bewegungen als solche und nicht als bloße Attribute von Objekten, die sich bewegen und auch nicht als sequenzierte Einzelabläufe wahrgenommen werden. Er führt diese Experimente mit Hilfe eines Tachistoskop (Abb. 1) durch, das im Laboratorium des Frankfurter Institutsdirektors Friedrich Schumann befand und dessen Design von Schumann auch stammt. Schumann war Assistent bei Stumpf, als Wertheimer in Berlin studiert hatte. Das Gerät, ein Apparatur zur Kurzdarbietung optischer Reize, bestand im Design Schumanns aus zwei Teilen. Ein Teil kann gedreht werden wie ein Rad, in dem mehrere schließbare Öffnungen angebracht sind. Rechts ist ein Schlitz angebracht, aus dem in bestimmbaren, sehr kurzen Intervallen Licht fallen kann. Die zu zeigenden Gegenstände werden so vor den Schlitz gestellt, dass sie einzeln, entweder nebeneinander oder nacheinander exponiert werden können. Die Zeitintervalle der Darbietung werden im Wesentlichen durch die Drehgeschwindigkeit des radähnlichen Teiles bestimmt. Es handelt sich also um einen typischen experimentalpsychologischen Apparat der damaligen Zeit. Die Versuchspersonen, mit denen Max Wertheimer arbeitete und die aufgefordert waren, ihr eigenes Sehen zu erkunden, waren Wolfgang Köhler, Kurt Koffka, seine Frau Mira Klein-Koffka und Gabriele Gräfin von Wartensleben 8 – also nicht nur Männer. Der Apparat erChristian von Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, Ferdinand Weinhandl (Hg.), Gestalthaftes Sehen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1960. 8 Gabriele Gräfin von Wartensleben unterrichtete seit 1905 in verschiedenen Frankfurter Schulen und leitete zwischen 1911 und 1921 die Lehrerinnenfortbildung; zwischen 1908 und 1914 unterhielt sie enge Verbindungen zum Psychologischen Institut der Frankfurter Akademie für Sozialwissenschaften sie gilt als eine der Pionierinnen der 7
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Abbildung 1: Max Wertheimer mit modifiziertem Taschistoskop nach Schumann. (Quelle: Historisches Museum der Stadt Frankfurt am Main. Vgl. Ash, 1995, S. 128)9
zeugte ein Bewegungssehen, wie wir es aus dem Kino kennen. Einzelne Bilder werden in einer bestimmten Geschwindigkeit nacheinander gezeigt, wodurch der Eindruck einer Bewegung entsteht. Es handelt sich dabei also – wie im Kino auch – um eine systematisch erzeugte Illusion, Gestaltpsychologie. Siehe Robert S. Harper, Edwin B. Newman & F. R. Schab, Gabriele Gräfin von Wartensleben and the birth of Gestaltpsychologie, Journal of the History of the Behavioral Sciences, 21, 1985. 9 Tachistoskop: Apparatur zur Kurzdarbietung optischer Reize unterschiedlicher Komplexität (Reize in Form von Buchstaben oder Ziffern, Bildern bzw. Situationen usw.) zur Untersuchung von Aufmerksamkeitsumfang und Auffassungsbreite. Das Tachistoskop hat genau kontrollierbare Darbietungszeiten, die sehr kurz sein können (0,05 – 0,2 s). Digel & Kwiatkowski, Meyers großes Taschenlexikon, 1983, S. 302.
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Max Wertheimer und Wolfgang Khler
aber Wertheimer kommt es darauf an, klar zu machen, das diese Illusion psychisch real und daher erläuterungsbedürftig ist. Was die Probanden sahen und was die psychische Realität des Phänomens ausmacht, beschrieb er so: 10 Bei den obigen Experimenten hat man es nicht nur mit einem theoretischen Beweismittel zu tun […] sondern mit einem Demonstrationsexperiment in prägnantem Sinn, in welchem der reine y-Vorgang erscheint. Es ist da außer der Farbe des Grundes nichts von den gewöhnlichen optischen Qualitäten im Bewegungsfelde gegeben. […] Der Beobachter sagt hier, nicht der Strich bewegt sich hinüber; glaubt auch nicht, er bewege sich hinüber, a nach b, oder er scheine sich hinüberzubewegen; sondern »ich sehe a, ich sehe b, ich sehe zwischen den beiden Bewegung, ich sehe das Hinüber, die Drehung – nicht des Striches oder der Striche, die sind an ihren Orten a und b –, ein starkes oder schwaches »Hinüber« selbst.« »Ich sehe Bewegung; so (gezeigt); nicht ein Hinüber von etwas.« Und dies bei vollster Aufmerksamkeitskonzentration auf das Feld und kritischster Betrachtung; je stärker, je zentraler die Aufmerksamkeit im Felde konzentriert ist, desto besser.
Damit stellt sich für Wertheimer die Frage nach der Erklärbarkeit dieses Phänomens: 11 Dieser sinnlich klar und deutlich gegebene Eindruck der Bewegung eines Identischen ist psychologisch rätselhaft. Was ist psychisch gegeben, wenn man hier Bewegung sieht? Ist es möglich, durch vorschreitende experimentelle Fragestellungen vorwärts zu kommen in der Erforschung des Problems: was da psychisch vorhanden sei; was diese Eindrücke konstituiere?
Wertheimer zieht zur Erklärung des Phänomens jedoch keine hypothetischen psychologischen Vorgänge, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, sondern ein Geschehen im Hirn heran und die Frage ist: Warum macht er das? 12 Eine physiologische Theorie hat im Zusammenhange mit der experimentellen Forschung m. E. zweierlei Funktion: einerseits soll sie die verschiedenen Einzelergebnisse und Gesetzmäßigkeiten in einheitlicher Weise zusammenfassen und deduzierbar machen; andererseits, und dies scheint das Wesentliche, durch diese einheitliche Zusammenfassung dem weiteren Vorwärtskommen der Forschung dienen: indem sie zu konkreten experimentel10 Über das Sehen von Bewegungen, Ders., Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie. Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie, 1925a, S. 66. 11 Ebd., S. 6. 12 Ebd., S. 87–88.
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len Fragestellungen führt, die zunächst der Prüfung der Theorie selbst, im Grunde aber zu weiterem Eindringen in die Gesetzmäßigkeiten der Erscheinungen tauglich sind. In diesem Sinne mag ein Schema physiologischer Fundierung hier anhangsweise kurz skizziert werden […]. Es handelt sich um bestimmte, zentrale Vorgänge, physiologische »Querfunktionen« besonderer Art, die als das physiologische Korrelat der y-Phänomene dienen. Es muss nach neueren hirnphysiologischen Forschungen als wahrscheinlich angenommen werden, dass mit einer Erregung einer zentralen Stelle a eine physiologische Wirkung in gewissem Umkreis um dieselbe gesetzt ist. Werden zwei Stellen, a und b, in Erregung versetzt, so ergäbe sich beiderseits solche Umkreiswirkung, der Umkreis ist für Erregungsvorgänge prädisponiert. Wird die Stelle a gereizt, in bestimmt kurzer Zeit nachher die nahe Stelle b, so träte eine Art physiologischen Kurzschlusses von a nach b ein: in dem Abstand zwischen beiden Stellen finde ein spezifisches Hinüber von Erregung statt […].
So lauteten die frühen und nicht sonderlich klaren Überlegungen Wertheimers, die mit der heutigen Hirnforschung auch nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sind. Der Punkt ist aber nicht, ob er Recht hatte oder nicht, sondern dass er dachte, ein Geschehen im Hirn sei heranzuziehen, um die unmittelbare Wahrnehmbarkeit von Bewegung als solcher erklären zu können. Es ging allerdings von vornherein um weit mehr als um experimentalpsychologische Forschungen im Labor. Gestalttheorie war von Anfang an mehr als eine Theorie der Wahrnehmung. Dies belegt ein Text, der auch 1912 und somit im selben Jahr wie die Studie zum Bewegungssehen erschien: »Über das Denken der Naturvölker, Zahlen und Zahlgebilde«. Ein merkwürdiges Wort, Zahlgebilde, was könnte damit gemeint sein? 13 Solche Gruppen sind [für Naturvölker] »natürliche Gruppen«. Augen sind zwei, Teller und Tisch nicht, Stengel und Blüte nicht. Ein solches natürliches Gebilde ist unser »Paar«. Das Gebilde Paar gründet auf Symmetrie (pendants), auf formalem und Gebrauchszusammenhang (Augen, Stiefel), auf biologischem Zusammenhang (Ehepaar) und fasst nicht bevorzugtermaßen Gleiches sondern Zusammengehöriges. […] Dass Menschen überhaupt mit anderem als Menschen Zweigebilde usw. 13 Über das Denken der Naturvölker I. Zahlen und Zahlengebilde, Ders., Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie, Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie, 1925b, S. 110, 112 f., 114.
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Max Wertheimer und Wolfgang Khler
ergeben, kommt (abgesehen von ganz speziellen Umständen) nicht vor. Ein Reiter mit Pferd gibt nicht zwei sondern ev. eins: ein Berittener. Krass ausgedrückt: 1 Pferd + 1 Pferd = 2 Pferde; 1 Mensch + 1 Mensch = 2 Menschen; 1 Mensch + 1 Pferd = z. B. ein Reiter. Uns scheint es ein unbedingter Vorzug, von den natürlichen Beziehungen eines Dinges beliebig absehen zu können; und wir haben für unsere Bedürfnisse auch große denktechnische Vorteile davon. Dort sind die Denkgebilde selbst an den realen Möglichkeiten orientiert. Es lässt sich geradezu der (in anderem Zusammenhang zu behandelnde) Grundsatz formulieren: Wo natürliche Beziehung, lebendiger, konkret relevanter Konnex in den Dingen nicht besteht oder durch die konkrete Situation gefordert ist, existiert zunächst auch kein logischer Konnex, kein logisches Kommerzium ist möglich. Im Gegensatz zu der Art unseres Denkens, welches logisch in Richtungen geht wie »alles ist zählbar«, »alles ist durch Und-verbindung verbindbar« usw. […] Überhaupt: eine Zahlenfassung oder Operation ausführen, ohne dass deren Sinn in der lebendigen Wirklichkeit wurzelt, ja von den natürlichen Verhältnissen direkt gefordert wird, liegt Naturvölkern i. A. ganz fern, ist ihnen nahezu unmöglich. Stellt man ihnen Aufgaben, so zeigt sich oft sehr deutlich, wie wirklichkeitsabstrakt wir zu denken gewohnt sind, wie sie dagegen mit ihrem Denken im Wirklichen wurzeln.
Max Wertheimer wollte, dass die naturwissenschaftliche Psychologie ebenso im Wirklichen des Psychischen wurzelt, wie das Denken der Naturvölker. Er betont aber im selben Aufsatz, dass dieses natürliche Denken nicht nur bei Afrikanern zu finden sei, sondern auch bei »natürlich« denkenden Menschen hier bei uns, wie zum Beispiel im »Duzend« beim Bäcker, das nicht aus zwölf, sondern dreizehn Stück einer Backware bestehen mag. Acht Jahre später formuliert Wertheimer allgemeinere Prinzipien diese Fragen betreffend, und zwar in einem kleinen Aufsatz über »Schlussprozesse im produktiven Denken«, der ein Beitrag zur Festschrift von Carl Stumpf werden sollte. Die Festschrift erschien in Folge der Wirren der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr, weshalb Wertheimer den Text separat veröffentlichte. In diesem Text wirft er ein ziemlich interessantes Problem auf: 14 Wie recht eigentlich das Denken arbeite; was vor sich gehe, wenn das Denken irgendwann wirklich vorwärts dringt; was hierbei im Prozesse die entschei-
14 Über Schlussprozesse im produktiven Denken, Ders., Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie. Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie, 1925c, S. 164 f., 173 f.
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Mitchell G. Ash
denden Momente, die entscheidenden Schritte seien; das sind Fragen, die von alters her das Denken ernsthaft beschäftigt haben. Meist in einer Weitung und Wendung des Problems freilich, die wenig direkte Beziehung mehr zu dem enthält, was in lebendig vorwärts dringenden Prozessen wirklich vor sich gehen mag. […] Was geht recht eigentlich vor bei solchen Prozessen? Woran liegt es, dass derselbe Schluss zu verschiedenen Malen so verschieden erscheinen kann? […] Aber wir müssen, um ins Eigentliche zu dringen, noch sehr andersartige Beispiele bedenken. […] Cajus ist zusammen mit seinem besten Freund Xaver seit langem im Vorstand eines Vereins; beide haben seit längerer Zeit an der Arbeitsrichtung des Vereins keine Freude und nehmen an den Vorstandssitzungen nie teil, außer an den regelmäßigen Jahressitzungen, wenn der Rechenschaftsbericht ihres Spezialressorts verhandelt wird. – Cajus kommt eines Tages von einer Reise zurück und findet eine Zuschrift vor, in der ihm von einem einstimmigen Vorstandsbeschluss Mitteilung gemacht wird, welcher die Angelegenheit Y in der und der Weise regelt. Cajus fährt auf: das ist ja aber greulich! Jetzt aber ist’s zuviel! jetzt treten wir aus! ich muss doch gleich den Xaver antelephonieren -! und liest weiter: Im Zusammenhang mit der Angelegenheit Y wurde der Rechenschaftsbericht über …, der vorzeitig für diese Sitzung hatte anberaumt werden müssen, nach längerer Rede des Herrn Xaver genehmigt …« —— Hier mag zuerst etwas deutlich werden, was bei derartigen Prozessen von großer Wichtigkeit ist: die »Umkrempelung« von S-. [Xaver ist ein guter Mensch.] Einen Augenblick lang sind die beiden Prämissen nebeneinander da, dann plötzlich im »Einschnappen«, welch ein Prozess! (Was?! der Xaver war dabei?! Auch der Xaver – ist – also – so –). […] Ein solches ist u. a. in der Geschichtsschreibung oft von großer Bedeutung; nicht selten kamen grundstürzende Änderungen in der Art, wie man einen geschichtlichen Charakter sah, so zustande, dass Tatsachen, die bisher nur nie zu diesem Ende recht konfrontiert worden waren, in ihrer Konfrontation eine völlig neue Zentrierung des geschichtlichen Charakters bewirkten.
Das Wort »Zentrierung« ist hier tatsächlich von zentraler Bedeutung. Es geht um eine Zentrierung der gedanklichen Struktur, in diesem Fall der Meinung, die man von einem Menschen hat, die plötzlich in Folge neuer Erfahrungen völlig umgeändert werden muss. Das bedeutet für Max Wertheimer eine Umzentrierung des gedanklichen Bildes, das man sich von der Welt gemacht hat. Dass er dabei nicht nur an die Geschichtswissenschaft gedacht hat, zeigt ein nettes Tryptichon (Abb. 2). Es handelt sich um ein Bild, das in Erinnerung an gemeinsame Zeiten in Berlin im Jahre 1918 gemacht wurde. Zu sehen sind Max 272 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Max Wertheimer und Wolfgang Khler
Abbildung 2: von links: Max Wertheimer, Albert Einstein und Max Born, 1918 (Quelle: Albert Einstein Archives, Jewish National and University Library, Jerusalem. Vgl. Ash, 1995, S. 197)
Wertheimer, Albert Einstein in der Mitte und Max Born, wie Einstein auch ein theoretischer Physiker; es ist also ein Dokument eines Zusammentreffens zweier Physiker und eines Philosophen, der psychologisch denkt. Im eben zitierten Aufsatz macht Max Wertheimer erste Schritte hin zu einer Anwendung dieser Konzeptualisierung auf die Entstehung neuer Gedanken, auch in der Physik. In Gesprächen mit Albert Einstein zu jener Zeit prüfte er, ob beispielsweise die Entstehung der Relativitätstheorie als eine neue Zentrierung einer gedanklichen Struktur dargestellt werden könnte. Doch erst Jahrzehnte später sollten diese Aspekte der Gestalttheorie in seinem Buch »Produktives Denken« ausgearbeitet werden, das in englischer Sprache 1945 im Exil erschien. 15 In den 1920er Jahren war Max Wertheimer hauptsächlich in Berlin tätig, und zwar als außerordentlicher Professor an der Friedrich Wilhelm Universität zu Berlin, an der auch Wolfgang Köhler lehrte. In der Folge der so genannten »deutschen Revolution« von 1918/19 wurde das Berliner Staatsschloss frei. In dieses Staatsschloss zieht als einziges Universitätsinstitut, neben vielen anderen akademischen Einrichtungen wie z. B. die Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, das psychologische Institut der Friedrich Wilhelm Universität ein. In den Räumen des Schlosses arbeitet Wertheimer seine Theorie weiter aus. Ab 1923 beginnt er, zunächst vorsichtig, die Früchte dieser Überlegungen in Form 15
Produktives Denken. Frankfurt/M.: Waldemar Kramer, 1957.
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einer Reihe von später so genannten Gestaltgesetzen zu publizieren. Er wollte diese Tendenzen im Erleben als innere Gesetzmäßigkeiten verstanden wissen. Und in diesem Zusammenhang wirft er eine Problematik auf, die zurück führt zum Beginn jener Entwicklung, von der hier die Rede ist: 16 Was ist, was will Gestalttheorie? Gestalttheorie ist etwas mitten aus konkreter Arbeit Erwachsenes; erwachsen in dem Arbeiten an bestimmten Problemen der Psychologie, der Völkerpsychologie, der Logik, der Erkenntnistheorie. Ganz konkrete Probleme sind es, die den Boden gegeben haben; immer mehr konvergierte die Arbeit zu einem Grund- und Hauptproblem. Wie ist die Grundsituation? – Eine Situation, die vielen Forschern, vielen Philosophen der Jetztzeit in ganz ähnlicher Weise da war, vielen auch von den jungen Menschen, auch von den jüngsten, immer wieder entsteht – die Grundsituation: man kommt von lebendigem Geschehen zur Wissenschaft, sucht in ihr Klärung, Vertiefung, Hineindringen, Vorwärtsdringen in das Wesentliche dessen, was da vorgeht, und findet vielfach zwar Belehrungen, Kenntnisse, Zusammenhänge und fühlt sich nachher ärmer als vorher. […] Die Gestalttheorie versucht nicht, das Problem zu verkleistern oder zu umgehen, versucht auch nicht, das Problem dadurch zu erledigen, dass man sagt: so ist die Wissenschaft, das Leben ist anders, ist nicht so, – dass man sagt: Ja, bei den geistigen Dingen gibt es Anderes als bei den anderen Dingen, dass man das Heil in Material-(Gebiets-)trennung sucht. Sie versucht an einem entscheidenden Punkt in das Innere des Problems hineinzukommen […]. Die Gestalttheorie glaubt nun, einen entscheidenden sachlichen Punkt für das Problem darin gefunden zu haben, dass sie erkennt: es gibt Zusammenhänge, Gegebenheiten anderer – formal anderer – Art. Nicht nur in der Geisteswissenschaft. Man könnte das Grundproblem der Gestalttheorie etwa so zu formulieren suchen: Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo – im prägnanten Fall – sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt wird von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen.
So wird die Gestalttheorie im Jahr 1925 eingeführt. Wie das aber eigentlich im konkreten Fall mit den Gestaltgesetzen im Erleben aussieht, hat Wertheimer bereits einige Jahre vorher eindringlich beschrieben: 17 Über Gestalttheorie. Separatdruck, Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie, 1925d, S. 3, 6 f. 17 Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, II. Psychologische Forschung, 4, 1923, S. 301. 16
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Abbildung 3: Das Gestaltprinzip der Nähe (Quelle: Wertheimer, 1923. Vgl. Ash, 1995, S. 225)
Ich stehe am Fenster und sehe ein Haus, Bäume, den Himmel. Aus theoretischen Gründen könnte ich zu zählen versuchen und sagen: Hier gibt es … 327 Helligkeiten. Habe ich ›327‹ ? Nein, ich sehe den Himmel, das Haus, die Bäume; und niemand kann diese ›327‹ als solche haben. Weiter: in dieser seltsamen Berechnung das Haus sollte, sagen wir 120 und die Bäume 90 und der Himmel 117, ich habe aber auf jedem [sic] Fall diese Verbindung, diese Trennung, und nicht, sagen wir, 127 und 100 und 100, oder 150 und 177. Ich sehe das alles in dieser spezifischen Verbindung, dieser spezifischen Trennung (der Gegenstände); und die Art der Verbindung oder Trennung die ich sehe ist keinesfalls durch mich frei entscheidbar: Es ist fast unmöglich, das alles in irgendeiner Kombination zu sehen, die ich per Zufall wählen könnte. Wenn ich es schaffe, eine ungewöhnliche Kombination zu sehen, welch’ seltsamer Vorgang das ist! Welche Überraschung wenn, nachdem ich lange hinschaue und vielmals versuche, ich entdecke – unter dem Einfluss einer sehr unrealistischen Einstellung – dass Teile des Fensterrahmens dort drüben mit einem glatten Zweig daneben ein ›N‹ machen … Gibt es Prinzipien für diese von mir gesehene Organisation? Was sind sie? Man kann versuchen, die Faktoren, die hier zu Werke sind, experimentell zu isolieren, aber eine einfachere Vorgangsweise kann in der Darstellung der kritischsten Faktoren verwendet werden: Demonstration anhand einiger einfachen, charakteristischen Fälle.
So bestimmt beispielsweise das Prinzip der Nähe nach Wertheimer das Sehen von Gruppierungen (Abb. 3). Wer die zweite, unten stehende Reihe von Punkten sieht, kann nicht ohne weiteres Gruppierungen von jeweils zwei Punkten sehen. Man sieht Gruppierungen von drei Punkten und müsste sich zwingen, daraus Gruppierungen von zwei Punkten zu machen. Vom Prinzip der Ähnlichkeit kann man sagen, dass auch dieses Prinzip das Sehen von Gruppierungen bestimmt, aber anhand der Ähnlichkeit, das heißt der ähnlichen Gestalthaftigkeit der Teile dieser Gruppierungen. Das Prinzip der »guten Kurve« oder »guten Fortsetzung« entscheidet, ob wir bei diesem Beispiel zwei ungerade Linien sehen oder die Winkel AB oder CD (Abb. 4).
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Abbildung 4: Das Gestaltprinzip der »guten Fortsetzung« (Quelle: Wertheimer, 1923. Vgl. Ash, 1995, S. 225)
Man muss sich also zwingen, entgegen dem, was man spontan sieht, die Winkel BA oder CD zu sehen. Das methodische Anliegen von Wertheimer ist hier, dass man den Versuchspersonen keine Vorschriften darüber macht, was sie zu sehen haben, sondern stattdessen zunächst fragt: »Was seht ihr?« und das Beschriebene dann zu erklären versucht. Solche Ansätze waren in der Weimarer Zeit sehr produktiv. In Berlin wurden sie unter vielen anderen von zwei Schülern Wertheimers umgesetzt. Zum einen von Karl Duncker, der den Begriff des Bezugssystems aus der Relativitätstheorie in die experimentelle Psychologie eingeführt hat 18 und zum anderen von Rudolf Arnheim, der bei Wertheimer über physiognomische Wahrnehmung promoviert hat und später als einer der Pioniere der Filmtheorie berühmt werden sollte. 19 Nun kommen wir zum Mitstreiter Wertheimers Wolfgang Köhler: 20 Ich, Wolfgang Köhler, Evangelisch-lutherischer Konfession, wurde als Sohn des Gymnasialdirektors a. D. Franz Köhler am 21. Januar 1887 in Reval geboren und bin derzeit Bürger des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. Ich besuchte die Bürgerschule und das Herzogliche Gymnasium in Wolfenbüttel und erhielt das Zeugnis der Reife zu Ostern 1905. Danach studierte ich
Karl Duncker, Über induzierte Bewegung, Psychologische Forschung, 12, 1929. Rudolph Arnheim, Experimentalpsychologische Studien zum Ausdrucksproblem, Psychologische Forschung, 11, 1928. 20 Akustische Untersuchungen I, Phil. Diss. Berlin, 1909, S. 1. 18 19
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Philosophie und Naturwissenschaften an den Universitäten Tübingen, Bonn und Berlin. Unterweisung habe ich von den Professoren Fischer, Gehrcke, Hettner, Nernst, Planck, Riehl und Stumpf erhalten.
Es ist nicht unbedingt die Regel für einen Philosophen der damaligen Zeit, bei Chemikern wie Walther Nernst oder Physikern wie Max Planck studiert zu haben. Köhlers Verbindung zur Naturwissenschaft war sogar noch weitaus enger, als diese Angaben ahnen lassen. Wie Max Wertheimer und Kurt Koffka kam auch Wolfgang Köhler zum Studium bei Stumpf erst, nachdem er sich für eine Forscherlaufbahn als Naturwissenschaftler entschieden hatte. Die Inspiration kam zum großen Teil von seinem Gymnasiallehrer in Wolfenbüttel, Hans Friedrich K. Geitel, einem international anerkannten Physiker und Mathematiker, der mit Forschern wie Planck, Becquerel und Rutherford korrespondierte, aber aus persönlichen Gründen in Wolfenbüttel blieb. Köhler bekannte sich zum Einfluss Geitels in einem Brief zu dessen 60. Geburtstag im Jahre 1915 wie folgt: 21 Als ich Ihnen meinen Wunsch, Philosophie zu studieren, vortrug, sagten Sie mir, dass Ihrer Meinung nach nur ein durchgehendes Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften eine Hoffnung auf Erfolge in diesem Fach geben könnte. Ich habe versucht, Ihrem Rat zu folgen, und ich muss heute sagen, dass mich der Gedanke daran schaudert, was passiert wäre, wenn ich ihn vernachlässigt hätte.
Dass diese Worte keine Floskeln sind, belegt die Tatsache, dass Köhler auf der Universität praktisch ebenso viele Lehrveranstaltungen in Mathematik und Naturwissenschaften (insgesamt 25) belegte, wie in Psychologie und Philosophie (23). Auch nachdem er im Herbst 1907 nach Berlin übersiedelte mit dem erklärten Ziel, eine Dissertation bei Carl Stumpf abzuschließen, hörte er weiterhin naturwissenschaftliche Vorlesungen, u. a. bei Nernst und Planck, wie bereits erwähnt. Darüber hinaus nahm er am Kolloquium des Experimentalphysikers Heinrich Rubens teil, welches zu jener Zeit ein Zentrum der physikalischen Diskussion in Berlin war. 22 Wie wir gleich sehen werden, blieb dies nicht
21 Köhler an Geitel, 27. Juni 1915, in: Siegfried Jaeger (Hg.), Briefe Wolfgang Köhlers an Prof. Dr. Geitel, Passau: Passavia, 1989, S. 55. 22 Siegfried Jaeger, Wolfgang Köhler in Berlin, Lothar Sprung & Wolfgang Schönpflug (Hg.), Geschichte der Psychologie in Berlin (2. erw. Aufl.), Frankfurt/M.: Lang-Verlag, 2003.
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folgenlos für die Entwicklung des Köhlerschen Konzeptes der Gestalttheorie. Die Begegnung mit Wertheimer indessen war diesbezüglich noch einflussreicher. Die Wege der Beiden kreuzten sich in Frankfurt, als Köhler sich als Versuchsperson für Wertheimers Experimente zum Bewegungssehen zur Verfügung stellte. Diese Begegnung mit Wertheimer änderte das wissenschaftliche Leben Köhlers von Grund auf. Dokumentiert ist dies durch die erste Veröffentlichung Köhlers nach dieser Begegnung, die gleichzeitig auch als eine der Gründungsschriften der Gestalttheorie gilt. In seinem Aufsatz »Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen« 23 (1913) wandte sich Köhler gegen die von ihm so genannte Konstanzhypothese, die besagt, dass es so etwas wie eine ein-zu-eins Beziehung von punktförmig verstandenen Außenreizen und Empfindungsdaten gäbe. Dies war eine verbreitete Annahme in der damaligen Zeit, die im Übrigen in der Sinnesphysiologie heute noch eine wesentliche Rolle spielt. Da z. B. die Rezeptoren auf der Retina unserer Augen tatsächlich punktförmig sind und davon ausgegangen wird, dass diese Rezeptoren die ersten Empfänger des Lichtes von außen sind, hat die Frage durchaus ihre Berechtigung, wieso wir Farben manchmal im Verhältnis zueinander anders sehen. Im Falle des rot-grünen Kontrasts beispielsweise wird eine rote Fläche von bestimmter Intensität anders wahrgenommen, wenn sie in einer bestimmten Anordnung zusammen mit einer grünen Fläche präsentiert wird, als wenn dieselbe rote Fläche allein gezeigt wird. Köhler meint dazu sinngemäß: Nicht hypothetische, konventionell vorgeschriebene, punktförmige Empfindungen sollen der Gegenstand der Wahrnehmungspsychologie sein, sondern Dinge, die Dinge, die wir tatsächlich sehen. In einer blumigeren Ausdrucksweise haben wir Ähnliches bereits bei Wertheimer angetroffen, allerdings aus einer Veröffentlichung, die erst zehn Jahre später erschien. Köhler ist es schließlich auch, der die Chance erhält, diese These im Tierversuch zu testen. Im besagten Jahr 1913 wird eine Anthropoidenstation auf der Insel Teneriffa eingerichtet, unterstützt von einer Stiftung der preußischen Akademie der Wissenschaften. Als zweiter Direktor dieser Station wird Wolfgang Köhler auf Empfehlung des Philosophen Carl Stumpf bestimmt, dies, obwohl Köhler selbst keinerlei 23 Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen, Zeitschrift für Psychologie, 66, 1913.
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Erfahrungen in Tierpsychologie aufweisen kann. Köhler bestätigt das in ihn gesetzte Vertrauen und publiziert sehr bald den monographischen Aufsatz »Intelligenzprüfungen an Anthropoiden« 24 , im wesentlichen basierend auf Untersuchungen, die er an der neuen Station in den ersten Monaten des Jahres 1914 durchführte, deren Ergebnisse er in den folgenden Jahren niederschrieb, während er wegen des ersten Weltkrieges auf Teneriffa interniert wurde. In diesem Text wie in einer weiteren großen Abhandlung mit dem Titel »Über Strukturfunktionen beim Schimpansen und beim Haushuhn«25 behauptet Köhler, dass es so etwas wie Einsicht beim tierischen Problemlösen geben kann. Das klingt zunächst sehr anthropomorph, so, als würden die Tiere menschliche Eigenschaften besitzen. Nach welchem Kriterium also ist hier von »Einsicht« die Rede? Doch bevor wir diese Frage beantworten, werfen wir zunächst einen Blick auf die verhaltensbiologischen Versuche, die Köhler durchführte und auf deren Ergebnisse er diese These abstützte. Die Protagonistin heißt Chica und ist eine Schimpansin. Sie klettert auf einen von ihr selbst gebauten Kistenturm, um eine Banane zu bekommen, die über ihr hängt (Abb. 5). Entscheidend ist hier nicht nur, dass Chica eine ziemlich kluge Lösung findet, sondern auch die »Kurve«, der gerade Weg dorthin, welches Verhalten bei der Problemlösung sie also genau zeigt, das so viel anders erscheint, als ein zielloses Herumprobieren. Für Köhler gab es einen grundlegenden Unterschied zwischen genuinen Leistungen beim Problemlösen und etwas, was er Imitationen des Zufalls nannte – so wie Hühner zum Beispiel herumgackern, bis sie plötzlich irgendwie per Zufall entdecken, dass es hinter dem Zaun Futter gibt und dann erst um die Barriere herum rennen und es finden. Köhler ging es um eine klare Gegenüberstellung des Prinzips von Versuch und Irrtum, als eine Möglichkeit des Problemlösens, und einem Problemlösen aus Einsicht. Was aber heißt nun einsichtiges Problemlösen genau? 26 Der Eindruck ist zwingend, dass diese Kurve als Ganzes auftritt, und von vornherein als Produkt optischer Übersicht über den gesamten Situationsauf24 Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 1974. Erstmals unter dem Titel Intelligenzprüfungen an Anthropoiden 1917 erschienen. 25 Nachweis einfacher Strukturfunktionen beim Schimpansen und beim Haushuhn, Abhandlungen der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften, physikalischmathematische Klasse, No. 2, 1918. 26 Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, a. a. O., 1974, S. 136 f.
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bau. (Die Schimpansen, deren Gebaren ja ungleich sprechender ist als das etwa von Hühnern, erweisen eigens durch ihr Blicken, dass sie wirklich zunächst eine Art Bestandsaufnahme der Situation vornehmen; aus dieser Übersicht springt dann das »Lösungsverhalten« hervor.) Wir wissen bei uns selber scharf zu scheiden zwischen einem Verhalten, das von vornherein der Rücksicht auf die Situationseigenschaften entspringt, und einem andern ohne dies Merkmal. Nur im ersteren Fall sprechen wir von Einsicht, und nur dasjenige Verhalten von Tieren erscheint uns auch als zwingend einsichtig, das in geschlossenem glatten Verlauf von vornherein dem Situationsaufbau, der gesamten Feldgestaltung gerecht wird. Danach ist dieses Merkmal: Entstehen der Gesamtlösung in Rücksicht auf die Feldstruktur als Kriterium der Einsicht anzusetzen.
Köhler kommt es hier auf die Struktur der Gesamtsituation an, wie sich das Problem darstellt: dort das Futter, hier – »ich«, und dazwischen »etwas« – im Fall Chicas herumliegende Kisten. Zu Beginn gibt es keine Verbindung zwischen diesen drei Entitäten, erst nach längerem Schauen, einer Phase, in der das Tier sich nicht bewegt oder herumprobiert, erkennt es plötzlich die Verbindung zwischen ihnen. Köhler beschreibt dieses Verhalten in Form einer kontinuierlichen Lösungskurve, die als charakteristisch für einsichtiges Verhalten gilt, einem Verhalten, das sowohl Hypothesenbildung wie sichtbares Handeln beim Tier umfasst. Bestätigt wird diese These vom einsichtigen Verhalten durch eine spektakuläre Leistung von Sultan, dem größten Tier in Köhlers Schimpansengruppe. Etwa ein Monat nach der eigentlichen Problemlösung führt Sultan in einem später vielfach gezeigten Film gewissermaßen vor, was er schon kann, indem er zwei Rohrstöcke ineinander steckt und die Banane mit dem verlängerten Stock zu sich holt. Sultans Lösung gilt als besonders intelligent, er bleibt jedenfalls der Einzige in der Gruppe, der das Problem so löst. Interessant an diesem Ereignis ist vor allem, dass es als Nachweis dessen angesehen werden darf, was Tiere unter entsprechenden Bedingungen alles können. Und genau darum geht es auch Köhler: Die Bedingungen so zu gestalten, dass die Tiere das jeweilige Problem tatsächlich lösen können und nicht zu prüfen, ob sie etwas so tun können, wie wir es tun. Auf diese Weise wird aber letztlich auch die Perspektive des Experimentators entscheidend involviert. Denn ob das Tier Intelligenz oder Einsicht zeigen kann, hängt dann vor allem auch vom Versuchsaufbau ab, und die von Köhler so genannten »Lösungskurve« existiert wohl eher im Wahrnehmungsfeld des Experimentators, als in dem des Tieres. 280 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Abbildung 5: Werkzeuggebrauch: Chica holt sich eine Banane mit einem Stock (Quelle: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin. Vgl. Ash, 1995, S. 155)
Während seiner Zeit auf Teneriffa schrieb Köhler ein Buch, das ihm letztlich die Professur in Berlin einbringen sollte. Dieses Buch stellt zugleich den dritten Schritt in der Entwicklung der Gestalttheorie dar, nämlich den Schritt zu einer Gestalttheorie als Philosophie der Natur. Das Buch trägt den äußerst provokativen Titel »Die Physischen Gestalten in Ruhe und im stationärem Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung«.27 Gleich vorangeschickt sei, dass sich das Wort 27
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»naturphilosophische« nicht auf die Naturphilosophie Schellings bezieht! Vielmehr stellt Köhler hier zwei Kriterien für die Zuschreibung von Gestalteigenschaften in der Physik auf. Er bezieht sich dabei auf die bereits erwähnte Arbeit Christian von Ehrenfels’, obwohl dieser andere Kriterien für seine Gestaltqualitäten aufgestellt hatte. Köhler nimmt an dieser Stelle bereits eine Verallgemeinerung der Kriterien von Ehrenfels vor. Das erste Prinzip heißt »Übersummativität«. Gemeint ist damit, dass eine Struktur etwas mehr an Eigenschaften hat, als wenn man nur die Eigenschaften einzelner Teile dieser Struktur zusammenzählt. In diesem Fall trifft es also tatsächlich zu, dass ein Ganzes mehr sein soll als die Summe seiner Teile. Das zweite Prinzip »Transponierbarkeit« geht auf von Ehrenfels’ Melodie-Beispiel zurück: Die Tongestalt, welche der gehörten Melodie zugrunde liegt, wird beibehalten, auch wenn sie in unterschiedlichen Zusammenhängen vorkommt oder verändert wird. Was das für die Behauptung bedeutet, dass es Gestalten in der Physik gibt, soll an einem konkreten Beispiel für das verdeutlicht werden, was Köhler als starke Gestalt tituliert, weil sie beiden Kriterien genügt. Es handelt sich um die Verteilung von Strom auf einem Leiter. Das ist mehr als bloß eine Aneinanderreihung von einzelnen Pulsen, zumindest für ihn, der dies aus dem Blickwinkel der physikalischen Feldtheorie sieht. Stört man diese Strömung, stellt sie sich wieder her, sobald die Störung behoben wird. Physikalische Felder und Systeme sind für Köhler Gestalten nach diesen Kriterien und es bedarf keiner Zuschreibung subjektiver Eigenschaften oder Tätigkeiten auf die Natur, um dies nachzuweisen. In der Folge führt Köhler diesen Gedanken aber noch weiter, und zwar hin zur Behauptung, dass es Vorgänge im menschlichen Hirn geben muss, die Gestalteigenschaften im eben definierten Sinne besitzen und die deshalb als physische Korrelate der Wahrnehmungsgestalten gelten könnten: 28 […] wir brauchen nicht verschweigen, was ja doch schon klar sein dürfte: Lässt sich die Theorie wirklich durchführen, dann muss sie auf eine Art sachlicher Ähnlichkeit zwischen psychophysischem Geschehen und phänomenalem Feld in ihren Gestalteigenschaften hinführen, nicht nur im allgemeinen, phische Untersuchung (1. Aufl. 1920), Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie, 1924. 28 Ebd., S. 193.
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insofern es sich eben beiderseits um Gestalten handelt, sondern in dem Spezifischen jeder Gestalt in jedem einzelnen Falle. Nach einer verbreiteten Ansicht sollen psychophysisches Geschehen und zugehörige phänomenale Gegebenheiten »in ihren Elementen sowohl wie in der Art der Verbindungen der Elemente unvergleichbar sein« (Wundt). Eine durchaus entgegengesetzte Anschauung (welche wohl auf Johannes Müller zurückgeht) besagt dagegen zweitens, dass Bewusstsein die phänomenale Abbildung wesentlicher Eigenschaften psychophysischen Geschehens gibt. Wir meinen noch etwas Anderes und Radikaleres: Aktuelles Bewusstsein ist in jedem Falle zugehörigem psychophysischen Geschehen den (phänomenal und physisch) realen Struktureigenschaften nach verwandt, nicht sachlich sinnlos nur zwangsläufig daran gebunden.
