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German Pages 280 [277] Year 1988
HEGEL-STUDIEN herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler Beiheft 30
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
DAS BEDÜRFNIS DER PHILOSOPHIE EIN ÜBERBLICK ÜBER DIE ENTWICKLUNG DES BEGRIFFSKOMPLEXES „BEDÜRFNIS“, „TRIEB“, „STREBEN“ UND „BEGIERDE“ BEI HEGEL von Kunio Kozu
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der ersten Auflage von 1988, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.
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Meiner Frau
INHALTSVERZEICHNIS Seite Vorwort
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1. Einleitung 1.1. Fragestellung — zum Stand der Forschung 1.2. Begriffsgeschichtliche Voraussetzung und Einteilung . .
11 11 21
2. Vorgeschichte der Begriffsbildung 2.1. Das Menschenbild eines Gymnasiasten (Stuttgart) ... 2.2. Rezeption der zeitgenössischen Denkrichtungen (Tübingen) 2.3. „Kantianisch“ geprägte Termini (Bern) 2.4. Die Termini im Zusammenhang mit der Konzeption des „Lebens“ (Frankfurt)
29 29 37 53 69
3. Entfaltung einer philosophischen Auffassung des Begriffskomplexes (Jena) 103 3.1. Die frühe Jenaer Entwicklung im Umriß 103 3.1.1. „Bedürfnis der Philosophie“ und „Trieb zur Totalität“ — Kritik an Fichte aus der Nähe zu Schelling 103 3.1.2. „Bedürfnis der Philosophie“ und realphilosophische Bestimmungen in methodischer und inhaltlicher Hinsicht 122 3.1.2.1. Nebeneinanderbestehen des „Bedürfnisses der Philosophie“ in der zweifachen Bedeutung 122 3.1.2.2. Entfaltung der methodisch abzulehnenden Termini in den realphilosophischen Bestimmungen 129 3.1.2.3. Integration des auf das Bewußtsein bezogenen „Bedürfnisses der Philosophie“ in die Entwicklung des Allgemeinen 144 3.2. Annäherung an eine spekulative Auffassung der Termini. 148 3.2.1. Versuch der Grundlegung der Termini in den Jenaer Systementwürfen 148 3.2.1.1. Der „Trieb“ der Idee in einer organischen und teleologischen Bedeutung 148
3.2.1.2. 3.2.2. 3.2.2.1. 3.2.2.2.
Realphilosophische Artikulation der Termini Die Problematik der Phänomenologie des Geistes und die Termini Ausdrücke für die Subjektivitätstheorie Die „Begierde“ des Selbstbewußtseins mit Rücksicht auf die Erfahrung des Bewußtseins
154 167 167 172
4. Spekulative Auffassung des Begriffskomplexes (Nürnberg) . . . 187 4.1. Entwicklung einer spekulativen Bedeutung der Termini . 187 4.1.1. Die Termini als logische Bestimmungen 187 4.1.2. Das Spekulativwerden des „Triebes“ im Zusammenhang mit der Einführung der Ideenlehre in die Begriffslehre 199 4.1.3. „Trieb“ als Prinzip des Systems der Wissenschaft . . . 211 4.1.4. Skizze der Hegelschen Rezeption von Leibniz und Aristoteles sowie eines Vergleichs mit Schellings FreiheitsSchnÜ 216 4.1.5. Die Stellung der Phänomenologie des Geistes in den Nürnberger Enzyklopädie-Kursen 225 4.2. Skizze der Darstellung der Termini im „System der besonderen Wissenschaften“ 230 4.2.1. „Streben“ und „Trieb“ in der Naturphilosophie .... 230 4.2.2. Die Termini in der Philosophie des Geistes 232 4.2.2.1. Die Termini als Bestimmungen des Selbstbewußtseins 232 4.2.2.1.1. Die Struktur des Zusammenhangs der Termini .... 232 4.2.2.1.2. Einführung der „Gemeinsamkeit“ 237 4.2.2.2. Die Termini als Bestimmungen des theoretischen und praktischen Geistes 241 4.2.2.2.1. Die theoretische Funktion des „Triebes“ 241 4.2.2.2.2. „Trieb“ und „Wille“ im praktischen Geist 242 4.2.2.2.3. Systematische Umstellung von „Liebe“ und „Familie“ . . 245 4.2.2.3. Die Termini in den Sphären „Kunst“, „Religion“ und „Wissenschaft“ 249 5. Schlußbetrachtung 251 5.1. Ausblick auf die späte Entwicklung (Heidelberg imd Berlin) 251 5.2. Bedeutung der These in der heutigen Diskussion.... 257 Literaturverzeichnis
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VORWORT Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1985 von der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Sie wurde für die Veröffentlichung leicht überarbeitet, ergänzt und insgesamt gekürzt. An dieser Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. OTTO PöGGELER, Direktor des Hegel-Archivs, für die Förderung der Arbeit und den Mitarbeitern, insbesondere Herrn Dr. HANS-CHRISTIAN LUCAS für viele Anregungen und stilistische Verbesserungen danken. Auch Herrn Prof. Dr. GUNTER SCHOLTZ bin ich zu Dank verpflichtet. Mein Dank gilt nicht zuletzt Herrn YOICHI KUBO, der mir im Gespräch über die Manuskripte geholfen hat. Ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung hat es mir ermöglicht, diese Arbeit zu unternehmen. Mit der freundlichen Erlaubnis der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Berlin) und des Landeskirchlichen Archivs (Nürnberg) konnte ich aus den noch nicht veröffentlichten Schülernachschriften aus Hegels Nürnberger Zeit zitieren. Kunio Kozu
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1. EINLEITUNG 1.1. FRAGESTELLUNG - ZUM STAND DER FORSCHUNG In der gegenwärtigen Welt sehen sich die Menschen verschiedenen Problemen gegenüber, die sich von Lebenserhaltung und Menschenrechten bis zu weltweiter ökologischer Krise und Bedrohung ihrer Existenz durch Kemwaffensysteme erstrecken. Diese Situation veranlaßt sie dazu, das Prinzip der Praxis oder deren Norm zu begründen, damit sich die Menschen mit diesen Problemen auf der Grundlage von Kriterien auseinandersetzen und den Weg zu ihrer Lösung finden können. In der heutigen Diskussion darüber bekommen menschliche Bedürfnisse, deren Befriedigung als Ziel der Praxis der Menschen bezeichnet wird, eine große Bedeutung. Auch die gegenwärtigen Probleme, die als unmenschlich gekennzeichnet werden, sind nämlich nichts anderes als Ergebnisse dieser Praxis, mit der die Menschen oft ohne Kriterien versuchen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen i. Hier stellen sich philosophische Fragen wie die nach dem, was menschlich heißen soll. So werden in den Sozialwissenschaften menschliche Bedürfnisse als ein Brennpunkt dieser Wissenschaften charakterisiert, der im Grunde genommen eine philosophische Natur hat (J. GALTUNG).^ Die Frage ist also philosophisch zu beantworten. Diese Fragestellung, wenn sie voraussetzt, daß menschliche Bedürfnisse in irgendeiner Sozialordnung befriedigt werden können, könnte auf die Kritik stoßen, daß dieser vorausgesetzte Zusammenhang unhaltbar sei. So wird behauptet, es könne keine ideale Sozialordnung geben, die allen Bedürfnissen gerecht wird (H. ALBERT).^ ES geht dabei um die Begriffsbestimmung
' In diesem Zusammenhang schlägt R. Spaemann z. B. vor, die anthropozentrischen Aspekte zu verlassen, mit denen die Menschen die Natur ausschließlich funktional auf ihre Bedürfnisse hin interpretieren (Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik. In: Ökologie und Ethik. Hrsg, von D. Birnbacher. 1980). 2 Vgl. /. Gattung: Menschliche Bedürfnisse. In: Sozialwissenschaften — wozu?, 109f. Hier sieht Galtung die philosophischen Fragen als solche, in denen gefragt wird, was „menschlich“ bedeutet. ’ Vgl. H. Albert: Kritische Vernunft und menschliche Praxis. 200, 209 und 19f, 100, 109, 198.
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Einleitung
der menschlichen Bedürfnisse. Die Kritik beruht auf der Auffassung, daß es nicht nur Bedürfnisse im ökonomischen Sinne (natürliche bzw. Lebensbedürfnisse), sondern auch darüber hinausgehende Bedürfnisse (z. B. das Streben nach Erkenntnis) gebe. Damit könnte die Fragestellung kritisiert werden, die sich auf die im ökonomischen Sinne begrenzte Auffassung gründet. Diese Kritik ist in einem gewissen Sinne berechtigt. In der Begriffsgeschichte scheint nämlich tatsächlich eine solche Vereinfachung geschehen zu sein, wie sie in einer neueren begriffsgeschichtlichen Untersuchung'* erörtert wird. Nach dieser Untersuchung sei der Bedürfnis-Begriff im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert durchweg auf psychologische und ökonomische Aspekte beschränkt und werde ferner von keinen einheitlichen Auffassungen sowohl der Wissenschaftsdisziplinen wie auch innerhalb der Grenzen einer Disziplin her betrachtet. Die Begriffsgeschichte, die zeitlich der von der genannten Untersuchung behandelten vorausgeht, sieht allerdings anders aus. Dazu soll auf Hegels Ausdruck „Bedürfnis der Philosophie“ hingewiesen werden, der m. E. einen beachtenswerten Gesichtspunkt gibt; er geht über den realphilosophischen wie z. B. psychologischen oder ökonomischen Sinn hinaus und erhält einen spekulativen Sinn. Auf der Grundlage dieses Sinnes, d. h. der festgelegten Grundbestimmung des Bedürfnisses, können alle vielfältigen einzelnen Bedürfnisse einheitlich oder systematisch begriffen werden. Seine einheitliche Auffassung des Bedürfnisses wäre eine Antwort auf eine Kritik wie sie etwa bei ALBERT vorliegt. Sie wäre auch in der Lage, zur Lösung der philosophischen Probleme beizutragen, die in der letzten Zeit unter dem Titel „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ behandelt worden sind, insofern es darum geht, das Prinzip der Praxis oder deren Norm zu begründen. Man vergleiche den Hegelschen Ausdruck mit der gegenwärtigen Diskussion. Es wird z. B. vom „Bedürfnis nach einer universalen Ethik“ (K.-0.
* Vgl. H. Krauch: Bedürfnisse und Handeln. In: Verhaltenswissenschaftliche und psychologische Handlungstheorien. Hrsg, von H. Lenk. 1. Halbband. Handlungstheorien interdisziplinär Hl, 238 f. Dabei wird die Bestimmung „Gefühl eines Mangels“ von F. B. W. v. Hermann (Staatswirtschaftliche Untersuchungen. — Nicht in der 1. Auflage (1832), wie bei Krauch angegeben wird, sondern erst in der 2. Auflage (1870) tritt diese Bestimmung auf) als Anfang der psychologischen Bestimmung des Bedürfnis-Begriffs bezeichnet. Hegel gebrauchte diese Bestimmung selbst schon 1797, also am Anfang der Frankfurter Zeit (s. N370), wenn er sie auch noch nicht in den direkten Zusammenhang mit dem Begriff Bedürfnis brachte. Das erste Beispiel des direkten Zusammenhangs beider findet sich in einer Randnotiz Hegels zum Selbstbewußtseinskapitel der Bewußtseinslehre in der Nürnberger Zeit (1809/10, vgl. TW4.118), Hegels Bestimmung geht also der v. Hermanns weit voraus, der möglicherweise auch von Hegel beeinflußt wurde. Sie kann wohl als eine Quelle der psychologischen Bestimmung des Bedürfnis-Begriffs bezeichnet werden.
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APEL)5
gesprochen. Augenscheinlich sind die beiden Ausdrücke sehr ähnlich. Ihre Ähnlichkeit läßt uns vermuten, daß wir wohl in einer Situation leben, die derjenigen Hegels ähnlich ist. Wie Hegel sich anhand seiner Auffassung des Bedürfnisses mit seiner Situation auseinandersetzte, müssen wir die Bedeutung der menschlichen Bedürfnisse in der gegenwärtigen Situation untersuchen. Im Blick auf die gegenwärtigen Probleme in der Bestimmung von Bedürfnissen, erscheint es notwendig, Bedürfnis nicht nur im fachwissenschaftlichen (wie etwa psychologischen oder ökonomischen) Sinn, sondern darüberhinaus philosophisch zu fassen. Der Ausdruck „Bedürfnis nach einer universalen Ethik“ weist wohl auf diese Dimension hin. Es scheint dabei allerdings unerläßlich zu sein, die philosophische Natur des Bedürfnisses zu erörtern, insofern der Zusammenhang von Bedürfnis im fachwissenschaftlichen Sinne mit Bedürfnis in philosophischer Dimension nicht ganz geklärt wird.® Hegels Ausdruck „Bedürfnis der Philosophie“ bietet eine Antwort auf die Frage, welche uns im Hinblick auf das Prinzip der Praxis gestellt wird. Es muß dabei berücksichtigt werden, daß die Antwort auf zweierlei Weise zu geben ist^: nicht nur durch die Festlegung des Bedürfnisses nach der philosophischen Dimension oder nach einer Philosophie (im Hegelschen Sinne der Reflexion), sondern vielmehr auch durch die Einsicht in das Bedürfnis, in dem die Philosophie ihr Wesen zeigt und als das sie sich betätigt (im Hegelschen Sinne der Spekulationen). Die Philosophie geht also über das „Bedürfnis nach einer Philosophie“ hinaus, das dem damaligen Bildungszustand sowie dem durch diesen bestimmten Zustand der Entzweiung der Wirklichkeit entspricht, und richtet sich darauf, die lebendige Totalität wiederherzustellen. Sie hat nämlich ihr Wesen im Bedürfnis nach Wiederherstellung der Totalität. Damit bekommt „Bedürfnis“ eine spekulative Bedeutung, insofern es das Wesen der spekulativen Philosophie aufzeigt. Es fragt sich dann, wie Hegels Begriff „Bedürfnis“ hinsichtlich praktischer Fragen verstanden wird. Der zentrale Streitpunkt der Hegel-Diskussion
5 Vgl. K.-0. Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: ders.: Transformation der Philosophie. Band 2, 359. ® Es ist bei Apel nicht klar, wie sich das „Bedürfnis nach einer universalen Ethik“ auf „alle Bedürfnisse von Menschen“, die „zum Anliegen der Kommunikationsgemeinschaft zu machen sind“, bezieht. Wenn die „Kommunikation“ dem ersteren Bedürfnis nicht immanent ist, sind die beiden Bestimmungen des Bedürfnisses voneinander getrennt. Dann entspräche das erstere Bedürfnis bei Apel dem „Bedürfnis der Philosophie“ als dem „Bedürfnis nach einer Philosophie“, das sich vom „Bedürfnis der Philosophie“ als dem Bedürfnis nach Wiederherstellung der Totalität selbst unterscheidet und dies noch nicht erreicht. Vgl. ders.: op. cit. 425. 7 Über die Differenzierung innerhalb des „Bedürfnisses der Philosophie“ bei Hegel vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. 348. S. 3.1.1. Anm. 4.
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Einleitung
Über Fragen des sittlichen Lebens wird u.a. als das Problem skizziert®, was das Sittliche oder das Vernünftige sei, und wie der Einzelne dies als für ihn persönlich verbindlich erkennen und anerkennen könne. Wenn man die Krise der gegenwärtigen Welt überwinden wolle, komme alles darauf an, daß der Einzelne im Staat nicht nur den „Not- und Verstandesstaat“ sehe, der seine privaten „Bedürfnisse“ befriedige, sondern das „sittliche Universum“, das seine wahre Freiheit ermögliche. Die Bedürfnisse werden hier in einem begrenzten Sinne innerhalb der realphilosophischen Sphäre so betrachtet, daß sie dem Sittlichen entgegengesetzt sind. Der Begriff Bedürfnis wird in den heutigen Hegel-Forschungen tatsächlich meist in ähnlicher Weise verstanden. Dazu soll auf das Verständnis dieses Begriffs in der Diskussion über die Normengenese hingewiesen werden, die in der letzten Zeit von L. SIEP gegenüber der sogenannten Erlanger Schule aufgenommen worden ist. In den beiden sich sonst einander entgegensetzenden Interpretationen wird dieser Begriff fast gleich als etwas Einzelnes ausgelegt. Auf der einen Seite sei nämlich die Gemeinsamkeit des Bewußtseins und Willens auf der Ebene der natürlichen Individualität und ihrer Bedürfnisse überhaupt nicht herzustellen (SIEP),® auf der anderen Seite sei das Bedürfnis etwas der Vergemeinschaftung Entzogenes; Bedürfnisse seien konfliktträchtig; Konflikte seien zwar beseitigbar, aber dies könne nur durch die Willensbildung geschehen (S. BLASCHE).!“ Dieses Verständnis des Bedürfnis-Begriffs, der sich dem Begriff des Sittlichen bzw. des Willens entgegensetzt, ist in der realphilosophischen Sphäre ohne Zweifel berechtigt. Es bleibt allerdings zu klären, wie
* Vgl. W. Oelmüller: Versuch einer Orientierungshilfe für sittliche Lebensformen. In: Philosophische Arbeitsbücher. Hrsg, von W. Oelmüller und R. Dölle. Band 2,76. Begriffsgeschichtlich ist Hegels Begriff Bedürfnis meistens in bezug auf das „System der Bedürfnisse“ im realphilosophischen Sinne berücksichtigt. Dazu vgl. /. B. Müller: Bedürfnis. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg, von J. Ritter. Band 1,766 f; ders.: System der Bedürfnisse. In: op. cit. 774; ders.: Bedürfnis. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg, von O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck. Band 1, 474. Vgl. auch ders.: Bedürfnis und Gesellschaft. 11. ^ Von diesem Standpunkt aus kritisiert Siep die auf dem „Primat der Selbsterhaltung“ beruhende Hegel-Interpretation der Erlanger Schule, weil für Hegel „die bewußte Überordnung eines anderen Zwecks über den der Selbsterhaltung“ „eine notwendige Voraussetzung für Sittlichkeit“ sei (Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. 123,268). Hierwird das Bedürfnis als etwas Naturhaftes betrachtet. Die Kritik an der Erlanger Schule ist insofern plausibel, als nach ihrer Interpretation die Sittlichkeit letztlich nicht vom Bedürfnis unterschieden zu sein scheint. Es scheint nicht klar zu sein, wie die Lösung der Konflikte mit der Grundbestimmung des Bedürfnisses zusammenhängt. Das Bedürfnis wird im Gegensatz zur Vernunft derart betrachtet, daß sich die erste Natur des Menschen der zweiten entgegensetzt. Mit Schwemmer spricht Blasche zwar vom „Bedürfnis der Philosophie“, betrachtet aber das Bedürfnis nur im realphilosophischen Sinne von „System der Bedürfnisse“, also nicht im Zusammenhang mit dem „Bedürfnis der Philosophie“. Damit wird der Prozeß von den von Blasche/Schwemmer genannten
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dieses Bedürfnis mit dem „Bedürfnis der Philosophie“ zusammenhängt. “ In dem Zusammenhang dieser doppelten Auffassung des Bedürfnis-Begriffs muß die Bedeutung der Hegelschen Lehre, die Vernunft könne dem Einzelnen seine wahre Freiheit ermöglichen, gesehen werden, damit die entgegengesetzt interpretierten Bestimmungen, nämlich das Bedürfnis und der Wille einheitlich begriffen werden können. Auch bei den Nebenbegriffen Trieb und Begierde findet sich ein ähnliches Verständnis in den bisherigen Untersuchungen. Diese Begriffe werden auch meist als etwas Einzelnes interpretiert.Einschließlich des Begriffs Bedürfnis scheinen die Begriffe voneinander kaum unterscheidbar zu sein, so daß sie einen Begriffskomplex ausmachen, insofern sie zunächst gemeinsam dem Vernünftigen bzw. dem Willen entgegengesetzt sind. Der Zusammenhang der Begriffe untereinander ist wohl deswegen bisher kaum geklärt worden. Dieser Umstand ist nicht verwunderlich, zumal sie in der Begriffsgeschichte als einander sehr nahestehende Konzeptionen manchmal miteinander verwechselt worden sind; der Zusammenhang der Begierde mit dem Bedürfnis z.B. ist nach einer begriffsgeschichtlichen Untersuchungi“! von daher unklar, daß die Begierde im 18. Jahrhundert durch das Bedürfnis ersetzt worden sei; daraus ist ersichtlich, wie der Unterschied der beiden Begriffe verwischt worden ist. Der gesamte Sachverhalt der vorhergehenden Begriffsgeschichte ist inhaltlich die Voraussetzung für Hegels Auffassung der beiden Termini. Der Unterschied beider ist Hegel aber noch ganz klar, „faktischen Begehrungen“ zum Willen oder „Transzendieren der Subjektivität“ nicht mit der Grundbestimmung des Bedürfnisses erklärt. Vgl. S. Blasche: Bedürfnis und Vernunft. 99 ff; ders.: Natürliche Sittlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. In; Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg, von M. Riedel. Band 2,315,328; ders./O. Schwemmet: Methode und Dialektik. In: Methodologische Probleme einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie. Hrsg, von J. Mittelstraß, 14, 18, 22, 25, 33. o Das Bedürfnis darf nicht nur im Sinne der Reflexion betrachtet werden, wie A. Hager meint: das Bedürfnis zeige die Notwendigkeit der Philosophie. Es wäre dann von der Philosophie selbst getrennt und nur im Sinne von „Bedürfnis nach einer Philosophie“ interpretiert. Hager versteht es sonst im realphilosophischen Sinne. Vgl. ders.: Subjektivität und Sein. 278 f, 252 f, 257, Bei Siep wird der ,Trieb‘ als etwas Naturhaftes betrachtet. Auch die Begierde wird als „aktive Negation des Gegenstandes“ gleicherweise im naturhaften Sinne verstanden. Er erwähnt das Streben nach Anerkennung, das nicht Hegels eigene Bestimmung ist. Es würde der „Begierde überhaupt“ entsprechen, die in der vorliegenden Untersuchung als Begierde I bezeichnet wird. Vgl. ders.: op. cit. 304,214/316,266/308,388. Auch Blasche/Schwemmer erfassen den Trieb nur im naturhaften Sinne, insofern der Trieb dem Begriff entgegengesetzt wird. Vgl. dies.: op. cit. 17 f, 41 f. Vgl. auch A. Hagen: op. cit. 240, 247, 288. Vgl. S. Gasiet: Menschliche Bedürfnisse. 38; S. Blasche: Bedürfnis und Vernunft. 99, 102; S. Mercier-fosa: La notion de besoin chez Hegel, ln: La pensee. 162 (1972), 75. Vgl. V. Kim-Wawrzinek: Bedürfnis, ln: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg, von O. Brunner, W. Conze und R. Kosseleck. Bd I. 445.
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Einleitung
wie sich daran zeigt, daß nach ihm das Bedürfnis als das „Gefühl eines Mangels“ einen Mangel an Totalität aufzeigt und die Begierde hervorruft, diese Totalität wiederherzustellen. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß eine Differenzierung zwischen der Begierde und dem Trieb vorhanden ist. An Stelle der Begierde tritt meist der Trieb auf, während die Begierde als der „unmittelbare Trieb“ in einem naturhaften Sinne charakterisiert wird (dies ist schon in den späten Jenaer realphilosophischen Schriften der Fall, doch terminologisch ist es erst seit der Nürnberger Zeit so festgelegt). Der Trieb enthält also nicht nur die Begierde als seine unmittelbare Form, sondern auch weitere Bestimmungen. Es stellt sich die Frage, ob die dem Begriff Bedürfnis so nahestehenden Begriffe auch die Bedeutung haben, daß sie das Wesen der spekulativen Philosophie mit ausdrücken. Nach den bisherigen Interpretationen scheint es keinen Anhaltspunkt für die spekulative Bedeutung dieser Begriffe zu geben. Der Trieb z. B. scheint als etwas Naturhaftes im völligen Gegensatz zum Willen zu stehen. Diese Interpretation ist im Hinblick auf den Trieb als eine Motivationsform des Menschen freilich berechtigt. Diese Auffassung der beiden Begriffe als Gegensatz war in Hegels Zeit gar nicht selten, sondern vielmehr üblich; dieser Gegensatz entspricht der traditionellen Dichotomie zwischen dem niederen und dem höheren Begehrungsvermögen, die auch für Hegel als etwas Selbstverständliches gegeben war. Wie kann man aber den Sachverhalt verstehen, wenn Hegel ausgerechnet in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, auf deren Darstellung die bisherigen Interpretationen beruhen, vom „absoluten Trieb des freien Geistes“ (Rph § 27) spricht? Offensichtlich setzt der Trieb sich hier dem Willen nicht entgegen, sondern stimmt vielmehr mit dem Willen überein! Diese Konnotation des Begriffs Trieb geht also über die traditionelle Dichotomie hinaus. Damit repräsentiert sie wohl eine neue Denkrichtung in der Begriffsgeschichte dieses Terminus. Nennt man Hegels Philosophie eine Subjektivitätstheorie müßte der Trieb des Geistes als ein Ausdruck dieser Theorie betrachtet werden. Dieser Trieb drückt nämlich die Tätigkeit des Geistes, d. h. die Subjektivität selbst aus und tritt also in einer spekulativen Dimension hervor. Dies bedeutet nichts anderes, als daß der Begriff Trieb als etwas das Wesen der spekulativen Philosophie Ausmachendes eine spekulative Bedeutung hat. In der Auffassung des Begriffskomplexes findet sich also ein Unterschied zwischen seiner spekulativen und realphilosophischen Bedeutung. Dieser Umstand muß freilich hinsichtlich jedes Begriffes innerhalb des Begriffskomplexes bewiesen werden. Beim Begriff Begierde ist es besonders schwie-
'5 Vgl. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik; F. Hogemann / W. Jaeschke: Die Wissenschaft der Logik. In: Hegel. Hrsg, von O. Pöggeler 75—90.
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rig, diesen Umstand zu beweisen. Dieser Begriff tritt, wie gesagt, in den späten Schriften nur im naturhaften Sinne auf. Daß er trotzdem spekulativ sein kann, läßt sich entwicklungsgeschichtlich nachweisen. Er drückt nämlich z. B. in der Frankfurter Zeit gegebenenfalls, wenn auch ausnahmsweise, ein und denselben Sachverhalt mit dem damals grundlegenden Begriff „Liebe“ aus, oder er verkündet die Annäherung an die spekulative Auffassung des Begriffskomplexes überhaupt, die in der späten Jenaer Zeit stattfindet, deutlicher als andere Begriffe. In dieser Hinsicht hat er also einen eigenen Stellenwert innerhalb des Begriffskomplexes und kann auch spekulativ sein. Der Sache nach gehört auch der Begriff „(Be-)Streben“ dem Begriffskomplex an. Dieser Begriff ist bei der Auseinandersetzung Hegels mit dem damaligen Bildungszustand besonders wichtig. Er drückt für Hegel neben dem Begriff Trieb den typischen Standpunkt der Reflexionsphilosophie aus, den Hegel trotz der Anerkennung ihres eigentlichen spekulativen Grundsatzes in der FiCHTEschen Philosophie erkennt und zu überwinden versucht. Hegel bietet gegenüber der reflexionsphilosophischen Bedeutung dieses Begriffs eine spekulative, wie auch beim Begriff Trieb. Der Begriff (Be-)Streben ist damit auch in der Lage, das Wesen der spekulativen Philosophie auszudrücken. Er hat fast die gleiche Rolle wie der Begriff Trieb innerhalb des Begriffskomplexes, nämlich den im Bedürfnis vorhandenen Mangel bzw. die Entzweiung der Totalität zu überwinden und sie wiederberzustellen. In den bisherigen Untersuchungen findet er kaum Erwähnung. Es müßte deshalb unternommen werden, ihm einen angemessenen Stellenwert in der Hegelschen Philosophie zuzuweisen.i« Hiermit werden die Glieder des Begriffskomplexes angegeben. Es fragt sich dann, warum sie zusammen als ein Begriffskomplex anzusetzen sind. Ihre Zusammensetzung als ein Begriffskomplex ist erst dadurch zu legitimieren, daß ihr gemeinsamer Stellenwert für die gesamte Philosophie Hegels nachgewiesen wird, nämlich daß sie miteinander zusammenhängend ein und denselben Sachverhalt des Wesens der spekulativen Philosophie ausdrücken. Der Stellenwert jedes Begriffs kann erst in seiner Rolle als Glied des Begriffskomplexes erklärt werden. Denn einer der betreffenden Begriffe allein kann nicht ganz das Wesen der spekulativen Philosophie ausdrücken. Diese Begriffe treten schon in den Jugendschriften parallel auf. Trotz unterschiedlicher Akzentuierung bleibt der Umstand ihres parallelen Auftretens fast unverändert bis zur späten Zeit bestehen. Es wäre freilich denkbar, daß man weitere Begriffe in den Begriffskomplex in der Weise einordNach O. Höffe läßt sich „Streben“ kaum zur „Prominenz“ der philosophischen Termini zählen (Streben. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg, von H. Krings, H. M. Baumgartner, Chr. Wild. 1419). Als Hegels Terminus ist es aber eine Ausnahme, mit der diese Argumentation rechnen müßte.
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Einleitung
nen könnte, daß einer der von uns aufgeführten Begriffe durch sie verdrängt würde. Aber die betreffenden Begriffe treten häufiger als andere Begriffe auf und zwar von ihnen unabhängig in ein und demselben Kontext. Diese anderen Begriffe könnten als Variationen des Begriffskomplexes oder gegebenenfalls als von ihm abgeleitete Termini angesehen werden, insofern sie einen ähnlichen Sachverhalt wie der Begriffskomplex ausdrücken. Die von uns zu behandelnden Begriffe, die terminologisch festgelegt sind, machen so einen Begriffskomplex aus. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich deshalb darauf, die oben angegebenen vier Termini als Begriffskomplex zu betrachten. Um die Auffassung des Begriffskomplexes in doppelter Bedeutung, nämlich spekulativer und realphilosophischer, klar zu unterscheiden, bezeichnet die vorliegende Arbeit die erstere Bedeutung als den Begriffskomplex I und die letztere als den Begriffskomplex II. Was den Zusammenhang der beiden Arten des Begriffskomplexes angeht, stellt er sich als ein System des Begriffskomplexes dar, der sich in drei Stufen entwickeit: Der Begriffskomplex I bleibt zunächst an sich. Dann erscheint er als der Begriffskomplex II und wird damit für sich. Die beiden stehen einander dabei gegenüber. Schließlich werden beide vereinigt; diese Vereinigung beider kann wohl der Begriffskomplex III genannt werden, der im Hegelschen Sinne „an und für sich“ wird. Die Auffassung dieses Systems ist als Ergebnis der Entwicklungsgeschichte des Begriffskomplexes anzusehen. Dabei geht es um die Entwicklungsgeschichte des Begriffskomplexes I, der für diese Auffassung grundlegend ist. In den bisherigen Untersuchungen wird die spekulative Bedeutung des Begriffskomplexes kaum erwähnt, die Hegels spekulativer Philosophie oder dem System der Wissenschaft als ein wesentlicher Ausdruck zur Verfügung steht. Nimmt man entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen über den Begriffskomplex zur Kenntnis, so merkt man bald eine Lücke hinsichtlich der Untersuchung der Nürnberger Schriften. Die Ursache dieser Lücke besteht im Mangel an Materialien, weswegen es bisher schwierig war, auf die Einzelheiten dieser Schriften näher einzugehen. Die bisherigen Untersuchungen über die Nürnberger Zeit erfassen den Begriffskomplex nur im naturhaften Sinne, auch wenn der Trieb z. B. als etwas bezeichnet wird, das
Als ein solcher Begriff ist z. B. der Begriff „Interesse“ denkbar, der den von uns behandelten Begriffen ziemlich nahe steht und deshalb gelegentlich auch in der vorliegenden Untersuchung beiläufig erwähnt wird. Es fragt sich allerdings, ob er mit den betreffenden so eng verbunden ist, wie diese miteinander verbunden sind. Eine nähere Untersuchung muß einer anderen Arbeit überlassen werden. Von Hegelscher Bestimmung abgesehen macht J. Habermas auf einen engen Zusammenhang des „Interesses“ mit dem Bedürfnis aufmerksam (Erkenntnis und Interesse. 245, 352).
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vom Willen geleitet wird (F. SCHNEIDER)I*; es wird übersehen, daß Hegel auch in diesem naturhaften Trieb eine allgemeine Struktur der Idee findet, die gerade die Wirkung des Willens als Entelechie ermöglicht. Es geht darum, dieser Struktur der Idee einen angemessenen Ausdruck zu geben, der den Vorgang der Leitung des Triebes durch den Willen klären kann. In der Nürnberger Zeit sah Hegel die Aufgabe darin, den konkreten Begriff oder die Methode der spekulativen Philosophie bzw. des Systems der Wissenschaft zu finden.Dies ist ohne Zweifel besonders beim hier betrachteten Begriffskomplex der Fall, weil der genannte Zusammenhang des Triebes mit dem Willen erst durch die allgemeine Struktur der Idee begriffen werden kann, deren Ausdruck in der spekulativen Bedeutung des Triebes gefunden werden könnte. In dieser Struktur können nicht nur der naturhafte Trieb, sondern auch höhere Bestimmungen wie der Wille einheitlich systematisch begriffen werden. In dieser Zeit versuchte Hegel eine solche Struktur mit dem Begriffskomplex auszudrücken, der als das Prinzip der spekulativen Philosophie oder des Systems der Wissenschaft bezeichnet werden kann.20 Auf der Grundlage der mittlerweile aufgefundenen Schülernachschriften^i sollte es möglich sein, die Entwicklung Hegelschen Denkens in der Nürnberger Zeit einer Klärung näher zu bringen.22 Und damit läßt sich möglicherweise die Lücke der bisherigen Interpretationen füllen, in denen der Zusammenhang der logischen Bestimmung in der Wissenschaft der Logik und der realphilosophischen Bestimmung in der Enzyklopädie oder in den Grundlinien kaum berücksichtigt worden ist. Gerade in dieser Zeit erreichte Hegel m. E. einen Standpunkt der spekulativen Bedeutung des BegriffsVgl. F. Schneider: Hegels Propädeutik und Kants Sittenlehre. In: Die ontologische Option. Hrsg, von K. Hartmann, 42. Dazu s. 4.2.2.2.2. Anm. 1. Vgl. auch zu anderen Interpretationen 4.2.2.2.I. Anm. 1 und 2. 18 Vgl. O. Pöggeler: Nachwort zu Fragment aus einer Hegelschen Logik. In: Hegel-Studien. 2 (1963), 69. 8° Es ist bemerkenswert, daß die genannte Struktur an Stelle der Anerkennung aufgetreten ist, als die Anerkennung im Zusammenhang mit der Institutionstheorie zurückgetreten ist. Gerade hier, die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen (z. B. Sieps) über Hegels Jenaer Schriften voraussetzend, setzt die vorliegende Untersuchung ein. Vgl. L. Siep: op. dt. 286. 21 S. E. Ziesche: Unbekannte Manuskripte aus der Jenaer und Nürnberger Zeit in Berlinger Hegel-Nachlass. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 29 (1975), 438 ff; ferner: F. W. Kantzenbach: Hegels Psychologie 1811/12 nach einer unbekannten Nachschrift. In: Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte. 46 (1977), 272 f. Über den Materialienzustand der Nürnberger Schriften vgl. F. Nicolin: Pädagogik — Propädeutik — Enzyklopädie. In: Hegel. Hrsg, von O. Pöggeler, 92 f, 98 ff. 22 Die in Anm. 20 genannte Tatsache hängt wohl damit zusammen, daß Hegel ab 1805 die Ideen des Lebens, des Erkennens usw. in die Umgestaltung der spekulativen Philosophie eingebracht hat. Wie er dies gemacht hat, ist für uns nach Pöggeler nicht mehr genau durchsichtig (Phänomenologie und Logik bei Hegel. 16). Die vorliegende Untersuchung bezieht sich anhand der Schülernachschriften auch auf diese Frage. 18
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komplexes. Dieser Standpunkt entsprang natürlich nicht urplötzlich der Nürnberger Zeit, sondern hatte eine lange Entwicklungsgeschichte seit der Stuttgarter Zeit hinter sich, die bisher auch nicht ausreichend untersucht worden ist. Er war schon in den Jugendschriften tendenziell vorhanden. In der Entwicklungsgeschichte gibt es zwar einige Unterschiede der Akzentuierung innerhalb des Begriffskomplexes, auf welchen Begriff jeweils der Schwerpunkt gelegt wird, aber es bleibt die Tendenz unverändert, mit dem Begriffskomplex den grundlegenden Standpunkt in der jeweiligen Zeit (besonders von der Jenaer Zeit an) auszudrücken. In Nürnberg wurde die philosophische Grundlegung des Begriffskomplexes erreicht. In einem gewissen Sinne ist es deshalb als das Anliegen Hegels seit seiner Jugendzeit anzusehen, solche Tendenz zu einem angemessenen Ausdruck zu bringen. Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung besteht darin, die Entwicklungsgeschichte des Begriffskomplexes zu klären. Im Rahmen der Entwicklungsgeschichte ist zu erörtern, wie Hegels Denken über den Begriffskomplex einerseits vom damaligen Zeitgeist geprägt wurde und wie es andererseits erst durch die Auseinandersetzung mit diesem entstand, damit Hegels eigenes Verdienst im Zusammenhang dieser Begriffsgeschichte geklärt werden kann. Für Hegel waren zwei einander gegenüberstehende Auffassungen über den Begriffskomplex gegeben, d.h. für die eine Seite meinte er etwas Naturhaftes, für die andere Seite etwas darüber Hinausgehendes. Es kam ihm darauf an, wie die beiden Bedeutungen einheitlich begriffen werden können. Hegel stellte die Einheit der beiden Auffassungen seinerseits als die Einheit von Begriffskomplex I und Begriffskomplex II dar. Es geht dabei darum, den Begriffskomplex über die realphilosophische Sphäre, wie Psychologie und Gesellschaftstheorie, hinaus systematisch zu begreifen. Der Begriffskomplex wurde also in der Entwicklungsgeschichte spekulativ.23 In dieser spekulativen Auffassung des Begriffskomplexes liegt wohl Hegels eigenes Verdienst im Zusammenhang der Begriffsgeschichte, das auch zur Lösung der heutigen praktisch-philosophischen Probleme beitragen könnte.
Bisher gibt es einige Untersuchungen, die die spekulative Bedeutung des Bedürfnisses, von den anderen Begriffen abgesehen, bemerken. Bei ihnen bleibt noch zu betrachten, wie dieses Bedürfnis mit dem realphilosophischen Bedürfnis zusammenhängt. Vgl. Th. W. Adorno: Drei Studien zu Hegel 78, 85; /. M. Ripalda: The divided nation. 50; S. Gasiet: op. dt. 35 ff, 50; G. Schulte: Hegel oder das Bedürfnis nach Philosophie. 11. Zur Bedeutung des Bedürfnisses im Zusammenhang mit der Begierde und dem Trieb vgl. M. Riedel: Theorie und Praxis im Denken Hegels. 118. Im Hinblick auf den Zusammenhang der beiden Bedeutungen des Bedürfnisses versucht Pöggeler, die beiden Bedeutungen in einer einheitlichen Bestimmung zu erfassen (Phänomenologie und Logik bei Hegel 4 f).
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1.2. BEGRIFFSGESCHICHTLICHE VORAUSSETZUNG UND EINTEILUNG Im Hinblick auf die von uns behandelten Termini ist die Geschichte des Einflusses der vorhergehenden Denker auf Hegel wohl fast der Begriffsgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gleichzusetzen, weil Hegel viel von diesen Denkern lernte und tief in der damaligen geistigen Atmosphäre lebte. In einem Fragment aus der Berner Zeit nennt Hegel seine Anreger, die er hoch schätzt, und von denen er stark beeinflußt wird, nämlich SPINOZA, SHAFTESBURY, ROUSSEAU und KANT (S. N 51). Dazu muß man auch viele andere zählen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit Hegel stehen und für seine Begriffsbildung einflußreich sind. (Verschiedene Auffassungen, die auf Hegels Denken über die betreffenden Termini Einfluß ausüben, machen von der Seite Hegels gesehen wohl die Materialien aus, die den Teilen seiner späten systematischen Auffassung entsprechen und als begriffsgeschichtliche Voraussetzungen diesen Teilen vorausgehen.) In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird über die Erziehung bzw. Bildung sowie die Geschichte des Menschen sehr häufig diskutiert. Dabei stehen die Termini Trieb, Begierde, Bedürfnis und (Be-) Streben als Zentralbegriffe im Vordergrund der Diskussion, insofern es sich um die Bildung des Menschen handelt, die mit der Veränderung dieser Bestimmungen zusammenhängt. Um von dieser Veränderung zu sprechen, muß vorausgesetzt werden, daß der Trieb usw. von einem negativen Werturteil befreit werden und auch etwas Positives sein kann. Sonst kann nicht über die Bildung des Menschen im aufklärerischen Sinne geredet werden, denn ohne solche Voraussetzung gibt es keine Möglichkeit außer der Gnade Gottes, den Menschen über das moralische Böse hinaus zu erheben (z. B. LUTHER). In der Aufklärung wird die Auffassung der Termini Trieb usw. schon vom moralischen Werturteil befreit. Die Grundlage dafür wird von SHAFTESBURY entsprechend der Tradition seit HOBBES in dem Sinne gelegt, daß Trieb usw. an sich gar nichts moralisch Böses ist und außerdem nicht nur eine bloß negative Bedeutung, sondern auch im Gegensatz zum Standpunkt von HOBBES eine positive hat. Dieser Terminus wird also im moralischen Werturteil neutralisiert. Der Standpunkt von SHAFTESBURY steht, wie bekannt, dem von HOBBES gegenüber, welch letzterer im Gegensatz zu DESCARTES den neuen Bereich der Sozialphilosophie begründet. Nach HOBBES findet sich der Mensch in der Dimension der Individualität, die im „desire“ liegt. In dieser Dimension wird „desire“ in einem einzelnen Sinne betrachtet, dem die Fähigkeit der Allgemeinheit fehlt. Hier entsteht das Problem, ob der „desire“ allgemein sein kann. SHAFTESBURY antwortet auf diese Frage positiv. STEUART und SMITH, denen Hegel ökonomische Kenntnisse verdankt.
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bleiben der Auffassung seit SHAFTESBURY treu, dabei rückt „desire“ bzw. „want“ in den Vordergrund, das aber als etwas Selbstverständliches in ihrer sogenannten „commercial society“ vorausgesetzt und deshalb für sich selbst nicht geklärt wird. (Sozialphilosophisch, vor allem im ökonomischen Bereich bekommt bei Hegel der Terminus Bedürfnis Gewicht, dessen gesellschaftlicher Charakter in der bürgerlichen Gesellschaft als dem „System der Bedürfnisse“ artikuliert wird, vorausgesetzt, daß die der HoBBEschen Bestimmung des Menschen ähnliche Begierde des Selbstbewußtseins aufgehoben wird.) In der französischen Aufklärung wird „desir“ bzw. „besoin“ positiv eingeschätzt und für theoriegrundlegend gehalten (z. B. HELVETIUS). In diesem Punkt ist ROUSSEAU auch ein und derselben Meinung. Auch bei dem Niederländer HEMSTERHUIS dessen Lehre über den „desir“ von HERDER ins Deutsche übersetzt worden ist, ist dies der Fall. Hierbei stellt sich die Frage, wie die entgegengesetzten Charakterisierungen des Terminus (d.h. die positive oder negative Bewertung) miteinander Zusammenhängen. Darauf antwortet ROUSSEAU mit der Ansicht, daß sich das „besoin“ entwickelt. Nach ihm ist jeder Charakter des „besoin“ eine Form seiner Entwicklung. Im Denken ROUSSEAUS kann man also, wenn auch nur ahnungsweise, die Entstehung eines geschichtsphilosophischen Standpunktes gegenüber den Termini finden, der dann von HERDER weiterentwickelt wird. Diesen Standpunkt übernimmt Hegel und begreift ihn viel grundsätzlicher als seine beiden Anreger. Es wird nun versucht, den Zusammenhang der beiden Charakterisierungen aus der Sicht der geschichtlichen Entwicklung zu betrachten. (Der geschichtsphilosophische Standpunkt ist für die Hegelsche Auffassung der Termini grundlegend in dem Sinne, daß die Entstehung des negativen Charakters geschichtlich erklärt und die Auseinandersetzung damit legitimiert wird. Auf diesem Standpunkt gründet sein Denken im allgemeinen als das „Bedürfnis der Philosophie“ angesichts des damaligen Bildungszustandes der Reflexionsphilosophie.) Über die Neutralisierung des Terminus Trieb gibt es in Deutschland für Hegel zwei Ansichten. Einerseits wird der Trieb als der Ausdruck der natürlichen Seite des Menschen, die er mit dem Tier gemeinsam hat, für negativ gehalten. Der Trieb als das „niedere Begehrungsvermögen“ wird dem Willen als dem „höheren“ entgegengesetzt (Vermögenspsychologie). Andererseits wird der Trieb ganz entgegengesetzt als etwas Positives für den Menschen bezeichnet. Diese Auffassung, die heute verschwunden zu sein scheint, ist nicht selten in der aufklärerischen Zeit. Bei KANT kann man ein typisches Beispiel für die Dichotomie der beiden Begehrungsvermögen gemäß dem ersten Standpunkt finden. Der Trieb ist einerseits zwar vom moralischen Werturteil befreit, da sich das Problem des Guten und Bösen nur im Willen finden läßt, aber andererseits im Gegensatz
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zum Willen nur für eingeschränkt und manchmal negativ gehalten. Nach seinem Standpunkt muß man wohl darauf verzichten, vom Trieb aus die Allgemeinheit zu erreichen. Auch hier findet sich ein neuzeitlicher unlösbar scheinender Gegensatz zwischen dem allgemeinen Willen und dem nur einzelnen Trieb. (Die Auffassung des Triebes als einer Motivationsform des menschlichen Verhaltens im auf die Psychologie bezogenen Bereich macht einen unentbehrlichen Teil des Hegelschen Systems aus.) Während die Ansicht des ersten Standpunktes noch lebendig ist, befreien sich einige Denker vom Rahmen dieser Theorie (z. B. WINCKELMANN, LESSING, ISELiN, HERDER, SCHILLER). Bei ihnen wird der Trieb nicht nur auf seinen physischen, sondern auch auf seinen geistigen Sinn hin betrachtet. Er ist kein partielles Vermögen des Menschen mehr, sondern sein ganzheitliches Verhalten. Hier zeigt sich wohl die Entstehung der Ansicht, daß der Mensch als ein Ganzheitliches zu betrachten ist. Diese Richtung gelangt an die Spitze bei JACOBI, der sich KANT entgegensetzt, insofern er den Trieb selbst für den Willen hält oder den Willen vom Trieb ableitet. Er äußert diese Auffassung in seinen Spinoza-Briefen, die den Tübinger Stiftlern die Gedanken SPINOZAS zugänglich machen, der sich schon ähnlich äußerte. Ähnliche Auffassungen finden sich in verschiedenen Bereichen und werden in Zusammenhang mit der genannten Richtung artikuliert. Im naturphilosophischen Bereich, besonders in der Theorie des Organismus spielen die fachwissenschaftlichen Kenntnisse etwa über den „Bildungstrieb“ (BLUMENBACH) wohl eine wichtige Rolle für die Entstehung und Entwicklung der neuen Richtung. Sie werden von mehreren Denkern nicht nur im naturphilosophischen Sinne übernommen, sondern auch im geistesphilosophischen Bereich umformuliert. (Der junge Hegel teilt zwar den Ausdruck Bildungstrieb nicht, aber seine naturphilosophische Betrachtung über den Organismus steht in einer ähnlichen Richtung, die im Organischen eine kontinuierliche Tendenz wie den Trieb, sich zu erhalten, findet.) Ästhetische Auffassungen wie die über den „Spieltrieb“ (SCHILLER) setzen sich der Dichotomie der Begehrungsvermögen entgegen. In diesem Bereich wird die neue Auffassung stark hervorgehoben, die von F. SCHLEGEL und SCHELLiNG fortgesetzt wird. (Hegels Bestimmung „das allgemeine Bedürfnis zur Kunst“ ist wohl seine Antwort auf die Frage, die von diesen Denkern gestellt wird.) Nach der religiösen Auffassung der neuen Richtung erstreckt sich das geistige Verhalten des Menschen, das mit Begierde bzw. Trieb ausgedrückt wird, bis zur Dimension des Glaubens. Diese von HEMSTERHUIS wohl zuerst geäußerte Auffassung wird in Deutschland erst von JACOBI und dann von SCHLEIERMACHER weiterentwickelt. (Das „Bedürfnis der Religion“ bleibt als Hegels Anliegen unverändert seit der Jugendzeit bestehen und
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drückt eine der höchsten Formen des menschlichen Verhaltens, nämlich im Bereich des „absoluten Geistes“ aus.) Angesichts der verschiedenen Bestimmungen der Termini entsteht die Frage, wie diese Bestimmungen einheitlich begriffen werden können. Es geht um die Bildung der Philosophie als System. Diese Aufgabe wird von FICHTE gestellt, dessen Begriff Streben bzw. Trieb als einseitig vom Standpunkt der Liebe (HöLDERLIN) aus kritisiert und als ein ästhetischer (SCHELLING) umformuliert wird. (Auch Hegel kritisiert den Fichteschen Begriff aus der Nähe zu HöLDERLIN und SCHELLING. Über den HöLDERLIN nahen Standpunkt hinausgehend und die ScHELLiNGsche Auffassung des „Bedürfnisses, zu philosophieren“ seinerseits übernehmend entwickelt er ein neues Prinzip des „Triebes der Idee“, der das „Bedürfnis der Philosophie“ befriedigen soll, während FICHTE und schließlich auch der frühe SCHELLING den Trieb von ihren systematischen Grundsätzen getrennt betrachten.) Gegenüber den Fragen nach der Bedeutung der Termini aus der Begriffsgeschichte versucht Hegel darauf mit der Auffassung ihres Spekulativwerdens zu antworten. Auf dieser Grundlage lassen sich z. B. verschiedene Formen des Triebes als dessen Entwicklung einheitlich begreifen. Es gibt nämlich im jeweiligen Trieb die grundlegende Struktur, einen Widerspruch zu überwinden. Diese Struktur liegt der gesamten Reihe von Gestalten des Geistes zugrunde, der alles faßt, d. h. von seinem spekulativen Standpunkt aus begreift. Die Formen sind natürlich voneinander verschieden. Ein Unterschied findet sich z. B. zwischen dem tierischen und dem menschlichen Trieb. Der Trieb entwickelt sich vom ersteren zum letzteren. Der menschliche Trieb hat dann einen doppelten Charakter, nämlich sowohl den negativen als auch den positiven. Seine Entwicklung findet in der Geschichte statt, in der sein jeweiliger Charakter geschichtsphilosophisch bewertet wird. Dieses Spekulativwerden des Triebes, das ermöglicht, auch im unmittelbaren Trieb eine gemeinsame Struktur zu finden, ist der Höhepunkt der Verallgemeinerung dieses Terminus bei Hegel. Mit dieser Auffassung sieht er über den realphilosophischen Bereich hinaus den gesamten Sachverhalt spekulativ. Die von uns behandelten Termini werden in ihrem gegenseitigen Zusammenhang einheitlich betrachtet und in den verschiedenen Bereichen der Enzyklopädie systematisch begriffen. Versuchen wir, das Besondere der Hegelschen Auffassung in Abhebung von den vorhergehenden Auffassungen zu charakterisieren. Abgesehen von der Auffassung, die noch nicht vom traditionellen Werturteil befreit ist, wird im Rahmen der moralischen Neutralität der Trieb zwar als der Ausdruck für etwas bezeichnet, das dem Menschen unentbehrlich ist und deshalb anerkannt wird, sei es positiv oder negativ. Daraus ergibt sich nämlich, daß es ein Grundproblem für die Lehre vom Menschen ist, wie man diesen Terminus auffaßt. Aber die oben erwähnten Auffassungen von Denkern vor Hegel
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sind noch meist dadurch gekennzeichnet, daß sie den Trieb für etwas Festes halten, ihnen fehlt deshalb die Einsicht in die Entwicklung des Triebes und in den systematischen Zusammenhang seiner verschiedenen Formen, die Hegel ganz bewußt, unseres Wissens zum ersten Mal in der Begriffsgeschichte, erreicht. In der Auffassung des Spekulativwerdens des Triebes liegt also Hegels origineller Beitrag zur Begriffsgeschichte. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß Hegel mit dieser Auffassung auf die gleichsam urtraditionelle zurückgreift. Er kehrt nämlich zu der Tradition vor der dichotomischen Auffassung, d.h. zu der LEiBNizens und darüber hinaus zu der von ARISTOTELES zurück. Dabei handelt es sich darum, einen angemessenen Ausdruck für den Standpunkt seiner Subjektivitätstheorie, die über die spinozistische Auffassung der Substanz hinaus diese als das Subjekt begreift, zu finden. Die Auffassung des „Triebes der Idee“ ist nichts anderes als Hegels Versuch, auf der Grundlage der Tradition seit ARISTOTELES, besonders mit der Auffassung des teleologischen Schlusses, die Selbstentwicklung der Bestimmtheiten selbst als die Entwicklung dieses Triebes zu verstehen. Mit diesem Versuch gibt Hegel der Tradition wohl einen neuen Inhalt, der gegenüber der heutigen Diskussion in Hinblick auf das Prinzip der Praxis einen Hinweis bieten könnte. Die Auffassung des „Triebes der Idee“ konnte Hegel allerdings gar nicht leicht erreichen. Er mußte sich lange darum bemühen, durch die Auseinandersetzung mit den vorhergehenden Auffassungen seine eigene zu gewinnen. Dieser Umstand macht es notwendig, auf die Entwicklungsgeschichte bis zu dieser Auffassung einzugehen. Damit dürften wir hoffen, das Anliegen dieser Auffassung und seine Bedeutung verstehen zu können. Die Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Begriffskomplexes ist nichts anderes als die der „Sprachfindung“, welche H.-G. GADAMER in bezug auf die Problematik „Begriffsgeschichte als Philosophie“ erörtert. i GADAMER erklärt aufschlußreich, daß „der philosophische Sprachgebrauch“ als ein „gewaltiger denkerischer Aufschwung“ aus der Dimension „des lebendigen Sprachgebrauchs“ entsteht. Nach ihm besteht das „große atemberaubende Drama der Philosophie“ darin, daß sie die „ständige Bemühung um Sprachfindung“ oder ein „beständiges Erleiden von Sprachnot“ ist: „Die Begriffsgeschichte hat einer Bewegung des Gedankens zu folgen, die immer über gewohnten Sprachgebrauch hinausdrängt und die Bedeutungsrichtung von Wörtern aus ihrem ursprünglichen Verwendungsbereich löst, erweiternd oder begrenzend, vergleichend und unterscheidend“. Dies ist auch bei Hegel der Fall. Den betreffenden Termini, die meistens in einem begrenzten Sinne des Verstandes gebraucht worden waren, wurde nach seiner Definition der ' Vgl. H.-G. Gadamer: Begriffsgeschichte als Philosophie. In: ders.: Kleine Schriften III. 243 ff; ders.: Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie.
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spekulative Sprachgebrauch gegeben. Gadamer sagt; „Nur der denkt philosophisch, der angesichts der verfügbaren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ein Ungenügen empfindet, und nur dann denkt man mit, wenn man die Not dessen wirklich teilt“. Gerade auf diese Weise setzte Hegel sich mit den vorhergehenden Ausdrucksmöglichkeiten auseinander. Es wäre zu hoffen, Hegels „Sprachnot“ wirklich zu teilen. Hegel war in einer „Sprachnot“ in dem Sinne, daß er zunächst für seinen hervortretenden eigenen Standpunkt keinen angemessenen Ausdruck finden konnte. Die Entwicklungsgeschichte seines Denkens besteht wohl darin, einen neuen „philosophischen Sprachgebrauch“ der Termini für den verlangten Ausdruck zu schaffen, um so entscheidende Tendenzen seines Denkens im allgemeinen mit diesen Termini ausdrücken zu können. In dieser Entwicklungsgeschichte finden sich drei Stadien, die jeweils den Gegenstand eines Kapitels der vorliegenden Arbeit ausmachen; Vorgeschichte der Begriffsbildung (2.), Entfaltung einer philosophischen Auffassung des Begriffskomplexes (3.) und spekulative Auffassung des Begriffskomplexes (4.). Zuerst stand Hegel in seiner Jugendzeit unter dem Einfluß der verschiedenen Auffassungen der vorhergehenden Denker und schien kaum eine eigene abweichende Auffassung zu haben. Gemäß seiner damaligen Denkrichtung enthält die Auffassung der Termini weniger einen philosophischen Inhalt als einen gleichsam empirischen und religionsgeschichtlichen. Der humanistisch-aufklärerisch erzogene Junge begegnete in Tübingen den zeitgenössischen Denkrichtungen, deren Extreme die KANiische und die der Empfindsamkeit bildeten. Er stand zwischen den beiden Denkrichtungen. Trotz des Einflusses von KANT dachte er so flexibel, daß im Hinblick auf die betreffenden Termini die Vernunft und die Sinnlichkeit nicht entgegengesetzt betrachtet werden können. In Bern neigte Hegel dagegen dazu, sein Denken mit dem kantianischen zu identifizieren. Aber in Einzelheiten wich sein Denken dennoch von dem KANiischen ab. Bei dieser Abweichung spielte insbesondere der Einfluß von SCHILLER und HERDER eine wichtige Rolle. In Frankfurt vertrat Hegel gewissermaßen wieder eine ähnliche Auffassung wie in Tübingen, in der aber die betreffenden Termini auf der Grundlage der Liebe oder des Lebens geschichtsphilosophisch begriffen wurden; damit stand er offenbar HöLDERLIN sehr nahe. In der Jugendzeit entstand langsam der Unterschied zwischen den Termini. Diegleichsam verallgemeinerte Auffassung war zunächst nur beiläufig zu finden und terminologisch noch nicht festgelegt. Während des fortschreitenden Gedankengangs wurde allerdings ein Aufschwung zur philosophischen Auffassung vorbereitet, was gerade gegen Ende der Frankfurter Zeit bemerkt werden kann. Dann betrachtete Hegel in Jena den Sachverhalt aus der Perspektive des „Bedürfnisses der Philosophie“ und setzte ihn damit in die Dimension der
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Philosophie, in der er sich mit dem damaligen Bildungszustand der Reflexionsphilosophie auseinandersetzte. Er stellte seinen eigenen Standpunkt dem damals üblichen gegenüber. Ein Terminus des Begriffskomplexes hatte also dementsprechend einen zweifachen Sinn, nämlich entweder den Sinn der Vernunft oder den des Verstandes. Die Auseinandersetzung mit der damaligen Reflexionsphilosophie war im Hinblick auf die von uns behandelten Termini notwendig, weil der nach dem Verständnis Hegels durch die FiCHTEsche Philosophie vertretene Standpunkt der Reflexionsphilosophie, der gerade mit dem Streben bzw. Trieb ausgedrückt wurde, zu überwinden war. Dabei stand Hegel zwar in der Nähe von SCHELLING auf der Grundlage ihres gemeinsamen spinozistischen Standpunktes, aber er richtete sich unbemerkt auf eine andere Auffassung als bei SCHELLING. In der Entwicklungsgeschichte handelt es sich von nun an darum, die im „Bedürfnis der Philosophie“ enthaltene zweifache Bedeutung einheitlich zu begreifen. In der frühen Phase wurde zunächst die vernünftige Bedeutung der Termini gegenüber der verständigen betont, womit das praktische Anliegen Hegels stark betont wurde. Diese Betonung seines praktischen Anliegens wurde dann durch die Bildung der Philosophie selbst ersetzt oder geschwächt, insofern die Philosophie im ganzen als etwas bezeichnet werden konnte, das das „Bedürfnis der Philosophie“ befriedigen soll. Dementsprechend wurde dieses Bedürfnis als etwas auf das Bewußtsein Bezogenes verstanden, welches sich auf die verständige Bedeutung beschränkt. Es kommt darauf an, wie das auf das Bewußtsein bezogene „Bedürfnis der Philosophie“ in die Bewegung des Absoluten eingeordnet werden kann. Dies wurde in der späten Phase dadurch versucht, daß Hegel die Nebenstellung der zweifachen Bedeutung einerseits durch die Subjektivitätstheorie, andererseits durch den phänomenologischen Ansatz, der zwar einen Teil dieser Theorie ausmachen soll, aber seinerseits eine selbständige Sphäre bildet, überwinden wollte. In der subjektivitätstheoretischen Richtung, vor allem in der des teleologischen Schlusses trat eine mögliche Form des Triebes der Idee auf, die aber noch nicht terminologisch festgelegt war. Ein neuer Weg wurde durch die phänomenologische Problematik der „Erfahrung des Bewußtseins“ erschlossen, in dem Sinne, daß die Phänomenologie des Selbstbewußtseins die spekulative bzw. subjektivitätstheoretische Bedeutung der Begierde deutlich macht, welche die zweifache Bedeutung des Terminus einheitlich begreifen läßt. Außerdem wurden realphilosophische Bestimmungen vielfältig artikuliert. Am Ende dieser Zeit wurde ein nochmaliger Aufschwung zum Spekulativwerden des Begriffskomplexes vorbereitet. Im dritten Stadium versuchte Hegel in Nürnberg, eine neue Art der Auffassung der Termini zu schaffen, die als ein wesentlicher Ausdruck für seine Subjektivitätstheorie dienen soll. Hier trat der „Trieb der Idee“ als Prinzip des Systems der Wissenschaft auf, auf dessen Grundlage das gesamte Wis-
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sen als das System der Wissenschaft organisiert werden soll. Innerhalb dieses Stadiums war es nicht eben leicht, diesen Standpunkt zu erreichen, insofern es dabei nicht um ein einzelnes Phänomen ging, das in den realphilosophischen Untersuchungen der Jenaer Zeit artikuliert wird, sondern um das Prinzip des Systems der Wissenschaft im allgemeinen. Der Terminus Trieb erschien zwar in der Logik, aber zunächst nicht im spekulativen Sinne. Als realphilosophische Bestimmmung wurde er wie andere in einem begrenzten Sinne des Verstandes gebraucht. In einem gewissen Zeitraum wurde dieser Umstand dadurch geändert, daß die Idee als die innere Zweckmäßigkeit begriffen und deren Lehre in die Begriffslehre eingegliedert wurde. Insofern die Idee somit im teleologischen Schluß betrachtet wurde, nahm der Trieb als Ausdruck dieser Idee eine grundlegende Stellung in der gesamten Philosophie ein. Dabei griff Hegel auf die der Auffassung der Dichotomie der Begehrungsvermögen vorhergehende Tradition zurück, die er vor allem über LEIBNIZ hinaus von ARISTOTELES übernahm. Dabei wurde er möglicherweise auch durch SCHELLINGS Freiheits-Schnh angeregt. Wichtig ist, daß in diesem Gedankengang eine parallele Wandlung der Auffassung in den logischen und realphilosophischen Bestimmungen stattfand. Diese Parallelität war in den letzteren besonders im Selbstbewußtseinskapitel der Nürnberger Fassungen der Phänomenologie des Geistes und in der Psychologie besonders auffällig. Als Bestimmungen des Selbstbewußtseins treten die Termini Trieb, Bedürfnis und Begierde auf und unterscheiden sich voneinander. Der Trieb hat eine spekulative bzw. subjektivitätstheoretische Bedeutung. Das Bedürfnis liegt ihm zugrunde. Dagegen wird die Begierde im unmittelbaren Sinne begrenzt. In der Psychologie wurde zum ersten Mal die Auffassung der Idee als der inneren Zweckmäßigkeit geäußert, die in der Logik als das System leitend bezeichnet werden soll. Trotz des Unterschiedes zwischen dem Willen und dem Trieb haben die psychologischen Bestimmungen eine gemeinsame Struktur, die durch die Auffassung des „Triebes der Idee“ begriffen werden kann. Auf der Grundlage des neuen Standpunktes wurde von einem gewissen Zeitpunkt an das System der Wissenschaft organisiert. Die Gebiete, in denen die Termini erscheinen, wurden vervielfältigt. Der Zusammenhang der zweifachen Bedeutung der Termini wurde klar. Hegels Subjektivitätstheorie fand ihren angemessenen Ausdruck in diesem Zusammenhang. Die weitere Entwicklungsgeschichte kann in der vorliegenden Untersuchung nicht behandelt werden und muß einer anderen überlassen bleiben. Es sei erlaubt, darüber nur soviel zu sagen, daß außer weiterer Präzisierung das grundlegende Prinzip des Systems der Wissenschaft unverändert bestehen bleibt, nämlich als der „Trieb der Idee“. Daher schließt die vorliegende Arbeit mit einigen Hinweisen auf die späte Entwicklung und die Bedeutung der These in der heutigen Diskussion.
2. VORGESCHICHTE DER BEGRIFFSBILDUNG 2.1. DAS MENSCHENBILD EINES GYMNASIASTEN (STUTTGART)
Das Denken des Gymnasiasten Hegel in Stuttgart konzentriert sich hauptsächlich auf verschiedene Verhaltensweisen des Menschen h die nicht nur auf einer individuellen (alltägliches Leben), sondern auch auf einer überindividuellen Ebene^ (Geschichte, Religion, Staat usw.) vorhanden sind. Sie werden nach dem Maßstab der Aufklärung oder Vernunft bewertet. Einige von ihnen werden mit den von uns behandelten Termini ausgedrückt. Für Hegels Standpunkt der aufklärerischen Vernunft in diesem Zeitraum bedeuten diese Termini viel mehr als einige bloße Beispiele des Verhaltens des Menschen. Sie bezeichnen einen wichtigen Teil der Verhaltensweisen, die im Hinblick auf die Geschichte der Menschheit behandelt werden. In dieser Geschichte wird die Aufklärung thematisiert. Das Niveau der Aufklärungwird nämlich dadurch aufgezeigt, auf welche Weise in der Geschichte der Menschheit z. B. die Begierde befriedigt wird. Die betreffenden Termini nehmen also in dem Sinne eine Schlüsselstellung ein, daß eine bestimmte Weise der Befriedigung der Begierde den Inhalt des grundlegenden Standpunktes der Aufklärung konkret darstellt. Diese Auffassung wird allerdings erst in der Entwicklung des Hegelschen Denkens innerhalb dieses Zeitraumes klar. Am Anfang bemüht sich Hegel darum, die Verhaltensweisen des Menschen sachlich^ zu beschreiben. Auf der Grundlage dieser sachlichen Betrachtung wird dann später versucht, die Phänomene unter einer geschichtlichen Hinsicht zu charakterisieren. Die erste Spur“* der Konzeption der betreffenden Verhaltensweisen findet sich in Hegels Tagebuch. Hegel betrachtet Begierde bzw. Appetit in einem physischen Sinne zunächst auf der individuellen Ebene. Für ihn stellt diese Verhaltensweise nichts Pejoratives dar: „Da ich Kirschen mit vilem Appetit
* Vgl. H. S. Harris: Hegel’s development. Toward the sunlight. 1770—1801. 4, 7, 30. 2 Vgl. Th. Haering: Hegel. 1.19 ff. 3 Vgl. Th. Haering: op. dt. 1.13 f. '* Zur Chronologie der Jugendschriften s. G. Schüler: Zur Chronologie von Hegels Jugendschriften. In: Hegel-Studien. 2 (1963), 111—159.
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aß, und mich herrlich erlabte, und glücklich schäzte, sah jemand anders ... mit Gleichgültigkeit zu, und sagte, in der Jugend glaube man, man könne unmöglich an einem Kirschweib Vorbeigehen, ohne daß einem das Maul... darnach wässere; in ältern Jaren aber könne man fast einen Früling vorbeirollen lassen, one eben so darnach zu schmachten; ich dachte hiebei den für mich ziemlich leidigen (aber doch allerweisesten) Saz: daß man in der Jugend wo man aus unhaltbarer Begierde gewiß seine Gesundheit in schlechte Umstände versezen würde, nicht so viel essen KÖNNE, im Alter nicht MOEGE.“ (28.6.1785, HiS 33) In dieser frühen Äußerung behandelt Hegel die Begierde wertfrei, ja sie ist für ihn persönlich ein normales und selbstverständliches Verhalten und eine „herrliche“ und „glückliche“ Sache. Dies zeigt, daß Hegels Bestimmung der Begierde schon vom Anfang an von einer bestimmten moralischen oder theologischen Bewertung wie bei LUTHER (S. 2.3.) befreit ist. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß auch die negativ beurteilte Charakterisierung einiger ähnlicher Verhaltensweisen vorhanden ist. Diese Charakterisierung kommt in der auf lateinisch geschriebenen Fortsetzung des Tagesbuches vor: nämlich über „libido“ und „cupido“. Dabei verläßt Hegel die individuelle Ebene und beobachtet diese Verhaltensweisen auf der überindividuellen Ebene. Sie werden negativ beurteilt, insofern sie sich auf den Ruhm beziehen. Als solche hätten sie den Staaten und den Leuten Unglück gebracht: „honoris libido, publicas clades maximas attulit, sociata cum imperii cupidine.“ (23.8.1785, HiS 46) Wenn diese Verhaltensweisen mit guten Taten verbunden sind, werden sie allerdings nicht negativ beurteilt. Nur die guten Taten, die nicht um der Ehre, sondern um der Tugend willen gemacht werden, sind lobenswert: „Multa quoque bonasequuta esse, nemo negaverit, si homini, qui captus a libidine fuit, quaesivit honorem ex bene factis ... Recte enim facta, ubi virtute perpetrentur, non lucri sui cupidine, ea maxime sunt laudanda.“ (22.12.1785, HiS 50) Die Begierde nach Gold und Reichtum wird der christlichen Tradition entsprechend als etwas Pejoratives bezeichnet: „Ordiamur jam auri opumque libidinem; quae sive sordida avaritia est, sive dehonestans pecuniae injuria quaerendae cupido.“ (23.12.1785, ebd.) Hier zeigt sich, daß es dem jungen Hegel vor allem um den Entwurf eines Menschenbildes geht, das sowohl die individuelle als auch die überindividuelle Ebene umfaßt. Die Beispiele der Verhaltensweisen nimmt Hegel aus dem alltäglichen Leben sowie aus der Geschichte. Dabei fällt auf, daß die betreffenden Verhaltensweisen stets bewertet werden, nämlich entweder positiv oder pejorativ bzw. negativ. Vor allem machen die pejorativ bzw. negativ bewerteten Phänomene für den Gymnasiasten den Gegenstand seines Denkens aus, mit dem er sich auf der Grundlage des Standpunktes der Aufklärung auseinanderzusetzen versucht. Dabei sind die Phänomene, die
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auf der überindividuellen Ebene wirksam sind, für ihn von Bedeutung. In der Auseinandersetzung mit ihnen versucht Hegel in der späteren Phase dieses Zeitraumes, sie unter der Perspektive der Aufklärung in den Zusammenhang der Geschichte der Menschheit einzuordnen. Es soll nun betrachtet werden, wie die doppelte Charakterisierung der betreffenden Phänomene in der späteren Phase der Gymnasialzeit weiter ausgeführt wird. Zunächst ist festzustellen, daß Hegel die beiden Charaktere jetzt klarer als bei ihrer ersten Thematisierung herausstellt. In ihrer positiven Bewertung erhalten die Phänomene einen gleichsam geistigen Sinn. Die Begierde tritt in der überindividuellen Ebene in der Weise auf, daß die Menschen durch sie zur Religion veranlaßt werden. Ein Aufsatz aus dieser Zeit Über die Religion der Griechen und Römer (10.8.1787) gibt ein Beispiel dafür: Die „Menschen ohne Aufklärung, ... voll von der Furcht ihres Gottes und fest im Glauben, er wirke alle Veränderungen in der Natur unmittelbar und thue ihnen dadurch seinen Willen kund, erklärten alle unvermuthet aufgestoßenen Vorfälle für solche Eröffnungen... / Hiermit verband sich noch die Begierde der Menschen, in die Schicksale der Zukunft zu blicken.“ (HiS 73) Diese Begierde wird — frei von jeder pejorativen Konnotation — zum Anlaß, einen religiösen Glauben zu etablieren. Dabei ist festzustellen, daß sie sachlich und als etwas zumindest gar nicht Pejoratives betrachtet wird, auch wenn die Menschen als „ohne Aufklärung“ charakterisiert werden. Gleicherweise wird eine Verhaltensweise betrachtet, die den Begriffen von der Gottheit in Rücksicht auf die Schicksale der Menschen zugrunde liegt: „Das vielfache Streben dieser Menschen, die Wahrheit zu erforschen“ (HiS 75). Nach Hegel überzeugt dieses Streben uns von der Schwierigkeit, zur Wahrheit zu gelangen; aber durch es werden die Erfahrungen gemacht, auf deren Grundlage wir die Abwege vermeiden können (s. ebd.). So tritt es als etwas Positives auf, das es den Menschen ermöglicht, sich der Wahrheit zu nähern. Die betreffenden Phänomene werden auch mit den Begriffen Neigung und Trieb bezeichnet (s.u.). Die Begriffe, die dieselben Phänomene bezeichnen, sind also noch nicht terminologisch voneinander unterschieden. Es fragt sich, wie diese Begierde usw. befriedigt werden kann. Die Weise ihrer Befriedigung hängt damit zusammen, ob die Völker aufgeklärt sind. In den Völkern ohne Aufklärung sieht Hegel eine gespaltene Situation, in der die genannte Begierde usw. als solche nicht befriedigt werden kann: „Alle diese Neigungen nun bemerkten die klügeren und listigeren Menschen ... Sie sahen, daß die Völker sich durch nichts so willig leiten lassen, als durch Religion. Wie sie nun aus nichts so sehr Vortheil ziehen, ihre Begierden und Leidenschaften befriedigen ..., als durch die Benutzung dieser Folgsamkeit, so bestärkten sie jene Triebe, fesselten die Einbildungskraft und gaben
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ihr... Nahrung und Beschäftigung durch dahinzielende und gehäufte sinnliche Ceremonien.“ (HiS 73) Die klügeren und listigeren Menschen nutzen nämlich die Folgsamkeit des Volkes gegenüber der Religion aus, um ihre Begierden und Leidenschaften zu befriedigen. Die anderen Menschen glauben, erst mit Hilfe der klügeren und listigeren Menschen ihre Begierde usw. befriedigen zu können. Dabei wird ihre Begierde usw. an die „sinnlichen Ceremonien“ fixiert, nämlich zu etwas bloß Sinnliches herabgesetzt, wie die Begierde der klügeren und listigeren Menschen durch die Eigennützigkeit geprägt wird. Die Leute, die auch „Pöbel“ genannt werden, bilden das Gottesbild nach ihrem Maß und verhalten sich vernunftwidrig (s. HiS 74). In dieser Situation wird die Begierde usw. also als etwas Pejoratives charakterisiert. Es geht Hegel hier um den Prozeß der „Bildung“ (ebd.) in der „Geschichte der Menschheit“ (ebd.), der vom Standpunkt der aufklärerischen Vernunft aus bewertet und kritisiert wird — einem Standpunkt, den Hegel mit dem der Weisen Griechenlands identifiziert: „Sie lehrten, daß sie [sc. Gottheit) Jedem hinlängliche Mittel und Kräfte zu seiner Glückseligkeit gebe und die Natur der Dinge so angelegt habe, daß durch Weisheit und moralische Güte wahre Glückseligkeit erlangt werde.“ (ebd.) In dieser Glückseligkeit können die Menschen ihre Begierde usw. befriedigen, die von dem Gegensatz zwischen der Vernunft und der Sinnlichkeit befreit ist. Erst unter der Bedingung einer gespaltenen Situation des Volkes, das die höchste Stufe der Bildung, nämlich die Aufklärung noch nicht erreicht, entsteht die Begierde usw. im pejorativen Sinne, gegen die die Vernunft nicht wirksam genug ist. Da die Weise der Befriedigung der Begierde usw. damit zusammenhängt, wie weit die Aufklärung erreicht wird, findet sich hier ein gewisser geschichtlicher Standpunkt, auf dessen Grundlage jede Art der Begierde usw. und ihre Befriedigungsweise so eingeordnet werden können, daß sie eine Stufe der Bildung zur Aufklärung aufzeigen. Die negativ bewertete Begierde usw. entspricht also einer Stufe der Bildung, in der wegen der gespaltenen Situation die Aufklärung noch nicht erreicht worden ist. Unter dieser Voraussetzung wäre es dann nicht zutreffend, wenn man ein verwandtes Phänomen Bedürfnis als eine Bestimmung interpretieren würde, die schlechthin mit dem unteren Stand zusammenhängt.^ In dem Aufsatz Lieber einige charakteristische Unterschiede der alten Dichter [von den neueren] (7.8.1788) spricht Hegel tatsächlich vom auf „Bedürfnis“ bezogenen Verhalten dieses Standes: diesen Teil der Gesellschaft „beschäftigen die Sorgen für die so vervielfältigten Bedürfnisse und Bequemlichkeiten des Lebens allzusehr, als daß er Zeit und Lust bekäme, sich zu erheben und den 5 J. M. Ripalda hält „Bedürfnis“ für eine dem unteren Stand eigene Bestimmung (The divided nation. 45 ff).
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Begriffen der hohem Stände zu nähern.“ {HiS 76) Hier scheint der Begriff Bedürfnis eine Bestimmung zu zeigen, die eigentlich ausschließlich mit dem unteren Stand zusammenhängt und pejorativ zu bewerten ist. Aber die Bedeutung des Begriffs beschränkt sich nicht immer® auf ein physisches Bedürfnis, das nur in dem unteren Stand vorhanden sein sollte. Er tritt auch in einem hochqualifizierten Sinne beim Staat auf. Hegels Rede beim Abgang vom Gymnasium (Herbst 1788) bietet einen Beleg dafür an: „die Einrichtungen dieses Instituts, bei welchem die erhabene Ansicht zum Grunde liegt, dem Staat für seine Bedürfnisse brauchbare und nützliche Mitglieder zu erziehen“ {HiS 80). Das pejorative Bedürfnis entspricht wohl der Bestimmung „Nahrung und Beschäftigung durch dahinzielende und gehäufte sinnliche Ceremonien“, die der „Einbildungskraft“, des unteren Standes von dem höheren Stand täuschenderweise gegeben wird (s.o. Zitat aus HiS 73). Das hochqualifizierte Bedürfnis entspricht dagegen wohl dem Standpunkt der Vernunft, von dem her das in der gespaltenen Situation der Gesellschaft vorkommende pejorative Bedürfnis kritisiert werden kann. Nach dem Maßstab der Vernunft wird also der Begriff Bedürfnis je nach seinem Kontext entweder positiv oder negativ gebraucht. Diese zweifache Gebrauchsweise des Begriffs wird in der späteren Phase dieses Zeitraumes also unter einer geschichtlichen Hinsicht einheitlich begründet. Die oben dargestellte Auffassung der betreffenden Begriffe kann freilich nicht so angesehen werden, als ob sie von dem jungen Hegel schöpferisch erreicht worden wäre. Sie ist vielmehr durch die damalige geistige Atmosphäre, besonders seine humanistische und aufklärerische Erziehung und die Lektüre der in dieser Tradition stehenden Literatur beeinflußt. Im folgenden soll auf solche Literatur hingewiesen werden. Es ist zunächst festzustellen, daß in der humanistischen Literatur die Begierde usw. als etwas betrachtet wird, das von der Vernunft geleitet werden soll. Hierbei konnte Hegel auf CICERO, mit dessen Werken er sich Dokumenten nach (s. HiS 61f) intensiv beschäftigt hat, berufen. Wie die Griechen (vgl. Aristoteles: Ethica Nicomachea. 1.13) stellt CICERO die Begierde (appetitus) unter die Herrschaft der Vernunft (ratio): „zwei Seiten * Auch Garves Werk, das Hegel als Quelle seines Aufsatzes benutzt, spricht von den Bedürfnissen nicht nur in einem physischen Sinne, sondern auch in einem geistigen Sinne: „Nur in denjenigen Begriffen eigentlich kann es eine vollkommene Uebereinstimmung unter mehrern Menschen geben, die sie sich einander schon unter einer abstrakten Form mit Wörtern ausgedrückt, überliefert haben. Diese Wörter und Ausdrücke sind in unsrer itzigen Welt für die Bedürfnisse und die Güter des Geistes, das heißt für die Ideen, ungefähr eben das geworden, was das Geld in Absicht der äußern Güter und Bedürfnisse ist“ (Ch. Garve: Betrachtung einiger Verschiedenheiten in den Werken der ältesten und neuern Schriftsteller, insbesondere der Dichter. In: ders. \ Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig 1779.153. zitiert in HiS 145). Über die Bedeutung der Bedürfnisse bei Garve vgl. /. M. Ripalda: op. cit, 49.
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hat das Vermögen und die Natur der Seele. Die eine Seite liegt in der Begierde, die... den Menschen bald hier —, bald dorthin rafft, die andere Seite in der Vernunft, die lehrt und erklärt, was zu tun und zu meiden ist. Daraus ergibt sich, daß die Vernunft leitet, die Begierde gehorcht.“ {De officiis. 1.11) Ähnlich ist auch in der zeitgenössischen aufklärerischen Literatur, z. B. bei J. H. CAMPE ZU beobachten, dessen Namen Hegel in den Jugendschriften manchmal erwähnt (s. N12,15, 355) und dessen Werke er möglicherweise schon in Stuttgart gelesen hat: „laßt euch nie durch eure Begierde leiten, sondern zieht bei jeder Sache, die ihr gern haben oder nicht haben wolt, erst eure Vernunft und das Urtheil erfahrner Leute zu Rathe.“ (Kleine Seelenlehre für Kinder. 100) Hegel könnte diese Belehrung als einen für ihn „ziemlich leidigen (aber doch allerweisesten) Saz“ (s. o. Zitat aus HiS 33) aufnehmen. Dies bedeutet aber nicht, daß die Begierde ihrem Wesen nach als etwas Pejoratives bewertet wird. Hegel versucht, sie sachlich zu betrachten, so daß sie auch als etwas Positives bezeichnet wird. In Exzerpten aus damaligen aufklärerischen Werken findet sich ein Indiz dafür, daß der Gymnasiast mit einer ähnlichen Auffassung der betreffenden Begriffe schon vertraut ist: „Trieb ist die Richtung der tätigen Kraft etwas Gewisses zu bewirken. Mechanische sind [solche], die im Körper allein liegen; geistige sind Richtungen der geistigen Triebeskräfte; wenn letztere bloß durch dunkle Vorstellungen erregt und geleitet werden, so heißen sie blinde Triebe -, werden sie von vernünftigen Vorstellungen von der Überlegung und deutlichen Erkenntnis abhangen, verständige oder vernünftige Triebe.“ (5.5.1785, aus Feders neuer Emil, D 61) Hier läßt sich eine ähnliche Auffassung sehen, unter der ein Phänomen wie Trieb zuerst nicht nur mechanisch bzw. physisch, sondern auch geistig betrachtet und dann in der letzteren geistigen Form nach dem Maßstab der Vernunft bewertet wird. Die geistige Form des Triebes ist besonders von Bedeutung. Sie kann nämlich seine Fähigkeit aufzeigen, mit der Vernunft zusammenzuwirken, auch wenn er schließlich von dieser geleitet werden muß. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß die geistige Form des Triebes nicht nur die praktische Bedeutung, sondern auch die theoretische enthält. Hegels Auffassung vom Streben nach Wahrheit (s. o. Zitat aus HiS 75) ist wohl in theoretischer Bedeutung zu verstehen. Diese theoretische Hinsicht könnte Hegel von CICERO gelernt haben, insofern dieser von der Begierde (cupiditas) nach Erkenntnis und Wissen spricht: „Alle nämlich fühlen wir uns gedrängt und geführt zur Begierde nach Erkenntnis und Wissen, in dem hervorzuragen wir für trefflich erachten“ (op. cit. 1.18; vgl. 1.13). In den zeitgenössischen Werken wie z. B. bei GARVE wird der Verstand in der theoretischen Bedeutung sogar gelegentlich durch den Begriff Trieb ausgedrückt: „Die andere [sc. theoretische] Gattung von Verstand gehört eigentlich für die Wissenschaften, sie ist... ein gewisser Trieb, der zugleich mit Fähigkeit verbunden
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ist, das Individuelle aufs Allgemeine zurückzuführen, und dieses Allgemeine zu einem abgesonderten Gegenstände seiner Betrachtung zu machen.“ (14.—18.3.1787, Aus Garves Versuch über Prüfung der Fähigkeiten im VIII. Band der Neuen Bibi, der schönen Wissenschaften und freien Künste 1769, D 124) Aus diesen Beispielen ergibt sich, daß Hegels Auffassung der betreffenden Begriffe von den humanistischen und aufklärerischen Denkrichtungen geprägt wird. Ferner ist zu beachten, wie sie hinsichtlich der Geschichte der Menschheit von der damaligen geistigen Atmosphäre beeinflußt wird. Hegels geschichtliche Perspektive könnte von I. ISELIN angeregt worden sein. ISELIN beobachtet nämlich die dominierende Rolle des Triebes in der Geschichte der Menschheit.^ Nach ihm unterscheidet der „Trieb zur Vollkommenheit“ die Menschen von den Tieren und liegt deshalb der Existenz der Menschen zugrunde: „Ein allgemeines Gesetz der Natur scheinet also die Thiere in die engen Gränzen der Empfindung des Gegenwärtigen ... einzuschränken. Ein eben so allgemeines Gesetz der Natur treibet... den Menschen an sich über dise Schranken empor zu schwingen, und sich von einer Vollkommenheit zu der andern zu erheben ... Wir können also anders nicht als bey einem jeden Menschen disen Trieb zur Vollkommenheit voraussetzen ... so müssen wir zugeben, daß der Mensch nicht zu einem unveränderlichen Stande bestimmt sey, indem ihm die Natur einen Trieb eingeflösset hat, der ihn mit einer unbesigbaren Macht zur Veränderung anspornet.“ {Über die Geschichte der Menschheit. 1.94—97) Dieser Trieb macht den Grund der Veränderung des Standes des Menschen aus, die wohl die Geschichte der Menschheit bildet. Gleicherweise sind Begierde und Bedürfnis für den Menschen grundlegend (s. 1.130; 1.25, 76 und 2.9, 13). Es soll untersucht werden, wie der Trieb in der Geschichte der Menschheit erscheint. Nach ISELIN ist möglich, daß eine edle Art des Triebes in der Geschichte der Menschheit auftritt: „So war der Umgang mit seines gleichen schon in den ersten Anfängen der Gesellschaft für den Menschen das köstlichste aller Güter. So erhielten die edeln Triebe von Liebe und von Freundschaft eine grössere Stärke und die menschliche Glückseligkeit eine besondre Erhöhung.“ (1.136) Allerdings herrscht in dieser Geschichte nicht eine solche Art des Triebes, sondern eine andere Art desselben: „Von den meisten grossen Thaten, welche in der alten Geschichte hervorschimmern, war ein feuriger und meistens mechanischer Trieb die Feder... Der aufrichtige und erleuchtete Trieb Menschen, und so vil Menschen als es möglich war, glück^ Ripalda weist darauf hin, daß Hegel in Stuttgart hinsichtlich der Theorie der Bedürfnisse von Iselin beeinflußt wird (op. cit. 48).
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lieh zu machen, oder doch die Menschheit in denen die nicht von ihrem Volke waren zu verehren beseelte die wenigsten Helden des Alterthums.“ (2.145) Hiermit wird der Trieb als etwas gezeigt, das die großen Taten in der Gesehichte hervorbringt; unter dieser allgemeinen Bestimmung des Triebes unterscheiden sich der „feurige und meistens mechanische“ und der „aufrichtige und erleuchtete Trieb“ voneinander. Nach ISELIN hängt der Unterschied der beiden Triebe damit zusammen, ob ein Staat in einer gespaltenen Situation zwischen dem herrschenden und dem anderen Teil besteht. Die Wandlung eines Staates zu einer solchen Situation wird durch einen geschichtlichen Prozeß erklärt, in dem der „Grundtrieb“ geschwächt wird: „Der Trieb für das gemeine Beste war der rühmlichste in solchen Staaten, aber er war bey den meisten ein blosser Trieb und nicht eine überlegte Art zu handeln, die aus einer erleuchteten Erkenntniß und aus einer reinen Liebe des Vaterlandes floß. Wie mehr die Sicherheit von aussen und der Wohlstand in dem Innern Zunahmen: destomehr wurde diser Trieb geschwächet; desto mehr namen Ungerechtigkeit und Eyfersucht überhand. Das Ansehen in dem Staate wurde ein Werkzeug sich Reichthümer zu erwerben, und seine Begihrden zu erfüllen ... Es entstuhnden Factionen und neue Tyrannen. Dise und die Führer des Volkes fanden in der Unwissenheit und in der Verderbnis der Bürger mehr Vortheil als in der Erleuchtung und in der Verbesserung derselben.“ (2.122f) Den Trieb, der nicht der „aufrichtige und erleuehtete Trieb“ ist, bzw. die „Begihrde“ in dieser Situation vergleicht ISELIN mit den „Begihrden der Barbaren“, insofern bei ihnen „der Mangel an Begriffen“ herrscht (s. 1.205). Gleicherweise wird vom „Bestreben“, Macht und Würden in den Händen zu behalten, gesprochen, das der Grund der Entstehung der Faktionen und Unterdrückungen ist (s. 2.91). Hier findet sieh eine mögliche Quelle für Hegels Auffassung der betreffenden Begriffe, aus der er die geschiehtliche Perspektive aufgenommen haben könnte. Er sieht wie ISELIN den Grund der Wandlung des Triebes in der gespaltenen Situation der Gesellschaft, in der der herrschende Teil dem Gemeinwohl seinen eigenen Vorteil entgegensetzt und den Trieb zu einem eigennützigen herabsetzt. Diese Situation wird wie bei ISELIN vom Standpunkt der aufgeklärten Vernunft her kritisiert. Hegels Denken über verschiedene Verhaltensweisen des Mensehen in der Gymnasialzeit bewegt sich also in den humanistischen und aufklärerisehen Denkrichtungen*, in denen die von uns behandelten Begriffe in zweifaeher Bedeutung gebraucht werden und der Unterschied dieser Bedeutung von einer geschichtlichen Perspektive her einheitlich aufgefaßt wird. Schon in die® Es ist plausibel, daß Harris in Hegels Denken eine gewisse Kontinuität des Humanismus und der Aufklärung und ferner auch eine gewisse Fusion der Aufklärung und der Romantik findet (op. cit. 6, 24, 26).
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sem Zeitraum beginnt er, sein Grundanliegen mit diesen Begriffen auszudrücken. Seine Auffassung der Begriffe in dieser Zeit ermöglichte es Hegel, eine damals aufkommende Denkrichtung aufzunehmen, die die Begriffe über die Dichotomie der Begehrungsvermögen hinaus auffaßt. Auf der Grundlage dieser Richtung ist die spätere Grundlegung der philosophischen bzw. spekulativen Bedeutung der Begriffe denkbar. Es geht Hegel aber in der Jugendzeit zunächst darum, sich anhand der zeitgenössischen Denkrichtungen einen eigenen Orientierungsrahmen zu schaffen. Das eigentliche und eigene philosophische Konzept der Begriffe entwickelt Hegel erst in Jena (S.3.I.).
2.2. REZEPTION DER ZEITGENÖSSISCHEN DENKRICHTUNGEN (TÜBINGEN) In Tübingen begegnet Hegel zeitgenössischen Denkrichtungen, von denen seine Auffassung der von uns behandelten Termini geprägt wird. Diese Termini treten im Zusammenhang mit der Thematisierung der Volksreligion als seinem Grundanliegen i in Tübingen auf, in der die Frage nach der Bildung des Menschen in der Form der Bildung eines Volksgeistes gestellt wird. Die hier einschlägigen Denkrichtungen sind wohl die KANTische Lehre von Moralität und Religion sowie die Lehre der Empfindsamkeit als eine Variation der damals weitverbreiteten Denkrichtung seit SHAFTESBURY. Die KANTische Lehre von Moralität und Religion liegt der Hegelschen der Volksreligion zugrunde, insofern Hegel das letzte Ziel der Religion im „höchsten Gut“ findet. Allerdings weicht Hegel dabei von der KANTischen Lehre in der Weise ab, daß die Sinnlichkeit mit der Vernunft zusammenwirkt, um dieses Ziel zu erreichen. Insofern steht Hegel unter dem Einfluß der Lehre der Empfindsamkeit^. Hegels Standpunkt liegt also zwischen den beiden Denkrichtungen, während diese durch ihre Auffassungen hinsichtlich des Zusammenhangs von Vernunft und Sinnlichkeit einander entgegengesetzt sind. Dies bedeutet, daß Hegel einen eigenen Standpunkt einnimmt, der von jeder der beiden Denkrichtungen unterschieden ist. Dieser Umstand ist besonders bei seiner Auffassung der betreffenden Termini von Belang. Sie ist nämlich kein peripherer Ausdruck für seinen Standpunkt, sondern zeigt seine Stellung zwischen den beiden Denkrichtungen auf. Sie erhält damit einen grundlegenden Stellenwert für Hegels Denken in Tübingen, insofern sie mit seinem Grundanliegen zusammenhängt. * Vgl, Th. Haering: Hegel. 1.65. 2 Diese Richtung kann als die „Rehabilitation von Sinnlichkeit“ charakterisiert werden und ist der Wirkung Shaftesburys zuzuschreiben. Dazu vgl. Ch. Jamme: „Ein ungelehrtes Buch“. 52.
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Da der Einfluß KANTS auf Hegel in Bern stärker als in Tübingen wird, kann die nähere Untersuchung darüber dem nächsten Abschnitt (2.3.) überlassen werden. Hier soll untersucht werden, wie Hegels Auffassung der Termini von der Denkrichtung der Empfindsamkeit beeinflußt wird und in die Begriffsgeschichte seit SHAFTESBURY eingeordnet werden kann. Um die Eigenheit seiner Auffassung zu charakterisieren, wäre es dabei aufschlußreich, seine Auffassung mit der Auffassung HöLDERLINS ZU vergleichen, der bekanntlich mit Hegel gemeinsam in Tübingen studierte. Im folgenden soll also erörtert werden: (A) Hegels Auffassung der Termini, (B) der begriffsgeschichtliche Hintergrund und schließlich (C) der Vergleich mit der Auffassung HöLDERLINS.
Insofern Hegel die allgemeine Vernunft als das erste Element der Volksreligion (vgl. N20) anerkennt, steht er ausdrücklich unter dem Einfluß der KANXischen Lehre von Moralität und Religion. Wie die KANTische Postulatenlehre versteht er die Religion unter der Hinsicht der Forderung der praktischen Vernunft, daß das höchste Gut wirklich werde (vgl. N 9). Hierbei fällt auf, daß im Hinblick auf die von uns behandelten Termini Hegels Auffassung von der KANiischen abweicht. Auch unter der Voraussetzung der Moralität oder der Bestimmung des Willens durch das Gesetz der Vernunft erhält die Befriedigung des Triebes nach Glückseligkeit nämlich einen viel wichtigeren Stellenwert als bei KANT, insofern die Sinnlichkeit als das Hauptelement beim Handeln des Menschen und deshalb als zweites Element der Volksreligion bezeichnet wird (vgl. N4,20). Die Sinnlichkeit ist zwar an sich nicht moralisch, aber liebenswürdig und kann moralisch sein (vgl. N 8, 18). Hegel sieht die Sache der Bildung sowie das Geschäft der Volksreligion darin, die Sinnlichkeit zu fördern (vgl. A18,19). Diese Abweichung von der KANiischen Lehre geschieht wohl unter dem Einfluß der damaligen Denkrichtung der Empfindsamkeit. Insofern Hegel nämlich in der „subjektiven Religion“ als der „Sache des Herzens“ {N 9) gegenüber der „objektiven Religion“ als der „Sache des Verstandes und des Gedächtnisses“ (ebd.) das Zusammenwirken von Vernunft und Sinnlichkeit sieht, steht er unter dem Einfluß dieser Denkrichtung, der es wesentlich um die Forderung nach einem Gleichgewicht von „Kopf und Herz“^ geht. So steht Hegel zwischen den beiden Denkrichtungen. Es soll untersucht werden, wie dieser Umstand durch seine Auffassung der von uns behandelten Termini klar gemacht wird. Dafür sind folgende zwei Punkte von Belang: (1) die betreffenden Termini drücken die Elemente der Volksreligion in der Weise aus, daß die Volksreligion als ein System der Termini verstanden werden kann, (2) in bezug auf die Kritik an der Aufklärung werden die Termini 5 Vgl. W. Doktor und G. Sauder: Nachwort. In: Empfindsamkeit. Hrsg, von W. Doktor und G. Sauder, 109.
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voneinander unterschieden, so daß die negative Bedeutung der Termini einem von ihnen (Begierde) gleichgesetzt wird. Zum ersten Punkt: Das Bedürfnis drückt sowohl das übersinnliche als auch das sinnliche Element der Volksreligion aus. Was die übersinnliche Bedeutung betrifft, sagt Hegel, offensichtlich unter dem Einfluß der KANTIschen Postulatenlehre, folgendes: „Ich rechne hier nur insoweit Kenntnisse von Gott und Unsterblichkeit zur Religion, als das Bedürfnis der praktischen Vernunft fordert“ {N 8; vgl. 9,23). Insofern damit die Tätigkeit der Vernunft, Gott und Unsterblichkeit zu postulieren, ausgedrückt wird, zeigt diese Auffassung eine Seite der Volksreligion als Vernunftreligion auf, die für die subjektive Religion nötig ist. Neben dem Bedürfnis der Vernunft wirkt das Bedürfnis der Sinnlichkeit als das zweite Element der Volksreligion. Hegel spricht nämlich vom Bedürfnis des „moralischen Gefühls“: „jenes moralische Gefühl, das seinem Bedürfnisse jene Idee [sc. eines mächtigen unsichtbaren Wesens] ganz angemessen fand“ {N 9). Hiertritteine Seite der Volksreligion als „Herz und Phantasie“ auf, durch die die von der Vernunft aufgestellte Lehre z. B. in Verbindung der Religion mit Mythen in den Seelen des Volks verkörpert wird (vgl. N 23 f). Sie wirkt mit dem Bedürfnis der Vernunft zusammen. Ferner erscheint das Bedürfnis in der sozial-politischen Ebene als das dritte Element der Volksreligion: „Sie [sc. VolksreligionI muß so beschaffen sein, daß sich alle Bedürfnisse des Lebens — die öffentlichen Staatshandlungen daran anschließen“ (iV20). Hieran wird Hegels Überzeugung deutlich, daß in der „Bildung eines Volksgeistes“ (N 21) nicht nur Religion, sondern auch Politik wirksam ist. Sie lassen sich nicht abgesondert betrachten; die Bedürfnisse fesseln das Volk an die Erde, aber sie werden durch seine Phantasie so verschönert, daß es in ihnen sein Werk selbst findet (vgl. N 27f). Die Volksreligion kann als ein System dieser drei Arten des Bedürfnisses angesehen werden. Eine derartige Bestimmung der Volksreligion und damit des Terminus Bedürfnis ist in Stuttgart noch nicht anzutreffen, sondern wird erst in Tübingen erreicht“*. Neben diesem Terminus treten andere Termini auf. Der Trieb steht im Zusammenhang mit der Vernunft. Er soll nämlich von den Ideen der Vernunft belebt werden: „sie selbst zeigen sich selten in ihrem * Ripalda macht auf den Unterschied zwischen der singularischen und der pluralischen Form des Bedürfnisses aufmerksam {The divided nation. 192 Anm. 178). Er sieht aber die erstere nur beim späten Hegel und klärt die Bedeutung dieser Form in der Tübinger Zeit nicht. Im Hinblick auf die letztere Form wird der Terminus dann nur in einem materiellen Sinne betrachtet. Aber die Pluralform wird nicht immer in einem solchen Sinne verstanden. Hegel spricht z. B. von „den wahren Bedürfnissen und Forderungen der Vernunft“ (N 21). Es bleibt noch übrig, den Zusammenhang der beiden Formen klar zu machen. Was diesen Zusammenhang angeht, besteht Haerings Interpretation (op. dt. 1.65 f) zu Recht, insofern sie Hegels Aussagen, in denen
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Wesen, aber ihre Wirkung durchdringt doch alles als eine feine Materie und gibt jeden Neigungen und Trieben einen eigenen Anstrich“ (N 4). Jedoch kann er positiv bewertet werden, wenn durch ihn die Natur des Menschen veredelt werden kann; „wenn davon die Rede ist, wie man auf die Menschen zu wirken hat, so muß man sie nehmen, wie sie sind, und alle guten Triebe und Empfindungen aufsuchen, wodurch wenn auch nicht unmittelbar seine Freiheit erhöht, doch seine Natur veredelt werden kann“ (iV 19). Im gleichen Sinne spricht Hegel von „dem edelsten Triebe seines (sc. jedes Menschen] Herzens“ (D 177), der nur in der bestmöglichen Beobachtung der göttlichen Gesetze erfüllt werden könne. Der Terminus Streben bzw. Bestreben bezeichnet die Tätigkeit des Menschen überhaupt und wird zustimmend gebraucht. Davon ist die Rede z. B. in der Charakterisierung der Sinnlichkeit als des Hauptelements „bei allem Handeln und Streben der Menschen“ {N 4) oder im Hinblick auf die Idee der Heiligkeit als „die letzte Höhe der Sittlichkeit und den letzten Punkt des Bestrebens“ {N 17^; s. auch D 186 f, 189). Zum zweiten Punkt: Die betreffenden Termini werden nicht selten im negativen Sinne gebraucht. Sie bezeichnen nämlich die Verhaltensweisen des Menschen in einer Religion, die auf der Grundlage der Bestimmung der Volksreligion kritisiert werden. Im Hinblick auf verschiedene Verhaltensweisen ist zunächst festzustellen, daß das Wesen des Menschen ihnen zugrunde liegt: „Der Mensch ist ein so vielseitiges Ding, daß sich alles aus ihm machen läßt“ (iV 19). Hierbei kommt es darauf an, auf welche Weise die Sinnlichkeit der Stoff ist, „aus dem sich eigentlich alles bildet“ {N 357). Die Daseinsweise der Sinnlichkeit charakterisiert den Zustand der Bildung der Menschen oder eines Volkes. Es geht darum, ob sich der Mensch als „ein aus Sinnlichkeit und Vernunft zusammengesetztes Wesen“ (ebd.) verwirklichen kann. Wenn diese beiden Elemente nicht zusammengesetzt sind, verliert die Sinnlichkeit ihren die beiden Formen auftreten, in einen Kontext bringt, der mit dem Lebendigmachen der Volksreligion als dem Grundzweck zusammenhängt (s. Zitate aus N 8, 9, 20). Von daher lassen sich Hegels Aussagen so verstehen, daß er auch in einem empirischen Charakter des Bedürfnisses einen gemeinsamen Grund zum einheitlichen Verständnis dieses Terminus findet. Aus diesem Zusammenhang beider kann die spekulative Bedeutung dieses Terminus, von der auch Ripalda spricht, entstehen. Diesem Zusammenhang entsprechend erscheint Hegels Aussage über die Liebe: „das Grundprinzip des empirischen Charakters ist die Liebe, die etwas Analoges mit der Vernunft hat“ {N 18). 5 Harris interpretiert den Hegelschen Ausdruck „der letzte Punkt des Bestrebens“ im Sinne einer instrumentalen Rolle der regulativen Idee der Heiligkeit im empirischen Leben (Hegels development. Toward the sunlight. 142 f). Da er dabei den Unterschied zwischen Hegel und Kant darin sieht, daß Hegel die „letzte Höhe der Sittlichkeit“ für erreichbar hält, wäre es noch konsequenter, wenn er den Hegelschen Ausdruck als etwas betrachten würde, das auch von der Sinnlichkeit getragen wird und deshalb auch einen empirischen Charakter haben könnte.
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schönen Charakter und trägt einen negativen, wie „das Herz durch falsche Vorstellungen und seine eigene Bequemlichkeit verführt, sich an Außendinge hängt, oder in niedrigen, falschdemütigen Gefühlen Nahrung findet, und damit Gott zu dienen glaubt“ (N 19). Hegels Kritik wendet sich gegen eine Situation, in der Leben und Lehre getrennt sind und deshalb „natürliche Bedürfnisse“ bzw. „Triebe einer wohlgeordneten Sinnlichkeit“ unterdrückt werden: „Sobald eine Scheidewand zwischen Leben und Lehre — oder nur Trennung und weite Entfernung beider voneinander ist — so entsteht der Verdacht, daß die Form der Religion einen Fehler habe — entweder daß sie zuviel mit Wortkrämerei umgeht, oder an die Menschen zu große frömmelnde Forderungen macht — ihren natürlichen Bedürfnissen, den Trieben einer wohlgeordneten Sinnlichkeit [... ] zuwider ist — oder daß beides zugleich der Fall ist“ {N 26). Diese Kritik ist gewissermaßen ähnlich der Kritik an der gespaltenen Situation eines Volkes in Stuttgart. Während dort der Standpunkt der Aufklärung schlechthin behauptet wird, wird er allerdings hier eher kritisch behandelt. Wenn Hegel Kritik an der Trennung von Leben und Lehre übt, dann meint er den Standpunkt der Aufklärung bzw. das „Wirkenwollen durch Verstand“ {N12). Der Verstand wird deswegen kritisiert, weil er „Fülle, Herzlichkeit des Glaubens gegen kalte Kenntnisse und Wortparaden“ vertauscht (JV 10). Mit ihm schreibt man eine Moral vor und fordert, dieser Moral unbedingt zu folgen. Dabei entsteht die genannte Situation, in der der Verstand gegen die negativ bewerteten Phänomene der Sinnlichkeit gar nicht wirksam sein kann: „Daß schlimme Neigungen gar nicht aufsteigen, daß sie nicht zu einer großen Höhe gelangen, dies kann keine gedruckte Moral — keine Aufklärung des Verstandes leisten“ (AT12). Nach Hegel liegt die christliche Religion in dieser Situation, insofern sie von den Menschen zuviel fordert, fromm zu sein, und ihnen menschliche Empfindungen fremd macht (vgl. N 27). Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Sinnlichkeit erst auf der Grundlage der politischen Freiheit ihren schönen Keim entwickeln kann. Hegel setzt sich deshalb der politischen Sklaverei (vgl. N19) und dem Despotismus (vgl. N 357) entgegen, bei denen wegen des Mangels an dem Zusammenwirken mit der Vernunft die Sinnlichkeit wohl einen negativen Charakter hat. Hier übernimmt Hegel seine in Stuttgart ausgeprägte Auffassung, nach der die gespaltene Situation des Volkes den negativen Charakter der Phänomene verursacht. Unter der genannten kritischen Hinsicht wird dieser Charakter artikuliert, insofern die Phänomene auf die von dem Zusammenwirken mit der Vernunft getrennte Sinnlichkeit bezogen sind.® ® Hier kann man die Bedeutung der Sinnlichkeit als „zweidimensional“ bezeichnen wie P. Kondylis (Die Entstehung der Dialektik. 87). Es fragt sich allerdings, wie sich die beiden Dimensionen aufeinander beziehen.
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Insofern das Bedürfnis den Inhalt der genannten Sinnlichkeit ausmacht, steht es im Gegensatz zur Vernunft: „Schon in einem natürlichen Zustand des Menschen herrscht die Sinnlichkeit so stark, daß er der innern Stimme der Vernunft wenig Gehör gibt und ihr nicht Raum läßt sich zu entwickeln — noch mehr, wenn wir von Jugend an so vielerlei Bedürfnisse gewöhnt werden ... so würde dieser verstärkten Macht der Sinnlichkeit ... das innere Gefühl von Recht und Unrecht wenig Widerstand leistet“ (sic) (D 176f). Diesem Bedürfnis entsprechend wird gegenüber den guten Empfindungen, die des Einflusses der Vernunft mehr fähig werden und sich dem Moralischen mehr nähern, von den „eigentlich tierischen Trieben“ {N 18) gesprochen. Es ist bemerkenswert, daß dieser Trieb als ein niedrigerer der Begierde gleichgesetzt wird: „Rachbegierde“ sei „niedrigere, den Menschen mehr entehrende Triebe“ (D 185). In Tübingen wird nämlich die Begierde weitgehend als etwas Negatives bezeichnet, während das Bedürfnis und der Trieb in doppelter Hinsicht betrachtet werden. Die Begierde ist etwas, das sich der Moralität entgegensetzt und deshalb bezähmt, bekämpft oder unterdrückt werden muß: „es ist... nicht so leicht, seine [sc. des Menschen] Begierden, Lieblings-Neigungen, bösen Lüste des Herzens zu bezähmen“ (D184), „der Mensch muß nicht untätig, sondern nie müde werden in Bekämpfung seiner Eigenliebe, seiner Lüste und Begierde“ (D 181), „der Christ unterdrückt die Begierde nach Rache, die nur rohen Menschen süß ist“ (D 187). Hiermit versucht Hegel, die Termini voneinander zu imterscheiden, um die negativen Phänomene auszudrücken. Diese Unterscheidung, die Hegel möglicherweise bei HERDER gelernt hat (s.u.), ermöglicht es ihm, die Auffassung der Termini in zweifacher Bedeutung noch genauer als in Stuttgart zu bestimmen. Es ist nötig, das Verständnis der betreffenden Termini in der Denkrichtung seit SHAFTESBURY ZU berücksichtigen, um Hegels Auffassung derselben in die Begriffsgeschichte einzuordnen. In der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts spielen die Termini eine wichtige Rolle, insofern sie mit der Bildung des Menschen als dem damaligen Grundanliegen Zusammenhängen. Dieser Umstand setzt eine allgemeine Atmosphäre voraus, in der die Sinnlichkeit überhaupt positiv bewertet wird, so daß die Termini als etwas auf die Sinnlichkeit Bezogenes zustimmend gebraucht werden können. Diese Denkrichtung beginnt mit der „moral-sense“-Theorie von SHAFTESBURY, die die allgemeine Voraussetzung für die positive Gebrauchsweise der betreffenden Termini darstellt. Ihre Grundtendenz wird in der deutschen Aufklärung aufgenommen. Es ist allerdings festzustellen, daß innerhalb dieser Denkrichtung auch die negative Bedeutung der Termini nicht übersehen wird. Dementsprechend werden die
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Termini voneinander unterschieden. Im folgenden geht es also darum, zunächst die allgemeine Aufwertung der Termini und dann ihre Unterscheidimg in der Begriffsgeschichte seit SHAFTESBURY ZU erörtern. Bei SHAFTESBURY wird „Appetite“ bzw. „Desire“ zwar meistens im Gegensatz zu „Virtue“ behandelt. Sie gehören jedoch alle zum Bereich der „Affection“. In diesem Bereich behauptet er bekanntlich das Angeborensein des sogenannten „moral sense“ im Menschen; „SENSE of Right and Wrong therefore being as natural to us as natural Affection itself, and being a first Principle in our Constitution and Make ... this Affection being an original one of earliest Rise in the Soul or affectionate Part“ {An Inquiry Concerning Virtue, or Merit. 26). „Virtue“ gehört zu dieser „Affection“: „THE Nature of VIRTUE consisting ... in an certain just Disposition, or proportionable Affection of a rational Creature towards the Moral Objects of Right and Wrong“ (23 f). „Appetite“ bzw. „Desire“ ist dagegen in „Self-Love“ eingegliedert, welche „Virtue“ oder „social life“ gegenübersteht (s. 87). Der KANiischen Auffassung vorgreifend ist „Virtue“ einerseits der Maßstab des moralischen Urteils, aber es erlaubt andererseits „Appetite“ bzw. „Desire“, insofern diese nicht so stark werden, um „Virtue“ zu verhindern. Ob „Appetite“ mit „Virtue“ zusammenstimmen kann, hängt nach SHAFTESBURY davon ab, ob „Appetite“ „natural“ ist oder nicht. Ein „unnatural Appetite“ hat nur mit „Luxury“ zu tun: „It may be observ’d in those who by Excess have gain’d a constant Nauseating and Distate, that they have nevertheless as constant a Craving or Eagerness of Stomach. But the Appetite of this kind is false and unnatural... Now the Satisfactions of the natural Appetite, in a plain way, are infinitely beyond those Indulgences of the most refin’d and elegant Luxury.“ (92) Nur das Ergebnis des „natural and just Appetite“ wird als „real Enjoyment“ anerkannt (s. 97), denn beim „Desire“, das als „unnatural Appetite“ bezeichnet wird, gibt es keine Begrenzung und deshalb keine Befriedigung: „those covetous and eager Desires after things which have no Bounds or Rule; as being out olNature, beyond which there can be no Limits to Desire ... the Desire is still forward, and can never rest satisfy’d with its Gains.“ (97) Also kann „Desire“ ein Hindernis für „Virtue“ sein: „the strong Desire and Love of Life may also prove an Obstacle to Piety, as well as to Virtue and publick Love.“ (36) „Desire“ tritt allerdings in einem erweiterten Sinne bei der Religion auf: „In the Case of Religion... it must be consider’d, that if by the Hope of Reward be understood the Love and Desire of virtuous Enjoyment, or of the very Practice and Exercise of Virtue in another Life“ (40). Es gibt nämlich eine Möglichkeit, in der „Desire“ mit „Virtue“ übereinstimmt und moralisch positiv ist. Dies ist kein Wunder, weil die beiden in einer gemeinsamen Dimension der „Affection“ behandelt werden. In diesem Punkt unterscheidet sich der Standpunkt SHAFTESBURYS von dem KANTS und muß wohl den des jungen Hegel beeinflußt haben. Wenn er von
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„a moderate Use of Appetite“ (64) in einem physischen Sinne spricht, ist er sowohl Vorläufer KANTS als auch Hegels. Die Konzeption von „desir“ hat eine größere Bedeutung bei HEMSTERHUIS als bei SHAFTESBURY, denn HEMSTERHUIS beobachtet im „desir“ selbst eine Struktur, in der sich die Seele des Menschen bewegt und die eine Tendenz hat, sich mit ihren Gegenständen zu vereinigen: „Ainsi, le but absolu de l’ame, lorsqu’elle desire, est l’union la plus intime et la plus parfaite de son essence avec celle de l’objet desire.“ {Lettre sur les desirs. Oeuvres philosophiques. 54) Diese Tendenz wird als „desir“ festgestellt: „le desir de l’ame est une tendance vers l’union parfaite et intime avec l’essence de l’objet desire“ (56). Die Gegenstände unterscheiden sich dadurch, wie stark sie begehrt werden: „Pour les objets que l’ame peut desirer, ils sont ou homogenes ou heterogenes ä son essence; et la vivacite des desirs, ou plutot le degre de la force attractive, se mesurera constamment par le degre d’homogeneite de la chose desiree, et ce degre d’homogeneite consiste, dans le degre de possibilite de la parfaite union.“ (54) Nach dem Grad ihrer Anziehungskraft werden die Dinge geordnet. Auf diese Weise entsteht eine Stufenreihe von den materiellen Dingen bis zum höchsten Wesen: „Par exemple, on aimera moins une belle Statue que son ami, son ami que sa maitresse, et sa maitresse que l’Etre-Supreme. C’est par lä que la religion fait de plus grands enthousiastes que l’amour, l’amour que l’amitie, et l’amitie que ce desir pour des choses purement materielles.“ (ebd.) Hiermit tritt eine Auffassung auf, nach der jedes menschliche Verhalten als eine Form des „desir“ betrachtet wird. In diesem Sinne kann man dann „desir“ das Prinzip des menschlichen Verhaltens nennen.^ HERDER, der diesen Aufsatz ins Deutsche übersetzt hat, lobt die Auffassung von HEMSTERHUIS wie im folgenden: „Vielleicht hat seit PLATO über die Natur des Verlangens in der menschlichen Seele niemand so reich und fein gedacht als unser Autor“ (Der Teutsche Merkur. 1781.4. Vierteljahr. 98) PLATON, unter dessen Einfluß HEMSTERHUIS eine Stufenreihe des „desir“ darstellt, beschreibt,,epojc“als eine Stufenleiter des menschlichen Verhaltens vom körperlichen bis zum höchsten Geistigen (vgl. Symposion. 211c). Diese Auffassung beeinflußte wohl auch Hegel.* Die Konzeption der Begierde in einem geistigen Sinne kommt auch gleichzeitig in Deutschland bei einigen Autoren vor. Schon bei WINCKELMANN tritt ^ Herder übersetzt das Wort „desir“ dreifach ins Deutsche: Verlangen, Begehren und Begierde. Er selber gebraucht die ersten beiden Übersetzungen zwar nicht als seine eigenen Termini, aber er versucht vermutlich, mit diesen Wörtern die erweiterte Bedeutung des „desir“ bei Hemsterhuis zu verdeutlichen. Für Herder ist es wohl seltsam, diese Bedeutung allein mit dem Wort Begierde auszudrücken. In der Tat gebraucht er dieses Wort als seinen eigenen Terminus nur in einem begrenzten Sinne (s. Zitat aus Ideen. 13.74). ® Über Platon-Lektüre Hegels hinsichtlich der Lehre vom epcuc vgl. H. S. Harris: op. cit. 105; Th. Haering: op. cit. 1.41.
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die Begierde neben der Neigung in diesem Sinne auf. Sie wird als eine immanente Eigenschaft des menschlichen Geistes bezeichnet: „Der Geist vernünftig denkender Wesen hat eine eingepflanzte Neigung und Begierde, sich über die Materie in die geistige Sphäre der Begriffe zu erheben.“ (Geschichte der Kunst des Altertums. 135) WINCKELMANN löst die Begierde aus dem vorgegebenen Rahmen der Vermögenspsychologie, indem er sie als etwas Ganzheitliches betrachtet. Im fast gleichen Sinne erscheint das Bestreben: das „edle Bestreben“ der großen Künstler der Griechen, „den harten Gegenstand der Materie zu überwinden, und ... dieselbe zu begeistern“ (ebd.) Auch bei der Konzeption von Trieb kann man ein und denselben Standpunkt finden, wenn ihn WINCKELMANN auch nur privat und persönlich zum Ausdruck brachte: „aus freiem gemeinschaftlichen Triebe, aus wahrer Liebe zur Kunst und zur Erweiterung unserer Kenntnisse, unterstützten sie mich“ (17). Trieb ist hier zwar noch nicht terminologisch bestimmt, aber dieses Zitat kann als ein Beispiel dafür fungieren, daß WINCKELMANN dieses Wort in einem geistigen Sinne gebraucht. Auch bei LESSING gibt es einige ähnliche Beispiele: „löbliche Begierde, die Kenntnis der alten Kunstwerke zu einem Auslegungsmittel zu erheben“ (Laokoon. 73), „die allgemeine Wißbegierde des Menschen“ (op. cit. 173). Diese Begierde drückt eine Tendenz des Menschen aus, die nicht auf ein partielles Vermögen beschränkt ist, sondern sich auf die ganze Person bezieht. LESSING findet sie in der Erziehung des Menschen: „aufkeimende Begierde, frei, geehrt, glücklich zu werden“ (Die Erziehung des Menschengeschlechts. 21). Auch der Terminus Bedürfnis wird frei vom physischen Sinne gebraucht: „Wahrheit ist der Seele notwendig; es wird Tyrannei, ihr in Befriedigung dieses wesentlichen Bedürfnisses den geringsten Zwang anzutun“ (Laokoon. 15), „die Bedürfnisse der Malerei“ (op. cit. 88), „das Bedürfnis der Kunst ... allen verständlich zu sein“ (op. cit. 97). Anhand dieser Beispiele läßt sich eine Atmosphäre innerhalb des aufklärerischen Denkens erkennen, in der die betreffenden Termini nicht nur in einem physischen Sinne, sondern auch in einem geistigen Sinne auftreten. Die uns interessierende Denkrichtung hat ihren Höhepunkt bei JACOBE Er schlägt einen KANT entgegengesetzten Weg ein. In seinem Denken treten Trieb und Begierde als grundlegende Termini auf. Er findet zwei Triebe im Menschen: „der eine Trieb hat das Vergnügen des einzelnen Menschen-, der andre, die Würde der menschlichen Natur zum Gegenstände.“ (Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers. Werke. I 298) Während der erste Trieb beinah dem im KANxischen Sinne entspricht, liegt der zweite im Gegensatz dazu eher der Vernunft zugrunde: „ein Trieb, der viel eher sich Vernunft ersinnen, als durch Vernunft ersonnen werden könnte“ (Woldemar. V124f). Was die Begierde betrifft, erscheint sie als etwas dem Trieb Gleiches, insofern sie einerseits in einem „thierischen“ (V 76f) Sinne, aber anderer-
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seits auch in einem edlen Sinne auftritt: die „Begierde“, vortrefflich zu sein, „quillt aus dem edlen Bestreben, die Kraft unseres Daseyns zu vergrößern, eigenmächtiger, in und durch uns selbst besser und glücklicher zu werden.“ (V 52f) In seinen Briefen Über die Lehre des Spinoza gibt JACOBI den beiden Termini eine grundlegende Stellung. Sie liegen allen Bestimmungen der lebendigen Natur sowie des vernünftigen Wesens zugrunde. Zur lebendigen Natur sagt er: „Was allen verschiedenen Begierden einer lebendigen Natur zum Grunde liegt, nennen wir ihren ursprünglichen natürlichen Trieb, und er macht das Wesen selbst dieses Dinges aus. Sein Geschäft ist, das Vermögen da zu seyn der besondern Natur, deren Trieb er ist, zu erhalten und zu vergrößern. / Diesen ursprünglichen natürlichen Trieb könnte man die Begierde a priori, die absolute Begierde des einzelnen Wesens, nennen.“ (IV 1.18) Der Wille des vernünftigen Wesens ist auf der Grundlage des Triebes bzw. der Begierde bestimmt: „Die vernünftige Begierde überhaupt, oder den Trieb des vernünftigen Wesens, als eines solchen, nennen wir den Willen.“ (IV 1.19) Innerhalb der Grundbestimmung der Begierde unterscheiden sich die „vernünftige Begierde“, d. i. der Wille, und die „unvernünftige Begierde“ voneinander: „So oft das vernünftige Wesen nicht in Uebereinstimmung mit seinen Grundsätzen handelt, handelt es nicht nach seinem Willen, nicht gemäß einer vernünftigen, sondern einer unvernünftigen Begierde.“ (IV 1.20) Jedenfalls ist Trieb bzw. Begierde nach JACOBIS Auffassung grundlegend für den Menschen. Dieser Auffassung geht die SPINOZAS voraus. SPINOZA hält „cupiditas“, sich und alle Dinge adäquat zu begreifen, für den letzten Zweck des Menschen {Ethica. Pars IV. Appendix Caput IV; vgl. Pars III. Affectum Definitio I). Was das Bedürfnis betrifft, hat es ähnlich wie Trieb eine grundlegende Bedeutung. Es tritt z. B. als Gott auf: „Das erste nothwendigste Bedürfniß, wie für den einzelnen Menschen, so für die Gesellschaft, ist ein Gott.“ (IV 1.242) Auch Bestreben erscheint in gleichem Sinne wie Begierde (s. o. Zitat aus V 52f). Auffällig ist, daß bei den obengenannten Denkern trotz der Unterscheidung verschiedener Bedeutungen des jeweiligen Terminus die betreffenden Termini nicht klar unterschieden sind. Dagegen werden sie bei Hegel von der Tübinger Zeit an unterschiedlich gebraucht. Was zunächst den Unterschied zwischen Trieb und Begierde betrifft, bleibt dabei zu fragen, wie sie sich auf die Ganzheit des Menschen beziehen und wie sie in die Sinnlichkeit einzuordnen sind. Es geht darum, welche Stellung sie in der Bildung des Menschen haben. Innerhalb der Denkrichtung seit SHAFTESBURY findet Hegel seinen Anreger für die Erörterung dieses Problems in HERDER. Nach HERDERistTrieb dem Menschen notwendig. Dabei wird der Mensch in der Kontinuität mit dem Tier betrachtet: „Also sind dem Menschen die Triebe nicht sowohl geraubt als bei ihm unterdrückt und unter die Herrschaft der Nerven und feinem Sinne geordnet. Ohne sie könnte auch das
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Geschöpf, das noch großentheils Thier ist, gar nicht leben.“ {Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 13.143) Die Kontinuität von Tier und Mensch stellt eine Phase der Entwicklungsreihe vom Unorganischen über das Organische zum Menschen dar. Von dieser Einsicht HERDERS hat Hegel viel übernommen (vgl. die Entwicklung des Keims von der Pflanze durchs Animalische zum Menschenleben, N 381). In dieser Geschichte entwickelt sich der Trieb, der ein Zeichen der Entwicldung selbst ist. Im letzten Stadium fällt er mit der Freiheit zusammen: „Von der Nahrung und Fortpflanzung der Gewächse stieg der Trieb zum Kunstwerk der Insekten, zur Haus- und Muttersorge der Vögel und Landthiere, endlich gar zu Menschen = ähnlichen Gedanken und zu eignen selbst = erworbnen Fertigkeiten; bis sich zuletzt alles in der Vernunftfähigkeit, Freiheit und Humanität des Menschen vereinet.“ (13.167 f) Also sieht HERDER die Möglichkeit, den Trieb zur Freiheit zu erheben: „unsre Triebe“ sollen „zur ächten Freiheit und Schöne ... gebildet werden“ (13.189). In diesem Sinne wird im Trieb selbst eine Potentialität zur Freiheit anerkannt. Hier weicht HERDER von KANT ab und bereitet JACOBI sowie SCHILLER vor. Was die Begierde betrifft, so ist sie dem Trieb im niedrigen Sinne gleich und tritt also in einem bloß physischen Sinne auf: „Bei den meisten Gattungen ist die Begierde des Geschlechts nur auf kleine Zeit eingeschränkt; die übrige leben sie freier von diesem Triebe als manche niedrige Menschen“ (13.74). Man kann hier einen Unterschied zwischen Trieb und Begierde finden, den SCHILLER später noch deutlicher aufgefaßt hat. Hier liegt eine weitere Quelle Hegels vor, die die von ihm gemachte Unterscheidung vorbereitet hat. In der Diskussion über die Empfindsamkeit ist eine gewisse Unterscheidung der Termini vorhanden. Einerseits werden sie zwar als etwas Sinnliches, aber als etwas Positives verstanden: „Der Ausdruck: ein empfindsamer Mensch“ bezeichne „die vortrefliehe und zärtliche Beschaffenheit des Verstandes, des Herzens und der Sinnen, durch welche ein Mensch [...! einen würksamen Trieb fühlet, Gutes zu thun.“ (K. D. KüSTER: Artikel „£mp/mdsam“. In: Empfindsamkeit. 9) „Wo das moralische Gefühl und der sittliche Geschmack ist, da ist auch ein reiner und lebhafter, Wohlgefallen an alle dem, was wirklich moralisch wahr und gut ist ... Da kann man nur Triebe und Bemühungen, das Wahre und Vollkommne zu besitzen und zu seiner Glückseligkeit zu genüßen, denken.“ (M. RINGELTAUBE: Von der Zärtlichkeit. In: op. dt. 22; vgl. 21) Andererseits wird die negative Bedeutung der Sinnlichkeit in der Begierde berücksichtigt: „Bloß durch ihren [sc. der Empfindsamkeit] Einfluß werden die menschlichen Neigungen und Leidenschaften verfeinert, die Sitten sanft, und jeder wilde Ausbruch der Begierde zurückgehalten.“ (K. F. v. IRWING: Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen. In: op. dt. 57) „Wir halten den für ein bloßes Thier, welcher sich dem Übermaaße sinnlicher Freuden überläßt, wir verlieren unsere Ach-
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tung selbst gegen seine sonstigen Verdienste, wenn der Mann seine sinnlichen Begierden nicht mäßigen kann, und halten den Umgang mit ihm für etwas Schändliches.“ (C. F. POCKELS: Über die Verschiedenheit und Mischung der Charactere. In: op. cit. 66) Diese Unterscheidung der Termini ist aber nicht so klar wie bei Hegel, zumal die Begierde nicht deutlich von anderen Termini unterschieden ist (vgl. op. cit. 57 ff, 65). Zur Unterscheidung der Termini tragen einige Denker vor Hegel in zwei Punkten bei: (1) Trieb bzw. Begierde unterscheidet sich von Bedürfnis. Bedürfnis liegt Trieb bzw. Begierde zugrunde. (2) Bedürfnis entwickelt sich und ändert den Charakter von Trieb bzw. Begierde. Im folgenden sollen diese Punkte untersucht werden. Angesichts des ersten Punktes findet man bei HELVETIUS eine deutliche Klärung. Er hält das „besoin“ für die wichtigste Grundlage der menschlichen Natur. Er behauptet, daß sich gerade dieses „besoin“ im Gegensatz zur traditionellen Tugend der neuen zugrunde legen lassen soll. Hier sieht er die Aufgabe derPhilosophie:„C’est eile [sc. la Philosophie] qui maintenant substitue une morale claire, saine, et puisee dans les besoins memes de l’homme, ä cette morale obscure, monacale et fanatique, fleau de l’univers present et passe.“ {De l’homme, de ses facultes intellectuelles et de son education. Section X Chap. X. Oeuvres completes XII 137 f) Während die klösterliche Tugend „besoin“ als etwas Pejoratives bezeichnet, erkennt HELV£TIUS „besoin“ als durch und durch Positives an. Nach ihm ist das, was den Menschen zu einer Aktion treibt, „faim“ als der grundlegende „besoin“: „c’est.. . la faim qui . . . met tous les citoyens en action, leur fait cultiver la terre, apprendre un metier, et remplir une Charge.“ (Section II Chap. X. VIII 2) Obwohl die Rolle des „besoin“ so hoch geschätzt wird, wird aber die Entwicklung des „besoin“ nicht begriffen. Der „besoin“ des Menschen unterscheidet sich nicht vom „besoin“ des Tiers und wird als etwas ewig Unveränderliches betrachtet, das in der menschlichen Natur enthalten ist: „En qualite d’animal, l’homme eprouve des besoins physiques. Ces divers besoins sont autant de genies tutelaires crees par la natur pour conserver son corps, pour eclairer son esrit.“ (Section X Chap. V. XII 91) So ist „besoin“ nicht etwas sich Entwickelndes, sondern etwas Ungeschichtliches, insofern „Les hommes ont eu dans tous les temps ä-peu-pres les memes besoins, et dans tous les temps ils les ont satisfaits.“ (Section II Chap. IX. VII 237) In diesem Punkt kritisiert HELVETIUS die Auffassung ROUSSEAUS, der die Vervielfältigung des „besoin“ als Ursache der Untugend ablehnt. Gegenüber dieser Auffassung sagt HELVETIUS zunächst: Weder von der Geschichte noch von der Gegend hängt der „besoin“ des Säuglings ab: „Partout les hommes naissent avec les memes besoins et le meme desir de les satisfaire: ils sont les memes au berceau“ (Section V Chap. VIII. IX 191). Ferner ist das Verbrechen nicht
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immer das Resultat der Vervielfältigung des „besoin“, denn je mehr man den „desir“, den „besoin“ zu befriedigen hat, desto milder wird es: „les grands crimes ne sont pas toujours l’effet de la multitude de nos desirs ... Plus j’ai de desirs et de goüts, moins ils sont ardents.“ (ebd. 192) Hier werden die beiden Termini „besoin“ und „desir“ voneinander klar unterschieden; „besoin“ liegt dem „desir“ zugrunde, der ein subjektives Verhalten für die Befriedigung des „besoin“ genannt werden kann. In der Vervielfältigung des „besoin“ sieht HELVßTius eine Verfeinerung des „desir“, die gar nicht pejorativ bewertet wird. Diese Bewertung steht unter dem Einfluß SHAFTESBURYs, insofern HELVETIUS erkennt an, daß die Glückseligkeit eines Menschen mit der eines anderen zusammenbestehen kann: „l’idee de ma propre felicite sera toujours plus ou moins etroitement liee ... ä celle de mes concitoyens“ (Section V Chap. III. IX 142). HELVETIUS sieht hierin den Grund der Gesellschaftsbildung: „Des besoins mutuels ont force les hommes ä se reunir en societe ... Le desir du bon heur a donc ete le seul principe de leur Union.“ (Section X Chap. IX. XII128 f) Insofern HELVETIUS im „besoin“ bzw. „desir“ selbst den Grund der Gesellschaftsbildung findet, unterscheidet er sich von SHAFTESBURY. Allerdings fehlt HELVETIUS der Gesichtspunkt der Entwicklung des „besoin“ sowie der Kritik an einer Art des „desir“, den man bei ROUSSEAU sehen kann. Wie oben gezeigt, hat „desir“ hei HELVETIUS nur eine dem „besoin“ entsprechende Bedeutung, obwohl die beiden voneinander klar unterschieden sind. Was die Charakterisierung von Trieb bzw. Begierde in bezug auf den obengenannten zweiten Punkt betrifft, so ist es wichtig, die Auffassung ROUSSEAUS ZU berücksichtigen. Auch im Denken ROUSSEAUS nimmt „hesoin“ eine Schlüsselstellung in dem Sinne ein, daß alle Fortschritte des Geistes dem „besoin“ entsprechen: „chez toutes les nations du monde les progres de l’esprit se sont ... proportionnes aux besoins que les peuples avoient requs de la nature“ {Quelle est VOrigine de l’Inegalite parmi les hommes et si eile est autorisee par la loi naturelle? Oeuvres politiques. 49). ROUSSEAU ist wohl der erste Anreger (der zweite: HERDER) Hegels im Hinblick auf die Entwicklung des „besoin“, wenn er auch diese nicht so gründlich und umfangreich begreifen kann, wie wir dies beim späten Hegel sehen. Der „besoin“ hängt von der Situation der Menschen ab, nämlich ob sie entweder im Naturzustand oder im Gesellschaftszustand leben: „les besoins changent selon la Situation des hommes. II y a bien de la difference entre l’homme naturel vivant dans l’etat de nature, et l’homme naturel vivant dans l’etat de societe.“ [Emile ou de l’education. 239 f) Es gibt also einen Unterschied des „besoin“ nach seiner Situation. Der „besoin“ ist nicht auf den Naturzustand eingeschränkt, sondern er vervielfältigt sich im Gesellschaftszustand. Dann entsteht ein doppelseitiges Problem, das mit dem Gesellschaftszustand zu tun hat; einerseits tritt „desir“, der im Naturzustand dem „veritable besoin“ entspricht, im Gesell-
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schaftszustand als das Ergebnis des Privateigentums dem „veritable besoin“ gegenüber in einem schlechten Sinne auf: „l’ambition devorante, l’ardeur d’elever sa fortune relative, moins par un veritable besoin que pour se mettre au-dessus des autres... le desir cache de faire son profit aux depens d’autrui: tous ces maux sont le premier effet de la propriete et le cortege inseparable de l’inegalite naissante“ (... l’Originede l’Inegalite. op. dt. 76); andererseits wird der Gesellschaftszustand aber höher bewertet als der Naturzustand, wobei es um den Gegensatz von „liberte morale“ und „appetit“ geht, der uns an die IG\NTische Dichotomie erinnert: „On pourroit... ajouter ä acquis de l’etat civil la liberte morale, qui seule rend l’homme vraiment maitre de lui; car l’impulsion du seul appetit est esclavage“ {Du Contrat Social ou Principes du droit politique. op. cit. 247). Es stellt sich die Frage, wie diese zwei Seiten miteinander Zusammenhängen. Es geht darum, wie der schlechte „desir“ im Gesellschaftszustand entsteht, in dem der „besoin“ über die Stufe des „appetit“ hinausgehend die Stufe des „liberte morale“ erreicht hat. Dazu spricht ROUSSEAU vom Gleichgewicht von „desir“ und „faculte“, von dem her der schlechte „desir“ kritisiert wird. „Desir“ in diesem Gleichgewicht entspricht dem „besoin“ und macht den Menschen glücklich: „Elle [sc. La nature] ne lui [sc. rhomme[ donne immediatement que les desirs necessaires ä sa Conservation et les facultes süffisantes pour les satisfaire. Elle a mis toutes les autres comme en reserve au fond de son äme, pour s’y developper au besoin. Ce n’est que dans cet etat primitif que l’equilibre du pouvoir et du desir se rencontre, et que l’homme n’est pas malheureux.“ {£mile. 64) Wenn im Gesellschaftszustand für die Menschen das Gleichgewicht von „desir“ und „faculte“ vorhanden ist, kann dieser Zustand existieren, ohne daß die Menschen den schlechten „desir“ haben. In diesem Zustand ist es allerdings möglich, daß „desir“ das Gleichgewicht mit „faculte“ verliert und deshalb im schlechten Sinne erscheint. Dies ist auch in der Entwicklung des „besoin“ eingeordnet. Hiermit wird geklärt, daß sich der „besoin“ entwickelt und den Charakter des „desir“ ändert. In der Tübinger Zeit erreicht Hegel noch nicht die Auffassung von der Entwicklung des Bedürfnisses, wie sie sich bei ROUSSEAU findet. Erst von der Berner Zeit an beginnt Hegel, einen ähnlichen geschichtsphilosophischen Standpunkt einzunehmen, den er auch von HERDER gelernt hat (s. 2.3.). (C) Um die Besonderheit der Hegelschen Auffassung zu zeigen, soll im folgenden erwähnt werden, wie HöLDERLIN, Kommilitone Hegels in Tübingen, in dieser Zeit die betreffenden Termini versteht. Der Terminus Trieb tritt bei HöLDERLIN meistens in einem positiven Sinne auf. Der Trieb wird in einen Zusammenhang mit der Liebe gebracht: „Liebe rief die jugendlichen Triebe/Schöpferisch zu hoher stiller Tat“ {Hymne an die Freiheit. Ende 1790. SWB 1.126). Der „heiligste Trieb“ wird der Liebe gleichgesetzt: „Jauchzt dem heiligsten der Triebe./Die der Gott
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der Götter gab,/Brüder! Schwestern! jauchzt der Liebe!“ (Erste Fassung von Lied der Liebe. 20.4.1790. SWB 1.99; s. auch zweite Fassung im fast gleichen Ausdruck, SWB 1.101). HöLDERLIN drückt auch sein persönliches Anliegen mit diesem Terminus aus: „Ist es Glück oder Unglück, daß mir die Natur diesen unüberwindlichen Trieb gab, die Kräfte in mir immer mehr und mehr auszubilden?“ (Brief an die Mutter. Mitte September 1793. SWB 2.573). So hat dieser Terminus bei HöLDERLIN einen grundlegenden Stellenwert, insofern er den Inhalt der Gedichte (vgl. SWB 1.29, 106, 116, 134) und das persönliche Anliegen bezeichnet. HöLDERLIN unterscheidet den guten und den bösen Trieb, dessen jeweilige Personifikation er in den Mythen bei HESIOD sieht: „HESIOD beginnt... mit einer Personifikation der Triebe, die die Welt beherrschen. Der Eriden Geschlecht ist zwiefach, sagt er; die eine gebar die schwarze Nacht. Kein Sterblicher liebt sie, sondern gezwungen dienen sie ihr, nach dem Rat der unsterbliche Götter. Die andere pflanzte der hohe Kronidas den Wurzeln der Erd und den Menschen ein, und dies ist die bessere. Jene stiftet Streit und Zwietracht. Diese triebt den Trägen zur Arbeit.“ {Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods „Werken und Tagen“. 17.9.1790. SWB 1.797) Die Personifikation des bösen Triebes wird mit der „Gier“ verbunden, was wohl die Auffassung HöLDERLINS des bei ihm sehr selten vorkommenden Terminus Begierde (vgl. SWB 1.134) aufzeigt und der Hegelschen Auffassung desselben ähnlich ist: „Einst näherte man sich mit glücklicher Genügsamkeit von den Früchten des Feldes, da kam Pandora und mit ihr ein Heer von Bedürfnissen und Sorgen, mit diesen die schlimme Eride, die nicht in Einfalt und Unschuld sich von ihrer Hände Arbeit nähert, sondern ihre Gier durch Trug und Gewalttätigkeit zu befriedigen sucht.“ (op. cit. SWB 1.798) So steht der gute Trieb neben dem bösen Trieb. Es bleibt offen, ob jener stark genug ist, um diesen aufzuheben, denn die beiden sind als die personifizierten Götter sozusagen gleichberechtigt. In diesem Punkt ist die Auffassung HöLDERLINS weniger klar als die Hegels, der die beiden Formen des Triebes, wie gezeigt, in einer doppelten Hinsicht betrachtet. Damit zusammenhängend muß der Stellenwert des Terminus Bedürfnis geklärt werden; im obigen Zitat tritt er in einem konkreten physischen Sinne auf und zwar in einem negativ beurteilten Kontext, insofern das Bedürfnis für das gehalten wird, was die ursprüngliche Einfalt zerstört. HöLDERLIN gebraucht diesen Terminus nicht, um das anzuzeigen, was die grundsätzliche Tendenz des Menschen ist, die Hegel gerade durch diesen Terminus auszudrücken versucht. Allerdings bestimmt die Daseinsweise des Bedürfnisses im obengenannten Sinne die des Menschen überhaupt. Die beiden entsprechen einander. In diesem Sinne hat der Terminus Bedürfnis auch einen wichtigen Stellenwert bei HöLDERLIN, wenn auch einen anderen als bei Hegel. Der Dichter spricht von der Entsprechung der Daseinsweise des Bedürfnisses
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und der des Menschen folgendermaßen: „Es gibt zwei Ideale unseres Daseins: einen Zustand der höchsten Einfalt, wo unsre Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zutun, gegenseitig zusammenstimmen, und einen Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe stattfinden würde bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu gehen imstande sind."' (Thalia-Fragment von Hyperion. November 1794. SWB 1.483) Es handelt sich darum, daß der Zustand des Menschen davon abhängt, welche Daseinsweise des Bedürfnisses vorhanden ist. Jedenfalls wird dieser Terminus meistens in einem konkreten physischen Sinne gebraucht. Außerdem kommt er als ein beliebtes Wort HöLDERLINS vor, mit dem sein persönliches Anliegen ausgedrückt wird: „Ich darf’s Ihnen als Sohn ohne Schein der Unbescheidenheit sagen, daß anhaltendes Studieren besonders der Philosophie mir bald zum Bedürfnis geworden ist.“ (Brief an die Mutter. Zweite Hälfte August 1790. SWB 2.530) Diese Anwendung des Terminus entspricht wohl der des Triebes, der ein grundsätzliches Verhalten des Menschen bedeutet, das HöLDERLIN in der obenzitierten persönlichen Aussage (s. Zitat aus SWB 2.573) zum Ausdruck bringt. Da sie aber keinen klaren Zusammenhang mit der Anwendung des Bedürfnisses im obengenannten konkreten Sinne hat, kann sie für terminologisch festgelegt noch nicht gehalten werden. Auch das Wort Streben kann in diesem Zeitraum noch nicht als ein festgelegter Terminus bezeichnet werden, während es später (s. 2.4.) unter dem Einfluß von FICHTE terminologisch verstanden wird. Es erscheint in einem Gedicht: „auch Streben/Ziert, auch der Schwächeren Schweiß ist edel.“ (An die Ehre. Ende 1789. SWB 1.85) Hier findet sich eine ähnliche Anwendung dieses Wortes wie bei Hegel, in dem Sinne, daß es die menschliche Tätigkeit überhaupt bezeichnet. Aus den obigen Vergleichen läßt sich sehen, daß Hegel und HöLDERLIN hinsichtlich der uns interessierenden Termini trotz einiger abweichenden Nuancierungen einander nahestehende Auffassungen vertreten. Allerdings muß auch bemerkt werden, daß in bezug auf den gesamten Zusammenhang der Termini Hegel eine weiter reichende Übersicht als HöLDERLIN hat; Hegel bringt die Termini in einen Zusammenhang, während HöLDERLIN sie fast getrennt oder ohne Zusammenhang gebraucht. Schon in Tübingen fängt Hegel also an, trotz verschiedener Einflüsse von anderen Denkern die betreffenden Termini auf seine eigene Weise zu verstehen, wenn dies auch noch nicht ganz bewußt gemacht und deutlich thematisiert wird. Seine Konzeption, die er in diesem Zeitraum erreicht, besteht darin, verschiedene Verhalten bzw. Tätigkeiten des Menschen, die mit den hier behandelten Termini ausgedrückt werden, unter einem einheitlichen Zusammenhang zu betrachten. Sie wird zunächst in einem gleichsam an-
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thropologischen Sinne dargestellt, insofern sie eine gewisse Auffassung des Menschen überhaupt voraussetzt. Da sie aber mit dem als Volksreligion bezeichneten System der Menschen zusammenhängt, das verschiedene menschliche Erscheinungen in der Geschichte enthält, wird sie bald in einer gewissen geschichtsphilosophischen Hinsicht entwickelt (s. 2.3. und 2.4.). Allerdings bleibt die in Tübingen erreichte Konzeption grundsätzlich unverändert bestehen. Wir können sie wohl als eine Fortsetzung der von S HAFTESBURY ausgehenden Denkrichtung ansehen. 2.3. „IG\NTIANISCH“ GEPRÄGTE TERMINI (BERN) Hegels Grundanliegen in Bern wird in einem Brief an SCHELLING klar geäußert: „Vom KANxischen System und dessen höchster Vollendung erwarte ich eine Revolution in Deutschland“ (Br 1.23). Mit der praktischen Absicht der Revolution setzt er nämlich die kantianischen' Prinzipien viel stärker als in Tübingen der damaligen Situation in Deutschland entgegen. Da die Prinzipien für die Revolution schon vorhanden seien, sei es nur nötig, sie auf alles bisherige Wissen anzuwenden. Für Hegel ist ihre Anwendung auf Religion das entscheidende Problem, wie seine Beschäftigung mit Religion seit Tübingen aufzeigt. Zur Revolution will er nämlich dadurch beitragen, Kritik an derjenigen Religion zu üben, die mit Politik „unter einer Decke“ gespielt und gelehrt habe, „was der Despotismus wollte, Verachtung des Menschengeschlechts, Unfähigkeit desselben zu irgend einem Guten, durch sich selbst etwas zu sein.“ {Br 1.24) Dieser Charakter der Religion ist im Grunde genommen nichts anderes als die „Positivität“ der christlichen Religion, bei der Hegel diese Religion des Verlustes der Selbständigkeit der Vernunft bezichtigt und die er durch den Einsatz des Standpunktes der Moralität zu überwinden versucht (vgl. N 153, 233). Unter der Anregung von SCHELLING setzt er sich mit der damaligen Religion, vor allem mit der Auffassung der 1 Es ist umstritten, ob der Standpunkt Hegels in der Berner Zeit als ein kantianischer charakterisiert werden kann. Haering lehnt diese Charakterisierung ab, insofern nach seiner Ansicht in den Aussagen des Lebens Jesu nur „scheinbar der ausgesprochenste (Kantische) Rationalismus“ gegenwärtig ist (op. cit. 1.185). Harris (op. cit. 194) hält es für unnötig, den Charakter dieser Schrift so zu verstehen, daß sie entweder Hegel in ganzer Gehorsamkeit gegenüber Kant zeigt, oder daß sie ein Gedankenexperiment ist, wie Haering interpretiert. In diesen Interpretationen bleibt ungeklärt, ob Hegels Aussage nur eine Fortsetzung der Tübinger Auffassung ist oder ob es irgendeinen Grund gibt, warum er in Bern eine Kant sehr nahe stehende Meinung äußert. Im Hinblick auf die uns interessierenden Termini muß man doch zumindest einen großen Einfluß Kants erkennen, wie Haering selbst sagt (op. cit. 1.195). Dabei handelt es sich nicht nur um den Einfluß Kants, sondern auch darum, was Hegels eigene Kant-Interpretation veranlaßt. Jedenfalls ist der Einfluß Kants in Bern stärker als vorher, wie Ripalda interpretiert (op. cit. 97 f).