Dies war Köhlers Antwort auf die Frage, was die Konzeptualisierung physischer Gestalten für die Beschreibung des Geschehens im Gehirn beziehungsweise für das Verhältnis des Geschehens im Gehirn und in der Psyche bedeutet. Die Überschrift über des betreffende Kapitel im Buch lautet »denn was innen, das ist außen«; das Zitat stammt aus Johann Wolfgang von Goethes Gedicht »Epirrhema«. 29 Diese Referenz ist klar intendiert. Köhler will darüber eine Verbindung zur deutschen Klassik herstellen. Er benennt damit ein Prinzip, das er später das Prinzip des »psychophysischen Isomorphismus« nennen sollte – und dies zu Recht, denn die gestalthafte Struktur in der Außenwelt, im Gehirn und im Psychischen soll die gleiche sein. Was heißt das nun konkret für das Geschehen im Gehirn? Und bedeutet das Diktum »denn was innen, das ist außen«, dass Köhler plötzlich Romantiker geworden ist, obwohl er bei Nernst und Planck gelernt hat? Hierzu nimmt er in aller Deutlichkeit Stellung: 30 »Alles hängt mit allem zusammen«, das ist kein Satz, der die spezifischen und irgendwie wertvollen Eigenschaften von Beobachtetem angäbe oder zu deren Verständnis viel beitrüge. […] Die Rede vom allgemeinen Zusammenhang in der physischen Welt gibt ein Naturbild, das ohne Profile und innere Zeichnung, unterschiedslos und gleichmäßig in sich verschwimmt. Die Erfahrung aber zeigt vielfach beschränkte Gebiete, so genannte physikalische Systeme, von dem übrigen Weltzusammenhang so weit unabhängig, dass deren Einfluss keinesfalls als 29 Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung (1. Ed. 1920), Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie, 1924, S. 173. 30 Ebd. S. 156, 158. Zu einer späteren Zeit wird der Physiker Wolfgang Pauli eine eigene Diskussion des psychophysischen Problems vorlegen.
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den Kräften des inneren Zusammenhanges in ihnen gleichwertig angesetzt werden darf. Gesetzte der Naturwissenschaft, wenn sie in einem klaren Sinne ausgesprochen werden, beziehen sich auf solche Systeme, und die spontane Ausbreitung physischen Materials in eben solchen ergibt physische Gestalten in der einzigen Bedeutung des Wortes, welche gegenwärtig klar und streng gemacht werden kann.
Es geht also nicht um Romantik, von der sich Köhler explizit distanziert. Nur weil das atomistische Denken nicht ausreicht, um das Psychische zu beschreiben, müssen wir nicht gleich zum Gegenteil des atomistischen Denkens, nämlich einem vagen Holismus, übergehen. Köhler suchte also einen Mittelweg, einen Holismus, mit dem man im Naturwissenschaftlichen tatsächlich arbeiten können soll. Nun, was heißt das konkret für das Hirngeschehen? 31 In der theoretischen Physik wird gezeigt, dass eine auszeichnende Bedingung für alle zeitunabhängigen Strukturen gültig ist: Die Energie einer Gestalt ist Funktion ihrer Raumstruktur. […] Oder auch: In allen Verläufen, welche überhaupt in zeitunabhängige Endzustände ausmünden, verschiebt sich die Ausbreitungsart in Richtung auf ein Minimum der Strukturenergie hin. […] Wir übertragen auf das Nervensystem: Auch zeitunabhängige psychophysische Gestalten nehmen in jedem Falle diejenige Ausbreitungsart an, welche unter den retinalen und sonstigen Bedingungen des jeweiligen Geschehens die kleinste mögliche Strukturenergie im Ganzen ergibt. Wir folgern zweitens, dass psychophysische Gestalten, welche auf ihre bedingenden Formen zurückzuwirken und diese umzubilden vermögen, eine solche Verschiebung nicht in beliebigem Sinne vollziehen können, sondern nur derart, dass die damit zugleich eintretende Selbstumbildung der Gestalt in der Richtung einer weiteren Herabsetzung der Strukturenergie erfolgt. […] Wir wollen die betreffende, noch nicht eindeutig zu fassende Gesetzmäßigkeit vorläufig als ›Tendenz zum Zustandekommen einfacher Gestaltung‹ oder auch ›zur Prägnanz der Gestalt‹ bezeichnen und diesen Worten mit Bewusstsein eine Unbestimmtheit lassen, welche wohl geeignet ist, uns stets an die ungelöste theoretisch-physikalische Aufgabe zu erinnern. Es hat wohl einen Wert, wenigstens diese zu kennen.
Die eben angegebenen Bezeichnungen sind von Wertheimer eingeführt, aber nicht zur Beschreibung des Verhaltens anorganisch-physikalischer, sondern phänomenaler und also auch physiologischer Geschehensstrukturen. Indessen dürfen die Ausdrücke auch auf physikalisches Ge31
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biet übernommen werden; denn die Tendenz und Ausbildungsrichtung, welche in der Psychologie Wertheimer als allgemein erkannte und mit jenen Namen belegte, ist ganz offenbar eben diejenige, von welcher bisher die Rede war. Konkret auf die Psychologie der Sinneswahrnehmung angewandt und im Klartext formuliert: Nach Köhler ist das Hirngeschehen in jenen Arealen, die für die einzelnen Sinnesleistungen zuständig sein sollen, feldtheoretisch im Sinne der physikalischen Feldtheorie zu deuten. Zum Beispiel: »Psychophysisches Geschehen im optischen System hat die allgemeinen Eigenschaften von physischen Raumgestalten«. 32 Das wäre der konkrete Gehalt der Aussage »denn was innen, das ist außen«. Mit Wertheimers Theorie von der Prägnanz der Gestalt wird dies 1923 allgemeiner gefasst werden. In der heutigen Formulierung dieses Prinzips klingt das wie folgt: Das Wahrnehmungsgeschehen tendiert dahin, die einfachste, klarste und damit beste Struktur einzunehmen, die unter den gegebenen Bedingungen möglich ist. Und dies, so Köhler, sei nichts anderes, als eine Anwendung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik auf das Psychische. Wie ist das zu verstehen? In seinem Buch gibt Köhler anhand einer Maximum-MinimumVerteilung ein prägnantes Beispiel für das, was hier mit dem Psychischen genau gemeint ist, wie es im Übrigen von Ernst Mach schon vorweg genommen wurde. Legt man Fäden auf einen Seifenfilm, tendiert dieser dazu, einfache Strukturen ganz spontan einzunehmen (Abb. 6). Keine menschliche Hand hat diese Form geschaffen, sondern die Fäden selbst haben diese Form angenommen, auf Grund der gleichmäßigen Verteilung des Films auf einem Stück Glas. Das ist für Mach ein Beispiel des Prinzips der Symmetrie im physikalischen Geschehen; für Köhler handelt es sich um nichts anderes als ein Beispiel des Prägnanzprinzips in der Physik. Und hier noch ein weiteres Beispiel zur Verdeutlichung von Köhlers Auffassung der Bedeutung der Prägnanz der Gestalt. Es handelt sich um ein Felddiagramm nach James Maxwell, welches in heutigen Lehrbüchern der Physik selten gezeigt wird (Abb. 7). Für Köhler ist das Diagramm ein Beispiel dafür, wie einfache Ladungs-Verteilungen in physikalischen Feldern dargestellt werden können; und zwar so, dass ihre Schönheit unmittelbar wahrnehmbar ist.
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Abbildung 6: Gleichmäßige Verteilung einer Faden auf einem Stück Glas, das mit einem Seifenfilm belegt ist (nach Mach). (Quelle: Ernst Mach, The Science of Mechanics (Lasalle, Illinois 1960), S. 481. Vgl. Ash, 1995, S. 185)
Die Schönheit, die sich aus der einfachen Strukturierung dieses Feldes, als physikalisches Feld, sowie auch aus der Darstellung desselben ergibt, wie wir sie wahrnehmen, illustriert noch einmal und auf andere Weise den Goethe-Spruch – »denn was innen, das ist draußen«. Köhler meint also weit mehr, als es anfangs den Anschein hatte. Es wird eine Ästhetik mit impliziert, die er für die Natur genau so geltend machen will wie für unsere Wahrnehmung derselben.
Philosophie, Physik, theoretische Biologie Köhler wurde im Jahre 1922 zum Nachfolger seines Lehrers Carl Stumpf als Ordinarius für Philosophie und Direktor des psychologischen Instituts der Friedrich Wilhelm Universität zu Berlin ernannt. Freiwillig nimmt er denselben Titel an wie sein Lehrer. Dies bestätigt meine anfangs formulierte These, dass Köhler wie Wertheimer die Doppelidentität des Philosophen und naturwissenschaftlich arbeitenden Psychologen suchte und vertrat. In dieser Zeit konnten dank der Größe der Schlossräume spektakuläre Experimente durchgeführt werden. Als Beispiel seien hier die Arbeiten mit einem so genannten »homogenen Ganzfeld« genannt – ein konturloses Umfeld ohne jegliche Orientierungsmerkmale, auf dem unter verschiedenen Beleuchtungsbedingungen die Minimalbe286 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Abbildung 7: Durch elektrischen Strom auf einem geraden Leiter induziertes, gleichmäßig verteiltes Magnetfeld (nach Maxwell) (Quelle: James Clerk Maxwell, Treatise of Electricity and Magnetism (Cambridge, 1873), Bd. 2, Abb. XVII. Vgl. Ash, 1995, S. 183.)
dingungen dafür, überhaupt etwas wahrzunehmen, erforscht werden konnten. 33 Zu dieser Zeit gelang Köhler auch der Schritt von der Physik zur theoretischen Biologie. Dokumentiert ist dies etwa durch einen Aufsatz zum Problem der Regulation, den er bezeichnenderweise in einer Festschrift für den Neovitalisten Hans Driesch 1927 publizierte. 34 Hier 33 Wolfgang Metzger, Optische Untersuchungen am Ganzfeld II. Zur Phänomenologie des homogenen Ganzfeldes, Psychologische Forschung, 13, 1930. 34 Zum Problem der Regulation, Roux’ Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen, 112, 1927.
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schreibt er, dass der zweite Hauptsatz der Thermodynamik eine Selbstregulierung physikalischer Systeme in Richtung auf Gleichgewichtszustände vorschreibt. Dies war in den 1920er Jahren zwar kein neuer Gedanke, aber bei der Übertragung auf organische Systeme mit Problemen behaftet. Ein Lösungsvorschlag, so Köhler, wäre eine Überwindung der Beschränkung auf den Organismus selbst durch die Einbeziehung des Verhältnisses von Organismus und Umwelt. 35 Diesen Lösungsansatz kennt man heute allgemein, aber dass Köhler ihn als erster formuliert hat, weiß man nicht. Zur Erklärung der nicht nur in der Gegenwart vorhandenen Verhältnisse von Organismus und Umwelt, sondern auch der Entwicklung lebendiger Systeme, beispielsweise der Morphogenese, fordert Köhler eine Unterscheidung zwischen geschlossenen Systemen, wie sie in der Physik bekannt sind, und offenen Systemen, die hier eine Rolle spielen. Es bleibt jedoch bei der Forderung, Köhler entwickelt diesen Gedanken nicht weiter. Ohne diesen Gedanken jedoch ist die allgemeine Systemtheorie, wie sie z. B. von Ludwig von Bertalanffy später in der theoretischen Biologie formuliert werden sollte, kaum zu denken. 36
Der Wendepunkt: 1933 Am 7. April 1933 verkündeten die Nazis als eines ihrer ersten Gesetze das so genannte »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«. Das Gesetz verfügt die Entlassung beziehungsweise Zwangspensionierung von Menschen, die entweder nicht »arischer« Abstammung sind oder die politische Zuverlässigkeit nicht aufbieten können, die für den neuen Staat für notwendig gehalten wird. Viele der bedeutendsten Köpfe der deutschen Wissenschaft genügten diesen Bestimmungen nicht und sie mussten ihre Ämter räumen beziehungsweise in
Ebd. Köhler führt zum Umweltbegriff an dieser Stelle nichts weiter aus. Folglich bleibt es anderen wie z. B. Kurt Lewin (1931) überlassen, die von Uexküll eingeführte Unterscheidung zwischen der Umwelt und der »Innenwelt« von Tieren auf den Menschen anzuwenden. 36 Ludwig von Bertalanffy, General Systems Theory, New York: Basic Books, 1968. Vgl. Astrid Schwarz, Aus Gestalten wurden Systeme. Frühe Systemtheorie in der Biologie. Gesellschaft für Ökologie, in: K. Mathes, B. Breckling & K. Ekschmidt (Hg.), Systemtheorie in der Ökologie, Landsberg: Ecomed 1996, S. 35–45. 35
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Max Wertheimer und Wolfgang Khler
die Emigration gehen. 37 Darunter war auch Max Wertheimer. Köhler war einer der wenigen, die gegen dieses Gesetz öffentlich Stellung bezogen, ein durchaus bemerkenswerter Vorgang in der akademischen Gesellschaft dieser Zeit. Der Text heißt »Gespräche in Deutschland« und erschien auf Seite zwei der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 28. April 1933: 38 Die mächtigen Männer, die eben Deutschland regieren, haben mehr als einmal nach den anderen Deutschen gefragt, nach denen, die bisher abseits stehen und die zu gewinnen sicher lohnte. Wer Sie gewinnen will, muss wissen, weshalb sie abseits leben. Und wenn sie wirklich etwas wert sind, wird offene Behandlung dieser Frage vaterländische Pflicht. Man kann leicht erfahren, was sie fernhält; denn eben können sie von nichts anderem sprechen. […] Ein Kind vermag zu erkennen, dass sie unter schwerem Druck leben. Sie sind traurig aus Angst um ihre Nation. […] Da nun auf und ab im Lande, in den Fachvertretungen der Berufe, den Verbandsleistungen der Wirtschaft, und bis in die einzelnen Unternehmen ein Mann nach dem andern davon muss, an dessen deutlicher Gesinnung so wenig gezweifelt werden kann wie an seiner gründlichen Sachkenntnis und seiner Eignung als Charakter, so höre ich immer wieder die Frage: Warum? Wer sind die Nachfolger? Dass die mächtige Bewegung, die nun herrscht, starke Persönlichkeiten genug für alle wesentlichen Stellen politischer Macht bereithielt, hat sie gezeigt. Dass sie obendrein auch noch, ferner dem unmittelbar politischen Bereich, für jedes Sachgebiet deutschen Lebens hinreichend viele bessere und beste Männer hergeben könne, für die Verwaltung der Hochschulen, der Berufsverbände, der Einzelunternehmungen in der Wirtschaft, wo immer oben oder weiter unten etwas nach sachlicher Gefordertheit zu führen ist – das scheint meinen Freunden fast ein Ding der Unmöglichkeit. Ich finde gar nicht, dass diese Menschen etwa neidisch wären. Sie haben einfach Angst um die nahe Zukunft ihres Vaterlandes, wenn in jedem Lebensbereich nicht der schlechthin geeignetste unter allen Männern deutscher Gesinnung, sondern überall der Nationalsozialist des Bereiches die Führung in seine Hand nimmt. Sie wagen nicht zu hoffen, dass dieser immer mit mit jenem identisch sein werde. Und inzwischen steht ihnen ihr Vaterland näher 37 Für einen quantitativen Überblick über die Folgen siehe Michael Grüttner und Sven Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933– 1945, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 55, 2007. 38 Gespräche in Deutschland, Deutsche Allgemeine Zeitung, Reichsausgabe, 28. April 1933. Abdruck in Carl-Friedrich Graumann, Psychologie im Nationalsozialismus. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 1985, S. 305, sowie in Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967. Holism and the Quest for Objectivity, New York/Cambridge: Cambridge University Press, 1995, S. 329.
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selbst als die Partei, die schon so Großes am Vaterlande geschaffen hat. Man mißverstehe diese Leute nicht: sie sind seine Aufrührer. Im Gegenteil, nichts wünschen sie mehr als feste Ordnung im Staat, und wenn sie die mächtigen Männer der Regierung um etwas bitten würden, so wäre es weniger Lockerung der Staatszügel als vielmehr gerechte Strenge, und die für alle Deutschen nach gleichem Maß. Ich fragte solche Menschen, weshalb sie, bei so viel Übereinstimmung in wesentlichen Punkten, nicht in die Partei eintreten und sich so, je auf ihrem Sachgebiet, zur Auswahl für die wichtigen Stellen verfügbar machen. Die Antwort war immer dieselbe: »Auch vorzügliche Männer haben gehen müssen, anscheinend weil sie nicht zur Partei gehörten. Wir haben das nicht verstanden, denn es geht ja um Deutschland und nicht um die Partei, und sei es die wertvollste. Es wird uns schwer, einer Partei beizutreten, deren Vorgeben wir in einem so wesentlichen Punkt noch nicht begreifen. Wenn ich aber weiter frage, so zeigt sich, dass noch eine andere Sorge vorliegt, die freilich ebenfalls aus dem Prinzip der Sachlichkeit um der Nation willen entspringt. Sie betrifft die Rassenpolitik der nationalsozialistischen Partei und des neuen deutschen Staates. Keiner von den Deutschen, die ich meine, leugnet das Vorhandensein eines Judenproblems in Deutschland; die meisten von ihnen glauben, dass die Deutschen das Recht haben, die Zusammensetzung ihres Volkskörpers zu kontrollieren und den zu groß gewordenen Anteil von Juden an der Führung aller wesentlichen Angelegenheiten des Volkes durch weise Regelung zu beschränken. Nur solche Maßnahmen aber können sie innerlich billigen, die nicht auf Umwegen Deutschland schädigen, die nicht plötzlich die Existenz von ganz Unschuldigen zerstören und die nicht die bedeutenden, vornehmen Menschen unter den deutschen Juden schwer verletzen. Denn meine Freunde wollen der These nicht zustimmen, dass jeder Jude, als Jude, eine niedere, minderwertige Form von Menschentum darstellt.
In diesem Text werden widerständische Gedanken, aber auch und vor allem die Ambivalenzen der Widerständigkeit deutlich. Köhler beginnt mit einem rein pragmatischen Einwand gegen die neue Nazi-Gesetzgebung, denn er fragt: »Wer sind die Nachfolger?« und später heißt es, die Ausführung des Gesetzes würde »auf Umwegen Deutschland schädigen«. Max Planck verfolgte dieselbe Linie, als er Hitler am 16. Mai 1933 in der Folge des Rücktritts von Fritz Haber als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie besuchte und ihn darauf aufmerksam machte, dass er mit dieser Politik der deutschen Wissenschaft Schaden zufüge und damit der gesamten deutschen Nation. 39 Max Planck, Mein Besuch bei Adolf Hitler, Physikalische Blätter, 3, 1947. Für eine kritische Analyse der Entstehung und des Inhalts des Textes vgl. Helmut Albrecht, Max
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Dies hat für sich genommen zunächst mit allgemeinen Prinzipien der Moral und Menschlichkeit wenig zu tun. Erst später im Text kommt Köhler zum allgemein Menschlichen und zum Einwand gegen die Rassentheorie der Nazis. Und auch dann unterscheidet er, wie Planck es in seinem Besuch bei Hitler offenbar auch tat, die »bedeutenden, vornehmen Menschen unter den deutschen Juden« von den anderen. Das ist es, was ich mit Ambivalenzen der Widerständigkeit meinte. Ich bringe das nicht zur Sprache um Köhler irgendeinen Vorwurf zu machen, sondern um zu verdeutlichen, wieso sein Akt des Widerstandes so formuliert wurde und nicht anders. Köhler wie Planck – mit dem er in dieser Zeit im Kontakt stand – ging es um die Haltung einer geistigen Elite, die um ihre eigenen Interessen kämpft. Beide unterscheiden zwischen den Leistungsträgern, die man zur deutschen Geisteskultur rechnen wollte, und den Anderen. Diese Haltung entsprach der Mentalität der deutschsprachigen Wissenschaftselite zu jener Zeit und war auch für andere Eliten charakteristisch. Neben der ohnehin vorhandenen Loyalität der Beamten zum Staat und der Angst vor Repressalien hemmte dies jeden Versuch, gegen die Maßnahmen der Nazis wirksam vorzugehen. Gleichwohl versuchte Köhler seine Eigenständigkeit als Institutsleiter zu bewahren, obwohl Nazi-Studenten äußerst scharf gegen ihn und vor allem gegen seine Assistenten, die als Linke galten, vorgingen. 40 Es gab Razzien im Institut und Schriften, in denen gefragt wurde, warum das psychologische Institut noch nicht gleichgeschaltet wurde. Dagegen mobilisierte Köhler Kräfte in der preußischen Unterrichtsverwaltung, die solchem Wildwuchs von studentischer Seite auch nicht wohl gesonnen waren und konnte sich auf diese Weise einige Jahre halten. Nach zwei Jahren gab er aber doch auf und nahm ein Angebot am Swarthmore College in der Nähe von Philadelphia an. Er ging also freiwillig in die Emigration – ein seltener Fall unter nichtPlanck: »Mein Besuch bei Adolf Hitler« – Anmerkungen zum Wert einer historischen Quelle, in: Helmut Albrecht (Hg.), Naturwissenschaft und Technik in der Geschichte, Stuttgart: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, 1993. 40 Siehe hierzu Mitchell G. Ash, Ein Institut und eine Zeitschrift. Zur Geschichte des Berliner Psychologischen Instituts und der Zeitschrift »Psychologische Forschung« vor und nach 1933, in: Carl-Friedrich Graumann, Psychologie im Nationalsozialismus, Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 1985; Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture 1890–1967. Holism and the Quest for Objectivity. New York/Cambridge: Cambridge University Press, 1995, Kap. 19.
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Mitchell G. Ash
jüdischen Deutschen, die nicht Sozialdemokraten oder anderweitig politisch Aktive waren. In den USA machte er Karriere, obwohl er an einem College und nicht an einer Universität tätig war. In den 1950er Jahren etwa wurde er zum Präsidenten der American Psychological Association gewählt.
Wertheimer im Exil Max Wertheimer wurde mit Hinweis auf den »Arierparagraphen« entlassen, sicher einer der vielen Kollegen, die Köhler in seinem Artikel zur Sprache brachte. Wertheimer war einer der ersten Emigranten, die aufgrund ihrer großen Bekanntheit in den USA auch eine Stelle angeboten bekamen. Ab Herbst 1933 wurde er Professor für Philosophie an der New School für Social Research in New York. Im Exil nimmt Wertheimer erstmals aus gestalttheoretischer Perspektive Stellung zu zentralen Fragen der Philosophie, etwa der Frage nach der Wahrheit, zur Ethik oder zur Theorie der Demokratie. Diese Stellungnahmen verstehe ich auch als einen Kommentar zu dem, was ihm zugefügt worden war. Das folgende Zitat mag dies belegen, berührt darüber hinaus aber ein Problem, das uns auch heute angeht. Mit diesem Zitat möchte ich schließen – und mit dem Hinweis, dass es womöglich kein Zufall ist, dass Gedanken aus den 1930er Jahren gerade heute relevant werden: 41 Heutzutage begegnen wir oft einer These, die der Vorstellung vom homo sapiens radikal widerspricht. Diese These behauptet, dass es einfach falsch sei, vom »Menschen« in dieser Weise zu sprechen, dass »der Mensch« nur eine blasse Abstraktion, eine Fiktion sei. Sie versichert, dass Menschen, Rassen, Kulturen in ihren Vorstellungen und Bewertungen fundamental voneinander verschieden sind. Gemäß dieser These ist es sinnlos, von der Ethik zu sprechen, haben wir nur eine Vielfalt von verschiedenen Systemen und Bewertungen, und diese sind nichts als historische Ereignisse, die sich mit dem historischen Prozess ändern. Alle Werte sind dementsprechend von Grund auf relativ, veränderlich in Raum und Zeit. […] Heutzutage gebrauchen viele diese Doktrin der Relativität der Ethik im Sinne einer Behauptung, die sich von selbst versteht. […] Probleme einer Theorie der Ethik, Ders., Zur Gestaltpsychologie menschlicher Werte. Aufsätze 1934–1940, herausg. v. Hans-Jürgen Walter, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991, S. 36 f., 39 f., 48 f.
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Max Wertheimer und Wolfgang Khler
Diese letzte Behauptung ist bestimmt nicht wahr. Gibt es nicht, sowohl auf der technischen als auch auf der menschlichen Seite, allgemeingültige Bedingungen für menschliche Gesellschaften, welche die Möglichkeiten begrenzen? Gibt es nicht Übereinstimmungen in den Bedingungen für menschliche Gesellschaften und für Menschen? Doch zuerst möchten wir hier eine formale Frage stellen: Ist der direkte Schluss von der Feststellung unterschiedlicher (widersprüchlicher) Tatsachen hinsichtlich Bewertungen auf die Heterogenität der Axiome logisch gültig? […] Denken Sie an ein relativ einfaches Beispiel. Es kommt häufig vor, dass Menschen sich an einer Massensituation im psychologischen Sinne begeistert beteiligen, und kurze Zeit später ist ihnen völlig unverständlich, wie sie sich so unbesonnen verhalten konnten. Sie taten es, psychologisch betrachtet, unter den besonderen Bedingungen der Massensituation, die sie blendete. Ihr Verhalten war nur möglich, weil ihr Bewusstseinsfeld ungeheuer eingeengt oder weil das Feld der in der aktuellen Situation entscheidenden Faktoren eingeengt war. Ist es korrekt, den Übergang von einem Zustand zum anderen einfach als einen Übergang vom einen System der Ethik zu einem anderen zu beschreiben? […] Wir haben hier eine objektiv gegebene Situation und ein Verhalten, eine Handlung, und es ist zunächst wichtig zu spüren, zu sehen und zu verstehen, welchen konkreten Stellenwert diese Handlung in dieser Situation hat. Die wichtigste Frage ist nicht die nach einer subjektiven, einem Objekt äußerlichen Bewertung, sondern die nach den Beziehungen innerhalb des Geschehens selbst, danach, wieweit die Handlung den Gefordertheiten der Situation gerecht wird, nach dem Zueinander der beiden, nach dem Verhältnis zwischen der Situation und der Handlung. Das tatsächliche Verhalten kann, ohne Rücksicht auf die Situation, festgelegt sein, blind für das, was es in der Realität für das Objekt bewirkt. Das Verhalten kann der Situation Gewalt antun. Das Verhalten kann so beschaffen sein, dass es zur Struktur der Situation passt und dass es bewirkt, was die Situation fordert. Wir haben hier verschiedenartige objektiv gegebene Eigenschaften, Eigenschaften, die von den Beziehungen in der Situation abhängen. Wenn jemand in einer konkreten Situation darin scheitert, ihn zu verstehen, und vielleicht entsprechend handelt, dann hat er keine andere Ethik, sondern dann ist der blind für die Hauptsache.
Literatur Albrecht, Helmut, »Max Planck: Mein Besuch bei Adolf Hitler – Anmerkungen zum Wert einer historischen Quelle.« Helmut Albrecht (Hg.), Naturwissenschaft und Technik in der Geschichte. Stuttgart: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, 1993, S. 41–63.
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Welt im Wandel. Werner Heisenbergs Anstze zu einer pluralistischen Philosophie Gregor Schiemann
1.
Einleitung
Werner Heisenberg ist eine der Schlüsselfiguren, die zur Entstehung und Entwicklung der modernen Physik beitrugen. 1925 gelang ihm der Ansatz für eine erste umfassende mathematische Theorie zur Berechnung der atomphysikalischen Phänomene. Er schuf damit eine der entscheidenden konzeptionellen Voraussetzungen für die Beherrschung von Prozessen, ohne die die technische Zivilisation der modernen Welt nicht denkbar wäre. Auf Grundlage der Weiterentwicklung seiner Theorie konnte er 1927 mit der sogenannten Unbestimmtheitsrelation nachweisen, dass den atomphysikalischen Phänomenen Eigenschaften zukommen, für die es in den bisherigen Theorien der Physik keinen Vergleich gab. Dass die Welt des ganz Kleinen demnach von anderen Gesetzen regiert zu sein scheint als die Welt der mittleren und größten Dimensionen, gehört seither zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaft, die am nachhaltigsten auf den philosophischen Diskurs gewirkt haben. Für seine Begründung der Atomphysik erhielt er 1933 den Nobelpreis für Physik. Die Physik verdankt Heisenberg noch andere wegweisende Beiträge zur Theoriebildung, darunter eine Erklärung des Ferromagnetismus (1928), die Formulierung der relativistischen Quantenfeldtheorie (1929, zusammen mit Wolfgang Pauli), das Neutron-Proton-Modell des Atomkerns (1932), eine Theorie zur Berechnung der Streuung von Elementarteilchen (1942), eine Theorie der Supraleitung (1947) und eine statistische Theorie der Turbulenz (1948). Auch an der Gestaltung der Forschung seiner Disziplin, an der technischen Umsetzung von physikalischem Wissen sowie an wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen beteiligte sich Heisenberg führend. Seine physikalischen Arbeiten entstanden in bewegten Zei-
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Welt im Wandel. Werner Heisenbergs pluralistische Philosophie
ten. Während des Nationalsozialismus hatte er an den Forschungen zur Entwicklung einer deutschen Atombombe mitgearbeitet. Nach dem Krieg setzte er sich ein für die zivile Nutzung der Kernenergie, deren militärische Anwendung er entschieden ablehnte. Überhaupt trug Heisenberg, als gleichzeitig führender Repräsentant der Wissenschaft und moralische Autorität des kulturellen Lebens, wesentlich bei zur Revitalisierung und Rekonstituierung der Forschung in Deutschland. Heisenberg war nicht nur handelnder, sondern auch reflektierender Naturforscher. Die Formen, in denen Heisenberg seine Überlegungen und Gedanken ausarbeitete, sofern sie sich nicht auf fachwissenschaftliche Probleme beschränkten, waren vor allem Vorträge und öffentliche Reden. 1 Die grundsätzlichen Elemente seines Denkens blieben im wesentlichen dieselben, angefangen von den frühen Vorträgen in den 1930er Jahren bis zu den späten der 1970er Jahre, auch wenn die Texte natürlich jeweils historisch zeitgebunden waren und in Einzelheiten von konkreten Anlässen abhingen. Heisenberg war davon überzeugt, dass dem physikalischen Wissen eine außerordentliche Bedeutung für das Verständnis der Welt und die Gestaltung des modernen Lebens zukomme. Insbesondere könne »die Entwicklung der Atomphysik Wandlungen im Denken der Menschen verursachen […], die weit in die gesellschaftlichen und philosophischen Strukturen reichen«. 2 Die philosophische Relevanz der Atomphysik sah Heisenberg darin, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Naturwissenschaft deren eigene Erkenntnisgrenzen empirisch nachgewiesen worden seien. In seinem Denken nahm die Diskussion dieser Grenze und die Rolle des nichtphysikalischen Wissens eine zentrale Stellung ein. Er entwarf ein wissenschaftliches Weltbild, das die gesamte Wirklichkeit in einer plural verfassten und historisch veränderlichen Struktur zu ordnen suchte. Einige bedeutende Vorträge sind als Sammlungen zusammengefasst auch in Buchform erschienen: Werner Heisenberg, Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft (12. Ed.), Stuttgart: Hirzel, 2005 und Schritte über Grenzen. Gesammelte Reden und Aufsätze (7. Ed.), München: Piper, 1989. Werner Heisenberg, Physik und Philosophie, (7. Ed.), Stuttgart: Hirzel, 2006 (geht auf eine Vortragsreihe zurück). Die einzigen nicht-physikalischen Monographien sind: Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik (12. Ed.), München: Piper, 1991 und Ordnung der Wirklichkeit (2. Ed.), München: Piper, 1990. 2 Gesammelte Werke. Abteilung C: Allgemeinverständliche Schriften. (Bd. III: Physik und Erkenntnis 1969–1976), München: Piper, 1985, S. 258 f. 1
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Gregor Schiemann
Verschiedene Erkenntnisweisen kommen nach Heisenberg zum einen nebeneinander vor, so dass die Menschen die Welt gleichsam aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten können. Mit dem Wechsel der Perspektive wandelt sich die Welt. Die größte Differenz besteht zwischen den Perspektiven des religiösen Glaubens und der Wissenschaft. Aber auch innerhalb des Horizontes der wissenschaftlichen Erkenntnis weist Heisenberg Unterschiede nach, die sich nur bedingt in ein einheitliches Schema integrieren lassen. Zum anderen unterliegen seiner Auffassung nach alle Erkenntnisweisen einem Wandel in der Zeit. Es verändert sich nicht nur die Reichweite ihrer Geltung, sondern teilweise auch das epochale Ordnungsschema, in dem sie eingebettet sind. Insofern Heisenberg den historischen Wandel als diskontinuierliche Entwicklung beschreibt, kann man ihn als Theoretiker der Erkenntnisrevolutionen und des Epochenbruches bezeichnen. Er betont zugleich aber auch die sich durchhaltenden Elemente der Kontinuität und damit die Grenzen seiner eigenen pluralistischen Philosophie. 3
2.
Der Ausgangspunkt: Die Revolution der Atomphysik
Über die historische Tragweite seines eigenen Anteils an der Begründung der Quantenmechanik war sich Heisenberg bald bewusst. Zwischen der neuen Theorie und den vorangehenden Theorien sah er einen epochalen Bruch. Der Fortschritt der Wissenschaft sei zustande gekommen durch eine wissenschaftliche Revolution, die er als einen paradoxen Prozess beschrieb. Große Änderungen würden von denjenigen angestoßen, die solange wie möglich an bewährten Begriffen ihrer Disziplin festhalten möchten: [Am] Anfang [einer wissenschaftlichen Revolution steht] immer ein sehr spezielles […] Problem, das im traditionellen Rahmen keine Lösung finden kann. Die Revolution wird herbeigeführt durch Forscher, die […] in der bisherigen Wissenschaft so wenig wie möglich ändern wollen. Gerade der Wunsch, so wenig wie möglich zu ändern, macht deutlich, dass es sich bei dem Neuen um einen Sachzwang handelt; dass die Änderung in der Denkstruktur von den Phänomenen, von der Natur selbst erzwungen wird, nicht von irgendwelchen menschlichen Autoritäten. 4 Den Ausdruck »Pluralismus« oder verwandte Ausdrücke hat Heisenberg selbst nicht zur Charakterisierung seiner Position verwendet. 4 Gesammelte Werke. a. a. O. Abteilung CIII, S. 357, vgl. auch S. 203 f. 3
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Welt im Wandel. Werner Heisenbergs pluralistische Philosophie
Heisenbergs eigener Beitrag zur Begründung der Quantenmechanik kann für diese Charakterisierung als Beispiel dienen. Als Physiker zeichnete er sich schon in seinem Studium durch eine virtuose Beherrschung der bisher geltenden Atomtheorien und eine ausgezeichnete Kenntnis ihrer Detailprobleme aus. Er konzentrierte sich in seinen ersten Forschungsprojekten auf die Bearbeitung einer speziellen Fragestellung (der Berechnung von experimentell erzeugten ZeemanSpektren) und suchte Lösungen dadurch herbeizuführen, indem er vorhandene Theorien so korrigierte, dass sie besser mit den Messergebnissen übereinstimmten. Es ging ihm also zunächst weniger um eine theoretische Revolution als vielmehr um gezielte Abänderungen der bekannten Konzeptionen. Dass sich dieses konservative Verfahren unter dem Druck neuer experimenteller Resultate – dem »Sachzwang« – immer weniger erfolgreich anwenden ließ, kann als ein wesentlicher Anstoß für den radikalen Neuanfang begriffen werden, den seine Formulierung der Quantenmechanik darstellte. Von den vorangehenden, sogenannten »klassischen« Theorien der Physik – der Mechanik, der Elektrodynamik und der Thermodynamik – ist die Quantenmechanik durch einen begrifflichen Einschnitt getrennt. Physikalische Grundbegriffe wie die der Kausalität, des Ortes oder des Impulses werden in der Quantenmechanik neu definiert. Mit Phänomenen konfrontiert, die sich mit den herkömmlichen Begriffen nicht mehr beschreiben lassen, muss die Forschung Neuland betreten: Sie muss »den Grund […] verlassen, auf dem die bisherige Wissenschaft ruht, und gewissermaßen ins Leere […] springen«. 5 In diesem Prozess ändert sich die »Struktur des Denkens« selbst, so dass auch die Voraussetzungen des Denkens einer radikalen Revision unterzogen werden. 6 Für Heisenberg folgt daraus, dass die Wissenschaft keinem Apriori der Erkenntnis unterworfen ist. 7 Nach Heisenberg sind aber die klassischen Theorien im Lichte der modernen Physik nicht falsch, sondern bleiben in ihren Anwendungsbereichen richtig. Falsch ist nur, dass sie ihre Anwendungsbereiche unzulässig überschritten, z. B. durch mechanische Modelle des Atoms. Erst im Lichte der neuen Theorie wird diese unzulässige Überschreitung erkennbar. Heisenberg bezweifelt nicht, dass sich die Anwen5 6 7
Ebd. CIII, S. 101. Ebd. CIII, S. 102. Gesammelte Werke, a. a. O. Abteilung CII, S. 421.
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dungsgrenzen der Quantenmechanik zukünftig durch neue Theorien vergleichbar festlegen lassen würden wie zuvor die Grenzen der klassischen Theorien.
3.