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Tübinger Schule von den „Postulaten der praktischen Vernunft“ in der Weise auseinander, daß er von seinem kantianischen Standpunkt aus den Verlust der Selbständigkeit der Vernunft in der Postulatenlehre dieser Schule scharf kritisiert. In diesem Problemzusammenhang spielt die Auffassung der von uns behandelten Termini nicht eine bloß nebensächliche, sondern eine so wichtige Rolle, daß der betreffende Standpunkt gerade durch das kantianische Verständnis der Termini gekennzeichnet wird. Die Akzentverschiebung seines Standpunktes in Richtung auf Kantianismus wird nämlich durch die Änderung von der Tübinger zur Berner Auffassung der Termini in dieser Richtung deutlich gemacht. Es soll deshalb untersucht werden, wie die Hegelschen Termini im Vergleich zu den KANxischen entwickelt werden, da Hegel sich aufgrund seiner eigenen Auffassung der Termini, die von derjenigen KANTS selbst abweicht, mit der Postulatenlehre KANTS beschäftigt und die der Tübinger Schule kritisiert. Um die Besonderheit der Hegelschen Termini klarzustellen, soll auf zwei Perspektiven seiner Auffassung der Termini hingewiesen werden. Zunächst handelt es sich bei dieser Auffassung darum, auf welcher Anlage des Menschen die Religion im allgemeinen beruhen soll. Diese Perspektive ist eine anthropologische zu nennen, insofern sie ein Verständnis über den Menschen überhaupt voraussetzt. Von dieser Perspektive her gesehen wird der Zusammenhang der Termini kantianisch organisiert; denn so setzt sich Hegel mit dem in der Postulatenlehre vorhandenen Menschenverständnis der Tübinger Schule auseinander. Was die Abweichung von der KANxischen Auffassung der Termini betrifft, ist der Einfluß von SCHILLER zu berücksichtigen. Dann muß man zugleich feststellen, daß die betreffende Auffassung auch unter einer anderen Perspektive steht, nämlich einer geschichtsphilosophischen. Die Termini werden dabei als etwas sich geschichtlich Entwickelndes aufgefaßt, wodurch die Positivität der christlichen Religion als eine Situation seiner Entwicklung charakterisiert ist. Der Verlust der Selbstständigkeit der Vernunft bei der Postulatenlehre der Tübinger Schule ist dann als ein Ergebnis dieser Situation anzusehen. Auch hier weicht Hegels Auffassung von der KANTS ab, was dem Einfluß von HERDER zuzuschreiben ist. Trotz der Abweichungen von der KANiischen Auffassung der Termini bleibt Hegel allerdings ein Kantianer. Um diesen Punkt zu erhellen, ist es aufschlußreich, seine Auffassung des Terminus Streben mit der SCHELLINGS zu vergleichen. Hegel versteht diesen Terminus im Anschluß an die Auffassung KANTS, während SCHELLING diesen Terminus unter dem Einfluß von FICHTE im Hinblick auf die Postulatenlehre anders als KANT begreift. Im folgenden soll Hegels Auffassung der Termini also in drei Punkten erörtert werden: (A) unter der anthropologischen Perspektive, (B) unter der
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geschichtsphilosophischen Perspektive und (C) im Vergleich zur Auffassung SCHELLINGS.
(A) Von der anthropologischen Perspektive her gesehen wird die Religion in der Berner Auffassung wie in der Tübinger mit den Elementen ausgemacht, die mit den von uns behandelten Termini ausgedrückt werden: „Nicht alle Triebe der menschlichen Natur als (der) der Fortpflanzung usw. haben Moralität zum Zwecke — aber der höchste Zweck des Menschen ist Moral und unter seinen Anlagen diesen zu befördern ist seine Anlage zur Religion eine der vorzüglichsten — Die Erkenntnis Gottes kann ihrer Natur nach nicht tot sein, sie hat in der moralischen Natur des Menschen, im praktischen Bedürfnisse ihren Ursprung und aus ihr entspringt wieder Moral“ (N 48f). Offensichtlich ist diese Auffassung über die Elemente der Religion viel stärker als in Tübingen kantianisch geprägt. Die Möglichkeit eines Triebes, der die Moralität zum Zwecke hat, wird zwar nicht ganz ausgeschlossen, aber die in Tübingen geltende Behauptung des Zusammenwirkens von Vernunft und Sinnlichkeit tritt hier zurück. An Stelle des Zusammenwirkens der beiden ist jetzt an eine andere Art des Zusammenhanges gedacht. Einerseits wird nämlich das Element der Vernunft stark betont, andererseits wird das Element der Sinnlichkeit herabgesetzt. Dieser Entgegensetzung der beiden entsprechend ändert sich der Zusammenhang der uns interessierenden Termini, was näher zu untersuchen ist. Das Bedürfnis hat nach wie vor eine neutrale Bedeutung, die ein objektives Ziel der menschlichen Tätigkeit aufzeigt; diese Auffassung ist die Fortsetzung der Tübinger Auffassung. Es tritt nämlich zweifach auf, einerseits in einem sinnlichen Sinne, andererseits in einem übersinnlichen Sinne.^ Allerdings ist der Gegensatz der beiden Bedeutungen stark betont; dies ist zu verstehen, wenn man den kantianischen Standpunkt Hegels in der Berner Zeit berücksichtigt: „entreißt euch, doch den ewigen Sorgen, um Essen und Trinken und Kleidung, Bedürfnisse, die den ganzen Kreis des Bestrebens der meisten Menschen ausmachen ... — Liegt im menschlichen Gemüt doch nicht noch ein erhabeneres Bedürfnis, als das um Nahrung, um Kleidung? ... das höchste Ziel eures Bestrebens sei das Reich Gottes, und die Sittlichkeit, wodurch ihr allein würdig werdet, Bürger desselben zu sein“ {Das Leben Jesu. N 86). Es gibt also zwei Bedürfnisse, die sich stufenweise voneinander unterscheiden. Das Bedürfnis der Vernunft wird nämlich dem der Sinnlichkeit entgegengesetzt. Dem sinnlichen Bedürfnis entsprechend wird der Trieb als etwas Sinnli^ Ripalda macht auf verschiedene Arten des Bedürfnisses aufmerksam; hier sieht er den Unterschied der Berner Auffassung von der Stuttgarter Auffassung (op. cit. 110). Aber die Auffassung der genannten Arten ist in gewissem Sinne schon in der Stuttgarter Zeit und sicher in der Tübinger Zeit zu beobachten.
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ches betrachtet, das vom Zusammenwirken mit der Vernunft abgetrennt ist. Dem Trieb ist also weitgehend eine untergeordnete Stellung zuzuweisen. Es fragt sich dann, wie die Termini untereinander Zusammenhängen, vor allem Trieb und Begierde. Während sich der Trieb zur Tübinger Zeit mit seiner doppelten Bedeutung, nämlich entweder positiver oder negativer, von der Begierde unterscheidet, scheint er dann in Bern solche Bedeutung zu verlieren und deshalb mit der Begierde in einem anderen Zusammenhang zu stehen. Der Terminus Trieb erscheint in einem Text, der in der FICHTE-ScHELLlNGschen Terminologie abgefaßt ist: „Trieb [ist] Bestimmen durchs NichtIch — sinnliches Begehrungsvermögen, Materie des Wollenfe], tierisches Begehrungsvermögen durch Vernunft zu ordnen“ {N 361, Ergänzung nach MOLDENHAUER/MICHEL, S. TW 1.102). Diese Konzeption zeigt trotz der FICHTE-ScHELLiNGschen Terminologie einen starken Einfluß des KANTIschen Standpunktes^, insofern sich der Trieb scharf von der Vernunft unterscheidet und vom Zusammenwirken mit ihr abgetrennt ist. In diesem Sinne wird der Trieb drastischer als in der Tübinger Zeit vom Standpunkt der Vernunft aus pejorativ beurteilt: „Der Mensch als Mensch ist nicht bloß ein ganz sinnliches Wesen — Seine Natur ist nicht bloß auf Triebe nach Vergnügen eingeschränkt — es ist auch Geist in ihm, auch ein Funken des göttlichen Wesens, das Erbteil aller vernünftigen Wesen ist ihm zu teil geworden“ {Das Leben Jesu. N 79; vgl. N 75). Dies bedeutet aber nicht, daß der Trieb vom Standpunkt der Vernunft aus unbedingt abgelehnt werden soll. Denn trotz des pejorativen Charakters des Triebes gibt es noch eine Möglichkeit, ihn zu veredeln: „sie [sc. die Gottheit] verdammt nicht die Triebe der Natur — aber leitet und veredelt sie“ (op. cit. N 80). Der Trieb ist also etwas Sinnliches, das als solches für die Moralität nicht geeignet ist. Er wird aber nicht einfach abgelehnt, sondern unter der Bedingung als moralisch anerkannt, daß er der Vorschrift der Vernunft, nämlich dem Sittengesetz, folgt: „Trieb durchs Sittengesetz bestimmt oder eingeschränkt ist gesetzmäßig (moralisch möglich) und, wenn der Trieb der Welt der Erscheinungen geböte, auch gesetzlich (moralisch wirklich) Würdigkeit“ (N361). Hier ist festzustellen, daß Hegels Auffassung des Triebes eine andere als die in der Tübinger Zeit geworden ist. Dieser Terminus bedeutet nun etwas sinnlich Eingeschränktes, das dem Wesen nach vom Zusammenwirken mit der Vernunft völlig losgelöst ist, während er in der Tübinger Zeit seinen Platz im Zusammenwirken findet. Was diese Änderung seiner Auffassungen veranlaßt, ist ^ Haering interpretiert, daß Hegels Auffassung über die Ordnung des Triebes durch Vernunft schon eine Überwindung des Kantischen Dualismus ist (op. cit. 1.200 f). Dagegen behauptet A. Peperzak zu Recht, daß Hegel trotz der Fichteschen Terminologie nicht weiter als Kant geht (Le jeune Hegel et la Vision morale du monde. 59).
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sicher dies, daß Hegel sich in seinem Denken überhaupt auf den KANxischen Standpunkt konzentriert. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß der Terminus nicht immer mit dieser geänderten Bedeutung auftritt. Er weicht nämlich manchmal von der kantianischen Konzeption ab. Es handelt sich dabei darum, daß dieser Terminus eine höhere Bedeutung als die bloß sinnliche hat. Der Trieb als solcher kann nämlich dem Bedürfnis der Vernunft entsprechen und deshalb der höheren Bestimmung des Menschen moralisch angemessen sein. In dieser Auffassung wird dem Trieb eine höhere Stellung als in Tübingen zugewiesen: Trieb in einem vernünftigen Sinne: „Die Freunde Jesu fragten ihn: Aber wie kann man hoffen, daß dieser Trieb der menschlichen Natur es nicht unmöglich mache, tugendhaft zu sein? Den Widerspruch dieser Triebe, antwortete Jesus — hebt der Umstand auf, daß Gott dem einen eine eigentümliche gesetzgebende Gewalt verliehen hat, die die Pflicht auferlegt, eine Uebermacht über den anderen zu bekommen, und ihm auch die lOaft beigelegt hat, dies zu können“ {N 114). Es gibt also eine Möglichkeit des Triebes, tugendhaft zu sein! Es ist erstaunlich, daß Hegel ausgerechnet in seiner kantianischen Schrift Das Leben Jesu solche nicht-kantianische Meinung äußert. Hier muß man an einen anderen Einfluß als KANTS in diesem Zeitraum denken. Wie wir später sehen werden, ist es hinsichtlich dieses Punktes aufschlußreich, einen Einfluß der Lektüre Hegels der Schrift SCHILLERS Über die ästhetische Erziehung des Menschen (vgl. Br 1.25) * anzunehmen. Aber diese Auffassung bleibt nur vorübergehend, denn der Terminus Trieb bezeichnet hauptsächlich etwas sinnlich Eingeschränktes, wie wir bereits festgestellt haben. Es ist nun zu untersuchen, wie sich die Auffassung dieses Terminus auf die praktische Absicht der Revolution im Bereich der Religion bezieht. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß diese Auffassung in bezug auf die Kritik Hegels an der Postulatenlehre der Tübinger Schule von seinem eigenem kantianischen Standpunkt aus strenger als bei KANT selbst durchgesetzt wird. Hegel behauptet die Selbständigkeit der Vernunft. Er hält die Herrschaft ■* Peperzak sieht hier den Einfluß Schillers und bemerkt, daß die Tendenz zur Tugend auch ein Trieb ist (op. cit. 69 f). Kondylis ist auch derselben Meinung und fügt ferner hinzu, daß Hegels Abweichung vom „Kantianismus“ auf seine Lektüre von Rousseau und Jacobi zurückgeführt wird (op. cit. 251). Kondylis sagt nichts davon, daß die betreffende Auffassung des Triebes von derjenigen der Begierde verschieden ist. In diesem Punkt kann man Hegels Abweichung von Rousseau und Jacobi finden (über Rousseau und Jacobi vgl. 2.2.). H.-J. Engfer versucht, den Einfluß der Triebtheorie Schillers auf Hegels Dialektik zu klären (Triebtheorie und Dialektik in Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“. In: Konzepte der Dialektik. Hrsg, von W. Becker/W. K. Essler. 30—41). Dabei ist es allerdings auf die hier gerade zur Diskussion stehende Auffassung Hegels vom Trieb nicht eingegangen. Dazu vgl. auch Diskussion von O. Pöggeler: Schillers Antagonismus und Hegels Dialektik. In: dies.: op. cit. 42—45.
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der Vernunft über die Triebe des Lebens, nämlich die im sinnlichen Sinne, für selbstverständlich. Nach seiner Kritik an der Tübinger Schule findet sie dagegen in der Unfähigkeit der Vernunft, diese Herrschaft zu gewinnen, den Grund ihrer Postulatenlehre. Nach Hegels Erläuterung lautet ihre Behauptung: „daß sie [sc. die Vernunft] doch für sich unvermögend ist, sich das Primat über die Neigungen zu verschaffen“ (V234f). D. h. dafür, die Neigungen, die offenbar inhaltlich den Trieben im sinnlichen Sinne gleich sind, zu beherrschen, sei die Vernunft nicht geeignet. Diese Auffassung ist für Hegel gar nicht akzeptabel, weil er von dieser Fähigkeit der Vernunft überzeugt ist. Mit dem Terminus Neigung bzw. Trieb ist die gleiche Bedeutung sowohl bei der Tübinger Schule als auch bei Hegel gemeint, aber bei der Beantwortung der Frage, ob sie die Existenz eines Wesens außer dem Menschen für nötig halten, um Neigung bzw. Trieb in die Ordnung der Vernunft zu bringen, gibt man unterschiedliche Antworten. Einerseits behaupten die Orthodoxen nach Hegels Kritik, der Mensch könne zwar das Primat der Vernunft über die Neigungen bzw. Triebe als seinen Endzweck setzen, aber nicht ausführen, nämlich bei der Ausführung müsse er von einem Wesen außer ihm abhängig sein (s. N 235). Andererseits stützt Hegel sich auf die Selbständigkeit der Vernunft, auf deren Grundlage der Mensch keines solchen Wesens bedarf. In dieser Kritik wird die Bedeutung des Triebes nur auf den sinnlichen Sinn eingeschränkt, so daß das Primat der Vernunft über ihn gezeigt wird. Dabei spricht Hegel nicht von der Möglichkeit der Veredlung des Triebes, sondern von einem Verhalten wie bei einem Republikaner, der gern auf die Glückseligkeit als das zweite Stück des höchsten Guts durch die Befriedigung des Triebes im sinnlichen Sinne verzichtet und für die Realisierung seines Zwecks nicht von einem fremden Wesen, sondern nur von ihm selbst abhängig ist (s. N 239). Hier behandelt Hegel das Problem des Triebes anders als in den bereits erwähnten Stellen, in denen der Trieb als etwas erscheint, das veredelt werden kann (s. o. Zitate aus AI 80,361). Insofern Hegel das Verhalten wie beim Republikaner hochschätzt, stützt er sich auf einen rigoristischeren Standpunkt als KANTS selbst, denn dieser bezeichnet die Glückseligkeit als etwas Notwendiges für ein vernünftiges Wesen, wie noch genauer zu zeigen ist. Wenn der Terminus Trieb nur etwas so sinnlich Eingeschränktes bedeutet, stellt sich aber die Frage, ob er sich im Gegensatz zur Tübinger Auffassung nicht mehr vom Terminus Begierde unterscheidet. Bei der Rede von der Begierde ist nicht klar, ob dieser die Möglichkeit zur Veredlung gegeben ist. Anders als der Trieb steht sie fast immer in einem negativen Licht. Sie erscheint konsequent während der gesamten Berner Zeit im Hinblick auf den moralischen Standpunkt als etwas Negatives. Insofern der Terminus Begierde so negativ verstanden wird, ist festzustellen, daß die Tübinger Auffassung dieses Terminus auch in der Berner Zeit fortgesetzt wird. In diesem Sinne wird die Begierde sicher vom Trieb unterschieden.
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Allerdings steht die Begierde andererseits dem Trieb sehr nahe, insofern der Trieb, wie oben gezeigt, vom Zusammenwirken mit der Vernunft losgelöst ist und deshalb nur in einem bloß sinnlichen Sinne vorkommt. Ähnlich wie der Trieb gehört die Begierde zur Faktizität des Menschen, über die er sich erheben muß: „Euer Gebet... sei eine Erhebung eures Gemüts... über die Begierden, die sie [sc. die Menschen] hin und her treiben, durch den Gedanken an den Heiligen, der euch an das Gesetz erinnere ... und euch mit Achtung für dasselbe, unverletzbar durch alle Reize der Neigungen, erfülle“ {Das Leben Jesu, N 84). Hier tritt die Begierde neben der Neigung als etwas auf, das sowohl inhaltlich als auch sprachlich mit dem Terminus Trieb ausgedrückt werden kann. Der Unterschied von Begierde und Trieb, der in der Tübinger Zeit entstanden ist, ist also unklarer geworden. Dies ist als ein Ergebnis des Kantianismus in der Berner Zeit anzusehen. In bezug auf die Möglichkeit zur Veredlung, wie angedeutet, ist es aber sehr fragwürdig, ob der Begierde diese Möglichkeit gegeben ist. Dieser Zweifel wird dadurch bestätigt, daß dieser Terminus in einem durch und durch pejorativen Sinne verstanden wird. Diese Charakterisierung der Begierde erinnert uns an die LUTHERS (S. U.). SO mache die Begierde einen Grundzug der „falschen Lehrer“ aus, die die Leute zum „Palast des Lasters und Verderbens“ führen: „Nehmt euch auf dem Wege besonders in Acht vor falschen Lehrern, die mit der sanftmütigen Miene eines Lammes sich euch nähern, darunter die Begierden reißender Wölfe verbergen“ {N 87). Diese pejorative Begierde wird auch in einer empirischen Beschreibung der Verhaltensweisen der Menschen behandelt, die vom theologischen Kontext unabhängig ist. Sie bedeutet wie der Trieb eine Verhaltensweise derjenigen, die des Verlustes der Selbständigkeit der Vernunft bezichtigt werden. D. h. in einem bestimmten Zustand eines Volkes, wo der obenerwähnte Geist des Republikaners verschwunden ist, erscheint der betreffende Charakter der Begierde: „wer dieses letzte Hilfsmittel, sich zu erhalten und seine Begierden zu befriedigen, das ihm Trägheit oder Liederlichkeit oder Langweile übrigläßt, ergreift, wird im Angesichte des Feindes nur feige sein.“ (N 229) Es darf aber nicht übersehen werden, daß dieser Terminus in einem neutralen Sinne gebraucht werden kann: „Welche Neugierde, sagte er [sc. Jesus], trieb euch — denn Begierde euch zu bessern war es doch nicht — hinaus in die Wüste?“ {Das Leben Jesu, N90f) Diese Begierde hat gar keine pejorative, sondern eine ganz neutrale Bedeutung, die nur die subjektiv intentionale Seite menschlicher Tätigkeit zeigt. Es mag zwar überraschend sein, daß die Begierde in einem solchen Sinne wie der Trieb in einem höheren Sinne ausgerechnet in dieser kantianischen Berner Zeit vorhanden ist. Aber es ist nicht seltsam, wenn man sich an sachliche Beschreibungen des menschlichen Verhaltens seit der Stuttgarter Zeit erinnert. In seinem Tagebuch der
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Berner Zeit wie in Stuttgart beschreibt Hegel ganz sachlich und sogar fröhlich den der Begierde ähnlichen Appett: „Wir labten uns hier mit dem Brot, das mit Butter inwendig ausgestrichen war und womit uns klüglich der Wirt des Grimselspitals versorgt hatte, und mit seinem roten Italienischen Wein, und unser Appetit dankte ihm aufs herzlichste dafür.“ (D 240) Dabei muß man darauf achten, daß diese neutrale Art der Begierde der KANXischen Auffassung viel näher steht als jene pejorative Art. Da aber die neutrale Art selten erörtert wird, handelt es sich bei den meisten Fällen um die Abweichung des Hegelschen Kantianismus vom Standpunkt KANTS selbst; einerseits der „Trieb“ in einem höheren Sinne, andererseits die Begierde in einem pejorativen Sinne. Diese Abweichung steht m. E. unter dem Einfluß SCHILLERS. Im folgenden behandeln wir die Auffassungen der beiden Denker, um ihre Einflüsse auf Hegel zu klären. Hegels Auffassung beruht zwar in der Grundlinie auf der KANxischen Lehre. In Einzelheiten über die Termini ist sie aber anders als KANTS, d.h. sowohl in ihrem Zusammenhang als auch in der Bedeutung eines jeden Terminus. Hier bleibt Hegels eigene Auffassung seit der Tübinger Zeit unverändert. Hegels Auffassung über die Stufenreihe der Bedürfnisse setzt die KANTS voraus. Bei KANT bedeutet das Bedürfnis zunächst eine Existenzweise des Menschen, bei der dieser als ein bedürftiges Wesen existiert: „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit... sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist; und dieses Bedürfnis betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens, d. i. etwas, was sich auf ein subjektiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was es zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird.“ {KpV 28 f) Hiermit wird die Notwendigkeit des sinnlichen „Bedürfnisses“ geklärt. Von diesem Bedürfnis als dem der Neigung unterscheidet sich das Bedürfnis der Vernunft; „das ist... der objektive Grund eines Bedürfnisses der spekulativen Vernunft, nämlich den Begriff eines notwendigen Wesens, welches anderen zum Urgründe dienen soll, näher zu bestimmen, und dieses letzte also wodurch kenntlich zu machen. Ohne solche vorausgehende notwendige Probleme gibt es keine Bedürfnisse, wenigstens nicht der reinen Vernunft; die übrigen sind Bedürfnisse der Neigung.“ {KpV 163) Insofern das Bedürfnis als das der reinen Vernunft in der spekulativen Bedeutung auftritt, bleibt es zwar nur hypothetisch, aber als das der reinen praktischen Vernunft führt es zu Postulaten und ist soweit apodiktisch. Denn die Pflicht, auf der das „Bedürfnis“ der reinen praktischen Vernunft beruht, „gründet sich auf einem freilich von diesen letzteren Voraussetzun-
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gen [sc. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit] ganz unabhängigen, für sich selbst apodiktisch gewissen, nämlich dem moralischen Gesetze“ {KpV 164). Der Terminus Bedürfnis ist also ein grundlegender, mit dem das notwendige Wirken der verschiedenen Vermögen des Menschen oder seine Existenz selbst ausgedrückt wird. Daneben wird Begierde bzw. Neigung dann behandelt, wenn KANT von der Glückseligkeit spricht. Dabei ist von Trieb nicht die Rede. Trieb hat eine niedrigere Stellung als Begierde, insofern der Mensch Trieb mit dem Tier teilt. Bei Hegel werden beide Termini fast umgekehrt gebraucht; einerseits wird angesichts der Glückseligkeit immer von Trieb gesprochen, andererseits Begierde fast immer negativ bewertet. Hegel behauptet sogar die Möglichkeit der Veredlung des Triebes, während Kant nur die Unüberwindbarkeit der Neigung anerkennt. Dies bezieht sich wohl auf den Unterschied des Gottesbegriffes beider Denker; Hegel ist überzeugt von der Möglichkeit, den Widerspruch der Triebe durch den „göttlichen Funken“ aufzuheben und sie dadurch zu veredeln, während KANT strenger als Hegel in der Sphäre der Endlichkeit des Menschen bleibt. Betont wird bei KANT die „furchtbare Majestät“ des Gottes: „statt des Streits, den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in welchem nach einigen Niederlagen doch allmählich moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen“ {KpV 168). Hegel versteht die „Postulate der praktischen Vernunft“ von einem dem Menschen näheren Standpunkt als dem KANiischen aus. In diesem Punkt kann man wohl sagen, daß Hegel hinsichtlich der Bildung des Menschen, nach der er so fragt, wie es dem Menschen möglich ist, „sich Gott zu nähern“ (Brief an SCHELLING, 30.8.1795. Br. 1.29), optimistischer als KANT ist. Von diesem Standpunkt aus wirft Hegel der Tübinger Schule den Verlust der Selbständigkeit der Vernunft bei ihrer Postulatenlehre vor. Der KANTische Standpunkt übt jedenfalls Einfluß auf den Hegelschen in der Weise aus, daß Hegel die Vernunft der Sinnlichkeit überhaupt entgegensetzt. Allerdings steht Hegel in bezug auf die negative Bewertung der Begierde der traditionellen Auffassung wie bei LUTHER näher als KANT, der vielmehr die Unabhängigkeit der Sinnlichkeit vom moralischen Werturteil anerkennt. KANT betrachtet die Begierde als etwas Neutrales in dem Sinne, daß sie an sich mit der Moral nichts zu tun hat: „Begierde (appetitio) ist die Selbstbestimmung der Kraft seines Subjekts durch die Vorstellung von etwas Künftigen, als einer Wirkung derselben.“ {Anthropologie. WA XII579) Hier zeigt sich nur die subjektive intentionale Seite der menschlichen Tätigkeit. Die Neigung, die die „habituelle sinnliche Begierde heißt“ (ebd.), wird als etwas Gutes bezeichnet: „Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre
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auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können.“ {Rel 60 f) Die Begierde ist für den Menschen notwendig, insofern die Glückseligkeit für ihn notwendig ist (vgl. Zitat aus KpV 28). Der Mensch ist nur insofern moralisch böse, als er die Begierde allein als hinreichend zur Bestimmung seiner Maxime macht: „Wenn er diese [sc. die Triebfeder der Sinnlichkeit] aber als für sich allein hinreichend zur Bestimmung der Willkür in seine Maxime aufnähme, ohne sich ans moralische Gesetz (welches er doch in sich hat) zu kehren, so würde er moralisch böse sein.“ {Rel 38) Die Begierde ist also zwar notwendig im Zusammenhang mit der Glückseligkeit, aber nur nebensächlich, insofern von der Moralität die Rede ist. Es muß dabei betont werden, daß die Begierde eine ganz andere Quelle als die Moralität hat (vgl. KpV 98) und sich dem moralischen Gesetz engegensetzt; „Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Vernunft so hochachtungswürdig vorstellt, an seinen Bedürfnissen und Neigungen, deren ganze Befriedigung er unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt.“ {GMS 24) Diese Entgegensetzung von Begierde und Vernunft ist schon bei LUTHER vorhanden, der allerdings den Terminus Begierde mit dem Attribut „böse“ gebraucht; die Begierde erscheintim Gegensatz zu den Geboten: „willst du alle Gebote erfüllen, deine böse Begierde und Sünde los werden, wie die Gebote zwingen und fordern, siehe da, glaube an Christum, in welchem ich dir Zusage alle Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit.“ (Von der Freiheit eines Christenmenschen. 130) Nach LUTHER findet sich die Begierde im äußerlichen Leib und ist als die „böse Begierde“ zu negieren, die den innerlich freien Menschen stört: „da muß fürwahr der Leib“, der die „böse Begierde“ hat, „mit Fasten, Wachen, Arbeiten und mit aller mäßiger Zucht getrieben und geübt werden, daß er dem inneren Menschen in dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, ihn nicht hindere noch widerstrebe, wie seine Art ist, wenn er nicht gezwungen wird“ (op. cit. 139). Dies bedeutet aber nicht, daß der Mensch ohne Begierde existieren kann. Nach LUTHER macht sie eine unentbehrliche Bedingung seiner Existenz in dem Sinne aus, „daß wir allesamt Sünder sind und kein Mensch vermag zu sein ohne böse Begierde, er tue, was er will.“ (op. cit. 129) Die Begierde wird bei LUTHER also zwar als etwas Notwendiges, aber als etwas Negatives bzw. Pejoratives betrachtet. Gerade im letzteren Punkt weicht die Auffassung KANTS von der LUTHERS insofern ab, als bei der KANTS die Begierde für etwas Neutrales gehalten wird. Im Hinblick auf die Charakterisierung der Begierde steht Hegels Auffassung der LUTHERS näher als die Auffassung KANTS. Was den Terminus Trieb betrifft, betrachtet KANT ihn auch in einem an
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sich gar nicht pejorativen, neutralen Sinne; der Trieb, der der Anlage für die Tierheit im Menschen entspricht, erscheint unabhängig von irgendeinem Werturteil; Diese Anlage „ist dreifach: erstlich, zur Erhaltung seiner selbst; zweitens, zur Fortpflanzung seiner Art, durch den Trieb zum Geschlecht und zur Erhaltung dessen, was durch Vermischung mit demselben erzeugt wird; drittens, zur Gemeinschaft mit anderen Menschen, d. i. der Trieb zur Gesellschaft.“ {Rel 26) Im Unterschied zur Neigung, die der Anlage für die Menschheit entspricht, hat der Trieb mit dem Instinkt zu tun, in dem noch kein Begriff vorhanden ist. Der Trieb tritt also unbewußt auf, während die Begierde bzw. Neigung ein bekanntes Objekt hat: „Zwischen dem Hange und der Neigung, welche Bekanntschaft mit dem Objekt des Begehrens voraussetzt, ist noch der Instinkt, welcher ein gefühltes Bedürfnis ist, etwas zu tun oder zu genießen, wovon man noch keinen Begriff hat (wie der Kunsttrieb bei Tieren oder der Trieb zum Geschlecht).“ {Rel 29) Nach der KANTIschen Auffassung der Stufenreihe der „ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur“, nämlich Tierheit — Menschheit — Persönlichkeit, ist die Begierde bzw. Neigung, die der Anlage für die Menschheit entspricht, unter der „Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz“ (Rel 27) als der Anlage für die Persönlichkeit, höher als der Trieb geordnet. Die Stellung beider Termini und ihr Zusammenhang erscheinen bei KANT umgekehrt wie bei Hegel. Um die Abweichung Hegels von KANT ZU klären, ist es bedeutsam, die Auffassung SCHILLERS ZU berücksichtigen. SCHILLER übernahm auf seine eigene Weise die FiCHTEsche Lehre des Triebes (zu dieser Lehre vgl. 3.1.1.). Er unterscheidet den Formtrieb bzw. den vernünftigen Trieb vom Stofftrieb bzw. dem sinnlichen Trieb. Er lehnt den dritten Grundtrieb ab, der die beiden Triebe vermitteln sollte, und behauptet die Wechselwirkung beider Triebe. Insofern die beiden als Grundtriebe festgestellt werden, wird die Verbindung beider nie, wie bei FICHTE, erreicht: „Dieses Wechselverhältnis beider Triebe ist zwar bloß eine Aufgabe der Vernunft, die der Mensch nur in der Vollendung seines Daseins ganz zu lösen im stand ist. Es ist im eigentlichsten Sinne des Worts die Idee seiner Menschheit, mithin ein Unendliches, dem er sich im Laufe der Zeit immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu erreichen.“ (Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 14. Brief. 55 f) Aber SCHILLER geht insofern weiter als FICHTE, als er behauptet, daß es in einem Sonderfall den Spieltrieb gibt, bei dem die beiden Triebe Zusammenwirken; hier liegt die Möglichkeit, über den Rahmen der Wechselwirkung der beiden Triebe hinauszugehen. Der Mensch hört im Spiel auf, der geteilte Mensch zu sein, den nur einer der beiden Triebe beherrscht; „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (op. cit. 15. Brief. 63) Was die Begierde betrifft, wird sie als eine Eigenschaft des sinnlichen Trie-
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bes bezeichnet: „der sinnliche [sc. Trieb] mit seiner eigensinnigen Laune und seiner wilden Begierde“ (op. cit. 27. Brief. 122). ScHiLLERsiehtalso den Unterschied zwischen dem Formtrieb als dem „Trieb zum Absoluten“ und der Begierde. Der Sinn von jenem besteht darin, die Menschen über die Beschränkung des Einzelnen zu erheben und zum Absoluten zu führen. Aber die Begierde tritt auch beim Formtrieb auf, wenn dieser in der Tierheit des Menschen wirkt. Hiermit wird der Sinn des Formtriebes umgestürzt. Es kommt zur umgekehrten Situation: In der Tierheit wird der Mensch durch den Trieb zum Absoluten bloß veranlaßt, „anstatt nach dem Unveränderlichen nach einer ewig dauernden Veränderung und nach einer absoluten Versicherung seines zeitlichen Daseins zu streben. Der nämliche Trieb, der ihn... zur Wahrheit und Moralität führen sollte, bringt jetzt... nichts als ein unbegrenztes Verlangen, als ein absolutes Bedürfnis hervor. ... Eine grenzenlose Dauer das Daseins und Wohlseins, bloß um des Daseins und Wohlseins willen, ist bloß ein Ideal der Begierde, mithin eine Forderung, die nur von einer ins Absolute strebenden Tierheit kann aufgeworfen werden.“ (op. cit. 24. Brief. 102) So ist die Begierde eine extreme Eigenschaft bzw. Form der beiden Triebe, die sich von diesen selbst unterscheidet. Die Auffassung über den Unterschied zwischen dem Trieb und der Begierde tritt schon in Über Anmut und Würde auf. Der Trieb versucht den Bereich des Willens selbst zu erreichen und unterscheidet sich damit von der Begierde: „der Trieb bleibt nicht bei der bloßen Begierde stehen; vorschnell und dringend strebt er, sein Objekt zu verwirklichen, und wird... selbst solche Handlungen antizipieren, worüber der Wille allein zu sagen haben soll.“ (120) Der Trieb bedeutet hier den Naturtrieb, der dem Stofftrieb in Über die ästhetische Erziehung des Menschen entspricht. Er steht im Gegensatz zum Willen, der später in der genannten Schrift als Formtrieb bezeichnet wird. Hegel steht zwar schon in Tübingen wohl auch unter dem Einfluß ähnlicher Auffassung HERDERS über den Unterschied zwischen dem Trieb und der Begierde, aber gerade in seiner kantianischen Berner Zeit spielt der Einfluß dieser Richtung wahrscheinlich eine größere Rolle, weil der Unterschied der beiden Termini bei SCHILLER der Abweichung der Hegelschen Auffassung von der Kantischen entspricht. Allerdings angesichts des gesamten Zusammenhangs beider Termini steht Hegel SCHILLER in der Frankfurter Zeit am nächsten; in Bern betrachtet Hegel nur den Unterschied der beiden, während er in Frankfurt die Begierde in die Stufenreihe des Triebes einordnet (s. 2.4.). (B) Unsere bisherige Betrachtung über die Termini Bedürfnis bzw. konzentrierte sich auf die anthropologische Perspektive, insofern es sich dabei um eine sozusagen ungeschichtliche Struktur des Menschen handelt. Es bleibt angesichts der Frage Hegels nach der Ursache der positiven Religion noch, die Entstehung einer bestimmten Situation zu erörtern, in der eine solche
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Religion vorhanden ist. Der Verlust der Selbständigkeit der Vernunft bei der Positivität läßt sich als ein Ergebnis einer geschichtlich bestimmten Situation verstehen und beurteilen. Dabei spielt ein Moment, das von der Auffassung KANTS abweicht, eine Rolle: eine geschichtliche Auffassung von Bedürfnis Unter der geschichtlichen Perspektive wird das Bedürfnis so bestimmt, daß seine Form geschichtlich relativ ist. Dies soll in den folgenden drei Punkten näher erörtert werden. Erstens bezieht sich die einzelne Form des Bedürfnisses auf den Zustand eines Volkes: „wenn durch einheimische Anstalten sein Sinn beschäftigt, seine Einbildungskraft etonniert (frappiert), sein Herz gerührt und seine Vernunft befriedigt wird, so wird sein Geist kein Bedürfnis fühlen, oder es würde ihm vielmehr kein Genüge tun, die Ohren alle sieben Tage Phrasen und Bildern zu leihen, die nur vor einigen tausend Jahren in Syrien verständlich und an ihrem Platze waren.“ (N39) Hier zeigt sich, daß eine gewisse Form des Bedürfnisses hinsichtlich der Religion überhaupt nicht immer vorhanden ist und eine bestimmte Struktur voraussetzt. Damit zeigt sich zweitens, daß eine Religion einer bestimmten Form des „Bedürfnisses“ entspricht: „Die christliche Religion ist. . . modifiziert nach den Bedürfnissen der Umstände ihrer Entstehung, der Menschen und der Vorurteile“ (N 49), oder Völker haben „sich ihrem Bedürfnis gemäß ihre Götter, ihre Religion schon selbst geschaffen“ {N 60). Mit dieser Auffassung des Bedürfnisses wird die Religion überhaupt geschichtlich relativiert. Es stellt sich dabei die Frage, ob eine Religion dem Bedürfnis entsprechend verändert werden kann. Drittens heißt es dann, daß die Veränderung selbst als das Bedürfnis erscheinen kann: „ist die Religion, die einst für das Volk zweckmäßig war — es würde sich sonst nicht zu ihr gewandt haben —, ist diese Religion in der gleichen Gestalt unter ganz veränderten Umständen immer noch ebenso zweckmäßig ... Bis Veränderungen das Bedürfnis einer ganzen Nation wurden und dann nicht mehr aufzuhalten waren, hat es immer Jahrhunderte erfordert“ (N 61 f). So wird die Religion nach dem Bedürfnis verändert. Die geschichtliche Perspektive wird mit dem Ausdruck „Geist der Zeiten“ in der Weise betont, daß die Veränderung der Form der christlichen Religion mit der der äußeren Umstände in der Zeit verbunden ist. Auch bei dieser Religion wirken die Momente, die eigentlich gar nicht zu ihr gehören: „Da es aber bekannt ist, ... daß schon bei der Annahme der christlichen Religion nicht bloß reine Liebe zur Wahrheit, sondern zum Teil sehr zusammengesetzte Triebfedern, sehr unheilige Rücksichten, unreine Leiden5 Es ist plausibel, was G. Lukäcs über die „Historisierung der Anthropologie“ bei Hegel und den geschicbtlichen Geist der Fragestellung sagt {Der junge Hegel. 58; auch 94, 96).
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schäften und oft nur auf Aberglauben gegründete Bedürfnisse des Geistes gewirkt haben, so muß es erlaubt sein, um die Entstehung des Gebäudes der christlichen Religion zu erklären, anzunehmen, daß auch äußere Umstände, der Geist der Zeiten Einfluß auf die Bildung ihrer Form gehabt haben“ {Die Positivität der christlichen Religion. N 156). Nach dem hier vorgestellten Gedankengang ist es notwendig, die Auffassung über die geschichtlich relativierte Bedeutung des Bedürfnisses mit dem Ausdruck „Bedürfnisse der Zeit“ festzulegen. Damit entsteht eine Auffassung, die schon eine geschichtsphilosophische genannt werden kann und auf deren Grundlage die bereits unter der anthropologischen Perspektive erwähnte Struktur des Menschen in der Form einer Religion als etwas sich geschichtlich Entwickelndes steht. Hegel sieht im Zustand der Politik und der Religion von Griechen und Römern, der dem von Juden ähnlich war, den Grund dafür, daß die christliche Religion nach den „Bedürfnissen der Zeit“ aufgenommen wurde: „in diesem Zustande bot sich den Menschen eine Religion dar, die entweder schon den Bedürfnissen der Zeit angemessen war, denn sie war unter einem Volke von ähnlicher Verdorbenheit und ähnlicher, nur anders gefärbter Leerheit und Mangel entstanden — oder aus der die Menschen dasjenige formen, sich an das hängen konnten, was ihr Bedürfnis heischte“ (N 224). Ein Bedürfnis trägt einen geschichtlichen Charakter, der der Daseinsweise einer Religion entspricht. In einem bestimmten Bedürfnis sieht Hegel also den Ursprung der Positivität der christlichen Religion. Er bezeichnet das Christentum als die Religion, die durch Wunder die Autorität als Ursache der Positivität (vgl. N 161, 233) bildet, nämlich „die, allen Bedürfnissen des menschlichen Geistes und Herzens so angemessen, alle Fragen der menschlichen Vernunft so befriedigend beantwortet — die außerdem ihren göttlichen Ursprung noch durch Wunder beglaubigte“ {N 220f). Es geht um die Objektivität der Gottheit, in der sich der Gott „in der Menge Wunder“ offenbarte, die „an die Stelle eigner Vernunft traten“ {N 228; vgl. 160f). Diesem Zustand entsprechend erscheint das Bedürfnis einer objektiven Religion: „Mit dem Bedürfnis einer gegebenen, objektiven Religion steht die Möglichkeit des Wunderglaubens in genauem Zusammenhang.“ {N 230) So wird im Hinblick auf den geschichtlichen Charakter des Bedürfnisses der Ursprung der Positivität der christlichen Religion geklärt. In bezug auf die geschichtliche bzw. geschichtsphilosophische Auffassung des Bedürfnisses steht Hegel vermutlich unter dem Einfluß HERDERS, der auch von den „Bedürfnissen der Zeit“ spricht. Über die Relativität der Erziehung als des Hauptmittels der Bildung des Menschen behauptet HERDER aufgrund seiner Geschichtsauffassung: „sie [sc. Erziehung] wechselt mit den Bedürfnißen der Zeit“ {Ideen. 13.464) Nach ihm kann man die Entwicklung des Bedürfnisses in der Geschichte finden, denn jede Nation muß sich mit
.Kantianisch“ geprägte Termini
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ihrem eigenen Bedürfnis beschäftigen, in dem sie den Grund ihrer Entwicklung hat. HERDER bezeichnet das menschliche Verhalten, sich auf ein neues Bedürfnis zu richten, als „Bedürfnis der menschlichen Natur“; „wir werden es in der Geschichte der Nationen als ein Bedürfniß der menschlichen Natur und als eine Wohlthat der Vorsehung finden, daß sie den erschöpften Acker auch wüste liegen läßt und dem Verstände durch Zerstörung und Vergeßenheit deßen, was schon gedacht und erfunden ist, wieder Raum zum Denken und zu neu == alten Erfindungen schaffet“ (op. cit. 13.467). Hier zeigt sich HERDER als ein Anreger Hegels, insofern er im Bedürfnis nicht nur einen geschichtlichen Charakter, sondern auch den Grund der Entwicklung der Geschichte selbst sieht. (C) Der Terminus (Be-)Streben bedeutet auch in der kantianischen Berner Zeit ein ganzheitliches Verhalten des Menschen. Er drückt vor allem die Bemühung des Menschen aus, das höchste Gut zu erlangen, was sich als die Aufgabe der praktischen Vernunft stellt: „Die praktische Vernunft setzt dem Menschen als höchsten Zweck alles seines Bestrebens, sie legt ihm die Aufgabe auf: Hervorbringung des höchsten Guts in der Welt, Moralität und ihr angemessene Glückseligkeit“ (N 62; vgl. Zitat aus N 86). Bei KANT kommt das „(Be-)Streben“, das die menschliche Tätigkeit überhaupt bedeutet, nicht so häufig vor wie bei Hegel. Es erscheint in einem neutralen Sinne und kann also zweifach sein, nämlich einerseits positiv, andererseits negativ: „das unaufhörliche Streben zur pünktlichen und durchgängigen Befolgung eines strengen, unnachsichtlichen, dennoch aber nicht idealischen, sondern wahren Vernunftsgebots“ {KpV 141), oder „das moralische Gesetz selbst in seiner feierlichen Majestät ist diesem Bestreben, sich der Achtung dagegen zu erwehren, ausgesetzt“ {KpV91). Ein und dieselbe Bedeutung wird allerdings mit der „Bestrebung“ häufiger als mit dem (Be-)Streben ausgedrückt: „das höchste Gut, welches zum Gegenstände unserer Bestrebung zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht“ {KpV 149; s. auch 98, 128, 179). Diese Begriffe werden ganz neutral gebraucht. Das Streben hat also bei KANT noch keine bestimmte terminologische Bedeutung. Erst bei FICHTE ist es terminologisch festgelegt (dazu vgl. 3.1.1.). Bei Hegel bedeutet das (Be-) Streben die menschliche Tätigkeit überhaupt wie bei KANT. ES hat hingegen bei SCHELLING eine grundlegende Bedeutung in dem Sinne, daß er seine Philosophie des Ich mit diesem Begriff ausdrückt, den er von FICHTE übernimmt. Aufgrund seiner Auffassung dieses Begriffs beurteilt SCHELLING die KANiische Idee des höchsten Gutes negativ.® ® über Schellings Auseinandersetzung mit der Postulatenlehre Kants und der Tübinger Schule vgl. K. Düsing: Die Rezeption der kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels. In: Das älteste Systemprogramm. Hrsg, von R. Bubner, 53—90;
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Von HöLDERLIN wird dieser FiCHTEsche Begriff Hegel bekannt gemacht (s. Brief an Hegel am 26.1.1795, Br 1.20). Kurz danach schreibt SCHELLING an Hegel über seinen neuen Standpunkt, der mit dem Terminus Bestreben ausgedrückt wird: „unser höchstes Bestreben ist die Zerstörung unsrer Persönlichkeit, Uebergang in die absolute Sphäre des Seins, der aber in Ewigkeit nicht möglich ist; — daher nur praktische Annäherung zum Absoluten, und daher — Unsterblichkeit.“ (4.2.1795, Br 1.22) Ein und dieselbe Auffassung wird im Aufsatz Vom Ich, den Hegel mit dem Brief vom 21.7.1795 von SCHELLING erhielt, mit dem Begriff Streben terminologisch festgelegt. Dieser Begriff bedeutet nämlich das Streben des endlichen Ich als Erweiterung der Persönlichkeit zur Unendlichkeit, d. h. als Zernichtung derselben; zum Endzweck der Zernichtung findet unendliche Annäherung statt, und von daher wird Unsterblichkeit gefordert (s. AW l.SOf). SCHELLING sieht hier „die unendliche Aufgabe der praktischen Vernunft, absolutes Seyn und empirisches Daseyn in uns identisch zu machen“ {AW 1.89). Es fällt auf, daß bei SCHELLING vom höchsten Gut als dem Endzweck nicht mehr die Rede ist. Für ihn kann das höchste Gut nicht der Endzweck sein, weil es die Glückseligkeit als etwas Empirisches enthält, das zu überwinden ist: das letzte Ziel alles Strebens sei gänzliche Erhebung über die Sphäre; wir müssen ins Unendliche fort streben, um der Glückseligkeit gar nicht mehr zu bedürfen (s. AW 1.78). Unter dem Einfluß dieser Auffassung SCHELLINGS lehnt auch Hegel im Gegensatz zur früheren Aussage (vgl. N 62) die Idee des höchsten Gutes ab. Insofern es bei der Glückseligkeit um die „Beimischung von der Natur“ geht, durch die die Vernunft geschwächt und verunreinigt ist, wird diese Idee wegen des Mangels an Selbständigkeit der Vernunft negativ beurteilt (vgl. N 238). Für Hegel ist die Selbständigkeit der Vernunft aber nach wie vor der Endzweck, wobei vom Streben des Ich, d. h. vom Erreichen einer Identität des empirischen und absoluten Ich gar nicht die Rede ist. Während SCHELLING den Standpunkt der Ich-Philosophie einnimmt, der von dem KANTS weit entfernt ist, wie seine Auffassung des Strebens zeigt, bleibt Hegel also kantianisch. Auch auf die Kritik an der Idee des höchsten Gutes könnte Hegel den Begriff Streben in der Weise anwenden, daß er das Streben nach der Moralität dem Verlust der Selbständigkeit der Vernunft bei der Tübinger Schule entgegensetzen würde. Damit würde Hegel das bereits erwähnte Verhalten eines Republikaners meinen, das zwar rigoristischer ist als bei KANT, das aber doch noch im Rahmen des Kantianismus bleibt. Dabei bedeutet der Begriff Streben schlechthin die menschliche Tätigkeit überhaupt wie bei KANT.
M. Fujita: Philosophie und Religion beim jungen Hegel. 66 ff. Bei dieser Auseinandersetzung spielt der Begriff Streben eine Rolie. Dazu vgl. K. Düsing: op. cit. 66.
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2.4. DIE TERMINI IM ZUSAMMENHANG MIT DER KONZEPTION DES „LEBENS“ (FRANKFURT) Hegels Grundanliegen bleibt auch in der Frankfurter Zeit nach wie vor ein praktisches, das darin liegt, sich mit der bestehenden Wirklichkeit von Politik und Religion auseinanderzusetzen. Dabei fällt auf, daß dieses Anliegen selbst mit den von uns behandelten Termini ausgedrückt wird, wie z. B. eine politische Aussage aufzeigt: „Das Gefühl des Widerspruchs der Natur mit dem bestehenden Leben ist das Bedürfnis, daß er gehoben werde; und dies wird er, wenn das bestehende Leben seine Macht und alle seine Würde verloren hat, wenn es reines Negatives geworden ist“ (Entwurf zur VerfassungsSchrift. TW 1.458). Mit dem Terminus Bedürfnis zeigt sich die Problematik, daß der Mensch als die Natur der mit dem Begriff Leben gekennzeichneten, bestehenden Wirklichkeit widerspricht, was aufgehoben werden muß. Ein und dieselbe Problematik kommt auch in Hegels religionsgeschichtlichen Untersuchungen vor, in denen von einer Revolution gesprochen wird (vgl. N 385). Bei ihr handelt es sich um die Frage, wie der Mensch als das Subjekt zur Vereinigung mit der ihm widersprechenden bestehenden Wirklichkeit als dem Objekt gelangen kann. Diese Problematik der Vereinigung von Subjekt und Objekt ist nichts anderes als die des Lebens, mit der Hegel sich in dieser Zeit hauptsächlich beschäftigt, was in diesem gesamten Abschnitt noch genauer zu untersuchen ist. Da das Bedürfnis bzw. der diesem entsprechende Trieb die Ausrichtung des Subjekts zur Vereinigung von Subjekt und Objekt im Leben bedeutet, läßt sich der Standpunkt des Lebens aufgrund der Auffassung dieser Termini kennzeichnen. Die Termini treten als ein Begriffskomplex im Vordergrund des Hegelschen Denkens klarer als bisher auf. Der Zustand, aus dem das Bedürfnis bzw. der Trieb nach der Vereinigung des Lebens hervorgeht und der in der Berner Zeit als die Positivität der christlichen Religion negativ beurteilt wird, wird hier in einer geschichtsphilosophischen Perspektive als das Schicksal bezeichnet. Diesem Zustand setzt Hegel nicht mehr schlechthin den Standpunkt der Selbständigkeit der Vernunft entgegen. Statt des Kantianismus der Berner Zeit bietet er den neuen Standpunkt dar, der jenen Standpunkt relativierend in sich enthält: Leben und Liebe als Modifikation des Lebens. Die Auffassung der betreffenden Termini kann kurz wie folgt dargelegt werden: Das Bedürfnis bzw. der Trieb bedeutet das Verhalten des Subjekts im Schicksal als dem Objekt, in das das Leben umschlägt, die Vereinigung des Lebens wiederherzustellen. Es wird damit in den Prozeß des Lebens eingegliedert. Es tritt in einer sich geschichtlich entwickelnden Bewegung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt auf. Esgehtaus dem Schicksal hervor, das als ein objektives Ergebnis bzw. Produkt des Subjekts von Hegel etwa
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bei Abraham oder beim jüdischen Volk beobachtet wird. Es erscheint überall, wo es um die Aufhebung der Trennung des Lebens geht. So drücken die Termini das Verhalten von seiten des Subjekts im Verhältnis von Subjekt und Objekt aus, in welchem die Vereinigung der beiden Seiten auf irgendeine Weise gesucht wird. Sie bezeichnen etwas, das verschiedenen Verhaltensweisen zugrunde liegt, die Hegel als eine Stufenreihe von Gebot — Gesinnung (Geneigtheit) oder Tugend — Liebe — Religion (vgl. N 389, 394) artikuliert. Im Verlauf des Denkprozesses lassen sich drei Zeiten unterscheiden, nämlich die frühe (A), die mittlere (B) und die späte (C) Zeit. In ihm wird die Auffassung der Termini mit dem Standpunkt des Lebens entwickelt. In der frühen Zeit: Hauptsächlich in der anthropologischen Perspektive wird die gesamte Konstellation in der Weise neu organisiert, daß die Termini die subjektive Seite überhaupt im Verhältnis von Subjekt und Objekt ausdrücken. Die Termini bezeichnen nicht ein Teilphänomen innerhalb des Subjekts, sondern ein ganzheitliches Phänomen des Menschen, das über den Rahmen der Vermögen des Subjekts hinaus ins Verhältnis von Subjekt und Objekt tritt. Die neue Organisierung der Termini findet unter dem Einfluß der HöLDERLiNschen Idee der Liebe statt. In der mittleren Zeit steht die Bemühung im Vordergrund, die in der frühen Zeit erreichten Auffassung der Termini in der geschichtsphilosophischen Perspektive zu artikulieren. An den Termini vollzieht sich der Prozeß des Lebens, der sich als Dialektik von Subjekt und Objekt entwickelt, wie oben skizziert wurde. Um auf die Besonderheiten der Hegelschen Auffassung näher einzugehen, ist ein Vergleich mit der HöLDERLiNschen Auffassung hilfreich, die der Hegelschen nahesteht. Ferner ist es aufschlußreich, die Auffassungen F. SCHLEGELS und SCHLEIERMACHERS ZU berücksichtigen, um die Auffassung Hegels im Rahmen der allgemeinen Atmosphäre seiner Zeit zu bewerten. In der späten Zeit wird versucht, die in der mittleren Zeit erreichten Auffassungen der Termini methodisch zu reflektieren. Das Grundprinzip, das der geschichtlichen Betrachtung der christlichen Religion zugrunde liegt, wird von der empirischen Beschreibung unabhängig thematisiert. Die Auffassung der verschiedenen Bedürfnisse kommt damit zu ihrem letzten Punkt, in dem die Grundbestimmung des Bedürfnisses begriffen wird. Von dieser Grundbestimmung her werden die verschiedenen Bedürfnisse als ihre Modifikationen in eine Stufenreihe eingeordnet. Damit wird die Voraussetzung für die philosophische Auffassung der Termini geschaffen, die erst in Jena als das „Bedürfnis der Philosophie“ zum Ausdruck gebracht wird. Hegels Beschäftigung geht dabei bekanntlich von der Religion zur Philosophie über, was unter dem Einfluß von SCHELLING steht. (A) In der frühen Frankfurter Zeit wie in der Berner Zeit hat der Trieb eine
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physische und negative Bedeutung: „Von seiner [sc. Abrahams] Familie, von seiner Lebensart losgerissen ging sein Erhaltungstrieb itzt ins Unbestimmte — der Trieb zur Sicherheit seiner Existenz das Objekt desselben war seine Erhaltung.“ {N 369) Der Trieb in diesem Sinne ist noch ein Teil des Menschen, der sich dem anderen Teil, d. h. der praktischen Vernunft entgegensetzt: „Alle moralischen Gebote sind Forderungen, diese [sc. praktische] Einheit zu behaupten gegen Triebe“ {N 374). Aber ein wenig später schlägt die Gebrauchsweise dieses Terminus um, so daß der Trieb als die Ganzheit des Menschen, oder seine Tätigkeit überhaupt der Wirklichkeit gegenübersteht: „Wo die Trennung zwischen dem Trieb und der Wirklichkeit so groß ist, daß wirklicher Schmerz entsteht, so setzt er als Grund dieses Leidens ... eine unabhängige Tätigkeit und belebt sie“ {N 377). Beide Aussagen über den Trieb dokumentieren eine Wendung, die mit dem neuen Standpunkt Hegels zusammenhängt, der mit der Liebe zum Ausdruck kommt. Der erste Trieb ist „das mannigfaltige Entgegengesetzte“, das „der praktischen Einheit“ gegenübersteht (N 374). Er ist als „ein Akzidens des Ich“ (ebd.) praktisch aufzuheben. Offensichtlich steht Hegel hier unter dem Einfluß FICHTES. Doch trotz der FiCHXEschen Terminologie wird aus dem Gebrauch des Terminus klar, daß er unverändert kantianisch zu verstehen ist, im Sinne der Berner Zeit als „Bestimmen durchs Nicht-Ich“ {N 361). Hier kann man also nicht die Anwendung des FiCHTESchen Terminus Trieb, sondern nur Hegels eigene kantianische Auffassung beobachten. Im Gegensatz dazu tritt der zweite Trieb als das menschliche Verhalten überhaupt auf, das im ersteren Kontext umgekehrt der „praktischen Einheit“ entspricht. Dabei erscheint er im letzteren Kontext als eine der beiden Seiten in der Trennung, die durch die Liebe vereinigt wird. Er erscheint also in einem größeren Raum der Liebe als dem der Dichotomie zwischen ihm und der praktischen Vernunft L Der Zusammenhang zwischen ihm und der Liebe wird von Hegel vermutlich unter dem Einfluß HöLDERLINS betrachtet, so daß der Trieb von der FiCHTESchen Bestimmung abweicht. In der metrischen Fassung von Hyperion spricht HöLDERLIN von zwei Trieben, nämlich dem aktiven und dem passiven, die sich einander entgegensetzen: „Wir können den Trieb, uns zu befreien, zu veredlen, fortzuschreiten ins Unendliche, nicht verleugnen. Das wäre tierisch, wir können aber auch den Trieb, bestimmt zu werden, zu empfangen, nicht verleugnen. ' Es ist umstritten, wie man die Aussage Hegels im ersteren Fragment angesichts des Terminus Trieb verstehen soll, nämlich kantianisch oder fichteanisch oder schon gemäß Hegels eigener Auffassung der Einheit wie Liebe. Haering wählt die dritte Interpretation und sieht also keine Verschiedenheit in der Auffassung der beiden Fragmente (op. cit. 1.201, 337, 364, 374). Kondylis’ Interpretation (op. cit. 448, 460, 484 f) zählt zum zweiten Fall. Auch er sieht die Wendung zwischen beiden Aussagen Hegels nicht. Über die gesamte Charakterisierung der Aussage Hegels im ersteren Fragment vgl. Ch. ]amme: op. cit. 176.
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das wäre nicht menschlich. Wir müßten untergehn im Kampfe dieser widerstreitenden Triebe.“ (SWB 1.510) HöLDERLIN erkennt also nicht nur den Trieb nach dem Unendlichen, der dem FiCHXESchen Terminus entspricht, sondern auch den „Trieb, bestimmt zu werden“, der die Beschränktheit des Menschen zeigt und der bei FICHTE zwar gegenwärtig ist, aber unterdrückt wird2. In bezug auf diesen Punkt kritisiert HöLDERLIN FICHTE deswegen, weil bei dessen Standpunkt des absoluten Ich das Bewußtsein als etwas Beschränktes nicht denkbar ist. Er schreibt an Hegel zur gleichen Zeit der genannten Fassung von Hyperion: „Sein [sc. FICHTES' absolutes Ich( = SPINOZAS Substanz) enthält alle Realität ... Es gibt also für dieses absolute Ich kein Objekt, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Objekt ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Objekt bin, so bin ich als solches notwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit sein, also nicht absolut. Also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein denkbar, als absolutes Ich habe ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts.“ (26.1.1795, Br 1.19f) Erst mit HöLDERLINS Argument über den FiCHTEschen Begriff Trieb kann man diesen Begriff als etwas Empirisches verstehen, insofern die Tätigkeit des Menschen für beschränkt gehalten wird. Dazu schreibt HöLDERLIN an seinen Bruder: „die ihrem Triebe nach unendliche unbeschränkte Tätigkeit ist in der Natur eines Wesens, das Bewußtsein hat (eines Ich, wie FICHTE sich ausdrückt), notwendig, aber auch die Beschränkung dieser Tätigkeit ist einem Wesen, das Bewußtsein hat, notwendig, denn wäre die Tätigkeit nicht beschränkt, nicht mangelhaft, so wäre diese Tätigkeit alles, und außer ihr wäre nichts; litte also unsere Tätigkeit keinen Widerstand von außen, so wäre außer uns nichts, wir wüßten von nichts, wir hätten kein Bewußtsein“ (13.4.1795, SWB 2.648f). Der Trieb wird also als das Verhalten des Menschen, der in seinem Bewußtsein dem Gegenstand gegenübersteht, im empirischen Bereich betrachtet, sei er aktiv oder passiv. Er wird sozusagen im Zusammenhang mit dem Objekt als relativiert erfaßt. Innerhalb dieses Zusammenhangs sieht HöLDERLIN den Widerstreit der Triebe, der von der Liebe aufgehoben wird: „die Liebe vereinigt sie [sc. die Triebe].“ (SWB 1.510)^ Die Richtungen der beiden Triebe machen die beiden Momente der Liebe aus: „Sie strebt unendlich nach dem Höchsten und Besten, denn ihr Vater ist der Überfluß, sie verleugnet aber ihre Mutter, die 2 Vgl. /. Barnouw: Der Trieb, bestimmt zu werden. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 46 (1972), 267 ff. Über zwei Triebe bei Hölderlin vgl. Ch. Jamme: op. dt. 81, 89. 3 D. Henrich {Hegel im Kontext. 17) betrachtet den Trieb als einen eigenen Terminus Hölderlins nicht und erfaßt deshalb den Unterschied zwischen dem Trieb und der Liebe nicht, obwohl er den letzteren Begriff Höiderlins mit dem Wort Trieb erklärt.
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Dürftigkeit, nicht; sie hofft auf Beistand. So zu lieben ist menschlich.“ (ebd.) Statt der Bestimmung des absoluten Ich von FICHTE und SCHELLING übernimmt Hegel die der Liebe und auch die des Triebes von HöLDERLIN. Der Ausdruck „Trieb, bestimmt zu werden“ findet sich zwar nicht bei Hegel, aber dieser übernimmt die Einstellung HöLDERLINS in dem Punkt, daß der Trieb als Bestimmung des endlichen Ich im Zusammenhang mit dem Objekt („Wirklichkeit“ im Hegelschen Kontext) empirisch ist. Die HöLDERLINschen widerstreitenden Triebe sind also als zwei Verhaltensweisen des Triebes im Zusammenhang mit der Wirklichkeit umgedeutet. Zeitlich kurz vor dieser Bestimmung des Triebes spricht Hegel in der zweiten Hälfte des Fragments „Positiv wird ein Glauben genannt“, in dessen erster Hälfte der Trieb noch grundsätzlich unverändert wie in der Berner Zeit betrachtet wird (s. o. Zitat aus N 374), von der Liebe, die die HöLDERLiNschen beiden Trieben entsprechenden subjektiven und objektiven Verhaltensweisen des Menschen vereinigt; „Die theoretischen Synthesen werden ganz objektiv, dem Subjekt ganz entgegengesetzt — Die praktische Tätigkeit vernichtet das Objekt, und ist ganz subjektiv — nur in der Liebe allein ist man eins mit dem Objekt, es beherrscht nicht und wird nicht beherrscht“ (N 376). Dies zeigt eine Übergangsphase zur neuen Auffassung des Triebes. Trieb zeigt im Rahmen dieses neuen Standpunktes, d. h. in der Einheit des Subjekts und Objekts, die Seite des Subjekts überhaupt, durch dessen Verhalten er sich in irgendeiner Wiedervereinigung objektiviert. Dann kann Hegel das Verhalten des Menschen, das er vor der Wendung seines Standpunktes mit einem allgemeinen Ausdruck wie „Wunsch der Unabhängigkeit“ (N 370) bezeichnet, mit dem Ausdruck wie „Trieb zur Unabhängigkeit“ {Ham 529) bezeichnen, das der obengenannten subjektiven Verhaltensweise entspricht. Es ist bemerkenswert, daß dieser Trieb in einem praktischen Kontext auftritt. In einer politischen Aussage erscheint er im Zusammenhang mit dem Bedürfnis, wobei es um die Veränderung des bestehenden Zustandes nach dem Maßstab der Gerechtigkeit geht: „sie [sc. die Zeit] wird den Trieb nach dem, was einem wahren Bedürfnis abhilft, nur verstärken ... Gerechtigkeit ist... der einzige Maßstab; der Mut, Gerechtigkeit zu üben, die einzige Macht, die das Wankende mit Ehre und Ruhe vollends wegschaffen und einen gesicherten Zustand hervorbringen kann.“ {Daß die Magistrate von den Bürgern gewählt werden müssen. TW 1.269) Mit dem Terminus Trieb bzw. Bedürfnis wird also das Verhalten des Subjekts, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, und daher das praktische Anliegen Hegels formuliert. Da der Trieb dabei in der Zeit erscheint, welcher das Bedürfnis nach Gerechtigkeit zugrunde liegt, hängt sein Erscheinen mit einem zeitlich bestimmten Zustand der Wirklichkeit zusammen, in dem die Gerechtigkeit als verloren empfunden wird. Was hier besprochen wird, ist nichts anderes als das, was
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aus der geschichtsphilosophischen Perspektive beim Bedürfnis zu beobachten ist“*. Die Rede über das Bedürfnis kommt nämlich in einer Geschichtsschreibung des jüdischen Volkes vor. Es handelt sich auch dabei um den Zustand dieses Volkes, der gleichsam dem „wahren Bedürfnis“ nicht entspricht. Auch wenn dieser Terminus nicht vorhanden ist, ist von einem der Sache nach damit eng verbundenen Phänomen („Gefühl eines Mangels“) die Rede, das die Abwesenheit der Vereinigung vom Menschen als dem Subjekt und dem bestehenden Zustand der Wirklichkeit als dem Objekt verkündet. In der Geschichte der Juden sei der Übergang vom Hirtenleben zum Staat nicht von selbst, sondern durch fremden Einfluß geschehen, und „dieser Zustand war gewaltsam, und mit dem Gefühle eines Mangels begleitet; dies Gefühl aber war nicht allgemein, nicht auf alle Seiten des Zustandes ausgedehnt“ (A1370). Was hier gefühlt wird, liegt im Mangel an Einheit des Volkes mit dem bestehenden Zustand. Nach Hegels Beurteilung war dieses Gefühl so schwach, daß das Volk damit diesen Zustand nicht bekämpfen konnte. Aber Hegel sieht in diesem Gefühl den Ausgangspunkt zum „Wunsch der Unabhängigkeit“: „Im Anfang konnte er [sc. Moses] zunächst nur in ihm [sc. dem jüdischen Volk] das Gefühl seines Drucks und ein dunkles ziemlich kraftloses Andenken an einen andern Zustand ihrer Väter benutzen, um es zum Wunsch der Unabhängigkeit zu führen“ (ebd.). In diesem Gefühl zeigt sich also die Richtung des Verhaltens, in der Unabhängigkeit die Einheit des Volkes mit seinem Zustand zu erschaffen. Dabei ist zu beachten, daß der bestehende Zustand als Totes charakterisiert wird, dem sich das Leben entgegensetzen soll: „In einer solchen Periode, wo dem nach innern Leben Durstigen ... wo nun dem etwas Besseres Suchenden, in dem er leben könnte, kaltes privilegiertes Totes geboten, und ihm dabei gesagt wurde, dies ist Leben; in einer solchen Periode hatten die Essener, hatte ein Johannes, ein Jesus in sich selbst Leben geschaffen, und stunden im Kampf gegen das ewig Tote auf.“ (N 371) Das Leben ist hier doppelt vorhanden, einerseits als das, was angeblich dem etwas Besseres Suchenden geboten, aber von diesem für Totes gehalten ist, und andererseits als das, was dieser geschaffen hat und dem ,Toten‘ entgegensetzt. Das Leben erscheint nur als etwas, das von der Bewertung des Subjekts abhängig ist, und also noch nicht als die allgemeine auch das Tote in sich enthaltende Substanz, die als die Bestimmung des Lebens im nächsten Zeitraum zu beobachten ist. Allerdings läßt sich feststellen, daß Hegel mit dem Begriff Leben versucht, den seinem Anliegen angemessenen Ausdruck zu erreichen.
* Vgl. O. Pöggeler: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt. In: Hegel-Studien. 9 (1974), 85; ders.: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. 37.
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Bei diesem Begriff handelt es sich um etwas, in dem das Gefühl eines Mangels befriedigt werden sollte. In diesem Kontext kann das Bedürfnis als der Mangel am Lehen verstanden werden: „so wenig tiefes Bedürfniß war Befreiung aus ihrem Zustande ihnen [sc. den Juden] geworden“ {Ham 347). Beide Begriffe, Bedürfnis und Lehen, sind also miteinander verbunden. Hier bedeutet das Bedürfnis gleichsam etwas Geistiges wie Befreiung. Aber es hängt auch mit der Not zusammen, die etwas Physisches ist: „Das Wasser“ ist „ein Bedürfnis der Noth für ihn [sc. Abraham] und sein Vieh“ (Ham 351). Beide Arten des Bedürfnisses müssen einheitlich begriffen werden. Insofern in der ersten Fassung des Fragments „welchem Zwekke denn“ (bei NOHL: Die Liebe) der neue Standpunkt der Liebe mit dem Ausdruck Lebendiges, der offensichtlich auf den Begriff Leben bezogen ist, beschrieben wird („Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur gegen das Lebendige statt“, Hegel-Studien. 17 (1982), 13), sollte das Bedürfnis von der Liebe befriedigt werden. Denn das Bedürfnis entspricht dem Trieb, der als ein Teilphänomen in der Liebe enthalten ist. Dann könnten die beiden Arten des Bedürfnisses im gesamten Prozeß des Lebens einheitlich begriffen werden. Aber in diesem Zeitraum kommt Hegel noch nicht zu diesem Ergebnis, weil er das Leben noch nicht für das hält, was alles vereinigen kann. Die Not bleibt nämlich außerhalb des Lebens®, insofern der der Not abhelfende Judengott einem Gott als einem Lebendigen entgegengesetzt wird: „da wäre ein Gott, der nicht herrschte, sondern ein freundschaftliches Wesen, eine Schönheit, ein Lebendiges, dessen Wesen Vereinigung ist, da hingegen der Judengott höchste Trennung ist, alle Vereinigung ausschließt... die jüdische Religion, die nur aus der Not hervorging,... half auch nur der Not ab, sie vereinigte nur unvollständig, daß eines neben dem andern bestehen konnte, oder durch Vernichtung.“ (N 374) Das Lebendige setzt sich schlechthin der Not entgegen und enthält sie deshalb noch nicht. Die beiden Arten des Bedürfnisses im Leben einheitlich zu begreifen, bleibt dann als eine Aufgabe Hegels in der nächsten, mittleren Zeit übrig. Die in diesem frühen Zeitraum erreichte Auffassung, daß das Bedürfnis als das Gefühl eines Mangels bezeichnet wird, findet ihre praktische Bedeutung in einem politischen Text: „Die Briefe... enthalten... eine Geschichte des ephemerischen Siegs dieser [sc. Berner] Regierung im Jahr 1791 über das in den Wadtländern wieder aufgelebte Bedürfnis, ihre Verfassung wiederhergestellt zu sehen, — eines Siegs, der eine Niederlage ihrer noch übrigen Rechte war und zu dem Wunsche der Freiheit auch noch die tiefste Erbitterung aller Gemüter gegen ihre Unterdrücker hinzufügte.“ (Vertrauliche
5 Das Bedürfnis und die Not entsprechen sich nicht immer. Vgl. Th. Haering: op. cit. 1.331.
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Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältnis des Wadtlandes zur Stadt Bern. TW 1.256) Der Verlust der Verfassung wird hier als Mangel gefühlt. Auf der Grundlage dieses Gefühls eines Mangels verhält sich der Mensch mit dem Wunsch der Freiheit, der auch als Trieb nach der Freiheit bezeichnet werden kann (vgl. o. praktische Bedeutung des Triebes, Zitat aus TW 1.269). Die hier nicht vorhandenen Termini Streben und Begierde werden im Zusammenhang mit der betreffenden Auffassung der Termini Trieb und Bedürfnis in der mittleren Zeit artikuliert. (B) In der mittleren Zeit wird die in der frühen Zeit erreichte Auffassung der betreffenden Termini hauptsächlich aus der geschichtsphilosophischen Perspektive behandelt. Zunächst ist zu erklären, wie sich die Auffassung des Triebes als des Verhaltens des Subjekts überhaupt auf die des in der Geschichte vorhandenen Triebes bezieht. In der Geschichte der Juden erscheint der Trieb als etwas sich Widersprechendes; „ihr Trieb nach Unabhängigkeit war eigentlich Trieb nach Abhängigkeit von etwas Eigenem.“ (N 258) Der Trieb erhält auch hier zwar die Bestimmung als das Verhalten des Subjekts, aber er richtet sich nicht nach Unabhängigkeit, sondern umgekehrt nach Abhängigkeit. Der Trieb ist eigentlich „einem bestimmten Willen“ gleich, der beim passiven Menschen nicht wirklich ist; „zur bestimmten Handlung ein bestimmter Wille, Trieb notwendig; aber dieser bestimmte Wille ist nicht im passiven Menschen wirklich“ {N 387). Bei den Juden findet sich dieser Trieb nicht, der in der Wiedervereinigung von Subjekt und Objekt objektiviert werden kann (s.o. A). Statt dessen ist ein Fremdes vorhanden, das kein objektivierter Trieb ist; „Das Objekt der Handlung ist im Positiven nicht der reflektierte Trieb selbst, oder der Trieb als Objekt, sondern ein Fremdes, von dem Triebe Verschiedenes.“ {N 388) Der bei den Juden vorhandene Trieb muß von dem „einem bestimmten Willen“ gleichen Trieb unterschieden werden. Jener entspricht dem „Zustand einer völligen Passivität“ oder dem „tierischen Dasein“ (N 258) der Juden. Es fragt sich dann, wie die beiden Arten des Triebes einheitlich zu betrachten sind. In der zweiten Fassung des Fragments „welchem Zwekke denn“ wird diese Frage in der Weise beantwortet, daß die Reflexion in der Entwicklung des Lebens die beiden Arten des Triebes als mögliche Formen des Verhaltens des Subjekts innerhalb des Verhältnisses von Subjekt und Objekt produziert®. Auch die jüdische Art des Triebes wird damit in den Prozeß des Le^ Erst in der zweiten Fassung des Fragments erscheint der Terminus Trieb in seiner Beziehung zur Herkunft des Mannigfaltigen. Dazu vgl. D. Henrich: op. cit. 28 Anm. Es ist bemerkenswert, daß es zwischen den beiden Fassungen des Fragments sozusagen empirische Untersuchun-
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bens eingeordnet. Sie ist als ein Moment des Prozesses des Lebens anerkannt, auch wenn sie wegen der Abweichung von der eigentlichen Art begrenzt ist und deswegen aufgehoben werden muß. Hier wird der Trieb im allgemeinen im Hinblick auf die Liebe und das Leben bewertet. Er liegt in einer Zwischenphase von der die unentwickelte Einigkeit zerstörenden Entgegensetzung zur entwickelten Einigkeit: „der unentwickelten Einigkeit stand die Möglichkeit der Trennung, und die Welt gegenüber; in der Entwiklung producirte die Reflexion immer mehr entgegengeseztes, das im befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie das Ganze des Menschen selbst ihm entgegensezte, bis die Liebe die Reflexion in völliger Objektlosigkeit aufhebt, dem entgegengesezten Charakter eines fremden raubt, und das Leben sich selbst ohne weiteren Mangel findet.“ (Hegel-Studien. 17, 14 f) Die Stelle des Triebes im Prozeß des Lebens läßt sich damit klar bestimmen, nämlich im Übergang von der zweiten zur dritten Stufe dieses Prozesses. Die Bestimmungen des Triebes werden als der Inhalt der „Bildung“ des Lebens angesehen, so daß der Trieb als geschichtlich zu entwickelnd betrachtet wird. Damit wird er als das bezeichnet, was die Vereinigung des Subjekts und Objekts verwirklicht. Dies ist gerade als das Hauptthema des sogenannten „Geistes des Christentums und seines Schicksals“, d. h. die „Versöhnung des Schicksals durch die Liebe“ zu untersuchen. Wenn Hegel hier auch den betreffenden Terminus Trieb nicht gebraucht, so handelt es sich dabei doch um ein und dieselbe Struktur des SubjektObjekt-Verhältnisses, wo der Trieb verschiedenen Verhaltensweisen zugrunde liegt. Jesus verkündigt die „Vergebung der Sünden“ {N 283) durch die Liebe. In dieser Verkündigung zeigt sich, daß diejenigen, die an Jesus glauben, über das Schicksal erhoben sind. Die Vergebung der Sünden ist nämlich nichts anderes als „durch Liebe versöhntes Schicksal“ (ebd.). Hegel versucht prinzipiell zu zeigen, daß in Jesus als einem geschichtlichen Individuum aufgrund der inneren Gesetzlichkeit der „Versöhnung des Schicksals durch die Liebe“ das Schicksal durch die Liebe versöhnt werden kann. Um diese Versöhnung möglich zu machen, müssen die Liebe und das Schicksal in ein und derselben Dimension begriffen werden. Da das Schicksal durch die Liebe versöhnt wird, die ein Verhalten des Subjekts zur Vereinigung des Subjekts und Objekts ist, muß die Versöhnung das Ergebnis des subjektiven Verhaltens sein; erst dadurch, daß das Schicksal als ein Zustand der reellen objektiven Welt in die Dimension des Subjekts umgesetzt wird, ist die Versöhnung möglich. Dies bedeutet, daß das objektive Schicksal das Individuum gen Hegels, seien es religionsgeschichtliche oder seien es praktisch-philosophische, gibt, in denen Hegel sich mit verschiedenen Mannigfaltigen auseinandersetzen muß (s. Zitate aus Ham 529, TW1.269, N 258, N387 f). Dementsprechend entwickelt sich die Auffassung dieses Terminus bis zu dem Punkt, in dem der Trieb auf „mannigfaltige“ Weise betrachtet wird.
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als das Subjekt dazu drängt, sich des Schicksals bewußt zu sein, und bedingt, sich mit Liebe zu verhalten, um das Schicksal zu versöhnen. Das Schicksal wird damit subjektiviert^. Dies kann man als die umgekehrte Seite dessen ansehen, daß der Trieb, wie oben gezeigt, objektiviert werden kann. Dies sind die beiden Seiten ein und derselben Sache, die sozusagen die Identität des Subjekts und Objekts besagt. Hier wird die allgemeine Substanz betrachtet, die sowohl dem Schicksal als auch der Liebe zugrunde liegt: nämlich das Leben als der Grund, aus dem das Schicksal und die Liebe hervorgehen. Im Leben wird die Einheit bzw. Identität von Subjekt und Objekt verwirklicht. Das Schicksal ist die Negation dieser Einheit. Diese Negation ist nicht Nichtsein des Lebens, sondern dessen Trennung. Da das Leben eigentlich etwas Einheitliches und das Schicksal dessen Trennung ist, bedeutet die Versöhnung die Wiederherstellung der Einheit durch die erneute Negation der von der Trennung hervorgebrachten Negation. Hier zeigt sich eine dreistufige Bewegung des Lebens. Das, was in der Versöhnung begriffen wird, bezieht sich auf den Übergang von der zweiten zur dritten Stufe der Bewegung des Lebens. Hegel versucht zu klären, wie das Schicksal den Menschen als das Subjekt bedingt, und worauf sich das Verhalten des Subjekts richtet: (1) „Die Wirkung seines [sc. des Verbrechers] Schicksals“ (N281) als diese Bedingung bringt „das Gefühl des zerstörten Lebens“ (ebd.) hervor und wird also subjektiv!ert. (2) Dieses Gefühl wird als „eine Sehnsucht nach dem verlornen [sc. Leben]“ (ebd.) vertieft. In der Sehnsucht wird das Verlorene als das Leben oder als „ihr einst Freundliches“ {N 282) erkannt. Aber die Sehnsucht bedeutet nicht unmittelbar die Wiederherstellung der Einigkeit des Lebens, denn sie leidet erst unter dem Widerspruch des Bewußtseins ihrer Schuld, die das Schicksal hervorgebracht hat, und des wieder angeschauten Lebens, insofern sie sich von der Rückkehr zu diesem noch zurückhält. So sehr verlängert sie „das böse Bewußtsein und das Gefühl des Schmerzens“ (ebd.) und reizt es jeden Augenblick auf, „um sich nicht leichtsinnig mit dem Leben, sondern aus tiefer Seele sich wieder zu vereinigen, es wieder als Freund zu begrüßen“ (ebd.) Erst durch solches Leiden innerhalb des Subjekts kann das Individuum sich seiner Schuld bewußt sein, die das Schicksal verursacht hat, so daß sein Verhalten von einem höheren ersetzt wird. (3) Dieses neue Verhalten des Subjekts ist nichts anderes als die Liebe, die als „die Empfindung des Ganzen“ (N 270) die im Schicksal entzweite Ganzheit des Lebens wiederherstellt: „Das Leben hat in der Liebe das Leben wiedergefunden. ... das ’’ Lukäcs wertet die Subjektivierung des Schicksals als „eine vollständige Verzerrung der wirklichen Zusammenhänge“ (op. cit. 266) ab. Aber es darf nicht übersehen werden, daß erst durch die Erfassung dieser Subjektivierung die Struktur des Subjekt-Objekt-Verhältnisses geklärt wird.
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Leben entzweite sich mit sich selbst und vereinigte sich wieder.“ {N 289) Also wird das Schicksal durch den Prozeß der Subjektivierung vom Schicksal selbst zur Liebe versöhnt. Hier zeigt sich die Richtung der Bedingung vom Objekt zum Subjekt; das Subjekt wird nämlich vom Objekt in dem Sinne bedingt, daß jenes von diesem dazu gedrängt wird, sein Verhalten zu ändern. Dies bedeutet, daß der Mensch durch die Geschichte objektiv bedingt wird. Aber er wird umgekehrt als das Subjekt der Geschichte begriffen, das durch die Subjektivierung des Schicksals als des Objekts die Entzweiung des Lebens überwindet und die Einheit wiederherstellt. Es erhellt aus dem Obigen, daß der dreistufige Prozeß des Lebens ein dynamischer ist, der die Subjektivierung beim Individuum als ein unentbehrliches Moment enthält. In diesem Prozeß findet das Individuum den Grund seiner Existenz und erhält zugleich sein Selbst als das Subjekt. Bei der Subjektivierung des Schicksals handelt es sich um ein und dieselbe Stellung des Triebes im Prozeß des Lebens, auch wenn der Terminus Trieb nicht vorhanden ist. Daraus ergibt sich, daß das Wort Trieb als Hegels eigener Terminus, der seinen eigenen Standpunkt des Lebens klar ausdrücken sollte, noch nicht deutlich Umrissen ist. Doch ist dieses Wort bei ihm sehr beliebt, so daß er den Trieb als etwas der Sache nach mit dem Leben Verwandtes versteht. In der geschichtlichen Situation bei den Juden beispielsweise tritt der Trieb auf: „Im Geiste der Juden freilich stand zwischen Trieb und Handlung, Lust und Tat, zwischen Leben und Verbrechen, und Verbrechen und Verzeihung eine unübersteigliche Kluft, ein fremdes Gericht“ {N 290). Auch in dieser Situation gibt es für einige Menschen eine Möglichkeit zur Freiheit, die vom Trieb danach verwirklicht werden sollte: „einige wenige reine Seelen schlossen sich mit dem Triebe, gebildet zu werden, an ihn Isc. JESUS] an; mit großer Gutmütigkeit, mit dem Glauben eines reinen Schwärmers nahm er ihr Verlangen für befriedigtes Gemüt, ihren Trieb für Vollendung, ihre Entsagung einiger bisherigen Verhältnisse, die meist nicht glänzend waren, für Freiheit und geheiltes oder besiegtes Schicksal“ (N525). Hier zeigt sich ein und dieselbe Struktur, in der das Schicksal als das Objekt durch den Trieb nach Freiheit als das Verhalten des Subjekts aufgehoben wird. Die Verbindung der Bildung und des Triebes in der letzten Aussage erinnert uns an den Begriff „Bildungstrieb“, der zuerst von BLUMENBACH gebrauchtwurde. Nach seiner Schrift Überden Bildungstrieb (1789) zählt dieser Trieb zu den Lebenskräften, die nur im organischen Bereich vorhanden sind. BLUMENBACH ist davon überzeugt, „daß in dem vorher rohen ungebildeten Zeugungsstoff der organisirten Körper nachdem er zu seiner Reife und an den Ort seiner Bestimmung gelangt ist, ein besonderer, dann lebenslang thätiger Trieb rege wird, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwa verstümmelt worden, wo mög-
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lieh wieder herzustellen“ (24). Dieser Trieb ist einer, „der die erste wichtigste Kraft zu aller Zeugung, Ernährung, und Reproduction zu seyn scheint, und den man um ihn von andern Lebenskräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungstriebes (nisus formativus) bezeichnen kan“ (25). BLUMENBACH gebraucht diesen Terminus nur fachwissenschaftlich (biologisch) und außer der Auffassung des Triebes als des niedrigen Begehrungsvermögens in der Vermögenspsychologie. Hier gibt es ferner keine Spur der moralischen Beurteilung. Er sieht auch im unorganischen Bereich eine bildende Kraft, die in gleicher Reihe mit dem Bildungstrieb steht, und stützt sich auf diese Kraft „zum Erweis des Bildungstriebes“, nämlich in dem Sinne, „dass auch im unorganischen die Spuren von bildenden Kräften so unverkennbar und so allgemein sind. Von bildenden Kräften ... von andern [sc. als dem Bildungstrieb wie einer Lebenskraft] bildenden Kräften, von welchen sich in diesem unbelebten Naturreiche die deutlichsten Beweise an so bestimmten, überaus regelmässigen Gestaltungen zeigen, die aus einem vorher ungebildeten Stoffe geformt werden.“ (72 f) Eine ähnliche Auffassung der Natur wird zwar schon bei HERDER U. a. geäußert, aber zum ersten Mal wird der Begriff Trieb in bezug auf Bildungen der Natur fachwissenschaftlich gebraucht. Auch diese Auffassung stellt möglicherweise einen Anlaß zur Überwindung der Auffassungen der Vermögenspsychologie dar, weil es sich hier nicht um ein teilhaftes Vermögen, sondern um eine ganzheitliche Kraft des organischen Körpers handelt. Der Begriff Bildungstrieb wird eigentlich, wie gezeigt, im organischen Bereich angewendet. Aber bei Hegel kommt es auf einen menschlichen Bereich an, in dem nicht biologische, sondern geschichtsphilosophische Bestimmungen Vorkommen. Allerdings ist Hegel möglicherweise der einzige Denker, der damals diesen Begriff nicht im buchstäblichen Sinne gebraucht, während andere ihn meist — auch wenn nicht im biologischen, sondern in einem nach Analogie davon vorgestellten Sinne — als ihren eigenen Terminus übernehmen und gebrauchen. Parallel zur Auffassung Hegels entwickelt z. B. HöLDERLIN seine Auffassung des Triebes und drückt sie gerade mit dem Begriff Bildungstrieb aus, so daß die Struktur des Triebes deutlicher als die in seiner vorherigen Ansicht begriffen wird, obwohl das Subjekt-ObjektVerhältnis bei diesem Begriff weniger klar als bei dem Hegelschen ist. Hier zeigt sich auch eine allgemeine Atmosphäre für die neue Auffassung des Triebes. In seinem Entwurf Der Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben (1799/1800) betrachtet HöLDERLIN die Struktur des Triebes, „der darauf geht, das Ungebildete zu bilden, das Ursprüngliche, Natürliche zu vervollkommnen“ {SWB 1.845) deutlicher als im Hyperion. Erbezeichnet im genannten Entwurf den Trieb als einen, der gewissermaßen geschichtlich entwickelt wird, während er ihn im Hyperion in einem Widerstreit zweier
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Triebe beschreibt, in dem diese beiden keine bestimmte Struktur haben, und der in der Liebe unmittelbar zu lösen ist. Die widerstreitenden Triebe werden hier gleichsam als Modifikationen des ursprünglichen ,Bildungstriebes' bezeichnet: es geht darum, wie man die Verirrung dieses ,Triebes‘ vermeiden kann, die uns das „Schicksal“ (ebd.) hervorbringt. Sie wird dadurch vermieden, „daß wir die wesentlichsten Richtungen, die er [sc. der Bildungstriebl vor und um uns nahm, auch seine Verirrungen um uns her erkennen und nun, aus demselben Grunde, den wir lebendig, und überall gleich, als den Ursprung alles Bildungstriebs annehmen, unsere eigene Richtung uns vorsetzen, die bestimmt wird durch die vorhergegangenen reinen und unreinen Richtungen, die wir aus Einsicht nicht wiederholen“ {SWB 1.846). Auch bei HöLDERLIN erscheint die Subjekt-Objekt-Problematik unter dem Begriff Schicksal aber weniger ausgeprägt als bei Hegel. Schicksal ist das, „was allgemeiner Grund vom Untergang aller Völker war, nämlich, daß ihre Originalität, ihre eigene lebendige Natur erlag unter den positiven Formen, unter dem Luxus, den ihre Väter hervorgebracht hatten“ {SWB 1.845). Im Gegensatz der Originalität bzw. der „eigenen lebendigen Natur“ und der „positiven Formen“ bzw. des Luxus läßt sich die obengenannte Problematik sehen; das erstere als das Subjektive ist objektivierbar und leidet unter dem letzteren als dem Produkt dieser Objektivierung. Hier liegt die Wirkung von der Seite des Objektiven auf das Subjektive, in dem Sinne, daß „eine fast grenzenlose Vorwelt, die wir entweder durch Unterricht oder durch Erfahrung innewerden, auf uns wirkt und drückt“ (ebd.). Bei HöLDERLIN bleibt unklar, wie sich der Bildungstrieb auf das „wir“ bezieht, das „unsere eigene Richtung uns vorsetzen“ (SWB 1.846) sollte; beide sind voneinander getrennt, denn das „wir“ ist nicht in den Bildungstrieb eingeordnet, so daß seine Herkunft unerklärt bleibt. Im Unterschied davon bedeutet der Trieb bei Hegel eine Verhaltensweise des Subjekts, die sich im Zusammenhang des Subjekts mit dem Objekt entwickelt, damit ein neues Subjekt-ObjektVerhältnis geschafft werden kann. Nach Hegel ist die Liebe nur das Ergebnis einer Verhaltensweise, das durch die Religion ersetzt werden muß. Auch bei der Religion geht es um ein und dieselbe Struktur des SubjektObjekt-Verhältnisses, die den verschiedenen Trieben zugrunde liegt. Die Tendenz zur Einheit von Subjekt und Objekt wird mit dem Terminus Bedürfnis ausgedrückt, der im Zusammenhang mit dem Terminus Trieb schon in einem praktisch-philosophischen Kontext (s. o. Zitat aus TW 1.269) erschien; „sie [sc. Liebei, eine Empfindung, ein Subjektives mußte mit dem Vorgestellten, dem Allgemeinen zusammenschmelzen und damit die Form eines anbetungsfähigen und würdigen Wesens gewinnen. Dies Bedürfnis, das Subjektive und Objektive, die Empfindung und die Forderung derselben nach Gegenständen, den Verstand durch die Phantasie in einem Schönen, einem Gotte zu vereinigen, dies Bedürfnis, das höchste des menschlichen Geistes,
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ist der Trieb nach Religion.“ (Ai 332) Angesichts ein und derselben Struktur des Subjekt-Objekt-Verhältnisses werden die beiden Termini parallel in einem fast gleichen Sinne gebraucht. Dem „Trieb nach Unabhängigkeit“ entspricht das „Bedürfnis der Freiheit“, dessen Abwesenheit Hegel in einem gemeinen Verhalten des jüdischen Volkes sieht und als den Ausgangspunkt zur „Versöhnung des Schicksals durch die Liebe“ betrachtet. „Es ist kein Wunder, ... daß es ohne Seele und eigenes Bedürfnis der Freiheit bei seiner Befreiung gewesen war.“ {N 249) Es kommt zu einem Ergebnis, das als das „bloße, leere Bedürfnis“ bzw. „ein Bedürfnis der Not“ (Ai 246) bezeichnet wird, das dem „Trieb nach Abhängigkeit von etwas Eigenem“ entspricht: „Bei dieser durchgängigen Passivität blieb ihnen [sc. den Juden] außer der Bezeugung ihrer Dienstbarkeit, nichts übrig, als das bloße, leere Bedürfnis, die physische Existenz zu erhalten und sie gegen diese Not zu sichern.“ (N 252) Hier zeigen sich zwei verschiedene Umstände, die Hegel mit dem gleichen Terminus Bedürfnis bezeichnet, nämlich entweder Freiheit oder Not. Für die Auffassungen dieses Terminus muß es einen gemeinsamen Grund geben. Dabei handelt es sich um ein und dieselbe Struktur des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, in dem die Vereinigung von Subjekt und Objekt auf irgendeine Weise durch das Verhalten des Subjekts gesucht wird. Das Bedürfnis zeigt einen Zustand, der am Anfang des Prozesses des Lebens von der Entzweiung zur Vereinigung von Subjekt und Objekt steht. Es ist hier bemerkenswert, daß die Not als eine bestimmte Form des Bedürfnisses betrachtet wird. Obwohl sie den Charakter hat, „ein Zustand des Zerrissenseins“ (N 262) zu sein, ist bei ihr auch eine gewisse Möglichkeit vorhanden, die Vereinigung bei dem „gemeinsamen Geist“ zu schaffen: „Eine Menge gleicher Zwecke, der ganze Umfang der physischen Not, kann Gegenstand vereinigter Tätigkeit sein, in dieser stellt sich der gleiche Geist (dar), und dieser gemeinsame Geist gefällt sich dann auch sich in der Ruhe zu erkennen zu geben, seiner Vereinigung froh zu sein, indem er sich in Freude und an Spiel sich selbst genießt.“ (N 322 f) Auch diese Vereinigung ist wohl eine Form des Subjekt-Objekt-Verhältnisses im Prozeß des Lebens. Denn der Ausweg aus der Not eröffnet sich zumindest zur Befriedigung des gemeinten menschlichen Bedürfnisses, die über die Passivität bei der Not deswegen erhaben ist, weil in diesem Bedürfnis „unmittelbar doch das Gefühl oder die Erhaltung eines wenn auch leeren Seins liegt“ (N 262); das letztere Bedürfnis kann durch die religiösen Handlungen als das höchste Verhalten des Subjekts im Prozeß des Lebens insofern befriedigt werden, als sie „das Geistigste, das Schönste, dasjenige sind, was auch die durch Entwicklung notwendigen Trennungen noch zu vereinigen strebt, und die Vereinigung im Ideal als völlig seiend, der Wirklichkeit nicht mehr entgegengesetzt darzustellen, also in einem Tun sie auszudrücken, zu bekräftigen
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sucht“ (ebd.). Damit enthält das Leben auch den zerrissenen Zustand in der Not als ein Moment seines Prozesses. Hier zeigt sich eine Wendung der Auffassungsweise der Not, mit der das in der frühen Frankfurter Zeit übrig gebliebene Problem gelöst wird.® Unter ein und demselben Gesichtspunkt unterscheiden sich die Bedürfnisse, die den verschiedenen Verhaltensweisen des Subjekts in der Reihe Gebot — Geneigtheit — Liebe — Religion entsprechen. (1) Das obengenannte „bloße, leere Bedürfnis“ bzw. „Bedürfnis der Not“ entspricht dem Gebot, während (2) das Bedürfnis, das JESUS dem Gebot gegenüberstellte, der Geneigtheit entspricht; „Geboten, die einen bloßen Dienst des Herrn, eine unmittelbare Knechtschaft, einen Gehorsam ohne Freude, ohne Lust und Liebe verlangten, d. h. den gottesdienstlichen Geboten stellte Jesus das ihnen gerade Entgegengesetzte, einen Trieb, sogar ein Bedürfnis des Menschen gegenüber.“ (ebd.) (3) Da die Vereinigung durch die Handlung nach der Geneigtheit nur einzeln und isoliert da steht, entspringt „das Bedürfnis eines Ganzen der Vereinigung“ (N 389), „das Bedürfnis der Liebe“ (ebd.). Das „Bedürfnis der Freiheit“ ist ein negativer Ausdruck für das „Bedürfnis der Liebe“, insofern Hegel die Freiheit wie im folgenden beschreibt: „Die höchste Freiheit ist das negative Attribut der Schönheit der Seele, d. h. die Möglichkeit, auf alles Verzicht zu tun, um sich zu erhalten.“ (N 286) HöLDERLIN regt Hegels Ausdruck „Bedürfnis der Liebe“ an. Der Dichter sagt im Hyperion: „Jenes höchste Bedürfnis unseres Wesens, das uns dringt, der Natur eine Verwandtschaft mit dem Unsterblichen in uns beizulegen, und in der Materie einen Geist zu glauben, es ist diese Liebe.“ (SWB 1.510) (4) Im Unterschied zum HöLDERLiNschen Ausdruck erstreckt sich der Hegelsche Terminus Bedürfnis ferner bis zum „Bedürfnis der Religion“, das auch als der „Trieb nach Gott“ bezeichnet wird. Unterhalb der Stufe der Liebe, entsteht das „Bedürfnis eines Gottes“ (N 333) für die Gemeinde, während das „Bedürfnis des JESUS nach Religion“ {N 332) „in dem Gotte des Ganzen“ (ebd.) befriedigt wird. Da die Einigkeit der Gemeinde nicht zugleich die „Darstellung“ (V 333) dieser Einigkeit enthält, „bleibt in Beziehung auf das Ganze der trennbaren Natur ein Trieb, der für die Unendlichkeit der Welt zu klein und für ihre Objektivität zu groß ist, und nicht gesättigt werden kann; es bleibt der unauslöschliche unbefriedigte Trieb nach Gott“ (ebd.). Hegel sieht in der Auferstehung JESU die Befriedigung des „Bedürfnisses der Religion“: „das Bedürfnis der Religion findet seine Befriedigung in diesem auferstandenen JESUS, in dieser gestalteten Liebe.“ (N 334) So wird der Terminus Bedürfnis sowie Trieb unter der Auffassung der geschichtlichen Entwicklung des Menschen hinsichtlich des Subjekt-Objekt8 Über die Wendung des Not-Begriffs vgl. Ch. Jamme: op. dt. 394. Harris (op. dt. 373) setzt diesem Begriff den Liebe-Begriff entgegen und sieht also die Wendung nicht.
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Verhältnisses gebraucht, so daß er nicht nur eine anthropologische, sondern auch eine geschichtsphilosophische Bedeutung enthält. In dieser Entwicklung wird immer ein neues Verhältnis von Subjekt und Objekt aufgebaut.9 Der andere von uns behandelte Terminus Streben erscheint parallel zu den Termini Trieb und Bedürfnis in ein und derselben Problematik des Subjekt-Objekt-Verhältnisses: „die Tat ist das Aufheben der Trennung zwischen dem Gewollten, itzt noch Vorgestellten und dem Streben, der Tätigkeit, (dem) Trieb, dem Wollenden“ (N 388), „Liebe ist ... Bedürfnis; in sich selbst ist die Ruhe verloren; dies ist die Wunde, die zurückbleibt, die Anschauung seiner selbst als eines Wirklichen; dem die Anschauung seiner als eines Strebenden, das von dieser Wirklichkeit sich entfernt, entgegen ist; weil aber eben hier nur ein Streben ist, so ist es Bedürfnis, und mit einer Wehmut verknüpft, die in der Liebe, dem befriedigten Streben, allein wegfällt“ {N 393). Seine bisherige Bedeutung als die menschliche Tätigkeit überhaupt ist damit in die obengenannte Problematik eingeordnet, so daß der Terminus zwar unverändert die menschliche Tätigkeit überhaupt bedeutet, aber ferner mit der Wiederherstellung der Einigkeit des Lebens zusammenhängt. Die Parallelisierung dieses Terminus mit dem Terminus Trieb wird durch das neue Verständnis vom Trieb ermöglicht. So tritt das Wort Streben einerseits als die Fortsetzung der bisherigen Auffassung Hegels auf, andererseits bedeutet es etwas anderes als in der bisherigen, insofern es im Zusammenhang mit der neuen Bedeutung des Terminus Trieb steht. Dies läßt sich daraus verstehen, daß das Wort Streben terminologisch in einem FICHTEschen Sinne gebraucht wird, wie der Trieb auch mit der FiCHTEschen Bestimmung zusammenhängt (vgl. o. Zitate aus iV 374, 377): „das Sein-Sollen muß freilich dann ein unendliches Streben sein, wenn das Objekt schlechthin nicht zu überwinden ist“ {N 395). Dieser Zustand wird in der Liebe aufgehoben. Hier ist näher zu untersuchen, wie das Streben und die Liebe sich aufeinander beziehen. In diesem Punkt unterscheidet sich der Hegelsche Terminus Streben von dem HöLDERLiNschen, insofern der erstere, wie oben gezeigt, die menschliche Tätigkeit überhaupt bedeutet, die die Liebe hervorbringt und von dieser befriedigt wird, während der letztere von seinem Ziel ge^ Man kann in der Auffassung vom „Trieb nach Religion“ die „zentrale Tendenz der Frankfurter Periode“ finden, wie Lukäcs sagt (op. cit. 250). Als Inhalt dieser Tendenz kann der Trieb unter dem „argument ontologique“ betrachtet werden, nach dessen Ansicht das Ganze, obzwar getrennt, immer da sein muß, wie Peperzak interpretiert (op. cit. 181). Man muß dabei auf verschiedene Bedeutungen der betreffenden Termini achten, worauf Pöggeler anläßlich des Bedürfnisses hinweist (Hegels Idee.... 345). Dann lassen sich diese Bedeutungen und die verwandten Sachen wie Trieb und Bedürfnis in einer einheitlichen Beziehung begreifen. Vgl. Th. Haering; op. cit. 1.487, 529 f; P. Kondylis: op. cit. 465; W. Hamacher: pleroma. In: Ham 172, 188, 192, 204.
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trennt ist: „Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all unseres Strebens .... Aber weder unser Wissen noch unser Handeln gelangt in irgendeiner Periode des Daseins dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo alles eins ist; die bestimmte Linie vereiniget sich mit der unbestimmten nur in unendlicher Annäherung.“ (Vorrede der vorletzten Fassung von Hyperion. SWB 1.558f) Angesichts des Begriffs „Trieb, bestimmt zu werden“ lehnt HöLDERLIN den Standpunkt FICHTES ab, während er gerade angesichts des Begriffs Streben diesen Standpunkt übernimmt, insofern dieser Begriff mit dem Bewußtsein zu tun hat: „so notwendig die Beschränkung, der Widerstand und das vom Widerstande bewirkte Leiden zum Bewußtsein ist, so notwendig ist das Streben ins Unendliche, eine dem Triebe nach grenzenlose Tätigkeit in dem Wesen, das Bewußtsein hat, denn strebten wir nicht, unendlich zu sein, frei von aller Schranke, so fühlten wir auch nicht, daß etwas diesem Streben entgegen wäre, also fühlten wir wieder nichts von uns Verschiedenes, wir wüßten von nichts, wir hätten kein Bewußtsein.“ (Brief an den Bruder. 13.4.1795. SWB 2.649) In diesem Punkt steht HöLDERLIN dem FiCHTEschen Standpunkt näher als Hegel. 10 Bei Hegel zeigt der Begriff (Be-) Streben ein subjektives Verhalten, das ein Moment des Prozesses des Lebens ist. Er kommt in einem neutralen Sinne vor: „die Verbindung vieler beruht auf gleicher Not, sie stellt sich an Gegenständen dar, die gemeinschaftlich sein können, in Verhältnissen, die darüber entstehen, und dann in dem gemeinsamen Bestreben um dieselben, und gemeinsamer Tätigkeit und Handlung“ (N 322), und die Idee einer allgemeinen Menschenliebe ist nicht „das Streben der Gemeine“ {N 323). Das (Be-)Streben kann auch als ein subjektives Verhalten, das in einem negativbeurteilten Kontext auftritt, erscheinen, insofern dieses Verhalten auch ein schlechtes Ergebnis hervorbringen kann: „So verwickelt die widernatürliche Ausdehnung des Umfangs der Liebe in einen Widerspruch, in ein falsches Bestreben, das der Vater des fürchterlichsten leidenden oder tätigen Fanatismus werden mußte.“ {N 324) Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, in der das (Be-) Streben sich auf die Richtung zur Liebe oder zur Wiederherstellung der Vereinigung des Lebens richtet: „Das Ganze schließt mit dem Bestreben, das Bild des Menschen, wie er im vorherigen in der Entgegensetzung gegen die Bestimmtheiten gezeichnet ist, weswegen auch das Reine mehr in seinen Modifikationen, in besonderen Tugenden als Versöhnlichkeit, eheliche Treue, Wahrhaftigkeit usw. erschien, rein außer dieser Sphäre darzustellen“ {N 275). Diese Richtung bleibt oft „zu schön“: „wäre
über Hölderlins Idee des Strebens im Sinne Fichtes vgl. Ch. Jamme: op. clt. 80.
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dies Schicksal die Nemesis, die gegen ein zu schönes Streben ... wütete?“ (N 322) “ Es darf nicht übersehen werden, daß die ganze Problematik, in der die von uns behandelten Termini auftreten, eine praktisch-philosophische Bedeutung hat. Dabei spricht Hegel von „einem Streben nach etwas anderem“, das zu einer Revolution und zu „einem neuen Bande der Menschen“ führt: „Zu der Zeit, da JESUS unter der jüdischen Nation auftrat, befand sie sich in dem Zustande, der die Bedingung einer früher oder später erfolgenden Revolution ist... Wenn der Geist aus einer Verfassung, aus den Gesetzen gewichen ist... so entsteht ein Suchen, ein Streben nach etwas anderem ... wodurch denn eine Mannigfaltigkeit der Bildungen, der Lebensweisen, der Ansprüche, der Bedürfnisse hervorgeht, die ... endlich einen Ausbruch bewirken, und einer neuen allgemeinen Form, einem neuen Bande der Menschen ihr Dasein geben“ (iV 385). Hier kann man Hegels eigenen praktischphilosophischen Standpunkt finden, denn es handelt sich dabei nicht nur um eine bestimmte religionsgeschichtliche Untersuchung, sondern auch um eine allgemeine Charakterisierung der Zeit, die vor einer Revolution steht. 12 Dies zeigt sich in einer politischen Aussage. Hegel drückt seinen Gedanken zur derzeitigen Wirklichkeit mit den von uns behandelten Termini aus. Nach seiner Aussage lebt Hegel selbst in einer Zeit, in der die in seiner religionsgeschichtlichen Untersuchung beschriebene Situation auch vorhanden ist: „Der Stand des Menschen, den die Zeit in eine innere Welt vertrieben hat, kann entweder, wenn er sich in dieser erhalten will, nur ein immerwährender Tod oder, wenn die Natur ihn zum Leben treibt, nur ein Bestreben sein, das Negative der bestehenden Welt aufzuheben, um sich in ihr finden und genießen, um leben zu können.“ (Entwurf zur „Verfassungsschrift“. TW 1.457; vgl. o. Zitat aus TW 1.458) Hier wird die Aufgabe der Praxis dargestellt. Der Mensch steht vor seiner Entscheidung, entweder sich in der bestehenden Welt zu erhalten, oder diese Welt zu bekämpfen. Bei dieser Entscheidung handelt es sich um Tod und Leben. Es bleibt offen, in welcher Richtung sich der Mensch entschließt. Er ist dafür verantwortlich, ob die Vereinigung von Subjekt und Objekt hergestellt wird, um leben zu können. Und er kann dazu fähig sein, diese Aufgabe auszuführen. Sein Bestreben, das Negative der bestehenden Welt aufzuheben, zeigt diese Fähigkeit auf. Er kann aber auch nicht der Richtung des Lebens, sondern der Richtung des " über Hegels Auffassung des Strebens im negativen Sinne als Vorwegnahme der späteren Hegelschen Kritik an der Reich-Gottes-Idee vgl. Ch. Jamme: op. dt. 300. In den bisherigen Interpretationen sind die beiden Auffassungen des Strebens noch nicht eingehend betrachtet worden. Vgl. Th. Haering: op. dt. 1.441, 450 f; W. Dilthey: Die Jugendgeschichte Hegels. 169; P. Kondylis: op. cit. 519 ff. '2 Über den Zusammenhang zwischen der Steigerung der Positivität und der Auflösung einer Revolution vgl. G. Lukäcs: op. cit. 267.
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Todes folgen, wenn er will. Dies bedeutet, daß die Richtung des Lebens nicht etwas Selbstverständliches, sondern eine schwer zu treffende Entscheidung ist. Hegel entscheidet sich für die Richtung des Lebens, was sein eigenes praktisches Anliegen betrifft. Offensichtlicht liegt hier ein und dieselbe Problematik des Verhältnisses von Subjekt und Objekt vor, in der die von uns behandelten Termini eine grundlegende Bedeutung haben, in der Weise, daß sie die Bewegung dieses Verhältnisses aufzeigen. Durch diese Bewegung, die gerade mit den betreffenden Termini ausgedrückt wird, werden Subjekt und Objekt immer wieder neu getrennt und dann vereinigt, Dies bedeutet, daß die Termini tief mit der Bildung des grundsätzlichen Denkens von Hegel verbunden sind, insofern sein Denken in einer Subjekt-Objekt-Dialektik besteht. Es bleibt noch übrig, den Terminus Begierde zu betrachten. Er tritt zunächst in Hegels Erläuterung zur biblischen Bestimmung Habgier {Luk 12.15: „Sehet zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, daß er viele Güter hat“.) auf. Seine Erläuterung lautet: „er [sc. JESUS] wendet sich ... zu seinen Jüngern mit einer Ermahnung gegen die Begierde zu Haben ... gegen seine Jünger fordert er Erhehimg ... über die ganze Sphäre des Eigentums.“ (Al274) Hier spiegelt sich vermutlich Hegels Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft, die er aufgrund seiner Rezeption der englischen Nationalökonomie durchzuführen versuchte, wie ROSENKRANZ berichtet: „Mit edlem Pathos, mit einer Fülle interessanter Beispiele bekämpfte Hegel das Todte desselben [sc. Merkantilsystems], indem er inmitten der Concurrenz und im Mechanismus der Arbeit wie des Verkehrs das Gemüth des Menschen zu retten strebte.“ (Hegels Leben. 86) Hegel sieht in der Sphäre der Begierde sozusagen das Schicksal der modernen Gesellschaft, dem er seinen Standpunkt der Liebe entgegensetzen will. Es ist für Hegel wichtig, oh die Liebe über die Sphäre der Begierde hinauszugehen vermag, die mit dem Eigentum zusammenhängt. Hegels Antwort auf diese Frage ist negativ: „ausserdem stehen die liebenden aber noch mit vielem todten in Verbindung, jedem gehören viele Dinge zu, d. h. jedes steht in Beziehung mit entgegengesezten, die auch für das beziehende selbst noch entg.sezte, Objekte sind, und so sind sie noch einer mannichfaltigen Entgegensezung in dem mannichfaltigen Erwerb und Besitz von Eigenthum und Rechten fähig“ (Zweite Fassung des Fragments „welchem Zwekke denn“. Hegel-Studien. 17 (1982), 21) In der Begierde findet Hegel also die Situation, Die Hegelsche Verneinung der „höchsten Subjektivität“, auf die F. Rosenzweig hingewiesen hat, ist in der Auffassung von der Bewegung von Subjekt und Objekt durch den Trieb zu beobachten; Rosenzweig bezeichnet dabei den Trieb als „niederen zufälligen Willen“ {Hegel und der Staat. 1.93 ff). Da aber der Trieb der Sache nach an erster Stelle kommt, muß der Wille vielmehr als gleichsam bewußter Trieb charakterisiert werden.
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mit der er sich auseinandersetzen muß. Dabei entspricht Hegels Charakterisierung des „Geists des Judentums“ wohl der Auffassung dieses Terminus; der jüdische Geist fixiert die Entgegensetzung der Menschen gegen die Natur und begehrt ihre Beherrschung; durch die Abhängigkeit vom einzigen Gott wird die tierische Not nur unvollständig beseitigt (vgl. o. Zitat aus N 374). Diese Verhaltensweise, von der Hegel in der frühen Frankfurter Zeit — allerdings nach der Wendung der Auffassung des Terminus Trieb — angesichts des jüdischen Geistes spricht, wird von der mittleren Frankfurter Zeit an mit dem Terminus Begierde ausgedrückt. Dies läßt sich im Vergleich zur Auffassung des Terminus Liebe bestätigen, der Hegels neuen Standpunkt zeigt. Im Gegensatz zum Terminus Trieb scheint es für den Terminus Begierde unmöglich zu sein, in dem Sinne gebraucht zu werden, daß die Begierde in den Prozeß zur Liebe eingeordnet wird; die Begierde bleibt „die Zerstreuung des Wesens“: JESUS stelle „der pflichtmäßigen Treue in der Ehe und dem Rechte sich von dem Weibe zu scheiden, die Liebe entgegen, welche, was jene Pflicht nicht verbot, auch die Begierde ausschließt... diese Heiligkeit [sc. der Liebe] gibt allein Fähigkeit, wenn eine der vielen Seiten des Menschen sich zum Ganzen oder gegen das Ganze erheben wollte, sie niederzuhalten, und nur die Empfindung des Ganzen, die Liebe, vermag die Zerstreuung des Wesens zu verhindern“ {N 270). Der Terminus Begierde zeigt also zwar eine Form des Verhaltens des Subjekts in der Struktur des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, aber eine Form dieses Verhaltens, die sich dem Ganzen der Einheit des Lebens entgegensetzt. Hinsichtlich der oben gezeigten Abfolge der Verhaltensweisen des Subjekts in der Struktur des Subjekt-Objekt-Verhältnisses entspricht dieses Verhalten dem Gebot bzw. Gesetz, das wegen seiner Widernatürlichkeit Heuchelei als ein unerwartetes Ergebnis hervorbringt: „Große Heuchler gegen die Natur haben es ... versucht, eine widernatürliche Verbindung der Mannigfaltigkeit der Welt, und der lebenslosen Einheit, aller beschränkten gesetzlichen Verhältnisse und menschlichen Tugenden mit dem einfachen Geiste zu finden und zu erhalten; sie erdachten für jede bürgerliche Handlung, oder für jede Aeußerung der Lust und der Begierde einen Schlupfwinkel in der Einheit, um so durch Betrug jede Beschränkung zugleich sich zu erhalten und sie zu genießen, und ihr zugleich entgehen.“ {N 331) Hegel sieht den Zusammenhang der Termini Begierde und Trieb wie SCHILLER, der die beiden voneinander unterscheidet. Nach SCHILLER ist der Trieb (Formtrieb) dazu geeignet, die Menschen über die Beschränkung des Daseins und Wohlseins zu erheben und zum Absoluten zu führen, während die Begierde bei einer grenzenlosen Dauer des Daseins und Wohlseins vorhanden ist. SCHILLER hält den genannten Charakter der Begierde für eine sozusagen auf dem Kopf stehende Modifikation des Triebes, wenn der Trieb
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in der Tierheit des Menschen wirkt. Unter dieser Bedingung schlägt der Trieb also in die Begierde um. Der Terminus Begierde drückt bei SCHILLER auch eine extreme Eigenschaft des sinnlichen Triebes aus, der der Stofftrieb genannt wird. Auf jeden Fall ist der Terminus Begierde dem Terminus Trieb untergeordnet (über den Unterschied beider Termini bei SCHILLER S. 2.3). Gleicherweise erscheint der Zusammenhang beider Termini auch bei Hegel; die Begierde ist als eine Form des Verhaltens des Subjekts in der Struktur des Subjekt-Objekt-Verhältnisses vorhanden, die in die Stufenreihe des Triebes eingegliedert und zudem außerhalb der Liebe angelegt ist. Es läßt sich demnach klar machen, daß der Terminus Begierde auch im pejorativen Sinne eine Form der Tätigkeit des Menschen ausdrückt. (Dies entspricht der Wendung der Auffassung des Terminus „Not“ (s. o.).) Damit werden die Termini Trieb und Begierde voneinander in dem Sinne unterschieden, daß die Begierde in der Stufenreihe des Triebes als der menschlichen Tätigkeit überhaupt enthalten ist. Der Zusammenhang beider ist dann viel deutlicher als in der Berner Zeit geworden. Ferner muß berücksichtigt werden, daß die Begierde für dem Menschen schicksalhaft notwendig zugehörig gehalten wird. Aber im Schicksal der „Zerstreuung des Wesens“ bei der „Begierde“ muß der Mensch sich frei entscheiden, in welcher Richtung er geht, weil er kein Tier, sondern ein Mensch ist. Die Möglichkeit dazu liegt gerade in der Auffassung der Begierde als der menschlichen Tätigkeit. Auffällig ist, daß Hegel ausnahmsweise diese Auffassung der Begierde zu ihrer höchsten Form erhebt; die Begierde wird auch als der Mittelzustand zur göttlichen Einheit und zwar als der Glauben an das Göttliche bezeichnet. Hier bedeutet dieser Terminus eine heilige Tätigkeit des Menschen, die der Liebe nahesteht: „er [sc. der Glauben an das Göttliche] ist das Ahnden, das Erkennen des Göttlichen und das Verlangen der Vereinigung mit ihm, die Begierde gleichen Lebens“ (N 313). In dieser Bedeutung stimmt die Begierde mit dem Trieb überein. Man kann darin wieder den Einfluß von Hegels jACOBi-Lektüre sehen. Wie schon erwähnt wurde, gibt es in der Berner Zeit ein ähnliches Beispiel, wo dieser Terminus in einem neutralen Sinne und nicht in einem negativen Sinne gebraucht wird. Auf jeden Fall tritt ein positiver Ausdruck dieses Terminus auf, der an die Auffassung von HEMSTERHUis erinnert (s. 2.2.) und dem Ausdruck „Begierde überhaupt“ (Begierde I) in der Phänomenologie des Geistes vorausgeht, wo Hegel mit diesem Terminus die Subjektivität des Menschen anzeigt (s. 3.2.2.2.). In der Frankfurter Zeit hat aber dieser Terminus noch keine grundlegende Stellung im gesamten Denken Hegels. Angesichts der bisher dargestellten Auffassung Hegels der von uns behandelten Termini stellt sich die Frage, ob eine solche Auffassung damals allgemein verbreitet war. Hinsichtlich dieser Frage kann in der vorliegenden Untersuchung nur auf zwei Beispiele hingewiesen werden. Dazu ist es nämlich
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aufschlußreich festzustellen, daß Hegels Zeitgenossen wie F. SCHLEGEL und SCHLEIERMACHER auch eine ähnliche Konzeption der betreffenden Termini wie Hegel haben. Ihre Theorie wird zwar von Hegel später von seiner Jenaer Zeit an kritisiert,aber in Frankfurt wird er möglicherweise auch von ihnen beeinflußt. Ihre Schwerpunkte, nämlich Kunst bei SCHLEGEL und Religion bei SCHLEIERMACHER, die in der Systemkonzeption Hegels (von der Jenaer Zeit an) als Systemteile enthalten sind, sind auch hinsichtlich der Termini von Bedeutung. Bei SCHLEGEL trägt die Begierde eine negative Bedeutung, die mit der Kunst nichts zu tun hat und sie sogar entweiht: „Der Name der Kunst wird entweiht, wenn man das Poesie nennt; mit abenteuerlichen oder kindischen Bildern spielen, um schlaffe Begierden zu stacheln, stumpfe Sinne zu kitzeln, und rohen Lüsten zu schmeicheln“ {Über das Studium der Griechischen Poesie 1795-96. 217f). Im gleichen Sinne zitiert SCHLEGEL aus dem Faust von GOETHE: „Wie ein Mann von großem Gemüte, dem es aber an Übereinstimmung fehlt, bei dem Dichter von sich selbst sagt: ,So tauml’ ich von Begierde zu Genuß,/Und im Genuß verschmachtet’ ich nach Begierde;“ so strebt und schmachtet die kraftvollere ästhetische Anlage rastlos in unbefriedigter Sehnsucht“ (223). Hier zeigt sich die Begierde also als etwas Negatives. Hingegen tritt der Trieb als etwas Großartiges auf, das in der Bildung des Menschen das lenkende Prinzip sein kann. Nach SCHLEGEL führte dieses Prinzip zur „höchsten Schöne“ in der griechischen Poesie: „Wenn der gesamte zusammengesetzte menschliche Trieb nicht allein das bewegende sondern auch lenkende Prinzip der Bildung... ist: so entwickeln, wachsen, und vollenden sich alle Bestandteile der strebenden Kraft, der sich bildenden Menschheit g/efcÄma^fg, bis die Fortschreitung den Augenblick erreicht hat, wo die Fülle nicht mehr steigen kann, ohne die Harmonie des Ganzen zu trennen und zu zerstören... Diese letzte Gränze der natürlichen Bildung der Kunst und des Geschmacks, diesen höchsten Gipfel freier Schönheit hdX die Griechische Poesie wirklich erreicht.... Ich weiß für diese Höhe keinen schicklichen Namen als das höchste Schöne.“ (287) Der Trieb ist also für die Bildung des Menschen grundlegend. Er zeigt die Totalität des Menschen, der nicht in einzelne Teile geteilt werden darf. Damit steht diese Auffassung des Triebes als eine der höchsten Darstellungen der neuen Denkrichtung da, die über die Schranke der Vermögenspsychologie hinausgeht. Es muß allerdings auch darauf geachtet werden, daß SCHLEGEL in der Bestimmung des Triebes ein negatives Moment sieht, das die Ursache des notwendigen Untergangs der griechischen Poesie ausmacht: „Auch das war natürlich, ja notÜber Hegels Kritik an F. Schlegel und Schleiermacher vgl. O. Pöggeler: Hegels Kritik der Romantik. 186 ff und 228 ff.