Ansatz zur pluralen Theorieauffassung: Die »Konzeption der abgeschlossenen Theorien« in der Physik
Heisenberg verallgemeinert seine Beschreibung der Revolution der Quantenmechanik in seiner Konzeption der abgeschlossenen Theorien. Demnach gehen alle bewährten Theorien der Physik von jeweils kategorial verschiedenen Begriffen aus und sind in ihren spezifischen Anwendungsbereichen gültig. Vier Theorien der Physik sieht Heisenberg als abgeschlossen an: die Newtonsche Mechanik, die Elektrodynamik einschließlich der speziellen Relativitätstheorie, die Thermodynamik einschließlich ihrer statistischen Fassung und die Quantenmechanik. Mit diesen Theorien sei der Gegenstandsbereich der gegenwärtigen Physik in seiner fundamentalen gesetzlichen Struktur vollständig erfasst. 8 Der Ausdruck »abgeschlossen« hat dabei eine systematische und eine historische Bedeutung. Systematisch meint er eine Abgeschlossenheit der jeweiligen Theorien gegenüber anderen Theorien. Die Theorien bilden ein in sich geschlossenes System, 9 in dem Begriffe von Gesetzen unterschieden und in ein widerspruchsfreies Axiomensystem integriert sind. Die Verbindung zwischen den Begriffen ist »so eng, daß man im allgemeinen nicht irgendeinen dieser Begriffe ändern könnte, ohne gleichzeitig das ganze System zu zerstören«. 10 Diese Bestimmung leitet zur historischen Bedeutung der Abgeschlossenheit über. Abgeschlossene Theorien können auch nicht durch kleine Änderungen, d. h. durch Änderungen ihrer Gesetze, verbessert werden. 11 Große Änderungen, d. h. Änderungen von Begriffen, führen zu neuen
Heisenberg grenzt abgeschlossene Theorien von sogenannten phänomenologischen Theorien ab (u. a. CII, S. 384 ff. und 423 ff.), die lediglich »eine zutreffende Beschreibung« und eine »sehr genaue Vorausberechnung« von Phänomenen ermöglichen, ohne diese schon »auf allgemeine Naturgesetze zurückgeführt« zu haben (CII, S. 384 f.). 9 Gesammelte Werke, a. a. O. Abteilung CI, S. 100. 10 A. a. O. Abteilung CII, S. 81. 11 A. a. O. Abteilung CIII, S. 417. 8
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Begriffen und Theorien. 12 Theorien sind deshalb auch insofern abgeschlossen, als ihre jeweilige Entwicklung zu einem Ende gekommen ist. Neue abgeschlossene Theorien können deshalb nicht aus einer kontinuierlichen Verbesserung der alten, sondern nur in Phasen eines revolutionären Umbruchs entstehen. 13 Aus ihrer Abgeschlossenheit folgert er, dass die bewährten Theorien der Physik »für alle Zeiten« gelten; »wo immer Erfahrungen mit den Begriffen dieser Theorie[n] beschrieben werden können, und sei es in der fernsten Zukunft, immer werden die Gesetze dieser Theorie[n] sich als richtig erweisen«. 14 Über die klassische Mechanik Newtons schreibt er: Sofern man irgendwelche Erscheinungen mit den Begriffen der Newtonschen Physik, nämlich Ort, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Masse, Kraft usw. beschreiben kann, so gelten auch die Newtonschen Gesetze in aller Strenge, und daran wird sich auch in den nächsten hunderttausend Jahren nichts geändert haben. Präziser müßte ich vielleicht sagen: Mit dem Grad von Genauigkeit, mit dem sich Erscheinungen mit den Newtonschen Begriffen beschreiben lassen, gelten auch die Newtonschen Gesetze. […] Darin besteht eben der immer noch gültige Absolutheitsanspruch der Newtonschen Physik, daß sie in ihrem Anwendungsbereich nicht durch kleine Abänderungen verbessert werden kann, daß sie hier längst ihre endgültige Form gefunden hat. 15
Der Anwendungsbereich einer abgeschlossenen Theorie ist mit den Grundbegriffen dieser Theorie gegeben. Grob gesprochen, umfassen etwa die Gegenstände der Newtonschen Mechanik die raumzeitlichen Bewegungen von unterscheidbaren Körpern mit Geschwindigkeiten, die relativ klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit sind. Mit dieser Charakterisierung lässt sich die Mechanik auch heute noch gut von den anderen bewährten Theorien der Physik abgrenzen. Die Behauptung der weitreichenden Stabilität dieser Theorien hat eine beachtliche Plausibilität und stellt den eigentlichen Reiz von Heisenbergs Konzeption dar. In ihren vor allem von den Ingenieurwissenschaften bearbeiteten und genutzten Anwendungsbereichen haben diese Theorien gegenüber dem Ende des 19. Jahrhunderts unveränderte Geltung; die A. a. O. CI, S. 100, und CII, S. 84. Für eine ausführliche Darstellung seiner Konzeption und Angaben zur Sekundärliteratur vgl. Gregor Schiemann, Werner Heisenberg, München: H. C. Beck, 2008, S. 70 ff. und 131. 14 A. a. O. CI, S. 339. 15 A. a. O. CIII, S. 135 f. 12 13
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Quantenmechanik hat sich in den 80 Jahren ihres Bestehens in einer wohl beispiellosen Weise bewährt. Indem sich die bewährten Theorien der Physik auf verschiedene Gegenstände beziehen, besteht zwischen ihren Geltungsansprüchen keine Konkurrenz. Sie bilden die Elemente einer Erkenntnisstruktur, die mit William James’ Pluralismus Ähnlichkeit aufweist: 16 Das Gebäude der exakten Naturwissenschaft kann also kaum […] eine zusammenhängende Einheit werden, so, daß man von einem Punkt in ihm einfach durch die Verfolgung des vorgeschriebenen Weges in alle anderen Räume des Gebäudes kommen kann. Vielmehr besteht es aus einzelnen Teilen, von denen jeder, obwohl er zu den anderen in den mannigfachsten Beziehungen steht, […] doch eine in sich abgeschlossene Einheit darstellt. 17
Von den »mannigfachsten Beziehungen«, die trotz der begrifflichen Differenzen zwischen den Theorien bestehen, kommt den sogenannten Grenzfallbeziehungen die größte Bedeutung zu. Damit ist gemeint, dass sich aus den Gesetzen einer bewährten Theorie die Gesetze einer anderen als Grenzfälle ergeben. Somit lassen sich die Phänomene einer Theorie mit den Begriffen einer anderen erfassen. Neben den historischen Wandel, der durch die revolutionäre Einführung neuer Begrifflichkeiten zustande kommt, tritt damit die Möglichkeit eines zu einer Zeit möglichen Perspektivenwechsels. Empirisch äquivalente Gegenstände können durch begrifflich inkompatible Theorien beschrieben werden. In dieser Eigenschaft findet eine von Heisenberg nicht als solche diskutierte empirische Unterbestimmtheit abgeschlossener Theorien ihren Ausdruck. Unterbestimmtheit gilt in der Wissenschaftstheorie als eines der bedeutendsten Argumente für eine irreduzible Pluralität der wissenschaftlichen Erkenntnis. 18 Im Unterschied zur heute verbreiteten Auffassung der Gleichwertigkeit unterbestimmter Theorien impliziert Heisenbergs Ansatz aber das bleibende Primat der abgeschlossenen Theorien in ihren jeweiligen Gegenstandsbereichen.
Vgl. William James, A Pluralistic Universe. New York: Holt, 1925. A. a. O. CI, S. 101, vgl. auch CII, S. 85. 18 Solange man an der Einheit der Erkenntnis als Teil der Wahrheitsdefinition festhält, folgt aus der Unterbestimmtheit die Hypothetizität der wissenschaftlichen Erkenntnis. Vgl. Gregor Schiemann »Werner Heisenbergs Position zu einer hypothetischen Wissenschaftsauffassung in seinen populären Reden und Aufsätzen«, M. Gerhard (Hg.), Oldenburger Jahrbuch für Philosophie, Oldenburg: BIS-Verlag der Carl-von-OssietzkyUniversität, 2007. 16 17
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Ihre Begriffe sind bestmöglich in der Erfahrung verankert und sichern damit eine konkurrenzlos brauchbare Anwendbarkeit der Theorie.
4.
Begrenzungen der Pluralitt in der Physik
In Heisenbergs Konzeption der abgeschlossenen Theorien verbindet sich die Möglichkeit der Darstellungsvielfalt durch unterbestimmte Theorien bemerkenswerterweise mit einer Begrenzung eben dieser Vielfalt. Er möchte nämlich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es eine umfassende Theorie der Physik geben könnte, deren Gesetze die Gesetze von anderen bewährten Theorien als Grenzfälle enthalten oder die sich zumindest mit den anderen Theorien »ohne Schwierigkeit« verbinden lässt. 19 Ein solches »fünfte[s] abgeschlossene[s] Begriffssystem […] sollte eines Tages im Zusammenhang mit der Theorie der Elementarteilchen gefunden werden«. 20 Mit seiner eigenen Materiegleichung, die Heisenberg 1958 der Öffentlichkeit vorstellte, glaubte er dafür einen Ansatz gefunden zu haben. 21 Die Darstellungsvielfalt in der Physik sollte mit diesem Ansatz, dessen Richtigkeit von anderen Physikern allerdings bezweifelt wurde, nicht reduziert, sondern in ihren Entwicklungsmöglichkeiten auf eine neue Ebene gehoben werden. Da die alle anderen abgeschlossenen Theorien umfassende Theorie selbst abgeschlossen wäre und alle gegenwärtigen physikalischen Objekte umfassen würde, könnte es neue abgeschlossene Theorien der Physik nur geben, wenn man den Gegenstandsbereich der Physik erweiterte. Heisenberg denkt hierbei vor allem an die Möglichkeit der Beschreibung biologischer Objekte: [Zwar] bestehen auch alle biologischen Objekte aus Elementarteilchen; aber die Begriffe, mit denen wir biologische Vorgänge zu beschreiben pflegen, z. B. der Begriff Leben selbst, kommen in [… der] Idealisierung [der Physik] nicht vor; also muß es noch weitere Entwicklungen der Physik in dieser Richtung geben. Man könnte hier höchstens einwenden, daß es sich dabei nicht mehr um Physik, sondern eben um Biologie handele, daß also die Physik doch abgeschlossen sei. Aber die Grenzen zwischen der Physik und den Nachbarwissenschaften sind so fließend, daß man mit solchen Unterscheidungen nicht viel gewinnt. Daher sind sich wohl die meisten Physiker darin einig, daß man 19 20 21
A. a. O. CII, S. 88. Ebd. CII, S. 205 ff.
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eben wegen der undefinierten Grenzen zu den Nachbargebieten nicht von einem Abschluß der Physik sprechen dürfe. 22
Heisenberg thematisiert das Verhältnis der Physik zu Nachbardisziplinen in systematischer Weise in seinem Manuskript »Ordnung der Wirklichkeit«, in dem er seinen pluralistischen Ansatz zu einem wissenschaftlichen Weltbild fortentwickelt. Bevor ich darauf zu sprechen komme, möchte ich noch auf weitere Begrenzungen der Pluralität in der Physik eingehen. Sie betreffen methodische Bestimmungen der Naturwissenschaft, die Heisenberg zufolge auch in der Physik keine Alternativen zulassen. Die beiden von ihm hervorgehobenen Kennzeichen der physikalischen Methode – die Verwendung mathematischer Symbole und die Durchführung von Experimenten – hätten weit zurückreichende Ursprünge. Dass mathematischen Strukturen in der Beschreibung von Naturphänomenen eine »sinngebende Kraft« eignet, führt er auf die antike Lehre der Pythagoreer und des von ihnen beeinflussten Platon zurück.23 Platons Mathematikauffassung […] kann als der entscheidende Beginn der mathematischen Naturwissenschaft angesehen und damit auch für die späteren technischen Anwendungen verantwortlich gemacht werden, die das ganze Bild der Welt verändert haben. Auch wird erst mit diesem Schritt festgesetzt, was das Wort ›Verstehen‹ bedeuten soll. Unter allen möglichen Formen des Verständnisses wird die eine, in der Mathematik praktizierte Form als das ›eigentliche‹ Verständnis ausgewählt. Während doch jede Sprache, jede Kunst, jede Dichtung in irgendeiner Weise Verständnis vermittelt, wird hier behauptet, daß nur die Verwendung einer präzisen, logisch geschlossenen Sprache, einer Sprache, die so weit formalisiert werden kann, daß Beweise möglich werden, daß nur sie zu wahrem Verständnis führe. Man empfindet, wie stark der Eindruck war, den die Überzeugungskraft logischer und mathematischer Argumente auf die griechischen Philosophen gemacht hatte. Sie sind offenbar von dieser Kraft einfach überwältigt worden. Aber vielleicht haben sie an dieser Stelle zu früh kapituliert. 24
Während aber die griechische Naturwissenschaft meist geometrische Formen verwandte, fasst die Physik seit der Neuzeit dynamische Gesetze, die »das Werden und Vergehen« bestimmen, als das Bleibende
22 23 24
CIII, S. 391. CI, S. 129 f. Schritte über Grenzen. a. a. O., S. 194.
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auf. 25 Diese auf Forscher wie Galileo Galilei oder Isaac Newton zurückgehende Darstellung von Naturgesetzen durch Gleichungen ist bis in die Moderne die beherrschende Form der Mathematisierung geblieben. Die Neuzeit schreibt nach Heisenberg aber nicht nur das antike Programm der Mathematisierung fort. Sie führt mit dem experimentellen Verfahren darüber hinaus eine Methode ein, für die es kein Analogon in der Antike gibt. Mit dem Experiment verlassen die neuzeitlichen Naturforscher die unmittelbare Erfahrung zum Zweck der »Erzeugung von Phänomenen, die man normalerweise nicht sieht, und […] ihrer Berechnung auf der Grundlage der mathematischen Theorie«. 26 Ohne eine detaillierte Analyse des experimentellen Verfahrens vorgenommen zu haben, gelingt Heisenberg dessen begriffliche Charakterisierung, die heutigen Einsichten der Wissenschaftstheorie 27 durchaus standhält. Weil Experimente »die Erfahrung idealisieren und isolieren«, schaffen sie ihm zufolge »tatsächlich neue Phänomene«, an denen sich leichter mathematisch beschreibbare und technisch beherrschbare Strukturen entdecken lassen als an den nicht experimentell erzeugten Naturphänomenen. 28 Bei der Einführung des experimentellen Verfahrens handelt es sich nicht nur um eine graduelle Steigerung des schon in der antiken Wissenschaft Angelegten, sondern auch um einen qualitativen Sprung, der sich in das Bild vom diskontinuierlichen Wandel einfügt: Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht so sehr auf die grundlegenden Gesetze als vielmehr auf die Regelmäßigkeiten in den Einzelheiten. Die Naturwissenschaft wird sozusagen [mit Beginn der Neuzeit] vom anderen Ende her entwickelt, nicht von den allgemeinen Gesetzen, sondern von einzelnen Erscheinungsgruppen her […]. Diese Änderung der ganzen Betrachtungsweise hatte auch andere wichtige Folgen. Eine genaue Kenntnis der Einzelheiten kann für die Praxis nützlich sein. […] Die technischen Anwendungen der modernen Naturwissenschaft beginnen […] mit der Kenntnis der Einzelheiten. 29
Heisenberg behauptet, dass den mathematischen Symbolen und der experimentellen, d. h. technisch hergestellten, Erfahrung ein immer CI, S. 130. Tradition in der Wissenschaft. Reden und Aufsätze. Mit einem Nachwort von H.-P. Dürr. München: Pieper, S. 14. 27 Vgl. etwa Ian Hacking, Einführung in die Philosophie der Wissenschaften. Stuttgart: 1996. 28 Tradition in der Wissenschaft. Reden und Aufsätze. a. a. O., S. 14. 29 Schritte über Grenzen, a. a. O., S. 195 f. 25 26
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größeres Gewicht zukomme. Infolge dieser Entwicklungstendenz werde das physikalische Wissen fortschreitend »abstrakter«. Dieser These zur epochenübergreifenden Entwicklung der Physik stellt Heisenberg eine ebenso umfassende zur Geschichte des intuitiven Wirklichkeitsverständnisses gegenüber. Der Zunahme der abstrakten Welterkenntnis entspreche generell die Abnahme des unmittelbaren Verstehens: […] der Fortschritt der Naturwissenschaft wurde erkauft durch den Verzicht darauf, die Phänomene in der Natur unserem Denken durch Naturwissenschaft unmittelbar lebendig zu machen. 30
Heisenbergs Entgegensetzung zweier Formen der Naturerkenntnis kommt Aktualität zu, weil alltagspraktische Orientierungen auch unter den Bedingungen einer wachsenden Verwissenschaftlichung der Welt fundamental geblieben sind. Abstraktionsleistungen, die in der Lebenswelt bei der Benutzung von naturwissenschaftlicher Technik erforderlich werden, kontrastieren mit den dort weiterhin vorherrschenden Verständnisweisen der Unmittelbarkeit. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass Heisenbergs Auffassung von der Erkenntnisentwicklung der Physik verschiedene Dynamiken des Wandels kennt. Für die Theorienentwicklung nimmt er eine diskontinuierliche Verlaufsform an, die jeweils zum Ende kommt, wenn ein Bereich durch eine abgeschlossene Theorie bzw. endgültig physikalisch beschrieben ist. Die Pluralität der Erkenntnis besteht in der Differenz zwischen den bereichsspezifischen begrifflichen Voraussetzungen und in der Möglichkeit, Gegenstände eines Bereiches mit den Begriffen eines anderen darzustellen. In methodischer Hinsicht ist die Vielfalt der physikalischen Beschreibungsmöglichkeiten in dem Maße beschränkt, wie auf die einheitliche mathematische Symbolik und das universelle experimentelle Verfahren zurückgegriffen wird. Der auf die antiken Ursprünge der Wissenschaft zurückgehende Beginn der wachsenden Relevanz dieser methodischen Beschränkung bewirkt, dass das physikalische Wissen fortschreitend abstrakter wird und dadurch nur immer einseitiger die Wirklichkeit zu erfassen vermag. Dass das zunehmend vorherrschende naturwissenschaftliche Wissen nicht nur dem unmittelbaren Verstehen, sondern auch noch anderen Wissensformen entgegengesetzt ist, führt Heisenberg in dem Entwurf seines wissenschaftlichen Weltbildes aus. 30
CI, S. 61.
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5.
Ansatz zur pluralen Weltauffassung: »Ordnung der Wirklichkeit«
Heisenberg ist von der Pluralität der physikalischen Theorien so beeindruckt, dass er sie in dem (erst nach seinem Tod veröffentlichten) Text »Ordnung der Wirklichkeit« zu einem wissenschaftlichen Weltbild ausbaut. Anknüpfend an seinen bisherigen physikhistorischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen entwirft er eine hierarchisch gegliederte Wirklichkeitsstruktur, die auch der nichtwissenschaftlichen Erkenntnis einen systematischen Ort zuweist. Er ordnet dieses Weltbild einer historischen Epoche zu und beschreibt den Epochenwandel ähnlich diskontinuierlich wie die Theorienentwicklung in der Physik. Der Text bildet die ausführlichste Darstellung seiner weit über die Wissenschaftstheorie hinausreichenden philosophischen Auffassungen, die für sein Denken auch in den Nachkriegsjahren bestimmend geblieben sind. 31 Am Anfang seiner Erörterungen steht die Formulierung zweier Voraussetzungen. Zum einen geht er von einer realistischen Sprachauffassung aus, wonach Sprache Wirklichkeit durch eine zunehmende Präzisierung der Bedeutung ihrer Begriffe abbildet. 32 Vor dem Hintergrund dieser Repräsentationsbeziehung unterscheidet Heisenberg nicht zwischen erkenntnistheoretischen und ontologischen Aussagen seines Weltbildentwurfes. Soweit die menschliche Erkenntnis nichts als die Sprache hat, ist ihr Sprechen über die Welt die Bestimmung der Welt. Zum anderen bestreitet er, dass es einen sicheren Ausgangspunkt für die Wirklichkeitserkenntnis gebe. Heisenberg sieht die bis auf die Antike zurückreichende Tradition einer Fundierung des Wissens in einem ersten Prinzip als gescheitert an, wobei er sich der Herausforderung bewusst ist, die sich aus dieser historischen Situation ergibt. An die Stelle der vermeintlichen Gewissheiten setzt er »eine freie Entscheidung wohl nicht des Einzelnen, aber großer menschlicher Gemeinschaften oder der Menschheit im Ganzen«, etwas an den »Anfang einer Ordnung der Wirklichkeit« zu setzen. 33 Diese metaphorische Rede, deren dezisionistische Implikationen leicht missverstanden 31 Ich stütze mich auf die Interpretation in Gregor Schiemann, Werner Heisenberg, München: H. C. Beck, 2008, S. 84 ff. 32 CI, S. 223. 33 CI, S. 228.
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werden können, zielt auf die Anerkennung der historisch entstandenen Grundlagen des Wissens ab. Demnach gibt es von der Ordnung keine eindeutige Darstellung, sondern verschiedene, im Prinzip gleichberechtigte Repräsentationsformen. 34 Zwei einander entgegengesetzte mögliche Ordnungstypen stellt Heisenberg vor: die wissenschaftliche Sprache auf der einen und den religiösen Glauben auf der anderen Seite. Letzterer gründet seinen Wirklichkeitsbezug auf das »Gleichnis«, welches kraft seiner Bedeutungsunbestimmtheit das Wesen einer Wirklichkeitsstruktur in unmittelbarer Erkenntnis erfasst und bis zu den »letzten Dinge[n]« vordringt: 35 In der Religion wird von vornherein darauf verzichtet, den Worten einen wissenschaftlich scharf bestimmten Sinn zu geben, damit dieser Sinn erst jeweils zu Tage treten kann in dem Maß, in dem der einzelne im Lauf seines Lebens und die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte Zusammenhänge verstehen lernt. 36
Die Differenz der Ordnungstypen von Wissenschaft und Religion besteht im Verhältnis von Objekt und Subjekt. Während die Wissenschaft ihren Wahrheitsanspruch »stets vom Objekt [her…]leitet«, sind die Inhalte der religiösen Betrachtungsweise vom Vorgang des Erkennens unablösbar. 37 Wissenschaft gehört damit zum Objekt- und Religion zum Subjektpol. Eine »›objektive‹ Darstellung eines bestimmten Sachverhalts [… setzt] voraus […], daß sich der betreffende Sachverhalt […] von uns und von seiner Darstellung ablösen lasse«. 38
Hingegen soll mit […] dem Wort ›subjektiv‹ […] nur angedeutet werden, daß es bei einer vollständigen Beschreibung der Zusammenhänge eines Bereiches vielleicht nicht möglich ist, davon abzusehen, daß wir selbst in die Zusammenhänge verwoben sind. 39
34 35 36 37 38 39
CI, S. 230 f. CI, S. 228 und 296 ff. CI, S. 228. CI, S. 229 f. CI, S. 229. CI, S. 235.
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Das Manuskript beschränkt sich im weiteren auf die Darstellung der wissenschaftlichen Ordnung der Wirklichkeit, die vom objektiven Pol ausgehend am Ende auch dem religiösen Glauben einen Ort zuweist. Dieses Weltbild schließt also die Subjektivität nicht aus, sondern integriert sie in die Pluralität seiner eigenen Form. Wie Subjektivität und Objektivität dabei zusammenwirken, lässt sich am zentralen Begriff der Idealisierung verdeutlichen. Jede objektive Darstellung bedarf einer »Idealisierung«, die »durch den Eingriff unseres Denkens […] bestimmte Vorgänge, Erscheinungen, Gesetze« aus der jeweils betrachteten Wirklichkeit herauslöst. 40 Insofern die wissenschaftliche Erkenntnis von mentalen Vorgaben des Menschen abhängt, ist sie auch subjektiv. Als extremste Formen solcher Idealisierung können (aus wissenschaftlicher Perspektive) religiöse Gleichnisse begriffen werden. 41 Auf der anderen Seite vermag die Kraft des religiösen Glaubens nicht jede Objektivierung aufzuheben. 42 Die Thematisierung des religiösen Glaubens im Rahmen eines wissenschaftlichen Weltbildes ist zu unterscheiden von einem religiösen Weltbild, das Heisenberg nicht näher thematisiert, dessen Legitimität er aber nicht bestreitet. Er führt nicht aus, wie das Bild der Welt beschaffen wäre, wenn die Ordnung der Wirklichkeit aus religiöser Perspektive, d. h. vom subjektiven Pol beginnend, vorgenommen würde. Es wäre vermutlich ein gleichsam umgekehrtes Bild, das auch die wissenschaftliche Erkenntnis erfassen würde. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Theorien hält er allerdings den »Wahrheitsanspruch einer bestimmten Religion historisch gesehen [für] räumlich und zeitlich beschränkt«. 43 Heisenberg meint, dass die zur Wissenschaft alternative Ordnung der Religion ein geschichtlich vorangehendes Schema ist, das durch das wissenschaftliche Weltbild verdrängt wurde. Der Gegenstand der Religion bildet für die Wissenschaft der Gegenwart […] die unendliche ferne Singularität, die zwar für die Ordnung im Endlichen Entscheidendes bedeutet, die aber nie erreicht werden kann. […] Über den Sinn des Lebens kann nur die Religion sprechen. Denn ›Sinn‹ bedeutet, dass wir selbst gemeint sind – und bis zu diesem Punkt kann die Wissenschaft nicht vordringen. 44 40 41 42 43 44
CI, S. 235 f. CI, S. 289. CI, S. 295. CI, S. 230. Ebd.
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Die wissenschaftliche Ordnung der Wirklichkeit ist in ihrer ebenfalls historisch begrenzten Geltung so plural strukturiert, dass zwischen ihren Bereichen erkenntnistheoretisch keine kontinuierlichen Übergänge bestehen. Heisenberg schreibt diesen Bereichen, die er auch »Schichten der Wirklichkeit« nennt, ähnliche Eigenschaften wie den abgeschlossenen Theorien der Physik zu. In Analogie zu den Anwendungsbereichen von abgeschlossenen Theorien, die durch ihre jeweiligen Grundbegriffe determiniert sind, ordnet er jeder Wirklichkeitsschicht charakteristische Begriffe zu, die den spezifischen Erfahrungen wissenschaftlicher Untersuchungen dieser Bereiche entsprechen. Teilweise nimmt er auch eine frühere Überlegung auf, dass sich die Bereiche durch Fragestellungen der Forschung, die den begrifflichen Differenzen vorangehen, unterscheiden.45 Das »Vorbild für die von der modernen Wissenschaft gesuchte« Ordnung 46 findet Heisenberg sowohl in den Beziehungen zwischen naturwissenschaftlichen Theorien als auch in Johann Wolfgang von Goethes »Nachträgen zur Farbenlehre«. 47 Schematisch lassen sich Heisenbergs und Goethes Einteilung wie folgt gegenüberstellen (siehe Abb. 1). In der Kennzeichnung von Anfangs- und Endpunkt sowie in der Einordnung des Zufalls bestehen die wichtigsten Abweichungen zwischen den beiden Einteilungen. Goethe bezieht Anfangs- und Endpunkt seiner Klassifikation nicht auf das Spannungsverhältnis von Objektivität und Subjektivität. Die Klassifikation wird von ihm überhaupt nicht systematisch hergeleitet, sondern an einem Beispiel erläutert. In diesem Beispiel beginnt ein Vorgang – der Fall eines Ziegelsteins – zufällig, und das »Geniale« meint schließlich die Fähigkeit des Menschen, sich über die Folgen dieses Vorgangs – eine Verletzung durch den herab fallenden Stein – zu erheben. 48 Da Heisenberg atomare Prozesse als das einzige bisher in der Natur nachgewiesene Zufallsphänomen ansieht, erhält bei ihm der Zufall seinen Ort innerhalb der zweiten Schicht. Dass Heisenberg sie als »chemisch« bezeichnet, geht auf seine durch den weiteren Verlauf der Forschung im wesentlichen beCI, S. 234. CI, S. 232. 47 Johann Wolfgang von Goethe, Schriften zur allgemeinen Naturlehre, Geologie und Mineralogie. W. v. Engelhardt und M. Wenzel (Hg.), Sämtliche Werke Bd. 25.3, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1989, S. 788. 48 A. a. O., S. 795 f. 45 46
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Abb. 1: Die Einteilung der Wirklichkeit nach Heisenberg und Goethe Heisenbergs Bezeichnungen der Wirklichkeitsschichten im Ausgang vom objektiven Pol
Goethes Bezeichnungen von »Wirkungen, die wir in der Erfahrung bemerken«
[Objektiver Pol] zufällig mechanisch Die (klassische) Physik physisch Die Chemie [inkl. Zufall] Das organische Leben
chemisch organisch
Das Bewusstsein Symbol und Gestalt [Sprache, Kunst, Wissenschaft]
psychisch
Die schöpferischen Kräfte [inkl. Religion]
ethisch religiös genial
[Subjektiver Pol]
stätigte Überzeugung zurück, dass die quantenmechanische »Atomtheorie den chemischen Gesetzen ihre wohl endgültige mathematische Form gegeben« hat. 49 Heisenberg begründet sein Schema, indem er die Grundbegriffe der einzelnen Bereiche diskutiert und die Zusammenhänge zwischen ihnen untersucht. Für die nicht physikalischen Bereiche sind Grundbegriffe im wesentlichen mit den Bezeichnungen der Wirklichkeitsschichten (Leben, Bewusstsein, Symbol, Gestalt, Schöpferische Kräfte) identisch. Die Bestimmung der Grundbegriffe versteht sich als Voraussetzung einer wissenschaftlichen Welterfassung. Wo die Gegenstände der Begriffe aber das menschliche Bewusstsein, die kulturellen Symbole und die schöpferischen Kräfte betreffen, tritt zugleich auch die begrenzte Reichweite dieser Welterfassung hervor. So weist Heisen49
CI, S. 252.
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berg auf die sich einer Objektivierung grundsätzlich entziehende Unmittelbarkeit von Bewusstseinsvorgängen hin 50 und stellt die Spezifik der wissenschaftlichen Verständigungsmittel denen des Alltags und der Kunst gegenüber. 51 Für die Beziehungen zwischen den Schichten verlangt er, dass die sprachlichen Abbildungen der jeweiligen Bereiche […] so vollständig aufeinander abgepaßt sind, daß auch in den unendlich mannigfaltigen Konsequenzen der Formalismen nirgends Widersprüche auftreten. Dies kann in vielen Fällen nur dadurch erreicht werden, daß der eine Formalismus als Grenzfall in dem anderen enthalten ist. Es wird also in dem System der Bereiche, in die sich für uns die Wirklichkeit gliedert […], so etwas wie eine Rangordnung geben […]. Das bedeutet nicht, daß es sich bei dem niederen Bereich etwa nicht um eine selbständige Gesamtheit von Gesetzen handelte; zu dem einfachen Grenzfall können andere und einfachere Begriffe gehören als zum ursprünglichen Bereich. 52
Das Bestehen von Grenzfallbeziehungen hatte er bereits in seiner Konzeption der abgeschlossenen Theorien entwickelt (Abschnitt 3). Sie setzen gesetzmäßige Beschreibungen der Phänomene eines Bereiches voraus. Paradigmatisch gehen die mechanischen Gesetze als Grenzfall aus den quantenmechanischen hervor. 53 Für die dem subjektiven Pol näher stehenden Bereiche, für die sich mathematisch formulierbare Gesetze nicht nachweisen lassen, nimmt er analoge Formen des »Aufeinanderpassens« an: Die objektiveren Schichten sind jeweils ganz in den angrenzenden subjektiveren »enthalten«. So sind die Bestimmungen des chemischen Bereiches Teil des biologischen 54 und dieser ein Teil des symbolischen Bereiches. 55 Als Zusammenhang zwischen den Schichten und deren innerer Struktur nennt Heisenberg »Projektionen«, die Möglichkeiten subjektiver Phänomene in objektiveren realisieren. Die biologischen Gesetze versteht er etwa als »die Projektion der Zusammenhänge des nächsthöheren Wirklichkeitsbereichs [des Bewusstseins] in dieser Ebene«. 56 Mit zunehmendem Aufstieg gewinnen die projektiven Verhältnisse teleologischen Charakter. Die in den schöpferischen Kräften angelegten 50 51 52 53 54 55 56
CI, S. 275. CI, S. 280 ff. CI, S. 234. CI, S. 252. CI, S. 269. CI, S. 291. CI, S. 264.
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Möglichkeiten wirken Ziel bestimmend im religiösen Glauben und in der geistigen Erleuchtung. Mit wachsender Subjektivität geht ferner eine Einschränkung des »Grade[es] von Allgemeinheit« einher. 57 Die Spezifizierung der Geltungsbedingungen nimmt sukzessiv zu, womit sich die relativen Umfänge der Wirklichkeitsschichten verengen. Am subjektiven Pol ist der Ort erreicht, an dem Phänomene mit größter Seltenheit auftreten. Heisenbergs Diskussion der Ordnungsstruktur endet (im Abschnitt »Das große Gleichnis«) bei der Religion, deren zur Wissenschaft alternative Sichtweise er noch einmal anspricht. Seine Erörterung der religiösen Erkenntnisweise weist hierbei Ähnlichkeit mit Überlegungen Friedrich Nietzsches auf, für die dessen Aphorismus »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde« beispielhaft ist. 58 Wie Nietzsche stellt auch Heisenberg die Problematisierung des religiösen Glaubens als stufenförmige Bewegung der menschlichen Erkenntnis dar. Dieser Wandelprozess beginnt mit dem unreflektierten Glauben des Frommen, dessen Weltverständnis auf den weiteren Stufen fortschreitend in Frage gestellt wird. 59 Während aber Nietzsche mit seinem Aphorismus den Nihilismus begründet (»mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft«), sieht sich Heisenberg zur beruhigenden Gewissheit geführt, dass »im Großen [… immer noch] eine höhere Macht über den Glauben der menschlichen Gemeinschaften« entscheidet. 60 Der Wandel der religiösen Glaubenseinstellungen geht schließlich auch in die historische Einordnung der wissenschaftlichen Weltauffassung ein. Heisenberg ist davon überzeugt, dass sich in der Zeit der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine Verschiebung in den Grundlagen der Wirklichkeitsordnung ankündige: Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß auch in unserer Zeit eine tiefgehende Änderung der Wirklichkeit sich vorbereite. Die stürmischen und fruchtbaren Jahre nach dem letzten Weltkrieg haben die ersten Wellen einer neuen geistigen Luft in unsere nur scheinbar sichere Welt geweht, und niemand weiß, was nach den jetzt beginnenden Kriegen für die Menschen ›wirklich‹ sein CI, S. 254. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.), Bd. 6, München und New York: de Gruyter, 1980. ff, S. 80 f. 59 CI, S. 301 f. 60 CI, S. 303. 57 58
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wird. Es kann kaum Zufall sein, daß sich in den letzten Jahrzehnten auch innerhalb der Naturwissenschaften das Bild der Wirklichkeit grundlegend gewandelt hat. Selbst wenn wir den Zusammenhang dieser Wandlung mit jenen größeren Veränderungen noch nicht durchschauen, so mag zu irgendeiner späteren Zeit das Verständnis dieser besonderen Vorgänge in der Naturwissenschaft einer allgemeinen geistigen Entwicklung die Wege ebnen. 61
Zu den Anzeichen für eine epochale Verschiebung in den »Fundamenten des Denkens« 62 rechnet Heisenberg auch den Wandel der religiösen Einstellungen. Für seine Zeit stellt er fest, dass […] die Bindungen […] zu den Religionen [gelöst werden], in denen ausdrücklich von Gott die Rede ist; aber dadurch wird Raum geschaffen für religiöse Bindungen anderer Art, in deren Mythos etwa gerade von der schöpferischen Kraft der Seele soweit wie möglich abgesehen wird. Für einen Teil der Menschheit ist die Abkehr von den bisherigen Religionen offenbar nur die Vorbereitung, um neue Bindungen einzugehen, und die Entstehung solcher merkwürdiger Diesseits-Religionen wie Nationalsozialismus und Bolschewismus deutet darauf hin, dass sich hier vielleicht neue entscheidende Änderungen in der Struktur des menschlichen Bewusstseins anbahnen. Für einen anderen Teil – insbesondere in der angelsächsischen Welt – ist an die Stelle der früheren Religion längst eine Bindung etwas anderer Art getreten. Diese andere Bindung knüpft an die Erlebnisse der ersten großen Geister der beginnenden Neuzeit an, die neben der aus der Offenbarung stammenden christlichen Wirklichkeit noch jene andere objektive Realität entdeckten, die dann in der entstehenden Naturwissenschaft der Neuzeit ihren Siegeszug angetreten hat. Für einen großen Teil der heutigen Menschheit ist die objektivierbare Schicht der Wirklichkeit zur Wirklichkeit schlechthin erhoben, sie bildet die Grundlage für jeden Wertmaßstab. 63
Schließlich glaubt Heisenberg, den möglichen Übergang zu einer neuen Epoche ebenfalls an der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus ablesen zu können. 64 Als habe der von ihm zutiefst abgelehnte nationalsozialistische Terror dennoch die welthistorische Bedeutung, zu einer grundlegenden Erneuerung beizutragen, schreibt er, […] daß auch diese Episode [der] Geschichte letzten Endes gute Früchte tragen und einer höheren Entwicklung dienen werde. 65
61 62 63 64 65
CI, S. 218 f. CI, S. 304. CI, S. 298. CI, S. 218 und 304. CI, S. 303.
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Die erwartete epochale Veränderung reflektiert sich im Wandel der vorherrschenden Wirklichkeitsauffassungen bzw. Wirklichkeiten und kann nach Heisenberg daran gemessen werden, in welchem Maß neue Wirklichkeiten an bisherige anschließen. Noch sei nicht entschieden, ob nicht »doch das Wesentliche an der Erkenntnis der Vergangenheit übrigbleiben« werde. 66 Sollte dies der Fall sein, könnte […] die Verschiebung dort ihr Ende erreichen, wo das Nebeneinander und Ineinander der verschiedenen Schichten der Wirklichkeit nicht mehr als Widerspruch erscheint, sondern als fruchtbare Spannung ertragen wird. 67
Was Heisenberg als positives Ende der angenommenen Verschiebung beschreibt, entspricht einer weiteren Realisierung seines Schichtenmodells. Die Anerkennung verschiedener Wirklichkeiten macht für ihn das erhoffte Resultat der sich vermutlich vorbereitenden Veränderung der Wirklichkeit aus. Würde diese Pluralität erreicht, wären die Absolutheitsansprüche, die für die bisherigen Wirklichkeitsüberzeugungen kennzeichnend waren, beseitigt.
6.
Bedrohung der pluralen Weltauffassung: Die Selbstbegegnung des Menschen
Heisenberg hat auch nach dem Krieg an seiner These von einem möglichen Epochenbruch in der Entwicklung der Wirklichkeitsauffassungen festgehalten. Unverändert ist das wissenschaftliche Weltbild Gegenstand der, wie es dann heisst, »Verschiebung in den Fundamenten unseres Daseins«. 68 Im Vordergrund steht aber nicht mehr das Hervortreten der pluralen Konzeption, sondern die damit ebenfalls gegebene Gefahr einer Dominanz dieses Weltbildes gegenüber anderen Wirklichkeitsauffassungen. Heisenberg hatte einen ähnlichen Aspekt in den dreißiger Jahren mit seiner bereits angesprochenen Ansicht thematisiert, die zunehmende Abstraktion der wissenschaftlichen Theorien gehe mit einem Verlust ihres Vermögens, Gegenstände der unmittelbaren Anschauung zu erfassen, einher (Abschnitt 4). Jetzt bettet er seine Kritik der Einseitigkeit in einen weltgeschichtlichen Prozess der 66 67 68
CI, S. 304. Ebd. CI, S. 411, vgl. auch CV, S. 439.
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Gregor Schiemann
globalen Ausbreitung der technischen Naturbeherrschung ein, die er mit der Transformation vom Mittelalter zur Neuzeit vergleicht. 69 In seinem Vortrag »Das Naturbild der heutigen Physik«, der zu seinen bedeutendsten Vorträgen nach dem Krieg gehört, meint Heisenberg, dass die »Ausbreitung der materiellen Macht« eine Dynamik erreicht habe, die sich der menschlichen Verfügungsgewalt partiell entziehe. 70 Er rückt die Technisierung der Welt in die Nähe eines biologischen Prozesses, dessen grundlegende Verlaufsform unumstößlichen Naturgesetzen folgt. Insofern allerdings nur die natürliche Basis der Entwicklung jenseits menschlicher Handlungsspielräume liegt, verbleiben für die konkrete Steuerung der Technik doch Einflussmöglichkeiten. Heisenberg macht auf die hohe Geschwindigkeit der aktuellen Technisierung aufmerksam, durch die die weltweite Verbreitung von Apparaten und Verfahren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Ausmaß erreicht habe, durch das für die Menschheit neue Lebensbedingungen geschaffen worden seien. Diese durch die Allgegenwart der Technik gekennzeichnete Situation beschreibt er als Wendung zur ausschließlichen Selbstbegegnung des Menschen: Wenn man versucht, von der Situation in der modernen Naturwissenschaft ausgehend sich zu den in Bewegung geratenen Fundamenten vorzutasten, so hat man den Eindruck, […] daß zum ersten Mal im Laufe der Geschichte der Mensch auf dieser Erde nur noch sich selbst gegenüber steht, daß er keine anderen Partner oder Gegner mehr findet. 71
An anderer Stelle sieht Heisenberg in technischen Innovationen und ihrer Ausbreitung sogar die eigentlichen Triebkräfte für den gegenwärtigen historischen Wandlungsprozess. 72 Neben der Allgegenwart der Technik nennt er zwei weitere Phänomene der ausschließlich gewordenen Selbstbegegnung des Menschen. Die eine Erscheinungsweise ist ebenfalls ontologischer Natur und bezieht die aus dem Anstieg der Weltbevölkerung folgende immer dichtere Besiedelung der Erde ein. Früher war der Mensch durch wilde Tiere, durch Krankheiten Hunger, Kälte und andere Naturgewalten bedroht, und in diesem Streit bedeutete jede Ausweitung der Technik eine Stärkung der Stellung des Menschen, also einen 69 70 71 72
CIII, S. 201 und 309. CI, S. 409. CI, S. 412 (Hervorh. i. Orig.). CIII, S. 201 und 309.