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wendig, daß die Griechische Poesie von dem höchsten Gipfel der Vollendung in die tiefste Entartung versank. Der Trieb nämlich, welcher die Griechische Bildung lenkte, ist ein mächtiger Beweger, aber ein blinder Führer. Setzt eine Mannigfaltigkeit blinder bewegender Kräfte in freie Gemeinschaft, ohne sie durch ein vollkommnes Gesetz zu vereinigen: sie werden sich endlich selbst zerstören. So auch freie Bildung: denn hier ist in die Gesetzgebung selbst etwas Fremdartiges aufgenommen, weil der zusammengesetzte Trieb eine Mischung der Menschheit und der Tierheit ist.“ (316) An die Stelle des Triebes tritt der Verstand, der der Führer der künstlichen Bildung ist, die der natürlichen gegenübersteht: „Hier [sc. in der künstlichen Bildung] ist die bewegende, ausübende Macht zwar auch Trieb; die lenkende, gesetzgebende Macht hingegen der Verstand: gleichsam ein oberstes lenkendes Prinzipium, welches die blinde Kraft leitet und führt“ (231). Im Gegensatz zur natürlichen Bildung kann die künstliche durch den Verstand „zu einer richtigen Gesetzgebung, dauerhafter Vervollkommnung und endlichen, vollständigen Befriedigung führen: weil dieselbe Kraft, welche das Ziel des Ganzen bestimmt, hier zugleich auch die Richtung der Laufbahn bestimmt, die einzelnen Teile lenkt und ordnet.“ (232) SCHLEGEL findet noch nicht das, was den Trieb und den Verstand verbindet. Aber für die Begriffsgeschichte ist es wichtig, daß die Stellung des Triebes in der Bildung des Menschen als grundlegend bestätigt wird, obwohl er als etwas Blindes charakterisiert wird. Diese Auffassung wird sicher von BLUMENBACHS Auffassung des Bildungstriebes beeinflußt, denn SCHLEGEL spricht von der Bildung der Kunst analog zum Bildungstrieb, der sowohl für ihn als auch für BLUMENBACH im organischen Bereich bleibt: „wie der organische Keim durch stete Evolutionen des Bildungstriebes seinen Kreislauf vollendete, glücklich wuchs, üppig blühte, schnell reifte und plötzlich welkte: so auch jede Dichtart, jedes Zeitalter, jede Schule der Poesie.“ (306) Das Bedürfnis tritt zweifach auf; einmal in einem physischen Sinne und zum anderen in einem vernünftigen Sinne. Das physische Bedürfnis findet sich in der Weise, daß die Kunst von ihm und dem Verstand frei ist: „Bei den Griechen allein war die Kunst von dem Zwange des Bedürfnisses und der Herrschaft des Verstandes immer gleich frei“ (275). Dieses Bedürfnis bezieht sich nur auf die Geschicklichkeit, die mit der Kunst nichts zu tun hat: „Das Ziel der freien darstellenden Kunst ist das Unbedingte; das Einzelne darf nicht selbst Zweck sein (Subjektivität). Widrigenfalls sinkt die freie Kunst zu einer nachahmenden Geschicklichkeit herunter, welche einem physischen Bedürfnisse oder einem individuellen Zweck des Verstandes dient“ (291). Bei der vernünftigen Bedeutung drückt das Bedürfnis hingegen die Notwendigkeit der Kunst im damaligen Zeitalter aus, die SCHLEGEL eine „ästhetische Revolution“ nennt: „Es ist wahrhaft wunderbar, wie in unserm Zeitalter das Bedürfnis des Objektiven sich allenthalben regt... Der Augenblick
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scheint in der Tat für eine ästhetische Revolution reif zu sein, durch welche das Objektive in der ästhetischen Bildung der Modernen herrschend werden könnte.“ (269; vgl. 236, 271, 273, 359) Was das Streben betrifft, erscheint es zweifach, nämlich einerseits in einem negativen Sinne wie die Begierde, insofern es den Charakter der modernen Kunst ausdrückt: „das rastlose unersättliche Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten, bei dem dennoch die Sehnsucht unbefriedigt bleibt“ (228), andererseits in einem positiven Kontext: „das reine, unbestimmte, an keinen einzelnen Gegenstand gefesselte Streben nach den Unendlichen“ (21 If; vgl. 237). Im letzteren Sinne wird es dem „Bedürfnis“ im vernünftigen Sinne gleichgesetzt: „Unter den verschiedensten Formen und Richtungen, in allen Graden der Kraft äußert sich in der ganzen Masse der modernen Poesie durchgängig dasselbe Bedürfnis nach einer vollständigen Befriedigung, ein gleiches Streben nach einem absoluten Maximum der Kunst.“ (253) Diese Bedeutung des Terminus Streben wird durch das Wort Bestrebung ausgedrückt: „das Streben nach dem Objektiven ... die Bestrebungen derselben [sc. der Kunst]“ (264); allerdings ist diese Bestrebung hier etwas anderes als das, was das Bestrebungsvermögen bedeutet, denn SCHLEGEL sucht das Streben zu begreifen, das über die Sphäre der verschiedenen Vermögen hinausgeht, während das Bestrebungsvermögen neben dem Gefühlsvermögen betrachtet wird: „das Streben des gesamten noch ungetrennten Bestrebungs- und Gefühlsvermögen“ (232). (Das Bestrebungsvermögen nennt SCHLEGEL auch der Tradition gemäß das Begehrungsvermögen neben dem „Vorstellungsvermögen“; 267). Jedenfalls ist SCHLEGELS Auffassung ein Versuch, die Grenze der Vermögenspsychologie zu überwinden (vgl. 281, 303). Hier zeigt sich eine allgemeine Atmosphäre der damaligen Denkrichtung, die wahrscheinlich auch auf Hegels Denken Einfluß ausübt; die Auffassungen der uns interessierenden Termini sind derjenigen Hegels sehr ähnlich; bei SCHLEGEL fehlt wohl nur noch das Grundprinzip, das den betreffenden Phänomenen zugrunde liegt und sie verbindet. Ein ähnliches Beispiel kann man auch bei SCHLEIERMACHERS Auffassung der Termini sehen. Bei SCHLEIERMACHER treten die Termini im Zusammenhang mit der Religion auf. Dabei handelt es sich darum, ob das, was sie bezeichnen, als menschliches Verhalten die Menschen in Richtung auf die Religion ausrichtet. SCHLEIERMACHERS Auffassung der Termini gibt eine zwiespältige Antwort auf diese Frage. Z. B. hat die Begierde zunächst eine negative Bedeutung; sie zeigt ein Verhalten, das die Menschen sich nur mit etwas Einzelnem beschäftigen läßt: „in dem ewigen Wechsel zwischen Begierde und Genuß kommen sie [sc. die Menschen, die von der unersättlichen Sinnlichkeit beherrscht werden] nie über die Wahrnehmungen des Einzelnen hinaus“ (Über die Religion 1799. 7; vgl. 196). Aber andererseits kommt die Begierde
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auch als etwas ganz Positives vor, das ein Verhalten des Menschen bedeutet, sich auf das Unendliche zu richten: „Vom Anschauen muß alles ausgehen, und wem die Begierde fehlt, das Unendliche anzuschauen, der hat keinen Prüfstein und braucht freilich auch keinen, um zu wissen, ob er etwas Ordentliches darüber gedacht hat.“ (37; vgl. 122) Diese beiden Charaktere der Begierde entsprechen denen des Triebes, der nach SCHLEIERMACHER die menschliche Seele produziert: „Jede menschliche Seele ... ist nur ein Produkt zweier entgegengesetzter Triebe. Der eine ist das Bestreben, alles, was sie umgibt, an sich zu ziehen, in ihr eignes Leben zu verstricken und, wo möglich, in ihr innerstes Wesen ganz einzusaugen. Der andere ist die Sehnsucht, ihr eigenes inneres Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen, alles damit zu durchdringen, allen davon mitzuteilen und selbst nie erschöpft zu werden.“ (6) Da sich dabei der erste Trieb auf einzelne Dinge und der zweite auf die Vernunft richtet (s. 6f), entspricht jener offenbar der Begierde im ersten Sinne und dieser der im zweiten Sinne. Aber der Terminus Trieb tritt sonst nur im zweiten Sinne auf, also im Gegensatz zu demselben der Begierde im ersten Sinne: „Nur der Trieb, anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, setzt das Gemüt in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten Fesseln der Meinung und der Begierde.“ (45) Dieser Trieb liegt der Religion zugrunde: „Aus dem Innersten seiner [sc. des Geistes] Organisation aber muß alles hervorgehen, was zum wahren Leben des Menschen gehören und ein immer reger und wirksamer Trieb in ihm sein soll. Und von dieser Art ist die Religion“ (93). SCHLEIERMACHER gebraucht auch den Terminus Bildungstrieb in dieser Richtung und also anders als im ursprünglichen Sinne bei BLUMENBACH: „jedes abgerissene Teilchen derselben [sc. der Menschen]“ gestaltet sich, „wenn nur der innere Bildungstrieb, der das Ganze beseelt, ruhig darin fortwirken kann,... in zarte und regelmäßige Formen“ (64). Das Bedürfnis tritt zunächst in einem empirischen und irreligiösen Sinne auf: „Millionen tragen das Kostüm der Zeit sind treue Bilder ihrer Bedürfnisse und ihres Geschmacks“ (62). Es wird dann im Zusammenhang mit der Religion in einem negativen Kontext betrachtet: „Ihr aber lästert diese Herrlichkeit [sc. die Harmonie des Universums] mit Euren Forderungen einer jämmerlichen Vereinzelung, weil Ihr im ersten Vorhofe der Moral, und auch bei ihr noch mit den Elementen beschäftigt, die hohe Religion verschmähet. Euer Bedürfnis ist deutlich genug angezeigt, möchtet Ihr es nur erkennen und befriedigen!“ (65 f) Das Bedürfnis bedeutet aber auch das, was der Religion zugrunde liegt: „das Bedürfnis, aus welchem sie [sc. die Religion] entstanden ist, das Prinzip der religiösen Geselligkeit“ (126). Während das Bestreben in einem neutralen Sinne (s. 10,90,117,127; vgl. 6,78 eher in einem negativen Kontext) auftritt, kommt das Streben zweifach wie der Trieb vor; auf der einen Seite bedeutet es ein negatives Verhalten
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des Menschen, insofern es die Tätigkeit des Individuums, das sich von dem Ganzen losreißt, ist: „alles Übel... ist eine Folge des Willens, des selbstsüchtigen Strebens der individuellen Natur, die sich überall losreißt aus dem Zusammenhänge mit dem Ganzen, um etwas zu sein für sich“ (194); auf der anderen Seite wird es als etwas ganz Positives bezeichnet, wenn SCHLEIERMACHER sagt, die Menschen können durch ihr Streben eine positive Rolle für die Religion spielen, in dem Sinne, „daß Ihr durch Euer ganzes Streben ... einer Palingenesie der Religion nicht wenig zu Hülfe kommt“ (108). Aus diesen Aussagen SCHLEIERMACHERS läßt sich sehen, daß die von uns behandelten Termini in einem fast gleichen Sinne gebraucht werden. Auch hier kann eine dieselbe Denkrichtung beobachtet werden, die über die Grenze der Vermögenspsychologie hinauszuschreiten versucht. Es kommt dann aber darauf an, wie sich die Sachen, die durch die betreffenden Termini ausgedrückt werden, aufeinander beziehen. Auch bei SCHLEIERMACHER wie bei SCHLEGEL muß ein Grundprinzip gesucht werden, das den gesamten einschlägigen Umfang in eine Struktur hineinbringen soll, in der die betreffenden Sachen im Zusammenhang miteinander deutlich artikuliert werden. Die oben dargestellten Beispiele lassen erkennen, daß ähnliche Auffassungen der Termini wie die Hegelsche damals nicht wenig verbreitet waren. In dieser Atmosphäre ist Hegels Auffassung derart vortrefflich, daß sie ein Grundprinzip darbietet, das den betreffenden Phänomenen zugrunde liegt und sie verbindet. (C) Im bekannten Brief an SCHELLING am 2.11.1800 faßt Hegel das Anliegen seiner späten Frankfurter Zeit, also seiner Jugendzeit letztlich zusammen, indem er darstellt, wie sich seine wissenschaftliche Bildung entwickelt, womit er sich beschäftigt, und worauf er sich richtet: „In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetem Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist.“ (ßr 1.59f) Für unsere Thematik ist es besonders wichtig, die Bedeutung des Ausdrucks „untergeordnetere Bedürfnisse der Menschen“ zu klären, damit die Stellung des Terminus Bedürfnis im Denken Hegels während der Endphase seiner Jugendzeit festgestellt werden kann. In den bisherigen Untersuchungen wird dieser Ausdruck auf zweifache Weise interpretiert; man bezeichnet mit ihm entweder einen Denkbereich, der der Philosophie gegenübersteht, nämlich Politik und Religion (BüCHNER),oder einen Denkinhalt, der in eiH. Büchner (Hegel im Übergang von Religion zu Philosophie. In: Philosophisches Jahrbuch. 78 (1971), 89,93) spricht über „staatspolitisches Bedürfnis“ oder „religiöses Bedürfnis“bei
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nem anthropologischen Sinne betrachtet wird, nämlich Bedürfnisse der Sinnlichkeit (HARRIS).Es bleibt hier zu klären, was die Bedeutung dieses Ausdrucks hinsichtlich der Hegelschen Auffassung des Terminus Bedürfnis ist. Aufgrund dieser Interpretation muß dann noch geklärt werden, was die oben zitierte Stelle bedeutet. Die neue Fassung des Anfangs der Positivitäts-Schnit zeigt Hegels letzte Auffassung des Terminus Bedürfnis in den Jugendschriften, die dem obengenannten Ausdruck zeitlich am nächsten steht und daher sicher dafür aufschlußreich ist, seine Bedeutung auszulegen. In der Änderung der Aussage von der alten zur neuen Fassung spiegelt sich Hegels „wissenschaftliche Bildung“. Aber man muß zunächst die gemeinsame Aussage beider Fassungen feststellen, um Hegels Grundproblematik zu verstehen. Sowohl in der Berner Zeit als auch in der späten Frankfurter Zeit wird der Terminus Bedürfnis in doppelter Bedeutung gebraucht, nämlich entweder in einem physischen Sinne, oder in einem vernünftigen Sinne; einerseits: „in seinem männlichen Alter erst tritt er [sc. JESUS] auf, frei von jüdischem Sinn, frei von der eingeschränkten Trägheit, die an die gemeinen Bedürfnisse und Bequemlichkeiten des Lebens ihre einzige Tätigkeit verwendet“ {N149; vgl. N 153), andererseits: „Dieser Zustand der jüdischen Nation mußte in Menschen von besserem Stoff ... das Bedürfnis einer freiem Tätigkeit und reinem Selbständigkeit, als mit mönchischer Geschäftigkeit eines geist- und wesenlosen Mechanismus kleinlicher Gebräuche ein Dasein ohne Selbstbewußtsein zu leben — das Bedürfnis eines edleren Genusses als in diesem Sklavenhandwerk sich groß zu dünken und für dasselbe zu rasen — erwecken.“ {N 148; vgl. N 153) Diese in der neuen Fassung vorkommenden Aussagen finden sich fast buchstabengleich auch in der alten Fassung. Dies bedeutet, daß bezüglich des Terminus Bedürfnis Hegels Gmndproblematik gewissermaßen konsequent bleibt. In diesem Kontext kann man eine Aussage verstehen, die nur in der neuen Fassung auftritt: „man fragte nach der Wahrheit der Religion (nicht) in Verbindung mit den Sitten und dem Charakter der Völker und Zeiten, und die Antwort ist, daß sie eitel Aberglaube, Betrug und Dummheit war. Am meisten wird auf die Sinnlichkeit geschoben, die muß alles verschuldet haben; man mag ihr aber noch soviel Herrschaft zuschreiben, so hört der Mensch damit nicht auf, ein vernünftiges Wesen zu sein, oder seine Natur hat immer notwendig höhere Bedürfnisse Hegel. Diese Ausdrücke beruhen nicht auf denen Hegels selbst. Auch Peperzak (op. cit. 131,133, 206 Anm.) sieht „des besoins inferieurs“ in Hegels religiöse Untersuchung, die sich der spekulativen Wissenschaft („Science speculative“) entgegensetzt. Harris setzt das Bedürfnis der Sinnlichkeit als „more subordinate needs of men“ dem „Rational theory“ als „higher need of man“ entgegen (op. cit. 125. 406 f).
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der Religiosität, und die Art wie er sie befriedigt, d. h. das System seines Glaubens, seines Gottesdienstes, seiner Pflichten kann nicht lautere Dummheit gewesen sein, noch so unreine Dummheit, die aller Immoralität Raum ließ.“ {N144) Dabei handelt es sich um das Bedürfnis, das zwar meistens für sinnlich gehalten, aber in einer bestimmten Situation, d. h. in der Positivität einer Religion, betrachtet wird, im Vergleich zu demselben, das als etwas Vernünftiges bezeichnet wird. Insofern Hegel allerdings von den „höheren Bedürfnissen der Religiosität“ als dem letzteren Bedürfnis spricht, ist seine Denkweise schon verändert. Denn er sagt: „diese Erklärungsart“, die auf der Entgegensetzung beider Bedürfnisse beruht, „setzt eine tiefe Verachtung des Menschen, einen grellen Aberglauben an seinen Verstand voraus; und sie läßt die Hauptfrage unberührt, nämlich die Angemessenheit der Religion an die Natur zeigen, wie die Natur in verschiedenen Jahrhunderten modifiziert war“ (ebd.). Es geht nicht mehr um die Entgegensetzung beider Bedürfnisse, sondern um die Modifizierung der „menschlichen Natur“, die die beiden entgegengesetzten Bedürfnisse als ihre Modifikationen hat.i^ In dieser Hinsicht spricht Hegel vom „Bedürfnis der menschlichen Natur ..., jene nunmehr verworfene Dogmatik abzuleiten, ihre Natürlichkeit und Notwendigkeit aufzuzeigen“ {N143). Dieses Bedürfnis zeigt nun die Entwicklung der menschlichen Natur und enthält damit verschiedene Bedürfnisse als ihre Modifikationen, von denen eine die Dogmatik ist. Es kommt darauf an, wie die Bedürfnisse erklärt werden. Die obengenannte Erklärungsart durch die „allgemeinen Begriffe von der menschlichen Natur“ wird abgelehnt, denn sie „sind zu leer, als daß sie einen Maßstab für die besondern und notwendig mannigfaltigem Bedürfnisse der Religiosität abgeben könnten“ {N141). Es muß dabei auch darauf geachtet werden, daß diese Erklärungsart selbst ein Produkt der Bildung der menschlichen Natur ist, die den Punkt erreicht, über sich selbst nachzudenken: „Es mußte ein langer, in Jahrhunderte sich ausdehnender Stufengang von Bildung dazu durchlaufen sein, bis eine solche Periode kommen konnte, in welcher die Begriffe so abstrakt wurden, daß man sich überredete, die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen der menschlichen Natur in die Einheit einiger allgemeiner Begriffe zusammengefaßt zu haben.“ {N139 f) Dies bedeutet, daß die menschliche Natur ein Bedürfnis hat, über die Erklärungsart überhaupt und von daher über sich selbst zu reflektieren. Dieses Bedürfnis kann für sich außerhalb der empirisch-geschichtlichen Untersuchungen über die verschiedenen Bedürfnisse als die Modifikationen der menschlichen Natur entwickelt werden. Es kommt zu einer sozusagen formalen Untersuchung über die Erklärungsart selbst. Der Übergang von der ersteren zur letzteren Untersuchung über den Zusammenhang der menschlichen Natur mit einzelnen Bedürfnissen vgl. W. Dilthey: op. cit. 175.
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wird von Hegel folgendermaßen dargestellt: Man sieht, die Untersuchung über die Entstehung der christlichen Religion in der Geschichte „würde, wenn sie durch Begriffe gründlich geführt werden sollte, am Ende in eine metaphysische Betrachtung des Verhältnisses des Endlichen zum Unendlichen übergehen“ {N146). Hegel versucht im sogenannten „Systemfragment von 1800“, die metaphysische Betrachtung vorzunehmen. Die von Hegel abgelehnte Erklärungsart, die auf der Reflexion beruht, wird hier als das „endliche Leben“ bezeichnet und in den Prozeß des Lebens eingeordnet: „jeder Ausdruck ist Produkt der Reflexion, und sonach kann von jedem als einem Gesetzten aufgezeigt werden, daß damit, daß etwas gesetzt wird, zugleich ein Anderes nicht gesetzt, ausgeschlossen ist;... aber... dasjenige ..., was Verbindung der Synthesis und Antithesis genannt wurde, sei nicht Gesetztes, Verständiges, Reflektiertes, sondern sein für die Reflexion einziger Charakter sei, daß es ein Sein außer der Reflexion ist. Im lebendigen Ganzen ist der Tod, die Entgegensetzung, der Verstand zugleich gesetzt, nämlich als Mannigfaltiges, das lebendig ist, und als Lebendiges sich als ein Ganzes setzen kann, wodurch es zugleich ein Teil ist... Dieses Teilsein des Lebendigen hebt sich in der Religion auf, das beschränkte Leben erhebt sich zum Unendlichen; und nur dadurch, daß das Endliche selbst Leben ist, trägt es die Möglichkeit in sich, zum unendlichen Leben sich zu erheben.“ {N 348) Hier läßt sich zeigen, daß die obengenannte Erklärungsart ein Teil des ganzen Lebens genannt wird. Im Kontext der neuen Fassung der Positivitäts-Schrift bedeutet dies, daß diese Erklärungsart als eine Art von der „besondern und notwendig mannigfaltigeren Bedürfnisse der Religiosität“ (N 141), nämlich als eine Modifikation der menschlichen Natur bezeichnet wird. Ein und derselbe Denkinhalt wird damit in einen anderen Denkbereich versetzt, d. h. die verschiedenen Bedürfnisse bei der materiellen Untersuchung werden als das endliche Leben bei der formalen Untersuchung betrachtet. Die neue Denkweise Hegels fordert den Übergang des Denkbereichs von der ersteren zur letzteren Untersuchung. Diesem Übergang zugrunde liegt die Auffassung, daß die menschliche Natur immer höher als die verschiedenen Bedürfnisse ist und ein über diese hinausgehendes Bedürfnis hat, nämlich „daß in der menschlichen Natur selbst das Bedürfnis (ist), ein höheres Wesen, als das menschliche Tun in unserem Bewußtsein ist, anzuerkennen, die Anschauung der Vollkommenheit desselben zum belebenden Geiste des Lebens zu machen, auch dieser Anschauung unmittelbar, ohne Verbindung mit sonstigen Zwecken, Zeit, Anstalten und Gefühle zu widmen.“ (N 146 f) Von diesem Bedürfnis aus sind die verschiedenen Bedürfnisse als die Modifikationen der menschlichen Natur zu ordnen. Dazu sagt Hegel: „Dies allgemeine Bedürfnis einer Religion schließt noch viele einzelne Bedürfnisse in sich“ {N 147). Es darf dabei nicht übersehen werden, daß eine theoretische Tätigkeit wie das Nachdenken der Erklä-
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rungsart insofern schon eine praktische Bedeutung hat, als Hegel darin eine Antwort auf das „Bedürfnis der Zeit..den Beweis des Gegenteils jener aufklärenden Anwendung allgemeiner Begriffe zu hören“ (JV143) beobachtet. Während der Ausdruck „Bedürfnis der Zeit“ in der Berner Zeit in einem empirischen Sinne gebraucht wird, tritt er hier als einer für ein notwendiges Moment der Entwicklung der menschlichen Natur auf, mit dem diese sich ihrer selbst bewußt wird. Dieses Selbstbewußtwerden hält Hegel also für den Weg zur Einheit des Lebens. Aufgrund unserer Analyse des Terminus Bedürfnis in der neuen Fassung der Posffzüffäfs-Schrift kann man den Ausdruck „untergeordnetere Bedürfnisse der Menschen“ interpretieren. Dieser Ausdruck setzt unserer Analyse zufolge voraus, daß menschliche Tätigkeit überhaupt mit dem Terminus Bedürfnis ausgedrückt wird und daß es innerhalb dieser Tätigkeit eine Reihe von verschiedenen Bedürfnissen, die vom ersteren Bedürfnis geordnet werden, gibt. Es handelt sich dabei um eine Änderung der Denkweise Hegels, in der nicht nur die Änderung des Denkinhaltes, sondern auch die des Denkbereiches enthalten ist; einerseits verändert sich der Denkinhalt von den verschiedenen Bedürfnissen zum „Bedürfnis einer Religion“, andererseits verändert sich der Denkbereich von den konkreten materiellen Bedürfnissen in der Politik und der Religionsgeschichte zu den begrifflichen Formen als dem „endlichen Leben“, die insgesamt als notwendige Momente des ganzen Lebens ins „Bedürfnis einer Religion“ eingeordnet sind. Nach der Hegelschen Äuffassung des Terminus Bedürfnis in der Entwicklungsgeschichte seines Denkens gibt es kein Beispiel, in dem dieser Terminus irgendeinen Denkbereich bedeutet. Er drückt immer einen konkreten Denkinhalt aus, der in einem entweder physischen oder vernünftigen Sinne betrachtet wird. In diesem Punkt hat die obengenannte zweite Interpretation recht. Aber sie irrt sich hinsichtlich der Bedeutung dieses Denkinhalts, denn Hegel ist eigentlich der Meinung, daß das Bedürfnis der Sinnlichkeit mit dem der Vernunft gleichwertig ist (s. 2.2.). Was die Änderung des Denkbereiches betrifft, geschieht sie tatsächlich. In diesem Punkt ist die obengenannte erste Interpretation richtig. Aber sie klärt nicht, in welchem Sinne die Änderung bezüglich des einschlägigen Terminus eintritt. Diese Änderung ist ein Ergebnis der neuen Denkweise, die das Bedürfnis nach der „metaphysischen Betrachtung“ als ihr notwendiges Moment deswegen enthält, weil sich diese Denkweise erst aufgrund ihrer Kritik an der alten Denkweise begründen kann. Da es sehr unwahrscheinlich ist, daß der Ausdruck „untergeordnetere Bedürfnisse der Menschen“ die einzige Ausnahme der Auffassung des Terminus Bedürfnis insofern bedeuten würde, als er einen Denkbereich zeigen würde, ist er als ein konkreter Denkinhalt zu bezeichnen. Wenn dies stimmt, besagt der Ausdruck die verschiedenen Bedürfnisse als Modifikationen des
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Bedürfnisses der menschlichen Natur, mit denen Hegel sich in seiner früheren „wissenschaftlichen Bildung“ beschäftigt, und die einen konkreten Denkinhalt ausmachen und im Vergleich zum Bedürfnis der menschlichen Natur für untergeordneter gehalten werden. Die „untergeordneteren Bedürfnisse der Menschen“ zeigen nach ihrer Stellung im obengenannten Brief die Materie des „Ideals des Jünglingsalters“ auf, abgesehen davon, daß sie unter der neuen Denkweise als etwas betrachtet werden, das durch die Modifizierung der menschlichen Natur hervorgebracht wird. Was den Ausdruck Wissenschaft, der auch mit Reflexionsform bzw. System umgeschrieben wird, betrifft, bezieht er sich darauf, daß Hegels neue Denkweise wissenschaftlich begründet werden muß. Hier kann man wohl das Bedürfnis nach der Wissenschaft als ein notwendiges Moment des „Bedürfnisses der menschlichen Natur“ bzw. des „Bedürfnisses einer Religion“ sehen. Während die Bedürfnisse als Modifikationen des „Bedürfnisses der menschlichen Natm“ eigentlich mit den konkreten politischen und religionsgeschichtlichen Sachen, also mit einem Denkbereich wie Politik und Religion zu tun haben, hängt das Bedürfnis nach der Wissenschaft mit einem anderen Bereich zusammen, in dem die obengenannten Sachen in der Begriffsform als das „endliche Leben“ charakterisiert sind. Im Hinblick auf die Wissenschaft betrachtet Hegel seine „wissenschaftliche Bildung“, die eine praktische Bedeutung hat. Diese Wissenschaft wird damit zu einer Preixis, insofern sie im Zusammenhang mit dem Leben gedacht wird; mit dem Ausdruck „Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen“ äußert Hegel diesen Zusammenhang als seine praktische Aufgabe. Eigentlich sollte diese Aufgabe als das „Bedürfnis einer Religion“ ausgeführt werden. Aber davon ist nicht die Rede. Hier spricht Hegel nur von seiner wissenschaftlichen Bildung, die in den Prozeß des Lebens eingeordnet wird. Diese persönliche Aussage ist also analog mit Hegels Auffassung über die Bedürfnisse der Menschen als Modifikationen des „Bedürfnisses der menschlichen Natur“ zu begreifen. Dabei bedeutet das Bedürfnis nach der Wissenschaft eine Modifikation des genannten Bedürfnisses, das allerdings nicht mehr das „Bedürfnis einer Religion“ genannt wird, und zeigt einen Mangel an Leben. Zum Zeitpunkt des erwähnten Briefs vom 2.11. 1800 hört Hegel wohl damit auf, im „Bedürfnis einer Religion“ das allgemeinste Bedürfnis zu finden, insofern er nicht vom „Bedürfnis einer Religion“, sondern von der Frage nach der „Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen“ spricht. Hier kann man Hegels letzte Denkrichtung der Frankfurter Zeit finden, in der er über den Zusammenhang mit dem Leben nachdenkt. Das Bedürfnis nach der Wissenschaft, das als ein Denkinhalt nicht mehr eine materielle Bestimmung, sondern eine formale hat, wird durch die genannte Frage in einen anderen Denkbereich als Politik und Religion umgesetzt, weil es nicht mehr Modifikation des „Bedürfnisses einer
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Religion“ genannt werden kann. Die Denkweise, die sich als das „Bedürfnis einer Religion“ ausdrücken läßt, bedarf des Nachdenkens über sich selbst, also eines neuen Bereichs, der hier noch nicht deutlich, aber in der Jenaer Zeit klar wird: Philosophie. In dieser Denkrichtung, in der Hegel die neue Denkweise wissenschaftlich zu begründen versucht, bekommt der Terminus Bedürfnis eine grundlegende Stellung in seinem Denken, insofern er diese Denkrichtung anzeigt: „Bedürfnis der Philosophie“.*® Es ist unklar, wieweit Hegel schon in der Frankfurter Zeit diese Konzeption erreicht. Aber man kann zumindest sagen, daß Hegel von der Denkrichtung SCHELLINGS beeinflußt wird. SCHELLING setzt die Philosophie als die Wiedervereinigung des Menschen und der Welt der Spekulation als der Trennung beider entgegen und spricht in diesem Zusammenhang vom „Bedürfnis, zu philosophieren“*®: „Sobald der Mensch sich selbst mit der äußeren Welt in Widerspruch setzt ... ist der erste Schritt zur Philosophie geschehen. Mit jener Trennung zuerst beginnt Spekulation ... Ihr entgegen steht die wahre Philosophie, die Spekulation überhaupt als hloßes Mittel betrachtet. Die Philosophie jene ursprüngliche Trennung voraussetzen, denn ohne sie hätten wir kein Bedürfniß, zu philosophiren.“ {Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft. 1. Auflage 1797. AW 1.337 f) Was hier Spekulation genannt wird, entspricht Hegels Bestimmung der Reflexion am obenzitierten Ort vom „Systemfragment von 1800“ (und wird später in der zweiten Auflage von 1803 durch das Wort „Reflexion“ ersetzt). Das „Bedürfnis, zu philosophieren“ entspricht also dem „Bedürfnis der menschlichen Natur“ bzw. dem „Bedürfnis einer Religion“ in der neuen Fassung der Positiöffäfs-Schrift und ferner der Denkrichtung selbst im betreffenden Brief an ScHELLiNG, die, wie gezeigt, der Auffassung „Bedürfnis der Philosophie“ in der Differenz-Schriii schon nahesteht, denn sowohl das erstere als auch die letzteren setzen die Spekulation bzw. Reflexion voraus und versuchen, sie aufzuheben, damit die Wiedervereinigung des Menschen und der Welt realisiert werden kann. Was die anderen von uns behandelten Termini betrifft, so kommt nur der Terminus ,Bestreben‘ als eine persönliche Aussage Hegels im gleichen Brief vor: „Ich schaue darum auch ... daß Du mein uneigennütziges Bestreik W. Ch. Zimmerli sieht im Ausdruck „Rückkehr zum Eingreifen in das Leben“ als „Konkretisierung oder besser Re-konkretisierung des Reflektierens“ Sich-Realisierung des „Bedürfnisses der Philosophie“ {Die Frage nach der Philosophie. 212 Anm.). Seine Interpretation ist plausibel, wenn er damit meint, daß die Intention des Hegelschen Systems eine praktische Bedeutung hat, und daß deshalb das „Bedürfnis der Philosophie“ als eine Praxis betrachtet werden kann. Dieselbe Ansicht vertritt Pöggeler; er interpretiert das „Bedürfnis der Philosophie“ als „das höchste Bedürfnis des Lebens“ oder „die höchste Praxis“ {Hegels Idee .... 123). Vgl. R. Haym: Hegel und seine Zeit. 88. ik Über den Schellingschen Begriff Bedürfnis vgl. M. Fujita: op. dt. 99, 151 Anm. 6.
Die Termini im Zusammenhang mit der Konzeption des „Lebens'
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ben, wenn seine Sphäre auch niedriger wäre, erkennest und einen Wert in ihm finden könnest.“ (Br 1.60) Aufgrund der Änderung des Denkbereichs wird seine Sphäre für niedriger als der Bereich der Philosophie gehalten, insofern das Bestreben eine Untersuchung über Politik enthält, die uns als Verfassungs-Schnft überliefert ist. Hier zeigt sich eine neue Auffassung der Termini, mit der eine solche wissenschaftliche Tätigkeit ausgedrückt wird.
3. ENTFALTUNG EINER PHILOSOPHISCHEN AUFFASSUNG DES BEGRIFFSKOMPLEXES (JENA) 3.1. DIE FRÜHE JENAER ENTWICKLUNG IM UMRISS 3.1.1. „Bedürfnis der Philosophie“ und „Trieb zur Totalität“ — Kritik an Fichte aus der Nähe zu Schelling Nach der Entwicklung der Jugendzeit ist der Punkt erreicht, wo die mannigfaltigen Bedürfnisse der menschlichen Natur philosophisch begriffen werden. Der Entwicklung des Hegelschen Denkens überhaupt zur neuen Denkrichtung der Philosophie entsprechend entsteht eine neue philosophische Auffassung des von uns behandelten Begriffskomplexes, der bisher hauptsächlich im sozusagen vorphilosophischen Sinne gebraucht worden ist. In Jena wird dann seine philosophische Grundlage reflektiert und problematisiert: das Bedürfnis der Philosophie.* Die bisherige Auffassung wird in einen Zusammenhang mit dieser Grundlage gesetzt, so daß sie in der neuen Denkrichtung organisiert wird; der vorphilosophische Sinn der Termini müßte jeweils die ihm entsprechende Form in der Philosophie haben und damit in eine systematische Ordnung gebracht werden. Allerdings ist die endgültige Systematisierung der philosophischen Formen der Termini noch nicht durchgeführt. Diese Formen scheinen nur noch nebeneinandergestellt zu sein, ohne endgültig in ihre systematische Ordnung gebracht worden zu sein. Im Hinblick auf die Auffassung des genannten Begriffskomplexes ist in Jena zu beobachten, daß sie in den philosophischen Bereich hineingestellt ' über den Umstand, daß dieses Bedürfnis durch eine vorphilosophische Problematik, d. i. die Erfahrung der Entzweiung des geschichtlichen Lebens, entstanden ist, und daß diesem Leben die Macht der Vereinigung erst durch Philosophie oder philosophisch zurückgewonnen werden kann, vgl. H. Kimmerle; Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 23 und 48 f. Gleicherweise wird der Zusammenhang der Philosophie mit den konkreten Verhältnissen betrachtet im Buch von Zimmerli (op. cit. 79). Hier zeigt sich das Verhältnis von der vorphilosophischen und der philosophischen Dimension und die Bedeutung der letzteren, d. h. der Philosophie. Vgl. auch H. Marcuse: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit. 18. Aufgrund dieses Verhältnisses ist denkbar, daß das Bedürfnis der Philosophie bei Hegel angesichts des zeitgenössischen Philosophierens behandelt wurde, wie W. Marx (Das „Bedürfnis der Philosophie“. In: Von der Notwendigkeit der Philosophie in der Gegenwart. Hrsg, von H. Kohlenberger/W. Lütterfelds. 104) meint.
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Entfaltung einer philosophischen Auffassung des Begriffskomplexes
worden ist, und daß ihre philosophische Systematisierung versucht wird. Die Konturen der Fragestellung bis zur Nürnberger Zeit werden schon in der Differenz-Schv'ili sichtbar. Die Problematik, daß angesichts der Entzweiung das „Bedürfniß nach Wiederherstellung der Totalität“ {GW4.15) oder des Lebens entsteht, bleibt dieselbe wie in der Frankfurter Zeit. Neu ist hier, daß dieses Bedürfnis das der Philosophie ist. Eine „Voraussetzung“ der Philosophie findet sich für Hegel im Bewußtsein, insofern er „das Herausgetretenseyn des Bewußtseyns aus der Totalität“ (ebd.) für die „Entzweyung in Seyn und Nichtseyn, in Begriff und Seyn, in Endlichkeit und Unendlichkeit“ (ebd.) hält. Was die Wiederherstellung der Totalität problematisiert, d. h. das Problem der Entzweiung erweckt und nach dem Weg seiner Lösung fragt, besteht also im Bewußtsein. Das Bedürfnis der Philosophie, das im Übergang von der Entzweiung zur Wiederherstellung der Totalität besteht, wird von der Daseinsweise des Bewußtseins bedingt, die Hegel zweifach unterscheidet, nämlich einerseits als eine Weise, durch den Verstand die Entzweiung zu fixieren, und andererseits als eine Weise, durch die Vernunft dem Bedürfnis nach der Wiederherstellung der Totalität zu folgen. Der Zustand, daß die Entzweiung durch den Verstand fixiert ist, veranlaßte Hegel dazu, vom Standpunkt der „höchsten ästhetischen Vollkommenheit“ (GW 4.14), mit dem er sich in Frankfurt beschäftigt hatte, zu dem der Philosophie überzugehen, der sich mit dem ersteren Standpunkt als einer Art der Entzweiung auseinandersetzt, insofern es dabei nicht um die Vereinigung des Seins mit der Reflexion, sondern um „ein Sein außer Reflexion“ (N 348) geht.^ Mit dem Unterschied des Verstandes und der Vernunft wird hervorgehoben, daß durch die Vernunft die Entzweiung überwunden wird. Dies bedeutet aber nicht, daß die Entzweiung überhaupt aufzuheben ist, denn „die nothwendige Entzweyung ist Ein Faktor des Lebens“ (GW4.13). Es geht darum, eine nicht notwendige Entzweiung aufzuheben. Wenn die Entzweiung immer notwendig bliebe und vom Verstand nicht befestigt würde, entstünde das Bedürfnis der Philosophie nicht. Der vorhandene Fortgang der Bildung hat die Entzweiung eine bestimmte Form^ tragen lassen, in der die Entzweiung befestigt wird und die mit dem „Herausgetretensein des Bewußtseins aus der Totalität“ verbunden ist. Es ist vom Verhalten des Bewußtseins abhängig, ob die Entzweiung befestigt wird. Daraus ergibt sich, daß das Bewußtsein eine Fähigkeit hat, die Entzweiung zu fixieren. Dabei tritt das Bewußtsein nur als der Verstand auf, der der Ent2 Vgl. /. H. Trede: Hegels frühe Logik. In: Hegel-Studien. 7 (1972), 129 f. ^ Über den Zusammenhang des „Bedürfnisses der Philosophie“ mit einer bestimmten Form der Entzweiung vgl. J. H. Trede: op. cit. 135; G. Lukacs: Der junge Hegel. 338 f; H. Marcuse: op. cit. 14 f.
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zweiung die genannte bestimmte Form gibt. Das Bedürfnis der Philosophie setzt also diese bestimmte Form der Entzweiung für seine Entstehung voraus. Was bedeutet aber seine Entstehung überhaupt für den Umstand, daß das Bewußtsein als Verstand die Entzweiung zu fixieren vermag? Im genannten Bedürfnis zeigt sich, daß es außer der gegebenen Entzweiung etwas gibt, das über diese fixierte Entzweiung hinausgeht. Hier sieht Hegel die Wirkung der Vernunft als der Erscheinung des Absoluten, das wegen der Fixierung durch den Verstand noch latent bleibt. In der Sphäre des Bewußtseins geschieht der Kampf zwischen dem Verstand und der Vernunft darum, entweder die Entzweiung zu fixieren, oder dem Bedürfnis einer Totalität zu folgen. Es bleibt offen, ob die Vernunft den Kampf gewinnen kann, insofern „das Gelingen des Kampfs ... von ihr selbst... und von der Ächtheit des Bedürfnisses nach Wiederherstellung der Totalität, aus welchem sie hervorgeht“ {GW 4.15), abhängt. Es muß dann gefragt werden, wie die Vernunft den Verstand überwinden kann. Interessanterweise betrachtet Hegel im Hinblick auf den Zusammenhang beider „die geheime Wirksamkeit der Vernunft“, die dem Verhalten des Bewußtseins oder dem des Verstandes zugrunde liegt und mit der Verbform der von uns behandelten Termini „treiben“ sowie „bedürfen“ ausgedrückt wird: „Einmal erhebt sie [sc. die Vernunft] den Verstand über ihn selbst, treibt ihn zu einem Ganzen nach seiner Art;... der Verstand vervollständigt diese seine Beschränkungen durch das Setzen der entgegengesetzten Beschränkungen, als der Bedingungen; diese bedürfen derselben Vervollständigung, und seine Aufgabe erweitert sich zur unendlichen. Die Reflexion scheint hierinn nur verständig, aber diese Leitung zur Totalität der Nothwendigkeit ist der Antheil und die geheime Wirksamkeit der Vernunft.“ (GW4.17, Hervorhebung vom Verfasser) Hinter dem Verhalten des Verstandes ist die Vernunft also wirksam in der Weise, daß sie ihn ausgerechnet sich auf seine eigene Vervollständigung richten läßt. Diese Bewegung des Verstandes zu seiner Vervollständigung muß von der „notwendigen Entzweiung“ als „Einem Faktor des Lebens“ unterschieden werden. Allerdings kommt ihr das Verdienst zu, „die Entzweyung um so härter gemacht und das Bedürfniß der Vereinigung in der Totalität um so viel verstärkt zu haben“ (GW4.22). In der gegebenen Entzweiung wird die Wiederherstellung der Totalität schon durch die Bewegung des Verstandes vorbereitet, insofern es sich bei dieser Bewegung um die „in’s unendliche zerstreute Mannichfaltigkeit, welche in dem Streben nach der unendlichen Menge ihren bewußtlosen Zusammenhang mit dem Absoluten kund giebt“ (G W4.91), handelt. Trotzdem bleibt es offen, ob das „Bedürfniß einer Totalität“ (ebd.) befriedigt werden kann, weil das Bedürfnis der Philosophie ihren Mittelpunkt insofern nicht erreicht, als es nur vom Verstand getragen wird. Es gibt zwei Arten des Bedürfnisses der Philosophie, wie die bisherigen
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Untersuchungen'* verdeutlicht haben: (1) das als „das spekulative Bedürfniß“ (GW4.8), (2) das als „ein allgemeineres Bedürfniß der Philosophie, das sich für sich selbst nicht zur Philosophie zu gebähren vermag“ {GW4.7) oder „das Bedürfniß nach einer Philosophie“ {GW4.8). Das erstere zeigt als das „Interesse der Vernunft“ (GW4.13) trotz der gegebenen in der Form des philosophischen Systems fixierten Entzweiung die latente Möglichkeit, die Totalität philosophisch wiederherzustellen^, während das letztere zwar für sich kein spekulatives ist, aber auf dieses hindeutet. Es fragt sich nun, wie sich die beiden Bedürfnisse aufeinander beziehen. Da Hegel in seinen zeitgenössischen Philosophien das zweite Bedürfnis findet, erscheint dieses zuerst vor Hegels Augen und geht also dem ersten Bedürfnis voraus. Der Auftritt des zweiten Bedürfnisses wird von der bestimmten Form der Entzweiung hervorgerufen und deutet auf das erste Bedürfnis hin. Der Sache nach gesehen ist „das Bedürfnis nach einer Philosophie“ aber vom „spekulativen Bedürfnis“ aufzuheben, das die Philosophie selbst verkündet, die die in der gegebenen Entzweiung verlorene Totalität wiederherstellen kann. Ob diese Aufhebung geschehen kann, hängt vom Verhalten des Bewußtseins ab. Wenn das Bewußtsein oder die Reflexion, die sich einmal zur Vernunft erhoben hat und damit dem spekulativen Bedürfnis folgt, sich zum Verstand erniedrigt, kann die Aufhebung nicht durchgehalten werden, so daß das „spekulative Bedürfnis“ ins „Bedürfnis nach einer Philosophie“ umschlägt®. Das erstere Bedürfnis befriedigt sich erst dann, wenn die absolute Entzweiung zu einer relativen „heruntergesetzt“ (GW4.14) bleibt. Es gibt also in dieser Befriedigung keine Möglichkeit der Existenz der absoluten Entzweiung. In diesem Fall spricht Hegel vom „Princip der Vernichtung aller fixirten Entgegensetzung“: „Das Bedürfniß der Philosophie kann sich darin befriedigen, zum Princip der Vernichtung aller fixirten Entgegensetzung, und zu der Beziehung des Beschränkten auf das Absolute durchgedrungen zu seyn“ (GW4.30; vgl. 13). Daraus ergibt sich, daß die Totalität der Beschränkungen im „Bedürfnis nach einer Philosophie“ noch nicht in die vom „spekulativen Bedürfnis“ verkündete Philosophie eingeordnet wird. Diebeiden Bedürfnisse stehen nebeneinander und werden noch nicht einheitlich begriffen. Dieser Umstand wird deutlich, wenn man beachtet, in welchem System sich das Bedürfnis gestaltet. * Pöggeler unterscheidet zwei Arten des „Bedürfnisses der Philosophie“, (1) genitivus subiectivus als die Totalität, (2) genitivus obiectivus als Bedürfnis nach Philosophie (Hegels Idee ... 348). Vgl. G. Schulte: Hegel oder das Bedürfnis nach Philosophie. 12; W. Ch. Zimmerli: op. dt. 79, 82; P. E. Cain: Widerspruch und Subjektivität. llOff. 5 Auch wenn die genannte Unterscheidung nicht klar ausgeführt wird, ist in den bisherigen Untersuchungen unstrittig, daß das „Bedürfnis der Philosophie“ bzw. „Bedürfnis nach Philosophie“ der Ausdruck des Absoluten ist. Vgl. /. H. Trede: op. cit. 130; K. -H. Nusser: Hegels Dialektik und das Prinzip der Revolution. 154 ff; G. Lukäcs: op. cit. 338; Th. Haering: Hegel. 1.696. ® Über den Übergang vom ersteren zum letzteren „Bedürfnis“ vgl. O. Pöggeler: op. cit. 348.
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Das spekulative Bedürfnis richtet sich darauf, die Mannigfaltigkeit als das Beschränkte in Beziehung zum Absoluten zu bringen, und zeigt sich als die Bewegung des Absoluten, „eine Totalität des Wissens, ein System der Wissenschaft zu produciren“ (ebd.), damit das mannigfaltige Beschränkte in ein System eingeordnet wird. Es fragt sich aber, ob unter dem Beschränkten, das in Beziehung zum Absoluten gebracht wird, auch das Beschränkte durch den Verstand enthalten ist, weil das genannte Bedürfnis sich in einem System nicht immer vollkommen gestaltet und gegebenenfalls ein Bedingtes zum Absoluten erhebt, auf welche Weise sich Dogmatismus in einem System bildet (vgl. GW4.31). Dabei ist zu beachten, daß Hegel auch das sich nicht vollkommen gestaltende Bedürfnis für ein Bedürfnis hält, das „nur nach einer solchen Identität zum Grunde liegt, welche dadurch zu Stande gebracht werden soll, daß eins der Entgegengesetzten geleugnet, von ihm absolut abstrahirt wird“ (GW 4.40 f). Da sich dieses Bedürfnis auf die Fixierung des Entgegengesetzten oder Beschränkten richtet, muß es vom sich vollkommen gestaltenden Bedürfnis unterschieden werden. Das fixierte Entgegengesetzte wird vom Inhalt eines Systems ausgeschlossen, in dem sich das spekulative Bedürfnis vollkommen gestaltet. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung der Inhalte des Systems werden die beiden Bedürfnisse also noch nicht einheitlich betrachtet. Die Richtung der einheitlichen Betrachtung wäre allerdings darin zu finden, daß sich das ,spekulative Bedürfnis“ auch inhaltlich auf das nicht vollkommen gestaltete Bedürfnis beziehen würde.^ Diese Richtung ist gewissermaßen schon in der Darstellung der Differenz-Schnft spürbar, insofern es darum geht, ob ein und dasselbe Bedürfnis sich vollkommen gestaltet oder nicht. Sie ist in der Entwicklungsgeschichte bis zur Nürnberger Zeit zu untersuchen. Im Hinblick auf den von uns behandelten Begriffskomplex muß neben der Kontur des Zusammenhangs der zweifachen Bedürfnisse geprüft werden, ob ein und dieselbe Kontur auch bei den anderen Termini außer der Begierde, die nicht vorkommt, bestätigt wird. Beim Terminus Trieb ist festzustellen, daß er auch in zweifacher Bedeutung wie folgt gebraucht wird: „der Trieb zur Totalität äussert sich noch als Trieb zur Vollständigkeit der Kenntnisse, wenn die verknöcherte Individualität sich nicht mehr selbst ins Leben wagt“ (GW4.9). Beide Triebe sind voneinander unterschieden und entgegengesetzt, insofern der „Trieb zur Vollständigkeit der Kenntnisse“ sozusagen als eine Abart des „Triebes zur Totalität“ betrachtet wird. Wie beim Terminus Bedürfnis geht es auch hier darum, ob ein und derselbe Trieb vollkommen verwirklicht wird oder nicht. Der „Trieb zur Totalität“ entspricht offensichtlich dem „Bedürfnis nach ’ über die vollkommene Gestaltung des Bedürfnisses, das Reflexion und Spekulation vermitteln soll, vgl. /. H. Trede: op. cit. 131 und 137.
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Wiederherstellung der Totalität“ und ist deshalb dem Bedürfnis der Philosophie als dem spekulativen Bedürfnis gleichrangig. Diese Entsprechung gilt auch beim „Trieb zur Vollständigkeit der Kenntnisse“, der dem sich auf die Fixierung des Entgegengesetzten richtenden Bedürfnis oder dem „Bedürfnis nach einer Philosophie“ gleichartig ist. Was den Terminus Streben betrifft, soll auf einen Unterschied zwischen Bestreben und Streben hingewiesen werden. Das Bestreben tritt als die Ausrichtung des Lebens auf seine Totalität auf, das sich dem Verstand entgegensetzt; „Je fester und glänzender das Gebäude des Verstandes ist, desto unruhiger wird das Bestreben des Lebens, das in ihm als Theil befangen ist, aus ihm sich heraus in die Freyheit zu ziehen“ (GW4.13). Der Sachverhalt des Bestrebens, der auch mit dem Ausdruck „Bestrebungen des Lebens, sich zur Harmonie wieder zu gebähren“ {GW 4.14) gemeint ist, zeigt den Charakter des Lebens, das als Totalität nicht ein Teilwesen bleiben kann, und macht also die Grundlage der Tätigkeit der Vernunft aus, die Totalität wiederherzustellen. Das Bestreben in diesem Sinne entspricht dem Bedürfnis der Philosophie als dem spekulativen Bedürfnis. Das Streben erscheint hingegen dann, wenn Hegel von einem Fall spricht, wo das Bedürfnis der Philosophie im spekulativen Sinne ihren Mittelpunkt nicht erreicht und die zwei Seiten des Absoluten, das innere Wesen und die äußere Erscheinung, getrennt zeigt; es geht um das „Streben nach der unendlichen Menge“, in dem die „ins Unendliche zerstreute Mannigfaltigkeit“, zu der die äußere Erscheinung wird, ihren bewußtlosen Zusammenhang mit dem Absoluten kundgibt (s. o. Zitat aus GW 4.91). Dieses Streben muß dann als das im Sinne des Verstandes begriffen werden, welches dem „Bedürfnis nach einer Philosophie“ entspricht. Die Unterscheidung der zweifachen Bedeutung der von uns behandelten Termini in der Differenz-Schrift hängt mit Hegels Kritik am Verständnis der Termini zusammen, das für Hegel auf dem der Vernunft entgegengesetzten Verstand beruht. Dabei soll die FiCHXEsche Auffassung der Termini Streben und Trieb berücksichtigt werden, mit der sein Standpunkt ausgedrückt wird und mit der Hegel sich aus der Nähe zu SCHELLING auseinandersetzte. Erwähnt Hegel diese Termini kritisch, findet er die ihnen entsprechende Auffassung in den FiCHTEschen Begriffen Streben und Trieb.® Das Streben bei FICHTE drückt nach Hegel das „Sollen“ als „Thätigkeit“ (GW4.46) des Ich aus und bezieht sich auf das Kausalitätsverhältnis des Ich zum Nicht-Ich. In diesem Verhältnis wird die Vernunft „als Eins der entge* über Hegels Fichtekritik überhaupt und vor allem in der Differenz-Schnft s. L. Siep: Hegels Fichtekritik und die Wissenschaftslehre von 1804. 19 ff. Vgl. auch die Buchbesprechung zu diesem Buch: K. Düsing: Über das Verhältnis Hegels zu Fichte. In: Philosophische Rundschau.20 (1974), 50-63.
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gengesetzten fixirt“ (GW4.45), nämlich zum Verstand im Hegelschen Sinne herabgesetzt. Das Streben in diesem Zusammenhang entspricht also der Entgegensetzung oder dem „Princip der Nichtidentität“ (GW4.47). Diese Art des Strebens zeigt das Streben im Sinne des Verstandes auf, insofern dieses Streben im „unendlichen Progreß“ (GW'4.46) erscheint und deshalb dem „Streben nach der unendlichen Menge“ entspricht. Hegels Kritik an dem Fichteschen Standpunkt des Strebens bleibt von der frühen Jenaer Zeit bis zur Berliner Zeit unverändert. Auch in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie sagt Hegel; „Streben ist ein unvollendetes Tun oder an sich begrenztes Tun. Das Praktische als ein solches ist mit einem Gegensätze behaftet, negativ gegen ein Anderes. Dies Nicht-Ich, worauf es tätig ist, hat zwar alle Bestimmungen durch die Tätigkeit des Ich; aber es bleibt ihm das reine Jenseits übrig, es ist ein unendlicher Anstoß“ (TW20.407; vgl. auch 399). Hier zeigt sich, daß es für Hegel ein unverändertes Anliegen war, in der FiCHXEschen Auffassung einen typischen Standpunkt des Strebens im Sinne des Verstandes zu finden. FICHTE kennt allerdings auch eine andere Auffassung des Strebens, die er bei SPINOZA vorfindet und der er ablehnend gegenübersteht: „Was ihn auf sein System trieb, läßt sich wohl aufzeigen: nämlich das notwendige Streben, die höchste Einheit in der menschlichen Erkenntnis hervorzubringen. Diese Einheit ist in seinem System; und der Fehler ist bloß darin, daß er aus theoretischen Vernunftgründen zu schließen glaubte, wo er doch bloß durch ein praktisches Bedürfnis getrieben wurde: daß er etwas wirklich Gegebenes aufzustellen glaubte, da er doch bloß ein vorgestecktes, aber nie zu erreichendes Ideal aufstellte. Seine höchste Einheit werden wir in der Wissenschaftslehre wieder finden; aber nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann.“ (SW 1.101) Diese zusammenfassende Aussage in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) formuliert die Aufgabe der Wissenschaftslehre, im Gegensatz zu SPINOZA den Standpunkt des Strebens allein in dem von FICHTE bestimmten praktischen Sinne einzunehmen, mit dem „die höchste Einheit in der menschlichen Erkenntnis“ hervorgebracht werden soll. Was die Auffassung des Strebens bei SPINOZA betrifft, ist hier wohl seine Konzeption über das höchste Streben (conatus) des Geistes, Gott zu erkennen, oder die intellektuelle Liebe zu Gott (vgl. Ethica. Pars V. Propositio XXV. XXXII Corollarium) ® gemeint. Das praktische Verhalten FICHTES, das in seinem Verständnis des Strebens zum Ausdruck kommt, lehnt die Möglichkeit der 9 H. G. Hubbeling weist darauf hin, daß es sich bei der Auffassung Spinozas der intellektuellen Liebe zu Gott um die Kette als ganze handelt (Spinoza. 60 f). Auch nach S. Gasiet enthält diese Auffassung „ein Bedürfnis nach einer ganzheitlichen Erkenntnis“ (Menschliche Bedürfnisse. 22). Zur Auffassung Spinozas vgl. H.-Ch. Lucas: La legitimation de la peine. In: Les Etudes philosophiques. Nr 1/1984. 86 ff.
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Entfaltung einer philosophischen Auffassung des Begriffskomplexes
theoretischen Einheit der menschlichen Erkenntnis im System ab. Gerade daran entzündet sich Hegels Kritik, so daß näher betrachtet werden muß, in welchem Sinne bei FICHTE der Terminus Streben nur eine bestimmte Bedeutung findet. Das praktische Verhalten als das Streben findet sich in der Beziehung des Ich auf das Nicht-Ich. Dabei ist das Streben mit der Auffassung FICHTES über das Kausalitätsverhältnis verbunden, wie Hegel bemerkt. Die Beziehung des Ich auf das Nicht-Ich wird zweifach betrachtet; das Ich soll einmal unendlich sein, d. h. es soll absolute Kausalität in Beziehung auf das Nicht-Ich haben; zum anderen zeigt das Ich als das Streben, daß es keine absolute Kausalität haben kann, d. h. es kann das Nicht-Ich nicht bestimmen, sondern wird umgekehrt durch das Nicht-Ich bedingt: „Das Ich ist unendlich, aber bloß seinem Streben nach; es strebt unendlich zu sein... Es gibt... ein Streben des Ich, das bloß insofern ein Streben ist, als ihm widerstanden wird, und als es keine Kausalität haben kann; also ein Streben, das, inwiefern es dies ist, auch mit durch ein Nicht-Ich bedingt wird.“ (SWI.270) Im Streben ist das Ich also unendlich und endlich.io Dieser Sachverhalt wird als das „Streben nach Kausalität überhaupt“ (SWI.271) charakterisiert. Dabei wird der Unterschied zwischen dem Streben und der Identität des Ich klar, insofern FICHTE die Identität der absoluten Kausalität gleichstellt, in dem Sinne, „daß man die Identität des Ich aufgeben müsse, wenn man die Forderung einer absoluten Kausalität nicht annehmen wolle.“ (ebd.) Insofern das Ich mit dem Streben keine absolute Kausalität haben kann, zeigt das Streben im Unterschied von der Identität des Ich als der absoluten Kausalität die Bedingtheit des Ich durch das Nicht-Ich auf. Es fragt sich dann, welchen Stellenwert das Streben im Zusammenhang mit der Identität des Ich hat. Damit wird gleichzeitig nach dem Stellenwert der Bedingtheit des Ich durch das Nicht-Ich gefragt. Im Hinblick auf diese Frage stellt FICHTE fest, daß das Streben nur einen abgeleiteten Sinn hat: „Das ursprüngliche Streben nach einer Kausalität überhaupt im Ich ist genetisch abgeleitet aus dem Gesetze des Ich, übersieh selbst zu reflektieren, und zu fordern, daß es in dieser Reflexion als alle Realität erfunden werde; beides, so gewiß es ein Ich sein soll. Jene notwendige Reflexion des Ich auf sich selbst ist der Grund alles Herausgehens aus sich selbst, und die Forderung, daß es die Unendlichkeit ausfülle, der Grund des Strebens nach Kausalität überhaupt; und beide sind lediglich in dem absoluten Sein begründet.“ (SVEI.276) Daß das Streben aus dem Gesetz des Ich abgeleitet ist, bedeutet, daß das Streben zuletzt auf dieses Gesetz, näm1» über den gedoppelten Charakter des Ich im Streben bei Fichte vgl. U. Claesges: Geschichte des Selbstbewusstseins. 87.
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lieh auf die Identität des Ich zurückgeführt wird. Damit spielt das Streben keine selbständige Rolle, obwohl gesagt wird, daß das Ich ohne das Streben kein Ich wäre: „Hätte es dieses unendliche Streben nicht, so könnte es abermals nicht sich selbst setzen, denn es könnte sich nichts entgegensetzen; es wäre demnach auch kein Ich, und mithin nichts.“ (SWI.270) Das Streben als solches hat also keinen wesentlichen Stellenwert im Zusammenhang mit der Identität des Ich“ und kann deshalb nur als eine Bestimmung angesehen werden, die von der Identität des Ich getrennt ist. Und gerade darauf richtet sich Hegels Kritik am FiCHTEschen Begriff des Strebens. Auch am Begriff des Triebes wird eine ähnliche Kritik geübt. Es soll daher untersucht werden, wie der Trieb bei FICHTE auftritt. Da das Ich mit dem Streben keine absolute Kausalität haben kann, bedeutet das Streben nicht eine „reale wirkende Tätigkeit“ (SVFI.287), sondern eine Tätigkeit, die „nur in sich selbst zurückgehen“ oder „nur sich selbst produzieren“ (ebd.) kann. Solches Streben nennt FICHTE den Trieb. *2 Dieser Trieb läßt sich nach zwei Richtungen betrachten; auf der einen Seite der Trieb, über sich zu reflektieren, oder der Reflexionstrieb (zentripetal) und auf der anderen Seite der Trieb nach dem Objekte (zentrifugal). Die beiden Richtungen sind miteinander verbunden. Nur wenn das Ich vom Objekt bedingt wird, kann es über sich reflektieren. So erklärt FICHTE die Beziehung der beiden Richtungen: „Das Ich hat in sich das Gesetz, über sich zu reflektieren, als die Unendlichkeit ausfüllend. Nun aber kann es nicht über sich, und überhaupt über nichts reflektieren, wenn dasselbe nicht begrenzt ist. Die Erfüllung dieses Gesetzes, oder ... die Befriedigung des Reflexionstriebes ist demnach bedingt, und hängt ab vom Objekte. Er kann nicht befriedigt werden ohne Objekt, — mithin läßt er sich auch beschreiben als ein Trieb nach dem Objekte.'' (SW 1.291) Dem Umstand entsprechend, daß die beiden Richtungen wechselseitig bestimmt sind^^, wird der Trieb unter dem Gesichtspunkt der Wechselbestimmung berücksichtigt: „Harmonierend ist, was sich gegenseitig als das Bestimmte und Bestimmende betrachten läßt. — Doch soll das Harmonierende nicht Eins, sondern ein harmonierendes Zwiefaches sein; . .. Ein solcher Trieb liegt im Triebe der Wechselbestimmung." (SWI.326) Hier scheint auch die Bedingtheit des Ich durch das Objekt bzw. Nicht-Ich neben der Identität des Ich als etwas Gleichartiges anerkannt zu werden. Aber auch beim Trieb wie beim Streben wird der Sachverhalt auf die Identität des Ich zurückgeführt: „Es ist ... eine Wechselbestimmung des Ich und des Nicht-Ich, die vermöge der Einheit des “ Festzustellen ist, daß bei Fichte der Begriff der Identität des Ich kein „Streben“ impliziert, wie A. Schnurr konstatiert (Philosophie als System bei Fichte, Schelling und Hegel. 69). Über die Deduktion des „Triebes“ bei Fichte vgl. U. Claesges: op. dt. 110 f. Zum Umstand, daß der Trieb bei Fichte bestimmt und bestimmend zugleich sein soll, vgl. U. Claesges: op. cit. 134.
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Subjekts, zu einer Wechselbestimmung des Ich durch sich selbst werden muß.“ (ebd.) So spricht FICHTE vom „Trieb nach Wechselbestimmung des Ich durch sich selbst“ oder vom „Trieb nach absoluter Einheit und Vollendung des Ich in sich selbst“ (ebd.). Auf der Grundlage der Einheit bzw. Identität des Ich wird für FICHTE das „System der Triebe“ (SW 1.327) abgerundet und beschlossen. Die Charakterisierung des betreffenden Triebes besteht zuletzt darin, daß er ein Trieb ist, „der sich absolut selbst hervorbrächte, ein absoluter Trieb, ein Trieb um des Triebes willen.“ (ebd.) In Beziehung auf diesen Trieb nimmt FICHTE einen Standpunkt des kategorischen Imperativs — „Du sollst schlechthin“ (ebd.) — ein. Da es sich beim Trieb um die Identität des Ich handelt, kann in diesem Standpunkt die Bedingtheit des Ich durch das Nicht-Ich keinen wesentlichen Stellenwert haben.i'* Es muß im Hinblick auf den kategorischen Imperativ die Auffassung FICHTES im System der Sittenlehre (1798) herangezogen werden, insofern es auf die „synthetische Vereinigung“ des höheren Begehrungsvermögens mit dem niederen ankommt (Zitate in diesem Absatz, SWIV. 130 f). FICHTE übernimmt also den traditionellen Unterschied der beiden Begehrungsvermögen, nämlich des höheren als des „reinen geistigen Triebes“ und des niederen als „des Naturtriebes“. Dieser Unterschied gehört für ihn zum Gesichtspunkt der „Reflexion“, der sich vom „transzendentalen“ unterscheidet. Vom letzteren aus gesehen sind die beiden Triebe „ein und ebenderselbe Urtrieb“.'^ Unter diesem Gesichtspunkt werden „alle Phänomene des Ich“ begriffen: „Lediglich auf der Wechselwirkung dieser beiden Triebe, welche eigentlich nur die Wechselwirkung eines und ebendesselben Triebes mit sich selbst ist, beruhen alle Phänomene des Ich.“ Bei diesem Trieb handelt es sich offensichtlich um ein und denselben Sachverhalt in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, der sich auf die Identität des Ich bezieht. Es fragt sich aber, wie diese ursprüngliche, einheitliche Konzeption der beiden Triebe in der „Reflexion“ verwirklicht werden kann, insofern „die ganze Ichheit“ darauf beruht, „dass sie als verschiedene erscheinen“. Dazu sagt FICHTE: „mithin müssen beide Triebe im Umfange des Bewußtseyns vereinigt werden.“ Diese Vereinigung erreicht aber den ursprünglichen Gesichtspunkt nicht, weil das, was sich „als Resultat der Vereinigung“ findet, nur in der objektiven Tätigkeit liegt, „deren Endzweck absolute Freiheit, Der Interpretation J. Barnouws ist zuzustimmen, daß bei Fichte die zentripetale Richtung im Vergleich zur zentrifugalen überwiegende Bedeutung hat und daß dementsprechend die Empfänglichkeit oder die Bedingtheit des Ich durch das Nicht-Ich niemals ein Trieb oder ein Bestandteil des Strebens werden kann (op. cit. 268 ff (s. 2.4. Anm. 2)). '5 Im Hinblick auf die Bedeutung des Fichteschen Begriffs „Urtrieb“ erklärt W. G. Jacobs, daß Fichte anders als Kant den gemeinsamen Grund von höherem und niederem Begehren in diesem Begriff aufweist (Trieb als sittliches Phänomen. 85). Zu Hegels Verständnis dieses Begriffs vgl. H. Girndt: Die Differenz des Fichteschen und Hegelschen Systems in der Hegelschen „Differenzschrift“. 92.
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absolute Unabhängigkeit von aller Natur ist: — ein unendlicher nie zu erreichender Zweck“. Hier zeigt sich der Punkt, in dem Hegel der FICHTEschen Auffassung des Terminus Trieb ablehnend gegenübersteht, i® Nach Hegel ist die zu rekonstruierende Identität der beiden Triebe nur die „Synthese des Beherrschens“ (GW4.50), die im Kausalitätsverhältnis steht: „in dieser Rekonstruktion der Identität [... ] ist das eine das herrschende, das andre das beherrschte, das subjektive nicht gleich dem objektiven, sondern sie stehen im Kausalitäts-Verhältniß, eins kommt in die Bottmäßigkeit“ (ebd.). Hier sieht Hegel die Unvereinbarkeit zwischen Anfang und Ende des Systemsi^: „So wird das Ende des Systems seinem Anfang, das Resultat seinem Princip ungetreu. Das Princip war Ich = Ich; das Resultat ist Ich nicht = Ich.“ (ebd.) Hegel betrachtet also in der FiCHXEschen Auffassung des Triebes ein typisches Zeichen, mit dem er den Mangel bei FICHTE anzeigt. Zusammenfassend sagt Hegel: „Ich ... hat in einzelnen unvollständigen Synthesen, ... im Trieb... seine verschiedenen Richtungen vereinigt, aber es gelangt in ihnen nicht zu einer vollständigen Darstellung seiner selbst; es producirt in dem unendlichen Progreß des verlängerten Daseyns, endlos Theile von sich, aber nicht sich selbst in der Ewigkeit des sich selbst Anschauens als Subjekt-Objekt.“ (GW4.48) Offenbar entspricht diese Art des Triebes der, die Hegel in dem „Trieb zur Vollständigkeit der Kenntnisse“ (GWA.9) findet. Bei der Kritik an den FiCHTESchen Begriffen Streben und Trieb befand sich Hegel in einer gewissen Nähe zu SCHELLING, insofern ihm dessen Standpunkt mit seinem eigenen vereinbar zu sein schien. Daher muß die ScHELLiNGsche Auffassung dieser Termini herangezogen werden, um genaueres über die Beziehung zwischen Hegel und SCHELLING aussagen zu können, soweit die uns interessierenden Begriffe involviert sind. Dabei wird unsere Untersuchung darauf begrenzt, in der Entwicklung SCHELLINGS bis zur Zeit der Differenz-Schxxii nicht-FiCHXEsche Momente herauszuheben, die wohl die Hegelsche Auffassung der Termini beeinflußten. SCHELLING übernimmt die FiCHXEsche Kritik an SPINOZA, insofern er SPINOZAS Standpunkt der intellektuellen Liebe zu Gott als eine Täuschung betrachtet, die diesem das Prinzip der Schwärmerei erträglich mache: „Ihm ist intellektuale Anschauung des Absoluten das Höchste, die letzte Stufe der Erkenntniß, zu der ein endliches Wesen sich erheben kann, das eigentliche Leben des Geistes.“ (Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus. AW 1.197) Dabei steht SCHELLING aber trotz dieser Kritik Unsere Untersuchung beschränkt sich darauf zu betrachten, wie Hegel von seinem eigenen Standpunkt her die Fichtesche Auffassung versteht, und kann deshalb darauf nicht eingehen, ob sein Verständnis zutreffend ist. Über die Fichtesche Auffassung selbst s.W.G. Jacobs: op. cit. 79ff; ders.: Einleitung. In: /. G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). XXIII f. Über Hegels Fichte-Kritik, daß bei diesem der spekulative Standpunkt (Anfang) durch die Entfaltung des Systems sich in sein Gegenteil (Ende) verkehrt, vgl, L. Siep: op. cit. 20.
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in der Nähe von SPINOZA, in dem Sinne, daß er den Standpunkt des Absoluten anerkennt, das dem Endlichen zugrunde liegt und es durch eine teleologische Funktion!* zu sich selbst führt: „Nur der immanente Gebrauch, den wir vom Princip des Absoluten in der praktischen Philosophie für die Erkenntniß unsrer Bestimmung machen, berechtigt uns, bis zum Absoluten fortzugehen.“ (op. dt. AW 1.212f) Auf der Grundlage dieses immanenten Gebrauchs des Absoluten findet sich nach SCHELLING das Streben als der Ausdruck der unendlichen Praxis des endlichen Menschen, zum Absoluten fortzugehen, durch welche das Absolute und das Endliche vermittelt werden 1®: „Die Philosophie kann zwar vom Unendlichen nicht zum Endlichen, aber umgekehrt vom Endlichen zum Unendlichen übergehen. Das Streben, keinen Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen zuzulassen, wird eben dadurch zum verbindenden Mittelglied beider, auch für die menschliche Erkenntniß. Damit es keinen Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen gebe, soll dem Endlichen selbst die Tendenz zum Unendlichen beiwohnen, das ewige Streben, im Unendlichen sich zu verlieren.“ (op. cit. AW 1.194f) Hierin scheint es keinen Unterschied zwischen SPINOZA und SCHELLING ZU geben, insofern dieser in dem Streben des endlichen Menschen den immanenten Gebrauch des Absoluten als die „Tendenz zum Unendlichen“ findet. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß SCHELLING den Standpunkt der „sinnlichen Anschauung“, nämlich der „dem ewigen Streben, im Unendlichen sich zu verlieren“ entgegengesetzten Richtung einnimmt und den der „intellektualen Anschauung“ ablehnt: „solange die Anschauung auf Objekte geht, d. h. solange sie sinnlich ist, ist keine Gefahr vorhanden, sich selbst zu verlieren. Das Ich, indem es einen Widerstand findet, ist genöthigt, sich ihm entgegenzusetzen, d. h. in sich selbst zurück zu kehren. Aber, wo sinnliche Anschauung aufhört, wo alles Objektive verschwindet, findet nichts als unendliche Ausdehnung statt, ohne Rückkehr in sich selbst. Würde ich die intellektuale Anschauung fortsetzen, so würde ich aufhören zu leben.“ {AW 1.205) Das „Streben, im Unendlichen sich zu verlieren“ wird also durch die ,sinnliche Anschauung' bedingt. Schon im Aufsatz Vom Ich als Princip der Philosophie tritt diese Gegenrichtung^o gerade im H. M. Baumgartner sieht zu Recht im Streben bei Schelling eine teleologische Funktion des absoluten Ich (Das Unbedingte im Wissen: Ich — Identität — Freiheit. In: Schelling. Hrsg, von M. Baumgartner. 54). Über die Bedeutung des Strebens als der Vermittlung des Absoluten bzw. Unendlichen und des Endlichen vgl. H. M. Baumgartner: ebd., W. Schulz: Einleitung. In: F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. XV f. Im Streben zeigt sich, daß das endliche Ich das absolute als Forderung in sich trägt; das Streben ist nicht mit dem Ichsein, sondern mit dem Endlichsein des Ich gegeben, wie I. Görland interpretiert (DieEntwicklungderFrühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte. 21). Nach Barnouw vertritt Schelling im Aufsatz Vom Ich noch von Fichte abhängig „den Idealismus eines undifferenzierten Absoluten“ (op. cit. 288). Aber es muß beachtet werden, daß schon in diesem Aufsatz die im Text genannte Gegenrichtung vorhanden ist.