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Fortschritt. In unserer Zeit, in der die Erde immer stärker besiedelt wird, kommt die Einschränkung der Lebensmöglichkeit und damit die Bedrohung in erster Linie von den anderen Menschen, die auch ihr Recht auf die Güter der Erde geltend machen. 73
Mit der anderen Erscheinungsweise mache sich die neue Situation nicht ontologisch, sondern erkenntnistheoretisch und zwar in der Atomphysik bemerkbar. 74 Den atomphysikalischen Gegenständen kommen nach der von Heisenberg vertretenen Interpretation der Quantenmechanik Eigenschaften zu, die nicht unabhängig von den experimentellen Verfahren ihrer Beobachtung sind. Die atomphysikalischen Theorien beziehen sich auf den Umgang des Menschen mit der Natur und nicht auf eine an sich seiende Natur. 75 Auch in der atomphysikalischen Erkenntnis stehe der Mensch nur noch sich selbst gegenüber. Am schärfsten aber tritt uns diese neue Situation […] in der modernen Naturwissenschaft vor Augen, in der sich […] herausstellt, daß wir die Bausteine der Materie, die ursprünglich als die letzte Realität gedacht waren, überhaupt nicht mehr ›an sich‹ betrachten können, daß sie sich irgend einer objektiven Festlegung in Raum und Zeit entziehen und daß wir im Grunde immer nur unsere Kenntnis dieser Teilchen zum Gegenstand der Wissenschaft machen können. […] Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand [der] Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst. 76
Die Nachkriegsdarstellung der vermeintlichen Verschiebungen in den Fundamenten des Daseins weicht in mehrfacher Hinsicht von den Ausführungen des Manuskriptes »Ordnung der Wirklichkeit« ab. Heisenberg hält an seiner Annahme fest, es sei ein grundlegender Wandel der Wirklichkeitsauffassung in Vorbereitung, charakterisiert ihn jedoch kaum noch ausdrücklich mit Verweis auf politische Ereignisse. Auch behauptet er nicht mehr explizit die Diskontinuität des Transformationsprozesses. Er spricht zwar von einer »plötzliche[n …] Ausbreitung der Technik in den letzten 50 Jahren« 77 und erweckt den Eindruck, als
73 74 75 76 77
CI, S. 412. CI, S. 413. CI, S. 404 f. und 413. CI, S. 413 (Hervorh. i. Orig.). CI, S. 411.
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Gregor Schiemann
würde der Mensch gleichsam unvermittelt sich erstmals nur noch selbst gegenüberstehen. Der Vorgang bleibt in seiner Darstellung indes in die auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Technisierungstendenz eingebettet. Kritisch kann man fragen, ob die These von der ausschließlichen Selbstbegegnung nicht erst unter gänzlich künstlichen Umgebungen (Raumschiffe, Unterseeboote), denen die realen Verhältnisse des modernen Menschen allermeist noch wenig ähneln, zutreffend ist. Beschränkt man die These hingegen nicht auf erst selten vorkommende artifizielle Lebensumstände, ist umgekehrt zu bedenken, dass sie bereits weit vor der Moderne auf lokale Kontexte, wie etwa auf Stadtkulturen, Anwendung finden könnte.
7.
Schluss
Zu den Vorzügen von Heisenbergs Ansatz gehört, von der Differenz von wissenschaftlichem und nicht wissenschaftlichem Wirklichkeitsverständnis auszugehen. Diese Unterscheidung steht am Anfang seiner Ordnung der Wirklichkeit, wenn er Wissenschaft und Religion entgegensetzt, sie wird an den Grenzen der wissenschaftlichen Welterfassung, wie sie bei der Untersuchung von Bewusstseinsvorgängen und kulturellen Symbolen auffällig werden, thematisch und bildet schließlich auch den Hintergrund, vor dem die Gefahren einer wissenschaftlich geleiteten zunehmenden Technisierung hervortreten. Denn in der Zurückdrängung nicht wissenschaftlicher – d. h. für Heisenberg: maßgeblich subjektiv bestimmter Verständnisweisen besteht die Einseitigkeit dieser Technisierung. In ihrem Bezug auf die Verwissenschaftlichung und Technisierung der Welt ist die These von der beginnenden ausschließlichen Selbstbegegnung des Menschen allerdings überzogen. Sie lenkt zwar zu Recht die Aufmerksamkeit auf die wachsende Anwendungsrelevanz und Präsenz des wissenschaftlichen Wissens. Aber das eigentlich erstaunliche Phänomen dieses Prozesses besteht darin, dass Wirklichkeitsbereiche ihre Eigensinnigkeit bewahren und Wissenschaft mit nicht wissenschaftlichem bzw. nicht technisch vermitteltem Wissen konfrontiert bleibt. Auch die moderne Technik ist auf diese Resistenz eingestellt, wenn sie – um ein Beispiel zu nennen – ihre Geräte so konstruiert, dass man über die innere Funktionsweise nichts mehr wissen muss, um sie zu bedienen. Zudem ist die Bedienung so organisiert, 318 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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dass durch eine fehlerhafte Handhabung kaum ein Schaden an der Funktionsweise entstehen kann. Lebensweltlich treten den Menschen nur die Oberflächen der wissenschaftlich-technisch hergestellten Gegenstände gegenüber. Hierin zeigt sich kein Mangel, sondern der besondere Charakter der Alltagswelt als Wahrnehmungswelt. Die immer noch begrenzte Reichweite von Wissenschaft ist es, die Heisenbergs Ansatz einer pluralen Weltauffassung Aktualität verleiht. Unabhängig vom Ausmaß der Verwissenschaftlichung kann die Frage nach einem Wandel des wissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnisses im vergangenen Jahrhundert diskutiert werden. Ob sich, wie Heisenberg vermutet, eine epochale Verschiebung in den Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens ereignet hat, ist nicht leicht zu beurteilen. 78 Einerseits hat die von ihm ins Zentrum gestellte Revolution der Physik die wissenschaftliche Theoriebildung insgesamt nur bedingt tangiert. Andererseits besteht die Pointe seines Ansatzes aber gerade in der Behauptung, dass die Bedeutung der quantenmechanischen Revolution auch in ihrem Beitrag zur Erkenntnis der Grenzen einer ausschließlich physikalischen Weltbetrachtung liege. Der Physikalismus bildete den Kern des mechanistischen Weltbildes, dessen Krise allerdings auf das 19. Jahrhundert zurückreicht. 79 Heisenbergs Konzeption der abgeschlossenen Theorien und sein daran anschließendes Schichtenmodell der Wirklichkeit ziehen die heute noch einsichtigen Konsequenzen aus dem Niedergang des Mechanismus. Seine Überlegungen zur Dynamik physikalischer Theoriebildung, zu den Geltungsbeziehungen zwischen verschiedenen naturwissenschaftlichen Theorien sowie zu den pluralen Formen einer wissenschaftlichen Thematisierung der Wirklichkeit weisen eine nahezu unverändert hohe Phänomenangemessenheit auf.
78 Gregor Schiemann, Is an epoch-making change in the development of science currently taking place? A critique of the ›epochal-break-thesis‹, Manuskript 2009. 79 Gregor Schiemann, Wahrheitsgewissheitsverlust. Hermann von Helmholtz’ Mechanismus im Anbruch der Moderne. Eine Studie zum Übergang von klassischer zu moderner Naturphilosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellshaft, 1997.
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Gregor Schiemann
Literatur Cassidy, David C., Werner Heisenberg. Leben und Werk (1. Aufl. engl. 1992). Heidelberg u. a.: Spektrum Akademischer Verlag, 1995. Heisenberg, Werner, Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft (12. Aufl.). Stuttgart: Hirzel, 2005. Heisenberg, Werner, Physik und Philosophie (7. Aufl.). Stuttgart: Hirzel, 2006. Heisenberg, Werner, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik (12. Aufl.). München: Piper, 1991. Heisenberg, Werner, Schritte über Grenzen. Gesammelte Reden und Aufsätze (7. Aufl.).München: Piper, 1989. Heisenberg, Werner, Tradition in der Wissenschaft. Reden und Aufsätze. Mit einem Nachwort von H.-P. Dürr. München: Pieper, 1977 Heisenberg, Werner, Quantentheorie und Philosophie. Herausgegeben von Jürgen Busche Hg., Stuttgart: Hirzel, 1986. Heisenberg, Werner Gesammelte Werke. Abteilung C: Allgemeinverständliche Schriften. (Bd. I: Physik und Erkenntnis 1927–1955, Bd. II: Physik und Erkenntnis 1956–1968, Bd. III: Physik und Erkenntnis 1969–1976, Bd. IV: Biographisches und Kernphysik, Bd. V: Wissenschaft und Politik). München: Piper, 1985. Heisenberg, Werner, Ordnung der Wirklichkeit 2. Aufl.). München: Piper, 1990. Kleint, Christian, et al. (Hg.), »Werner Heisenberg 1901 – 1976« (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, Bd. 62), Stuttgart/Leipzig: Hirzel, 2005. Schiemann, Gregor, Werner Heisenberg. München: H. C. Beck, 2008. Gregor Schiemann, Is an epoch-making change in the development of science currently taking place? A critique of the ›epochal-break-thesis‹, erscheint in: Martin Carrier und Alfred Nordmann (Hg.): The changing conditions of scientific research (Berlin: Springer).
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Carl Friedrich von Weizscker: Produktiv irren Gernot Böhme
Die Frage nach den Irrtümern in seinen Vorhaben war Thema meines letzten inhaltlichen Gespräches mit Carl Friedrich von Weizsäcker ungefähr zehn Jahre vor seinem Tod. Diese Vorhaben artikulierten sich in den drei fundamentalen Behauptungen, dass die Wissenschaft im Ganzen eine Einheit sei, dass der dritte Weltkrieg ganz bestimmt komme und schließlich, dass der Weltfriede nur durch einen Weltstaat zu sichern sei. Durch Nachrufe, die nach von Weizsäckers Tod 2007 in den Medien erschienen sind, ist allerdings noch ein weiterer Punkt hinzugekommen. Mit diesem beginne ich, um diesen Beitrag dann mit der Diskussion des ersten Vorhabens zu schließen.
Von Weizscker, der Politiker. Diese Nachrufe waren, wie bei Nachrufen üblich, solche, in denen man dem Verstorbenen nur noch das Gute nachsagt. Bei Carl Friedrich von Weizsäcker waren es die bekannten Floskeln. Er sei der letzte Universalgelehrte gewesen oder derjenige, der in den beiden Kulturen, also Geistes- und Sozialwissenschaft einerseits und Naturwissenschaften andererseits in gleicher Weise zu Hause war, der Denker der Einheit und so weiter. So weit ich gesehen habe, gab es eigentlich nur einen andersartigen Nachruf, nämlich den von Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau1 . Dieser enthält auch eine kritische Sicht auf von Weizsäcker und zwar indem er darauf eingeht, dass von Weizsäcker während des Dritten Reiches in dem so genannten Uranverein mitgear-
Arno Widmann, »Der Herr der zwei Kulturen«, Frankfurter Rundschau, 30. 4./ 1. 5. 2005.
1
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beitet hat. Der Uranverein war eine Verbindung von Atomwissenschaftlern, also Physikern im Wesentlichen, aber auch Chemikern, die unter Leitung des Heeres-Waffenamtes stand und die Aufgabe der Entwicklung einer Atombombe hatte. Gerade in Bezug auf diese Mitarbeit hat von Weizsäcker dann später selbst von Irrtum und Falschheit gesprochen. Von Weizsäcker äußerte sich zu diesem Komplex explizit erst ab etwa Mitte der 80er Jahre, dann sehr deutlich in einem Spiegel-Interview 1991 und einem Interview der Frankfurter Rundschau 1995. Vorher, und das heißt auch in seinem Schüler-Kreise, war der Tenor, in dem er über diese Lebensperiode sprach, eher so: wir wollten eigentlich die Atombombe in diesem Uranverein gar nicht bauen, wir arbeiteten am Reaktor, und das hieß nach damaliger Terminologie an der Uranmaschine. Also, wir arbeiteten an der Uranmaschine und redeten von der Bombe um kriegswichtig zu sein und der Einberufung ins Militär zu entgehen. Diese Strategie hat von Weizsäcker damals auch explizit verfolgt. Damit hat er z. B. Otto Hahn und seine Mitarbeiter in den Uranverein hineingebracht. Diese Version der Geschichte – wir wollten die Bombe ja eigentlich gar nicht bauen und haben eigentlich nur am Reaktor gearbeitet – ist dann später von dem Journalisten Robert Jungk in seinem weltbekannten Buch Heller als Tausend Sonnen 2 ideologisch erweitert und um die Behauptung ergänzt worden, die deutschen Kernphysiker hätten im Dritten Reich Widerstand geleistet, indem sie Hitler die Atombombe verweigerten. Weizsäcker hat das uns Schülern gegenüber nie dementiert. Robert Jungk war ein viel gelesener Journalist und seine Version der Geschichte fand eine allgemeine Verbreitung in der Öffentlichkeit. Nun sind jedoch durch die Forschung, insbesondere dadurch, dass auf Grund der Wiedervereinigung und des Endes des Kalten Krieges auch sowjetische Archive zugänglich wurden, wichtige Dokumente ans Licht gekommen, zu denen auch ein Bericht Carl Friedrich von Weizsäckers an das Heeres-Waffenamt gehört, in dem er explizit darauf hingewiesen hat, dass beim Betrieb eines Reaktors, also der Uranmaschine, Plutonium produziert würde und dass sich damit ein leichterer Zugang zu einer Atomwaffe eröffne. 3 Das war 1940. Robert Jungk, Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher, Stuttgart: Henry Groverts, 1956. 3 Robert Jungk war über v. Weizsäckers Bericht informiert und erwähnt a. a. O. S. 101 diese Möglichkeit einer deutschen Atombombe. 2
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Carl Friedrich von Weizscker: Produktiv irren
1941 hat von Weizsäcker sogar eine Patentanmeldung 4 auf den Weg gebracht für eine Uranmaschine, in der er explizit genau diese Produktion von Plutonium als möglichen Explosionsstoff erwähnt. Es ging also um einen Reaktor als Brüter. Diese Idee von Weizsäckers, nämlich die Idee, nicht Uran, sondern Plutonium zu verwenden, wäre für eine deutsche Atombombe die entscheidende Idee gewesen. Und zwar aus folgendem Grunde. Um eine Atombombe zu bauen, muss man das Isotop Uran 235 isolieren, das in sehr geringen Mengen in Uran vorkommt. Das heißt, es ist ein ungeheurer Aufwand, nämlich der massenspektroskopischen Isotopentrennung notwendig – und deshalb ging ja auch die Entwicklung in Deutschland nicht richtig voran. Man hatte einfach nicht die Mittel dazu. Mit dem Plutonium wäre das etwas anderes gewesen. Wenn man einen Reaktor gehabt hätte, wäre nämlich Plutonium angefallen, das auf chemische Weise isolierbar ist. Diese Idee ist auch von den Amerikanern realisiert worden. Die zweite Bombe, die auf Nagasaki, war eine Plutoniumbombe. Die Amerikaner haben beide Wege realisiert, also mit der reinen Uranbombe auf Hiroshima und der Plutoniumbombe auf Nagasaki. Und von Weizsäcker hat die entscheidende Idee gehabt, die zu einer deutschen Atombombe hätte führen können. Von Weizsäcker ist in den Interviews danach gefragt worden, warum er sich überhaupt für diese Sache engagiert hat. Und die Antworten sind durchaus überraschend, zumal er in den Interviews jeweils mehr sagt, als wonach er gefragt wurde. Ich zitiere zunächst aus dem Spiegel-Interview von 1991. 5 Von Weizsäcker wird nach den Motivationen gefragt und redet zunächst über Heisenberg. Dann sagt er: Bei mir war es anders. Was ich damals gemacht habe, gehört zu denjenigen Handlungen meines Lebens, die ich nachträglich nicht noch einmal wiederholen würde. Ich habe falsch gehandelt. Das Technische interessierte mich überhaupt nicht, wissenschaftlich fand ich andere Sachen viel interessanter. Aber ich fand, Politik ist wichtig. Und ich hatte die Vorstellung, dass ich politischen Einfluss gewinnen könnte, wenn ich jemand wäre, mit dem selbst Adolf Hitler reden müsste. 6 4 Mark Walker, Eine Waffenschmiede? Kernwaffen- und Reaktorforschung am KaiserWilhelm-Institut für Physik, in: Rüdiger Hachtmann (Hg.), Ergebnisse. Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Berlin: 2005, S. 6. 5 Der Spiegel Nr. 17 von 1991, S. 227–238. 6 A. a. O., S. 232.
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Ich habe wegen dieser Formulierung diesen ganzen Abschnitt von Weizsäcker, der Politiker überschrieben. Ich habe oben bereits angekündigt, dass er in dieser Sache explizit von Irrtum und Falschheit redet. Ich zitiere weiter aus dem Interview: Ich habe geglaubt – das war mein großer Irrtum – es könnte ja sein, dass man den Hitler zu einer Politik des Friedens bewegen kann. Dazu können Sie natürlich sagen, ich sei verrückt gewesen. Und ich bin bereit zuzugeben: ich war verrückt. 7
Im Verlauf des Interviews fährt er fort: Wenn Sie mich jetzt fragen, was für einen Grund das hatte, dann antworte ich: Ich dachte, wenn der Bau einer Bombe auf diese Weise möglich ist, dann werde ich einer sein, mit dem man darüber reden muss. Und dann werde ich zusehen, dass ich einen Weg zu den wirklichen Entscheidungsträgern finde, um mit denen etwas zu bereden, was diese unteren Burschen (also die anderen, also Minister usw.), diese unteren Burschen, sowieso nicht verstehen. 8
Von Weizsäckers eigentliche Motivation war also, Einfluss auf die Politik zu bekommen. Er sagt rückblickend selbst, das sei »verrückt« gewesen, man würde es zumindest naiv nennen. Dabei muss man natürlich bedenken, dass von Weizsäcker am Ende des Krieges erst 33 Jahre alt war. Er ist 1912 geboren. Als die Forschung zur Kernenergie um 1940 ihren Anfang nahm, war er 28, also in einem Alter, in dem die meisten Naturwissenschaftler heute noch Studenten sind. Das heißt, es war vielleicht nicht so viel Reife zu erwarten, wie man nachträglich dem großen Wissenschaftler und Philosophen von Weizsäcker naturgemäß unterstellt. Auch er ist einmal jung gewesen. Ich möchte das Gesagte ergänzen durch eine Äußerung von Weizsäckers aus dem Jahre 1995 in der Frankfurter Rundschau, weil dort dieses Moment – Einfluss auf die Politik gewinnen zu wollen – in gewisser Weise noch stärker heraus kommt als in anderen Interviews. Er sagt, dass er stark durch jugendbewegte Ideen und vor allem den Dichter Stefan George und seine Idee eines ganz anderen, neuen, geistigen Deutschlands beeinflusst war. 9 Er glaubte, er könne vielleicht in dieser A. a. O., S. 232. A. a. O., S. 234. 9 Der in dem George-Kreis verwendete Ausdruck war: »das geheime Deutschland«. Siehe: Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Köln: Böhlau, 2006. Worin die Beziehung von Weizsäckers zum George-Kreis bestand, ist bisher unklar. 7 8
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Richtung Einfluss auf Hitler gewinnen. Ein sehr merkwürdiger Gedanke. Von Weizsäcker sagte in der Frankfurter Rundschau: Ich hatte das Gefühl, dass man in der Politik fundamental etwas ändern muss. Wie kann ich überhaupt gehört werden von den Leuten, die man bewegen muss, es zu ändern? Ich kann dann gehört werden, wenn ich etwas kann, was fast kein anderer kann. Zum Beispiel, wenn ich weiß, wie eine Atombombe gebaut werden kann. Dann könnte ich möglicherweise sogar mit Hitler sprechen und könnte ihn, weiß der Himmel, überzeugen, eine andere Politik zu machen. Ich weiß nachträglich, dass das ein reiner Irrtum war, dass ich Hitler da überschätzt habe, so wie ich ihn vor ’33 unterschätzt habe. Aber das war eine Frage, die mich damals bewegt hat. 10
Das sind Äußerungen der 1990er Jahre. Dass von Weizsäcker überhaupt einigermaßen offen über diese Dinge gesprochen hat, kann man erst in den späteren 80ern feststellen. Darin liegt für uns Schüler eine große Enttäuschung. Das ist in gewisser Weise einfach die normale, eigentlich für die ganze Generation charakteristische Beziehung zu den Vätern, hier dem Doktor-Vater. Die Generation der Väter hat geschwiegen und war nicht wirklich ansprechbar auf das, was im so genannten Dritten Reich passiert ist. 11 Nur man muss sagen, dass von Weizsäckers Schweigen nicht einfach dieses furchtsame Schweigen war, das man vielleicht bei vielen anderen unterstellen kann, dass es vielmehr politisch war. Er hatte Absichten damit und da muss man mit Hannah Arendt feststellen: »Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel der Politik«. 12 Also, was hatte von Weizsäcker für politische Absichten? Ich glaube, er wollte die friedliche Nutzung der Atomenergie durchsetzen und die Wissenschaft für den Frieden engagieren. Das war das, wozu diese Naturwissenschaftler damals aufgrund des Schocks von Hiroshima und Nagasaki motiviert waren. Bei von Weizsäcker war diese Motivation besonders stark. Man hat dazu einige Zeugnisse: 1945 wurden zehn deutsche Physiker von den Siegermächten, den Engländern und Amerikanern, in einer Art Landschloss namens Farm Frankfurter Rundschau Von 3. 8. 1995, S. 7. Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens (1. Aufl.1967), 1969, S. 53.–66. 12 Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, München: Pieper (2. Aufl.)., 1987, S. 8. 10 11
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Hall in England interniert. Sie haben dort fast ein Jahr verbracht. Dieses Farm Hall hatten die Engländer vorsichtshalber mit Wanzen bestückt, so dass die Gespräche der Internierten abgehört werden konnten und dokumentiert sind. In diesen Dokumenten finden sich nun Äußerungen von Weizsäckers, aus denen seine Absicht, die Kernforschung in Deutschland auf die friedliche Nutzung der Kernenergie hin zu orientieren, zu entnehmen ist. Es war ja während der Zeit in Farm Hall, dass der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki bekannt wurde. Die Reaktionen der deutschen Wissenschaftler darauf waren sehr unterschiedlich. Von Weizsäcker hat damals sofort diese politische Weichenstellung vollzogen: in Deutschland friedliche Entwicklung der Kernenergie. Und nachdem dieses Schreckliche passiert ist, kommt allgemeiner hinzu: Einsatz der Wissenschaft für den Frieden. Ich führe aus den so genannten Transcripts13 zwei Zitate an. Sie sind leider in Englisch, also als historische Dokumente prekär, weil es in solchen Äußerungen auf Nuancen ankommt. Natürlich haben die internierten Wissenschaftler miteinander Deutsch gesprochen. Die Engländer haben die Mitschnitte übersetzt. Die Transcripts sind 1993 in englischer Sprache veröffentlicht worden. Angeblich sind die ursprünglichen Bänder verschwunden, die transkribierten Texte in deutscher Sprache gibt es anscheinend auch nicht mehr. Das heißt also, die englische Version muss nun im Sinne der Geschichtswissenschaft als das authentische Dokument gelten. Bei den Zitaten, die ich anführe, handelt es sich um Äußerungen, die in der Diskussion gleich unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Atombomben-Abwurfs gemacht wurden. Damals haben sich natürlich die deutschen Wissenschaftler zunächst gefragt: warum haben wir es eigentlich nicht geschafft? Dann geht die Diskussion hin und her. Paul Harteck, Kurt Diebner und Werner Heisenberg meinten, man hätte in Deutschland nicht die Möglichkeit zum Bau einer Bombe gehabt, weil die entsprechende Manpower fehlte. Als von Weizsäcker darauf hinwies, dass bei der V-1, V-2 sehr wohl Tausende von Leuten beschäftigt wurden, meinte Werner Heisenberg, man habe nicht den Mut (moral courage) gehabt, 1942 für den Bombenbau 120.000 Leute anzufordern. Von Weizsäcker sagt dann:
Charles Frank (Hg.), Operation Epsilon: the Farm Hall transcripts, IOP Publishing LTD 1993.
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I believe the reason we didn’t do it was because all the physicists didn’t want to do it, on principle. If we had wanted Germany to win the war we would have succeeded. 14
In freier Übersetzung: Ich glaube, der Grund, weshalb wir es nicht geschafft haben, liegt darin, dass alle Physiker es nicht gewollt haben. Wenn wir wirklich gewollt hätten, dass Deutschland den Krieg gewinnt, dann wären wir auch erfolgreich gewesen.
Dazu sagt Mark Walker in einem Aufsatz über das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik mit dem Titel Eine Waffenschmiede? 15 , dass von Weizsäcker hier bereits die Argumentation angelegt habe, die dann später im besiegten Deutschland Kernforschung überhaupt ermöglicht hat, also: Wissenschaft für den Frieden und friedliche Kernnutzung. Es gibt in den Farm Hall Transcripts dazu noch eine Stelle, die meines Erachtens jedoch mit Vorbehalt zu lesen ist. Von Weizsäcker äußert sich folgendermaßen: History will record that the Americans and English made a bomb, and that at the same time the Germans, under the HITLER regime, produced a workable engine. In other words, the peaceful development of the uranium engine was made in GERMANY under the HITLER regime, whereas the Americans and the English developed this ghastly weapon of war. 16
In freier Übersetzung: Die Geschichtswissenschaft wird dann später berichten, dass die Amerikaner und die Engländer die Bombe machten, während zur selben Zeit die Deutschen unter dem Hitler-Regime eine workable engine, also eine arbeitsfähige Maschine, herstellten. Mit anderen Worten, die friedliche Entwicklung der Uranmaschine wurde in Deutschland betrieben unter Hitler, während die Amerikaner und die Engländer diese grässliche Kriegswaffe entwickelten.
Das steht nun da schwarz auf weiß, eine Transkription, das heißt, man kann den Ton, in dem von Weizsäcker die Sätze gesagt hat, nicht mithören. Ich persönlich vermute, dass diese Äußerung ziemlich ironisch gemeint war. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass er das so wörtlich, wie es da steht, gemeint hat. Denn sonst, meine ich, wäre die Pointe: dieses grässliche Hitler-Regime macht das Friedliche, während gerade
14 15 16
Transcripts, a. a. O. S. 76 f. Mark Walker, a. a. O. S. 36 f. Transcripts, a. a. O. S. 92.
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die demokratischen Staaten die schrecklichsten Kriegswaffen produzierten. Und doch, gerade dieser Text gibt Leuten wie Walker das Recht zu sagen, dass die Deutschen eigentlich die Atombombe gar nicht wirklich gewollt hätten. Indirekt rechtfertigt er auch die These von Robert Jungk, der diesen Text gar nicht gekannt hat, dem aber vielleicht diese Art von Argumentationslinie durch Gespräche mit von Weizsäcker vertraut war. 17 Von Weizsäcker hat ja zu diesen Vorgängen, wie ich oben berichtet habe, explizit selbst gesagt: »das war ein Irrtum, das war falsch.« Meine Meinung ist, dass gerade das Gefühl einer Schuldverstrickung eine ungeheure Energie bei ihm frei gesetzt hat und einen Impuls, der dazu geführt hat, mit einer immensen politischen Wucht so etwas wie Friedensforschung in Deutschland zu entwickeln – und auch Widerstand zu leisten, nämlich gegen die atomare Bewaffnung in der Bundesrepublik. 18 Zu von Weizsäckers Aktivitäten in dieser Richtung gehörte auch die Gründung des Vereins der Deutschen Wissenschaftler in Hamburg, die spätere Gründung des Starnberger Institutes, des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlichtechnischen Welt, und dann in der späteren, letzten Lebensphase der Einsatz für ein Friedenskonzil der Kirchen. Das alles lebte aus diesem Impuls der Überwindung eines Irrtums und wahrscheinlich aus dem Gefühl eben doch auch mitschuldig geworden zu sein im Dritten Reich. Übrigens, wenn ich hier das Wort »Schuld« einführe, dann gibt es dafür auch eine Basis, weil Weizsäcker nämlich in der Farm Hall Zeit einige Sonette gedichtet hat, wobei er in einem ganz explizit von der eigenen Schuld redet. Dieses ist in seinem Buch Im Garten des Menschlichen abgedruckt und zwar in der Selbstdarstellung, die das Buch abschließt. Dort heißt es:
Robert Jungk schreibt in seinem Buch a. a. O. S. 112: »Es erscheint paradox, daß die in einer säbelrasselnden Diktatur lebenden deutschen Kernphysiker, der Stimme ihres Gewissens folgend, den Bau von Atombomben verhindern wollten, während ihre Berufskollegen in der Demokratien, die keinen Zwang zu befürchten hatten, mit ganz wenigen Ausnahmen sich mit aller Energie für die neue Waffe einsetzten.« 18 »Erklärung der 18 Atomwissenschaftler vom 12. April 1957«,Der bedrohte Friede. München: Hanser (2. Aufl.), 1981, S. 29 f. 17
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Carl Friedrich von Weizscker: Produktiv irren
[…] Ich ließ mit sehendem Aug’ in dunklen Jahren schweigend gescheh’n Verbrechen um Verbrechen. Furchtbare Klugheit, die mir riet Geduld! Der Zukunft durf’t ich meine Kraft bewahren, allein um welchen Preis! Das Herz will brechen. O Zwang, Verstrickung, Säumnis! Schuld, o Schuld! 19
Die These meines Beitrages besagt ja, dass von Weizsäckers Irrtümer produktiv waren. Was also ist aus seiner irrigen Politik im Uranverein herausgekommen? Ich habe die institutionellen Gründungen genannt mit Themen, die viele Leute beschäftigt haben, und darüber hinaus eine ganze Forschungsrichtung auf den Weg gebracht hat. Hier ist eine naturwissenschaftliche Friedensforschung entstanden, von der auch das Hamburger Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung ein Bespiel ist, ebenso wie die IANUS–Gruppe der TU Darmstadt. Ich meine eine naturwissenschaftliche Friedensforschung, die realistisch ist, die sich eben nicht mit Appellen und Moral und politischen Vorschlägen begnügt, sondern die naturwissenschaftlichen Grundlagen bearbeitet, die man beherrschen muss, um überhaupt unter der Bedingung von Kernwaffen- und Biowaffen-Entwicklungen zu Friedensregelungen kommen zu können. Von Weizsäcker und eine Gruppe in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler haben seinerzeit mit dem Projekt Kriegsfolgen und Kriegsverhütung angefangen, das heißt, sie haben zunächst ganz realistisch dargestellt, was ein Atomkrieg wirklich bedeuten würde und daraus Konsequenzen gezogen: was müsste man auf der wissenschaftlich-technischen Seite machen, um so etwas zu vermeiden. Heute heißt dieser Forschungstyp in Darmstadt Rüstungskontrollforschung und zwar geht es vor allem darum, dass man Mittel, Technologien und Verfahren entwickelt, mit denen Rüstungsabkommen wirklich kontrolliert werden können. Es geht dann bei Rüstungsabkommen nicht bloß um Papier und Vertrauen – und sie werden nicht den Politikern und Juristen allein überlassen. Es muss eine naturwissenschaftliche Basis für die Kontrolle geben, dafür, dass Abmachungen auch konkret umgesetzt werden. Diesen Typ von Friedensforschung hat von Weizsäcker initiiert. 19 Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie. München: Hanser, 1977, S. 569.
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Abschließend muss man zu diesem Punkt sagen, dass von Weizsäcker als Politiker einen Irrweg gegangen ist, indem er glaubte, mit Hitler die Welt verbessern zu können – und dass er wirklich eine Umkehr vollzogen hat. Eins bleibt jedoch für sein Verhalten in der Folgezeit bestehen, etwas, das in seinen frühen, jugendlichen Politikideen enthalten ist, nämlich dass er Politik immer als Politik von oben verstanden hat: man muss die entscheidenden Stellen erreichen, die wichtigen Leute, die wichtigen Instanzen muss man beeinflussen. Politik war bei ihm keine Politik von unten, keine Grassroots-Politik. Von Weizsäcker stand der Friedensbewegung eigentlich fern und es stimmt auch nicht, wie der Spiegel in der entsprechenden Nummer behauptet, dass von Weizsäcker mit der Friedensbewegung, die gegen die Nachrüstung war, kooperiert hätte. Von Weizsäcker war ein realistischer Friedensforscher und Politiker, der gerade das Waffenpatt zwischen Ost und West als einen schlechten, aber garantierten Frieden angesehen hat. Er war nicht gegen den NATO-Doppelbeschluss. Als ich ihn einmal darauf angesprochen habe und im Sinne der Friedensbewegung argumentierte, sagte er zu mir, wenn man das will, dann muss man den Wegen der Bergpredigt folgen, und das heißt im Grunde, man muss leidensbereit sein. Und das war nicht sein Weg. Er wollte Politik von oben machen und das ist, wenn man die Weizsäcker-Familie im Ganzen betrachtet, kein Wunder. Sein Vater war Politiker und die meisten Familienmitglieder haben eher in führenden Positionen in der Gesellschaft gestanden und nicht etwa kleine Gruppen organisiert 20 .
Weltfrieden und Weltstaat Jetzt kommen wir zu den drei anderen Feldern. Ich fasse zwei zusammen, nämlich: »Der dritte Weltkrieg kommt bestimmt« und »Die wahrscheinliche Garantie des Weltfriedens ist der Weltstaat«. Weizsäcker war jemand, der immer sehr logisch argumentierte und die genannten Ideen entstammen gewissermaßen einer Hochrechnung – wenn man das so sagen darf. Sie ergeben sich aus einer Extrapolation der bisherigen politischen Geschichte, vor allem Europas, aber vielleicht auch der Welt. Und zwar hat diese logische Hochrechnung Martin Wein, Die Weizsäckers. Geschichte einer deutschen Familie, Stuttgart: DVA (4. Ed.), 1989.
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zwei Voraussetzungen. Erstens ist die Form der menschlichen Vergesellschaftung der souveräne Staat. Man könnte auch anders denken, aber so lautet die Voraussetzung von Weizsäckers. Die zweite Voraussetzung besagt, dass die souveränen Staaten in einer Machtkonkurrenz stehen. Das ist natürlich eine Sicht von Politik, die Carl Schmitt nahe steht, der Politik definiert durch die Differenz von Freund und Feind. Aus dieser Konstellation, meinte von Weizsäcker, folge logisch, dass ein Dritter Weltkrieg ganz bestimmt kommen werde. Ich will das mit einer Stelle aus von Weizsäckers Werk belegen und zwar aus dem Buch Der bedrohte Friede 21 . Es handelt sich um einen älteren Text, nämlich von 1962, mit dem Titel »Bedingungen des Friedens«. Dort sagt er: [D]ass Außenpolitik kleinerer in Innenpolitik größerer politischer Einheiten übergeht, ist ein uns aus der Geschichte vertrauter Vorgang. Es sind noch keine hundert Jahre verflossen, seit zum letzten Mal deutsche Staaten gegeneinander Krieg führten. Damals kämpfte der König von Preußen gegen die Könige von Bayern, von Württemberg, von Hannover und den Kaiser von Österreich. 22
Der heutigen Generation ist das allerdings schon fast unvorstellbar. Es kann in Deutschland keine innerdeutschen Kriege geben. Diese Entwicklung der Staaten zu größeren Einheiten rechnet von Weizsäcker hoch. Auf diesem Weg zur Einheit kommt es wegen der Machtkonkurrenz zu Kriegen, die führen zu immer größeren Gebilden, bis man die Konstellation hat, die er zu seiner Zeit erlebt hat und die er ein Machtduopol genannt hat. Das waren Amerika und seine Verbündeten auf der eine Seite und Sowjet-Russland und seine Verbündeten auf der anderen. Am Ende stehen sich zwei Staatenbündnisse als Machtduopol gegenüber und dann muss es zu einem letzten Krieg kommen. Als Ergebnis, so von Weizsäckers Prognose, haben wir den Weltstaat, und der wird dann Politik in Weltinnenpolitik verwandeln. Innere Kriege sind dann einfach unmöglich. Das ist also die logische Folgerung. Diese Idee der Pazifizierung der menschlichen Gesellschaften, also dass die Teile der Gesellschaft miteinander friedlich leben, ist etwas, was wir auch bei dem Soziologen Norbert Elias als »Prozess der Zivilisation« finden. Nach Elias hat der moderne Staat eine pazifizierende Wirkung, weil er mit einem Gewaltmonopol ausgestattet ist und das Rechtssystem hierarchisch gebildet ist, und weil es eine Instanz gibt, die das 21 22
Der bedrohte Friede, München: Hanser (2. Ed.), 1961. Ebd. S. 131.
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Recht durchzusetzen erlaubt, nämlich die Polizei. Entsprechend dachte von Weizsäcker die Möglichkeit des Weltfriedens durch den Weltstaat. Ich zitiere aus dem Text Bedingungen des Friedens eine weitere Passage. Dort führt er aus, dass es in der Friedenspolitik darauf ankomme, mit unbeirrbarer Zähigkeit diejenigen Elemente staatlicher Souveränität abzubauen, die es den Staaten möglich machen, Krieg aus freiem Entschluss zu beginnen. Dann sagt er über die Bemühung um Abrüstung: »Ich glaube, dass sie eines Tages in die Übertragung des Polizeimonopols an eine internationale Behörde einmünden muss« 23 . Diese Behörde muss man sich nicht unbedingt als Weltstaat denken, doch die Bedingungen des Machtduopols schien das damals zwingend notwendig zu machen. Ich darf das noch einmal aus seinem Text Fünf Thesen zum Dritten Weltkrieg verdeutlichen, nachzulesen in Der bedrohte Friede,: [Der Dritte Weltkrieg] ist wahrscheinlich, weil der Zwang zur Hegemoniekonkurrenz in einem System souveräner Großmächte, der in der Geschichte stets zu großen Kriegen geführt hat, heute unvermindert und mit denselben strukturellen Folgen fortbesteht. […] Das Duopol ist langfristig instabil. Es muss in einem kriegerischen Austrag oder in einer pluralistischen Mächtestruktur enden. 24
Von Weizsäcker hat gesehen, dass sich bereits damals schon eine Hegemonie Amerikas abzeichnete, er meinte jedoch, dass sie noch nicht ausreichen würde, um eine friedliche Weltordnung zu begründen. Dann sagt er: »Amerika mag, wenn der Friede bewahrt bleibt, noch lange die erste unter den Weltmächten sein; es kann nicht ohne Atomkrieg, der den Frieden der Welt garantierende Führer der Welt werden.« 25 Nach von Weizsäcker wäre die Möglichkeit des Weltfriedens jedenfalls denkbar – eben durch den Weltstaat. Doch der Weg zu diesem Weltstaat und der Weltstaat selbst, das hat er sehr wohl gesehen, sind eigentlich ganz schrecklich. Insofern glaube ich, dass diese Art von Thesen bei ihm einen provozierenden Charakter hatten, um nämlich genau das zu verhüten, was er voraussah. Über den Weltfrieden sagte er: »Der Weg zu ihm könnte ein letzter Weltkrieg oder Ebd. S. 132. Ebd. S. 254. 25 Ebd. S. 243. Es handelt sich um die Einleitung zu dem Buch Kriegsfolgen und Kriegsverhütung von 1971. 23 24
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blutiger Umsturz, seine Gestalt könnte die einer unentrinnbaren Diktatur sein. Gleichwohl ist er notwendig.« 26 Er hat den Weltfrieden als eine notwendige Voraussetzung der wissenschaftlichen und technischen Welt angesehen. Doch »der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter«. 27 Wir müssen sagen, dass diese Art des Denkens, dass diese Denkrichtung tatsächlich mit Irrtümern durchsetzt war, dass der Grundgedanke schon ein Irrtum war. Im Rückblick haben wir es natürlich leicht, das zu sagen. Für von Weizsäcker war es eigentlich unmöglich, dass sich die Duopolstruktur, also Amerika und Sowjet-Russland, auflösen könnte. Aber genau das haben wir erlebt. Weizsäcker hat zwar gesehen, dass die Sowjetunion in den 80er Jahren in einem wirtschaftlichen Niedergang begriffen war. Das ist allerdings ein Faktor, der dazu geführt hat, dass das eine Machtzentrum abgebaut wurde. Diesen Vorgang hat er beobachtet, doch gerade als erhöhte Gefahr eines Weltkrieges angesehen, weil nach seiner Analyse die Sowjetunion nämlich gerade in den 80er Jahren eigentlich am perfektesten dem Westen militärisch Paroli hat bietet können. Also gerade dieser Niedergang in der Sowjetunion hätte dazu führen können, dass sie in einem irrationalen Akt von sich aus einen Weltkrieg hätten anzetteln können. Ich glaube, wir dürfen nun nicht nachträglich behaupten, wie viele Leute das heute tun: die Sowjetunion ist wirtschaftlich zusammengebrochen und deshalb kam es zu der Wende. Ich glaube, man muss anerkennen, dass es ohne Gorbatschow, ohne die Politik der Perestrojka und des Glasnost, also der Durchsichtigkeit der Politik, des Abbaus von Gegensätzen und der Abrüstungsbereitschaft von Seiten der Sowjetunion nicht dazu gekommen wäre. Ich bin der Meinung, dass wir hier einen Moment der Vernunft in der Geschichte erlebt haben – das hat von Weizsäcker zumindest in diesem Zusammenhang nicht für möglich gehalten. Nun zum zweiten Punkt, nämlich dass der Frieden durch einen Weltstaat, zumindest durch eine Hegemonie ermöglicht würde. Auch das war wohl ein Irrtum. Von Weizsäcker hat bereits zur Zeit des Vietnamkrieges gesehen, dass die USA, die sich damals zu einem hegemonialen Machtzentrum entwickelten, ihre moralische Autorität einbüßten. Das ist hochinteressant. Es handelt sich um Äußerungen von 26 27
Ebd. S. 127. Ebd. S. 127.
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Weizsäckers, die zur Zeit der Studentenbewegung geschrieben wurden. Es kommt damit ein ganz anderer Aspekt in die Debatte, nämlich dass die reine Macht vielleicht nicht ausreichen könnte, den Weltfrieden zu sichern, wie es von Weizsäcker mit der Idee des Weltstaates unterstellt hatte. So schrieb er 1971, inmitten des Vietnamkriegs: Der Wunsch, Amerika in hegemonialer Weltstellung zu sehen, war in den letzten Jahrzehnten nicht nur für manchen Amerikaner, sondern gerade auch für viele Europäer attraktiv, die sich so eines ungewöhnlichen Schutzes ihrer Sicherheit und ihrer Interessen erfreuen würden. Doch wir haben in unserer Analyse nicht uns zu der Meinung durchringen können, dass dies ein praktikabler friedlicher Weg zum politisch garantierten Weltfrieden sei. Die gegenwärtige große Krise des amerikanischen Ansehens in der Welt ist wenigstens eines der Symptome der Schwierigkeiten. Gerade das fortschreitende Weltbewusstsein erträgt diese machtpolitische Präponderanz nicht, und es verliert den Glauben an die echten und nützlichen Werte der amerikanischen Staatsund Gesellschaftsauffassung, da es die Mittel nicht erträgt, mit denen diese durchgesetzt werden. 28
Ein außerordentlich wichtiger und weitschauender Satz. Doch der Glaube an den Weltfrieden durch Hegemonie von Amerika hat sich bei vielen Menschen noch nach der Wende von ’89 gehalten. Ich erinnere daran, dass Jürgen Habermas, als die NATO im Kosovo eingriff, dies auf der ersten Seite der ZEIT begrüßt hat mit einer auf die Etablierung eines Weltbürgerrechts vorgreifenden These, dass nämlich Menschenrecht vor Völkerrecht gehe: »Nach dieser westlichen Interpretation könnte der Kosovo-Krieg einen Sprung auf dem Wege des klassischen Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft bedeuten«. Diese Entwicklung glaubte er damals durch die USA garantiert. »Die USA haben in einer von der UNO nur schwach reglementierten Staatenwelt die Ordnungsaufgaben einer Supermacht übernommen«. 29 Kurt Otto Hondrich, ein Sozialwissenschaftler in Frankfurt, hat dann zum Anfang des Irakkrieges, weit weniger deliberativ als Habermas, doch mit verwandtem Tenor, geradezu belehrend von der neuen Weltordnung geredet, die von Ame-
Der bedrohte Friede. a. a. O. S. 242. Es handelt sich um Von Weizsäckers Vorwort zu H. Afheldt, A. Künkel, A. Pfau, E. Rahner, K. Rajewski, U. P. Reich, H. Roth, Ph. Sonntag & C. F. von Weizsäcker, Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, München: Hanser, 1971. 29 Jürgen Habermas, Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, Die ZEIT, 1999, Nr. 18, S. 1. 28
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rika eingeführt werde. 30 An dieser Stelle hat von Weizsäcker offenbar weiter gesehen und das mit dem zuletzt zitierten Satz zum Ausdruck gebracht, dass nämlich die Weltöffentlichkeit die echten, nützlichen Werte des amerikanischen Staates und der amerikanischen Gesellschaftauffassung nicht akzeptiert, weil sie die Mittel nicht erträgt, mit denen sie durchgesetzt werden. Das war nun der zweite Unterpunkt zum Thema Friedensicherung. Von Weizsäcker hat sich geirrt in seiner großen Vision des Weges zum Frieden. Das nächste, was wir auf Grund der veränderten Situation, in der wir leben, sagen müssen, ist, dass die großen Weltkonflikte nicht mehr über die Konfrontation von Nationalstaaten laufen. Von Weizsäcker hat immer in Kategorien der Machtkonstellation zwischen Nationalstaaten gedacht. Wir kennen heute die These vom asymmetrischen Krieg: der Nationalstaat auf einer Seite, subversive, revolutionäre, terroristische Energien auf der anderen Seite. Es wäre eine Unterschätzung dieser Tatsache und dieser Erfahrung, wenn wir heute noch glaubten, dass so etwas wie ein Weltstaat überhaupt möglich ist. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass sich die Einheit der Welt heute eher über Vernetzung entwickelt und nicht als Einheit im Sinne einer hierarchischen Ordnung, wie von Weizsäcker sie sich gedacht hat. Philosophisch würde man sagen, dass sich die Einheit der Welt heute nicht über den Begriff der Identität, sondern über den Begriff der Synthesis herstellt. 31 Die vor allem technische Vernetzung, die informationelle, mediale und die wirtschaftliche Vernetzung der Welt, die wir heute erfahren, ist eine Entwicklung, auf die wir, wie ich glaube, heute viel mehr Hoffnung setzen können, was den Frieden in der Welt angeht, als auf einen Frieden durch Macht und hierarchische Ordnung. Und genau diese Entwicklung im Sinne einer Einheit der Welt durch Vernetzung passt sehr gut zu einer anderen These von Weizsäckers, nämlich dass der Weltfrieden eine Bedingung der technischen Welt sei. Der Welt30 Siehe dazu meine Stellungnahme: Gernot Böhme, Weltordnung durch Gewalt? – Kurt Otto Hondrich reitet mit dem Weltgeist – eine Entgegnung, NZZ, 1. 4. 03. Oder unter dem Titel: Legitimität der Macht. Unterrichts-Konzepte Politik, Ergänzung 10 der Loseblattsammlung. Freising: Stark, Verlagsgesellschaft 2003, S. 47. Und in: K. Ambos & J. Arnold (Hg.) Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2004, S. 52–54. 31 Siehe Gernot Böhme, Identität und Synthesis als Strategien zur Lösung des Problems des Einen und Vielen, Philosophieren mit Kant, Zur Rekonstruktion der Kantischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986.
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friede, schrieb von Weizsäcker, »ist Lebensbedingung des technischen Zeitalters«. 32 Was wir heute erleben, ist im Grunde ein Abbau der Macht von Nationalstaaten, dagegen eine zunehmende Bedeutung multinationaler Konzerne, NGOs, also Non-Governmental-Organizations, und der Rolle der Medien weltweit – auch quer selbst zu diktatorischen Regimen.
Transzendentale Physik Carl Friedrich von Weizsäcker hat noch nicht dreißig Jahre alt bereits bedeutende Beiträge zur Physik geleistet, insbesondere den BetheWeizsäcker-Zyklus. Dabei handelt es sich um die Theorie eines Kernreaktionszyklus in der Sonne, aus der herzuleiten ist, woher die Sonnenenergie stammt. Neben den Arbeiten von Weizsäckers, die im engeren Sinne zur Physik gehören, hat er sich immer um ein philosophisches Verständnis von Physik und um eine philosophische Begründung der Physik bemüht. Dabei stand die Auseinandersetzung mit der Quantentheorie, insbesondere ihrer Kopenhagener Deutung, im Vordergrund. Diese hatte ja bereits bei Niels Bohr zur Diskussion des Subjektes in der Physik geführt. Diese Denkrichtung führte von Weizsäcker fast notwendig zu Kant. Ein längeres Zitat aus von Weizsäckers Buch Die Einheit der Natur verdeutlicht, inwiefern er Kant zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur philosophischen Begründung der Physik macht: Ich nenne ihn, weil ich einen Grundgedanken seiner Theorie der Naturwissenschaft in etwas veränderter Gestalt übernehmen will. Ich muss diesen Gedanken und seine gegen Kant veränderten Aspekte erläutern. Es handelt sich um Kants Ansatz, dass Erkenntnis a priori Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung sei. Mit anderen Worten, wer fragt, ob Erfahrung die Naturwissenschaft begründen könne, muss zuerst fragen, was er damit schon zugegeben hat, dass er zugibt, dass es überhaupt Erfahrung gibt. Ich will das Wort »a priori« in meinem eigenen Entwurf meist vermeiden. Wenn ich es aber verwende, so will ich es in dem durch diese Frage definierten Sinn gebrauchen; es soll das bezeichnen, was derjenige schon weiß oder zugeben muss, der davon ausgeht, dass es Erfahrung gibt. Damit stellt sich natürlich
32 Aus Bedingungen des Friedens (Rede in der Paulskirche 1963), Der bedrohte Friede. a. a. O. S. 127.
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die Aufgabe zu analysieren, was Erfahrung heißt, und was damit schon gewusst wird oder zugegeben werden muss. 33
Von Weizsäckers Programm ist ein modifiziertes Kantisches Programm und zwar, wie man sehen wird, ein verschärftes Programm. Deshalb sollte man sich zuerst vergewissern, bzw. erinnern, was Kant eigentlich wollte. Kant wollte feststellen, welche Bedingungen auf Seiten des Subjekts Erfahrung überhaupt möglich machen. Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft dafür ja die Kategorien und Anschauungsformen des Menschen benannt. Anschauungsformen, nämlich Raum und Zeit, muss man voraussetzen ebenso wie die Kategorien – also fundamentale Begriffe wie Quantität, Qualität, Kausalität. Nun, bei Kant soll das ja zu einer strengen Begründung der Physik führen, genauer, zu metaphysischen Prinzipien der Naturwissenschaft. Deshalb ist es so, dass nicht nur Voraussetzungen genannt werden, sondern bereits sichere Behauptungen gewonnen werden, ein Grundbestand von geltenden Sätzen, bevor man überhaupt anfängt, empirisch Physik zu treiben. Diese sicheren Behauptungen nennt er synthetische Sätze a priori. Sie beruhen auf einem fundamentalen Prinzip, dem obersten Grundsatz aller synthetische Urteile a priori, und zwar ist das der Satz: »Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich die Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung.«34 Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, also davon, dass wir als Menschen Erfahrung machen können, sind zugleich Bedingungen der Objekte, von denen wir dann Erfahrungen machen. Das bedeutet, dass die Objekte sich darstellen in Raum und Zeit, dass sie einer kausalen Ordnung folgen und so weiter. Das ist der oberste Grundsatz in der Kritik der reinen Vernunft, der die Begründung der Physik als strenger Wissenschaft stützt. Nun geht Kant, wie gesagt, darüber hinaus und will auch a priori, das heißt ohne Erfahrung, schon vor der Erfahrung ein Stück Physik begründen. Das geschieht in seinem Buch Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft – ein herausfordernder Titel, weil er den Titel von Isaac Newtons berühmtem Buch über Mechanik aufnimmt: Principia Mathematica Philosophiae Naturalis, also die mathematischen Prinzipien der Naturwissenschaft. Kant setzt dagegen die metaphysischen Prinzipien der Naturwissenschaft, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. In der damaligen 33 34
Die Einheit der Natur, München: Carl Hanser, 1971, 189 f. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A158/B197.
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Zeit war nun Physik als strenge Wissenschaft noch wesentlich Mechanik, deshalb fragt man sich, wie weit kommt Kant eigentlich mit dieser Begründung der Mechanik – ohne Erfahrung? Er kommt relativ weit, das heißt, er kommt so weit, dass er wenigstens zwei der drei Newtonschen Prinzipien begründen kann. Er kann das erste und dritte Prinzip begründen. Das Prinzip, dass keine Bewegungsänderung stattfindet, ohne dass Kräfte wirken (das erste Prinzip) und das dritte Prinzip, das berühmte actio gleich reactio. Diese Prinzipien kann Kant a priori begründen, nicht aber, und dieses Gesetz erwähnt er nicht einmal, das berühmte k = mb, das zweite Newtonsche Gesetz. Das erstaunt ein bisschen, kann jedoch aufweisbare Gründe haben. Da Kant das Gesetz jedoch überhaupt nicht erwähnt, hat man den Eindruck, dass er glaubt, es mitbegründet zu haben und zwar mit einer bahnbrechenden Idee. Kant sagt nämlich in dieser Schrift, dass die Massenschätzung der Materie durch Bewegungs- und Beschleunigungsexperimente stattfinden muss. Es meint also nicht, wie man gemeinhin glaubt, dass sich Masse durch Wiegen messen lasse. Vielmehr ist es so, dass die Vergleichbarkeit von Massen verschiedener Spezifität (z. B. Eisen versus Wasser usw.), nur durch Bewegungsexperimente, genauer: durch Beschleunigungsexperimente möglich ist. Das hat Kant eindeutig gezeigt, und darin steckt natürlich in gewisser Weise das zweite Newtonsche Gesetz, nämlich indem man die Massenschätzung implizit mit K = mb durchführt.35 Das Entscheidende ist jedoch, dass Kant eigentlich noch mehr von sich fordert, nämlich, dass er auch meint ableiten zu müssen, welche Kräfte es überhaupt in der Natur gibt. So weit man nämlich die Newtonsche Mechanik begründet hat, selbst wenn man so weit wie Kant kommt, wird die Spezifität von bestimmten bewegenden Kräften immer noch empirisch vorausgesetzt oder empirisch festgestellt. Kant war nun der Meinung, dass die Physik und prinzipiell alle Wissenschaft auf Empfindung, also sinnlicher Wahrnehmung, beruht. Deshalb meinte Kant, dass er die Mannigfaltigkeit der möglichen Naturkräfte aus der Mannigfaltigkeit der möglichen Empfindungen müsse herleiten können. Das ist sein Programm in dem so genannten Opus Zu dem, was Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft leistet, siehe meinen entsprechenden Aufsatz in: Gernot Böhme, Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstruktion der kantischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, (2. Aufl.), 2002.
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posthumum, das heißt seinen nachgelassenen Schriften. Er hat es nicht erfüllen können und es war wohl auch ein Irrweg, weil die Physik keine Wissenschaft ist, die auf sinnlicher Erfahrung beruht, sondern eben auf Messung. So weit das an sich sehr anspruchsvolle Programm von Kant. Wir werden gleich sehen, dass von Weizsäcker es erfüllen will. Was wollte von Weizsäcker mit und über Kant hinaus? Nehmen wir an, die Theorie der Elementarteilchen sei, unter Einschluß der Gravitationstheorie, vollendet – und könnte das nicht leicht noch in unserem Jahrhundert der Fall sein? Dann gäbe es wenigstens in dem Bereich, den man heute Physik nennt, überhaupt kein spezielles Naturgesetz mehr im Sinne eines nicht grundsätzlich theoretisch aus dem Grundgesetz ableitbaren Satzes. […] Diese Einheit der Physik begreiflich zu machen, ist die Aufgabe, welche die Physik unserer Zeit der Philosophie stellt. Wir können die Aufgabe als zu schwer abweisen, wir können sie aber, so scheint mir, nicht auf eine kleinere Aufgabe reduzieren. Das Programm, das Kant für die klassische Physik formuliert hat, ist heute entweder unausführbar oder es wird sich als ausgeführt erweisen, wenn aus einleuchtenden Behauptungen über die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung genau die inhaltlich eindeutig bestimmte einheitliche Physik konstruiert sein wird, der die heutige Entwicklung so offensichtlich zustrebt. Ich will es ganz scharf sagen: Eine solche Theorie müßte die spezielle mathematische Struktur der Lorentzgruppe und der Quantenmechanik, die Existenz und Anzahl, die Massen und Wechselwirkungskonstanten der sogenannten Elementarteilchen und damit letzten Endes die Energieausbeute der Uranspaltung, jede Spektrallinie des Eisenspektrums und die Gesetze der Himmelsmechanik grundsätzlich zu deduzieren gestatten. Hier ist uns nicht erlaubt, bescheiden zu sein. 36
Atemberaubend, dieses Programm. Im Alltag der Diskussion hat Weizsäcker immer wieder gesagt, man müsse eben aus den fundamentalen Prinzipien der Erfahrung letzten Endes sogar ableiten können, dass es so etwas wie einen Brüllaffen gibt. Das ist eine herausfordernde Behauptung, aber auch, was er schreibt, ist eindrucksvoll, geradezu schockierend. Dass man nämlich die Physik so weit zur Einheit bringen könne, dass es dann überhaupt kein spezielles Naturgesetz mehr gibt, sondern alles im Prinzip deduzierbar ist. Dass man jede Spektrallinie des Eisenspektrums, die Uranspaltung und die Gesetze der Himmelsmechanik grundsätzlich zu deduzieren in der Lage sein müsste. Nun, Weizsäcker hat natürlich in einer Zeit gelebt, wo die Hoffnung auf die große theoretische Vereinigung der Physik noch sehr groß war. Ich 36
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glaube, dass diese Hoffnungen inzwischen ziemlich gedämpft sind. Er meinte aber noch über diese Hoffnungen hinaus gehen zu können, nämlich, dass er diese Einheit der Physik aus dem Gedanken, dass die Physik eine Erfahrungswissenschaft ist und also aus dem kantischen Begriff der Möglichkeit der Erfahrung, würde ableiten können. Das heißt zumindest so viel, dass man die Gesetze der Physik ableiten kann und nicht empirisch auffinden muß. Das war sein Programm. Was sind nun die Hintergründe für dieses außerordentlich anspruchsvolle Programm? Da ist einmal die Verzeitlichung der Natur. Mit diesem Thema hat von Weizsäcker angefangen sich philosophisch zu äußern, nämlich in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Natur 37. Nach dem Krieg war das Thema Geschichte überhaupt das große Thema in der Philosophie. Der Gedanke der Geschichtlichkeit des Menschen ging zum Teil von Heidegger aus, von Weizsäcker hat dann den Begriff der Geschichtlichkeit in der Naturwissenschaft durchgesetzt. Natürlich hat dieser Gedanke einen weit zurückreichenden Hintergrund. Schon die Evolutionstheorie Darwins ist natürlich eine geschichtliche Theorie der Natur. Von Weizsäcker hat vor allem auf den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wert gelegt, der ja mit dem Gesetz des Anwachsens der Entropie im Laufe der Naturentwicklung ebenfalls den geschichtlichen Charakter der Zeit betont, nämlich die Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft. Von Weizsäcker hat versucht, die Zeit in ihren Modi, nämlich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, als Voraussetzung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik zu erweisen. Schließlich hat er diese Geschichtlichkeit auch in der Quantentheorie gefunden, nämlich in der so genannten Reduktion des Wellenpaketes: dass hier mittels einer Messung ein Schnitt gemacht wird in der kontinuierliche Entwicklung von physikalischen Zuständen. Durch die Kenntnisnahme, bzw. Messung findet ein nicht umkehrbarer Wechsel in der Zustandsfunktion statt. Schließlich ist natürlich die Kosmologie zu nennen, oder besser die Kosmogonie, das heißt die Geschichtlichkeit der Natur im Ganzen. 38 Darin besteht also die eine Hauptlinie des Denkens von Weizsäkkers: die Verzeitlichung der Natur und damit der Naturwissenschaft. 37 Die Geschichte der Natur. Zwölf Vorlesungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (3. Aufl.), 1956. 38 Siehe dazu heute Stephen W. Hawking, Ein kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Reinbek: Rowohlt, 1989.
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Die zweite ist das Zusammenwachsen der Naturwissenschaften. Die Mechanik wird mit der Theorie der Flüssigkeiten (Kontinuums-Mechanik) zu Beginn des 19. Jahrhunderts vereinigt. Dann wächst die Kontinuums-Mechanik mit der Thermodynamik zusammen. Der nächste Schritt war das Zusammenwachsen der Mechanik mit der Elektrodynamik in der Relativitätstheorie, dann deren Zusammenwachsen mit der Quantentheorie in der Quantenfeldtheorie usw. Aus dieser Entwicklung hat von Weizsäcker zunächst einmal extrapoliert, dass die Physik ein einheitliches Theorieganzes würde. Darüber hinaus glaubte er, dass die Wissenschaft überhaupt, einschließlich Geistesund Sozialwissenschaften zusammenwachsen könne. Dieses Zusammenwachsen gab ihm große Hoffnung für den dritten Punkt, die so genannte Einführung des Subjektes in die Physik. Mit dieser Formulierung betont von Weizsäcker die Nähe zu seinem Onkel Victor von Weizsäcker, dem Psychiater und Psychosomatiker aus Heidelberg, dessen Maxime die Einführung des Subjektes in die Medizin war (biografische und anthropologische Medizin). Von Weizsäcker meinte, mit der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie sei das Subjekt auch in die Physik eingeführt worden. Ich gehe nun diese Punkte Schritt für Schritt durch. Sein Aufbau der Physik ist von der Art, dass der erste Schritt eine Logik zeitlicher Aussagen ist. Dabei ist Zeit im besonderen Sinne und nicht als Parameter t zu verstehen, nämlich durch das, was man auch die Zeit-Modi genannt hat (Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft), also nach von Weizsäcker die Geschichtlichkeit der Zeit. Geschichte ist das, was geschieht. Aber sie umfaßt nicht nur das, was jetzt geschieht, sondern auch, was geschehen ist und geschehen wird. Sie vollzieht sich in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – kurz, in der Zeit. Geschehen ist zeitlich, Geschichte im allgemeinsten Sinne des Wortes der Inbegriff des Geschehens in der Zeit. In diesem Sinne hat die Natur ohne Zweifel eine Geschichte, denn sie ist ja selbst in der Zeit. Geschichte der Natur wäre dann die Gesamtheit des Naturgeschehens. […] Vergangene und zukünftige Ereignisse haben eine verschiedene Seinsweise: vergangene sind faktisch, zukünftige möglich. Wirklich im engsten Sinne sind beide nicht; aktuell wirklich ist nur die Gegenwart. […] Diese Struktur der Zeit möchte ich von nun an ihre Geschichtlichkeit nennen. 39
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Geschichte der Natur, a. a. O., S. 9, 11 f.
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Es ist schon etwas Besonderes, den Zeitbegriff in dieser Weise in die Physik einzuführen, weil ja sonst Zeit in der Physik der reelle Parameter t ist. Für die Physik macht es normaler Weise keinen Unterschied, ob ein Zeitpunkt t Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft ist. Das, was von Weizsäcker hier als Neues einführt und wohl auch mit Recht einführt, ist, dass man diesen Unterschied machen muss, weil es die Differenz gibt zwischen dem Möglichen (das Zukünftige), dem Wirklichen (das Gegenwärtige) und dem Faktischen (das Vergangene), also dem, was schon abgeschlossen ist. Dieser Differenzierung entsprechend verlangt von Weizsäcker als Allererstes eine Logik zeitlicher Aussagen. Auch die Logik hat ja normaler Weise nur mit Aussagen zu tun, mit Sätzen wie: »Das Haus ist rot« oder »Alle Schwäne sind weiß.« Hier kommt die Zeit nicht als geschichtliche vor. Weizsäcker zeigt nun, dass die Logik von Aussagen durchaus modifiziert wird, wenn man darauf achtet, ob die Aussagen sich auf die Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft beziehen. Das ist seine Logik der zeitlichen Aussagen. Sein entscheidender Punkt ist nun, dass diese Logik der zeitlichen Aussagen einen fundamentalen Zug an der Quantentheorie betrifft, der vor allem durch die Quantentheorie des Messprozesses bedingt ist. Von Weizsäcker sieht die Quantentheorie ganz wesentlich vom Messprozess her. Man könnte diskutieren, ob das eine Einschränkung darstellt. 40 Mit Recht weist von Weizsäcker darauf hin, dass nach der Quantentheorie Zustände physikalischer Systeme Möglichkeiten beschreiben. Genau genommen ist es so, dass der Zustandsvektor V multipliziert mit einem entsprechenden Vektor, der anzeigt, was man messen will, die Wahrscheinlichkeit dafür angibt, was man finden wird. Die Zustände, von denen die Quantentheorie redet, sind keine Tatsachen, sondern Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten werden durch den empirischen Zugriff in der Messung in Wirklichkeiten verwandelt. Das ist die so genannte Reduktion des Wellenpaketes. Es werden bestimmte Messergebnisse gefunden. Aus denen ergibt sich dann für die weitere Entwicklung des Systems wiederum ein Zustand, der die Möglichkeit eröffnet, weitere Messergebnisse zu finden. Auf diese Weise kommt in die Quantentheorie durch den Messprozess die Differenz von möglich, wirklich und faktisch hinein. Von Weizsäcker zeigt natürlich, dass diese Zeitstruktur auch für andere Teile der Physik relevant ist, wobei der Ich glaube etwa, daß man die Quantentheorie auch als Theorie von Stabilitäten, nämlich von den Eigenwerten des Hamilton-Operators her deuten kann.
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zweite Hauptsatz der Thermodynamik mit seiner Gerichtetheit in der Zeit der Prototyp ist. Von Weizsäcker zeigt, dass man diesen zweiten Hauptsatz der Thermodynamik überhaupt nicht aufstellen kann, ohne bereits die Zeitmodi zu berücksichtigen. Das ergibt sich insbesondere bei der Rekonstruktion des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik aus der statistischen Mechanik, dem so genannten H-Theorem. Das H-Theorem zeigt, dass es ein Wachstum der Entropie nur in Richtung auf die Zukunft gibt und nicht in Richtung der Vergangenheit. Diese Ableitung gelingt nur, wenn man voraussetzt, dass es einen Menschen gibt, der empirisch auf dieses System zugreift und dadurch die Differenz von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in die Beschreibung hinein bringt. 41 Das ist der erste Punkt: die Logik der zeitlichen Aussagen als die fundamentale Voraussetzung einer transzendentalen Physik. Transzendental bedeutet nach Kant eine Erkenntnis, die aus der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung folgt. Der zweite Punkt ist die Theorie des quantenphysikalischen Messprozesses. Das ist genau die Stelle, bei der nach von Weizsäcker das Subjekt in die Physik eingeführt wird. Damit ist er sich wohl mit allen Kopenhagenern, insbesondere Nils Bohr und Werner Heisenberg, einig. Von Weizsäcker verdeutlicht die Verhältnisse an Hand des Youngschen Zwei-Löcher-Experimentes. Als Beispiel wählen wir das Youngsche Zwei-Löcher-Experiment. Durch das Loch L der Quelle Q tritt eine Welle, sagen wir eine Lichtwelle, durchsetzt die beiden Löcher A und B des Schirms S und erzeugt auf der Platte P Schwärzungen, die wir speziell am Ort X betrachten. Die Intensität bei X läßt sich wellentheoretisch berechnen. X sei der Ort eines Interferenz-Minimums. Wenn nur eines der Löcher offen ist, sei es nun A oder B, so wird in X eine endliche Intensität eintreffen. Sind beide Löcher offen, so sollen sich die beiden Teilwellen zu Null kompensieren. 42
Wir haben mit dem Young’schen Versuch den Prototyp der Darstellung von Komplementarität. Und zwar der Komplementarität, die von Weizsäcker die parallele Komplementarität genannt hat, die ja tradi41 Meine eigene Dissertation ist eine Ausarbeitung dieses von Weizsäckerschen Gedankens. Siehe Böhme, Über die Zeitmodi. Eine Untersuchung über das Verstehen von Zeit als Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mit besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1966 (Diss. phil. 1965). 42 Der Aufbau der Physik, München: Hanser, 1985, S. 528–530.
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tionell als die Komplementarität des Wellen- und Teilchenbildes dargestellt wird. Man kann das Experiment so anlegen, dass man beispielsweise nur mit einem Loch arbeitet und dann feststellen kann, ob ein bestimmtes Teilchen durch den Schlitz gekommen ist und ein Silberkorn auf der fotoempfindlichen Schicht geschwärzt hat. Wenn man aber beide Löcher offen hat, dann kommt man mit diesem Teilchenbild nicht zurecht, weil es dann zu Interferenzphänomenen kommt. Es gibt auf der Emulsion Streifen von Dunkelheit und Helligkeit, das heißt von Stellen, wo gar nichts hingekommen ist, und Stellen, wo die Lichtenergie sich gehäuft hat. Das kann nur als ein Interferenzphänomen beschrieben werden, also ein typisches Wellenphänomen. Hier handelt es sich um die elementare Komplementarität. Das Subjekt wird in diesem Prozess im Grunde eingeführt durch die Wahl, welches Experiment man macht. Der eine Typ von Experiment ist am besten durch das Teilchenmodell zu beschreiben, der andere Typ von Experiment am besten durch das Wellenbild, obgleich es sich hier um dieselbe Sache, also Licht- oder Elektronenstrahlen handelt. Von Weizsäcker unterscheidet von dieser parallelen Komplementarität eine zirkuläre Komplementarität, wobei die beiden Seiten, die als komplementär bezeichnet werden, nicht auf derselben Ebene liegen. Bei der parallelen ist es ja so, dass Teilchen und Welle auf der elementaren Gegenstandsebene liegen, während bei dieser anderen Art der Komplementarität es sich eigentlich darum handelt, dass wir somit mit einer ontischen und einer epistemischen Ebene zu tun haben. Man kann die ganze Sache auch dadurch beschreiben, dass man die Welle nicht als eine Materie-Welle oder Licht-Welle auffasst, sondern als eine Wahrscheinlichkeits-Welle für das Auftreten von Partikeln. Dann lässt sich sagen, dass durch diese Versuchsanordnung, und zwar durch beide Versionen, die Ausbreitung der Wahrscheinlichkeits-Welle zu bestimmten Erwartungen führt, auf der lichtempfindlichen Schicht bestimmte Phänomene zu finden. Die Komplementarität liegt in diesem Bild also eigentlich zwischen der Objektebene und der Erkenntnisebene, insofern in der Wahrscheinlichkeitsauffassung eine Beschreibung der physikalischen Phänomene dadurch geschieht, dass eine Wahrscheinlichkeit angegeben wird, etwas zu finden, – und dies ist eine Erwartungswahrscheinlichkeit. Dadurch kommt in dieses Bild das Subjekt hinein. Wir kommen durch diese Beschreibung zu dem entscheidenden Faktum, das der Messprozess lehrt. Der Zustand des physikalischen 344 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Systems wird durch Wahrscheinlichkeits-Wellen beschrieben, die Schrödinger’sche V-Funktion. In dem Moment aber, wo man zu Messergebnissen kommt, wird diese V-Funktion reduziert, das heißt sie springt diskontinuierlich zu einer neuen V-Funktion über, bedingt durch den Messwert, den man gefunden hat. Das ist die Einführung des Subjektes in dieser Beschreibung. Dabei handelt es sich um eine bedenkliche oder gefährliche Auffassung, jedenfalls für schwache Geister, die esoterische Konsequenzen daraus ziehen. Das kann in Aussagen gipfeln wie, dass die ganze Welt ja nur das ist, was der Mensch von ihr wahrnimmt. Und extrem formuliert, beim Paradox der Schrödinger’schen Katze: Ob die Katze in dem Kasten tot ist oder lebendig, entscheidet sich erst in dem Moment, in dem ich hinschaue. Schrödinger war ein bedeutender Physiker, der die entscheidende Dynamik der Quantentheorie in der Schrödinger-Gleichung aufgestellt hat – man nennt sie auch die Zustandsfunktion. Er konstruierte dieses Gedankenexperiment genau gegen die Leute, die das Subjekt in die Physik einführen wollten. Er sagte: Wir sperren eine Katze in einen Kasten ein, in den wir nicht hinein schauen können. In diesem Kasten findet radioaktiver Zerfall statt. Die ganze Anlage ist so eingerichtet, dass bei den Zerfallsprozessen durch einen kleinen Reaktor ein Giftausstoß ausgelöst wird, durch den die Katze dann stirbt. Das heißt, wir haben hier einen quantenphysikalisch gesteuerten Prozess, bei dem die Katze entweder zu einem Zeitpunkt tot ist oder nicht tot ist, wir wissen jedoch nicht mit Sicherheit wann. Nach dem gesunden Menschenverstand ist es natürlich so, dass die Katze tot ist, sobald dieser Prozess passiert ist. Wenn man das Ganze aber esoterisch auffasst, so ist die Katze erst tot, wenn jemand den Kasten aufmacht und hinschaut, und vorher sei – so spottet Schrödinger scheinbar im Einklang mit der Kopenhagener Deutung – eine halbe lebendige mit einer halben toten Katze über den Raum verschmiert. Das weist Weizsäcker völlig ab durch den Hinweis, dass die Schrödinger-Funktion ja nicht die Wirklichkeit beschreibe, sondern die Möglichkeit, etwas zu finden. Solchen esoterischen Gedanken, wie sie sich etwa bei Fritjof Capra finden, ist er nie gefolgt. 43 Das zeigt sich schon in seiner Diskussion des Young’schen Versuches, wenn er sagt: »Und wir können auch auf eine aktuelle Beobachtung bei X bzw. Y verzichten, weil die Schwärzung ein irreversibler Prozess ist, den jeder Beobachter, der irgendwann nachher die Platte ansieht, fest43
Fritjof Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Bern: Scherz, 1985.
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stellen wird.« 44 Das heißt, der quantenphysikalische Messprozess endet nicht erst in dem Moment, in dem das Subjekt hinschaut, sondern in dem Moment, wo ein irreversibler Prozess stattgefunden hat, die Schwärzung der Platte. Und dann ist es egal, wann das Subjekt hinschaut. Die Einführung des Subjektes in den quantenphysikalischen Messprozess darf man also nicht esoterisch und exzentrisch verstehen, wie es in dem Schrödinger’schen Gedankenexperiment geschieht, als ob es nämlich vom Menschen abhinge, was in der Natur geschieht. Vielmehr ist es genau so, dass quantenphysikalische Messungen mit makrophysikalischen Prozessen gekoppelt sind, und die können zu irreversiblen Ergebnissen führen, das heißt zu bestimmten Gleichgewichtszuständen, die dann nach menschlichem Ermessen auch stabil sind. Hier also die Schwärzung einer Platte oder im Schrödinger’schen Experiment, die Katze, die irgendwann tot ist und als Messinstrument fungiert. Es ist wichtig, dies zu betonen, auch gegenüber Menschen, die ausgehend von der Quantentheorie behaupten wollten, dass es die Wirklichkeit eigentlich gar nicht gibt, dass sie eigentlich nur menschliche Vorstellung sei, denn Materie löse sich in Geist und Information auf. Dies ist jedenfalls nicht von Weizsäckers Meinung. Damit haben wir uns einen zweiten wichtigen Schritt beim Aufbau der Physik vor Augen geführt, nämlich die entscheidende Bedeutung des Messprozesses bei von Weizsäcker und dabei die Realisierung der Differenz von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, wodurch die Logik zeitlicher Aussagen in die Physik hineinkommt. Der weitere Aufbau besteht nun darin, dass er Kant ernst nimmt und sagt: Physik ist eine Erfahrungswissenschaft, also müssen wir ausgehen von der Frage, wie Erfahrung überhaupt möglich ist. Erfahrung machen heißt nach von Weizsäcker aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen. Dabei wird die Logik zeitlicher Aussagen relevant. Aus der Vergangenheit lernen heißt, Messprozesse durchzuführen, zu Daten zu kommen und von den Messdaten auf die Zustände der Systeme zu schließen. Die Zustände wiederum bedingen Wahrscheinlichkeiten, in Zukunft die und die Messergebnisse zu finden, also eine Prognose zu machen. Erfahrung heißt messen, daraus auf Zustände schließen und auf der Basis der Zustände Prognosen für die Zukunft zu machen. Nun sagt von Weizsäcker, und das ist sein entscheidender Schritt: 44
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alle Messungen lassen sich auf die Entscheidung einfacher Alternativen zurückführen. Ja oder Nein, es liegt etwas vor oder etwas liegt nicht vor. Das Lichtquant ist durch den Schlitz A gegangen oder durch den Schlitz B, usw. Das sind also die elementaren Messungen, die man durchführen kann. Er meint, dass man alle Messungen auflösen kann in die Entscheidung einfacher Alternativen. Also muss die ganze Physik als eine Physik der einfachen Alternativen aufgebaut werden. Wie weit kommt er damit? Ich will wenigstens ein wirklich beeindruckendes Beispiel aus diesem Programm skizzenhaft vorführen, in dem von Weizsäcker über Kant nämlich in dem Sinne noch hinaus geht, dass er zeigt: man kann aus der Logik der entscheidbaren Alternativen die Dreidimensionalität des empirischen Raumes ableiten. Im Aufbau der Physik sagt er unter dem Stichwort Raum und Zeit Folgendes: Zum Raum wird hier die Zeit. Nehmen wir an, unser Unternehmen sei erfolgreich. Wir sind von der Analyse der Zeit in ihren Modi ausgegangen. Von ihr haben wir die abstrakte Quantentheorie rekonstruiert. In dieser scheinen binäre Alternativen fundamental zu sein. Die Alternativen definieren eine Symmetriegruppe, die sich der Symmetriegruppe des relativistischen RaumZeit-Kontinuums isomorph erweisen wird. »Der Raum ist der Plural«: er ist die Gesamtheit der Relationen, welche die quantentheoretische Wechselwirkung mehrerer Objekte bestimmen. Es gibt den Raum nur in der Näherung, in welcher wir mehrere Objekte als verschieden gedanklich trennen können. 45
In diesem Zitat wird implizit das entscheidende Ergebnis auf von Weizsäckers Weg zum Aufbau der Physik genannt und zwar in dem Motto, das er in Richard Wagners Parsifal findet: »Zum Raum wird hier die Zeit« (1. Akt). Seinem Programm entsprechend geht er von der Logik zeitlicher Aussagen aus, das heißt, er baut die Quantenphysik zunächst einmal als reine Logik auf, nämlich als Logik der entscheidbaren Alternativen. Diese entscheidbaren Alternativen sind quantenphysikalisch gesehen ein binärer Zustand, den man in einem zweidimensionalen komplexen Raum darstellen kann. Die Entwicklungen dieses Zustands sind dann die Transformationen des entsprechenden Zustandsvektors. Nun zeigt sich, dass die Transformationsgruppe für diese Zustände die unimodulare unitäre Gruppe ist. Diese Gruppen, die also die Wahrscheinlichkeiten invariant lassen (es sind praktisch Drehgruppen des Zustandsvektors), haben eine Darstellung im reellen dreidimensiona45
Ebd., S. 396–399.