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Begriff des Strebens auf: „Selbstbewußtseyn setzt die Gefahr voraus, das Ich zu verlieren. Es ist kein freier Akt des Umwandelbaren, sondern ein abgedrungenes Streben des wandelbaren Ichs, das, durch Nicht-Ich bedingt, seine Identität zu retten und im fortreißenden Strom des Wechsels sich selbst wieder zu ergreifen strebt“ {AW 1.60). Hier liegt der Standpunkt des Strebens des endlichen Menschen, auf dessen Grundlage SCHELLING alle Arten Schwärmerei ablehnt. Daß für SCHELLING das Ich durch das NichtIch bedingt wird, steht im Gegensatz dazu, daß FICHTE diesen Punkt zuletzt wenig beachtet.2i Die SCHELLiNGsche Auffassung des Terminus Streben unterscheidet sich von der FiCHXESchen also von Anfang an in zwei Punkten, nämlich (1) sie steht in der Nähe der SPINOZAS, (2) sie hängt mit der Auffassung der Bedingtheit des Ich durch das Nicht-Ich zusammen. Da SCHELLING sich mit seinem naturphilosophischen Ansatz von FICHTE ablöste22, wurde der Unterschied der beiden Auffassungen durch diesen Ansatz verstärkt. Es soll deswegen berücksichtigt werden, wie die ScHELLiNGsche Auffassung in diesem Gebiet begegnet. Was den Terminus Streben selbst betrifft, ist allerdings festzustellen, daß statt dessen vielmehr die Termini Bestreben und Trieb Vorkommen.
In zwei entgegengesetzten Richtungen, die SCHELLING zwar dem FICHTEschen Ansatz folgend im menschlichen Geist sieht, aber den obengenannten zwei Punkten entsprechend betrachtet, will er den Sachverhalt des „Bestrebens“ verstanden wissen: „Durch die Tendenz zur Selbstanschauung begrenzt der Geist sich selbst. Diese Tendenz aber ist unendlich, reproducirt ins Unendliche fort sich selbst... Der Geist hat also ein nothwendiges Bestreben, sich in seinen widersprechenden Thätigkeiten anzuschauen.“ {Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre. AW 1.260) Nach Analogie dieser Tendenz bzw. des Bestrebens im menschlichen, Geist erkennt SCHELLING eine allgemeine Tendenz, die er auch mit dem Terminus Trieb ausdrückt, in der Natur: „Da in unserem Geiste ein unendliches Bestreben ist sich selbst zu organisiren, so muß auch in der äußern Welt eine allgemeine Tendenz zur Organisation sich offenbaren... Der allgemeine Bildungstrieb der Natur verliert sich zuletzt in der Unendlichkeit... Der stete und feste Gang der Natur zur Organisation verräth deutlich genug einen regen Trieb ... Es ist der allgemeine Geist der Natur, der allmählich die rohe Materie sich selbst anbildet. Vom Moosgeflechte an... bis zur veredelten Gestalt ... herrscht ein und derselbe Trieb, der nach einem und demselben Ideal von Zweckmäßigkeit zu arbeiten, ins Unendliche fort ein 21 Im Punkt, daß Schelling sich der Gefahr entgegensetzt, sich im Unendlichen zu verlieren, und deshalb die Bedingtheit des Ich durch das Nicht-Ich behauptet, findet sich die Distanz Schellings von Fichte. Darüber vgl. /. Barnouw: op. dt. 269, 271; /. Görland: op. dt. 27. 22 Über die Ablösung Schellings von Fichte im allgemeinen und im naturphilosophischen Ansatz vgl. W. Schulz: op. dt. X, XXII.
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und dasselbe Urbild, die reine Form unsers Geistes, auszudrücken bestrebt ist.“ (op. cit. AW 1.266f) Hier spricht SCHELLING von dem Terminus „Bildungstrieb“, der offensichtlich von BLUMENBACH herrührt, und gebraucht ihn in seinem eigenen Kontext, insofern er darin ein Beispiel für die neue Denkrichtung in einem einzelnen Bereich sieht, die er als „eine totale Revolution der philosophischen Denkart“ bezeichnet: „Die unmerkliche Umänderung des philosophischen Geistes, die allmählich zu einer totalen Revolution der philosophischen Denkart sich anschickte, zeigte sich bereits in einzelnen Produkten (z. B. BLUMENBACHS Bildungstrieb ...), als zu gleicher Zeit die neuen Entdeckungen der Chemie die Naturwissenschaft immer mehr vom atomistischen Weg ablenkten und den Geist der dynamischen Philosophie durch alle Köpfe verbreiteten.“ (Von der Weltseele. AW 1.576) Für SCHELLING wird also die „Revolution der philosophischen Denkart“, die mit den damaligen naturwissenschaftlichen neuen Strömungen zusammenhängt, mit den uns interessierenden Termini ausgedrückt. Diese Auffassung SCHELLINGS beeinflußte wohl Hegel, der auch einen angemessenen Ausdruck für die Philosophie nach seiner eigenen Bestimmung suchte. Darauf kommen wir später zurück. Auf der Grundlage der obengenannten Auffassung sieht SCHELLING in der Natur überall ein Bestreben nach Gleichgewicht der entgegengesetzten Kräfte, das die Existenz der Materie überhaupt im Raum ermöglicht: z. B. „in jedem chemischen Processe entstehen Qualitäten, die vorher nicht da waren, und die ihren Ursprung bloß dem Bestreben entgegengesetzter Kräfte sich ins Gleichgewicht zu setzen verdanken ... Man muß behaupten ... daß die Materie überhaupt ihre Existenz im Raume durch ein continuirliches Bestreben nach Gleichgewicht offenbare, ohne welches alle Stoffe einer Zerstreuung ins Unendliche ausgesetzt wären.“ {AW 1.487) Hiermit ist festzustellen, daß eine im Bestreben vorhandene Strukturgleichheit einzelnen Naturkörpern zugrunde liegt. SCHELLING erkennt in diesem Sachverhalt einen „Trieb zur unendlichen Entwicklung“, der sich auf die Einheit von Produkt und Produktivität der Natur^^ richtet: „Jenes Produkt ist ein endliches, aber da die unendliche Produktivität der Natur in ihm sich concentrirt, muß es den Trieb zur unendlichen Entwicklung haben.“ {Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. A1V2.290) Durch den genannten Trieb wird die im endlichen Produkt immanente unendliche Produktivität der Natur begriffen. Diese Auffassung ist nichts anderes als der naturphilosophische Aspekt der Auffassung, die SCHELLING, wie gezeigt, in geistiger Nähe zu SPINOZA entwickelte. Die ScHELLiNGsche Auffassung
23 Über den Schellingschen Ansatz der Natur in der Einheit von Produkt und Produktivität vgl. K. Düsing: Spekulation und Reflexion. In; Hegel-Studien.5 (1969), 110. Vgl. auch W. Schulz: op. cit. XXIV.
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der betreffenden Termini wurde also vor allem durch seinen naturphilosophischen Ansatz verstärkt. Die deutlichste geordnete Entfaltung dieser Auffassung des jungen SCHELLiNG findet sich allerdings im System des transzendentalen Idealismus-, sie soll deshalb näher behandelt werden. Das Streben wird der früheren Auffassung entsprechend in zwei entgegengesetzten Richtungen betrachtet, nämlich einmal das „Streben sich selbst gleich zu seyn“ (AW2.592) (zentripetal), zum anderen das „Streben ins Unendliche sich auszubreiten“ (AVE2.437) (zentrifugal). Dabei ist bemerkenswert, daß von der Identität des Ich gesprochen wird, auch wenn sie „keine ursprüngliche, sondern eine hervorgebrachte und vermittelte“ (AW2.592) ist; sie liegt im Streben des Ich, das seine Existenz als Widerspruch der beiden Richtungen unterhält.24 Hier sieht SCHELLING das „Streben des Ichs sie zu vereinigen, welches allein ihnen Bestand und wechselseitige Beziehung aufeinander gibt.“ (AW2.432) Der Trieb tritt zusammen mit dem Streben bzw. Bestreben auf: „Die Intelligenz ist also ein unendliches Bestreben sich zu organisiren. Also wird auch im ganzen System der Intelligenz alles zu Organisation streben, und über ihre Außenwelt der allgemeine Trieb zur Organisation verbreitet seyn müssen. Es wird daher auch eine Stufenfolge der Organisation nothwendig seyn. Denn die Intelligenz, insofern sie empirisch ist, hat das continuirliche Streben, das Universum, das sie nicht durch absolute Synthesis darstellen kann, wenigstens successiv in der Zeit hervorzubringen.“ (A W2.491 f) Hier wird der gleiche Ansatz geäußert, der in den früheren naturphilosophischen Schriften dargestellt wird, nämlich daß mit dem Trieb bzw. Streben die Organisation im ganzen System ausgerichtet wird. Der Trieb steht im Zusammenhang mit dem Widerspruch, durch den die Identität des Ich aufgehoben wird, und richtet sich auf die Wiederherstellung dieser Identität: „Die Richtung auf ein äußeres Objekt äußert sich also durch einen Trieb, und dieser Trieb entsteht unmittelbar aus dem Widerspruch zwischen dem idealisirenden und dem anschauenden Ich, und geht unmittelbar auf die Wiederherstellung der aufgehobenen Identität des Ichs.“ {AW 2.560) Im Hinblick auf die Bestimmung des Triebes als der Tätigkeit der „Wiederherstellung der aufgehobenen Identität des Ichs“ ist die Differenz der S CHELLiNGschen Auffassung von der FiCHTEschen klar; die Identität des Ich ist bei jenem durch den Trieb bzw. das Streben erreichbar, auch wenn sie eine sukzessiv in der Zeit hervorgebrachte, also relative ist, wähMit dem Streben, Widerspruch zu unterhalten, wird der „unendliche Entfaltungsprozeß“ in Gang gesetzt, bei dem es sich um „eine unendliche Folge von Teilsynthetisierungen der je verbleibenden Restgegenstände“ handelt, wie W. Hartkopf interpretiert (Die Dialektik in Schellings Transzendental- und Identitätsphilosophie. 41, 77). Wichtig ist, daß trotz des Teilcharakters der Synthetisierung damit die Identität des Ich ermöglicht wird. Die Folge dieser Identität macht „die Geschichte des Ichs“ aus. Dazu vgl. W. Schulz: op. cit. XXXI.
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rend bei diesem gerade der Trieb bzw. das Streben die unendliche Praxis des Menschen anzeigt, die die Identität des Ich nie erreichen kann.^s Diese Differenz spitzt sich dann zu, wenn SCHELLING von dem „künstlerischen Trieb“ spricht, der anläßlich Hegels Stellungnahme zu der FiCHTEschen Auffassung der Kunst berücksichtigt werden soll. Hegel faßt mit seinen eigenen Worten die ästhetische Auffassung FICHTES wie folgt zusammen; „Durch das ästhetische Vermögen ist eine wahre Vereinigung des Producirens der Intelligenz, und des ihr als gegeben erscheinenden Produkts, — des sich als unbeschränkt, und zugleich als Beschränktheit setzenden Ich anerkannt; oder vielmehr eine Vereinigung der Intelligenz und der Natur, welche letztere eben um dieser möglichen Vereinigung willen, noch eine andere Seite hat, als Produkt der Intelligenz zu seyn“ (GW4.61). Er hält diese Auffassung dann zwar für „vortreflich“, aber für „inkonsequent in Rücksicht auf sein System“, auf welches FICHTE „überhaupt keine Anwendung“ mache (ebd.). Sie wird also durchaus von Hegel anerkannt, doch zuletzt wegen ihrer systematischen Inkonsequenz bemängelt. Das, was Hegel in dieser Inkonsequenz sieht, bezieht sich gerade aufdas von ihm kritisierte FiCHTEsche Verständnis des Strebens: „die Anerkennung der ästhetischen Vereinigung des Producirens und des Produkts ist etwas ganz anderes als das Setzen des absoluten Sollens und Strebens, und des unendlichen Progresses, Begriffe, die sich, so wie jene höchste Vereinigung anerkannt wird, als Antithesen, oder nur als Synthesen subalternerer Sphären, und damit als einer höheren bedürftig ankündigen.“ (ebd.) Nach Hegel stellt sich die ästhetische Auffassung FICHTES seinem eigenen Verständnis des Strebens entgegen. In bezug auf die ästhetische Problematik soll das ScHELLiNGsche Verständnis des „künstlerischen Triebes“ herangezogen werden, insofern er in keinem anderen Gebiet als dem der Kunst diesen Trieb sozusagen ganz konsequent als die letzte Form des Triebes überhaupt hervorhebt. Zunächst ist bestätigt, daß auch der „künstlerische Trieb“ eine Art Trieb ist. Weiterhin wird gezeigt, daß er die letzte Form ist, in dem Sinne, daß der Widerspruch, aus dem er hervorgeht, in das Letzte des Menschen dringt: „wenn jeder Trieb von einem Widerspruch ausgeht, so, daß, den Widerspruch gesetzt, die freie Thätigkeit unwillkürlich wird, so muß auch der künstlerische Trieb aus einem solchen Gefühl eines inneren Widerspruchs hervorgehen. Dieser Widerspruch aber, da er den ganzen Menschen mit allen seinen Kräften in Bewegung setzt, ist ohne Zweifel ein Widerspruch, der das Letzte in ihm, die Wurzel seines ganzen Daseyns, angreift.“ (AW 25 Hier läßt sich in Beziehung auf die Auffassung der Termini Trieb und Streben die Argumentation von Schulz über den Unterschied der beiden Denker im allgemeinen bestätigen, daß es Schellings Absicht ist, den Primat der absoluten Identität zu erweisen, während Fichte den Primat des Praktischen lehrt (op. cit. XLII). Dieser Punkt ist vor allem hinsichtlich der Schellingschen Auffassung über den „künstlerischen Trieb“ hervorzuheben.
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2.616) Nach SCHELLING kann dieser Trieb in der Kunst befriedigt werden, womit der „letzte und äußerste Widerspruch“ des Ich aufgelöst wird, welches „bewußt der Produktion nach, bewußtlos in Ansehung des Produkts“ {AW 2.613) ist. Hiermit soll der Punkt der Vereinigung des Produzierens bzw. der Produktion und des Produkts, dessen systematische Konsequenz Hegel von FICHTE verlangt, erreicht werden. Dabei tritt der Terminus Streben im gleichen Sinne wie der Terminus Trieb auf: „Es kann also nur der Widerspruch zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen im freien Handeln seyn, welcher den künstlerischen Trieb in Bewegung setzt, sowie es hinwiederum nur der Kunst gegeben seyn kann, unser unendliches Streben zu befriedigen und auch den letzten und äußersten Widerspruch in uns aufzulösen.“ (AW 2.616 f) Bei dieser Auffassung des „künstlerischen Triebes“ geht SCHELLING also über FICHTE hinaus. Diese Auffassung wäre Hegel, seinem Verständnis des Triebes im Sinne der Vernunft angemessen, insofern er die ästhetische Auffassung FICHTES als inkonsequent bezeichnet. Ob sie für Hegel angemessen ist, muß allerdings überprüft werden. Fragen wir also, ob die ScHELLiNGsche Konzeption des „künstlerischen Triebes“ der Hegelschen des „Triebes zur Totalität“ gleich sein kann. Dabei handelt es sich darum, wie sich der Trieb jeweils für SCHELLING und Hegel auf das Absolute bezieht. Die Antwort darauf ist zugleich die auf die Frage danach, in welchem Sinne Hegels Auffassung derjenigen SCHELLINGS nahe steht. Hierbei ist zu beachten, daß es für SCHELLING keinen Trieb in der im Produkt ausgedrückten Identität mehr gibt: „Die Intelligenz wird also in einer vollkommenen Anerkennung der im Produkt ausgedrückten Identität, als einer solchen, deren Princip in ihr selbst liegt, d.h. sie wird in einer vollkommenen Selbstanschauung enden... Aller Trieb zu produciren steht mit der Vollendung des Produkts stille, alle Widersprüche sind aufgehoben“ (AW2.615). Der Trieb überhaupt ist also von der Identität ausgeschlossen, insofern der Widerspruch, welcher den Trieb in Bewegung setzt, in der Identität aufgehoben wird. Es fragt sich dann, ob der Trieb überhaupt als ein wesentliches Moment dem Absoluten zugehört, auch wenn der „künstlerische Trieb“ als die letzte Form des Triebes überhaupt die Kunst ermöglicht, welche „die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur Einmal existirt hätte, uns von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müßte“ (AW 2.618) ist. Auch der „künstlerische Trieb“ wird befriedigt und verschwindet, insofern der Künstler „die vollständige Auflösung des Widerspruchs, die er in seinem Kunstwerk erblickt“ (AW 2.617), erlebt. Der „künstlerische Trieb“ wird nur mit dem Widerspruch verbunden, der vom Absoluten selbst getrennt wird, und gehört deshalb nicht zum Absoluten selbst. Der Trieb überhaupt kann also nicht als ein wesentliches Moment des Absoluten bezeichnet werden, obwohl SCHELLING sich der Ansicht nähert, den Trieb in dem Absoluten zu erkennen, insofern er von „einer unbekannten Gewalt“ bzw. der „Macht“
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(AW 2.616) des Absoluten spricht, welche dem „künstlerischen Trieb“ gleich sein könnte. Diese Begrenzung der Auffassung SCHELLINGS bleibt auch bei seinem naturphilosophischen Ansatz, der ihn von FICHTES Einfluß abgelöst haben soll. Das Streben wird dem Gegensatz gleichgestellt, der die Identität aufhebt: „Der Gegensatz ist Aufhebung der Identität. Aber die Natur ist ursprünglich Identität. — Es wird also in jenem Gegensatz wieder ein Streben nach Identität seyn müssen. Dieses Streben ist (unmittelbar) bedingt durch den Gegensatz; denn wäre kein Gegensatz, so wäre Identität, absolute Ruhe, und auch kein Streben nach Identität.“ {Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. AW2.309) Ein und dieselbe Auffassung kommt als die Charakterisierung eines einzelnen Körpers im identitätsphilosophischen System vor, der sich der Indifferenz selbst entgegensetzt: „Jeder Körper, der als einzeln gedacht wird, muß mit dem Bestreben zur Totalität gedacht werden. ... Dieses Bestreben ist um so größer, je entfernter er von der Indifferenz ist.“ {Darstellung meines Systems der Philosophie. AW 3.53) Was die ScHELLiNGschen Termini meinen, liegt also zuletzt im Bereich der Nichtidentität. Von daher ist festzuhalten, daß Hegels Interpretation der FiCHXEschen Auffassung, das Streben entspreche dem Prinzip der Nichtidentität, auch für die SCHELLiNGsche Auffassung gilt.^e Es geht Hegel darum, in bezug auf die betreffenden Termini einen passenden Ausdruck zur „geheimen Wirksamkeit der Vernunft“ zu suchen. Der „Trieb zur Totalität“ ist nichts anderes als der gesuchte Ausdruck. Da die genannte Wirksamkeit zum Absoluten selbst gehört, stellt sich der „Trieb zur Totalität“ als ein wesentliches Moment des Absoluten dar. Damit ist die Differenz der Hegelschen Auffassung von der ScHELLiNGschen klar27 in dem Sinne, daß diese letztlich dem Ausdruck „Trieb zur Vollständigkeit der Kenntnisse“, der nach Hegel dem Verstand zugeschrieben wird, entsprechen würde. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß Hegel in der Nähe von SCHELLING stand; dies ist deutlich vor allem in der spinozistischen Richtung Hegels^* im Zusammenhang mit seiner Kritik an FICHTE. Daß die „geheime Wirksamkeit der Vernunft“ als „ein System der Wissenschaft“ organisiert werden kann, bedeutet, daß die Erkenntnis des Absoluten Ein ähnlicher Umstand wird von R. Lauth bemerkt, daß der Vorwurf, die Wissenschaftslehre bleibe nach Überschreiten des ersten Grundsatzes in der Endlichkeit verhaftet, auf das Identitätssystem selbst zurückfällt {Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre. 178). Darauf, daß Hegel sich bereits in der Differenz-Schrift radikal von Schelling getrennt hat, macht W. Marx aufmerksam {Die Bestimmung der Philosophie im deutschen Idealismus. In: ders.: Vernunft und Welt. 3,13 f). Über die Bedeutung dieser Trennung zur heutigen Diskussion in der praktischen Philosophie vgl. ders.: Schelling: Geschichte, System, Freiheit. 98f. 2* Zur spinozistischen Richtung Hegels in der Differenz-Schrift vgl. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 134 ff; A. Wildt: Autonomie und Anerkennung. 307.
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durch die Vernunft ermöglicht wird, insofern die genannte Wirksamkeit zum Absoluten selbst gehört.^^ In diesem Punkt dürfte Hegel der Auffassung SPINOZAS näher stehen als SCHELLING, während dieser diese Möglichkeit gleichsam ausnahmsweise in dem „künstlerischen Trieb“ anerkennt. Mit dem Ausdruck „Trieb zur Totalität“ führte Hegel die „Revolution der philosophischen Denkart“, die SCHELLING hervorgehoben hatte, insofern noch konsequenter als dieser durch, als diese Revolution mit dem Terminus Trieb ausgedrückt wurde. An dieser Auffassung Hegels würde FICHTE Kritik üben, in der Weise, wie dieser SPINOZA kritisierte; von der Hegelschen Seite her gesehen ist das Verständnis FICHTES des Triebes nur im Sinne des Verstandes begrenzt und deshalb zu überwinden. Dabei wurde Hegel wohl von der S CHELLiNGschen Auffassung der Revolution der philosophischen Denkart im Hinblick auf seine philosophische Richtung überhaupt angeregt. Die Konzeption des „Triebes zur Totalität“ usw. gab aber dann seiner Philosophie einen spezifisch Hegelschen Charakter. Was den Hegel der frühen Jenaer Zeit angeht, bleibt aber die Frage zu beantworten, wie der Trieb im Sinne der Vernunft und der im Sinne des Verstandes, welcher bei FICHTE und zuletzt auch bei SCHELLING auftritt, einheitlich begriffen werden können. Die Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens über den von uns behandelten Begriffskomplex nach der Differenz-Schrift kann als eine angesehen werden, die sich darauf richtet, die beiden Formen des Triebes usw. einheitlich zu begreifen. Wenn die Stellung des Triebes im Sinne des Verstandes, der dem Prinzip der Nichtidentität entspricht, in der Einheit der beiden Triebe erhalten würde, würde diese Einheit auf das Absolute als „die Identität der Identität und der Nichtidentität“ {GW4.64) hindeuten, welches eigentlich mit dem Trieb im Sinne der Vernunft angezeigt werden sollte, es sei denn, daß dieser Trieb jenen in der Richtung auf die Identität vernichten würde.
25 Dieser Sachverhalt bezieht sich wohl darauf, daß Hegel im Hinblick auf die Möglichkeit der Erkenntnis des Absoluten durch die Vernunft Schelling anregte, wie Düsing erklärt (Idealistische Substanzmetaphysik. In: Hegel in Jena. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing, 31; Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. 122,139). Über ein und denselben Punkt im Zusammenhang mit der „geheimen Wirksamkeit der Vernunft“ vgl. ders.: op. cit. 94.
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3.1.2. „Bedürfnis der Philosophie“ und realphilosophische Bestimmungen in methodischer und inhaltlicher Hinsicht 3.1.2.1. Nebeneinanderbestehen des „Bedürfnisses der Philosophie“ in der zweifachen Bedeutung Wie die noch nicht veröffentlichten Manuskripte aus der frühen Jenaer Zeit {Vorlesungen WS 1801/02 u.a.)i zeigen, versuchte Hegel schon damals seine eigene Systemkonzeption zu entfalten. Dabei bekommt die Problematik des „Bedürfnisses der Philosophie“ in dem Sinne Gewicht, daß erst im Rahmen dieser Problematik der Ursprung sowie die Legitimation seines Systems gegenüber den zeitgenössischen Systemen aufgewiesen werden kann. Deswegen soll hier die weitere Entwicklung dieser Problematik, die in der Differenz-Schrift aufgestellt wurde, näher untersucht werden. Weil darin die von uns behandelten Termini realphilosophisch artikuliert werden, muß betrachtet werden, wie sich die genannte Problematik auf die realphilosophischen Bestimmungen der Termini bezieht. Die betreffenden Termini haben eine zweifache Bedeutung, die sich an ihrer Gebrauchsweise erkennen läßt und noch nicht einheitlich begriffen wird (s. 3.1.1.). In der weiteren Entwicklung sind dann die beiden Bedeutungen in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Dabei ist zu beachten, daß die zweifache Bedeutung jeweils in zweifacher Hinsicht erscheint, einerseits methodisch, insofern der Unterschied der Bedeutungen dem Unterschied von Spekulation bzw. Vernunft und Reflexion bzw. Ver' Hiermit sind die Manuskripte gemeint, die von E. Ziesche mitgeteilt worden sind (Unbekannte Manuskripte. 436f (s. 1.1, Anm. 21)). Zu einer Vorstellung dieser Manuskripte vgl. M. Baum und K. R. Meist: Durch Philosophie leben lernen. In: Hegel-Studien.12 (1977), 43—81. Für unsere Problemstellung sind unter ihnen Fragmente 1 „Diese Vorlesungen“ (Bl. 5a —6b), 2 „Die Idee des absoluten Wesens“ (Bl. la—2b), 3 „Daß die Philosophie“ (Bl. 15 a—20b) in diesem Abschnitt und Fragment 4 „ist auf das Allgemeine“ (Bl. 7 a — 10 b) im Abschnitt 3.1.2.3. zu behandeln. Da der Band 5 der Gesammelten Werke, in dem die Manuskripte veröffentlicht werden sollen, noch nicht erschienen ist, folgen die Zitate unserer Untersuchung hauptsächlich denen der Vorstellung von M. Baum und K. R. Meist. Daneben werden folgende Beiträge berücksichtigt. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität, 75—108; Beiträge in: Hegel in Jena (hrsg. von D, Henrich u. a.; ders: Idealistische Substanzmetaphysik. 25—44; K. R. Meist: Hegels Systemkonzeption in der frühen Jenaer Zeit. 59—79; W. Ch. Zimmerli: Inwiefern wirkt Kritik systemkonstituierend? &0—W2-, M. Baum: Zur Methode der Logik und Metaphysik beim Jenaer Hegel. 119—138); K. R. Meist: Zur Rolle der Geschichte in Hegels System der Philosophie. In: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg, von O. Pöggeler und A. GethmannSiefert. 49—81. Zur Datierung der Fragmente vgl. H. Kimmerle: Die Chronologie der Manuskripte Hegels in den Bänden 4 bis 9. In: GW 8. 348—361. Die Chronologie anderer Jenaer Schriften folgt der von demselben: Zur Chronologie von Hegels Jenaer Schriften. In: HegelStudien. 4 (1967), 125—176. Über Hegels Dozententätigkeit in Jena vgl.: Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit (1801—1807). Hrsg, von H. Kimmerle. In: Hegel-Studien.4 (1957), 21-99.
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stand entspricht^, und andererseits inhaltlich, insofern die betreffende Bedeutung einen bestimmten realphilosophischen Sachverhalt als ein Moment des Systems ausdrückt. In der Entwicklung des Hegelschen Denkens in der frühen Jenaer Zeit kommt es also darauf an, wie die methodisch unterschiedene Bedeutung inhaltlich in einem System der Wissenschaft (s. 3.1.1. Zitat aus GW4.30) liegt. Der Standpunkt, den Hegel bei der Unterscheidung der zweifachen Bedeutung der Termini einnimmt, erklärt sich aus seinem eigenen Verständnis der Philosophie. Um die Entwicklung der zweifachen Bedeutung näher zu untersuchen, muß also der Charakter der Philosophie zunächst berücksichtigt werden. Hegel will die Philosophie in dem den verschiedenen besonderen Formen des subjektiven Philosophierens zugrunde liegenden Allgemeinen oder Objektiven erblicken. Von diesem Standpunkt aus übt er Kritik an den zeitgenössischen Philosophien. Dabei tritt das Bedürfnis als das Ziel der Kritik auf, die auf der Idee der Philosophie beruht und deshalb das Objektive enthält, das das Bedürfnis befriedigt: „Wenn es sich hier zeigt, daß die Idee der Philosophie wirklich vorschwebt, so kann die Kritik an die Forderung und an das Bedürfniß, das sich ausdrückt, das objective, worinn das Bedürfniß seine Befriedigung sucht, halten, und die Eingeschränktheit der Gestalt, aus ihrer eigenen ächten Tendenz nach vollendeter Objectivität widerlegen.“ {lieber das Wesen der philosophischen Kritik ... GW4.119) Das Objektive oder die Idee der Philosophie bleibt trotz verschiedener Formen des subjektiven Philosophierens immer ein und dasselbe als die spinozistische Substanz oder causa sui die für deren Existenz außer sich selbst nichts bedarf. Unter der Voraussetzung dieser Substanz scheinen die besonderen Formen des subjektiven Philosophierens keine konstitutive Bedeutung zu haben. Unter dieser Voraussetzung bleibt aber in bezug auf die Problematik des Bedürfnisses der Philosophie zu klären, daß das Objektive als solches erst durch die besonderen Formen des subjektiven Philosophierens zum Problem wird. Es stellt sich dann die Frage, wie das Objektive mit den Formen zusammenhängt. Dabei braucht es nicht viel, zu sehen, daß der Unterschied zwischen dem Objektiven und den subjektiven Formen dem zwischen den zwei Bedeutungen des Bedürfnisses der Philosophie entspricht, nämlich dem spekulativen Bedürfnis und dem Bedürfnis nach einer Philosophie (s. 3.1.1.). Da die Entzweiung des Lebens der Quell des Bedürfnisses der Philosophie ist (vgl. GW 4.12 und 14), ist das, was das dieses Bedürfnis befriedigende Objektive ausmacht, nichts anderes als das Leben, das sich aus der Ent2 Vgl. R.-P. Horstmann: Jenaer Systemkonzeptionen. In: Hegel. Hrsg, von O. Pöggeler, 50 f. 5 Vgl. K. Düsing: Idealistische Substanzmetaphysik. 38; K. R. Meist: Hegels Systemkonzeption, 62.
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zweiung wiederherstellt. Die Philosophie hat den Ursprung ihres Bedürfnisses in einer bestimmten Situation der Entzweiung. Doch strebt sie über diese Situation hinaus und hat den Charakter des Lebens, innerhalb der Entzweiung über diese hinauszugehen. Sie muß als ein Teil des Lebens und als etwas, das zum Zweck der Wiederherstellung der Einheit des Lebens dienen soll, angesehen werden. Sie hat die Struktur, die der des Lebens entspricht und folgt, und die Stellung im Übergang von der Entzweiung zur Wiederherstellung der Einheit des Lebens. Diese Phase des Lebens ist nichts anderes als das, was mit dem Ausdruck Bedürfnis der Philosophie problematisiert wird. Das Bedürfnis der Philosophie stammt nämlich aus der Entzweiung des Lebens und richtet sich auf die Wiederherstellung seiner Einheit. Diese Auffassung drückt wohl Hegels praktisches Anliegen aus, durch die Philosophie die Einheit des Lebens wiederherzustellen. Von diesem Ansatz her kann man die folgende Aussage Hegels aus einem Vorlesungsmanuskript des WS 1801/02 verstehen: „welche Beziehung hat die Philosophie aufs Leben? ..., eine Frage die eins ist mit der: inwiefern ist die Philosophie praktisch? Denn das wahre Bedürfniß der Philosophie geht doch wohl auf nichts anders, als darauf, von ihr und durch sie leben zu lernen.“ (GW5. Fragment 1) Hier läßt sich das auf das Allgemeine bzw. Objektive der Philosophie gehende spekulative Bedürfnis der Philosophie sehen, das auch das Allgemeine dieses Bedürfnisses genannt werden kann. Für Hegel kommt es allerdings darauf an, wie dieses Allgemeine gegenüber seinen besonderen Formen legitimiert werden kann.“* Stützt es sich nur auf sich selbst als etwas, das auf die Substanz als causa sui geht, wird es seinen besonderen Formen bloß nebengestellt und noch nicht legitimiert. Dieser Umstand führt notwendig zur Kritik an den genannten Formen, die einen Teil der Praxis ausmacht, die Einheit des Lebens wiederherzustellen, welche sich mit der Entfaltung des Systems der Wissenschaft vollziehen soll.5 Bei dieser Kritik handelt es sich darum, wie man die besonderen Formen des Bedürfnisses der Philosophie (das Bedürfnis nach einer Philosophie) dem Allgemeinen dieses Bedürfnisses folgen läßt. Dazu muß betrachtet Das in zweifacher Hinsicht zu betrachtende „Bedürfnis der Philosophie“, einerseits das Allgemeine, andererseits die besonderen Formen betreffend, ist nach der Wiederentdeckung der betreffenden Manuskripte weitgehend anerkannt, während vorher dieses ,Bedürfnis' als etwas vor der Philosophie Bestehendes und Aufzuhebendes betrachtet worden ist, was seinen besonderen Formen entspricht. Dazu vgl. M. Baum und K. R. Meist: Durch Philosophie leben lernen. 45; W. Ch. Zimmerli: Inwiefern wirkt Kritik, 94; /. H. Trede: Hegels frühe Logik. In: HegelStudien.7 (1972), 135 f. 5 Hier läßt sich die Bedeutung des Hegelschen Anliegens, durch Philosophie leben zu lernen, finden, in dem die Differenz von Theorie und Praxis aufgehoben ist. Dazu vgl. M. Baum und K. R. Meist: Durch Philosophie leben lernen, 46, 52, 65; K. R. Meist: Zur Rolle der Geschichte, 54.
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werden, wie das Bewußtsein, auf dem das erstere Bedürfnis beruht, ins System der Wissenschaft, das das letztere Bedürfnis befriedigt, eingeordnet werden kann.® Da dieses allgemeine Bedürfnis erst durch seine besonderen Formen auftritt, ist dieses Verfahren nicht als etwas, das der Philosophie als solcher äußerlich ist, sondern als etwas, das ihr konstitutiv ist, zu bezeichnen. Dadurch, daß das Bedürfnis der Philosophie erst in einer bestimmten Situation der Entzweiung als ein Problem aufgestellt wird, ist es für die Philosophie notwendig, Kritik an den besonderen Formen der Entzweiung, die von den verschiedenen Weisen des Philosophierens verursacht sind, zu üben. In diesem Zusammenhang wird eine Einleitung in die Philosophie gefordert. Die Problematik des Bedürfnisses der Philosophie ist also mit der Einleitungsproblematik verbunden, in dem Sinne, daß die erstere im Hinblick auf den Ursprung sowie die Legitimation der Philosophie den Umstand der Notwendigkeit der letzteren Problematik klärt. Der Inhalt der Einleitung ist nach zwei Seiten zu betrachten^, einmal nach einer subjektiven, die in den besonderen Formen des subjektiven Philosophierens historisch zufällig erscheint, und zum anderen nach einer spekulativen, bei der es sich wie bei der subjektiven Einleitung auch um die Reflexion handelt, welche aber vom Standpunkt der Philosophie aus als „Instrument des Philosophirens“ (GW4.16) charakterisiert und erörtert wird. Die zweite Einleitung macht die Logik aus, die zwar schon auf der Grundlage der Vernunft steht, aber noch von der Metaphysik als dem System der Wissenschaft unterschieden ist.* Die endlichen Bestimmtheiten, die in der ersten Einleitung, d. h. im subjektiven Philosophieren zufällig erscheinen, lassen sich in der Logik in ihre notwendige Reihe einordnen, was die Aufgabe der Logik ist. In dieser Einordnung ist die Vernunft noch nicht offenbar, sondern nur geheim wirksam.® Über die geheime Wirksamkeit der Vernunft auf den Verstand in der Logik sagt Hegel in einem Vorlesungsmanuskript: „Zugleich ist der Verstand oder die Reflexion [,] das Vermögen des endlichen Denkens [,] insgeheim von der Vernunft getrieben, zu einer Identität zu gelangen, der Verstand ahmt in seiner Endlichkeit, die Vernunft dadurch nach, daß er seine Formen zu einer Einheit zu bringen sich bestrebt; die Einheit aber die er hervorzubringen vermag, ist nur eine formelle, oder selbst nur eine endliche Einheit, weil er auf absoluter Entgegensetzung, auf Endlichkeit beruht.“ {GW5. Fragments) Offensichtlich handelt ^ über die Aufgabe im allgemeinen, das Bewußtsein ins System der Wissenschaft zu bringen, vgl. M. Baum und K. R. Meist: Durch Philosophie leben lernen, 45; K. R. Meist: Hegels Systemkonzeption, 65. ’’ Vgl. M. Baum: Zur Methode der Logik und Metaphysik, 122. * Das Verhältnis von Logik und Metaphysik hängt vom Verhältnis von Reflexion bzw. Verstand und Spekulation bzw. Vernunft ab, wie Düsing erklärt (Das Problem der Subjektivität, 80). 5 Dazu vgl. /. H. Trede: Hegels frühe Logik, 133 f; M. Baum und K. R. Meist: Durch Philosophie leben lernen, 56; T. Shikaya: Die Wandlung des Seinsbegriffs in Hegels Logik-Konzeption. In: Hegel-Studien. 13 (1978), 132; M. Baum: Zur Methode der Logik und Metaphysik, 126.
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es sich hier um ein und dieselbe geheime Wirksamkeit der Vernunft, die wir schon behandelt haben (s. 3.1.1.), und der wegen ihres systematischen Wirkungsbereiches d. i. der Logik eine deutliche Stellung zukommt. Durch diese Wirksamkeit werden die vom auf das Bewußtsein bezogenen Bedürfnis der Philosophie ausgerichteten Bestimmtheiten in die logischen Bestimmungen versetzt, die im Gegensatz zur Metaphysik als dem System der Wissenschaft noch einen propädeutischen Sinn haben.Erst durch die Metaphysik kann das Bedürfnis der Philosophie im Sinne der Vernunft befriedigt werden. Dieses spekulative Bedürfnis wird zwar durch das Bedürfnis nach einer Philosophie hervorgerufen, aber kritisiert nicht nur dieses verständige Bedürfnis durch die geheime Wirksamkeit der Vernunft auf negative Weise, sondern zeigt sich auch als das Bedürfnis, das System der Wissenschaft zu entfalten. Durch die vollkommene Gestaltung des Bedürfnisses der Philosophie wird dieses Bedürfnis also ins System der Wissenschaft transformiert.“ Das spekulative Bedürfnis richtet sich auf das Leben als causa sui, das sich objektiv entwickelt. Dieser ein und derselben Substanz entspricht die Philosophie als das System der Wissenschaft, das die Momente des Lebens artikuliert und als Glieder ordnet. Die endlichen Bestimmtheiten, die im verständigen Bedürfnis nach einer Philosophie fixiert sind, werden inhaltlich ins System der Wissenschaft integriert, indem sie durch die Vernichtung ihrer fixierten Entzweiung in der Logik ihre systematische Stellung finden. Bei dieser Integrierung handelt es sich um nichts anderes als die Praxis, die Einheit des Lebens wiederherzustellen. Da die betreffende Praxis in der Entgegensetzung der Spekulation oder der „absoluten Reflexion“ gegen die „schlechte Reflexion“ (GW 5. Fragment 2) ausgeführt wird, scheint sie allerdings nur in der Dimension der Erkenntnis zu bleiben und deshalb keine Wirkung auf die Wirklichkeit zu haben. Es fragt sich dann, was diese Praxis oder das praktische Anliegen Hegels wirklich bedeutet. In diesem Zusammenhang soll auch seine nicht direkt philosophische, eher politische Stellungnahme zur derzeitigen Situation der Wirklichkeit berücksichtigt werden. Dabei muß darauf geachtet werden, wie die philosophischen und politischen Auffassungen miteinander in Verbindung gesetzt werden können. Für diese Verbindung ist wohl bedeutsam, daß die Einleitungsproblematik in Analogie zum geschichtlichen Prozeß eines Volkes betrachtet werden kann insofern die politische Auffassung Hegels eine Art ist, zum Bildungsprozeß seines eigenen Volkes Stellung zu nehmen. Hier fragt es sich, ob es in der politischen Auffassung eine dem Verhältnis der Philosophie zum „dunklen Bedürfniß“ eines Volkes ‘0 Vgl. K. Rosenkranz: Hegels Leben. 178 f;/. W. Trede: Hegels frühe Logik. 145; M. Baum und K. R. Meist: Durch Philosophie leben lernen, 56. “ Vgl. /. H. Trede: Hegels frühe Logik, 136 f. '2 Vgl. M. Baum und K. R. Meist: Durch Philosophie leben lernen, 54; M. Baum: Zur Methode der Logik und Metaphysik, 122.
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nach der „neuen Sittlichkeit“ (GW 5. Fragment 3) entsprechende Problematik gibt. Da dieses Verhältnis dem der eigentlichen Philosophie bzw. Metaphysik zur subjektiven Einleitung oder spekulativen als Logik entspricht, hängt die dem ersteren Verhältnis entsprechende politische Auffassung wohl mit der philosophischen zusammen. Der Gegenstand der Stellungnahme Hegels zu der deutschen Wirklichkeit in der Verfassungs-Schritt liegt im „Trieb zur Freiheit“, der als die „Hartnäckigkeit des deutschen Charakters“ (TW 1.465) bezeichnet und auch mit dem „allgemeinen Andrang der Einzelnen“ (TW 1.582) bzw. der „natürlichen zentrifugalen Tendenz der Einzelnen“ (ebd.) ausgedrückt wird. Diese Auffassung der betreffenden Termini erscheint schon in der Frankfurter Zeit im Ausdruck „Streben, sich zu isolieren“ bzw. „Trieb zu isolieren“ (TW 1.603 f) und bleibt also ein unverändertes Anliegen der damaligen politischen Auffassung Hegels. Diese Auffassung setzt sich der des „Bedürfnisses des Ganzen“ (TW 1.467) oder des „Bedürfnisses . . . einen Staat und eine Staatsmacht zu bilden“ (TW 1.544; vgl. auch TW 1.575) entgegen. Bei dieser Entgegensetzung handelt es sich darum, wie die staatliche Einheit Deutschlands erreicht werden kann. Dazu fordert Hegel die Gewalt eines Theseus; „Wenn alle Teile dadurch gewännen, daß Deutschland zu einem Staat würde, so ist eine solche Begebenheit nie die Frucht der Überlegung gewesen, sondern der Gewalt, und wenn sie auch der allgemeinen Bildung gemäß [wäre] und das Bedürfnis derselben tief und bestimmt gefühlt würde. Der gemeine Haufen des deutschen Volks nebst ihren Landständen, die von gar nichts anderem als von Trennung der deutschen Völkerschaften wissen und denen die Vereinigung derselben etwas ganz Fremdes ist, müßte durch die Gewalt eines Eroberers in eine Masse versammelt, sie müßten gezwungen werden, sich zu Deutschland gehörig zu betrachten.“ (TW 1.580) Hier geht es auch um den Bildungsprozeß eines Volkes, das allerdings der direkte Gegenstand des praktischen Anliegens von Hegel ist. Der Zustand der Vereinzelung des deutschen Volkes ist parallel der fixierten Entzweiung des Lebens zu verstehen, worauf es bei der Einleitungsproblematik ankommt. Die Gewalt eines Theseus, nämlich die Gewalt der Vereinigung gegen die Trennung, entspricht dagegen wohl der Funktion der eigentlichen Philosophie oder Metaphysik. In dieser Gewalt läßt sich eine wirkliche Bedeutung der Praxis, die durch den Verstand fixierten, bestimmten Formen der Entzweiung des Lebens vernünftig zu überwinden, finden. Offenbar richtet sich die politische Auffassung auf ein und dieselbe Struktur des Lebens wie bei der philosophischen Auffassung und gibt eine Erklärung zur wirklichen Bedeutung der Praxis, die im System der Wissenschaft eine philosophische Form hat.i^ über die praktische Bedeutung der Philosophie vgl. M. Baum: Zur Methode der Logik und Metaphysik, 123; vgl. auch Anm. 5.
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Neben der Auseinandersetzung der Vernunft mit dem Verstand in methodischer Hinsicht muß die Auffassung der betreffenden Termini auch inhaltlich in der positiven Entfaltung des Systems der Wissenschaft behandelt werden. In der inhaltlichen Hinsicht sind unter den endlichen Bestimmtheiten die Begierde und das „Reich des Bedürfnisses und des Rechts“ von Belang. Sie treten in der „Philosophie des Geistes“ {GW5. Fragment 2, auch folgende) auf, die in der nach der „Wissenschaft der Idee als solcher“ folgenden „Wissenschaft der Realität der Idee“ ihre Stellung nach der „Philosophie der Natur“ erhält. Die Begierde ist neben dem Vorstellen ein „ideales“ Moment der Idee in der Organisation des Geistes, das neben dem „Mechanismus“ dem „Chemismus“ als einem „ideellen“ Moment des Begriffs des Organischen entspricht, und liegt im Übergang von der Naturphilosophie zur Geistesphilosophie. In der Geistesphilosophie richtet sich die Realisation der Idee darauf, Vorstellen und Begierde „in sich zusammen [zu] fassen, und das Reich des Bedürfnisses und des Rechts sich unterwerfend sich als freyes Volk real [zu] seyn“. Auf der Grundlage der geistigen Individualität, die das Gegenstück der Individualität des Organischen ist, und deren Bestimmungen Vorstellen und Begierde sind, läßt sich das „Reich des Bedürfnisses und des Rechts“ organisieren, das der Idee bzw. dem freien Volk unterworfen wird. Hiermit werden endliche Bestimmtheiten als die Bedürfnisse ins System der Wissenschaft integriert. Der Bereich, der später als das „System der Bedürfnisse“ bezeichnet wird, hat seine feste Stelle im System der Wissenschaft. Da die Integrierung der Bedürfnisse ins System der Wissenschaft dadurch ermöglicht wird, daß sie der Idee unterworfen werden, ist auch bei dieser inhaltlichen Hinsicht eine ähnliche Problematik wie bei der methodischen Hinsicht festzustellen. Dies ist nicht unerwarteterweise so; denn die inhaltliche Integrierung der endlichen Bestimmtheiten durch die Idee und die methodische Überwindung des Verstandes durch die Vernunft begleiten sich gegenseitig. In diesem Zusammenhang soll auf die politische Auffassung hingewiesen werden, in der die bereits in der methodischen Hinsicht beobachtete Auffassung der Termini Bedürfnis u.a. auch einen inhaltlichen Sinn hat; das Bedürfnis des Einzelnen wird als ein Ergebnis der „Veränderung der Sitten und der Lebensart“ charakterisiert; „Als durch Veränderung der Sitten und der Lebensart jeder mehr mit seiner Not und seinen Privatangelegenheiten beschäftigt wurde, [als]... die Menge der Bedürfnisse des freien Mannes, des Adels [sich] vermehrte, der durch Industrie und Arbeit für den Staat sich in seinem Stand erhalten mußte, — [als] also die Nationalangelegenheiten jedem einzelnen fremder wurden, sammelte sich [diel Besorgung der Nationalangelegenheiten immer enger und enger in einen Mittelpunkt“ (7W1.532 f). Dazu vgl. M. Baum und K. R. Meist: Durch Philosophie leben lernen, 49; K. R. Meist: Hegels Systemkonzeption, 77.
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Die Industrie und die Arbeit, die sich eigentlich auf den Staat oder die Nationalangelegenheiten richten sollten, beschränken sich hier auf die Privatangelegenheiten. Dabei darf nicht übersehen werden, daß der methodisch zu kritisierende Sinn dieser endlichen Bestimmtheiten inhaltlich nicht einfach vernichtet wird, sondern ein positiver werden kann: „Kampf für deutsche Freiheit hieß negativ das Bestreben gegen die Universalmonarchie, positiv wurde er zu einem Erringen der völligen Selbständigkeit der Glieder.“ (TW 1.576) Der Sachverhalt, der sich in diesem Kampf zeigt, entspricht offenbar dem des „Reichs des Bedürfnisses und des Rechts“, insofern er positiv zu sehen ist. Die einen methodischen Sinn habende Bestimmung in der politischen Auffassung enthält also einen inhaltlichen Sinn im System der Wissenschaft. Dadurch, daß die realphilosophischen Bestimmungen im politischen Kontext sowohl methodisch als auch inhaltlich im Zusammenhang mit den philosophischen Ansätzen betrachtet werden, läßt sich also die Grundlage für eine Erklärung dazu geben, daß die Praxis, die in der Problematik des Bedürfnisses der Philosophie gemeint ist, eine wirkliche Bedeutung hat. 3.1.2.2. Entfaltung der methodisch abzulehnenden Termini in den realphilosophischen Bestimmungen Es ist auffällig, daß in den Aufsätzen und Schriften (Aufsätze zum Kritischen Journal im Jar 1802), den Reinschriftfragmenten zur VerfassungsSchrift und dem sog. System der Sittlichkeit versucht wurde, dem methodisch gemeinten Sinn der von uns behandelten Termini einen Bestandteil innerhalb des Systems zuzuweisen, während in den Vorlesungsmanuskripten WS 1801/02 und den früheren Fragmenten zur Verfassungs-Schrift mit der Einleitungsproblematik zusammenhängend die methodische Auseinandersetzung des Allgemeinen mit dem Einzelnen und damit das praktische Anliegen Hegels stark betont wurde. Im Hinblick auf die Auffassung der Termini bildet sich dann eine weitere Phase der Entwicklungsgeschichte in der frühen Jenaer Zeit in dem Sinne, daß die verständige Bedeutung der Termini einen Bestandteil des Systems ausmacht, was von der Einleitungsproblematik unterschieden ist. Bei den Aufsätzen zum Kritischen Journal handelt es sich um die Kritik an einigen besonderen Formen des subjektiven Philosophierens. Die Kritik richtet sich auf die Philosophien, die sich der betreffenden Termini bedienen. Diese Termini haben insofern wie bisher unverändert einen methodischen Sinn. Die Termini Trieb und Streben drücken eine besondere Denkweise aus, die vom Standpunkt der allgemeinen Philosophie aus negativ beurteilt werden muß, weil sie sich nur auf den Sinn des Verstandes beschränken.
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In Glauben und Wissen drücken sie mögliche Formen des Prinzips „der Absolutheit der Endlichkeit und des daraus sich ergebenden absoluten Gegensatzes von Endlichkeit und Unendlichkeit“ (GW4.321) aus: Trieb bei jACOBi und Streben bei FICHTE. Während innerhalb ein und desselben Prinzips bei KANT der unendliche Begriff als die höchste Objektivität im Endlichen postuliert wird, wird er bei JACOBI in die Subjektivität verlegt und bei FICHTE dann wieder in Richtung auf die Objektivität, aber in der Form der subjektiven Identität aufgestellt: „bey JACOBI erscheint das Unendliche von Subjectivität afficirt, als Instinkt, Trieb, Individualität; bey FICHTE ist das von Subjectivität afficirte Unendliche selbst wieder als Sollen und Streben objectiv gemacht.“ (ebd.) Insofern die beiden Termini das Prinzip der Subjektivität ausdrücken, vertreten sie nur eine Seite ihrer zweifachen Bedeutung nach dem Verständnis Hegels, nämlich den Sinn des Verstandes. Was den Standpunkt JACOBIS betrifft, so näherte sich Hegel ihm einmal in seiner Tübinger Zeit und setzte sich in der Nähe von ihm dem KANTS entgegen (s. 2.2.). Hier in der frühen Jenaer Zeit wird dieser damals eingenommene Standpunkt von dem der absoluten Identität her abgelehnt. Ein ähnliches Verfahren läßt sich beobachten, wenn Hegel den Standpunkt SCHLEIERMACHERS, in dessen Nähe er einmal in der Frankfurter Zeit die betreffenden Termini verstand (s. 2.4.), als die „höchste Potenzirung“ {GW 4.385) des jACOBischen Prinzips bezeichnet: Während bei diesem Prinzip die Vernunft nur als Instinkt oder Trieb in der empirischen Zufälligkeit begriffen wird, so ist in den Reden Über die Religion „hingegen die Natur als eine Sammlung von endlichen Wirklichkeiten vertilgt, und als Universum anerkannt, dadurch die Sehnsucht aus ihrem über Wirklichkeit Hinausfliehen nach einem ewigen Jenseits zurückgeholt, die Scheidewand zwischen dem Subject, oder dem Erkennen und dem absoluten unerreichbaren Objecte niedergerissen, der Schmerz im Genuß versöhnt, das endlose Streben aber im Schauen befriedigt. Aber indem so das Individuum seine Subjectivität von sich wirft, und der Dogmatismus der Sehnsucht seinen Gegensatz in Idealismus auflößt, so soll diese Subject-objectivität der Anschauung des Universums doch wieder ein Besonderes und Subjectives bleiben“ (ebd.). Mit diesem Verständnis des Strebens muß man im Rahmen des Subjektiven bleiben und kann sich nicht auf die absolute Identität von Subjekt und Objekt richten. Die betreffende Auffassung ist als Ausdruck des Mangels dieser Identität anzusehen: „Die Qual der bessern Natur unter dieser Beschränktheit oder absoluten Entgegensetzung drückt sich durch das Sehnen und Streben,... als Glauben an ein Jenseits dieser Beschränktheit aus; aber als perennirendes Unvermögen zugleich die Unmöglichkeit, über die Schranke in das sich selbst klare und sehnsuchtslose Gebiet der Vernunft sich zu erheben.“ {GW 4.323) Dies ist auch bei der FiCHTEschen Philosophie der Fall, insofern die Termini Streben und Trieb mit Sollen zusammenhängend gebraucht werden (vgl. GW 4.389), wie wir gesehen haben (s. 3.1.1.).
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Hier wird zwar die einschlägige Auffassung der Termini methodisch völlig abgelehnt. Da aber verschiedene historische Philosophien als besondere Formen der allgemeinen Philosophie angenommen werden, wird versucht, die Philosophien, die mit den betreffenden Termini ausgedrückt werden, nicht einfach abzulehnen, sondern vielmehr das ihnen zugrunde liegende Allgemeine zu finden. Hegel sieht z. B. im Gegensatz zum Skeptizismus von SCHULZE im Erfolg des „Strebens so vieler durch ihre Talente und durch den bey der Aufsuchung verborgener Wahrheiten bewiesenen Eifer ehrwürdiger Männer nach einer wissenschaftlichen Philosophie“ {SkeptizismusAufsatz. GW 4.198) nicht etwas Unglückliches, sondern „Einigkeit in den Principien“ {GW 4.199): Statt der oberflächlichen Ansicht der philosophischen Streitigkeiten, die nur die Differenzen der Systeme erblicken läßt, ist zu erkennen, „daß wenn philosophische Systeme mit einander streiten ... Einigkeit in den Principien vorhanden ist... Mit den Principien oder der Vernunft ist es wohl allen jenen durch Talente und Eifer ehrwürdigen Männern gelungen, und der Unterschied ist allein in die höhere oder niedrigere Abstraction zu setzen, durch welche sich die Vernunft in Principien und Systemen dargestellt hat.“ (ebd.) Damit wird wohl eine Denkrichtung geäußert, auch die endlichen Bestimmtheiten positiv zu entfalten, wie sie schon früher in der politischen Auffassung über die Stellung des Besonderen im Allgemeinen geäußert wurde (s. 3.1.2.1.). Es kommt dann Hegel darauf an, dem methodisch gemeinten Sinn der von uns behandelten Termini eine systematische Stelle zu geben. Demgemäß muß das System umgestaltet werden, um einen Bestandteil zu haben, in dem sich die betreffende Auffassung der Termini organisieren läßt, ohne den methodisch gemeinten Sinn zu verlieren. Während dieses Verfahren in den Vorlesungsmanuskripten WS 1801/02 als Einleitungsproblematik bezeichnet wurde, wird hier versucht, das System als solches so zu gestalten, daß auch der betreffende Standpunkt einen Bestandteil des Systems ausmacht, der allerdings vom ursprünglichen noch methodisch unterschieden ist, der in den obengenannten Manuskripten der Einleitung folgte. Es soll festgestellt werden, wo der neue Bestandteil in der gesamten Systemkonzeption seinen Platz findet. Im Naturrechts-Auisatz wird das Absolute als „die Einheit der Indifferenz und des Verhältnisses“ (GW4.433) aufgefaßt. Nach dieser Formulierung ist zu berücksichtigen, ob im Verhältnis bzw. in der „relativen Identität“ entweder das Viele oder das Eine das Erste ist^; denn darin unterscheiden sich die physische und die sittliche Natur. Was die Stelle der betreffenden Bedeutung der Termini Streben und Trieb im Absoluten angeht, so findet sie sich in der sittlichen Natur, insofern es sich bei ihnen um das Eine als die absolute Identität durch das Kausalitätsverhältnis wie bei FICHTE (S. 3.1.1.) handelt. Innerhalb der sittlichen Natur nehmen sie allerding eine besondere ' Zur Einheit-Vielheit-Konstruktion vgl. R.-P. Horstmann: Jenaer Systemkonzeptionen, 48 f.
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Stelle ein, die nämlich durch die Isolierung der relativen Identität von der Einheit der Indifferenz und der relativen Identität charakterisiert wird. Mit dieser Isolierung bleibt man beim Standpunkt der praktischen Vernunft im Kausalitätsverhältnis: „Würden wir nun diese Seite der relativen Identität der sittlichen Natur isoliren, und nicht die absolute Einheit der Indifferenz und dieser relativen Identität für das Wesen der sittlichen Natur anerkennen, sondern die Seite des Verhältnisses oder der Nothwendigkeit, so würden wir auf demselben Punkte stehen, auf welchem das Wesen der praktischen Vernunft als absolute Causalität habend, bestimmt wird“ (ebd.) Dieser Standpunkt ist nichts anderes als der abzulehnende, welchen die betreffende Bedeutung der Termini ausdrückt. Es ist also festzustellen, (1) daß Streben bzw. Trieb im Sinne des Verstandes den neuen Bestandteil methodisch leitet, der sich in diesem Zeitraum auf den realphilosophischen Bereich, zunächst auf den der sittlichen Natur, d. h. der Sittlichkeit beschränkt, (2) daß dieser Bestandteil das von der Einheit mit der Indifferenz isolierte Verhältnis ausmacht, dessen Bereich innerhalb der Sittlichkeit als ein vorsittlicher bezeichnet werden kann. Auf der Grundlage der Feststellung des betreffenden Bestandteils innerhalb der gesamten Systemkonzeption soll nun untersucht werden, wie er inhaltlich konstruiert oder welcher Inhalt durch seine Bestimmtheiten aufgezeigt wird. Im Naturrechts-Auisatz wird darüber nur wenig mitgeteilt, wenn Hegel vom „sittlichen Trieb“ spricht, der von der „bewußten absoluten sittlichen Natur“ (GW4.461) getrennt ist^: „Der sittliche Trieb ... muß ... das bestehende in die formale und negative Absolutheit des Rechts verwandeln, und dadurch seiner Angst die Meynung von Festigkeit für seinen Besitz geben, seine Habseligkeiten durch Tractate und Verträge und alle erdenklichen Verklausulirungen zu etwas sicherem und gewissem erheben, die Systeme darüber aus Erfahrung und Vernunft, als der der Gewißheit und Nothwendigkeit selbst, deduciren, und mit den tiefsinnigsten Räsonnements begründen“ (ebd.). Diese Auffassung richtet sich eigentlich auf die Bestimmtheiten in der bürgerlichen Gesellschaft, wie wir später sehen werden. In dieser Aussage wird noch nicht deutlich artikuliert, wie der vorsittliche Teil des Systems aussieht. Allerdings wird der Umstand geklärt, daß es sich bei der Isolierung des Verhältnisses von seiner Einheit mit der Indifferenz in der sittlichen Natur um den Trieb nach Besitz handelt. Hier wird der Boden der bürgerlichen Gesellschaft erörtert, die in der dem vorsittlichen Bereich folgenden eigentlichen Sittlichkeit das Moment des Verhältnisses entwickelt. Erst im sog. System der Sittlichkeit wird der vorsittliche Teil des Systems
2 Der „sittliche Trieb“ ist als etwas Nicht-Absolutes und Rein-Individuelles zu bezeichnen, wie Haering darstellt {Hegel. 2.403).
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für sich artikuliert.3 Es muß dabei unterstellt werden, daß dieser Teil aufgrund eines methodisch gemeinten Sinnes des Triebes organisiert wird, oder daß der Trieb einen methodischen Sinn hat. Der Trieb drückt nämlich keinen realen Inhalt, sondern eine Denkweise aus, die sich auf das einen Inhalt ausmachende Verhältnis, welches von seiner Einheit mit der Indifferenz isoliert ist, richtet und ihm zugrunde liegt. In diesem Teil gibt es verschiedene Stufen, die sich jeweils durch einen ihnen zugrunde liegenden Trieb fortsetzen lassen. Hier findet sich also eine Reihe der relativen Identitätsformen, die sich auf den „Trieb zur Vereinigung“ {FpS 35) gründet: Trieb bzw. Streben tritt im Umstand auf, daß „sich ... die Identität des Besondern ... und des Allgemeinen als eine unvollkommene Vereinigung oder als ein Verhältnis“ (FpS 16) bestimmt. Diese Bedeutung der Termini setzt die Mangelhaftigkeit des Verhältnisses voraus und sucht zwar dieses aufzuheben, doch ist dies nicht der Identität bzw. Einheit des Allgemeinen und des Besonderen gemäß.'* In diesem Mangel der Einheit erscheinen zwei Momente des Triebes (Fps 17); (1) „er geht aufs Einzelne“ und „wird in diesem Einzelnen befriedigt, diese einzelne Befriedigung ist selbst Totalität“, aber (2) er „geht zugleich über dasselbe hinaus, dieses Hinausgehen ist aber hier überhaupt etwas Negatives, Unbestimmtes“, so daß er „nicht absolut eins mit der absoluten Einheit“ wird. Der Trieb geht im zweiten Moment durch das erste hindurch über dieses hinaus. Das zweite Moment ist als die ursprüngliche Bewegung zur Einheit der Sittlichkeit zu bezeichnen, während das erste als im Übergang von einer zu einer anderen einzelnen Befriedigung befindlich erscheint, insofern die Einzelheit herrscht. Was die Erkenntnisweise dieser Bewegung betrifft, wird sie als die gegenseitige Subsumtion von Anschau^ Es gibt eine Diskussion darüber, ob der vorsittliche Teil zum System gehört. Während Trede in diesem Teil einen methodischen Sinn findet und damit keinen Bestandteil des Systems, sondern eine Entsprechung zur Einleitung als Logik sieht {Mythologie und Idee. In: Das älteste Systemprogramm. Hrsg, von R. Bubner, 178 f, 186 Anm. 16, 207 ff), behauptet G. Göhler, daß dieser Teil bereits in den Rahmen von Volk und absolute Sittlichkeit eingebettet ist (Dialektik und Politik in Hegels frühen politischen Systemen. In: FpS 397 Anm. 60). Nimmt man dabei an, daß die Darstellung des Systems der Sittlichkeit nicht den Entwicklungsstand der frühen Logik widerspiegelt, sondern andere Wege beschreitet, wie Kimmerle kommentiert {Ideologiekritik der systematischen Philosophie. In: Hegel-Jahrbuch 1973,100), muß man dembetreffenden Teil eine andere Funktion als die frühe Logik zuweisen. Allerdings muß der methodische Sinn des Triebes als des Prinzips dieses Teils bestehen bleiben. * Trede sieht, daß der Trieb die Sittlichkeit nach dem Verhältnis charakterisiert {Mythologie und Idee. 179). Göhler übersieht auch diesen Punkt nicht; allerdings ist bei ihm der methodische Sinn des Triebes nicht klar, insofern er in der Differenz-SchrA den Trieb neben dem Gefühl nur als wesentlichen Bestandteil des Fichteschen Naturbegriffs auffaßt und dessen zweifache Bedeutung nicht betrachtet {Dialektik und Politik. In: FpS 383, 382 Anm. 14). Bei K.-H. Ilting wird auf das „Streben nach Wiederherstellung der Einheit“ hingewiesen, das die Bewegung aus der Trennung hervorruft {Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik. In: FpS 771 f). Hier ist nicht geklärt, was es bedeutet, daß das Streben ein „Inneres“ bleibt.
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ung und Begriff beschrieben die den zwei Momenten des Triebes wohl entspricht und zwar in der Weise, daß entweder (1) die Anschauung (das Allgemeine, die Einheit) unter den Begriff (das Besondere, die Vielheit) subsumiert ist und dabei im Verhältnis mit dem letzteren bestehen bleibt, oder (2) der Begriff unter die Anschauung subsumiert ist und die letztere dabei das Innere bleibt. Dieser vorsittliche Bereich wird auch den genannten zwei Momenten des Triebes entsprechend in zwei Teile eingeteilt; (1) „Die absolute Sittlichkeit nach dem Verhältnis“ oder „die natürliche Sittlichkeit“ (ebd.), in der ihre Bestimmtheiten durch das erste Moment festgestellt werden, insofern es sich dabei um die Einzelheit handelt, (2) „Das Negative oder die Freiheit oder das Verbrechen“ {FpS 45), in dem das zweite Moment als „die negative Aufhebung“ {FpS 46) für sich entwickelt wird, insofern es auf das rein negative „Vernichtetsein“ (ebd.) der genannten Bestimmtheiten ankommt. Es soll zunächst untersucht werden, wie Trieb bzw. Streben in diesem zweiteiligen Bereich erscheint. Im ersten Teil werden zwei weitere von uns behandelte Termini, Begierde und Bedürfnis, deutlicher artikuliert, als sie in einem Vorlesungsmanuskript WS 1801/02 (s. 3.1.2.1.) erschienen. Daß die Begierde am Anfang des Geistes oder der Sittlichkeit steht, bleibt unverändert. Während dort das Bedürfnis im der bürgerlichen Gesellschaft entsprechenden „Reich des Bedürfnisses und des Rechts“ erschien, tritt es hier im dort noch nicht artikulierten vorsittlichen Bereich auf. Es muß dann bestimmt werden, wie die beiden Termini miteinander zusammenhängend hier als bestimmte Formen des Triebes bzw. Strebens Vorkommen und dessen realen Inhalt aufzeigen.® Das Bedürfnis wird als „das Gefühl der Trennung“ (FpS 19) zwischen dem Subjekt und dem Objekt formuliert und macht damit den Anfang des Prozesses des Triebes, die Trennung überhaupt im vorsittlichen Bereich aufzuheben, aus. Diese Formulierung stellt ein und dieselbe Struktur dar, die sich im „Gefühl eines Mangels“ (in der Frankfurter Zeit, s. 2.4.) sowie im aus einer bestimmten Entzweiung stammenden „Bedürfnis der Philosophie“ (in der Differenz-Schrift, s. 3.1.1.) zeigt. Was hier neu ist, besteht darin, daß das Bedürfnis realphilosophisch artikuliert im Verhältnis von Mensch und Na’ über die Methode der Darstellung des Systems der Sittlichkeit vgl. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 68; ders.: Hegels Naturrecht 1802—1805/06. In: Hegel-Studien. 11 (1976), 223 f; W. Bonsiepen: Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels. 105 f; K. Düsing: Idealistische Substanzmetaphysik, 33. ® Die Unterscheidung des Triebes bzw. Strebens im allgemeinen und dessen bestimmter Formen ist die Voraussetzung der Analyse dieses Teils. Haering kommt dem zwar nahe, die beiden Dimensionen, nämlich z. B. die des Triebes und die des Prozesses Bedürfnis-Arbeit-Genuß zu unterscheiden; aber er stellt den Trieb der Stufe der Differenz (Bedürfnis) gleich und betrachtet ihn als primitivste Form praktischer Subjektobjektbeziehung (Hegel. 2.339,354 f). Die Stufe der Differenz, die Haering mit Trieb und Begierde bezeichnet, wird dann von der Dimension der Differenz im allgemeinen nicht unterschieden.