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len Raum. Diese Darstellung ist dann isomorph mit der Lorentz-Gruppe. Das Entscheidende bei dieser Entwicklung besteht darin, dass man aus der reinen Logik zu einer Gruppe kommt, die den rein logisch, abstrakt beschriebenen Begriff eines quantenphysikalischen Zustands Lorentz-invariant im dreidimensionalen Raum darzustellen erlaubt. Das ist nun allerdings ziemlich eindrucksvoll. Man kann sagen, dass zumindest ein wichtiger Schritt des von Weizsäcker’schen Programms hier erfüllt ist. Denn seine Behauptung ist: Ich kann durch reine Überlegungen zu den Fragen Was ist Erfahrung, was ist ein Messprozess und welcher Logik folgen die dazugehörigen Aussagen? zu einem für die ganze Physik fundamentalen Grundgesetz kommen. Dabei handelt es sich um die Lorentz-Invarianz, die nachher die Relativitätstheorie und die Quantenfeldtheorie bestimmt. Das ist natürlich bei weitem nicht das Erreichen des Ziels, das er genannt hat, doch das Ergebnis ist sehr eindrucksvoll. Denn dies ist genau der Punkt, an dem er zeigt, dass man durch rein logische Zugänge zu einem Grundgesetz der Natur kommt. Ich möchte das noch einmal betonen, indem ich einen Satz zitiere aus dem Aufsatz von Weizsäckers, in dem man die mathematischen Einzelheiten der genannten Ableitung nachlesen kann: Die Quantentheorie ist demnach nicht eine Theorie über spezielle physikalische Gegenstände, sondern über alle Gegenstände, über die überhaupt Aussagen gemacht werden können, die sich zu Alternativen zusammenfassen lassen. 46
In diesem Satz klingt zugleich von Weizsäckers weitergehender Anspruch an, nämlich im Aufbau der Physik etwas zu leisten, das weit über die Physik hinausgeht: die Physik, genauer die abstrakte Quantentheorie sei eigentlich die Wissenschaft überhaupt. Das gilt, wenn Wissenschaft allgemein zurückgeführt werden kann auf die Entscheidung einfacher Alternativen – also nicht bloß die Physik, sondern auch die Psychologie und die Soziologie, insofern sie empirische Wissenschaften sind. Am Ende dieses Abschnitts müssen wir uns wiederum fragen, ob von Weizsäckers Thesen irrig waren. Kein Zweifel besteht, dass sein Forschungsprogramm zur Einheit der Physik viele interessante Untersuchungen ausgelöst hat – wo Könige bauen, haben Kärrner zu Die Quantentheorie der einfachen Alternative (Komplementarität und Logik II), Zeitschrift für Naturforschung, 13 a, 1958, S. 246.
46
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tun, das gilt auch hier. Die Fruchtbarkeit des Ansatzes steht außer Zweifel und er hat darauf, was Logik im Zusammenhang empirischer Wissenschaft ist, worin das Wesen der Quantenphysik besteht, welche Beziehung zwischen Transformationsgruppen und Grundeigenschaften von Raum und Zeit besteht, ein erhellendes Licht geworfen. 47 Doch sein Programm blieb trotz erheblicher Anstrengungen unerfüllt und was darüber veröffentlicht wurde, hat den Charakter von Fragmenten. War es vielleicht gar nicht erfüllbar? Ist die Grundidee etwa verfehlt? Von Weizsäckers Programm der Einheit der Physik ordnet sich in die Reihe anderer Programme einer Einheit der Wissenschaften im 20. Jahrhundert ein. Da ist das Programm der analytischen Philosophen zu nennen, die Einheit der Wissenschaften durch ihre Methode zu sichern. Ferner das Programm, eine Einheit der Naturwissenschaften durch Angabe eines obersten Prinzips zu erreichen, der so genannten Weltformel. Beide konnten bezeichnender Weise nicht durchgeführt werden. Von Weizsäckers Programm ist verglichen mit diesen noch anspruchsvoller, weil es transzendental ist. Er möchte, wie Kant, aus den Bedingungen der Erfahrung die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung ableiten. Dabei definiert er allerdings Erfahrung in einem sehr eingeschränkten und traditionellen Verständnis, nämlich als den Zusammenhang von Datengewinnung und Prognose. Das dürfte bereits eine einseitige Betrachtungsweise der Quantentheorie nach sich ziehen, nämlich vom Messprozess her. Viel gravierender ist allerdings von Weizsäckers Einschränkung der Physik, und mit ihr der ganzen empirischen Wissenschaft, auf Prognosefähigkeit. Schon Stephen Toulmin hat in seinem Buch Foresight and Understanding darauf aufmerksam gemacht, dass es mindestens zwei Hauptanliegen der Wissenschaft geben kann, die zudem noch in einer gewissen Spannung stehen: Voraussicht und Verstehen. 48 Für uns entscheidend ist jedoch, dass die Reichweite von Vorhersagbarkeit und Berechenbarkeit dadurch erheblich eingeschränkt worden ist, dass die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten ihre Aufmerksamkeit auf 47 Dazu gehört auch die von von Weizsäcker aufgewiesene Beziehung des Energieerhaltungssatzes zur Zeitmetrik. Siehe: Die Einheit der Natur, München: Hanser, 1971, Kap. IV 2. 48 Stephen Toulmin, Voraussicht und Verstehen. Ein Versuch über die Ziele der Wissenschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1968.
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chaotische Phänomene und Instabilitäten gerichtet hat. Die entscheidende Rolle spielen dabei Prozesse, die durch nicht-lineare Gleichungen beherrscht werden – und das sind bei näherer Betrachtung die meisten Prozesse der Natur. Heute, in einer nachmodernen Physik dreht sich das Verhältnis geradezu um. 49 Das Erstaunen angesichts der Natur wird nicht mehr ausgelöst durch Unbestimmtheiten, wie sie etwa durch Heisenbergs Unschärfe-Relation in die Physik Einzug erhalten haben, sondern vielmehr fragt man sich angesichts des überwältigenden Eindrucks von chaotischem Verhalten in der Natur, wie dennoch in einem breiten Bereich – und insbesondere in einem technisch relevanten Bereich – mit gesetzmäßigem Verhalten gerechnet werden kann. War in der klassischen wie der modernen Physik Natur wesentlich ein gesetzmäßiger Zusammenhang, so stellt sich heute die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gesetzmäßigkeit überhaupt. Das Interesse richtet sich deshalb viel mehr auf die Bedingen, die aus dem Chaos Ordnung entstehen lassen. Dabei treten dann die Stabilitätsformen – oder schwächer: die Attraktoren – ins Zentrum des Interesses, also solche Zustände oder Zustandsbündel, in die ein System einrasten kann und im deren Rahmen es dann ein gesetzmäßiges Verhalten zeigt. Nicht mehr die Trajektorien, könnte man sagen, wie etwa bei der Darstellung des Planetensystems auf Grund der Mechanik, sondern die Gestalten sind von Interesse. 50 Die Physik wird Morphologie. In summa: Von Weizsäcker hat versucht, die Physik systematisch aufzubauen in einer Periode, in der sie sich gerade zu wandeln anfing, und in der sie nicht mehr den Charakter eines hierarchischen Aufbaus verträgt, sondern eher das Bild eines Archipelagos abgibt, von Inseln der Sicherheit im Meer chaotischen Verhaltens. Was sagt doch Hegel von der Philosophie: Sie beginnt ihren Flug in der Dämmerung – wenn eine Gestalt des Denken bereits alt geworden ist.
Jan C. Schmidt, Instabilität in Natur und Wissenschaft. Eine Wissenschaftsphilosophie der nachmodernen Physik, Berlin: de Gruyter, 2008. 50 Vor dem Hintergrund der Mechanik wurden ja etwa im 18. Jahrhundert Versuche, von den Gestalten Rechenschaft zu geben, der Physikotheologie zugeschrieben. 49
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Carl Friedrich von Weizscker: Produktiv irren
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Gernot Bhme Weizsäcker, Carl Friedrich von, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie. München: Hanser, 1977. Weizsäcker, Carl Friedrich von (Hg.), Der bedrohte Friede (2. Aufl.). München: Hanser, 1981. Weizsäcker, Carl Friedrich von, Aufbau der Physik. München: Hanser, 1985. Widmann, Arno, »Der Herr der zwei Kulturen«, Frankfurter Rundschau 30. 4./ 1. 5. 2005
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Stephen William Hawking – Kosmologie und Medien im Zeitalter der Wissensgesellschaft Klaus Mainzer
Der Physiker Stephen W. Hawking, Nachfolger auf Newtons berühmtem Lehrstuhl in Cambridge, gilt als Meisterdenker der modernen Kosmologie. Sein populärer Weltbestseller Eine kurze Geschichte der Zeit führte im Medienzeitalter mit Videos, Multimedia und Internet zu einer vorher nie erreichten Verbreitung physikalischer und kosmologischer Ideen. Wie Einstein Anfang des 20. Jahrhunderts bewegte Hawking sowohl die Forschung als auch eine weltweite Öffentlichkeit. Hawking ist also ein Fall für die Medienwirkungsforschung von Wissenschaft im Medienzeitalter. Wissenschaftstheoretisch verbindet sich seine gezielt anvisierte Medienwirksamkeit mit einem pragmatischen Umgang mit wissenschaftlichen Theorien, der heute unter Wissenschaftlern durchaus populär ist. Theorien sind danach keineswegs Ausdruck ewiger Wahrheiten und Naturgesetze, sondern Hypothesen, die sich durch ihre Prognosen und Erklärungen bewähren oder verworfen werfen. Hawkings Umgang mit Theorien ebenso wie Mess- und Beobachtungsmethoden ist instrumentalistisch und konventionalistisch: Gut ist, was zu guten Ergebnissen und Beobachtungen führt. Diese Untersuchung erklärt (im Anschluss an mein Hawking-Buch von 2000) seine Forschungsergebnisse als konsequente Fortsetzung Newtonscher und Einsteinscher Theorien von Raum und Zeit unter den Bedingungen der Quantenphysik. Hawkings Singularitätssätze begründeten zunächst die Theorie Schwarzer Löcher und des Urknalls, wonach das Universum aus einem Anfangspunkt expandieren müsste. Gleichzeitig zeigte er damit auch die Grenzen der Allgemeinen Relativitätstheorie auf, mit der unendliche Energien in punktuellen Konzentrationen nicht mehr berechenbar sind. Grenzen der Erkenntnis beziehen sich aber für Hawking nur auf die Reichweite vorläufiger Hypothesen. Hier setzt die Quantenphysik im Größenbereich des Planckschen Wirkungsquantums an. Die alte 353 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Klaus Mainzer
naturphilosophische Alternative, wonach die Welt entweder einen Anfang hatte oder immer bestand, umgeht Hawking mit seiner »KeineGrenzen-Hypothese«. Danach bestand in imaginärer Zeit immer schon ein quantenphysikalischer Anfangszustand endlicher Ausdehnung ohne Grenzen und Singularitäten, aus dem das Universum aufgrund von Quantenfluktuationen in reeller Zeit gesetzmäßig expandierte. Diese Hypothese führt zu überprüfbaren Voraussagen über das heutige Universum, die in Computerexperimenten simuliert und mit Weltraumteleskopen beobachtet werden können. Das reicht nach Hawking für eine gute Theorie aus. Andere Forscher gehen heute weiter. Sie suchen nach einer physikalischen Begründung durch eine Vereinigung von Relativitäts- und Quantentheorie, wie sie z. B. mit den Symmetrien der Superstringtheorien verfolgt wird. Hinter der Forderung nach mathematischer Eleganz der Vereinigungstheorien stehen häufig unausgesprochene naturphilosophische Annahmen über fundamentale Ordnungsstrukturen des Universums.
Hawking: ffentliche Person im Medienzeitalter Die Lebensgeschichte von Stephen William Hawking ist kurz erzählt. Geboren in Oxford am 8. Januar 1942 begann er 1959–1962 ein Studium der Physik in Oxford (B.A. 1962), danach Promotionsstudium in Cambridge bei Denis Sciama und in Kooperation mit Roger Penrose (damals Birkbeck College in London). Nach seinem Ph.D. 1965 wurde er Fellow am Gonville and Caius College. Seit 1968 arbeitete Hawking am Institute of Astronomy in Cambridge. Seit Anfang der 1970er Jahre erfolgten renommierte Einladungen an internationale Forschungsinstitute. Seit 1974 ist er Mitglied der Royal Society. 1975 wurde ihm die Eddington Medal der Royal Astronomical Society überreicht. Danach folgen zahlreiche nationale und internationale Preise und Ehrungen (u. a. Albert-Einstein-Preis, Commander of the British Empire CBE). Hawkings war zunächst Reader für Gravitationsphysik am Department of Applied Mathematics and Theoretical Physics in Cambridge, seit 1979 Lucasian Professur für Mathematik, ein Lehrstuhl, den vorher u. a. Newton und Dirac innehatten, mittlerweile emeritiert. Seit 1963 leidet Hawking an ALS (amyotropher Lateralsklerose), die ihn bewegungsunfähig an den Rollstuhl fesselt und nur noch über
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Stephen William Hawking – Kosmologie und Medien
einen computerunterstützten Stimmsynthesizer mit der Außenwelt kommunizieren lässt. Hawking setzt die kosmologische Tradition von Newton und Einstein fort. Einstein war der erste große Medienstar der Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Seine Relativitätstheorie und seine Person elektrisierten die Öffentlichkeit. Einstein wusste darum und nutzte seine Popularität und Autorität, um Wissenschaft (nicht nur seine Relativitätstheorie) allgemeinverständlich mit den klassischen Medien wie Buch, Zeitschrift und Vortrag und den damals neuen Medien wie Rundfunk und Film zu vermitteln. Denn Einstein hatte eine Botschaft, die weit über seine physikalischen Leistungen hinausgeht: Wissenschaft trägt zur Aufklärung und Humanität der Menschen bei. Sie ist damit ein hohes Bildungs- und Kulturgut. Damit steht Einstein einerseits in der Tradition der Aufklärungsphilosophie, andererseits am Anfang der sich abzeichnenden Mediengesellschaft des 20. Jahrhunderts. In der modernen Mediengesellschaft reicht Wissensvermittlung von den klassischen Medien bis zum Internet. Dass Wissenschaft gleichzeitig Kulturgut und Innovatiomnspotenzial ist und Bildung gleichzeitg Aufklärungsideal und Anforderung der hoch spezialisierten Wissensgesellschaft bedeutet eine Spannung, die uns später noch einmal begegnen wird. Hat Wissenschaft neben ihrer unbestrittenen Aufklärungs- und Vermittlungsaufgabe auch eine weltbildstiftende Funktion, wie sie Einstein vertreten hat? Einerseits verlangt die Öffentlichkeit nach Orientierungs- und nicht nur Verfügungswissen. Wer sollte es auch tun, wenn nicht Wissenschaft, wenn sich die Politik versagt und im Zeitalter der Arbeitsteilung auf ihre mangelnde Kompetenz verweist, wenn schließlich den traditionellen Hütern religiöser Weltbilder nur noch beschränkt geglaubt wird. Andererseits ist der Schritt zu akademischen Omnipotenzphantasien kurz, in der Wissenschaft als Mittel innerweltlicher Erlösung gepriesen wird. Frei nach Nietzsche können wir konstatieren: Der Thron Gottes ist in der Neuzeit leer. Viele möchten ihn einnehmen, auch Wissenschaftler. Man nennt das heute Deutungsund Erklärungshoheit von Wissenschaftsdisziplinen – gestern Physik, heute Biowissenschaften und Gehirnforschung, wer morgen? In der modernen Mediengesellschaft reicht Wissensvermittlung von Büchern, Wissenschaftsmagazinen und Tageszeitungen bis zu Hörfunk, Fernsehen und Internet. Die Mediengesellschaft ist zugleich eine hochausdifferenzierte Wissensgesellschaft, in der Spezialisierung 355 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Klaus Mainzer
und Professionalisierung der Wissensvermittlung auf allen Ebenen und in allen Bereichen stattfindet. Hawking steht in der Medientradition von Einstein, wenn auch Einsteins humanistische Botschaft in den Hintergrund tritt: Hawkings Äußerungen beschränken sich auf Kosmologie und die Zukunft der Menschheit im Universum. Wer heute in einer Suchmaschine des Internets das Stichwort »Hawking« eingibt, wird von einer Fülle von Informationen, Buchhinweisen, Presseerklärungen, Bildern und Animationen überflutet. Schüler bieten websites und chatrooms an, in denen unter dem Namen »Hawking« über das kosmische Schicksal der Menschheit debattiert wird. Mit multimedia lassen sich auf dem häuslichen PC Hawking-Interviews herunterladen. Weltbekannte Magazine brachten Titelgeschichten mit dem master of the universe. In den Kinos lief der Spielfilm »Eine kurze Geschichte der Zeit«, der nach Hawkings gleichnamigem Weltbestseller gedreht wurde. In ca. 40 Sprachen übersetzt und nahezu fünf Jahre auf der Weltbestsellerliste der Sunday Times hat dieses Buch, wie Hawking gerne hervorhebt, mehr Menschen erreicht als Madonnas Buch über Sex. In Entertainment und Popwelt, Politik, Sport, Werbung und Wirtschaft haben wir uns längst daran gewöhnt, dass Ideen und Botschaften über Personen verkauft werden. Der Grund ist einfach: Wir sind Menschen mit Sinnen und Emotionen, keine Datenbanken und Denkmaschinen. Wenn Wissenschaft und Forschung im Medienzeitalter Menschen erreichen und bewegen wollen, brauchen sie ein menschliches Gesicht. Mit Stephen W. Hawking hat die Kosmologie ein Gesicht erhalten. Es ist das Bild einer schwerstbehinderten und gebrechlichen Gestalt, stumm und bewegungsunfähig an einen Rollstuhl gefesselt, nur über Computer und Stimmsynthesizer mit der Umwelt verbunden. Jede Epoche der Geschichte hat Philosophie und Wissenschaft ihr eigenes Gesicht gegeben. In Bildern und Statuen der Renaissance treten Philosophen wie griechisch-römische Heroen auf. Der Physiker Newton oder der Chemiker Lavoisier werden auf Bildern der Aufklärungszeit wie jugendliche Freiheitshelden verklärt. Die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts verlegt Galileis trotzigen (und nicht belegten) Ausspruch »Und sie bewegt sich doch« in einen finsteren Inquisitionskeller mit Lust an schaurigen Details. Im 20. Jahrhundert wird Einsteins Kopf mit der weißhaarigen Mähne zu einer Wissenschaftsikone für unterschiedliche Botschaften – mit gütigem Lächeln für Weisheit und Humanität oder mit frech herausgestreckter Zunge, wie es angeb356 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Stephen William Hawking – Kosmologie und Medien
lich Kids und Medienleute mögen. Hawkings Wirkung in einer breiten Öffentlichkeit mag damit zu tun haben, dass nun die Sensibilität für behinderte Menschen gestiegen ist. Hawking selber ist jedes Aufheben oder gar Mitleid mit der Krankheit zuwider. Am Beispiel Hawking lässt sich studieren, wie Wissenschaftsberichtserstattung heute von Print, Radio und Fernsehen bis zu Internet funktioniert. Beschaulichkeit und Besinnlichkeit weicht dem Konkurrenzdruck im Massenmarkt. Bereits in der Wahl des Titelbilds zeigt sich der Kampf um die Aufmerksamkeit des Publikums. Was das nackte Dekolleté eines Fernsehstars für eine TV-Programmzeitschrift, das ist das Bild bunter Galaxien in einem Wissenschaftsmagazin. Nicht »Sex sells!« lautet dann der Wahlspruch der Redaktionskonferenz, sondern »Space sells!«. Auch das Fernsehen erfährt die Macht der Konsumenten. Nach nur wenigen Sekunden entscheidet sich der zufällig rein zappende Zuschauer, ob er bei einer Sendung bleiben will oder nicht. Da jeder dieser Zuschauer vom Umschalten abgehalten werden soll, entsteht bei Fernsehjournalisten der Druck auf »geile« Bilder. Auch Tageszeitungen folgen dem Trend zu beeindruckenden farbigen Bildern. Perfekte Visualisierung kann aber auch unterschwellig die falsche Botschaft von Wissenschaft vermitteln: Häufig wird nicht mehr nachgedacht, sondern nur noch das geglaubt, was »intuitiv« sofort eingesehen werden kann. Im Extremfall fällt der Konsument in voraufklärerische Zeiten des Mittelalters zurück, in denen von Analphabeten das geglaubt wurde, was in bunten Bildern an Kirchenfenstern und Wandgemälden verkündet wurde, statt der Mahnung Kants zu folgen: »Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!«
Hawking 1: Schwarze Lcher und Urknall – Raumzeitliche Singularitten Hawkings wissenschaftliche Arbeit beginnt 1965 unter dem Eindruck der Entdeckung der Mikrowellenhintergrundstrahlung durch A. Penzias und R. Wilson. Sie wurde als auf 2,75 Grad Kelvin über dem Nullpunkt abgekühlte Rückstandsstrahlung aus einem heißen Uruniversum verstanden, aus dem sich das Universum durch Expansion entwickelt hatte. Nach der Entdeckung der Hubble-Expansion (1929) war die Mikrowellenhintergrundstrahlung die wichtigste Bestätigung 357 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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der Expansion des Universums, die 1978 mit dem Nobelpreis bedacht wurde. Nach dem Hubble-Gesetz ist keine Galaxie ausgezeichnet. Das Kosmologische Prinzip nimmt daher an, dass Galaxien im expandierenden Universum zu jedem Zeitpunkt überall räumlich homogen und isotrop (»maximal symmetrisch«) verteilt sind, d. h. bei geeigneter Skalierung von durchschnittlich gleicher Verteilung (Homogenität) ohne Auszeichnung einer Richtung (Isotropie). Homogene und isotrope Räume sind mathematische Räume mit konstanter Krümmung, die entweder flach (»euklidisch«), negativ oder positiv gekrümmt sind. Als 2-dimensionale Flächen entsprechen sie einer unbegrenzten Ebene mit der Krümmung Null und unendlichem Inhalt, einer Sattelfläche mit (ortsabhängiger) negativer Krümmung und unendlichem Inhalt oder einer unbegrenzten Kugeloberfläche mit positiver Krümmung, aber endlichem Inhalt. Unter der Annahme des Kosmologischen Prinzips und Einsteins Gravitationstheorie fanden H. P. Robertson und H. G. Walker 1935/36 die drei Standardmodelle eines expandierenden Universums, das zu jedem Zeitpunkt räumlich homogen und isotrop ist – das mäßig expandierende euklidische (flache) Universum mit euklidischem Raum zu jedem Zeitpunkt, das stark expandierende Universum mit negativ gekrümmtem (Lobatschewskischem) Raum zu jedem Zeitpunkt und das sphärische Universum mit positiv gekrümmtem Raum zu jedem Zeitpunkt, das (wegen des endlichen Inhalts) nach endlicher Zeit in einem Endpunkt kollabiert und nicht wie die beiden anderen offenen Universen unbegrenzt expandiert. Gemeinsam ist den drei Standardmodellen die Annahme einer Anfangssingularität, die als »Urknall« populär wurde. Wenn die Rückstandsstrahlung und damit das heiße Uruniversum vollständig isotrop im Spektrum der Planck-Strahlung wären, dann müsste das Universum aus einer Urknallsingularität, also einem mathematischen Anfangspunkt entstanden sein. Der Anfangspunkt (»Singularität«) der Standardmodelle könnte auch eine Besonderheit der Standardmodelle sein, die aus dem Kosmologischen Prinzip folgt. Empirisch belegt war in den 1930er Jahren nur die Hubble-Expansion auf Grund der beobachteten Rotverschiebung. Die (damaligen) sowjetischen Kosmologen J. Lifschitz und I. Chalatnikow, die sich aus weltanschaulichen Gründen wenig mit der Vorstellung eines punktuellen Anfangs der Materie befreunden konnten, bewerteten 1963 die Standardmodelle daher nur als approximative 358 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Beschreibung der Expansion, lehnten aber die Vorstellung eines Anfangspunktes ab, der einen Schöpfungsakt suggerieren könnte. Könnte es nicht sein, dass die Expansionsphase einer früheren Kontraktionsphase folgt, bei der nicht alle Materieteile kollidieren, sondern sich nur verdichten, um sich quasi aneinander vorbei und erneut voneinander fortzubewegen, um die Expansion wieder fortzusetzen? Dieses Modell eines oszillierenden Universums ließe die Vorstellung einer »ewigen Materie« zu. Erklärt sie nicht auch besser die heute beobachtbaren lokalen Unregelmäßigkeiten in der Verteilung von Galaxienstrukturen und macht die starke Symmetrieannahme des Kosmologischen Prinzips überflüssig? An dieser Stelle kommen die »Schwarzen Löcher« ins Spiel, deren theoretische Erforschung in den 1960er Jahren erste Höhepunkte erfuhr. Die Astrophysik nimmt danach die Lebensgeschichte eines massenreichen Sterns wie folgt an: Massenreiche Objekte (z. B. Sterne) blähen sich nach ihrem Ausbrennen zu einem blauen Riesen auf, der beim Kollaps in einer Supernova explodiert. Bleibt danach ein Kern mit mehr als 2.5 Sonnenmassen übrig, stürzt dieser zu einer alles verschlingenden Konzentration ungeheuer starker Gravitationskräfte (»Schwarzes Loch«) zusammen. Diese astrophysikalische Beschreibung stimmt mit mathematischen Konsequenzen der allgemeinen Relativitätstheorie überein. Roger Penrose und Stephen Hawking bewiesen 1965–1970, dass diese Sterne ihren Kollaps sogar bis zu einer Punktsingularität von unendlicher Dichte fortsetzen. In einem RaumZeit-Diagramm stürzen die Weltlinien der Materieteilchen in einem Punkt zusammen, der sich als Gerade in der Zeit fortsetzt. Der Schwarzschild-Radius bestimmt eine Grenzzone (»Ereignishorizont«), bei dessen Überschreiten Masse- und Lichtteilchen ohne Rückkehr in die Singularität fallen: Ereignisse im Innern des Ereignishorizonts bleiben danach verborgen. Anschaulich gesprochen könnten Schwarze Löcher unter diesen relativistischen Voraussetzungen nicht strahlen. Nach den Singularitätssätzen von Penrose und Hawking gibt es also Raum-Zeit-Singularitäten mit ungeheurer Gravitation und raumzeitlicher Krümmung. Dort kollabiert Materie (z. B. von sterbenden Sternen) in einem Punkt. Ferner berechnete Hawking Eigenschaften des Ereignishorizontes eines Schwarzen Lochs, die einen Zusammenhang zwischen Einsteins Gravitationstheorie und der Thermodynamik herstellen. Der Ereignishorizont wird als Oberfläche eines Schwarzen Lochs verstanden, die 359 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Lichtstrahlen nicht überschreiten dürfen, ohne in das Innere hineingezogen zu werden. Wie die Entropie der Thermodynamik kann diese Größe nie abnehmen, sondern nur gleich bleiben oder zunehmen. J. Bekenstein schlug daher 1972 vor, die Entropie eines Schwarzen Lochs durch die Oberfläche seines Ereignishorizonts zu definieren. Damit wird noch einmal betont, warum ein Schwarzes Loch unter rein relativistischen Voraussetzungen nicht strahlen kann. Nun haben alle Naturgesetze der klassischen und relativistischen Physik die fundamentale Eigenschaft der Zeitsymmetrie, d. h. im Prinzip lassen diese Gesetze zu, dass physikalische Prozesse auch rückwärts laufen könnten. Wegen dieser Zeitsymmetrie könnte es also auch »Weiße Löcher« geben, aus denen Materie expandiert, so dass die Prozesse der Schwarzen Löcher rückwärts laufen. Diese theoretische Möglichkeit inspirierte Hawking 1970 zum Beweis eines mathematischen Theorems: Wenn (nur) die Gesetze der allgemeinen Relativitätstheorie und die heute beobachtete Materieverteilung vorausgesetzt werden, dann hat das Universum mathematisch zwingend eine Anfangssingularität. Dieser Beweis setzt die Symmetrieannahme des Kosmologischen Prinzips nicht voraus, so dass die Einwände von J. Lifschitz und I. Chalatnikow gegen das Urknallmodell entfallen. Singularitäten haben allerdings mathematische Nachteile für physikalische Modelle: Bei Singularitäten mit gegen Null oder Unendlich konvergierenden Größen versagen die Gesetze der klassischen und relativistischen Physik. Anders ausgedrückt: Zum Zeitpunkt des Anfangs können wir nach diesem Modell nicht rechnen, sondern erst danach. War das der Triumph der Urknalltheorie? Die sowjetischen Kosmologen zogen jedenfalls 1970 ihre Einwände zurück. Im Vatikan wurde Hawking 1975 eine Verdienstmedaille der Päpstlichen Akademie der Wissenschaft verliehen. Anlässlich einer Konferenz der Akademie über Kosmologie favorisierte Papst Johannes Paul II. in der Tradition seiner Vorgänger seit Pius XII. die Urknalltheorie und erinnerte an Monsignore Lemaître, der ein solches Modell als erster vertreten hatte. Tatsächlich kennt die physikalische Kosmologie heute noch die LemaitreModelle. Der Papst schlug damals eine Arbeitsteilung vor, wonach sich die Physiker mit der Entwicklung des Universums nach dem Urknall beschäftigen sollen, während der Zeitpunkt der Schöpfung und seine Auslösung Thema der Metaphysik und Theologie sei. Allerdings ließ die Vorstellung einer prinzipiell unberechenbaren Anfangssingularität Kosmologen wie Hawking weltweit keine Ruhe. 360 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Hawking 2: Universum ohne Rand und Anfang – Quantenkosmologie Nun haben wir bisher die Rechnung ohne die andere fundamentale physikalische Theorie des 20. Jahrhunderts neben der Relativitätstheorie gemacht – die Quantentheorie. Die Expansion des Universums aus einem heißen und dichten Frühstadium ist mit der Entstehung von Elementarteilchen und Atomen verbunden, die in der Quantenphysik untersucht werden. Neben Hubble-Expansion und einer heute messbaren Hintergrundstrahlung aus dieser heißen Frühzeit wird die Quantenphysik zum Testfall der Kosmologie. Dazu stellt man sich das Universum als gewaltiges Hochenergielaboratorium vor, in dem die vier heute beobachtbaren fundamentalen physikalischen Grundkräfte der Natur entstanden sind. Gemeint sind die Gravitation, die in der allgemeinen Relativitätstheorie untersucht wird, und die drei Wechselwirkungen, die Thema der Quantenphysik sind – die elektromagnetische Wechselwirkung wie z. B. das Licht, die schwache Wechselwirkung (z. B. b-Zerfall) und die starke Wechselwirkung, die von den Kernkräften bekannt ist. Diese Kräfte waren in früheren Entwicklungsstadien des Universums in hochenergetischen Zuständen vereinigt und haben sich aufgrund der Expansion und der damit verbundenen Abkühlung schrittweise abgespalten. Die Vereinigung von schwacher und elektromagnetischer Wechselwirkung wurde bereits in einem irdischen Hochenergielaboratorium realisiert. Für die Vereinigung der vereinigten elektroschwachen Wechselwirkung mit der starken Wechselwirkung in einem noch höheren Energiezustand gibt es wenigstens ein bewährtes theoretisches Standardmodell der Quantenfeldtheorie. Während dieses Zustands sagt die Quantenfeldtheorie ein Quantenvakuum mit negativem konstantem Druck voraus. Die damit verbundene Antigravitation treibt das Universum mit einem gigantischen Faktor von ca. 1050 auseinander. Während dieser (»inflationären«) Epoche zerfällt das Quantenvakuum und wandelt die aufgespeicherte Energie in »inflationär« viele reelle Teilchen um. Nach dieser Materieerzeugung wird die Antigravitation durch Gravitation ersetzt. Das Universum geht in die Phase der Standardexpansion nach dem relativistischen Standardmodell über. Die inflationäre Epoche ist quasi der explosive Treibsatz, der die Expansion erklärt. Nach knapp 300 000 Jahren trennen sich Materie und Strahlung und das Universum wird 361 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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durchsichtig. Die Gravitation beginnt, materielle Strukturen von Galaxien, Schwarzen Löchern und ersten Sternengenerationen zu formen, die chemische Elemente erzeugen und wieder vergehen lassen, um neue Verbindungen zu erzeugen bis heute. Wie soll man sich aber den Urzustand des Universums vor der inflationären Epoche vorstellen, in dem die quantenphysikalischen Wechselwirkungen sogar mit der Gravitation vereinigt waren? Nach W. Heisenbergs Unschärferelation der Quantenphysik kann es keine punktgenaue Anfangssingularität gegeben haben. Die Unschärferelation besagt nämlich, dass bestimmte Paare physikalischer Größen wie z. B. Ort und Impuls oder Zeit und Energie, die zu einer punktgenauen Bestimmung eines Elementarteilchens notwendig wären, nicht gleichzeitig wie in der klassischen Physik mit beliebiger Genauigkeit gemessen werden können: Bestimmt man z. B. den Zeitpunkt immer genauer, so streut entsprechend der Energiewert immer stärker und umgekehrt. Die Quantenphysik ist nämlich im Unterschied zur deterministischen Relativitätstheorie eine statistische Theorie. Im Unterschied zur Relativitätstheorie lässt die Quantenphysik auch keine beliebige Verkleinerung gegen Unendlich zu. Die Planckgröße gibt die nach dieser Theorie kleinste endliche Ausdehnung eines Materieteilchens an. Lemaître hatte sich anschaulich in den 1930er Jahren ein »Uratom« vorgestellt, das in einem Schöpfungsakt entstanden war und aus dem sich das Universum entwickelte. Heute nehmen wir ein winziges Uruniversum an, in dem aufgrund der Unschärferelation winzige Quantenfluktuationen vorgelegen haben, die sich in der Mikrowellenhintergrundstrahlung als Relikt aus dieser heißen Frühphase des Universums niedergeschlagen haben und schließlich in galaktischen Strukturen realisierten. Tatsächlich sind solche Fluktuationen des heißen Uruniversums heute in der erkalteten Rückstandstrahlung nachweisbar. Im Rahmen der Quantenkosmologie gibt es also keine beliebig kleinen Systeme. Mit der Planck-Länge und dem Planckschen Wirkungsquantum werden kleinste endliche Größen durch eine Naturkonstante festgelegt. Das Uruniversum muss also ein winzig kleines Quantensystem mit enormer (aber endlicher) Krümmung, Energie und Dichte sein. Sein Quantenzustand (›Wellenfunktion‹) lässt sich nach Feynmans Pfadintegralmethode als Aufsummierung verschiedener mehr oder weniger wahrscheinlicher Entwicklungen (›gekrümmter Raum-Zeiten‹) des Universums auffassen. J. Hartle und Hawking 362 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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schlugen 1983 dafür eine Klasse von gekrümmten Raum-Zeiten ohne Singularitäten vor, um Berechnungen und Prognosen des Universums zu ermöglichen (›Keine-Grenzen-Hypothese‹). Um dieses Pfadintegral zu lösen, werden statt reeller Zahlen für die Zeit t imaginäre Zahlen it (mit i2 = -1) eingesetzt. In der LorentzMetrik sind die drei Raumkoordinaten durch positive Vorzeichen von der Zeitkoordinate mit negativem Vorzeichen unterschieden. Ersetzen wir nun in der Lorentz-Metrik mit Vorzeichenfolge +++- die quadrierte reelle Zeit t2 durch die quadrierte imaginäre Zeit i2 t2 = -t2 , so erhalten wir wegen - -t2 = +t2 die euklidische Metrik ++++. Zeit wird raumartig und ist von Raumkoordinaten nicht mehr zu unterscheiden. Wir erhalten also ein raumartiges 4-dimensionales gekrümmtes Uruniversum von endlicher Planck-Größe und ohne Grenzen (›Singularitäten‹), dessen Zustand nach den Gesetzen der Quantenmechanik vollständig bestimmt und berechenbar ist. Im einfachsten Fall lässt es sich 2-dimensional als glatte Kugeloberfläche veranschaulichen, auf der ebenfalls kein Anfangspunkt ausgezeichnet ist. Die Pointe an diesem Vorschlag ist, dass dieses Uruniversum in imaginärer Zeit immer schon bestanden hat. Quantenfluktuationen lösten die explosionsartige Expansion in reeller Zeit nach dem Modell des inflationären Universums zufällig aus, dem sich die gemäßigte Expansion nach dem relativistischen Standardmodell anschloss. Dieses Universum bedurfte also keines Anfangs durch einen ›unbewegten Beweger‹ im Sinne der aristotelischen Tradition, sondern nur der Gesetze der Quantenmechanik. Wegen Heisenbergs Unschärferelation gibt es nach Hawkings Vorschlag nicht nur vollkommen glatte Kugeln. Quantenfluktuationen könnten Deformationen mit winzigen Ausbuchtungen auslösen. Jedem dieser möglichen Uruniversen aus imaginärer Zeit entspricht ein anders expandierendes Universums in reeller Zeit. Mit dem (schwachen) Anthropischen Prinzip lässt sich ein solches Uruniversum aussortieren, das eine Evolution von galaktischen Strukturen und Planetensystemen wie dem unsrigen zulässt. So scheidet z. B. die vollkommen glatte ›Kugel‹ aus, da sie zu einem unbegrenzt inflationär expandierenden Universum führt, in dem keine galaktische Strukturen entstehen könnten. Hawking leitete aus seinem Anfangsmodell in imaginärer Zeit Prognosen über winzige Dichteschwankungen der Mikrowellenhintergrundstrahlung ab, die tatsächlich durch Beobachtungen des Satelliten COBE 1992 bestätigt wurden. Damit hat sich zwar sein Modell des Uruniversums als eine Lösung der Wheeler-de Witt Gleichung be363 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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währt, ohne aber zwingend wahr zu sein. In der Aufstellung solcher Prognosemodelle aufgrund von Messdaten sieht Hawking nach Karl R. Popper die Aufgabe der Naturwissenschaften und vertritt damit wissenschaftstheoretisch eine falsifikationistische Position, die er selber als Positivismus auffasst. Wie sehr Hawking bemüht ist, seine Modelle durch Prognosen überprüfbar zu machen, zeigt sich auch in seiner Theorie Schwarzer Löcher. Nach der Quantenfeldtheorie gibt es keinen leeren Raum, der ein Schwarzes Loch umgibt. Vielmehr ist das Quantenvakuum von Quantenfluktuationen erfüllt, bei denen virtuelle Teilchen mit entgegengesetzten Ladungen entstehen und sich in Bruchteilen einer Sekunde wieder gegenseitig vernichten. Hawking nimmt daher an, Teilchen mit negativer Ladung könnten in ein Schwarzes Loch geraten, für seine Energieverminderung sorgen und damit seine Oberfläche verkleinern, während die positiven Teilchen der virtuellen Teilchenpaare nach außen entkommen. Sie werden als Strahlung des Schwarzen Lochs (»Hawking-Strahlung«) aufgefasst. Hawking-Strahlung ist also ein überprüfbares Kriterium für die Existenz von Schwarzen Löchern. Der Entropieverlust eines Schwarzen Lochs aufgrund der Verkleinerung seiner Oberfläche wird durch die Entropie der abgegebenen Strahlung wieder ausgeglichen, so dass keine Verletzung des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik vorliegt.
Auf der Suche nach der Weltformel – Supersymmetrien, Superstrings und Quantenbits Nach seinen Fachartikeln und Fachbüchern wurde Hawking erst durch Veröffentlichung seines Weltbestsellers »Eine kurze Geschichte der Zeit« von 1988 zum internationalen Medienstar. Er stellte dort seine kosmologischen Ergebnisse in eine historische Entwicklung von Newton und Einstein bis zur Gegenwart und verband sie in britischlaunigem Stil mit seiner persönlichen Lebensgeschichte. Obwohl er dabei keine Formeln verwendete, blieb seine Darstellung physikalischer Theorien anspruchsvoll und schwierig. Der Erfolg dieses Bestsellers in breiten Leserkreisen hing daher wesentlich mit seinem Stil und seiner Person zusammen. 2001 folgte ein weiteres populärwissenschaftliches Buch unter dem Titel »Das Universum in der Nussschale«, in dem Hawking auch neuere Ergebnisse der Superstringtheorien be364 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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rücksichtigte. Im Unterschied zu seinem ersten populärwissenschaftlichen Buch wurden nun über 200 grafisch-aufwendige farbige Abbildungen eingesetzt. So sollten mathematisch schwierige Theorien ohne Formeln verständlich werden. Manche Physiker meinen, dass es an physikalischen Experimenten und neuen empirischen Befunden mangelt, um diese Vereinigung der Theorien voranzutreiben. Offen sei nur die Flucht in mathematisch-formale Neubeschreibungen oder in die philosophische Spekulation. Das Medium des für die Öffentlichkeit geschriebenen Buchs eröffnet Hawking die Möglichkeit, den empirischen Befund, diverse formal-synthetisierende Darstellungsweisen und die kosmologische Spekulation zusammenzubringen und somit die Rolle des philosophierenden Physikers zu übernehmen. Bis heute liegt eine vereinigte Theorie nur in Grundzügen vor. Ein möglicher Kandidat ist die sogenannte M-Theorie, die einige Superstringtheorien vereinigt. Die Stringtheorien nehmen winzige Schleifen (engl. string) aus eindimensionalen Saiten oder zwei- und mehrdimensionale Membranen an, aus deren minimalen Schwingungen sich die punktförmigen Elementarteilchen wie z. B. Elektronen und Quarks bildeten. Anschaulich erinnert die Mathematik der Strings an die schwingenden Saiten einer Harfe, die nach der Auffassung der Pythagoreer die Sphärenmusik eines vollkommen harmonischen Kosmos schuf. Mathematisch entspricht der vereinigte Urzustand nach den Superstringtheorien einer Supersymmetrie, in der keine Teilchen unterscheidbar sind. Bei der Expansion des Universums zerbricht die Ursymmetrie in Teilsymmetrien, die physikalische Wechselwirkungen unterscheidbar machen. Die ungeheuren Energien eines Vereinigungszustands werden nur durch die Annahme zusätzlicher Dimensionen erreichbar, die bei der Expansion aufgewickelt und damit nicht beobachtbar bleiben. Nur drei räumliche Dimensionen der mehrdimensionalen Superstringtheorien werden während der Expansion »entrollt« und damit beobachtbar. Es ist durchaus denkbar, dass die notwendige hohe Energie zur Vereinigung von Gravitation mit den quantenphysikalischen Grundkräften im Bereich zukünftiger Elementarteilchenbeschleuniger liegt. Eine vereinigte Theorie wäre damit experimentell prüfbar und der Ursprung des Universums nicht länger nur eine hypothetische Spekulation oder bestenfalls elegante mathematische Theorie. Ferner würde eine solche Theorie die Quantenphysik der starken und elektroschwachen Kräfte und die relativistische Gravitationstheorie vereinigen. 365 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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Das ist insofern bemerkenswert, als sich die Quantenphysik durch die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation und statistische Messaussagen wesentlich von einer klassischen und deterministischen Physik wie der Relativitätstheorie unterscheidet. Auch die bisher bekannten Grundgesetze der Physik zeichnen sich bereits durch Symmetrien aus. So gilt die Zeitsymmetrie von Quantengesetzen wie der Schrödinger-Gleichung., d. h. physikalisches geschehen könnte im Prinzip auch rückwärts laufen, ohne dadurch die Gesetze zu verändern. Die Gesetze der klassischen Physik sind invariant (unveränderlich) gegenüber (Symmetrie-) Transformationen der Zeit (T), Raumrichtungen bzw. Parität (P) und Ladung bzw. Charge (C). Nach dem PCT-Theorem sind die Gesetze der Quantenmechanik wenigstens invariant gegenüber der Kombination PCT dieser Transformationen. Diese PCT-Symmetrie entspricht einer Symmetrie unter den gleichzeitigen Spiegelungen der Raumrichtungen (Parität) x ! -x, y ! -y, z ! -z, der Zeitrichtung t ! -t und der Ladung mit Teilchen ! Antiteilchen. Bei Wechselwirkungen von Teilchen, die sich absorbieren, reflektieren oder in andere Teilchen zerfallen können, lassen sich die ursprünglichen Teilchenkonfigurationen aus den Endprodukten stets rekonstruieren. Man spricht dann von der Mikroreversibilität quantenphysikalischer Prozesse. Bekannt sind Teilchen- und Antiteilchenpaare, die spontan entstehen, wechselwirken und wieder verschwinden. Solche Quantenfluktuationen, die nach Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation von Zeit und Energie in winzigen Zeitbruchteilen möglich sind, gelten heute als empirisch bestens bestätigt (z. B. Casimir-Effekt). Eine wesentliche Symmetrieverletzung ist für die schwache Wechselwirkung nachweisbar. Es handelt sich um die P-Symmetrie, also Parität bzw. Raumorientierung. Die schwache Wechselwirkung zeichnet eine Raumrichtung aus. Insgesamt bleibt aber die Invarianz gegenüber der Kombination aller drei Transformationen im Sinne des PCT-Theorems erhalten. In einem einzigen Fall wurde auch eine Verletzung der PC-Symmetrie und T-Symmetrie beobachtet. Das würde eine Verletzung der Kombination PCT nach sich ziehen. Eine Verletzung der Zeitumkehr wie beim Zerfall von Kaonen ist bisher nur ein einmaliges Ereignis, das zeitliche Symmetriebrechung bedeutet.
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Hawking 3: Das Informationsparadoxon Wie fruchtbar diese zwischen öffentlichem und fachwissenschaftlichem Schreiben oszillierende Arbeitsweise ist, zeigt sich z. B. daran, dass Hawking 2004 eine Lösung des sogenannten Informationsparadoxons der Quantenkosmologie vorschlägt. Dieses Problem stellt sich in der relativistischen Theorie der Schwarzen Löcher und relativistischen Kosmologie: Nach allen heutigen kosmologischen Indizien (z. B. Messungen der Mikrowellenhintergrundstrahlung, Theorien der dunklen Materie und des Quantenvakuums) leben wir in einem flachen (d. h. euklidischen) Universum – einem der drei Möglichkeiten des Standardmodells. In diesem Fall sagt die relativistische Kosmologie eine unbegrenzte Expansion mit zunehmender Energieverdünnung und Zerfall in Schwarze Löcher voraus: Die ultimative Energiekrise. Ist damit auch der Zerfall aller Informationsspeicher und Erinnerungen an die Vergangenheit (z. B. der Menschheit) verbunden, quasi ein »kosmischer Alzheimer«, der sich mit den zunehmenden Schwarzen Löchern in einem alternden Universum ausbreitet wie die Informationslöcher im Gehirn eines Alzheimer Patienten? Dieser Informationsverlust hätte schwerwiegende Konsequenzen für die Grundlagen der Physik. Der irreversible Zerfall von Information würde die Zeitsymmetrie der Quantenmechanik verletzen. Daher spricht man auch vom Informationsparadoxon. Das Informationsparadoxon hängt eng mit Hawkings Theorie Schwarzer Löcher zusammen. Nach der relativistischen Theorie werden Elementarteilchen als Informationsträger irreversibel in einer Punktsingularität des leeren Raumes verschlungen, in dem sich ungeheure Gravitationskräfte konzentrieren. Im Rahmen der Quantenkosmologie kann es einen solchen Punkt nicht geben. Zudem ist ein Schwarzes Loch auch nicht von einem wirklich leeren Raum umgeben. Nach den Gesetzen der Quantenphysik ist nämlich ein Quantenvakuum durch »virtuelle« Teilchen erfüllt, deren Energiepakete nach Heisenbergs Unschärferelation in winzigen Zeitbruchteilen entstehen und wieder verschwinden können. Wegen ihrer kurzen Lebensdauer heißen diese Teilchen »virtuell«. Das Quantenvakuum brodelt also von solchen Quantenfluktuationen. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, dass einige Teilchen einem Schwarzen Loch entkommen können. Durch Erzeugung von virtuellen Teilchen- und Antiteilchenpaaren (mit entgegengesetzter Ladung) nahe dem Ereignishorizont können Teilchen 367 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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mit positiver Energie dem Schwarzen Loch entkommen, während Teilchen mit negativer Energie in das Schwarze Loch hineinfallen und ihm auf diese Weise Energie entziehen. Das Schwarze Loch strahlt dann Energie ab und zerfällt. Diese Hawking-Strahlung wäre eine thermische Strahlung, in der alle Korrelationen zerfallen und damit Information verloren geht. In der Sprache der Quantenmechanik würde der ursprünglich reine Quantenzustand, in dem sich das Schwarze Loch befand, in einen gemischten Zustand übergehen und damit die unitäre Symmetrie der zeitlichen Entwicklung von Quantensystemen verletzen. Hawking hat nun einen Weg vorgeschlagen, wie der Informationsverlust und seine Verletzung der Symmetriegesetze der Quantenmechanik vermieden werden könnte. Die Zeitentwicklung eines Quantenzustands lässt sich nach Feynmans Pfadintegralmethode berechnen, indem man alle möglichen Entwicklungswege unterschiedlich gewichtet aufsummiert. Technisch gesprochen unterscheidet Hawking dabei zwischen Metriken von Wegen mit »trivialen« und »nicht-trivialen« Topologien. Für die topologisch trivialen Metriken lassen sich Korrelationsfunktionen nachweisen, die nicht zerfallen und damit eine (unitäre) Entwicklung ohne Informationsverlust zulassen. Schwarze Löcher vernichten also nicht endgültig Information über Quantensysteme des Universums. Nach den Gesetzen der Quantenphysik ist jeder materielle Zustand durch eine Zustandsfunktion (»Wellenfunktion«) bestimmt, die vollständig die Information über die Zusammensetzung dieses materielle Systems enthält. Materie lässt sich danach quasi als »geronnene« Quanteninformation verstehen. Im Unterschied zum klassischen Informationsbegriff nach C. Shannon, der nur zwei alternative Bit-Zustände (binary digits) kennt, berücksichtigt die Quanteninformation auch Superpositionen (Überlagerungen) von alternativen Zuständen (z. B. alternative-Spin-Zustände eines Elementarteilchens), wonach der eine Teilzustand mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und der andere mit der Restwahrscheinlichkeit auftritt: Man spricht dann von Quantenbits. Das Universum wäre quasi ein gewaltiger expandierender Informationsspeicher von Quantenbits. Jeder Prozess materieller Zustandsveränderung entspricht demnach einer Informationsverarbeitung. Mit der Materie, die ein Schwarzes Loch verschlingt, wird daher gleichzeitig die (Quanten-) Information über die Zusammensetzung dieser Materie aufgenommen. Die Materie wird dabei zwar verändert, aber 368 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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die Information nicht zerstört. Die Information wird vielmehr abgestrahlt und bleibt im Prinzip erhalten, auch wenn wir sie nicht immer dekodieren können. Es ist wie mit einem Buch, das ins Feuer geworfen wird. Es scheint in Glut, Asche, Rauch und Dampf zu zerfallen. Quantenmechanisch wäre aber denkbar, aus der freigesetzten Energie die materielle Zusammensetzung des Buchs, seine Buchstabenreihenfolge und damit die gespeicherte Information zu rekonstruieren. Keine Information ginge also verloren.
Hawking 4: Der Wissenschaftsphilosoph Für Hawking sind selbst fundamentale Symmetriegesetze nur theoretisch ausgedachte Instrumente, die sich durch ihre Voraussagen und Erklärungen bei Beobachtungen, Messungen und Experimenten bewähren müssen. Sie sind deshalb fundamental, da sie Eigenschaften von Gesetzen behaupten, nämlich invariant gegenüber bestimmte Veränderungen (Transformationen) zu sein. Sie werden deshalb auch als Metagesetze bezeichnet. Wissenschaftstheoretisch entspricht Hawking einer empiristisch-instrumentalistischen Position. Am Beispiel der fundamentalen Symmetriegesetze bedeutet das: Symmetrie bezieht sich für ihn nur auf syntaktische und semantische Eigenschaften von mathematischen Gleichungen und Strukturen, die menschliche Gehirne sich ausgedacht haben. In der philosophischen Tradition können Metagesetze wie Symmetrien als Universalien der Physik bezeichnet werden. Im klassischen Universalienstreit bezieht Hawking also eindeutig eine nominalistische Position. Demgegenüber nimmt der wissenschaftliche Realismus Strukturen der Natur an, die in den mathematischen Regularitäten zum Ausdruck kommen. Wenn aber Universalien wie die Symmetriegesetze der Physik nur syntaktische und semantische Konstruktionen sind, dann stellt sich die Frage, warum Beobachtungen, Messungen und Voraussagen diesen Regularitäten entsprechen? Es scheint Zufall oder ein Wunder zu sein, was auf dasselbe hinausläuft: In jedem Fall ist die Entsprechung von Beobachtungen und Regularitäten nicht erklärbar. Hilary Putnam verteidigt daher den wissenschaftlichen Realismus mit seinem entwaffnenden »no-miracle-argument«: »The positive argument for realism is that it is the only philosophy that doesn’t make the success of science a miracle.« Mit anderen Worten: Kein Wunder, dass die Mathematik 369 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
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bei der Erklärung der Natur erfolgreich ist. Sie kodiert in ihren Symbolen und Relationen Informationen über Strukturen dieser Welt, die es zu finden gilt. Man spricht deshalb vom strukturellen Realismus. Hawkings empiristischer Instrumentalismus scheint auf den ersten Blick eine praktikable wissenschaftstheoretische Position zu sein, die mit dem geringsten Aufwand an theoretischen Annahmen erfolgreich arbeitet. Ockhams Rasiermesser ist mit seiner Forderung, keine überflüssigen Entititäten anzunehmen, also auf seiner Seite. Anders ausgedrückt: Diese Position scheint den geringsten theoretischen Preis für maximalen Erfolg zu zahlen. Erfolgreich zu preisgünstigen Konditionen, pragmatisch und flexibel, möglichst ohne weltanschaulichen »Ballast«, das sind Slogans, die sich auch in der Medienwelt gut verkaufen. Am Ende stellt sich aber die Frage, ob wir nicht zu viel abgeschnitten und ausgeblendet haben, da sich grundlegende Fragen nicht mehr beantworten lassen. Hawking zeigt sich davon unbeeindruckt. Am Ende zählt für ihn die praktische Erfahrung. Die jüngsten Bilder, die von ihm in der internationalen Presse verbreitet wurden, zeigen ihn bei einem Sturzflug im Kabinenraum eines Großflugzeugs im Zustand der Schwerelosigkeit schweben –wie die übrigen Fluggäste ohne Rollstuhl frei schwebend. Die Gravitation, der Schlöüsselbegriff seines Lebens, theoretische Herausforderung für den Kosmologen Hawking und praktische Herausforderung für den schwerstbehinderten Patienten Hawking, wird im Weltraum durch Technik überwunden – und die Medien waren dabei.
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Umweltwissenschaft als Technowissenschaft? Liselotte Schebek im Gespräch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
Mit Ökobilanzen, englisch »life cycle assessment«, werden allgemein die Umwelteinflüsse von Produkten und Prozessen systematisch, prozessübergreifend und über den Lebensweg untersucht. Erfasst werden hierbei die Herstellung, unter Einschluss der Gewinnung der erforderlichen Rohstoffe, die Nutzungsphase und die Entsorgung. Für die Durchführung produktbezogener Ökobilanzen werden Vorgehensweisen durch die Normenreihe ISO 140, 40 folgende, festgelegt. Das Ziel von Ökobilanzen ist in der Regel ein Vergleich der Umweltauswirkungen von verschiedenen Produkten, beziehungsweise Prozessen, bei identischer Funktion. Möglich ist auch ein Vergleich von Produkten mit Dienstleistungen, die identische Funktionen haben. Ökobilanzen können auch als Schwachstellenanalyse für Prozessketten benutzt werden, indem die Prozesse mit den höchsten Umweltauswirkungen identifiziert werden. Dagegen sind Ökobilanzen nicht für anlagen- oder standortbezogene Untersuchungen ohne Bezug auf ein spezifisches Produkt oder eine Funktion konzipiert, wie es zum Beispiel bei einer Störfallanalyse – oder Umweltverträglichkeitsuntersuchung der Fall ist. Erste Grundzüge der Ökobilanzierung entstanden bereits Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in den USA, insbesondere im Bereich von Getränkeverpackungen. Seit Anfang der 90er Jahre gibt es intensive Bestrebungen, zur methodischen Vereinheitlichung der Ökobilanz. Beispielhaft sei hier auf internationaler Ebene der »Code of Practice«, der Society of environmental Toxycology and Chemistry genannt. Basierend auf den Erfahrungen einer eigenen Studie zur Untersuchung von Verpackungen, hat das deutsche Bundesumweltamt weitgehende Norm von konformen Vorgaben für Ökobilanzen formuliert. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion wird das Instrumentarium der Ökobilanz fortlaufend weiterentwickelt. Neben methodischen Fragen sind dabei Anwendungsaspekte und Datenqualität Kernpunkte. 1
Alfred Nordmann/Astrid Schwarz: Dieser Text stellt Liselotte Schebek mit zumindest einem Teil ihrer Interessensgebiete vor. Zwei Aspekte 1 Ökobilanzen, VDI e. V., Druckschrift Werkzeuge zur Bewertung von Abfallbehandlungsverfahren – Methoden und Ergebnisse, Düsseldorf: 2006, S. 41 – 49.
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Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
sollen hier herausgehoben werden: der erste bezieht sich darauf, dass sie sich hier nicht als eine wissenschaftliche Einzelkämpferin präsentiert, sondern sie erhebt ihre Stimme als Mitglied einer Forschergemeinde. Dieser explizite Bezug von Frau Schebek auf eine Scientific Community markiert einen deutlichen Unterschied zum Auftritt jener Wissenschaftler, die sonst in diesem Buch vorgestellt werden. Bei diesen Einzelfiguren ging es eher um die Darstellung einer mehr oder weniger bekannten Wissenschaftlerpersönlichkeit, die reflektiert, Ideen produziert und der Wissenschaft voranschreitet. Hier wird Wissenschaftsgeschichte gerne als eine Philosophiegeschichte erzählt, in deren Zentrum dann die Ideen bedeutender Einzelpersonen stehen und in ihrer Abfolge dargestellt werden. Eine solche Wissenschaftsgeschichte tendiert dazu die wissenschaftliche Praxis zu verfehlen, insbesondere die heutige Praxis, in der Wissenschaft tatsächlich eher kollektiv in einer Community produziert wird. Auch aus diesem Grund fanden wir es wichtig, eine Repräsentantin heute typischer Forschungspraxis in dieses Buch aufzunehmen. Von der Auseinandersetzung mit ihr erwarten wir vor allem Antworten darauf, was für ein Wissenschaftsbegriff das eigentlich ist, der die heutige Forschung – oder zumindest einen großen Teil davon – prägt. Damit ist der zweite Aspekt bereits angedeutet, nämlich die Frage danach was eigentlich typisch ist für eine bestimmte Art der Wissenschaft, mit welchem Begriff von Wissenschaft wir es eigentlich zu tun haben. Denn es handelt sich hier möglicherweise nicht mehr um Wissenschaft im traditionellen oder klassischen Sinne, sondern um Technowissenschaft. Was damit gemeint ist und was für philosophische Fragen sich daraus ergeben, soll im Weiteren geklärt werden. Vorweg genommen sei, dass mit dem Begriff »Technowissenschaft« nicht eine qualitative Herabminderung einer Wissenschaft gemeint ist, sondern einfach nur etwas Anderes – und genau das, was dieses Andere ist, wollen wir untersuchen. Um aber zunächst Frau Schebek näher kennen zu lernen, auch biografisch, wollen wir ihren Werdegang in chronologischer Reihenfolge darstellen. Entsprechend präsentieren wir zunächst einige Passagen aus ihrer 1990 abgeschlossenen Doktorarbeit, danach kommen dann vier Textstellen, die jeweils einen philosophischen Fragekomplex zur Sprache bringen. Zu diesen Textstellen und Fragestellungen wird sich Frau Schebek jeweils äußern und am Schluss steht dann eine all-
374 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Umweltwissenschaft als Technowissenschaft?
gemeine Diskussion. Jetzt also zunächst ein kleiner Einblick in die Doktorarbeit. The maximum concentration of […] TBT we found in one harbor basin could thus entail detrimental effects on aquatic life. […] Consequently, the use of tributyltin in ship paints on the Rhine should be halted, particularly in view of the fact that the risk attached to TBT in freshwater systems is needless, because its use in antifouling paints is targeted at marine organisms. In freshwater sourroundings, the fouling of ship hulls does not present a serious problem (19). As to tin compounds other than TBT, predictions of the effects of long-term low-level exposure on aquatic life cannot be made at present because of the scarcity of data (6). It is, however remarkable, that mono- and dibutyltin are prevalent in the aquatic environment of the Rhine and that they are released from such common sources as municipal sewage treatment plants. It appears that the widespread use of articles containing butyltin compounds releases substantial amounts of these substances to the environment. Further measurements are necessary to elucidate the origin and the pathways of these compounds. 2
Falls Sie erschrocken sind über diese Textstelle in englischer Sprache, so können wir Sie beruhigen: es wird die einzige bleiben. Es schien uns jedoch wichtig wenigstens einmal zu vergegenwärtigen, dass Englisch in diesem, wie vielen anderen wissenschaftlichen Gebieten auch, die dominante Wissenschaftssprache ist, die Scientific Community sich also schriftlich und auch mündlich vornehmlich auf Englisch verständigt. Das obige Zitat stammt aus einer Arbeit, die einen durchaus traditionellen wissenschaftlichen Zugang hat. Im zitierten Schlussteil des Textes deutet sich jedoch bereits an, in welcher Richtung eine Ausweitung der Fragestellung und Perspektive nahe gelegt wird – eine Ausweitung, der Frau Schebek in ihrer Arbeit auch gefolgt ist. Im »traditionellen« Wissenschafts-Zugang werden zunächst einmal kausale Verhältnisse zwischen bekannten Größen untersucht. Auf dieser Grundlage kann man dann zu dem Ergebnis kommen, dass bestimmte Schadstoffe, etwa Lacke, die an Schiffen auf dem Rhein Verwendung finden, verboten werden sollten, weil man weiß, dass dies schädliche Auswirkungen hat. Gerade weil es hier möglich ist eine nachweisbare Kausalität zwischen zwei Größen festzustellen, kann ein Verbot ausgesprochen werden. Auch angesprochen wird, dass es bei anderen Schadstoffgruppen ebenfalls einen Mangel an Daten gebe, und dass Schebek, Meinrat & Tobschall, Methyl- and Butyltin Compounds in Water and Sediments of the Rhine River, Environmental Science & Technology, 25 (5), 1991, S. 877.
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Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
weitergehende Untersuchungen nötig sind. Um der unsicheren Datenlage bei oder vor einer Untersuchung von Schadstoffen und ihrer Wirkung, auch verursacht durch die vielen Kontaminationsquellen, gerecht zu werden, bedarf es weitergehender Fragen und die werden hier schon angedeutet: Woher und wie kommen bestimmte Schadstoffe in den Rhein? Warum fragt man sich eigentlich erst nach Markteinführung des Produkts, aus welchen Stoffen es überhaupt genau zusammengesetzt ist, wie diese freigesetzt werden und welche Abfälle bei der Produktion entstehen? Diese erweiterte Perspektive im Umgang mit der Komplexität der Stoffkreisläufe spiegelt sich im Lebenslauf von Frau Schebek wider. Auf ihrer Website wird dieser Lebenslauf kurz umrissen: In ihre Professur »Industrielle Stoffkreisläufe« am Fachbereich Bauingenieurswesen an der TU Darmstadt bringt Frau Schebek langjährige Erfahrung aus der Umweltforschung und Umweltberatung ein. Liselotte Schebek studierte Chemie an der TU Darmstadt und promovierte als Mitarbeiterin der Abteilung Bio-Geo-Chemie des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ökoinstituts e. V. im Bereich industrielle Abfallwirtschaft und war ab 1990 als Projektleiterin der Hauptabteilung »Umweltschutz« des renommierten Consulting-Unternehmens Lahmeyer International GmbH tätig. Ihre Schwerpunkte bei Lahmeyer International waren die Sonderwirtschaft, Vermeidung und Verwertung industrieller Abfälle, produktionsintegrierter Umweltschutz und Umweltmanagement. Die Professur »Industrielle Stoffkreisläufe« an der TU Darmstadt ist verbunden mit der Leitung der Zentralabteilung »Technikbedingte Stoffströme« am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse im Forschungszentrum Karlsruhe. Eine der hiermit verbundenen weiteren Aufgaben war beispielsweise die wissenschaftliche Leitung der gemeinsamen Forschungsstelle für industrielle Stoffkreisläufe bei der hessischen Industriemüll GmbH in Wiesbaden. Außerdem koordiniert Frau Schebek den Interdisziplinären Studienschwerpunkt Umweltwissenschaften an der TU Darmstadt.
I. Die Birke als Instrument Alfred Nordmann/Astrid Schwarz: Wir haben gesagt, dass Liselotte Schebek eine Technowissenschaftlerin sei – aber was ist denn eigentlich Technowissenschaft? Der Begriff selbst legt uns nahe, darunter eine Fusionierung von Technik und Wissenschaft zu verstehen, also die Un376 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Umweltwissenschaft als Technowissenschaft?
möglichkeit begrifflich zwischen Technik und Wissenschaft zu unterscheiden. Vom traditionellen Verhältnis von Technik und Wissenschaft unterscheidet sich das insofern, als sich hier begrifflich die Grundlagenforschung, die angewandte Forschung und schließlich die Technik gegenüberstehen. Für die Technowissenschaft hingegen ist charakteristisch, dass es diese Unterscheidungsmöglichkeiten nicht gibt, ihr liegt eine andere Ontologie zugrunde: die Welt wird technisch verändert und es ist gerade diese technisch veränderte Welt, die den Stoff bietet für neue wissenschaftliche Untersuchungen. Das heißt dann auch, dass eine Trennung zwischen der Naturbeschreibung und technisch-kultureller Weltgestaltung nicht mehr sinnvoll ist. In der »klassischen Forschung« verfolgt Wissenschaft das Projekt einer theoretischen Weltbeschreibung und das Projekt der Technik besteht darin, in die Natur, in die Welt einzugreifen und sie nach unserem Willen zu verändern. Wenn diese beiden Aspekte sich aber nicht mehr scharf trennen lassen, so bedeutet dies, dass die Wissenschaft und ihre Methoden, bzw. Instrumente, der Welt oder dem zu repräsentierenden Untersuchungsgegenstand nicht gegenüber steht: Was nämlich einst Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft war, kann nun zum Instrument werden. Zusammenfassung 3 Die Blätter von Birken, Betula pendula Roth, wurden auf ihren Gehalt an den Schwermetallen Blei, Cadmium, Chrom, Nickel und Zink analysiert. Dabei ergaben sich deutliche Unterschiede bei Blei-, Cadmium- und Nickelgehalte zwischen städtischen Standorten und Standorten im Außenbereich. Einleitung Zur Überwachung von Schwermetallimmissionen werden neben der direkten Untersuchung von Luftstaubproben in zunehmendem Maße Pflanzen sowohl lokal als auch großräumig als Indikatoren für die langfristige Belastungssituation herangezogen (Steubing, 1976; Thomas, 1981; Höllwarth, 1982). Die in den vegetativen Pflanzenorganen – meist werden Blätter verwendet – akkumulierten Schwermetalle repräsentieren die Situation des einzelnen Standortes. Dabei ist es wichtig, im Bereich geringerer Immissionsbelastungen Indikatoren zu finden, die sich durch hohe Akkumulationsraten auszeichnen. In der vorliegenden Untersuchung sollte die Eignung der sowohl innerhalb als auch außerhalb von Stadtgebieten weit verbreiteten Birke, Betula pendula Roth, zur Bioindikation geprüft und damit räumliche Aussagen zur Schwermetallimmission gemacht werden. Hierzu wurden in einem Profil 3 Schebek, Lieser & Höllwarth, Die Birke (Betula pendula Roth) als Bioindikator für Schwermetallimmissionen, Angewandte Botanik, 58, 1984, S. 475.
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Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
entlang der Hauptwindrichtung Probenahmestellen ausgesucht. Obwohl in Darmstadt keine extremen Schwermetallemittenten zu finden sind, ergibt sich doch durch Verkehr, industrielle und private Feuerungsanlagen, Müllverbrennung u. a. eine unterschiedliche Belastung. Die Verwendungsmöglichkeit von Indikatoren, die in der Stadt bereits vorhanden sind, hat den Vorteil, dass man auf zeit- und personalaufwendigere Explantatmethoden (Weidelgras) nur in Ausnahmefällen zurückgreifen muss. Dafür muss allerdings eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Bodenbedingungen in Kauf genommen werden. Wie sich aber auch hier am Beispiel der Birke zeigt, ergeben sich für die Praxis der städtischen Umweltüberwachung genügend differenzierte Aussagen. Wünschenswert wäre die Kenntnis von weiteren Pflanzenarten in der Stadt, die sich im Akkumulationsverhalten ähnlich erweisen, um gegebenenfalls rasch einen Überblick über eine Belastungssituation erhalten zu können.«
Alfred Nordmann/Astrid Schwarz: Die Birke wird hier als ein technisches Instrument aufgefasst, nicht als ein Zeichen in einer botanischen Systematik oder als ein kulturelles Symbol urbaner Lebensqualität oder schöner Baum. Man interessiert sich auch nicht dafür, wie der Organismus Birke es physiologisch beispielsweise »schafft« an solchen belasteten Standorten zu überleben. Entscheidend ist allein, dass er es tut und dass es messbare Parameter, nämlich Blätter, gibt, an denen auch wiederum nicht ihr physiologischer Zustand interessiert – das wäre eine klassisch biologische Frage – sondern allein der Gehalt angereicherter Metalle. Der Vorteil von Organismen als Messfühler gegenüber technischen Lösungen wird darin gesehen, dass dies erstens ökonomisch günstiger ist und dass zweitens die Organismen als Integral über einen längeren Zeitraum funktionieren. Vorgefundene Natur wird hier als quasi-technisches System aufgefasst. Die Birke ist Teil eines großen Langzeitexperiments, das nicht innerhalb eines begrenzten Labors stattfindet, sondern eben im Außenraum. Das Labor wird gewissermaßen ausgedehnt. Darmstadt wird zu einem experimentellen System, dem der städtische Boden, der Verkehr, die Müllverbrennungsanlage, die Hauptwindrichtung und natürlich die Birke angehören. Wir stellen uns gerne vor, dass die Umweltwissenschaften eng mit Naturschutz im weitesten Sinne verbunden sind. Wie diese Texte deutlich machen, ist es aber eine naive Vorstellung, dass die Wissenschaft das Naturgeschehen erst würdigt und wir dann dieses Naturgeschehen beispielsweise vor technischen Eingriffen schützen. Was wir gerade gehört haben, klingt erst einmal ganz anders; es klingt mehr wie Ökotechnologie oder Umweltmanagement. Die Frage ist dann, wie hier das 378 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Umweltwissenschaft als Technowissenschaft?
Verhältnis zu konstruieren ist zwischen einer Umweltwissenschaft, die selbst eine Art Technologie ist, und dem wissenschaftlichen Anspruch, die Natur erst einmal in ihrer Würde und Fragilität studieren und schützen zu wollen. Liselotte Schebek: Die Natur schützen zu wollen, ist auch die Motivation der Umweltwissenschaft. Die Umweltwissenschaft untersucht daher Wirkungsketten, um den Ursachen jener Probleme, die wir in der Umwelt wahrnehmen, auf die Spur zu kommen. Nun sind diese Wirkungsketten häufig sehr lang und die Ursache-Wirkungs-Beziehungen sehr komplex. Wir wollen sie trotzdem schnell erforschen, denn in der Umweltwissenschaft beobachten wir ja nicht um der reinen Erkenntnis willen, sondern wir beobachten um handeln zu können. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass das beobachtete System nicht statisch ist und dies fordert einen raschen Erkenntnisgewinn und entsprechend Effizienz und Präzision bei der Analyse. Wir haben eine reale Umwelt vor uns, die sich permanent verändert und deren – negative – Veränderung wir rasch erfassen wollen, um eingreifen zu können, bevor die Veränderung ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat. Die Effizienz hat eine technologische Komponente und daher kommt auch der mechanistische Blick auf die Pflanze. Die vorgeschlagene Interpretation ist durchaus berechtigt, denn beispielsweise die Schönheit der Pflanze kommt hier gar nicht in den Blick. Stattdessen geht es hier darum, die Pflanze als eine praktisch verwertbare Eigenschaft zu betrachten, die diese effiziente Forschung unterstützt. Daraus ergibt sich auch eine weitere Bedeutung des Wortes »Langzeitexperiment«. Das Langzeitexperiment ist nicht eigentlich die Pflanze, sondern das Experiment ist die Umwelt und die Pflanze hat die Funktion des Zeigers dieser Umwelt.
II. Rumliche Erfassung/Technisierte Rume Nachhaltige Entwicklung ist wesentlich verknüpft mit der Frage anthropogener Stoffströme: von Bedeutung sind auf der einen Seite der Verbrauch wichtiger, nicht erneuerbarer Ressourcen, auf der anderen Seite die Mobilisierung oder Erzeugung von Schadstoffen. Diese Fragestellungen wurden bereits thematisiert in Rio de Janeiro, der Konferenz der Vereinigten Nationen über Umwelt und Entwicklung in 1992. Die hier initiierte umweltpolitische Dis-
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Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
kussion führte in Deutschland zur Tätigkeit der Enquete-Kommission »Schutz des Menschen und der Umwelt« mit ihren bekannten Forderungen nach einem nachhaltigen Stoffstrommanagement, d. h. Zu einem »ausgewogenen Umgang« der anthropogenen Einträge und Eingriffe in die Umwelt und einer Orientierung von Stoffeinträgen in die Umwelt an der »Belastbarkeit der Umweltmedien« (Enquete-Kommission »Schutz des Menschen und der Umwelt«, 1994). Stoffstrommanagement benötigt als Basis fundierte Informationen und Daten über anthropogene Stoffströme. Daten zu anthropogenen Stoffströmen existieren mit unterschiedlichen Bezügen und Quellen. Sie beziehen sich auf »Stoffe« im Sinne von Materialien (z. B. Ressourcen, Produkte, Abfälle) oder im Sinne chemischer Verbindungen und Elemente (z. B. Emissionen in Luft oder Wasser). Daten mit einem im weitesten Sinne raumbezogenen (regional, national, international) Bezugsrahmen liegen vor auf Basis amtlicher Statistiken, nationaler und internationaler Berichtspflichten. Diese Daten sind i. a. hoch aggregiert und umfassen eine beschränkte Anzahl von Materialien, Stoffen bzw. Stoffklassen, z. B. klimarelevante Stoffe. Ein anderer Bezugsrahmen für Daten zu anthropogenen Stoffströmen wird durch die Sicht einer »Anwendung«, d. h. Produktes oder einer Dienstleistung, definiert. Ausgehend vom Konzept des Lebenszyklus aus Herstellung, Nutzung und Entsorgung eines Produktes werden Prozessketten aufgestellt und Daten zu möglichst allen relevanten Stoff- und Energieflüssen für die elementaren Prozesse (»Module«) für den gesamten Lebenszyklus ermittelt. […] Aus einer Vielzahl von Studien existiert mittlerweile ein beträchtlicher Bestand solcher prozessbezogener »Lebenszyklusdaten«, die Anwendern in verschiedenen Datenbanken zur Verfügung stehen. […] Die Qualität und Konsistenz dieser Daten ist allerdings uneinheitlich. Vielfach sind nur unvollständige Informationen zu Herkunft, Beschreibung und Aktualität von Daten gegeben; gut validierte, aktuelle Daten stehen neben veralteten Datensätzen und Literaturdaten, deren ursprüngliche Herkunft zum Teil nicht mehr festgestellt werden kann. Unterschiedliche Datenquellen und methodisches Vorgehen führen zu Unterschieden in Datensätzen in verschiedenen Datenbanken, deren Ursache dem Anwender vielfach nicht nachvollziehbar ist. Trotz der beschriebenen Probleme hinsichtlich der Datenbasis findet der methodische Ansatz der Lebenszyklusuntersuchungen in den letzten Jahren sowohl in die Umweltpolitik als auch in Industrie und Verbraucherberatung zunehmend Anwendung als Mittel der Entscheidungsunterstützung.4
Netzwerk Lebenszyklusdaten, Ergebnisse des 4. und 5. Weimarer Kolloquiums »Analyse von Lebenszyklen«, in: Schriftenreihe Sozio-ökonomisches Berichtssystem für eine nachhaltige Gesellschaft, 5, 2004, S. 65–66.
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Umweltwissenschaft als Technowissenschaft?