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tur betrachtet wird. Hiermit wird die primitivste, aber grundlegendste Struktur der Sittlichkeit formuliert und deshalb die Grundlage der Artikulierung des Bedürfnisses überhaupt von seiner primitivsten bis zu seiner spekulativen Form festgelegt.^ Im Unterschied zum Bedürfnis tritt die Begierde als „ideale Bestimmung des Objekts“ (ebd.) auf, die sich in einer Vorstufe der dem Bedürfnis folgenden Arbeit findet, welche „eine Vernichtung der Trennung; also ein Vernichten des Subjektiven und Objektiven, der empirischen objektiven Anschauung, nach der das Objekt des Bedürfnisses außerhalb ist“ (ebd.), ist. Das Bedürfnis ist dann als die objektive oder reale Voraussetzung der Begierde anzusehen. Aufgrund des Bedürfnisses im realen Verhältnis zwischen einzelnem Subjekt und einzelnem Objekt bezieht die Begierde das Subjekt auf das Objekt und zielt nach der Aufhebung der Trennung beider. Sie bildet so die ideale Voraussetzung der Arbeit. Über die Idealität der Begierde als das auf die Aufhebung der Trennung zielende Verhalten des Subjekts begibt sich das Individuum in den Prozeß der Aufhebung der Trennung im realen Bedürfnis. Hier liegt ein zweckmäßiger Prozeß vor, d. h. BedürfnisArbeit-Genuß®, in dem die Begierde ein subjektives Moment ist. Diese Bestimmung der Begierde ist nicht einfach für pejorativ zu halten, denn die Begierde macht ein Moment eines realen Prozesses aus und hat deshalb eine wertfreie oder neutrale Bedeutung. Erst durch die Begierde von seiten des Subjekts wird das Verhältnis von Subjekt und Objekt in Gang gesetzt®, das in der Form des Bedürfnisses für die auf die Natur angewiesenen Menschen notwendig ist. Mit der Begierde fängt nämlich die Bewegung des Subjekts an, die Einheit mit dem Objekt wiederherzustellen. Insofern die Begierde ein Moment dieser Bewegung ist, ist sie die unmittelbare Form des Triebes, in der Weise, daß der Trieb erst durch die Begierde seine Eigenschaft als Negativität in der Bewegung zur Einheit aufzeigt, bis er im Sittlichen befriedigt wird und aufhört, die Bewegung des Innern zu sein. Hier findet sich die eigentliche Rolle der Begierde als des notwendigen Anfangspunktes der Bewegung zur Vereinigung. Auch in der vollkommenen Vereinigung, d. h. in der eigentlichen Sittlichkeit, könnte diese Rolle wohl als ein notwendiges, Moment der Betätigung des Menschen ihre Stellung finden. Allerdings muß die Begierde wegen der Unvollkommenheit der von ihr erzielten Vereinigung abgelehnt werden. Es fragt sich dann, ob die Begierde die Fähigkeit hat, sich selbst aufzuheben, oder ihre Einzelheit zu überwinden. Die Begierde wird im System der Sittlichkeit von der animalischen Begierde nicht deutlich unterschieden, insofern Hegel sagt: „die Sinne sind die ’ Darüber, daß schon im Bedürfnis eine Richtung von einzelner Beziehung zur allgemeinen vorhanden ist, vgl. Th. Haering: op. cit. 2.344. ® Zur Deutung der Verknüpfung von Zweckmäßigkeit und Arbeit vgl. G. Lukäcs: Der junge Hegel 233. ^ Vgl. G. Göhler: Dialektik und Politik. In: FpS 484.
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Tierpotenz im Mensch“ {FpS 23). Trotzdem muß sie nicht animalisch, sondern menschlich sein, auch wenn noch so naturhaft und vorsittlich. Dazu muß auf die Formulierung der Begierde als der „idealen Bestimmung des Objekts“ verwiesen werden. Daraus wird der Besitz abgeleitet: Besitzergreifung als „die Beziehung des Subjekts auf das Objekt, oder die ideale Bestimmung desselben durch die Begierde“ — Tätigkeit der Arbeit als „die reelle Vernichtung seiner Form, denn das Objektive oder die Differenz bleibt“ — Besitz des Produkts als „die Möglichkeit, es als ein [für sich Reelles! sowohl durch eine erste Beziehung seiner Materie nach, als durch die zweite der Vernichtung seiner Form und der Formgebung durch das Subjekt, — zu vernichten, und zum Genüsse, der aber ganz ideell bleibt, überzugehen.“ {FpS 21, Ergänzung von LASSON) Von einem rechtlichen Grund des Besitzes kann zwar hier gar nicht die Rede sein, aber damit kann die gleichsam naturwüchsige Grundlage zu diesem Grund festgestellt werden. Der Besitz muß auch in dieser naturwüchsigen Form nichts anderes als ein menschliches Phänomen sein, das durch die Idealität der Begierde entstehen kann. In dieser Richtung können wohl auch die Phänomene wie Eigentum (FpS 33), Vertrag (FpS 37) u.a. verständlich gemacht werden, welche in der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck gebracht werden. Es gibt hier ein Indiz dafür, daß der Geist die Priorität über die Natur hat. Der Parallelismus, den Hegel in der Differenz-Schrift angenommen hatte, wurde verworfen. Dort stehen sich die Philosophie der Intelligenz und die der Natur parallel gegenüber. Beide sind besondere Wissenschaften, in denen jede die Identität des Subjekts und Objekts auf ihre eigene Weise ausdrückt: „Um die wahre Identität des Subjekts und Objekts zu setzen, werden beyde als Subjektobjekt gesetzt; und jedes für sich ist nunmehr fähig, der Gegenstand einer besondern Wissenschaft zu seyn. Jede dieser Wissenschaften fodert Abstraktion von dem Princip der andern“ (GW4.67). Dabei findet sich nur eine Parallelität von Natur und Intelligenz. Diesen Standpunkt übernahm Hegel von SCHELLING, der vom „Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten“ (System des transzendentalen Idealismus. AW2.331) spricht. Diesen Parallelismus verließ Hegel schon in dem Vorlesungsmanuskript WS 1801/02 tendenziell 10, in dem aber dieser Standpunkt in Hinblick auf die Stellung der Begierde noch vertreten worden zu sein scheint; die Begierde trat noch als Gegenstück zum Chemismus der Naturphilosophie auf und war dessen entsprechendes Moment der Geistesphilosophie (s. 3.1.2.1.). Im Naturrechts-Axxfsatz wird dieser Parallelismus durch die Priorität des Geistes über die Natur ersetzt. Der Grund, daß „der Geist höher als die Natur“ (GW 4.464) ist, besteht darin, daß die „absolute InNach Meist ist im Manuskript (Fragment 2) die Natur nicht mehr als formal symmetrisches Gegenbild des Geistes, sondern als dessen Vorstufe, genauer als die in der Organisation der absoluten Sittlichkeit bereits vermittelte Naturseite des freien Volkes zu bezeichnen {Hegels Systemkonzeption, 78).
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differenz mit dem Wesen und der Substanz“ {GW 4.463) der Sittlichkeit durch die natürliche „Gesellschaftlichkeit der Blätter der Pflanzen, des Geschlechts, des heerdeweisen Lebens und gemeinsamen Arbeitens der Thiere“ (ebd.) nicht erreicht wird. Die gestellte Frage nach der Fähigkeit der Begierde, sich selbst aufzuheben oder ihre Einzelheit zu überwinden, kann nämlich als die Frage ausgedrückt werden, ob die Begierde als der Ausgangspunkt des Sittlichen die Möglichkeit zu einer wahren „Gesellschaftlichkeit“ erschließen kann. In der Formulierung der Begierde als der „idealen Bestimmung des Objekts“ läßt sich wohl eine gewisse Form dieser Möglichkeit finden. Es handelt sich dahei jedenfalls um den Ursprung der Gesellschaft, d. i. der Sittlichkeit, die schon in einem naturhaften Phänomen wie Begierde ihren Keim hat. Die Idealität, die ein naturhaftes Phänomen menschlich macht, wird in der Arbeit beobachtet: „es ist im Arbeiten die Differenz der Begierde und des Genusses gesetzt; dieser ist gehemmt, und aufgeschoben, er wird ideell“ {FpS 21). Da daraus der Besitz als ein klares menschliches Phänomen entsteht, leistet die Arbeit die Aufgabe der Idealisierung des Objekts, die von der ihr vorausgesetzten Begierde aufgestellt wird. Dieser Charakter, daß ein vorsittliches Verhältnis irgendeine über die Einzelheit hinausgehende und deshalb gewissermaßen allgemeine Bedeutung haben kann, was etwas Menschliches aufzeigt und eigentlich in der Sittlichkeit ermöglicht wird, wird damit der Arbeit verliehen. Dies ist beim Werkzeug gut zu beobachten: „Im Werkzeug trennt das Subjekt sein Stumpfwerden, und die Objektivität von sich ab, es gibt ein anderes der Vernichtung hin, und wälzt auf es den subjektiven Teil derselben; zugleich hört seine Arbeit auf etwas Einzelnes zu sein; die Subjektivität der Arbeit ist im Werkzeug zu einem Allgemeinen erhoben; jeder kann es nachmachen, und ebenso arbeiten; es ist insofern die beständige Regel der Arbeit.“ {FpS 28) Damit wird der allgemeine Charakter des Arbeitsprozesses als einer Form der Befriedigung des „Triebes zur Vereinigung“ ausgesprochen. Ein und denselben Charakter kann man in einer anderen Form der Befriedigung als der Arbeit feststellen, nämlich in der Liebe: „Die Vernichtung der eigenen Form ist gegenseitig ...; es schaut sich jedes in dem andern an, als zugleich ein fremdes, und dieses ist die Liebe.“ {FpS 25) Obwohl sie „die höchste Einheit, welche die Natur hervorbringen kann“ (ebd.), ist, gehört sie allerdings wegen der Ungleichheit beider Geschlechter nicht der Sittlichkeit an, sondern der Natur, denn jene ist „in Beziehung auf die differenten, absolute Gleichheit beider, — in Beziehung auf das Einssein, absolutes Einssein durch die Idealität“ (ebd.); diese bleibt aber „in der Ungleichheit und darum in der Begierde, in welcher das eine bestimmt ist als ein subjektives, das andre als ein objektives“ (ebd.). Trotz dieser Begrenztheit ist die Liebe als etwas anzusehen, das die Möglichkeit aufzeigt, die Einzelheit der Begierde aufzuheben. Entsprechend dieser Richtung wird auch das Verhältnis von Eltern und Kindern als „die allgemeine Wechsel-
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Wirkung und Bildung der Menschen“ (FpS 26) betrachtet, in der die Aufhebung der Einzelheit der Begierde und des ihr gemäßen Bedürfnisses angedeutet wird, welche auch in der Liebe vorhanden ist. Es handelt sich um die Entstehung des „Anerkennens, das gegenseitig ist“ (ebd.). Das zwischenmenschliche Verhältnis, dessen Ungleichheit in dem der Herrschaft und Knechtschaft {FpS 40) zugespitzt wird, wird mit dem von Mensch und Natur so verbunden, daß „die ganze bisherige Besonderheit ... ins Allgemeine versetzt“ (FpS 42) ist, nämlich in die Familie. Sie ist die Identität (1) „der äußeren Bedürfnisse“ (ebd.), (2) „des Geschlechtsverhältnisses, der natürlichen, an den Individuen selbst gesetzten Differenz“ (ebd.), (3) „des Verhältnisses von Eltern zu Kindern oder der natürlichen, herausgetretenen, aber als Natur seienden Vernunft“ (FpS 43). Hier kann die Begierde sowohl im Verhältnis von Mensch und Natur als auch im zwischenmenschlichen Verhältnis aufgehoben werden, was allerdings nicht zu ihrem Charakter selbst als der Einzelheit im Verhältnis von Subjekt und Objekt gehört. Daß die Begierde in diesem Verhältnis einzeln bleibt, ist also als Hegels Grundauffassung von ihr anzusehen. Wegen ihrer Einzelheit, die auf dem ersten Moment des Triebes, auf das Einzelne zu gehen, beruht, wird sie durch sein zweites Moment, über das Einzelne hinauszugehen, negiert, so daß einzelne Bestimmtheiten eine Reihe von ihr bis zur Familie ausmachen. Während sich der Trieb im ersten Teil zur Einzelheit hin entwickelt, erscheint er im zweiten Teil als die negative Aufhebung als solche, die sich der absoluten und positiven Aufhebung in der absoluten Sittlichkeit entgegensetzt.il ßj. kann wohl als der Trieb der Negativität bezeichnet werden, auch wenn Hegel nicht deutlich so formulierte. Dieses Verhalten fixiert das Negative selbst, das die im vorigen Teil beschriebenen Bestimmtheiten als einzelne Befriedigungen negiert, und macht eine Reihe der Negationen gegen diese Bestimmtheiten aus, nämlich „I. die natürliche Vernichtung oder die zwecklose Zerstörung, II. der Diebstahl, der Raub und die Bezwingung, III. der Mord, die Rache und der Zweikampf, auch der Völker: der Krieg.“ (FpS 50) Da es bei ihm nur um die Fixierung des Negativen geht, bleibt es wieder ein Besonderes, dem die innere Sittlichkeit entgegengesetzt werden muß. In der Darstellung Hegels ist hinsichtlich des Triebes hauptsächlich von der Seite der Entgegensetzung die Rede. So findet sich der Trieb im Gewissen, das als rächende Gerechtigkeit dem Verbrechen entgegenwirkt: „Unmittelbar hat der Verbrecher, was er scheinbar äußerlich und als ein ihm fremdes verletzt, darin ebenso sich selbst ideell verletzt und aufgehoben. Insofern ist die äußere Tat zugleich eine innere, das Verbrechen, an dem Fremden begangen, ebenso an ihm selbst begangen. Aber das Bewußtsein dieser seiner eigenen Vernichtung ist ein subjektives, inneres oder das " über die Bedeutung der negativen Aufhebung im zweiten Teil vgl. /. H. Trede: Mythologie und Idee, 209; W. Bonsiepen: Der Begriff der Negativität, 107.
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böse Gewissen. Es ist insofern unvollständig und muß sich auch äußerlich als rächende Gerechtigkeit darstellen. Weil es ein Inneres, Unvollständiges ist, so treibt es zu einer Totalität.“ {FpS 49) Mit der Totalität ist das Leben gemeint, von dessen Standpunkt her das Verbrechen zurückgewiesen werden muß, was durch den „Trieb des Gewissens“ geleistet wird: Von dem Gewissen wird „die allgemeinste Forderung, die Intelligenz und Totalität, nämlich das Leben, von welchem selbst das Gewissen eine Bestimmtheit ist, gegen die gedrohte Negation verteidigt. Durch den Sieg in diesem gesetzten Kampfe wiederholt sich jener Trieb des Gewissens“ (ebd.). Da er eine Gegenwirkung gegen etwas Besonderes wie ein Verbrechen ist, bleibt dieser Trieb nur etwas Subjektives, das sich als die Wut gegen die Verwüstung wieder in der Besonderheit zeigen läßt: sie ist „der absolute mittellose Trieb, der absolute Begriff in seiner völligen Unbestimmtheit, die Unruhe der Unendlichkeit des absoluten Begriffs, die ... in ihrem Vernichten der Entgegengesetzten durcheinander sich selbst vernichtet, das Realsein der absoluten Subjektivität“ {FpS 51). Um diese Besonderheit zu überwinden, wird auf die Sache des Ganzen verwiesen, die die verletzte Gleichheit wiederherstellen soll. Hegel sieht sie in der Ehre: „das Recht und die Indifferenz wird dadurch, daß die Besonderheit der Handlung des Beleidigten in die Indifferenz des Ganzen, zur Sache des Ganzen gemacht wird, zur Ehre, und hiemit auf beiden Seiten gleich; durch die Ehre ist das böse Gewissen, der Trieb sich zu vernichten aufgehoben, denn sie ist der Trieb des Subsumierens“ {FpS 58). Unter dem Ganzen wird schon eine Art der Sittlichkeit verstanden, in der die Sphäre der Einzelheit des Gewissens schon verlassen wird: „die beleidigte Seite, welche ganz die Einzelheit der Tat, welche als diese Einzelheit nicht die ihrige ist, von sich wegnimmt, ist durch die Ehre völlig in gleichem Rechte, wie in der einzelnen persönlichen Beleidigung der Beleidigte dadurch, daß er sein Leben schützt.“ (ebd.) Da der Trieb sowohl im Gewissen als auch in der Ehre die Totalität oder das Ganze aufzeigt, gibt es in den beiden offensichtlich eine gemeinsame Richtung, über negative Phänomene hinauszugehen, auch wenn sie nur das Innere bleibt. Als Folge der Reihe des Triebes tritt dann das Ganze auf, das nun mehr aufhört, das Innere zu sein, nämlich Sittlichkeit im „Selbstgenuß“ {FpS 60)^2 als der dritte Teil des „Systems der Sittlichkeit“. Hiermit wird unsere Aufgabe wohl abgeschlossen, die Entwicklung des methodisch gemeinten Triebes im vorsittlichen Bereich zu untersuchen. Es ist festzustellen, daß die abzulehnende Bedeutung des Terminus Trieb nicht einfach beiseite gestellt wird, sondern eine Funktion bekommt, einen Bestandteil des Systems als den vorsittlichen Bereich zu organisieren, ohne den methodischen Sinn zu verlieren. Er spielt sogar eine positive Rolle, inTrede setzt dem Trieb den sich erhaltenden und erfüllten sittlichen Genuß entgegen {Mythologie und Idee, 179 f). Was zu tun bleibt, ist, das Moment des Triebes innerhalb dieses Genusses näher zu artikulieren.
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sofern durch ihn eine Richtung angegeben wird, über die Einzelheit hinausund in die Sittlichkeit überzugehen. Da aber durch die Erreichung der Sittlichkeit der Standpunkt des Triebes als die Isolierung des Verhältnisses von seiner Einheit mit der Indifferenz überwunden wird, scheint es keinen Spielraum für den Trieb mehr zu geben. Aber es muß berücksicbtigt werden, daß auch in der Sittlichkeit die Bestimmtheiten nach dem Verhältnis vorhanden sind in der Weise, daß sie nicht mehr von ihrer Einheit mit der Indifferenz isoliert sind, sondern in dieser Einheit aufgehoben werden. Was hier in Hinblick auf die von uns behandelten Termini unter dem Verhältnis verstanden werden soll, besteht in dem „System des Bedürfnisses“ (FpS 89) in dem der „Trieb nach Vergrößerung des Reichtums“ {FpS 93) wirksam ist als „die Notwendigkeit, das bestimmte Einzelne, welches der Besitz ist, ins Unendliche aufzunehmen“ (ebd.). Hier findet sich die eigentliche Sphäre, die hinsichtlich des Triebes nach Besitz schon im vorsittlichen Bereich bereits angedeutet worden ist und dem späteren Ausdruck „bürgerliche Gesellschaft“ entspricht. Es fragt sich dabei, wie das Einzelne ins Unendliche aufgenommen wird. Als Aufnahmeweise ist festzustellen, daß die einzelnen Bedürfnisse ein System ausmachen. Wie im NaturrechtsAufsatz dargestellt wird, geht es hier um „physische Bedürfnisse und Genüsse, die für sich wieder in der Totalität gesetzt, in ihren unendlichen Verwicklungen Einer Nothwendigkeit gehorchen, und das System der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit in Ansehung der physischen Bedürfnisse, und der Arbeit und Anhäuffung für dieselbe, und dieses als Wissenschaft das System der sogenannten politischen Oekonomie bilden“ (GW 4.450). Es erübrigt sich, hier auf den Einfluß der englischen Nationalökonomie hinzuweisen.i® In unserem Kontext gilt es zu untersuchen, wie sich dieses Vgl. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 68, 239; /. H. Trede: Hegels frühe Logik, 155. M. Riedel weist darauf hin, daß im System der Sittlichkeit Hegel das System noch nicht in die Pluralität setzt, sondern vom System und der Totalität des einzelnen Bedürfnisses ausgeht {Die Rezeption der Nationalökonomie. In: FpS 821 Anm. 14.). ” Zur Stellung der bürgerlichen Gesellschaft als des realen Negativen in der sittlichen Totalität vgl. R.-P. Horstmann: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie. ln: Hegel-Studien.9 (1974), 215, Dabei muß der Charakter des Triebes berücksichtigt werden, der als etwas das Bedürfnis Vorwärtstreibendes erscheint. Dazu vgl. G. Göhler: Dialektik und Politik, In: FpS 539, auch 412. Im Hinblick auf das System der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit sind die folgenden Aussagen von James Steuart und Adam Smith von Bedeutung. Nach Steuart besteht das Ziel der politischen Ökonomie darin, „to provide everything necessary for supplying the wants of the society, and to employ the inhabitants ... in such a manner as naturally to create reciprocal relations and dependencies between them, so as to make their several interests lead them to supply one another with their reciprocal wants,“ {An inquiry inte the principles of political oeconomy. vol, I. 16 f) Einen ähnlichen Umstand beobachtet auch Smith in „commercial society“: „When the division oflabourhasbeenoncethoroughlyestablished, it isbutavery small part of a man’s wants which the produce of his own labour can supply. He supplies the far
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System zur Totalität verhält. Dazu ist zu unterstellen, daß das erstere in seinem Verhältnis zur letzteren negativ bleibt: „Da dieses System der Realität ganz in der Negativität und in der Unendlichkeit ist, so folgt für sein Verhältniß zu der positiven Totalität, daß es von derselben ganz negativ behandelt werden, und seiner Herrschaft unterworfen bleiben muß; was seiner Natur nach negativ ist, muß negativ bleiben, und darf nicht etwas festes werden.“ (ebd.) Auch wenn es auf negative Weise bleiben muß, hat es also seine feste Stelle in der Sittlichkeit, so daß die Einzelheit auch hier anerkannt wird. Daß es negativ bleiben muß, beruht auf einer Überzeugung Hegels, daß es zwar in ihm eine Gefahr gibt, sich zu etwas Festem zu machen, daß aber die Sittlichkeit die Fähigkeit hat, diese Gefahr zu überwinden. Dieses System erscheint nämlich für den einzelnen Menschen als „eine fremde Macht, über welche er nichts vermag, von welcher es abhängt, ob der Überfluß, den erbesitzt, für ihn eine Totalität der Befriedigung ist“ (FpS 90); daraus ergibt sich eine Situation, daß hier „das Regierende als das bewußtlose, blinde Ganze der Bedürfnisse und der Arten ihrer Befriedigungen“ {FpS 91) erscheint; diesem bewußtlosen System, das Hegel als Schicksal charakterisiert, setzt sich aber das Allgemeine entgegen: „dieses bewußtlosen, blinden Schicksals muß sich das Allgemeine bemächtigen und eine Regierung werden können.“ (ebd.) Ein und dieselbe Struktur der Unterwerfung des Einzelnen durch das Ganze ist schon in der politischen Auffassung der früheren Fragmente zur Verfassungs-Schrih ausgesprochen worden (s. 3.1.2.1.). Während dort die Unterwerfung des Einzelnen durch das Ganze schlechthin betont worden ist, fällt auf, daß hier dagegen von der Seite des Einzelnen die Möglichkeit der Einheit mit dem Ganzen vorgestellt wird. Es gibt nämlich eine Grenze für den Trieb nach Reichtum, so daß das Ganze durch die Ungleichheit nicht gefährdet wird: „die äußere Ungleichheit mindert sich sowohl äußerlich, als das Unendliche sich nicht auf die Bestimmtheit wirft, sondern als lebendige Tätigkeit existiert und also der Trieb nach ungreater pari of them by exchanging that surplus part of the produce of bis own labour, which is over and above bis own consumption, for such parts of the produce of other men’s labour as he has occasion for. Every man thus lives by exchanging, or becomes in some measure a merchant, and the society itself grows to be what is properly a commercial society.“ (An inquiry into the natureand causes ofthewealth ofnations. vol. II. 33) Diese Auffassung der politischen Ökonomie übte sicher Einfluß auf das Hegelsche Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft und des sie ausmachenden gesellschaftlichen Bedürfnisses aus. Hier kann nicht diskutiert werden, ob Hegel schon ln diesem Zeitraum Smith kannte, und wer von beiden ihn stärker beeinflußte. Den Einfluß der englischen Nationalökonomie im allgemeinen erwähnen mehrere Untersuchungen. Vgl. F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. 1.149; Th. Haering: Hegel. 2.378 f; G. Lukäcs: Der junge Hegel. 412,424,472; P. Chamley: Economie politique et Philosophie chez Steuart et Hegel; ders.: Les origines de la pensee economique de Hegel. In: Hegel-Studien. 3 (1965), 252 ff; M. Riedel: Die Rezeption der Nationalökonomie. In: FpS 819; H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 224 Anm. 54; G. Göhler: Dialektik und Politik. In: FpS 505.
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endlichem Reichtum selbst ausgerottet ist.“ {FpS 95) Hier läßt sich eine neue Weise finden, wie das Einzelne ins Unendliche aufgenommen wird, insofern die Fähigkeit des Einzelnen anerkannt wird, sich eine Grenze zu geben. Es soll daher gefragt werden, wie dieser Umstand mit der Auffassung der von uns behandelten Termini zusammenhängt. Es ist hier wohl bedeutsam, daß der Ausdruck „Bedürfnis des Ganzen“ im Gegensatz zu der früheren Auffassung nicht auftritt. Statt dessen wird von den „allgemeinen Bedürfnissen“ gesprochen, die einen ganz konkreten, dem „Bedürfnis des Einzelnen“ gleichrangigen realen Inhalt ausmachen und eine wenig ablehnende Funktion gegenüber dem Standpunkt des Einzelnen hat: „die Regierung als das Allgemeine hat selbst allgemeine Bedürfnisse; erstlich überhaupt, für den des Eigentums und des Erwerbs entnommenen ersten Stand, der in beständiger und absoluter allgemeiner Bedürftigkeit [lebt]; alsdann für den formell allgemeinen Stand, nämlich für denjenigen, der in den andern Ständen Organ der Regierung, und bloß im Allgemeinen arbeitet; endlich für das Bedürfnis des Allgemeinen, des ganzen Volks als eines solchen, z. B. seine Wohnungen usw., d. i. seine Tempel, Straßen usw.“ (ebd., Ergänzung von FASSON) Die ablehnende Auseinandersetzung des Ganzen mit dem Einzelnen wird zumindest in bezug auf die Auffassung des Terminus Bedürfnis nicht so stark betont wie bei der früheren Auffassung. Um dies zu bestätigen, ist es nötig, die philosophische und die politische Auffassung aufeinander zu beziehen, wie es bei der früheren Auffassung der Fall war. In den Reinschriftfragmenten zur Verfassungs-Schnft finden Trieb und Bedürfnis als Inhalt der Freiheit in den „untergeordneten Systemen und Körpern“ (TW 1.480), nämlich in den Ständen, Städten, Dörfern, Gemeinden usw., unter der Staatsgewalt ihre Stellung; „alles hierher Gehörige hat sich aus eigenem Triebe zusammengetan und ist für sich selbst aufgewachsen, und seit es sich hervorgebracht, hat es sich auch erhalten.“ (ebd.) Der „größte Teil der inneren gesellschaftlichen Einrichtungen“ hat sich also „durch freies Tun der Bürger für jeden bestimmten Umfang von Bedürfnis“ gemacht und „ihre Dauer und Leben“ erhält sich „mit eben dieser von keiner Eifersucht oder Ängstlichkeit der obersten Staatsgewalt gestörten Freiheit“ (TW 1.481). Hier wird eine Auffassung geäußert, die sich der entgegensetzt, „daß ein Staat eine Maschine mit einer einzigen Feder ist, die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mitteilt; von der obersten Staatsgewalt sollen alle Einrichtungen, die das Wesen einer Gesellschaft mit sich bringt, ausgehen, reguliert, befohlen, beaufsichtigt, geleitet werden“ (ebd.). Entgegen dieser Maschinenstaat-Theorie drücken die von uns behandelten Termini die Auffassung aus, daß das Volk im Verhältnis zur Staatsgewalt seinen freien Spielraum finden kann. Dies ist auch bei dem Terminus Bestreben der Fall: Die Staatsgewalt kann auf „die freie Abhänglichkeit, das Selbstgefühl und das eigene Bestreben des Volks“ (TW 1.484) zählen. End-
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liehe Bestimmtheiten haben also innerhalb der Sittlichkeit eine konstitutive Bedeutung, in der Weise, daß sie nicht mechanistisch vom Ganzen abgeleitet werden, sondern ein Moment des Ganzen ausmachen, ohne ihre Freiheit zu verlieren. Was das Bedürfnis des Ganzen betrifft, wird nur eine sozusagen empirische Seite wie bei dem „Bedürfnis, Finanzen für Deutschland zu erschaffen“ (TW 1.494) oder bei dem „allgemeinen Staatsbedürfnis“ (TW 1.483; vgl. auch 479,492 f) erwähnt. Diese Seite war schon in der früheren Auffassung vorhanden, stand aber noch im Zusammenhang mit der gleichsam spekulativen Seite, insofern sie im Kontext des „Bedürfnisses des Ganzen“ erörtert wurde (s. 7W1.589ff; vgl. auch 3.1.2.1.). Hier ist sie kaum erkennbar. Allerdings ist auch hier gefordert, daß Deutschland ein Staat sein soll, aber die Betonung des Standpunktes des Ganzen gegenüber dem Einzelnen ist wohl zurückgetreten oder schwach geworden, dadurch daß die Möglichkeit der Harmonisierung innerhalb der Gesellschaft gewissermaßen anerkannt wird: Die deutschen Stände haben nämlich ihre Vereinigung aufgegeben und verschließen “sich selbst die Möglichkeit, für vorübergehend, augenblickliche Zwecke sich nach Bedürfnis und Not mit Verstand zu verbinden“ (TW 1.505). Die Veränderung der Auffassung der betreffenden Termini in der Verfassungs-Schrift hängt wohl mit dem Umstand zusammen, daß in den Reinschriftfragmenten der Zweck und die Wirkung der Schrift so bestimmt werden: „Die Gedanken, welche diese Schrift enthält, können bei ihrer öffentlichen Äußerung keinen anderen Zweck noch Wirkung haben, als das Verstehen dessen, was ist, und damit die ruhigere Ansicht sowie ein in der wirklichen Berührung und in Worten gemäßigtes Ertragen derselben zu befördern.“ (TW 1.463) Dabei handelt es sich um die Erkenntnis der Notwendigkeit: „erkennen wir ..., daß es ist, wie es sein muß, d. h. nicht nach Willkür und Zufall, so erkennen wir auch, daß es so sein soll.“ (ebd.) Nach dieser Notwendigkeit müssen die Dinge nicht als einzelne Begebenheiten, sondern als „ein System derselben, das von einem Geist regiert wird“ (TW 1.464), aufgefaßt werden. Hier findet sich wohl unverändert das Hegelsche Verständnis der spinozistischen Substanzi^, wie es auch im System der Sittlichkeit geäußert wird— „Die Ansicht der Philosophie von der Welt und der Notwendigkeit, nach welcher alle Dinge in Gott sind, und keine Einzelheit ist, ist für das empirische Bewußtsein vollkommen realisiert, indem jene Einzelheit des Handelns oder Denkens oder Seins ihr Wesen und Bedeutung ganz allein im Ganzen hat“ (FpS 61). Anders als in der früheren Auffassung Während Ilting den Text zur Verfassungs-SchnÜ für den Höhepunkt der Aneignung Spinozas hält {Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik. In: FpS 777 f), versteht Nusser ihn als nachträgliche und resignierende Reflexion Hegels auf sein Vorhaben {Hegels Dialektik und das Prinzip der Revolution. 186). Allerdings bleibt festzustellen, daß eine zeitliche Differenz innerhalb ein und desselben Standpunktes entstanden ist.
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ist allerdings das praktische Anliegen bei diesem Verständnis zurückgetreten. Die Substanz liegt nämlich zwar unverändert den besonderen Formen des subjektiven Philosophierens zugrunde und bleibt allgemein, aber scheint die ablehnende Funktion verloren zu haben in dem Sinne, daß das Bedürfnis nach der Wiederherstellung der Einheit nicht so stark wie früher betont wird, und daß statt dessen von der Seite des Einzelnen die Möglichkeit zur Harmonisierung des Ganzen geöffnet wird. Im Zusammenhang der philosophischen und politischen Auffassungen kann also die Veränderung der Auffassung der Termini bestätigt werden. 3.1.2.3. Integration des auf das Bewußtsein bezogenen „Bedürfnisses der Philosophie“ in die Entwicklung des Allgemeinen Es soll im folgenden untersucht werden, wie sich der Rücktritt des Standpunktes des „Bedürfnisses des Ganzen“ in den realphilosophischen Auffassungen auf die Problematik des „Bedürfnisses der Philosophie“ bezieht, oder ob eine entsprechende Veränderung der Auffassung der betreffenden Termini auch bei dieser Problematik bestätigt werden kann. In einem Vorlesungsmanuskript 1803 (Fragment 4) i wird auf diese Problematik zurückgegriffen. Eine ähnliche Veränderung wäre hier wie bei den realphilosophischen Auffassungen zu erwarten in der Weise, daß in der Problematik des „Bedürfnisses der Philosophie“ die zweifache Bedeutung der Termini nicht so stark wie früher festgestellt würde. In der Tat ist dies der Fall, insofern das „Bedürfnis der Philosophie“ auf das Bewußtsein bezogen ist und sich deshalb auf das Bedürfnis im Sinne des Verstandes beschränkt. Unter der zweifachen Bedeutung des „Bedürfnisses der Philosophie“ wird nämlich nur auf die Seite des Bewußtseins aufmerksam gemacht, auf der es als das „Subjekt“ des Bedürfnisses auftritt, so daß es sich im Hinblick auf die Bedeutung des Bedürfnisses mehr um die Tatsache seines besonderen Bestehens als um seinen spekulativen Ursprung handelt. Auf diesen Punkt muß nun näher eingegangen werden. Dieses Subjekt wird als ein absolut einzelnes charakterisiert. Es hat den „Trieb zu philosophieren“, mit dem es als das „erwachende Bewußtseyn“ die Frage nach seinem „Verhältniß“ zur Welt (und zu dem von ihr kaum zu unterscheidenden Gott) stellt.^ Angesichts der Welt, die ihm als „eine blinde ' über die Zitate des Fragments und dessen Datierung s. 3.1.2.1. Anm. 1. 2 In der gestrichenen überarbeiteten Fassung findet sich dieses Verhältnis betreffend eine Charakterisierung des Bewußtseins als einer logischen Figur der Mitte, nämlich des Einzelnen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Nach Kimmerle sind damit die begrifflichen Mittel des Systems der Sittlichkeit überschritten {Die Chronologie der Manuskripte Hegels in
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verborgene Macht“ erscheint, ist es davon überzeugt, ihr seinen Willen entgegensetzen zu können. Dieses Verhalten wird aber als eine „Täuschung“ abgelehnt, weil es sich dadurch „jener Macht vollkommen zu eigen gegeben“ und in sie eingegliedert hat. Der Standpunkt des reinen Ich, der nichts anderes als derjenige des genannten Verhaltens des Bewußtseins ist und mit dem offensichtlich die FiCHTEsche Philosophie gemeint ist, wird deswegen abgelehnt, weil er das „Bedürfnis der Philosophie“ nicht befriedigen kann. Das reine Ich, das „in seiner absoluten Freyheit alle Beziehung auf sein Entgegengesetztes aufhebt, und sich in dieser Beziehungslosigkeit festhält“, beruht auf der Vernichtung der Entgegensetzung. Die „reine Freyheit“ ist damit nichts anderes als „der höchste Ausdruck jener Täuschung“, so daß „ihr nicht das Bedürfniß der Philosophie, das aus dem Bewußtseyn der Einzelnheit stammt, befriedigt, sondern vielmehr, indem die Einzelnheit auf das höchste gesteigert ist, selbst auf das höchste gesteigert ist“. Hiermit wird die methodisch in Frage gestellte Bedeutung des Bedürfnisses oder des Triebes im Sinne des Verstandes wohl endgültig abgelehnt. Statt ihrer wird auf die Notwendigkeit eines anderen Wegs verwiesen, die Entgegensetzung in die Entwicklung der Welt selbst einzuordnen. Es muß erkannt werden, daß die Entgegensetzung „selbst eine Beziehung auf dasselbe“, nämlich auf das Geschehen in der Welt ist. Das Bewußtsein steht also „durch die Beziehung selbst in dessen Gewalt“. Damit wird das Bewußtsein in die Welt hineingebracht. Es gibt zwar die Möglichkeit seiner Isolierung von der Welt, aber schließlich findet es seine Stellung in der Welt selbst.^ Dann wird die „Aufgabe der Philosophie“, „die Einzelnheit des Individuums mit dem allgemeinen der Welt zu versöhnen“, gelöst. Was die Weise der Einordnung der Entgegensetzung in die Entwicklung der Welt selbst betrifft, muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß auch das Bewußtsein oder das darauf bezogene „Bedürfnis der Philosophie“, das eigentlich nicht als etwas Geschichtliches verstanden wird, aus einer geschichtlichen Perspektive betrachtet wird“*, wie in der früheren Auffassung die mit der Problematik des „Bedürfnisses der Philosophie“ verbundene Einleitungsproblematik in Analogie zum Bildungsprozeß eines Volkes gestellt wurde. Als Folge dieses Verfahrens kann das Bewußtsein per analogiam in die Geschichte eines Volkes eingegliedert werden und wird damit
den Bänden 4 bis 9. In: GW8.355). Dazu vgl. auch M. Baum und K. R. Meist: Durch Philosophie leben lernen, 59. Dann läßt sich auch in „einer späteren Variation“ (Kimmerle: ebd.) des Themas „Bedürfnis der Philosophie“ eine weitere Phase der Entwicklungsgeschichte erkennen. 5 Über die Forderung an das Bewußtsein, die Täuschung zu überwinden, und im Kampf gegen die Welt selbst eine Beziehung auf sie zu erkennen, vgl. M. Baum und K. R. Meist: op. cit. 60 f. * Über die Einführung der geschichtlichen Perspektive vgl. M. Baum und K. R. Meist: op. cit.
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konstitutiv in dieser Geschichte.® Oder die Beziehung des Einzelnen und Allgemeinen in einem Volk wird geschichtlich aufgefaßt. Das Bewußtsein wird also als ein geschichtliches Geschehen bezeichnet. Es macht die Unterscheidung zwischen Einzelnem und Allgemeinem, die im Hinblick auf die Beziehung der beiden als solche eine „bloß ideale oder subjective“ ist, zu einer realen als der „Individualisierung“ des Gegensatzes.® In dieser Individualisierung erscheinen dem Einzelnen die „Regeln gegen die aüssere Nothwendigkeit des physischen Bedürfnisses“ sowie „die bestimmten Sitten und Gesetze seines Volkes“ als etwas Zufälliges. Hier entsteht eine geschichtliche Situation des Gegensatzes, der sich die Philosophie entgegensetzen soll. Aus der geschichtlichen Perspektive wird nämlich die Stellung der Philosophie festgelegt. Der ganze Sachverhalt beruht auf dem Prozeß des Lebens, dessen Struktur dem Gegensatz entgegenwirkt, was durch die Philosophie geleistet wird. Was die Stellung des Einzelnen in dieser Struktur betrifft, wird erörtert, daß „das Leben jedes Einzelnen ein Seyn“ im Allgemeinen ist. Damit ist die Harmonie der ganzen Struktur erreicht, nämlich „die Organisation eines Ganzen und Allgemeinen errichtet, das als allgemeines für sich ist, und wieder, indem es der Geist jedes einzelnen ist, die geforderte Harmonie vollkommen leistet“. Die Welt selbst hat diese Struktur, die sich in den Gegensatz bringt und ihn zugleich auflöst: „die Welt selbst enthält die Auflösung des Gegensatzes der Einzelnheit gegen sie“. Auf der Grundlage dieser Struktur ist die geschichtliche Situation des Gegensatzes sowie die Notwendigkeit ihrer Überwindung zu erörtern. Unter der Situation, in der „das Ganze bestimmter Sitten und Gesetze, und Lebensweisen, und ihrer Religion sich in jenem Gegensätze festsetzt“ und die „Trennung in der grössern Menge des Volkes“ als der „lebendigen Organisation eines solchen Geistes“ vorhanden ist, ist „das Ganze seines Zusammenhaltes, seine Verfassung“ verloren. Wegen des Gegensatzes oder der Trennung wird dann eine neue Gestalt des Lebens gesucht; „der Geist des lebendigen Lebens, der aus seinen Gliedmaaßen sich zurückgezogen hat, muß sich eine neue Ge5 Mit dem Konstitutivwerden des Bewußtseins in der Geschichte ist der propädeutische Charakter des früher der Philosophie zugewiesenen Bildungsprozesses verlorengegangen. Dieser Prozeß wird zu einem dem System selbst gehörenden Vorgang. Dazu vgl. K. R. Meist: Zur Rolle der Geschichte, 69; M. Baum und K. R. Meist: op. cit. 60, 64. ® Für das Bewußtsein entsteht ein geschichtlicher Prozeß innerhalb der Geschichte der Welt selbst, in dem es angesichts der jeweiligen Individualisierung des Gegensatzes sein Verhältnis zur Welt prüft und sich darauf richtet, seine Täuschung zu überwinden und die wahre Struktur der Welt zu erkennen. Dazu weist Meist darauf hin, daß Hegel hier schon die später der Phänomenologie von 1807 zugrundegqlegte „Geschichte des Bewußtseins“ als „einen anderen geschichtlichen Prozeß“ vorwegnimmt (op. cit. 70). Hierin kann man die Grundlage für die Problematik der „Erfahrung des Bewußtseins“ (s. 3.2.2.1. und 3.2.2.2.) sehen. Über die Bedeutung der Individualisierung und deren Voilziehung durch das Bewußtsein vgl. M. Baum und K. R. Meist: op. cit. 63.
Die frühe Jenaer Enwicklung im Umriß
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Stall suchen, und eine neue Organisation sich geben“. Gerade in diesem
Übergang von der Entgegensetzung zu einer neuen Gestalt befindet sich die Philosophie.^ Man könnte erwarten, daß hier von dem „Bedürfnis der Philosophie“ im Sinne der Vernunft gesprochen wird. Statt dessen wird aber nur der Charakter der Philosophie als Gestalt des Lebens dargestellt. Die gezielte Versöhnung läßt sich in der Gestalt der Philosophie finden, die die Struktur des Lebens in der Form des Erkennens artikuliert. Was die Philosophie von anderen Gestalten des Lebens unterscheidet, besteht darin, daß „sie nicht gegen einzelne Formen, einzelne Bestimmtheiten gerichtet ist, sondern die Bestimmtheiten in ihrer absoluten Abstraction aufgefaßt“, und daß deshalb „die Gestalt welche in ihr sich das Leben gibt,... die absolut freye, im Elemente des Erkennens“ ist. Dieses Verhalten der Philosophie, das sich auf die Erkenntnis richtet®, entspricht wohl dem des „Verstehens dessen, was ist“ (in den Reinschriftfragmenten der Verfassungs-Schrift), das mit der Veränderung der Auffassung der von uns behandelten Termini zusammenhängt (s. 3.1.2.2.). Durch die Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem Bewußtsein und der Welt im Erkennen, d. h. in der philosophischen Gestalt des Lebens kann das „Bedürfnis der Philosophie“, das aus dem Erwachen des Bewußtseins stammt, befriedigt werden.® Daß dieses Bedürfnis nur auf das Bewußtsein bezogen ist, versteht sich einerseits von daher, daß es nur um die Tatsache seiner Entstehung in einer besonderen Form des subjektiven Philosophierens geht, was ausschließlich mit seiner verständigen Bedeutung zu tun hat. Andererseits erhellt dies daraus, daß die Überzeugung Hegels, die Aufgabe der Philosophie gelöst zu haben, ihn veranlaßt, die spekulative Bedeutung des „Bedürfnisses der Philosophie“ nicht so stark wie früher zu betonen. Letzteres hängt mit dem obengenannten Verhalten der Philosophie zusammen. 7 In der geschichtlichen Situation besteht der Grund der Rechtfertigung der Philosophie. Dazu vgl. M. Baum und K. R. Meist: op. dt. 58 ff, 64 f; K. R. Meist: op. cit. 62, 67. ® Zum Charakter der Philosophie als Erkenntnis vgl. M. Baum und K. R. Meist: op. cit. 81; K R. Meist: op. cit. 63 f. ^ Über die Befriedigung des „Bedürfnisses der Philosophie“ durch die systematische Erkenntnis vgl. M. Baum und K. R. Meist: op. cit. 65; K. R. Meist: op. cit. 65. Harris interpretiert, daß „the aether of cognition“ zum Bedürfnis der Philosophie wird. Bei seiner Interpretation bleibt allerdings unklar, welche methodische Bedeutung im Hinblick auf den Unterschied von Vernunft bzw. Spekulation und Verstand bzw. Reflexion Hegels Auffassung vom „Bedürfnis der Philosophie“ in seiner Systemkonzeption hat. Obiges ist der Fall, wenn Harris die Umwandlung der Auffassung Hegels vom „need of society“ (1801) zum „need of the individual“ (1803) behauptet. In bezug auf diese Umwandlung weist Harris darauf hin, daß das Bedürfnis als etwas Individuelles mit demjenigen in der Darstellung des Systems der Sittlichkeit zusammenhängt. Dabei wird die methodische Bedeutung des Triebes bzw. Strebens, die den einzelnen Bestimmungen wie dem individuellen Bedürfnis zugrunde liegt, nicht zur Kenntnis genommen. Vgl. ders.: Hegel’s development. Night thoughts (Jena 1801—1806). 224, 231 note; 232; 202 f.
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Im „reinen durchsichtigen Äther“ oder dem Erkennen, das „sich unendlich in sich gestaltet“, wird die immanente Selbstentwicklung der Bestimmtheiten artikuliert, bei der es auf die systematische Befriedigung des spekulativen „Bedürfnisses der Philosophie“ ankommt. Insofern die Philosophie eine Gestalt des Lebens ist, ist sie als dessen Selbsterkenntnis zu konstruieren. Diese Konstruktion soll das spekulative „Bedürfnis der Philosophie“ als die Bewegung des Lebens befriedigen. Da sie prinzipiell ermöglicht wird, erübrigt es sich wohl, die spekulative Bedeutung dieses Bedürfnisses zu betonen. Vielmehr kann diese Betonung durch die systematische Erkenntnis als solche ersetzt werden. Die Voraussetzung, hinsichtlich der Problematik dieses Bedürfnisses, die Selbstentwicklung der Bestimmtheiten selbst systematisch zu organisieren, wird damit geschaffen. Wie dies ausgeführt wird, muß im Rahmen der Entwicklungsgeschichte der späten Jenaer Zeit untersucht werden. 3.2. ANNÄHERUNG AN EINE SPEKULATIVE AUFFASSUNG DER TERMINI
3.2.1. Versuch der Grundlegung der Termini in den Jenaer Systementwürfen
3.2.1.1. Der „Trieb“ der Idee in einer organischen und teleologischen Bedeutung Wie allgemein anerkannt*, entsteht Hegels Subjektivitätstheorie in seiner Jenaer Zeit. Diese Theorie hat m. E. einen wesentlichen Ausdruck in der Auffassung des „Triebes der Idee“, deren vollendete Beschreibung sich in der Ideenlehre der Wissenschaft der Logik befindet. Es soll untersucht werden, wie die Auffassung des „Triebes der Idee“ im Zusammenhang mit dem Übergang des Hegelschen Standpunktes von einem Spinozismus der frühen Jenaer Zeit zu einer Subjektivitätstheorie der späten Jenaer Zeit entwickelt wird.2 Erst in den Jenaer Systementwürfen I tritt der Trieb der Idee auf, die als eine spinozistische Bestimmung der „absoluten Substanz“ {GW 6.268) bezeichnet wird. Auf der Grundlage der absoluten Substanz wird jede Be' Nach Düsing verließ Hegel mit der Konzeption einer „Metaphysik der Subjektivität“ in den Systementwürfen II (1804/05) den spinozistischen Ansatz einer Substanz-Metaphysik (Das Problem der Subjektivität.... 192). 2 Über die Denkentwicklung im allgemeinen vgl. W. Bonsiepen: Der Begriff der Negativität 104 f; R. P. Horstmann: fenaerSystemkonzeptionen. In: Hegel. Hrsg, von O. Pöggeler. 49.
Annäherung an eine spekulative Auffassung der Termini
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stimmtheit schon in der Dimension des reinen „Äthers“ (ebd.) betrachtet, wie es in einem Vorlesungsmanuskript 1803 (Fragment 4) entwickelt wurde (s. 3.1.2.3.). Diese Bestimmtheit ist nämlich als ein Glied der Selbstentwicklung der Bestimmtheiten anzusehen.^ Da hier der Trieb der Idee nur in einer Bestimmtheit des Organismus vorkommt, wie im folgenden gezeigt wird, kann nicht unterstellt werden, daß diese Art des Triebes schon eine grundlegende Stellung in der Darstellung des Systems erreicht hat. Die betreffende Auffassung besteht also nur in der Übergangsphase von einem Spinozismus zu einer Subjektivitätstheorie und ist deshalb entwicklungsgeschichtlich noch nicht als der Ausdruck dieser Theorie selbst zu bezeichnen, welcher als der „Trieb der Idee“ erst in der Nürnberger Zeit nach dem Anschluß der Ideenlehre an die Begriffslehre ein Zeichen der Abrundung der Subjektivitätstheorie ist (s. 4.1.2.). Sie ist allerdings schon ein Zeichen einer neuen Phase, in der Hegel über den Spinozismus der frühen Jenaer Zeit hinauszugehen versucht. Dieser Versuch liegt darin, daß der Trieb der Idee mit den Bestimmungen der Tätigkeit und der Passivität verbunden wird, wobei es sich um einen Unterschied innerhalb der Identität der absoluten Substanz handelt. Der Trieb der Idee kommt hier in einem gleichsam organologischen Sinne vor. Der genannte Unterschied wird nämlich als der der beiden Geschlechter betrachtet, einerseits das weibliche als das passive, andererseits das männliche als das tätige: „Die Idee selbst ist ihre absolute Einheit; die Idee existirt nur als unendlich als sich selbst ein anderes seyend, als Individualität. Das Individuum ist die Idee und es existirt nur als Idee, in dem Individuum ist daher der Widerspruch diese Idee zu seyn; und zugleiich nur ein anderes zu seyn als diese Idee, es ist absoluter Trieb“ (GW 6.185). Dieser Trieb ist nicht nur etwas, das in der Beziehung des Tätigen auf das Passive erscheint, sondern auch etwas, das die Existenz des Individuums selbst als Widerspruch ausdrückt. Der Trieb des Individuums hört auf zu sein, wenn die Individuen in der Berührung der beiden Geschlechter zu sein aufhören (ebd.). Insofern scheint der betreffende Terminus noch im abzulehnenden Sinne wie in der frühen Jenaer Zeit gebraucht zu werden. Er scheint nämlich der Idee als der absoluten Einheit der beiden Geschlechter entgegengesetzt zu sein. Der Trieb als Widerspruch ist mehr als derjenige, der als eines der Vermögen neben Neigung, Leidenschaft usw. erwähnt wird (s. GW 6.272). Der letztere Trieb bleibt methodisch wohl unverändert wie in der frühen Jenaer Zeit, wenn er nur die Seite des Subjekts ausdrückt und von der Einheit von Subjekt und Objekt abstrahiert wird (vgl. auch GW 6.290). Beim ersteren Trieb handelt es sich dagegen darum. 3 Kimmerle kommentiert den Unterschied zwischen dem System der Sittlichkeit und den Systementwürfen I in der Weise, daß hier die Differenzen nicht mit Hilfe von Begriffen des subjektiven Erkennens (Anschauung und Begriff) deduziert werden, sondern die Sache selber als Prozeß gedacht wird (Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 70).
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daß er als Widerspruch das Individuum zu einer neuen Form der Einheit oder der Idee führt, in der Weise, daß ein neues Individuum, d. h. Kind, erzeugt wird (s. GW6.186). Dabei ist festzustellen, daß der Widerspruch nicht die Sache einer bloßen Reflexion, sondern das immanente Prinzip des Individuums selbst ist, das sich auf die Einheit der beiden Geschlechter gründet. Der Gegensatz zur Auffassung des Terminus Trieb in der frühen Jenaer Zeit fällt so auf, daß aufgrund der neuen Art dieser Terminus nicht im bisherigen methodisch abzulehnenden, nämlich verständigen Sinne, sondern in einem anderen, eher spekulativen Sinne erscheint.'* Im Hinblick auf die Auffassung des Organismus fängt hier also die Entwicklung der Subjektivitätstheorie an, insofern die Idee mit der neuen Art des Triebes zusammenhängend über die Identität der absoluten Substanz hinausgeht. Es bleibt aber noch offen, wie der betreffende Unterschied als derjenige der absoluten Substanz begriffen werden kann. Um dies klar zu machen, ist es nötig, die allgemeine logische Struktur der beiden Bestimmungen, d. h. des Tätigen und des Passiven, zu untersuchen. Diese Struktur soll in der Darstellung der Jenaer Systementzvürfe II aufgesucht werden. Der Unterschied der Tätigkeit und der Passivität innerhalb der absoluten Substanz wird dort als die Bestimmungen des „absoluten Geistes“ dargestellt: „Der absolute Geist, ist die einfache oder sich auf sich selbst beziehende Unendlichkeit. Dieses einfache Wesen ist als unendlich unmittelbar das Andre, oder das Gegentheil seiner selbst; es ist als einfaches, sich auf sich selbst beziehendes bestimmt, es ist das passive, und das sich selbstgleiche tritt diesem seinem Andern gegenüber. Das sichselbstgleiche ist ein Anderes, ist, daß es als ein sich auf anderes beziehendes sich setzt, und diß andere ist es, als jenes erste, als sich selbstgleich. Aber diß andre, oder passive ist unendlich, das Gegentheil seiner selbst, es ist das im Andern seyende; ebenso das thätige ist das Gegentheil selbst, es ist das im selbstgleichseyende.“ (GW7.174) Hier läßt sich eine Verallgemeinerung von der organologischen zur spekulativen Bestimmung sehen. Sie wird durch die Auffassung des „Gegenteils seiner selbst“ ermöglicht, in der die allgemeine Struktur der beiden Bestimmungen des obengenannten Unterschiedes begriffen wird. Dabei handelt es sich um den Zusammenhang zwischen dem Sichselbstgleichen bzw. Sich-auf-sich-Beziehenden und dem Anderen, der in der Sphäre des Individuums bzw. Einzelnen zu betrachten ist. In diesem Zusammenhang wird der Unterschied der Tätigkeit und der Passivität aufgehoben, insofern die beiden Bestimmungen, eine gemeinsame Struktur habend, reziprok miteinander verbunden sind. Jedes Einzelne ist als ein Widersprüchliches anzusehen, in dem der Widerspruch zwischen der Sich* In dem Trieb betrachtet Haering eine primitivste Art der Vereinigung mit dem Allgemeinen, nämlich einen Zustand, in welchem eine zwischen Subjekt und Objekt vorhandene Spannung zur Überwindung in ein und demselben Allgemeinen drängt (Hegel. 2.423). Bei ihm ist allerdings von dem Trieb der Idee nicht die Rede.
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Selbstgleichheit (Identität) der absoluten Substanz und dem Amderen (Unterschied bei der Tätigkeit und der Passivität) immanent enthalten ist. Wenn der Terminus Leben auch nicht wörtlich im Vordergrund steht, kommt es doch auf ein und dieselbe Struktur wie bei der organologischen Problematik an, so daß von der Selbsterhaltung und Gattung gesprochen wird. In dieser Struktur wird die Beziehung des Einzelnen als des praktischen Ich auf die Gattung dargestellt; „das praktische Ich sich selbsterhaltend bezieht sich nicht mehr auf sich als auf ein singuläres, sondern auf sich selbst als Gattung. Es erhält sich als das was es sich gefunden hat; als Allgemeines. Das was es negirt, um sich zu erhalten, ist es selbst als singuläres; und seine Singularität ist in der Allgemeinheit verschwunden. Es ist nur eine Täuschung, indem es praktisch seyn wollte, sich gegen eine Bestimmtheit zu kehren, denn diß, wogegen es sich kehrt, ist es selbst, und es selbst, ist wie es sich gefunden einfache Unendlichkeit; das wogegen es sich kehrt ist das einfachseyn selbst, oder das Nichts, das sich auf sich selbstbeziehen, das passive.“ (GW7.172) Hier zeigt sich wieder ein und dieselbe Problematik, die in einem Vorlesungsmanuskript 1805 behandelt wurde, in dem das Verhalten des reinen Ich zur Welt als eine Täuschung erklärt und abgelehnt wird (s. 3.1.2.3.).5 Durch die Kritik an der Täuschung wird die wahre Stellung der Tätigkeit des Einzelnen festgestellt; in den Prozeß der Gattung wird diese Tätigkeit eingegliedert; die Passivität ist nichts anderes als der Prozeß der Gattung, der die Tätigkeit als sein Glied enthält. Die Singularität der Tätigkeit macht nur eine Phase des ganzen Prozesses aus und ist deshalb in der Allgemeinheit aufgehoben. Die ganze Struktur ist jedem Einzelnen immanent, was in der obengenannten organologischen Problematik als nichts anderes als die Idee aufgefaßt wird. Während dort aufgrund des Charakters der Idee das Einzelne den Widerspruch hat und deshalb als Trieb wirksam ist, erscheint hier der Terminus Trieb allerdings nicht. Hier wird aber eine weitere Phase der Entwicklungsgeschichte gezeigt, insofern die Grundlage geschaffen wird, den Unterschied zwischen der Tätigkeit und der Passivität aufzuheben. Was den einschlägigen Terminus angeht, kommt er zwar nicht vor, aber der Sache nach ist man dem Punkt sehr nahe, in dem eine Bewegung des Einzelnen mit ihm ausgedrückt wird. Jedes Einzelne wird hier nämlich auch als Monade dargestellt, was offensichtlich Hegels Rezeption von LEIBNIZ aufzeigt; der Trieb drückt bei LEIBNIZ die Bewegung der Monade aus, damit die Bewegung innerhalb der absoluten Substanz geklärt wird. Dieser Punkt kann für Hegel erst in der Nürnberger Zeit erreicht werden (s. 4.1.4.). Hier wird der Sachverhalt ohne den Terminus Trieb beschrieben: „Die Selbst5 über den Unterschied des Hegelschen Begriffs „praktisches Ich“ von dem Kantischen „praktische Vernunft“ oder von dem Fichteschen „praktisches Ich“ vgl. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität, 194.
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erhaltung der Monade ist ihr Negiren eines andern, dieses andere ist wie sie ein Erkennen, und ihr negiren wird in diesem andern Erkennen ebenso ein aufgehobenes. Ihr Selbsterhalten hebt sich für sie selbst [auf], indem ihr Negiren des andern sich aufhebt; und das Negiren des andern hebt sich auf, diß ist, das andere wird für die Monade, sie selbst; das Negative ist nicht das Negiren eines andern, sondern das Negiren ihrer selbst als eines wesentlich einzelnen“ {GW 1.169, Ergänzung der Herausgeber). Die Bewegung der Monade, ein Anderes zu negieren, um sich zu erhalten, ist nichts anderes als das Negieren ihrer selbst. Die Einzelnen bewegen sich in dieser Weise reziprok. Hiermit wird die Bewegung oder der Unterschied innerhalb der absoluten Substanz artikuliert. Daß dabei der Terminus Trieb nicht vorkommt, bedeutet wohl, daß der Trieb der Idee noch nicht als das grundlegende Prinzip der Substanz festgelegt ist. Der die Einzelnen vermittelnde Trieb tritt erst in den Jenaer Systementwürfen III auf, in denen der Schluß so thematisiert wird, daß er sich durch den Trieb realisiert. Ein Beispiel dieses Triebes ist zunächst im Arbeitsprozeß gegeben®; der Schluß enthält drei Momente, (1) das Allgemeine als Zweck, (2) das Einzelne als Tätigkeit und (3) der Trieb als die Mitte dieser beiden: „er ist das Zweyseitige, das den Inhalt hat, Allgemeines, der Zweck ist, und das thätige Selbst desselben; jenes Grund, diß die Form.“ (GW8.202) In einem teleologischen Schluß wird also die Beziehung des Einzelnen auf das Allgemeine mit dem Trieb ausgedrückt. Da aber hier der Schluß noch in einer gleichsam einzelnen Form dieser Beziehung oder nur von der Seite eines einzelnen Subjekts betrachtet wird, muß er in der intersubjektiven Dimension gesucht werden, in der er wohl dem schon mit der Monade geschilderten Sachverhalt entspricht. Der betreffende Schluß findet sich als das Prinzip der „Constitution“, in der der Terminus Trieb allerdings nur in Verbform auftritt: „Die allgemeine Form ist diß Werden des einzelnen zum Allgemeinen, und Werden des Allgemeinen; — aber es ist nicht eine blinde Nothwendigkeit, sondern durchs Wissen vermittelte; oder jeder ist sich selbst Zweck dabey, d. h. der Zweck ist schon das bewegende; — es ist unmittelbar jeder einzelne sich die Ursache, sein Interesse treibt ihn, aber ebenso ist das Allgemeine ihm das gültige, die Mitte, welche ihn zusammenschließt mit seinem besondern und seiner Wirklichkeit.“ {GW8.255) Hier handelt es sich um ein und dieselbe Struktur, die als die Bewegung der Monade dargestellt wurde, in der Weise, daß der Gegensatz unter den Einzelnen im Prozeß der Gattung gelöst wird. Damit zeigt sich, daß der Trieb der Idee seinen Wirkungsbereich in dem teleologischen Schluß findet, und daß die frühere Auffassung der ® H. Schmitz macht auf den Trieb als Mitte eines Schlusses aufmerksam (Hegel als Denker der Individualität. 136). Über die Bedeutung des Mitte-Begriffs für die Methode vgl. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität, 148.
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absoluten Substanz in eine neue umgewandelt wird. Auf der Grundlage der neuen Auffassung läßt sich die Bewegung des Einzelnen und Allgemeinen wohl wie folgt schildern. Der Prozeß in der Dimension der Idee kann durch die gegenseitige Bestimmung des Einzelnen und des Allgemeinen im besonderen Trieb vorgestellt werden. Wenn das Einzelne seinen Trieb in Verbindung mit dem Allgemeinen setzt, realisiert es den Schluß. In dieser Realisierung ist es sich des ganzen Verfahrens bewußt, insofern es die ganze Bewegung zum Gegenstand hat, und gliedert sich zugleich in diese Bewegung ein. Vom Allgemeinen her gesehen, bestimmt es das Einzelne, um sich in den Schluß zu setzen. In dieser Bestimmung sucht das Einzelne zunächst die Befriedigung seines Triebes auf, ohne zu wissen, daß das Allgemeine unabhängig von ihm wirksam ist. Vor der Realisierung des Schlusses muß es aber innerhalb des Triebes eine Bestimmung durch das Allgemeine geben. Das Allgemeine wird vom Trieb des Einzelnen in die Bewegung gebracht. Dabei bekommt das Einzelne eine allgemeine Bedeutung, insofern es durch seinen Trieb die Bewegung seiner Einheit mit dem Allgemeinen in Gang setzt. Hier betätigt sich die Idee in der Weise, daß ihr Trieb dadurch als Einzelnes = Allgemeines bezeichnet wird, daß der besondere Trieb des Einzelnen die beiden Extreme, d. h. das Einzelne und das Allgemeine zusammenschließt. Der Trieb in der neuen Auffassung hat also einen widersprüchlichen Charakter, nämlich einerseits den Charakter der Einzelheit, andererseits aber zugleich den der Allgemeinheit. Diese Skizze ist nur eine mögliche Darstellung aufgrund einiger realphilosophischen Bestimmungen, aus denen eine logische Struktur des Triebes der Idee herausgestellt werden kann. Das Auftreten des Triebes als eine realphilosophische Bestimmung, vor allem als Mitte des Schlusses, hat für sich eine besondere Bedeutung. Dabei zeigt sich nämlich, daß die Wirksamkeit der Vernunft selbst, die bisher den realphilosophischen Bestimmungen zugrundeliegend geheim bleibt, explizite erscheint und also offen gelegt wird. In den realphilosophischen Bestimmungen selbst wird dann der Grund ihrer Selbstentwicklung aufgezeigt, der der Sache immanent ist und keine geheime Wirksamkeit mehr braucht. Daraus ergibt sich, daß die absolute Substanz nicht mehr wie früher statisch bleibt, sondern sich als Subjekt in der Selbstentwicklung der endlichen Bestimmtheiten überhaupt betätigt. Diese neue Auffassung ist nichts anderes als die, die in der Phänomenologie des Geistes als der Standpunkt der Wissenschaft geäußert wird, worauf wir später eingehen werden (s. 3.2.2.I.). In dieser Substanz = Subjekt-Theorie läßt sich erkennen, daß Hegels Subjektivitätstheorie festgelegt ist. Mit diesem Umstand zusammenhängend wäre zu erwarten, daß die von uns behandelten Termini, die bisher in der zweifachen Bedeutung betrachtet wurden, neu formuliert würden. Sie hören nämlich auf, ihren verständigen und vernünftigen Sinn bloß nebeneinander zu stellen. Oder, ihr ver-
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nünftiger Sinn setzt sich dem verständigen nicht mehr entgegen, sondern enthält den letzteren als ein Moment seiner Entwicklung. Nennt man diese neue Art der Termini eine spekulative, so ist die Spekulation hier dadurch gekennzeichnet, daß sie der Reflexion nicht mehr gegenübersteht, sondern der Veränderung der Bedeutung der Vernunft entsprechend die Reflexion als ein Moment ihrer Entwicklung enthält. Der Ausdruck für die der neuen Auffassung entsprechenden Termini ist aber in diesem Zeitraum noch nicht gefunden. Der Terminus Bestreben tritt z. B. in einem methodisch abzulehnenden Sinne wie bisher auf. Er drückt nämlich die schlechte Unendlichkeit aus (s. GW 7.29). Auch das Bedürfnis zeigt die Notwendigkeit der Größeunterscheidung in der Mathematik an (s. GW 1 .VI, 20). Allerdings bereitet die Artikulation in den realphilosophischen Bereichen eine Annäherung an ein Spekulativwerden der Termini vor. 3.2.1.2. Realphilosophische Artikulation der Termini In der realphilosophischen Artikulation der von uns behandelten Termini i ist der Unterschied zwischen den naturphilosophischen und den geistesphilosophischen Formen von Bedeutung. Die naturphilosophische Artikulation tritt ausnahmsweise auch im unorganischen Bereich auf wie das Bestreben, die Entgegensetzung der Linienrichtungen aufzuheben, in der Mechanik (s. GW 6.31; vgl. auch GW 8.29) oder der „Verbindungstrieb“ von Kali und Säure im chemischen Verhältnis (s. GW1.61). Hauptsächlich geht es aber um das Organische, wie einige Beispiele des Triebes zeigen (s. 3.2.1.1. Zitataus G1V6.185; vgl. auch GVE6.176, 186, 198, 251; GW8.182). Hier wird, wie gezeigt, eine mögliche Form des Triebes der Idee artikuliert. Im Hinblick auf den Unterschied zwischen den naturphilosophischen und den geistesphilosophischen Formen soll der Unterschied zwischen der animalischen bzw. tierischen und der menschlichen Begierde behandelt werden, der erst in diesem Zeitraum entstanden ist. Dazu muß erwähnt werden, welche Einflüsse der damaligen Naturwissenschaft (und Naturphilosophie) sich in Hegels eigener Naturphilosophie nachweisen lassen.^ Beim Terminus Begierde ist dies besonders wichtig, weil die Begierde im Übergang von der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes eingeordnet ist, in dem die Priorität des Geistes über die Natur bewiesen werden muß. Die Begierde ist ihrer systematischen Stellung nach konstitutiv für Hegels Auffassung über die Natur des Menschen. Der Mensch bildet sich auf ' über die Systematik und Methodik im allgemeinen, vor allem bei der Philosophie des Geistes, vgl. G. Göhler: Dialektik und Politik ... In: FpS 337 ff; A. Wildt: Autonomie und Anerkennung. 325 ff. 2 Vgl. G. Lukäcs: Der junge Hegel. 15.