Alfred Nordmann/Astrid Schwarz: Über diesen Text ließe sich sicher viel sagen, doch wir möchten ihn auf die folgende Fragestellung zuspitzen: »Was ist Technowissenschaft im Gegensatz zur traditionellen Wissenschaft?« An dieser Stelle könnte man natürlich sehr weit ausholen und verschiedenste Theorien und Begriffsdefinitionen der Technowissenschaft anführen. Wir möchten uns zunächst auf einen bestimmten Aspekt konzentrieren und zeigen, dass er auch in diesem Text eine Rolle spielt. Die klassische Wissenschaft vollzieht sich in der Zeit, etwa als Aufklärungsprojekt, oder im Sinne einer Wahrheitssuche. Sie kennen die verschiedenen Formen, denen zu Folge das wissenschaftliche Denken – durchaus heroisierend – als ein Denken behauptet wird, dem die Wahrheit an sich unerreichbar ist, aber das sich annähert an die Wahrheit durch die Entwicklung neuer Theorien und Hypothesen und durch deren kritische Prüfung. Skizziert ist damit eine Wissenschaft, die sich permanent verpflichtet fühlt gegenüber einer zwar unbestimmten, aber historisch sinngebenden Zukunft. Die Technowissenschaft hingegen vollzieht sich im Raum. Es geht um die Organisation und Strukturierung von Lebensbedingungen, um Anpassung von Möglichkeit und Wirklichkeit, Angebot und Nachfrage. Es geht vor allem auch darum, inwieweit Phänomene, die man erst einmal im Labor konstruiert und stabilisiert, in die Welt hinaus getragen werden können, um in Produkte und technische Systeme integriert zu werden. Die Zukunft ist nicht der Ort, wo die Wahrheit liegt, sie hat eigentlich gar keine historische Bedeutung, sondern ist jetzt eher eine Ressource: Die technowissenschaftliche Zukunft ist der Ort, an dem technische Möglichkeiten anscheinend darauf warten, realisiert zu werden. Vielleicht ist die Zukunft nun auch die Zeit, die uns verbleibt, bevor uns die Umweltkatastrophe einholt, unter den Bedingungen gegenwärtiger Verhaltensweisen und technischer Mittel. In diesem Sinne ist für uns interessant zu lesen, dass Stoffstromanalyse und Lebenszyklusanalyse, also zeitliche Vorgänge, zunächst räumlich und eben nicht zeitlich konzeptionalisiert und repräsentiert werden, und dass dabei ganz konkret auf politisch-geografische Einheiten Bezug genommen wird. Es geht um ein System, in das Ströme hinein- und herausfliessen, das einen Kreislauf bildet und das für seine Darstellbarkeit verlangt, dass wir die Gleichzeitigkeit von Daten sicherstellen können. Zum Problem wird beispielsweise, wenn gewisse Daten gegenüber den aktuellen Daten veraltet sind. Auf diese Weise wird ein Jetzt-Zustand verabsolutiert und allenfalls mit Daten konfrontiert, die anerkannte 381 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
Toleranzgrenzen für nachhaltige Entwicklung definieren, also beispielsweise Belastbarkeitsdaten. Aber auch diese Daten kommen in eine vollkommen jetzt-bezogene Analyse hinein, sie sind irgendwo festgelegt worden. So-und-so-viel Belastung ist akzeptabel und wir können »jetzt« den Vergleich machen, um natürlich auch »jetzt« handeln zu können. Damit werden die Daten selbst, also die Daten über Belastbarkeitsgrenzen und Toleranzgrenzen, allerdings auch die Sorge um Nachhaltigkeit, selbst als Rahmung für diesen Zusammenhang vorausgesetzt. So jedenfalls erscheinen die Daten in diesem Text, der mit einer Diskussion um die Nachhaltigkeitsanalysen beginnt. Das Nachhaltigkeitskonzept wird gleich an den Anfang gestellt und damit auch politische Entscheidungen, die den Rahmen und Hintergrund für diese Widmung abgeben. Wenn es diese Daten und die Sorge um Nachhaltigkeit nicht schon als gesellschaftliches Mandat gäbe, könnte diese Art von Forschung eigentlich gar nicht sinnvoll stattfinden. Die Aufklärung findet also nicht im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung statt, sondern ist schon gesellschaftlich vorausgesetzt. Die Gesellschaft, die ein bestimmtes Nachhaltigkeitsziel formuliert, beauftragt sozusagen die Technowissenschaft damit, das Management dieser Nachhaltigkeit im vorgegebenen Rahmen zu ermöglichen. Das ist jetzt ein bisschen polemisch ausgedrückt und sicher auch verkürzt, aber es pointiert eine Frage. Leistet die Technowissenschaft keine Aufklärungsarbeit mehr? Ist es so, dass wir schon wissen, was wir meinen wollen mit Nachhaltigkeit und nun wird das implementiert? Versuchen wir lediglich, einen Regulierungsmechanismus dafür zu finden? Liselotte Schebek: Dieser Analyse kann ich natürlich nicht zustimmen, dass die so genannte Technowissenschaft keine Aufklärung mehr betreibt. Die anfänglich angesprochene Wahrheitssuche ist ja tatsächlich ein treibendes Moment auch dieser Forschung. Wir sind gewohnt an die Vorstellung, dass die Naturwissenschaften die natürliche Umwelt erforschen, dabei grundlegende Gesetzmäßigkeiten aufdecken und sehr detailliertes Wissen über Teilbereiche dieser Umwelt bereit stellen. Wir haben beispielsweise gelernt, dass in der Umwelt netzwerkartige Vorgänge ablaufen und dass komplexe positive oder negative Rückkopplungen für makroskopische Phänomene ursächlich sind – ein Beispiel sind die aktuellen Theorien über Ab- oder Zunahme von Wüstengebieten wie der Sahara. Wir sind aber vielleicht noch nicht so 382 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Umweltwissenschaft als Technowissenschaft?
sehr gewohnt an die Vorstellung, dass unsere künstliche Umwelt, die Anthroposphäre, ebenso erforscht und durch Gesetzmäßigkeiten beschrieben werden kann und dass dort ebenso vernetzte Abläufe existieren wie in der natürlichen Umwelt. Diese Vorgänge in der Anthroposphäre kennen wir – jedenfalls teilweise – sehr viel ungenauer und deshalb ist das Bild auch unvollständig, welche Gesetzmäßigkeiten wesentlich sind. Das Verständnis dieser Vorgänge würde ich tatsächlich als so etwas wie Aufklärung bezeichnen. Auch die Frage: »Was ist denn die Wahrheit?« steckt in dem gerade zitierten Beispiel zu Datengrundlagen drin. Daten über die Anthroposphäre haben natürlich auch den Anspruch, den Daten über die natürliche Umwelt haben, nämlich zu beschreiben, was denn wirklich ist. Und damit stellt sich die Frage: »Was ist wirklich und wie nahe komme ich an die Wirklichkeit?«, auch für die Anthroposphäre. Ich konstruiere Systeme für die Abbildung der Wirklichkeit, indem ich den Bezugsrahmen definiere, in dem diese Einzeldaten in einen Kontext gesetzt werden und Informationen ergeben. Um das zu tun, arbeite ich in so etwas wie in Informationsnetzwerken. Zustimmen würde ich Ihnen aber darin, dass die Lebenszyklusanalyse, so wie sie konzipiert wurde, zunächst einmal statisch ist. Das heißt man versucht ein Produktsystem zu beschreiben, das ja kompliziert genug sein kann, wenn ich Rohstoffe entnehme, diese in anderen Ländern prozessiere, dann zu Produkten verarbeite, was ja in diesen dritten Ländern auch geschieht und die ich dann schließlich an anderer Stelle konsumiere und irgendwie entsorge. Da dieses System so komplex ist, vernachlässigt man zunächst den Zeitparameter. Dies ist natürlich ein Mangel und analytischer Artefakt, weil die Realität eben nicht statisch ist und weil die Erkenntnis, die letztlich gewonnen werden soll, sich auf dynamische Entwicklungen in der Zeit bezieht. In diesem Sinne kann ich auch einen Standpunkt nicht teilen, mit dem der Jetzt-Zustand verabsolutiert wird. In der aktuellen Forschung jedenfalls ist der Zeitbezug ein hochaktuelles Thema: wie entwickeln wir Szenarien zukünftiger Entwicklungen auf der Basis des Wissens von heute und unserer Vorstellungen von möglichen Zukünften? Alfred Nordmann/Astrid Schwarz: Sie haben jetzt von der Komplexität der natürlichen Welt gesprochen und dass es jetzt Untersuchungen der natürlich-künstlichen oder natürlich-technisierten Welt gibt, die der naturgegebenen Welt ähnlich ist (allenfalls noch komplexer) und die daher auch eines ähnlichen Zugangs bedarf. Auch diese Welt müs383 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
sen wir grundsätzlich verstehen können. In Bezug auf unsere naturgegebene Welt, haben wir nun traditionell so etwas wie Gesetze, also naturgesetzliche Zusammenhänge zwischen Ereignissen, die dort stattfinden. Jetzt interessiert uns, ob wir in Bezug auf unsere technischkünstlich-natürliche Welt, diese gedoppelte Welt, auch den Anspruch haben, hier Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Liselotte Schebek: Ja, den haben wir natürlich. Der Unterschied ist der, dass Gesetzmäßigkeiten nicht nur aus den Naturwissenschaften kommen, sondern beispielsweise auch aus den Wirtschaftswissenschaften. Aber naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten haben natürlich auch für die Anthroposphäre eine grundlegende Bedeutung. Vielleicht kann ich da einfach einmal ein Beispiel nennen. Das Gesetz von der Erhaltung der Masse gilt – das ist trivial – auch in der Anthroposphäre und hat praktische Konsequenzen, die in den Umweltwissenschaften erforscht werden. Beispielsweise hatten wir in den 1980er Jahren die Diskussion um sauren Regen und das Waldsterben. Es war relativ schnell klar, dass eine Ursache die Emission von Schwefeldioxid aus Abgaben von Kohlekraftwerken ist. Daraufhin reagierte die Politik recht schnell und es gab die so genannte Großfeuerungsverordnung und Altanlagenvollzugsprogramme. Dies kann als eine Erfolgsgeschichte des klassischen Umweltschutzes angesehen werden. Innerhalb weniger Jahre wurde unter Investition riesiger Summen und technischem KnowHow der überwiegende Teil der großen Kraftwerke mit Filteranlagen nachgerüstet. Diese sogenannten Rauchgasreinigungsanlagen entfernten das Schwefeldioxid aus dem Abgas und verwandelten es in unschädlichen Gips. Damit hatte man zunächst ein anderes Problem, nämlich was tun mit dem Gips? Dieses Problem wurde aber schon recht früh erkannt und gelöst, indem – das ist die zweite Erfolgsgeschichte in diesem Beispiel – dieser Gips vermarktet wurde: In Form von Gipskartonplatten für die Bauwirtschaft haben wir das alles in Häusern verbaut. Jetzt haben wir aber möglicherweise immer noch ein Problem, denn der Schwefel ist immer noch da. Wenn die Häuser abgebrochen werden und wir diesen Gipseintrag nicht selektiv aus dem Haus mit herausholen, wird der Schwefelgehalt im Bauschutt steigen – und dann steht man wieder vor der Frage, was tun mit dem Schwefeleintrag in die Umwelt. Das heißt, da ist ein Element, das einmal eingetragen wurde in die Wirtschaft und jetzt in einem Wirtschaftskreislauf sozusagen »gefangen« ist, wobei dieser Kreislauf auf naturwissenschaftlichen Ge384 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Umweltwissenschaft als Technowissenschaft?
setzmäßigkeiten beruht, aber angetrieben wird durch politische, ökonomische und technologische Faktoren.
III. Handlungsmglichkeiten/Handlung ermglichen »Carbon flows and carbon use in the German anthroposphere: an inventory.« Systemdefinition Das Basisjahr der Analyse ist das Jahr 2000. Die geographische Grenze des Systems ist Deutschland. Innerhalb dieses regionalen Bezugssystems konzentrieren wir uns auf die Anthroposphäre, das heisst, die materiellen Flüsse, die durch anthropogene Aktivitäten entstehen. Aus diesem Grund sind natürliche Systeme wie Nationalparks, Hecken, und so weiter von der Untersuchung ausgeschlossen. Nur landwirtschaftlich und forstlich genutzte Flächen sowie die angrenzende Oberflächenvegetation wurden berücksichtigt. Ungenutzte Biomasse wie Wurzeln usw. sind ebenso ausgeschlossen wie der Kohlenstoff-Pool in Böden. Die Systemgrenzen des KohlenstoffFlussmodells Deutschland sind mit dem österreichischen Kohlenstoff-Flussmodell vergleichbar. Das Modell ist in sieben Module unterteilt: Energie, Verkehr und Transport, Industrie, Bergbauindustrie, Abfallwirtschaft, Landwirtschaft und Forsten, Private Haushalte und Konsum. Die Atmosphäre ist in das System aufgenommen als Senke für Emissionen ist aber gleichzeitig auch eine Kohlenstoffquelle. Die Lithosphäre in Deutschland wird als Quelle zur Entnahme von Energieträgern und Mineralien genutzt (Sand, Steine, Lehm) und wird als eine letzte Senke für Müll verwendet. Zudem werden Importe und Exporte (außerhalb der Systemgrenze) erfasst. Die Unterschiede zwischen den Einträgen in die deutsche Anthroposphäre und den Austrägen aus der deutschen Anthroposphäre beläuft sich auf 5 Megatonnen Kohlenstoff. Diese Differenz ergibt sich aus der Akkumulation von kohlenstoffhaltigen Produkten in den privaten Haushalten und Konsum (beispielsweise mineralische Rohstoffe als Baustoff, Plastik). 5
Alfred Nordmann/Astrid Schwarz: Es geht immer noch um die Frage: »Was ist Technowissenschaft im Gegensatz zur klassischen Wissenschaft?« Wie also werden die Gegenstände der Forschung überhaupt definiert und konstituiert, woher kommen die Gegenstände, was beUihlein, Poganietz & Schebek, Carbon flows and carbon use in the German anthroposphere: An inventory, Resources, Conservation and Recycling, 46, (2006), S. 414427.
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Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
zeichnet ihren Charakter? Am klassischen Beispiel von Heinrich Hertz wurde deutlich, dass die traditionell verfasste Wissenschaft geradezu obsessiv bemüht war, scharf zu trennen zwischen Natur und Kultur, also zwischen dem, was sich natürlich von selbst darstellt und dem, was wir Menschen, beziehungsweise in diesem Fall speziell der Experimentator, in ein Modell oder Experiment hinein trägt. Im Kontext klassischer Wissenschaft kommt es darauf an, auseinander dividieren zu können, an welcher Stelle im Labor die menschliche Tätigkeit aufhört und die Tätigkeit der Natur anfängt. Das genuine Interesse liegt darin, genau trennen zu können zwischen dem, was Natur und Kultur, bzw. Technik und natürlicher Vorgang sind. Der jetzt zur Diskussion stehende Text knüpft an die Raumfrage an, die wir vorhin stellten. Gleichzeitig zeigt er auch, dass die Konstitution von Gegenständen in den Technowissenschaften von ganz anderer Art ist. Hier geht es explizit um den Begriff der Anthroposphäre, der in unserer Diskussion eben schon vorkam. Nun kennen wir alle den Begriff Biosphäre und es ist natürlich interessant, warum dieser Begriff hier nicht verwendet wird, stattdessen von Anthroposphäre oder synonym von Technosphäre die Rede ist. Die Biosphäre ist ein Konzept, das in den 1920er Jahren aus seiner zunächst geographisch motivierten Begriffsumgebung in eine biochemische transformiert wurde. Seitdem werden mit der Biosphäre alle diejenigen Stoffaustauschprozesse bezeichnet, die im Wesentlichen gasförmig und biogen sind, also von Organismen erzeugt wurden und auf einer globalen Skala in der Atmosphäre stattfinden. 6 Vor allem aber ist die Biosphäre auch eine Sphäre, in die der Mensch hinein gestellt ist und die, zumindest auf der Erde, kein »Außen« hat. Wir können aus der Biosphäre als solche nicht heraustreten. Statt also diesen historisch und wissenschaftlich bewährten Begriff aufzugreifen, wird hier eine Anthroposphäre oder Technosphäre definiert, die selbst ein Artefakt ist. Unsere Technik, d. h. die technischen Einwirkungen des Menschen, und die dadurch umgelenkten und beschleunigten Stoffströme, etwa durch unser Konsumverhalten, treten nicht in eine natürliche Biosphäre ein, sondern in eine bereits mensch-gemachte Technosphäre, in diesem Fall sogar in eine deutsche Anthroposphäre. Der Als historisch erste Referenz für dieses Konzept (nicht für das Wort) gilt Vernadsky 1912, On Gaseous Exchange of the Earth’s Crust, auf das sich auch Vertreter der sogenannten Gaia-Hypothese beziehen (James Lovelock und Lynn Marguilis). 6
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Forschungsgegenstand hat also nationale Grenzen. Das heißt, die Technosphäre als Gegenstand der Technowissenschaft gehört weder ganz der Natur noch der Kultur an, sondern wird als Hybrid definiert und konzipiert. Diese diagnostizierte Vermischung von Natürlichem und Technischem kann durch einen weiteren Text gestützt und bestätigt werden. Bei der Fragestellung der Neuausrichtung von Produktion und Konsum in Richtung Nachhaltigkeit konnte inhaltlich angeknüpft werden an frühere Verwendungen des Begriffs sustainable development, insbesondere in den schon genannten Studien Grenzen des Wachstums und Global 2000 und damit auch an die dort formulierte Ressourcenfrage. […] Vor diesem Hintergrund wurde Anfang der 90er Jahre der Begriff Ökoeffizienz geprägt und insbesondere durch den World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) auf breiter Ebene in die umweltpolitische Diskussion eingeführt. […] Das Konzept Ökoeffizienz definierte das Eigeninteresse von Unternehmen an Wertschöpfung, wettbewerbsfähigen Produkten und letztlich Maximierung des Gewinns als Kern der aktiven Rolle der Wirtschaft. Dieses Ziel wird ins Verhältnis zur Be- bzw. Entlastung der Umwelt gesetzt. [E]rfasst [wird] sowohl die Entnahme von Stoffen aus der Umwelt, die der Ressourcenproblematik zu Grunde liegt, als auch die Abgabe von Stoffen in die Umwelt, die die Tragekapazität der Umwelt überfordern kann. […] Mit diesem ganzheitlichen Konzept der Ökoeffizienz wird eine methodisch anspruchsvolle Verknüpfung von Bilanzräumen angelegt. Die Ökonomie ist mit der Orientierung […] auf das Unternehmen als Bilanzrahmen ausgelegt […]. Demgegenüber geht die ökologische Dimension über das Unternehmen hinaus. Dies gilt im räumlichen Sinn im Hinblick auf die Umweltwirkungen: Diese zeigen sich über die Grenzen eines Standorts im lokalen, regionalen und bis hin zum globalen Maßstab. Dies gilt auch im »chronologischen« Sinn und im Hinblick auf die Möglichkeiten des Unternehmens als Akteur. […] Um langfristige win-win-Situationen zwischen Ökonomie und Ökologie zu finden, müssen umweltpolitische Ziele in die Unternehmensstrategie integriert werden. Dies ist durchaus Erfolg versprechend: So stellt die strategische Perspektive eine starke Motivation für Unternehmen zum proaktiven Handeln – wie der Teilnahme an Umweltmanagementsystemen – dar. […] Diese Herausforderung ist nicht ohne Beteiligung der Wissenschaft zu lösen, da sie Methoden zur Untersuchung langfristiger Prozesse voraussetzt und wissenschaftlich basierte Erkenntnisse für die gesellschaftliche Akzeptanz politischer Zielsetzungen erfordert.« 7 7
Materialeffizienz und das Konzept Ökoeffizienz. Perspektiven aus Sicht von Wissen-
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Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
Alfred Nordmann/Astrid Schwarz: Da es hier um Gegenstandskonstitution geht, also darum, wie die Forschung zu ihrem Gegenstand kommt, stellt sich an dieser Stelle gleich die erste Frage: »Was ist die relevante Größe bei der Bestimmung der Technosphäre?« Im hier diskutierten Artikel ist Deutschland die relevante Größe, man könnte sich aber auch Europa, Frankfurt oder den Odenwald vorstellen. Entsprechend würde sich, durchaus naiv, die Frage anschließen: »Wie politikabhängig ist die Konstitution des Forschungsgegenstandes dann eigentlich?« Ähnlich stellt sich die Frage bezüglich des Nachhaltigkeitsbegriffs. Hier werden ja zunächst zwei verschiedene Konzeptionen gegen einander ausgespielt um dann doch wieder versöhnt zu werden, und zwar der ökologische und der ökonomische Nachhaltigkeitsbegriff, die in eine win-win-Situation überführt werden sollen. Ein gesellschaftliches Streitfeld also, wie man Nachhaltigkeit am besten definieren und konzipieren soll, wird hier in Berufung auf Forschung in eine Art Konsensmodell transformiert, das im wesentlichen behauptet: Wenn man das richtige wissenschaftliche Wissen hat, wird eine Synthese zwischen ökologischen und ökonomischen Interessen möglich. Daran knüpfen weitergehende Frage an: Welchem Auftrag sieht sich diese Forschung überhaupt verpflichtet? Und gibt es etwa eine Art Auftrag, genau diesen Mittelweg zu suchen, von dem erwartet wird, dass er aus einer scheinbaren Dichotomie und vielleicht gesellschaftlichen Paralyse herausführt? Wer entscheidet über die Bestimmung des Forschungsgegenstandes und die Formulierung der Forschungsfrage in wessen Auftrag? Liselotte Schebek: Sowohl die Politikabhängigkeit des Forschungsgegenstands als auch das Stichwort Konsensfähigkeit haben eine gemeinsame Perspektive, wenn man versucht Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Dabei stellt sich die Frage, wer denn auf welchen Ebenen handeln kann. Dies ist der Grund, weshalb in diesem Beispiel eine politische Grenze, nämlich die Grenze der deutschen Volkswirtschaft, als Systemgrenze zur Definition des Forschungsgegenstands herangezogen wurde. Die Fragestellung ist bei diesem Kohlenstoffmodell ja, wie wir bestimmte Kohlenstoffströme, in diesem Fall Biomasse, verwenden. Sollen wir die begrenzt vorhandene Biomasse lieber stofflich nutschaft und Praxis, in: Liedtke (Hg.), Materialeffizienz: Potenziale bewerten, Innovationen fördern, Beschäftigung sichern, München: oekom Verlag, 2005, S. 27–36.
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Umweltwissenschaft als Technowissenschaft?
zen – z. B. in dem wir mehr Holz-Häuser bauen, oder sollen wir sie zur Energiegewinnung nutzen – z. B. in dem wir Holz klein gehäkselt in Pelletheizungen verfeuern, oder möchten wir lieber mit Biokraftstoff Auto fahren, das wir aus Holz hergestellt haben? Das können wir natürlich individuell beantworten, aber um gesellschaftlich gestalten zu können, müssen wir auf die politische Ebene gehen. Die Handlungsoder Rahmenbedingungen, die dafür maßgeblich sind, werden im Wesentlichen auf der nationalen Ebene festgelegt bzw. dort werden auch Vorgaben der EU umgesetzt. Ganz wichtig für die Untersuchung von Steuerungsmöglichkeiten ist daher die Abgrenzung durch eine politische Systemgrenze, und das ist hier die deutsche Volkswirtschaft, also ein politisch-ökonomisches System. Dieses System steht dann über die Stoffflüsse in Verbindung mit der natürlichen Umwelt, und interessant ist in diesem Beispiel, dass man unter diesem Blickwinkel den »deutschen Systemraum« erweitern kann: für das Umwelt-Kompartiment der Lithosphäre – sprich Boden – gelten nämlich politische Besitzansprüche, den Boden kann man in einen erweiterten Systemrahmen Deutschland einbeziehen, während das für die Atmosphäre nicht gilt. Dieselbe Frage nach Handlungsmöglichkeiten stellt sich bei der sogenannten Versöhnung von Ökonomie und Ökologie. Nicht übersehen werden darf hier, dass Unternehmen wichtige Akteure sind, die über Produktionsbedingungen bestimmen und darüber, wie Produkte aussehen und beispielsweise über die Konzeption von langlebigen Produkten einen großen Einfluss auf zukünftige Entwicklungen haben. Automobile die heute konzipiert werden, sind in fünf Jahren auf der Straße und bestimmen dann den Kraftstoffverbrauch und Emissionen über eine Zeitperiode von zehn Jahren oder länger. Da kann man grundsätzlich zwei Ansätze fahren: Man kann zum einen sagen, dass Rahmenbedingungen gesetzt werden müssen und dass man ordnungsrechtliche Vorgaben braucht. Auf der anderen Seite haben Unternehmen aber auch ein kreatives Potential, das heisst dort sitzen Leute, die Ideen entwickeln und die technologische Entwicklung vorantreiben – die Seite der Motivation darf also nicht aus den Augen verloren werden, und die können Sie mit Ordnungsrecht nur sehr begrenzt steuern. Wenn aber Unternehmen wissen, welche Auswirkungen ihre Produkte langfristig auf die Umwelt haben, dann können sie auch die strategischen Aspekte für ihren Markt besser einschätzen, also beispielsweise wie reagieren Konsumenten, oder gibt es einen gesellschaftlichen Druck, weil bestimmte Umweltprobleme auftreten – siehe beispiels389 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz
weise die aktuelle Debatte über den Feinstaub. Dann wird es für sie viel deutlicher, wo Überschneidungen sind zwischen der Eigenmotivation Geld zu verdienen – und dies auch noch in 20 Jahren –, und den gesellschaftlichen Interessen an einer intakten Umwelt. Diese Schnittmenge zu identifizieren ist wiederum ein wichtiges Ziel, für das solche Modelle und Analysemethoden entwickelt werden.
IV. Welches Wissen wann und wo? Alfred Nordmann/Astrid Schwarz: Laut Michel Serres war die klassische Wissenschaft der Wissensproduktion gewidmet, während es in den heutigen Technowissenschaften eher um den Zugang, auch um die Verwaltung und das Management von Wissen geht. Das Wissen sei bereits da, wie er betont, überall und jederzeit verfügbar. Der Inhalt, so Serres, hat dann immer weniger Bedeutung, Zugang und Validierung hingegen immer mehr. 8 Es ist also eher die Art und Weise des Zugangs zum Wissen die zum Problem wird an Orten, wo es nicht an Wissen und Daten mangelt, an Orten, wo die Daten nicht mehr für sich sprechen oder aus verschiedenen Gründen nicht für sich sprechen können. Dazu ein Text aus einer Studie für die Volkswagen AG, dem noch ein paar Sätze aus einem Vortrag angehängt sind. Ein methodisches Problem ergab sich hinsichtlich der in EMAS II aufgeführten Umweltaspekte Biodiversität, ästhetische Beeinträchtigungen und Materialeinsatz. Diese sind für die Standorte der VOLKSWAGEN AG zwar relevant, bisher konnten hierfür allerdings noch keine geeigneten Erfassungsund Bewertungskriterien definiert werden. Auf die Aufnahme dieser Aspekte wurde daher zunächst verzichtet. Für die Zukunft bleibt zu untersuchen, ob oder wie diese Umweltaspekte integriert werden können. […] Umweltaspekte lassen sich mit verschiedenen Vorgehensweisen entweder qualitativ oder quantitativ erfassen. Eine quantitative Erfassung hat die Vorteile einer besseren Reproduzierbarkeit unabhängig vom Bearbeiter und eignet sich naturgemäß besser; sowohl für die Prioritätensetzung hinsichtlich von Umweltzielen als auch für die Erfolgskontrolle bei der Umsetzung. […] Eine quantitative Erfassung der Aspekte Abfall, Abwasser, Abluft, Strom und Wärme erfolgt bei Volkswagen für jeden Standort jährlich nach 8 Serres, Vorwort, in: Ders. & Farouki (Hg.), Thesaurus der exakten Wissenschaften, Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2001, S. IX–XXXIX.
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einem festgelegten Verfahren. […] Daten der Aspekte Berufs- und Güterverkehr, Flächenversiegelung, Lärm und Geruch werden für die Standorte der VOLKSWAGEN AG bisher nicht regelmäßig erfasst. Für diese Aspekte wurden Vorgehensweisen zur quantitativen Erfassung teilweise aus dem Leitfaden des Umweltbundesamtes übernommen oder neu erarbeitet: Güterverkehr umfasst den gesamten Materialinput und Produktabtransport. Aus den Angaben der zuständigen Fachabteilung des betrachteten Standortes werden die Tonnen-Kilometer (transportiertes Gewicht x zurückgelegte Strecke) für das Betrachtungsjahr ermittelt, jeweils für die Transportmedien Bahn und LKW. Für Berufsverkehr (An- und Abfahrt der Mitarbeiter) werden auf Basis der Informationen der Personalabteilung die jährlichen Personen-Kilometer aus der durchschnittlichen Entfernung vom Arbeitsplatz und der Anzahl der Mitarbeiter errechnet. Der Aspekt Flächenversiegelung wird zentral von der zuständigen Fachabteilung des Standortes erfasst. Dabei wird die versiegelte Fläche im Verhältnis zur gesamten Fläche des Standortes prozentual dargestellt. Daten zur Erfassung des Aspekts Lärm werden von der konzernweit tätigen Fachabteilung aus bereits existierenden, standortspezifischen Schallemissionsplänen entnommen. Für den Umweltaspekt Geruch wird die Anzahl der entsprechenden Beschwerden der Nachbarschaft ermittelt. Sofern behördliche Auflagen, z. B. Richtwerte der Geruchsimmisionsrichtlinie (GIRL) existieren, wird dieses Kriterium bei der Erfassung ebenfalls berücksichtigt. […] Für die qualitative Erfassung wurden Fragebögen neu erarbeitet. Das betraf die Umweltaspekte Altlasten. Organisation/Qualifikation, externe Dienstleister und Notfallsituationen. […] Die Bewertung der Umweltaspekte sollte wie auch die Erfassung – soweit möglich – quantitativ durchgeführt werden. […] Nach einem Screening der vorhandenen methodischen Ansätze der Wirkungsabschätzung wurde die vom schweizerischen Bundesamt für Umweltschutz entwickelte Methode der ökologischen Knappheit ausgewählt. Es sind auf diese Weise jedoch nicht alle identifizierten Umweltaspekte bewertbar. […] Die Methode der ökologischen Knappheit setzt voraus, dass die Höhe des totalen Flusses (z. B. Die Jahresfracht) eines Stoffes und der umweltpolitisch als kritisch oder gerade noch tolerierbar befundene Fluss die ökologische Relevanz bestimmen. […] Die Anwendung der Methode auf einen Standort basiert auf der Sachbilanz des Betriebes […]. So werden die Bilanzdaten mit den entsprechenden Ökofaktoren multipliziert, woraus die Umweltbelastung eines Stoffes in Mega-Umweltbelastungspunkten (MUBP) resultiert. Vorher unvergleichbare Daten sind nun in der gleichen Einheit abgebildet und lassen sich so unmittelbar miteinander vergleichen […]. Die Auswertung bildet den Handlungsbedarf für den Betrieb direkt und eindeutig ab. Kritisch sind folgende Punkte zu sehen: Die Ökofaktoren basie-
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ren mit der Festlegung des kritischen Flusses (FK) auf subjektiven Annahmen, die zwar auf einem breiten Konsens beruhen aber nur beschränkt direkt wissenschaftlich begründbar sind. Die Vollaggregation aller Umweltwirkungen widerspricht der Forderung nach transparenter Darstellung einer Wirkungsabschätzung für die öffentliche Kommunikation. […] Für die quantitativ erfassten Umweltaspekte Lärm, Geruch, Flächenversiegelung existieren keine Ökofaktoren. Deshalb können diese Aspekte nur qualitativ bewertet werden. […] Das Öko-Auditteam der Konzern-Umweltplanung war als »Auftraggeber« von Anfang an in die Entwicklung der Methode eingebunden. Im Rahmen der Umweltbetriebsprüfung ist das Auditteam zukünftig für die Durchführung des Verfahrens und im Speziellen für die Auswertung der Erfassung (Matrixerstellung) zuständig. Insgesamt wird das Verfahren von den einzelnen Mitarbeitern des Auditteams hinsichtlich des Aufwand/NutzenVerhältnisses fast ausschließlich positiv bewertet. Die Umweltschutzabteilungen der deutschen Standorte wurden mit der Bewertung von Umweltaspekten in dieser Form neu konfrontiert. Von dieser Seite wird die Effizienz einer solchen Methode für das Umweltmanagementsystem eher kritisch betrachtet. Insbesondere wird in Frage gestellt, ob eine solche Systematik neue Erkenntnisse gegenüber bisherigen persönlichen Erfahrungen liefert. In weiteren Untersuchungen soll deshalb der Bedeutung einer personenunabhängigen Nachvollziehbarkeit nachgegangen werden. […] Einheitliche Verfahren sind aufgrund der unterschiedlichen Datenlage in den einzelnen Standorten nicht möglich, deshalb werden spezifische Verfahren zur Erfassung für jeden Aspekt vorgeschlagen. Das heißt, der Zustände entscheidet selbst, inwieweit seine Erfassung aus Messungen, auf Berechnungen oder auf Schätzungen beruhen soll. Die jeweilige Vorgehensweise ist für Gutachter und Aktualisierungen zu dokumentieren. An dieser Stelle ist anzumerken, dass einige der Fachleute in ihrem Namen nur ungern grobe Schätzwerte abgaben. Damit wird jedoch beabsichtigt, Daten so effizient wie möglich zu erfassen. So soll mit einer Schätzung zunächst eine Tendenz der Wesentlichkeit für den Aspekt ermittelt werden. Sofern der Aspekt als sehr wichtig eingestuft wird und ein Handlungsspielraum des Unternehmens besteht, sollte dieser zukünftig im Sinne eines iterativen Prozesses genauer erfasst werden. Falls sich andererseits nach gründlicher Betrachtung herausstellt, dass ein Aspekt nicht relevant ist oder vom Unternehmen nicht beeinflusst werden kann, wird auf die weitere Datenerfassung verzichtet. […] [In der Folge] wird hinterfragt, ob die identifizierenden Umweltaspekte die Umweltauswirkungen im Wesentlichen beschreiben. Hier geht es um die Integration der Umweltaspekte aus dem Bereich der Biodiversität der ästhetische Beeinträchtigung und des Materialeinsatzes. Außerdem ist zu prüfen,
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ob die Vorschläge […] tatsächlich alle Umweltauswirkungen des Unternehmen erfassen. Ferner muss die Belastbarkeit der verwendeten Daten, insbesondere für die als sehr wichtig identifizierten Umweltaspekte näher untersucht werden. Dafür ist eine Fehlerbetrachtung, eventuell exemplarisch für einen Unternehmensbereich, vorgesehen. […] 9 Aus einer Präsentation über Wissenssynthese. Schlussfolgerungen Lebenszyklusanalysen als Rahmenkonzept für die Synthese von: Wissen unterschiedlicher Inhaber, Wissen über Gegenwart und Wissen über Zukunft, Wissen unterschiedlicher Disziplinen, Wissen- und Werterhaltungen. Lebenszyklusanalyse als Brennglas für Probleme des Nichtwissens, der Zusammenführung naturwissenschaftlicher Erkenntnis, mit gesellschaftlicher Zielfindung.
Alfred Nordmann/Astrid Schwarz: In dieser ausführlichen Darstellung hören wir ein Echo auf vorherige Diskussionen und Anmerkungen. Ausführlich werden hier Datenunsicherheiten dargestellt und diskutiert, ebenso die Heterogenität der Datenlage. Die Frage ist nun, was dies mit der in voran gehenden Abschnitten portraitierten Technowissenschaft zu tun hat. Ein Stichwort, das in diesem langen Zitat mehrmals fällt, ist das der »personenunabhängigen Nachvollziehbarkeit«. Das ist ganz eindeutig ein klassisches wissenschaftliches Ideal: das Wissen, das von den Wissenschaften erzeugt wird, soll unabhängig existieren von seinen Produktionsbedingungen. Es soll sich ablösen können von den speziellen personellen und historischen Konstellationen, in denen es erzeugt wurde. Dieses Ideal wird hier angeführt als Begründung, warum man quantitative Daten den qualitativen vorzieht, nämlich weil die quantitativen Daten leichter für sich stehen, auf eine offensichtlichere Weise personenunabhängig, nachvollziehbar sind. Die qualitativen Daten hingegen brauchen einen Berichterstatter. Angesichts der geschilderten enormen Heterogenität der Datenlage ergibt sich also ein größeres Problem. Ein Problem, das Frau Schebek in ihrer Arbeit sehr systematisch angeht und das sich über den Begriff der Wissenssynthese bearbeiten lässt. Das Problem besteht darin, dass es offensichtlich sehr unterschiedliche Quellen für Daten gibt. Diese waren in diesem Fall zwar noch relativ homogen, insofern als sie alle aus einer Schebek & Gernuks, EMAS II – Erfassung und Bewertung betrieblicher Umweltaspekte bei der VOLKSWAGEN AG, UmweltWissenschaftsForum, 10, 2002, S. 53–58.
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Firma kommen und im Umfeld einer bestimmten Firmenpraxis entstanden sind. Je größer jedoch der Analysehorizont wird, desto heterogener werden die Datensätze, die hier zusammengeführt werden sollen und damit entsteht das Problem, dass die Daten nicht mehr (wie es vorhin hieß) für sich selbst sprechen können. Dass sie eben gerade vielleicht nicht mehr abgetrennt werden können von ihren Produktions- und Entstehungsbedingungen. Darum wird im Rahmen der Wissenssynthese ein Netzwerk gebildet, ein Netzwerk von Datenproduzenten, damit die Daten ihre Fürsprecher haben, damit sie erläutert und verstanden werden können in der Auseinandersetzung mit denjenigen, die sie herstellen. Die Vergesellschaftung des wissenschaftlichen Prozesses, so könnte man hier weiter verallgemeinernd fortfahren, besteht dann darin, dass hier die Datenproduzenten aus ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Situierung heraus an der Datenverarbeitung beteiligt bleiben. Es ist diese Bedingung, die als ein Zeichen für die Vergesellschaftung des technowissenschaftlichen Wissens interpretiert werden kann. Der akademischen Forschung kommt auch hier eine besondere Rolle zu. Sie besteht darin, angesichts dieser enormen Mengen von Daten und ihrer Heterogenität, den Rahmen zu schaffen für die sogenannte Wissenssynthese. Hier geht es tatsächlich nicht in erster Linie um Wissens- oder Datenproduktion, sondern um die Schaffung der idealen gesellschaftlichen Bedingungen unter denen die Daten Bedeutung annehmen können, das »dekonzentrierte Wissen« gesammelt und adressiert werden kann, wie Michel Serres formuliert. Es geht also nicht nur darum, dass die Ökowissenschaft auch eine Art von Ökotechnologie ist, in der es um das Management von Stoffströmen und dergleichen geht. Auch auf der gewissermaßen »höheren« Ebene der Wissenschaft, geht es offenbar um eine Art von Management von Daten und damit um die Zu- und Einordnung von Wissen. Die Rolle der Wissenschaft scheint dann zunächst darin zu bestehen, die richtigen Bedingungen zu erzeugen, unter denen Daten miteinander kommunizieren können. Daraus ergibt sich die letzte Frage, die wieder an die Einleitung anknüpft. Wir haben von den ganzen Heroen der Wissenschaftsgeschichte gehört – Galileo, Newton, Darwin usw., die sich mit ihren großen Ideen und kühnen Hypothesen in die Welt hinaus gewagt haben, um neues Wissen zu produzieren, aber auch das Risiko in Kauf nahmen, mit ihren Hypothesen zu scheitern. Stattdessen sehen wir uns jetzt mit einer sehr viel bescheideneren, andererseits aber gesell394 https://doi.org/10.5771/9783495861004 .
Umweltwissenschaft als Technowissenschaft?
schaftlich viel stärker verankerten Tätigkeit der Wissenssynthese, des Wissensmanagements konfrontiert. Wie setzt man sich ins Verhältnis zu dieser Tradition und diesen Heroen der Wissenschaft? Liselotte Schebek: Ich denke, die Heroen wird es immer geben und daher glaube ich, ist es nicht so sehr das Thema, wie man sich zu einzelnen Heroen ins Verhältnis setzt oder abgrenzt. Ich glaube, der Punkt ist, dass wir in einer Zeit leben, in der die Produktion von Daten und von Informationen aus Daten immer schneller wird und prinzipiell immense Mengen an Daten und Informationen für jeden verfügbar sind. Damit wird die Generierung von Wissen aus Daten und Informationen, die schon da sind, immer wichtiger. Wir wissen ja häufig gar nicht, was wir schon alles wissen, weil es keine konzeptionellen Vorgehensweisen für das Zusammenführen von vielen dezentralen Quellen gibt. Und diese Frage, wie wir vorhandene Daten und Informationen zu Wissen für bestimmte Zusammenhänge zusammensetzen und damit Entscheidungshilfen für gesellschaftlich relevante Probleme generieren, das finde ich sehr charakteristisch für die Gegenwart. Dem weiter nachzugehen würde ich für sehr viel interessanter halten, als sich an der Spannung von Konzeptionen abzuarbeiten, wie der einer heroischen Wissenschaftlerpersönlichkeit im Gegensatz zu einer sozial und kognitiv eng verflochtenen Wissenschaftlergemeinschaft.
Literatur Schebek, Liselotte, K. H. Lieser & M. Höllwarth, »Die Birke (Betula pendula Roth) als Bioindikator für Schwermetallimmissionen«, Angewandte Botanik, 58, 1984, 475–482. Schebek, Liselotte, Andreae O. Meinrat & H.-J. Tobschall, »Methyl- and Butyltin Compounds in Water and Sediments of the Rhine River«, Environmental Science & Technology, 25 (5), 1991, S. 877 Schebek, Liselotte & M. Gernuks, »EMAS II – Erfassung und Bewertung betrieblicher Umweltaspekte bei der VOLKSWAGEN AG«, UmweltWissenschaftsForum, 10, 2002, S. 53–58. Schebek, Liselotte, »Netzwerk Lebenszyklusdaten«, Ergebnisse des 4. und 5. Weimarer Kolloquiums »Analyse von Lebenszyklen« (Schriftenreihe Sozio-ökonomisches Berichtssystem für eine nachhaltige Gesellschaft), 5, 2004, S. 65–66. Schebek, Liselotte, »Materialeffizienz und das Konzept Ökoeffizienz. Perspektiven aus Sicht von Wissenschaft und Praxis«, C. Liedtke (Hg.) Materialeffizienz:
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Liselotte Schebek im Gesprch mit Alfred Nordmann und Astrid Schwarz Potenziale bewerten, Innovationen fördern, Beschäftigung sichern. München: oekom Verlag, 2005, S. 27–36. Schebek, Liselotte, »Ökobilanzen«, O. Gohlke, B. Neukirchen & J. Wiesner (Hg.), Werkzeuge zur Bewertung von Abfallbehandlungsverfahren – Methoden und Ergebnisse, Düsseldorf: VDI, 2006, S. 41–49. Serres, Michel, »Vorwort«, ders. & Nayla Farouki (Hg.), Thesaurus der exakten Wissenschaften, Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2001, S. IX–XXXIX. Uihlein, A., W.-R. Poganietz & Liselotte Schebek, »Carbon flows and carbon use in the German anthroposphere: An inventory«, Resources, Conservation and Recycling, 46, 2006, S. 414–427.
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