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der Grundlage der Natur gesellschaftlich. Dabei handelt es sich um den Ursprung der Gesellchaft, in der die Begierde menschlich wird. Es muß deshalb geklärt werden, wie Hegel den Terminus Begierde verwendet. Zu bemerken ist, daß bei Hegel die Begierde in der Naturphilosophie mit der menschlichen Begierde zusammenhängt. Gemäß der systematischen Konzeption Hegels folgt der Philosophie der Natur die Philosophie des Geistes, wobei die Begierde in beide Bereiche kontinuierlich eingebaut wird. Hegels Auffassung über das animalische Leben setzt die Theorien der damaligen Naturphilosophie wie etwa der SCHELLINGS voraus. SCHELLING spricht vom Bedürfnis bei den Tieren, allerdings nicht von der Begierde, sondern vom Appetit: „Je mehr Reizbarkeit in einem lebenden Wesen, desto mehr Bedürfniß der Nahrung. Ein Thier, das viele Bewegung hat, hat viel Appetit, und bleibt dabei mager.“ {Von der Weltseele. AW 1.595) Es ist wohl ein Allgemeingut in Hegels Zeit, daß das Bedürfnis der Existenz der Tiere zugrunde liegt. (Bei Hegel erscheint aber das Bedürfnis im animalischen Sinne erst in der Nürnberger Zeit; s. 4.1.2.) Hegel drückt mit dem Terminus Begierde das Verhalten aus, ein Bedürfnis zu befriedigen. Die Auffassung der Begierde beim Tier ist derart spezifisch hegelisch, daß diese Begierde mit der menschlichen zusammenhängt, die Hegel schon im System der Sittlichkeit hehandeMe (s. 3.1.2.2.). Die Begierde ist die Spannung als solche zwischen dem Organischen und dem Unorganischen und erscheint als das Vernichten des Unorganischen durch das Organische bzw. das Tier: „Das organische das sich so aufhält in dem Vernichten, in seiner Spannung besteht, und so daß es als diese Spannung zugleich organisch unorganisch, oder daß das zu vernichtende aber als ein noch bestehendes in ihm ist; ist es Begierde; sie ist Empfindung als allgemeines und das Thier ist diß allgemeine; es in ihr selbst beydes, es als thätiges organisches und das unorganische als zu vernichtend; nichts als ein aüsseres; sondern diese Trennung ist in dem Thiere selbst“ (GW6.241). In der Begierde zeigt sich also die Spannung als die Beziehung des Organischen auf das Unorganische. Die Begierde ist dem Wesen nach zweiseitig, insofern sie gleichzeitig die beiden Seiten der Beziehung enthält. Sie drückt die Existenz des Tiers aus. Das Tier findet sich nämlich in der Spannung mit seiner unorganischen Natur. Ohne die Beziehung auf sie kann es sich nicht erhalten. Der Lebensprozeß des Organischen besteht also im steten Kampf mit der Umwelt. Dieser Prozeß fängt mit der Begierde an. Hierist derTerminus Bedürfnis zwar nichtvorhanden. Esgehtaberum ein und denselben Sachverhalt, in dem sich irgendein Mangel findet: „Es ist ein Selbstgefühl, — daß was fehlt, es selbst ist; ein innerer Mangel, Hunger, Durst“ (GW8.169).Ein konkretes Bedürfnis wie Hunger und Durst wird also durch den Einsatz der Begierde befriedigt. Das Tier erhält sich also erst durch die Befriedigung seiner Begierde. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß diese Befriedigung nur „eine
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Succession auf das vereinzeln“ {GW6.242) und deshalb mit der Einzelheit behaftet ist. Als das organische Individuum macht das Tier sich allerdings zur Gattung, dadurch, daß es im Verhältnis mit einem anderen, nämlich im Geschlechtsverhältnis seine Begierde befriedigt (s. GW6.243). Es ist zwar ein einzelnes, aber zugleich Gattung. Das Tier findet dann das Allgemeine als Gattung in einem anderen als ihm selbst, nämlich im Kind; „es als die befriedigte Begierde, daß es zur Gattung geworden ist, sein Seyn als Gattung stellt sich ihm als ein andres alsesselbstist, dar; im erkennen des Kinds ist das Thier sich gewordne Gattung“ (ebd.). Es entwickelt sich damit als Gattung. Dieses Allgemeine, das im Prozeß der Gattung gezeigt wird, ist aber wieder nichts anderes als „eine Menge von Einzelnen“ (ebd.) und deshalb etwas Einzelnes. Das natürliche Leben ist zwar auf der Grundlage des Wechsels von Leben und Tod der Individuen als Gattung unendlich, aber seines eigenen Charakters als Gattung nicht bewußt und bleibt deshalb an sich. Aus dieser Darstellung ergibt sich, daß die Begierde im natürlichen Lebensprozeß einzeln bleibt, aber in ihm unentbehrlich ist. Dies deutet auf die Stellung der Begierde im Menschen hin. Im folgenden soll der Unterschied zwischen der animalischen und menschlichen Begierde erörtert werden. In den Systementzvürfen I sieht Hegel den betreffenden Unterschied darin, ob das Aufheben des Unorganischen durch die Begierde ideell ist oder nicht. Die Idealität bei der menschlichen Begierde ist nämlich der Grund für die Menschlichkeit im naturwüchsigen Bereich und bezieht sich auf das Bewußtsein: „Die animalische Begierde ist ein thierisches Bewußtseyn in welchem sich das Vernichten hemmt, und die Glieder des Gegensatzes nur als aufzuhebende gesetzt sind; ... das wirklich werden des Aufhebens, die Stillung der Begierde ist ein unmittelbares aufgehobenwerden ohne alle Idealität, ohne Bewußtseyn; die menschliche Begierde muß im Aufhebenselbst ideell, aufgehoben seyn,... die praktische Beziehung ist eine Beziehung des Bewußtseyns, d. h. die Einfachheit des Vernichten muß in ihrer Einfachheit selbst auseinander gehen, ein in sich gehemmtes und entgegengesetztes seyn ... in diesem Aufheben selbst Bewußtseyn eine Idealität des Aufhebens seyn.“ (GIV6.299f) Mit der Idealität ist ein Verfahren gemeint, durch die Arbeit über die Unmittelbarkeit der animalischen Begierde hinauszugehen.^ Dies ist die Fähigkeit des Menschen, der die Natur als das Ganze zu seinem Gegenstand hat. Diese Auffassung bleibt unverändert bis zur Berliner Zeit. Hegel betrachtet nämlich im Hinblick auf die ein5 über die Bedeutung der „Beziehung des Bewußtseins“ bei der durch die Arbeit gehemmten Begierde vgl. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 219f. R.-P. Horstmann charakterisiert den Bewußtseinsbegriff als exklusives Kennzeichen des (sittlichen) Geistes, der dadurch sich von der Natur unterscheiden soll {Jenaer Systemhonzeptionen. 57).
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schlägige Fähigkeit des Menschen den Unterschied zwischen dem Tier und dem Menschen mit dem Terminus Trieb gleichermaßen: „Der Trieb im besonderen Tiere ist ein ganz bestimmter Trieb; jedes Tier hat nur einen beschränkten Kreis zu seiner eigenen unorganischen Natur, die allen für es ist und die es sich aus vielem, und zwar vermöge des Instinkts, heraussuchen muß Der Mensch, als das allgemeine, denkende Tier, hat einen viel ausgedehnteren Kreis und macht sich alle Gegenstände zu seiner unorganischen Natur, auch für sein Wissen.“ (3. Enz. § 361 Zus., TW 9.474 f) Hier findet sich offensichtlich ein und dieselbe Auffassung über den Unterschied der beiden, die gerade mit den von uns behandelten Termini ausgedrückt wird. Auf jeden Fall unterscheidet Hegel also schon 1803/04 die menschliche Begierde von der animalischen deutlich. Auf der Grundlage dieses Unterschiedes werden weitere menschliche Phänomene dargestellt. Während die menschliche Begierde bei der Arbeit vor allem im Verhältnis von Mensch und Natur beobachtet wird, erscheint sie hinsichtlich der Liebe auch im zwischenmenschlichen Verhältnis. Die Liebe wird aufgrund des menschlichen Charakters der menschlichen Begierde abgeleitet. Die Arbeit, die die Idealität ermöglicht, macht nämlich die Begierde menschlich und läßt daraus die Liebe entstehen. Es geht um die Beziehung der beiden Geschlecher: „Die Begierde, befreyt sich so von der Beziehung auf den Genuß, sie wird zu einem unmittelbaren Einsseyn beyder in dem absoluten für sich seyn beyder oder sie wird Liebe; und der Genuß ist in diesem Anschauen seiner selbst in dem Seyn des andern Bewußtseyns.“ (GW 6.302) Die Begierde wird durch die Arbeit von der Beziehung auf den Genuß befreit. Dabei befreit sie zugleich ihren Gegenstand von dieser Beziehung, dadurch daß es gehemmt wird, im Genuß den Gegenstand zu vernichten. Der befreite Gegenstand erscheint als selbständiger und bewußter. Dann wird die Begierde zur Liebe. Die beiden sind zu unterscheiden, obwohl die Liebe von der Begierde abgeleitet wird. Die Begierde ist nämlich schon nicht mehr passend für das zwischenmenschliche Verhältnis geworden, weil die beiden Geschlechter für sich sind: „Die Begierde hemmt sich hier nothwlendigl ebenso, das Weib wird dem Manne, zu einem für sich seyenden; es hört auf ein Gegenstand seiner Begierde zu seyn“ (GW6.301, Ergänzung von Herausgebern). Stehen die beiden im Verhältnis von Subjekt und Objekt wie im Verhältnis von Mensch und Natur, ist allerdings die Begierde auch im zwischenmenschlichen Verhältnis vorhanden, wie Hegel an einer Stelle notiert, in der der Terminus Begierde in diesem Verhältnis ohne Zusammenhang mit der Liebe gebraucht wird (s. Hegel’s Wastebook. TW 2.565). Im Vergleich zur Liebe geht es der Begierde darum, ob sie zur Verallgemeinerung des Individuums fähig ist. Diese Fähigkeit wird hier bezweifelt. Wenn es die Begierde also auch im zwischenmenschlichen Verhältnis gibt, so steht sie doch noch im
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Verhältnis von Subjekt und Objekt wie im Verhältnis von Mensch und Natur. In den Systementwürfen III wird weiter darauf verzichtet, auch im Verhältnis von Mensch und Natur den Terminus Begierde zu gebrauchen, und versucht, ihn durch den Terminus Trieb deswegen zu ersetzen, weil die Begierde als tierisch zu bezeichnen ist: „die Befriedigung ist [die] des Triebs, nicht der Begierde, diese ist thierisch... die Vereinigung ist... das ebenso reine Verschwinden. Aber hier ... was Ich ist, als Ganzes ist der Trieb; diesen trennt es ab, und macht ihn sich zum Gegenstände... was verschwindet, ist die reine Form der Gleichgültigkeit der Extreme des Triebs“ (GW8.203 f, Ergänzung von Herausgebern). Hier wird der Unterschied von Mensch und Tier deutlich entsprechend dem von Trieb und Begierde ausgedrückt. Im Gegensatz zum Tier, das mit seiner Begierde im unmittelbaren Verhältnis zur Umwelt steht, kann nämlich der Mensch sich mit seinem Trieb von diesem Verhältnis abtrennen und sich zum Gegenstand machen. Dabei handelt es sich um nichts anderes als den teleologischen Schluß in der Arbeit, welcher im Hinblick auf die Artikulation der von uns behandelten Termini eine neue Auffassung ausdrückt (s. 3.2.1.1.). Begierde und Trieb unterscheiden sich voneinander also im Zusammenhang mit der Arbeit; „Arbeit ist das disseitige sich zum Dinge machen, die Entzweyung des Tri ebseyenden Ich ist ebendiß sich zum Gegenstände machen — (Begierde muß immer von vorne anfangen, sie kommt nicht dazu die Arbeit von sich abzutrennen) der Trieb aber ist Einheit des Ich als zum Dinge gemachten.“ (GVE8.205) Hiermit ist festgestellt, daß der Trieb einen höheren Stellenwert als die Begierde im Verhalten des Subjekts hat.“* Im Hinblick auf die Konnotation des Terminus Begierde ist allerdings entwicklungsgeschichtlich bemerkenswert, daß in der Phänomenologie des Geistes im auffälligen Gegensatz zum Ausdruck der Systementwürfe III die Begierde wieder als eine menschliche Bestimmung erscheint, nämlich als eine Gestalt des Selbstbewußtseins (s. 3.2.2.2.). Dabei geht es offenbar nicht um die Begierde des Tieres, sondern um die des Menschen. Sie scheint zunächst keinen menschlichen Charakter zu haben, sondern nur den Charakter des das Objekt vernichtenden Subjekts wie bei der Begierde des Tieres, die sich auch in einem intersubjektiven Verhältnis als Geschlechtsverhältnis
^ J. Ritsert betrachtet die Unterscheidung von Begierde und Trieb (Anerkennung, Selbst und Gesellschaft. In: Soziale Welt. 32 (1981), 290). Wildt sieht den Trieb nicht einfach als Synonym von Bedürfnis und Begierde, sondern in der emphatischen subjektivitätstheoretischen Bedeutung als Verwirklichung des Totalitätscharakters des Ich (op. cit. 347 f). Bei dieser Charakterisierung handelt es sich um die den Themen des Willenskapitels zugrundeliegende Struktur des Triebes. Vgl. G. Göhler: op. cit. In: FpS 434.
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vorfindet, aber die Einzelheit nicht überwinden kann (s. o.). Die Begierde des Selbstbewußtseins liegt aber auf der Grundlage der Problematik der Erfahrung des Bewußtseins schon in einer Sphäre, in der das Selbstbewußtsein als der Mensch die Erfahrung über sein Verhältnis zur Umwelt macht, auch wenn es zunächst nur naturwüchsig ist. Sie setzt also eine menschliche Dimension voraus. Die Auffassung dieser Art der Begierde bleibt unverändert bestehen (seit dem Vorlesungsmanuskript WS 1801/02 über das System der Sittlichkeit bis zu den Systementwürfen I, s. 3.1.2.1., 3.1.2.2. und o.). Ferner tritt sie auch in der enzyklopädischen Darstellung in einem anderen Zusammenhang mit dem Trieb von der Nürnberger Zeit auf (s. 4.2.2.I.I.). Die genannte Auffassung, in der die Begierde durch den Trieb ersetzt wird, ist dann als eine zeitweilige zu betrachten. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die Ersetzung der Begierde durch den Trieb eine deutlichere Artikulation der Termini als bisher aufzeigt, welche mit der neuen Problematik des teleologischen Schlusses zusammenhängt. Was die realphilosophische Artikulation der Termini im zwischenmenschlichen Verhältnis in den Systementwürfen III betrifft, wird auch nicht von der Begierde, sondern von dem Trieb gesprochen, der allgemeiner und passender als die Begierde für die zwischenmenschliche Bestimmung, nämlich für die Liebe ist: „Der Trieb kommt zum Anschauen seiner selbst — er ist in sich zurückgekehrt in jener Befriedigung, er ist ebenso Wissen geworden, dessen was er ist — Die einfache Rückkehr in sich das Wissen ist ebensosehr am Entzweyen (Schluss) die Mitte. — Trieb ausser sich — im Anderneinfachen Selbst, und weiß es als Selbst ständiges Extrem; ebenso das Wissen weiß sein Wesen im Andern — Spannung im Trieb Selbstständigkeit beyder ... Eben indem jedes sich im Andern weiß, hat es auf sich selbst Verzicht gethan. Liehe.“ (GW8.209) Die Liebe wird also als ein Ergebnis des durch den Trieb vermittelten Schlusses, dessen Extreme durch das Wissen als den umgewandelten Trieh auf sich selbst verzichten und einander als sich selbst wissen.^ Es kann hier nicht mehr davon die Rede
5 Die Liebe wird durch die gegenseitige Beziehung der Charaktere, nämiich des männlichen und des weiblichen verwirklicht. Die beiden unterscheiden sich so voneinander; „der Mann hat Begierde, Trieh; der weibliche Trieb ist diß vielmehr nur Gegenstand des Triebes zu seyn; zu r ei tz en, Trieh zu erwecken, und ihn sich an ihm befriedigen zu lassen.“ (GW8.203) Es fragt sich, wie die Bedeutung dieser Unterscheidung interpretiert werden soll. Sie ist bisher zweifach interpretiert; einerseits als Ausdruck der Verfallenheit einer Philosophie an die historischen Umstände, wie Ritsert kommentiert (op. dt. 282, 291), andererseits als Hegels Umkehrung der traditionellen Vorurteile gegenüber der weiblichen Sexualität in eine These über deren notwendige Funktion in der Genese praktischer Vernunft, insofern die weibliche Begierde als „Metabegierde“ oder „Begierde des einen nach der Begierde des anderen nach ihm“ zu bezeichnen ist, wie Wildt bewertet (op. cit. 354 f). Nach Wildt ist auf deren Basis eine volle Selbsterfahrung des Wollenden und seiner gesellschafts- und vernunftkonstitutiven Implikationen mög-
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sein, über die Möglichkeit der Entwicklung der Begierde zur Liebe nachzudenken. Dazu kann nur der Trieb geeignet sein. Daß die Begierde von dieser Möglichkeit ausgeschlossen ist, bleibt als Hegels Überzeugung unverändert bis zur Berliner Zeit. In einer Berliner Vorlesungsnachschrift (SS 1825 nach GRIESSHEIM) wird z. B. geäußert, daß die Liebe mit der Begierde nicht mehr zusammenhängt: „in der Liebe geht meine Persönlichkeit nicht zu Grunde, hier [sc. im unmittelbaren Selbstbewußtsein] aber ist ein solches Verhältniß noch nicht... Hier ist... das Selbstbewußtsein noch unmittelbar einzelnes, dieß hat von seiner eigenen Einzelnheit noch nicht abstrahirt, sondern es herrscht noch die Begierde“ (PsG 3.332). Bei dem Vorgang von der Begierde oder dem Trieb zur Liebe ist zu bemerken, daß Hegels Darstellung vom Verhältnis von Mensch und Natur zum zwischenmenschlichen übergeht. Dies bedeutet aber nicht, daß das Verhältnis von Mensch und Natur verschwunden ist. Denn, wie im System der Sittlichkeit festgestellt wurde (s. 3.1.2.2.), in der Familie ist das Verhältnis zum Ding vorhanden. Dieses Ding vermittelt die Liebe zwischen den beiden Geschlechtern und läßt sie erkennen: „beyde erkennen ihre gegenseitige Liebe durch die gegenseitige Dienstleistung, vermittelt durch ein Drittes, das Ding ist; es ist Mittel, und Mittel der Liebe; ... es ist die dauernde bleibende Möglichkeit ihrer Existenz.“ (GW 8.211) Hiermit ist Familienbesitz gemeint. Er als der Gegenstand der Begierde der Familie wird durch die gemeinschaftliche Arbeit geschafft und geht deshalb über die isolierte Einzelheit hinaus. Die Begierde wird dementsprechend allgemein: „Hier tritt erst eigentlich die Begierde selbst als solche ein, nemlich als vernünftige. lieh. Es ist festzustellen, daß sich hier die traditionelle Auffassung widerspiegelt. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die beiden Geschlechter als Charaktere gleichrangig sind, denn in der wechselseitigen Erregung sind sie austauschbar, worauf Siep hinweist (Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. 59, 66, 228) und was auch die ersten beiden Interpreten bemerken. Ob hier von der „Metabegierde“ als der ersten Gestalt des Sichwissens im anderen gesprochen werden kann, wie Wildt meint (von der Unterscheidung des Triebes und der Begierde abgesehen, denn Hegel selbst stellt die beiden nebeneinander, wie im obigen Zitat gezeigt wird), bleibt fragwürdig. Wenn damit eine höhere Stellung des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männlichen, die über die wohl die traditionellen Vorurteile überwindende Auffassung der Gleichrangigkeit der beiden hinausgeht, gemeint ist, hat diese Interpretation nur eine schwache Textbasis. In den Systementwürfen I wird vielmehr umgekehrt so erörtert, daß das Weib dem Manne zu einem für sich Seienden werdend aufhört, der Gegenstand seiner Begierde zu sein (s. Zitat aus GW6,301). Hier geht es offensichtlich um ein und dieselbe Problematik wie bei der obengenannten Aussage in den Systementwürfen II. Die weibliche Begierde muß nämlich eine Begierde sein, die ihr Wesen, der Gegenstand der männlichen Begierde zu sein, aufheht. Da dieses Wesen selbst etwas Aufzuhebendes ist, kann sie in ihm keine höhere Stellung der genannten „Metabegierde“ als die männliche Begierde haben. Das Unterscheidungsschema von Mann-Tätigkeit und Weib-Passivität, das auch im tierischen Organismus vorhanden ist (s. GW 6.185; GW8.174), ist also als ein Ausdruck der reziproken Beziehung der Glieder in der Einheit anzusehen.
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geheiligte wenn man so will; sie wird durch die gemeinschaftliche Arbeit befriedigt. Die ./^beit geschieht nicht für die Begierde als einzelne, sondern allgemeine; der diß bearbeitet, verzehrt nicht gerade dieses, sondern es kommt in den gemeinsamen Schatz, und aus diesem werden alle erhalten.“ (GW8.212) In der Familie ist also in einer gewissermaßen verallgemeinerten Form das Verhältnis von Mensch und Natur enthalten. Die Begierde hängt nämlich wieder in der Familie mit dem in die Liebe umgewandelten Trieb zusammen und findet ihre eigentliche Stellung in der Einheit des Verhältnisses von Mensch und Natur mit dem zwischenmenschlichen Verhältnis. Sie kann dann trotz ihres Gegensatzes zum Trieb (s. o.) für eine menschliche Bestimmung gehalten werden, insofern sie durch das zwischenmenschliche Verhältnis vermittelt wird. Dieser Punkt ist erst in den Systementwürfen III näher artikuliert, während er in den Systementwürfen I nicht klar ist, in dem Sinne, daß nur von der Neigung des Bewußtseins gesprochen wird, welche als Ergebnis der Aufhebung der Begierde auftritt, und nicht von der Möglichkeit der Begierde bei dieser Neigung: Das Bewußtsein realisiert sich „in der Geschlechtsdifferenz, in welcher es ebenso die einzelne Begierde der Natur aufhebt, und zur bleibenden Neigung macht, in der Familie zur Totalität der Einzelnheit geworden, und die unorganische Natur zu einem Familiengut erhebt, als der ebenso dauernden aüsserlichen Mitte derselben“ {GW 6.281). Trotz des terminologischen Unterschiedes wird ein und derselbe Umstand beobachtet, daß in der Familie das Verhältnis von Mensch und Natur mit dem zwischenmenschlichen Verhältnis bestehen bleibt. Da die Liebe zwar das Element der Sittlichkeit, aber „noch nicht sie selbst, ... nur die Ahndung derselben“ {GW8.210) ist, kann die Begierde über die Einzelheit nicht hinausgehen. Auch wenn sie innerhalb der Familie allgemein sein kann, ist es für sie unvermeidlich, einzeln zu sein, insofern die Familie selbst wieder etwas Einzelnes bleibt. Dies zeigt sich in der Notwendigkeit des Kampfes auf Leben und Tod um das Anerkennen des privaten Besitzes (s. GW6.307 ff; GW8.221). Dieser Kampf gerät in den Widerspruch durch den gegenseitigen Tod, das Anerkennen nicht verwirklichen zu können. Es ist dann notwendig, von der Liebe oder der Familie zum gesellschaftlichen Anerkennen überzugehen. In dem neu erreichten gesellschaftlichen Bereich ist von dem Bedürfnis als dem Begriff bzw. der Wahrheit der Begierde die Rede: „Erst hier hat die Begierde das Recht aufzutreten; denn sie ist wirklich, d.h. sie selbst hat allgemeines, geistiges Seyn ... Das Bedürfniß überhaupt wird analysirt in seine viele Seiten; das abstracte in seiner Bewegung ist das Fürsichseyn, das Thun, arbeiten. — Weil nur für das Bedürfniß als abstractes Fürsichseyn gearbeitet wird, so wird auch nur abstract gearbeitet, diß ist der Begriff, die Wahrheit der Begierde, die hier existirt.“ (GW8.224) Die Begierde ist also im gesellschaftlichen Bereich
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durch das Bedürfnis zu ersetzen.® Diese Auffassung, daß das Bedürfnis der Begierde gegenübergestellt wird, wird bis zur Berliner Zeit verstärkt behalten, wie folgt: „In der Vervielfältigung der Bedürfnisse liegt gerade eine Hemmung der Begierde, denn wenn die Menschen vieles gebrauchen, ist der Drang nach einem, dessen sie bedürftig wären, nicht so stark, und es ist ein Zeichen, daß die Not überhaupt nicht so gewaltig ist.“ {Rph § 190 Zus., 7W7.348) Hier zeigt sich, daß die naturwüchsige Begierde durch das gesellschaftliche Bedürfnis ersetzt und überwunden wird. Dabei ist bemerkenswert, daß das Bedürfnis in der Pluralform betrachtet wird. Unter dieser Form ist sein gesellschaftlicher Charakter festzustellen.’ Der Mensch geht über die Abhängigkeit von der Natur hinaus und beweist seine Allgemeinheit (1) durch die Vervielfältigung seiner Bedürfnisse, (2) durch die Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedürfnisses in einzelne Teile und Seiten (vgl. ebd.). Das gesellschaftliche Bedürfnis zeigt nämlich einen unendlich fortwährenden Prozeß seiner Vervielfältigung und seines Abstraktwerdens auf. Seine Befriedigung erzeugt ein neues Bedürfnis, was sich unendlich fortsetzt. Aus diesem Prozeß ergibt sich sein gesellschaftlicher Charakter. Was diesen Prozeß fortsetzt, ist die Arbeit, die das Bedürfnis von seiner der Begierde entsprechenden natürlichen (vgl. GW8.224) bis zu seiner gesellschaftlichen Form entwickeln läßt. Dabei ist sie nicht nur eine einzelne, sondern ist schon zu einer allgemeinen und gesellschaftlichen geworden. Durch die gesellschaftlich gewordene Arbeit befriedigt jeder seine Bedürfnisse. Dabei muß darauf geachtet werden, daß eine neue Weise der Befriedigung der Bedürfnisse entstanden ist: „der Mensch erarbeitet sich nicht mehr das was er braucht, oder er braucht das nicht mehr, was er sich erarbeitet hat; sondern es wird, statt der Wirklichkeit der Befriedigung seiner Bedürfnisse, nur die Möglichkeit dieser Befriedigung“ {GW 6.322). Seine Arbeit wird nämlich nicht direkt mit der Befriedigung seiner Bedürfnisse verbunden und deshalb „eine formale abstracte allgemeine“ (ebd.). Der Zusammenhang der Arbeit des Einzelnen mit der Befriedigung seiner Bedürfnisse muß so gebildet werden, daß er für eins seiner Bedürfnisse arbeitet und etwas bekommt, was von den anderen Menschen hergestellt wird, um seine anderen Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. ebd.). Die Befriedigung seiner Bedürfnisse ist dann von der Arbeit der anderen Menschen ab® Die Differenz der Begierde von dem Bedürfnis entspricht der Unterscheidung der zwei Erscheinungsformen der Arbeit, nämlich der naturwüchsigen im vorgesellschaftlichen Bereich und der abstrakten im gesellschaftlichen Bereich. Zu dieser Unterscheidung vgl. G, Göhler: op. dt. In: FpS 489. ’’ Der Gegensatz zum Ausdruck der Singularform im System der Sittlichkeit fällt aut. Vgl. 3.1.2.2. Anm. 14.
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hängig: „die Befriedigung der Totalität seiner Bedürfnisse ist eine Arbeit aller,“ (ebd.; vgl. GW 8.225) Mit der „allgemeinen“ Arbeit ist „T h e i 1 u n g der Arbeit“ {GW8.224) gemeint. Durch diese Teilung wird die Arbeit abstrakt und mechanisch. Je abstrakter sie wird, desto mehr kann der Mensch im Stande sein, sich aus der Arbeit herauszuziehen, und an die Stelle seiner Tätigkeit die der äußeren Natur zu substituieren: „er braucht blosse Bewegung, und diese findet er in der aüssern Natur; oder die reine Bewegung ist eben das Verhältniß der abstracten Formen des Raums und der Zeit; — die abstracte aüssre Thätigkeit— Maschine.“ (GW8.225; vgl. GW6.323) Die Arbeit wird also durch die Maschine durchgeführt. Durch die Teilung der Arbeit und die Mechanisierung vollziehen sich die Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der Bedürfnisse (vgl. Rph § 198), bei denen jeder als der die Bedürfnisse Habende anerkannt und gleichsam verallgemeinert wird. In diesem Verfahren ist die Bildung eines Systems zu sehen: „Das Bedürfniß und die Arbeit in diese Allgemeinheit erhoben bildet sich so für sich in einem grossen Volk ein ungeheures System von Gemeinschafftlichkeit, und gegenseitiger Abhängigkeit“ {GW 6.324), mit dem späteren Ausdruck „Das System der Bedürfnisse“ {Rph § 188), in dem die Menschen mit ihren Bedürfnissen als dessen Grundprinzip die bürgerliche Gesellschaft bilden.® Hiermit kann der Ansatz Hegels über den Bereich des Bedürfnisses seit der frühen Jenaer Zeit (s. 3.1.2.1. und 3.I.2.2.) wohl für vollendet gehalten werden. Es darf nicht übersehen werden, daß nicht nur die sozusagen positive Seite des gesellschaftlichen Bedürfnisses, wie oben geschildert, sondern auch seine negative Seite klarer als in der frühen Jenaer Zeit artikuliert wird. Das Gesellschaftlichwerden des Bedürfnisses ist nämlich zwar einerseits ein Zeichen der Befreiung des Menschen von der Natur, aber andererseits hat es auch negativ zu bewertende Folgen. Zunächst scheint das negative Verfahren ganz harmlos zu sein. Es fängt mit der Verfeinerung des Bedürfnisses an: Durch die Teilung der Arbeit und die Mechanisierung werden „die Bedürfnisse ... vervielfältigt — jedes einzelne ist in mehrere abgetheilt; der Geschmack ist verfeinert; er macht mehr Unterschiede; eine Zubereitung ist gefordert, die das zu brauchende Ding dem leichten Gebrauche immer näher bringe, und daß für alle Seiten seines Misverhältnisses gesorgt werde (Kork, Korkzieher, Lichtputze) er wird gebildet als natürlich geniessendes“ (GW 8.243). Daraus ergibt sich „die ® Daß der Terminus Bedürfnis mit dem Sinn der englischen Nationalökonomie gebraucht wird, steht außer Zweifel. Über ihren Einfluß auf Hegel vgl. 3.1.2.2. Anm. 16. Dazu und auch zur Bedeutung des Bedürfnisses für die bürgerliche Gesellschaft vgl. /. Ritter: Hegel und die französische Revolution. 53 ft.
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Mode, die Veränderlichkeit die Freyheit im Gebrauche der Formen“ (ebd.) wie „Schnitt der Kleidung, Art des Ameublements“ (ebd.) - Nach Hegel zeigt sich allerdings in der Verfeinerung die Geistlosigkeit, die die Arbeit durch die Abstraktion tragen muß: Der Geschmack wird nämlich „durch die Abstraction der Arbeit mechanischer, abgestumpfter, geistloser. — Das Geistige, diß erfüllte selbstbewußte Leben wird ein leeres Thun, die Krafft des Selbsts besteht in dem reichen Umfassen, diese geht verloren.“ (ebd.) Diesem Phänomen liegt die Einseitigkeit der Arbeit des Menschen zugrunde: „Sein stumpfes Arbeiten beschränkt ihn auf einen Punkt; — und die Arbeit ist um so vollkommer, je einseitiger sie ist“ (ebd.). So erlangt das Wort Mode einen pejorativen Nebensinn; denn sie gilt als nicht beständig: Während ihre Veränderung wesentlich und vernünftig ist, „viel vernünftiger, als bey einer Mode bleiben, in solchen einzelnen Formen etwas festes behaupten wollen —• das Schöne ist keiner Mode unterworfen — aber hier findet keine freye Schönheit statt, sondern eine reitzende, d. h. die Zierrath eines Andern ist, und sich auf anderes bezieht — Trieb, Begierde erregen will, also Zufälligkeit an ihr hat“ {GW 8.243 f). Hier treten Trieb und Begierde in einem pejorativen Sinne auf, um die Zufälligkeit der Schönheit der Mode zu zeigen. Was in der negativen Folge des Gesellschaftlichwerdens des Bedürfnisses entscheidend ist, besteht aber nicht in der Zufälligkeit der Schönheit der Mode, sondern in der Zufälligkeit der Existenz des Menschen selbst innerhalb des Systems. Da das Ringen nach Vereinfachung der Arbeit auf der Zufälligkeit beruht, gerät die Möglichkeit der Befriedigung der Bedürfnisse des einzelnen Menschen in die Zufälligkeit: „Die Geschicklichkeit des einzelnen ist die Möglichkeit der Erhaltung seiner Existenz. — Diese ist der völligen Verwicklung des Zufalls des Ganzen unterworfen — Es werden also eine Menge zu den ganz abstumpfenden ungesunden und unsichern und die Geschiklichkeit beschränkenden Fabrik- Manufacturarbeiten — Bergwerken u. s.f. verdammt, — und Zweige der Industrie, die eine grosse Klasse Menschen erhielten, versiegen auf einmal wegen der Mode — oder Wohlfeilerwerden durch Erfindungen in andern Ländern, u.s.f.“ (GW8.244; vgl. GW6.323f). Ein und derselbe Prozeß, der sich zunächst ganz harmlos auf die Verfeinerung richtet, erzeugt also die Gefahr der Erhaltung der Existenz vieler Menschen. Hiermit ist nämlich die Armut gemeint, die sich dem Reichtum entgegensetzt (s. ebd.). Die Ursache dafür ist im Grundprinzip des Systems der Bedürfnisse, nämlich im Bedürfnis selbst zu suchen, insofern der Zustand von diesem System als solchem hervorgebracht wird. Denn der gesellschaftliche Charakter des Bedürfnisses, das einen allgemeinen Inhalt hat, wird zwar durch die Vervielfältigung desselben, die der Teilung der Arbeit entspricht, ermöglicht. Je weiter aber dieser Prozeß fortgesetzt wird, desto größer wird die Zufälligkeit der Erhaltung der Existenz des einzelnen Men-
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sehen. Auch wenn von der Allgemeinheit des Bedürfnisses gesprochen wird, bedeutet sie nur die unter dem Verhältnis des formalen Anerkennens, in dem sie nicht wirklich eine echte sein kann. Dieses Bedürfnis kann sich schließlich von der Einzelheit wie bei dem der animalischen .Begierde' entsprechenden natürlichen Bedürfnis nicht befreien. Hier scheint es keine Möglichkeit der Harmonie innerhalb des Systems zu geben, die früher im System der Sittlichkeit im Hinblick auf die Selbstbegrenzung des Triebes nach Vergrößerung des Reichtums von der Seite der Einzelheit her erklärt wurde (s. 3.1.2.2.). Der Gegensatz spitzt sich nämlich bis zu einer extremen Situation zu: „Diese Ungleichheit des Reichthums und der Armuth, — diese Noth und Nothwendigkeit wird die höchste Zerrissenheit des Willens, — ihre Empörung und Haß“ (ebd.). Hier wäre zu erwarten, daß sich das Bedürfnis des Ganzen wie bei der früheren politischen Auffassung (s. 3.1.2.1.) stark auswirkt. In den Systementwürfen Ischeint dies der Fall zu sein, wenn die Situation einer unübersehbaren blinden Abhängigkeit, in der eine entfernte Operation häufig die Arbeit einer ganzen Klasse von Menschen plötzlich hemmt, überflüssig oder unbrauchbar macht, als etwas zu Beherrschendes und Bezähmendes wie ein wildes Tier bezeichnet wird (s. GW 6.324). Allerdings wird auch in dieser Aussage über die Notwendigkeit der Beherrschung und Bezähmung der Einzelheit behauptet, daß die Einzelheit in die Allgemeinheit aufgehoben werden kann: „Die TotalitätderEinzelnheitdiein der Extension ihres Existirens in dem, dessen sie sich bemächtigte in jedem einzelnen ganz war, ist als aufgehobene nur im ganzen des Volkes“ (GW 6.325 f). Hier bleibt nicht artikuliert, wie diese Aufhebung stattfindet. Dieses Verfahren wird in den Systementwürfen III näher geklärt. In der Notwendigkeit des Gegensatzes als solchen wird nämlich die Substanz des einzelnen Menschen beobachtet: „Diese Nothwendigkeit, welche die vollkommne Zufälligkeit des einzelnen Daseyns ist, ist aber ebenso die erhaltende Substanz desselben“'(GW 8.244). Hiermit ist die Staatsgewalt gemeint: „die Staatsgewalt tritt ein, und muß sorgen, daß jede Sphäre erhalten werde, ins Mittel treten“ (ebd.). Dabei muß betont werden, daß Hegel unverändert den Standpunkt der Freiheit des Gewerbes vertritt: „das Eingreiffen muß so unscheinbar als möglich seyn; denn es ist das Feld der Willkühr — Schein der Gewalt muß vermieden werden“ (ebd.). Hier erscheint die Staatsgewalt als „die allgemeine Übersicht“ (ebd.), die dem System der Bedürfnisse fehlt. Insofern sie die Substanz des Einzelnen ist, muß geklärt werden, wie er davon überzeugt sein kann. Ein Bildungsprozeß hat stattzufinden, in dem sich der einzelne Mensch durch den Zwang des Gesetzes den Standpunkt der Allgemeinheit aneignen muß: „Das Gesetz zwingt ... hier, es führt gegen meine besondre Bedeutung, die gemeinsame aus, gegen mein Daseyn mein Ansich, oder gegen mein besonderes Selbst, mein allgemeines.“ (G W8.247;
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vgl. 249) Durch diesen Prozeß ist die Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit zu erreichen. Damit eröffnet sich eine neue Sphäre, nämlich „Constitution“. In der neuen Sphäre wird der Sachverhalt von dem Standpunkt des Zwecks her betrachtet. Das von dem Einzelnen getragene Gesetz als der Geist eines Volkes ist nämlich der Zweck für sich selbst: Das Gesetz „weiß sich als die absolute Gewalt... — So ist dieser Geist die absolute Macht überall welche... sich selbst zum Zwecke macht. Als Gewalt ist es nur der Einzelne der Zweck ...; seine Selbsterhaltung aber ist die Organisation seines Lebens, der Geist eines Volkes, der sich selbst beabsichtigt.“ {GW 8.254) Vorhanden ist nichts anderes als der teleologische Schluß, der als eine mögliche Form des Triebes der Idee schon erörtert wurde (s. 3.2.1.1.). Daß die Bewegung der Substanz mit dem Terminus Trieb ausgedrückt wird, wenn auch mit seiner Verbform, ist ein Indiz dafür, daß mit der Problematik des teleologischen Schlusses zusammenhängend die von uns behandelten Termini einen neuen Stellenwert im Denken Hegels bekommen haben. Es gilt, ihre Anwendungsweise in der genannten Sphäre zu klären. Die konkrete Anwendungsweise der betreffenden Termini zeigt sich als gleichartig mit der, die wir vom System der Bedürfnisse her kennen. Sie besteht allerdings ausschließlich in der positiv bewerteten Form. In der Phänomenologie des Geistes wird nämlich dieses System als ein Beweis der Sittlichkeit erklärt; „Das rein einzelne Thun und Treiben des Individuums bezieht sich auf die Bedürfnisse, welche es als Naturwesen ... hat. Daß selbst diese seine gemeinsten Functionen nicht zunichte werden, sondern Wirklichkeit haben, geschieht durch das allgemeine erhaltende Medium, durch die Macht des ganzen Volks . . . Wird der Einzelne in seiner einzelnen Arbeit schon eine allgemeine Arbeit bewußtlos vollbringt, so vollbringt er ... die allgemeine als seinen bewußten Gegenstand ... — Es ist hier nichts, das nicht gegenseitig wäre, nichts, woran nicht die Selbstständigkeit des Individuums in der Auflösung ihres Fürsichseyns, in der Negation ihrer selbst ihre positive Bedeutung, für sich zu seyn, sich gäbe.“ (GW9.194 f) Im System der Bedürfnisse selbst betätigt sich also die gegenseitige Anerkennung. Hier ist nicht nur von der sittlichen Substanz, sondern auch von dem Individuum, das sich dieser Substanz bewußt ist, die Rede. Damit ist die Substanz schon zum Geist geworden (vgl. 3.2.2.I.). Das Moment des Bewußtseins ist nämlich erreicht worden, denn, wie erwähnt (3.2.1.1.), das Werden des Einzelnen zum Allgemeinen und das Werden des Allgemeinen sind „nicht eine blinde Nothwendigkeit, sondern durchs Wissen vermittelte“ {GW 8.255). Dies ist nichts anderes als die Aufgabe der Bildung. Sie ist hier gelöst. Abgesehen von der Bildung kann man die Bewegung der Substanz finden, die zur Bildung vorausgesetzt wird und deshalb das Individuum zur Bildung innerlich richten läßt, während das Indi-
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viduum in einer Phase der Bildung diese Richtung ablehnen könnte. Auch der einzelne Charakter des Bedürfnisses, der zur negativen Folge führt, wird in der Macht der sittlichen Substanz eher als das den Schluß verwirklichende Moment anerkannt. Interessanterweise stimmt hier ein alltäglicher Ausdruck „Tun und Treiben“ inhaltlich mit einer möglichen Form des Triebes der Idee überein. Man kann in diesem Ausdruck wohl eine alltäglich gewordene Form des sittlichen Verhaltens sehen, das sich auf den Trieb der Idee gründet. Der Trieb der Idee macht nämlich das real, worauf sich das „Tun und Treiben“ des Individuums richtet, insofern das „Tun und Treiben“ aus der Bildung resultiert, d. h. das Individuum sittlich ist. Das System, in dem der Trieb der Idee wirksam ist, geht so seinem „Tun und Treiben“ voraus und wird umgekehrt von diesem verwirklicht. Da damit alle Glieder die Anschauung ihrer selbst erreichen können, bedeutet dieses Verfahren die Verwirklichung des Zwecks oder des Schlusses. So ist die Bewegung der Substanz hier in der Realphilosophie anhand der Auffassung des Triebes der Idee dargestellt. 3.2.2. Die Problematik der Phänomenologie des Geistes und die Termini 3.2.2.1. Ausdrücke für die Subjektivitätstheorie In der Phänomenologie des Geistes wird Hegels eigener Standpunkt in der Weise als eine Subjektivitätstheorie' festgelegt, daß „die Substanz wesentlich Subjectist“ (GW9.22). Diese Theorie läßt sich in Anlehnung an ARISTOTELES (vgl. 4.1.4.) mit dem Zweck-BegrifP erklären: „der Zweck ist das Unmittelbare, das Ruhende, welches selbst bewegend, oder Subject ist... Das Resultat ist nur darum dasselbe, was der Anfang, weil der Anfang Zweck ist.... Der ausgeführte Zweck oder das daseyende Wirkliche ist die Bewegung und das entfaltete Werden; eben diese Unruhe aber ist das Selbst“ {GW9.20). Hiermit wird die Substanz in der Bewegung von dem unmittelbaren Zweck als dem Anfang bis zum ausgeführten Zweck als dem Resultat betrachtet, in der sie sich als das Subjekt darstellt. Im Hinblick auf eine mögliche Form des Triebes der Idee, der in den Systementwürfen III als etwas den teleologischen Schluß in Gang Setzendes bezeichnet wird 1 Zur positiven Bedeutung der Subjektivität in der Phänomenologie des Geistes vgl. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität.... 23. 2 Über die Bedeutung der Subjektivität als des zweckmäßigen Tuns im Vergleich zur Aristotelischen Teleologie vgl. K. Düsing: op. dt. 201.
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(s. 3.2.1.1.), wäre dann zu erwarten, daß der ausgesprochene Standpunkt auch mit den von uns behandelten Termini ausgedrückt würde. Von der später zu erwähnenden Auffassung des Terminus Begierde abgesehen (s. 3.2.2.2.), treten die Termini in diesem Kontext aber nicht als die festgelegten Zentralbegriffe auf. Der Standpunkt wird eher mit anderen Begriffen ausgedrückt, z.B. mit dem Begriff Anstrengung: „Worauf es ... bey dem Studium der Wissenschaft ankommt, ist die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen.“ {GW 9.41) Daraus ergibt sich, daß Hegel noch keinen festen terminologischen Ausdruck für den neuen Standpunkt der Subjektivitätstheorie fand. Dieser Punkt soll zunächst untersucht werden. Betrachten wir die Terminologie im teleologischen Prozeß. Bei der Tätigkeit der beobachtenden Vernunft geht es darum, im Organischen einen solchen Prozeß zu finden, was auf die KANxische Auffassung des Zwecks im Organischen anspielt (vgl. 4.1.4.). In bezug auf diese Tätigkeit ist nicht vom Trieb, sondern vom Interesse oder vom Instinkt die Rede: „Die Vernunft hat ... ein allgemeines Interesse an der Welt, weil sie die Gewißheit ist, Gegenwart in ihr zu haben, oder daß die Gegenwart vernünftig ist.“ {GW 9.137) Es handelt sich dabei nicht anders als darum, sich selbst als Zweck zu finden: Der „Instinkt der Vernunft“ findet „in seinem Suchen nur sie selbst... erfindet wohl sich selbst, nemlich den Zweck“ (GW9.147). Für ein und denselben Sachverhalt tritt zwar auch der Terminus ,Trieb‘ auf, aber nur in der Verbform: Die Vernunft „ist getrieben, ihre Gewißheit zur Wahrheit zu erheben, und das leere Mein zu erfüllen.“ (GW9.137) Dieser Terminus drückt meistens das Phänomen „Naturtrieb“ aus (s. GW9.197, 309, 327, 335, 347; vgl. 180, 358), über dessen Bedeutung der in der Verbform vorhandene Trieb hinausgeht, insofern er die Bewegung der Vernunft ausdrückt. Ausnahmsweise tritt der Terminus beim Kultus der KunstReligion auf, um die Notwendigkeit der Entwicklung von der natürlichen Religion zu dieser zu verkünden: „Der lautre Trieb ... ist das vielnahmige Lichtwesen des Anfangs, und sein taumelndes Leben das von seinem abstracten Seyn ebenso abgelassen, sich zuerst in das gegenständliche Daseyn der Frucht befaßt, dann dem Selbstbewußtseyn sich hingebend, in ihm zur eigentlichen Wirklichkeit gelangt“ (GW 9.387). Hier handelt es sich zwar nicht nur um etwas über den Naturtrieb Hinausgehendes, sondern auch um ein und dieselbe Struktur wie bei der Tätigkeit der Vernunft, aber diese Art des Triebes erscheint nur neben anderen Ausdrücken und ist im Zusammenhang mit dem grundlegenden Standpunkt der Subjektivitätstheorie terminologisch noch nicht festgelegt. Gleicherweise läßt sich die Rede über die Termini Bedürfnis und Streben erkennen. Das Bedürfnis bedeutet meist etwas Beschränktes, das sich auf ein konkretes Ding (s. GW9.195, 233, 243, 272) oder auf einen Mangel bezieht, der durch den Inhalt der Wissenschaft gefüllt werden muß und trotz der Annäherung an diesen Inhalt nicht ganz als
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etwas mit ihm Verbundenes anzusehen ist (s. GW 9.12, 20, 34, 38). Allerdings tritt die Bezeichnung „Bedürfnis der Philosophie“ in der Selbstanzeige der Phänomenologie auf-, „In der Vorrede erklärt sich der Verl über das, was ihm Bedürfniß der Philosophie auf ihrem itzigen Standpuncte zu sein scheint“ (GW9.446). Dieses Bedürfnis richtet sich zwar auf die Subjektivitätstheorie, aber es wird als Ausdruck dieser Theorie nicht näher artikuliert. Der Terminus Streben stellt die Tätigkeit des unglücklichen Bewußtseins dar, die dem methodisch abzulehnenden Sinn des Strebens in der früheren Auffassung (s. 3.1.1. und 3.1.2.2.) entspricht und im Zusammenhang mit der Subjektivitätstheorie noch nicht den einheitlichen Ausdruck erreicht hat: Trotz seines Strebens, das Einssein des Einzelnen mit dem Unwandelbaren zu erreichen, bleibt nämlich dieses Einssein ein Jenseits (s. GW9.124, 129; vgl. 131). Wie gezeigt ist der Ausdruck für den grundlegenden Standpunkt also noch nicht terminologisch festgelegt. In gewisser Weise findet jedoch eine Annäherung an eine spekulative Auffassung der Termini im Hinblick auf die der Phänomenologie des Geistes spezifische Problematik statt. Hiermit ist die der „Erfahrung des Bewußtseins“ gemeint, in deren Sphäre eine über den „Naturtrieb“ hinausgehende Bedeutung des Terminus Trieb auftritt, auch wenn sie nur in der Verbform begegnet: Indem das Bewußtsein „zu seiner wahren Existenz sich forttreibt, wird es einen Punkt erreichen, auf welchem es seinen Schein ablegt, mit fremdartigem, das nur für es und als ein anderes ist, behafftet zu seyn, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird, seine Darstellung hiemit mit eben diesem Punkte der eigentlichen Wissenschaft des Geistes zusammenfällt“ (GW9.61 f). Hier ist der Trieb so wirksam, daß die Selbstentwicklung der Bestimmtheiten als der Gestalten des Bewußtseins zu einem Punkt führt, in dem die Erscheinung und das Wesen des Geistes miteinander übereinstimmen.^ Dieser Auffassung entsprechend wird eine neue Auffassung des Terminus Begierde artikuliert, die noch betrachtet werden soll (s. 3.2.2.2.). Da sie mit dem Anliegen der Phänome5 Der Umstand, daß die Erfahrung des Bewußtseins den Standpunkt der Logik als der spekulativen Philosophie erreicht hat, wird damit erklärt. Dazu vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee.... 263; ders.: Die Komposition der Phänomenologie des Geistes. In: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes". Hrsg, von H. F. Fulda und D. Henrich, 315 f;/. H. Trede: Phänomenologie und Logik. In: Hegel-Studien. 10 (1975), 208 f. Im Hinblick auf die Auffassung des Terminus Trieb in der Verbform findet sich eine ähnliche Aussage in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion: „Das Bewußtsein treibt sich fort zum Bewußtsein des Substantiellen, und dieses, der Begriff des Geistes, treibt sich fort zur Erscheinung und zum Verhältnis, für sich zu sein.“ (TW 16.112; vgl. Vorlesungen 3.138) Die Bewegungen der beiden Dimensionen werden hier gemeinsam mit der Verbform des Triebes ausgedrückt. Dies kann als ein Ausdruck der Subjektivitätstheorie betrachtet werden. Es muß dabei berücksichtigt werden, daß der phänomenologische Sinn der Subjektivität von der logisch-metaphysischen Bedeutung der Subjektivität zu unterscheiden ist, worauf Düsing aufmerksam macht (op. cit. 205).
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nologie des Geistes zusammenhängt, soll erörtert werden, was dieses Anliegen ist. Die Aufgabe der Phänomenologie des Geistes besteht darin, das Werden der Wissenschaft darzustellen (s. GW9.24). Das Ziel der Darstellung ist die Verbindung der Wissenschaft mit dem unwissenschaftlichen Bewußtsein. Es muß danach gefragt werden, wie sich die Wissenschaft in der Dimension des Bewußtseins bestätigen kann, um ihre Allgemeinheit zu beweisen. Dafür muß die „Leiter“ (GW9.23) zur Wissenschaft dem Bewußtsein gegeben werden. Sagt man, daß das Absolute existiert, kann diese Aussage nicht eine wissenschaftlich gegründete sein, weil sie nur eine Behauptung bleibt. Erst durch das Werden der Wissenschaft ist dem Bewußtsein ermöglicht, über den Rahmen des Einzelnen hinaus zu der Sphäre des Geistes oder des Allgemeinen gehoben zu werden, damit die Wissenschaft aufhört, bloß behauptenden Charakter zu haben, und wirklich zum Allgemeinen wird. Das Allgemeinwerden des Bewußtseins zeigt also die Allgemeinheit der Wissenschaft auf. Damit läßt sich die konstitutive Bedeutung des Bewußtseins für den Standpunkt der Wissenschaft erörtern.“* Das Bewußtsein wird dann in den Standpunkt der Wissenschaft eingeordnet. Hiermit wird wieder die Problematik gestellt, die wir bei der der Täuschung gesehen haben (s. 3.1.2.3. und 3.2.1.1.). Dabei handelt es sich darum, ob sich das Einzelne von dem Allgemeinen befreien kann. In dem erreichten Standpunkt ist das Einzelne schon allgemein geworden. Deswegen wird sein Verhalten als Täuschung erklärt, wenn es glaubt, gegen das Allgemeine aufstehen zu können. Damit wird aber noch nicht geklärt, wie sich das Einzelne selbst diesen Standpunkt zu eigen machen kann. Es muß unterstellt werden, daß es einen Spielraum gibt, in dem eine Täuschung entsteht. Von der Seite des Einzelnen oder des Bewußtseins aus muß also nach der Möglichkeit seines Allgemeinwerdens gefragt werden. Um nichts anderes als dieses Allgemeinwerden geht es bei der Erfahrung des Bewußtseins.^ Das Bewußtsein hat die Bewegung der geistigen Substanz zum Gegenstand. Die Substanz, die zum Gegenstand des Bewußtseins wird, ist der „Gegenstand ihres Selbsts“ (GW9.29), d.h. ihr Anderssein. Dieser Gegenstand findet sich in der Erfahrung des Bewußtseins. Hier wird von dem ■* Hier ist festzustellen, daß die Phänomenologie des Geistes nicht nur eine Einleitung in die spekulative Philosophie, sondern auch zugleich deren erster Teil ist. Der einleitende Charakter der früheren von der Metaphysik unterschiedenen Logik ist aufgegeben worden, während die Phänomenologie des Geistes die genannte systematische Funktion in der spekulativen Philosophie erfüllt. Dazu vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee, 272; /. H. Trede: op. cit. 206. 5 Für das Bewußtsein bedeutet dieses Verfahren eine gewisse Stringenz, wie Bonsiepen kommentiert (Der Begriff der Negativität, 139).
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doppelten Gegenstand gesprochen, einerseits dem Gegenstand des Bewußtseins, andererseits dem des Selbst der Substanz. Der letztere erscheint nämlich als der erstere.® Die Substanz tritt also als ihr Anderssein in der Erfahrung des Bewußtseins auf. Die Gestalten des Bewußtseins sind dann als die des Werdens des Andersseins der Substanz anzusehen. Das Bewußtsein und seine Bewegung sind nämlich das Anderssein der Substanz. Die geistige Substanz wird durch ihre Äußerung zum Bewußtsein und durch die Rückkehr vom Bewußtsein zum Geist: Die Wissenschaft, die zuerst nur die geistige Substanz und nicht der Geist ist, „hat sich zu äussern und für sich selbst zu werden, diß heißt nichts anders, als sie hat das Selbstbewußtseyn als eins mit sich zu setzen“ {GW 9.23; vgl. 25). Die Bewegung des Bewußtseins stimmt nämlich mit dem Prozeß überein, in dem die Substanz sich aus der Äußerung als der Geist wiederherstellt. Der Grund, warum das unwissenschaftliche Bewußtsein in den Prozeß der Substanz eingeordnet werden kann, besteht wohl darin, von der Seite des Bewußtseins her gesehen, daß es etwas mit der Wissenschaft gemeinsam hat. Nach Hegel ist der „Verstand“ (GW9.15) oder das „reine Ich überhaupt“ (GW 9.16) dies Gemeinsame, durch welches das Bewußtsein den Standpunkt der Wissenschaft erreichen kann. Es ist das Produkt „der ungeheuren Arbeit der Weltgeschichte“ (GW9.25) und dem Bewußtsein der damaligen Zeit, d. h. dem neuzeitlichen seit DESCARTES, vor allem dem für Hegel zeitgenössischen schon gegeben. Das Bewußtsein als das, das solches Ich hat, kann die Substanz zum Gegenstand machen. Da sich die Wissenschaft im Element der Vernunft befindet (vgl. GW9.20), kommt hier ein und dieselbe Problematik vor, die uns seit der DifferenzSchrift bekannt ist, nämlich der Zusammenhang der Vernunft mit dem Verstand. Die Lösung dieses Problems ist aber verändert worden. Der Verstand ist nicht mehr einfach zu vernichten, sondern eher als etwas Selbständiges zu bezeichnen, das allerdings als das Anderssein der Vernunft in ihre Bewegung einzuordnen ist. Die Erfahrung des Bewußtseins bietet also eine neue Lösung des Problems auf der Grundlage der Subjektivitätstheorie dar.^ In die Dimension des Bewußtseins ist nämlich der Standpunkt von « Die Gegenstände der Erfahrung des Bewußtseins sind die Bestimmungen der spekulativen Philosophie bzw. Logik. Dazu vgl. O. Pöggeler: op. cit. 239, 259; W. Bonsiepen: op. dt. 140. 7 Pöggeler weist darauf hin, daß die Aufgabe am Anfang der Jenaer Zeit, „das Schicksal zu ehren und alles Endliche und Individuelle aufzuheben in den Abgrund des Absoluten“, sich in der Phänomenologie des Geistes in den Vollzug eines teleologischen Prozesses verwandelt (op. cit. 281). Hier handelt es sich um nichts anderes als eine neue Lösung der Frage nach dem Zusammenhang der Vernunft mit dem Verstand. Diese Lösung bezieht sich auf die grundlegende Fragestellung des „Bedürfnisses der Philosophie“, das durch den damaligen Bildungszustand der Reflexionsphilosophie bestimmt worden ist. Dazu vgl. W. Marx: Hegels Phänomenologie des Geistes. 39 f.
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Substanz = Subjekt hineinzubringen. Das Bewußtsein wird so von der Substanz bedingt. Trotz dieser Bedingung hat es als die „absolute Selbstständigkeit“ bzw. die „absolute Form“ bzw. „unbedingtes Seyn“ durch die „unmittelbare Gewißheit seiner selbst“ {GW9.23) den Spielraum für seine Erfahrung. Aus dieser Erfahrung tritt die Begierde hervor, in der die Selbstentwicklung der Bestimmtheiten als die des Selbstbewußtseins artikuliert wird.
3.2.2.2. Die Begierde des Selbstbewußtseins mit Rücksicht auf die Erfahrung des Bewußtseins Auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung der Selbstbewußtseine geht das Bewußtsein als das „Individuum“ (GW9.23) über sich hinaus und wird damit zugleich allgemein. Hier eröffnet sich ein neuer Bereich, nämlich das intersubjektive bzw. zwischenmenschliche Verhältnis. Der Prozeß zu diesem Verhältnis beginnt mit der Begierde. Dabei spielt der Zusammenhang der Begierde mit der Anerkennung eine wichtige Rolle, denn die Wahrheit dieses neuen Bereiches hängt von dem Zusammenhang der beiden Bestimmungen ab. Zu fragen ist, wie sich diese fast entgegengesetzt zu sein scheinenden Phänomene verbinden lassen. Die Frage nach diesem Zusammenhang ist nichts anderes als die Frage danach, ob die Anerkennung von der Begierde abgeleitet werden kann. Gibt man eine positive Antwort darauf, muß man sogleich beantworten, auf welchem Grund die Ableitung für möglich gehalten werden kann. Während die Anerkennung im intersubjektiven Verhältnis vorhanden ist, das über ein bloßes Individuum hinausgeht, kommt es darauf an, ob die Begierde auch in diesem Verhältnis bestehen kann. Denn, wenn sie in diesem Verhältnis bestehen kann, spielt die Begierde eine positive Rolle für das Allgemeinwerden des individuellen Bewußtseins, welches gerade in diesem Verhältnis ermöglicht wird. Man bezeichnet die Begierde im intersubjektiven Verhältnis manchmal auch als die Liebe. Der umstrittene Punkt im Begriff der Begierde bei Hegel würde also zunächst darin bestehen, ob die Begierde die Liebe sein kann, womit wir uns schon in der Entwicklungsgeschichte der Jenaer Zeit beschäftigt haben (s. 3.1.2.2. und 3.2.1.2.). In den bisherigen Untersuchungen sind drei Interpretationsmöglichkeiten der Begierde bei Hegel zu finden: (1) Die Begierde liegt im zwischenmenschlichen Verhältnis. Sie wird als die „Begierde nach der Begierde eines anderen Menschen“, nämlich als die Liebe aufgefaßt. Auf der Grundlage dieser Auffassung wird der Übergang von der Begierde zur Anerkennung
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behauptet. (KOJEVES, HYPPOLITE U. a.) i (2) Die Bestimmung „die Begierde nach der Begierde eines anderen Menschen“ wird abgelehnt. Die Begierde steht nicht im Zusammenhang mit der Liebe. Dementsprechend ist die Anerkennung von der Begierde abgetrennt. (GADAMER U. a.)2 (3) Die Stufe der Liebe wird als eine Art Zwischenstufe zwischen der Begierde und der Anerkennung aus entwicklungsgeschichtlichen Motiven eingeführt. (FETSCHER, HARRIS) 5 ' A. Kojeves Meinung (Introduction ä la lecture de Hegel 12f; (dt) Hegel Hrsg, von I. Fetscher. 22 f) ist repräsentativ für die erste Interpretationsmöglichkeit. Das einzige, was das daseiende Wirkliche übersteige, sei die Begierde selbst. Der Unterschied der menschlichen Begierde von der animalischen liege darin, daß sie sich nicht auf ein reales, positives, gegebenes Objekt, sondern auf eine andere Begierde richtet. Als ein Beispiel spricht er von der Begierde in der Beziehung von Mann und Frau unter einer Bedingung, wenn der eine Teil nicht den Körper, sondern die Begierde des anderen begehrt. Aber er erklärt nicht, aus welchem Grund er Hegels Terminus Begierde so bezeichnen kann. Dies ist nur Kojöves Interpretation und steht nicht bei Hegel. Kojöve sieht von der Erfahrung des Bewußtseins ab. Er spricht zwar von der menschlichen Begierde, die in der Intersubjektivität entsteht. Aber es ist fragwürdig, ob die Begierde selbst den Charakter hat, sich auf die andere Begierde zu richten. Bei Kojöve wird eine Vielfalt der Begierden vorausgesetzt. Erst auf der Grundlage der Erfahrung des Bewußtseins als des Selbstbewußtseins ist festzustellen, ob das Bewußtsein eine solche Vielfalt aufweist. Für das Selbstbewußtsein ist die Existenz eines anderen Selbstbewußtseins nämlich gar nicht selbstverständlich. Kojöves Behauptung setzt also die zu beweisende Sache voraus, die bei Hegel erst als eine Folge der Erfahrung des Bewußtseins entstehen soll. Eine ähnliche Interpretation findet sich in mehreren Untersuchungen. Vgl. /. Hyppolite: Genese et structure de la phenomenologie de Vesprit de Hegel 157, 164; ders.: Etüde sur Marx et Hegel 182; P. Ricoeur: Die Interpretation. 477; B. Quelquejeu: La volonte dans la Philosophie de Hegel 128; /. Heinrichs: Die Logik der „Phänomenologie des Geistes“. 184; P. E. Cain: Widerspruch und Subjektivität. 333; G. Kimmerle: Sein und Selbst. 274. Vgl. auch Th. Haering: Hegel 2.492; A. Wildt: Autonomie und Anerkennung. 376 ff. 2 Vom Standpunkt der zweiten Interpretationsmöglichkeit aus kritisiert Gadamer Kojeves und auch Hyppolites Interpretation, weil sie den Übergang von der Begierde zum anerkannten Selbstbewußtsein noch mit Hilfe des Begriffs der Begierde interpretieren (Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins. In: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Hrsg, von H. F. Fulda und D. Henrich, 241 Anm. 4). Gegenüber ihrer Behauptung, die wahre Begierde sei die „Begierde nach der Begierde eines andern (desir du desir d’un autre)“, d. h. Liebe, nenne Hegel das freilich nicht mehr Begierde. Diese französische Beschreibung des betreffenden Übergangs klinge tatsächlich auf deutsch falsch. Doch sei der sachliche Zusammenhang auch auf deutsch noch in gewissen Worten nachvollziehbar, aber nicht in dem Wort „Liebesbegierde“, das gerade den menschlichen Sinn, den Begierde haben könne, nicht mehr ausspreche. Gadamer billigt das Wort „Ehrbegierde“, das in „desir“ miteingeschlossen, aber hier noch nicht an seinem Platz sei. Da Gadamers Argumentation sich hauptsächlich mit der Differenz des Sprachgebrauchs der beiden Sprachen beschäftigt, bleibt es nicht ganz klar, in welchem Sinne die erste Interpretation nach dem Vorgang des Textes abgelehnt werden muß. Vgl. W. Seeberger: Hegel oder die Entwicklung des Geistes zur Freiheit. 409; H. Drüe: Psychologie aus dem Begriff. 239; W. Janke: Historische Dialektik. 305 ff. 5 Nach Fetscher kann die Begierde zur Liebe werden. Über die Darstellung der Enzyklopädie argumentiert er: Hätte Hegel die Geschlechtsliebe („Begierde nach einem anderen Menschen“) behandelt, wäre der Übergang zur Anerkennung vielleicht besser verständlich geworden (Hegels Lehre vom Menschen. 111). Auf diesem Standpunkt hält Fetscher die Geschlechtsliebe für
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Mit Ausnahme der ersten Position ist der Terminus Begierde bisher nur im Verhältnis von Mensch und Natur betrachtet worden. Dabei besteht gerade der Wert der ersten Interpretation darin, daß die Begierde auch im zwischenmenschlichen Verhältnis begriffen wird. Diese Interpretation stützt sich allein auf die Darstellung der Phänomenologie des Geistes. In der Tat findet sich der Terminus Begierde nicht nur im Verhältnis von Mensch und Natur, sondern auch im zwischenmenschlichen Verhältnis, wie wir gesehen haben (s. 3.1..2. und 3.2.I.2.). Insofern aber dieser Terminus ausschließlich im Verhältnis von Subjekt und Objekt gebraucht wird, hält Hegel ihn für unangemessen zur Bestimmung der Intersubjektivität. Was den Terminus der Liebe betrifft, durch den der Übergang zur Anerkennung begründet werden könnte, gibt es in der Phänomenologie des Geistes keine wörtliche Erwähnung. Der erste Versuch hat also nur eine schwache Basis im Text. In diesem Punkt ist der zweiten Interpretation zuzustimmen. Aber die Kritik der zweiten an der ersten gründet sich nicht unbedingt auf die betreffende Methodik der Erfahrung des Bewußtseins bei der Phänomenologie des Geistes. Wenn diese zweite Richtung die Darstellung der Enzyklopädie behandelt, übersieht sie eine Deutungsmöglichkeit in der Entwicklungsgeschichte, vor allem die Bedeutung der phänomenologischen Problematik. Die dritte steht zwischen den ersten beiden. Sie ist zwar entwicklungsgeschichtlich exakter als die anderen beiden, aber behandelt die Texte nur teilweise und nicht genau, so daß die Bedeutung des Unterschiedes von Trieb und Begierde nicht zur Kenntnis genommen wird. Auch beim dritten Standpunkt wird die phänomenologische Problematik außer acht gelassen, obwohl es darum geht, die ersten beiden Interpretationen zu vermitteln. Da der umstrittene Punkt aus der Darstellung der Phänomenologie des Geistes stammt, muß das dieser Schrift spezifische Anliegen zur Kenntnis genommen werden. Dieses Verfahren scheint auch bei der ersten Deutung nicht genau aufgegriffen worden zu sein. Da die Darstellung der Enzyklopädie entwicklungsgeschichtlich die der Phänomenologie des Geistes voraussetzt, muß jene von dieser etwas übernommen haben, auch wenn die beiden natürlich vom systematischen Standpunkt her gesehen voneinander unterschieden werden müssen. Die Problematik, die in den realphilosophischen Darstellungen zwar vorbereitet, aber erst in der Phänomenologie des Geistes erschlossen und in die enzyklopädische Darstellung seit der Nürnberger Zeit übernommen worden ist, abgesehen von der Umwandlung des systematischen Anliegens, besteht wohl in der subjektivitätstheoretischen Bedeutung des Terminus Begierde. Auf der Grundlage dieser Bedeutung läßt sich m. E. die umstrittene Frage nach dem Zusammenhang der Begierde mit der Anerkennung lösen, wie wir sehen werden. Was diese Bedeutung erschließt, ist nichts anderes als die spezifisch phänomenologische Problematik der Erfahrung des Bewußtseins, die in den bisherigen Untersuchungen nicht genug
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behandelt worden zu sein scheint. Im folgenden soll untersucht werden, ob diese Problematik im Hinblick auf die umstrittene Frage unter den bisherigen Untersuchungen eine andere Interpretationsmöglichkeit darbieten dürfte. Die einschlägige Frage, die von der zweiten Interpretation gestellt und auch von der dritten geteilt wird, setzt voraus, daß vor allem in der enzyklopädischen Darstellung die Begierde einzeln bleibt. (Dabei übersehen diese Interpretationen den Unterschied von Trieb und Begierde; der Trieb hat eine spekulative bzw. subjektivitätstheoretische Bedeutung, auf deren Grundlage er sich von der einzelnen Begierde unterscheidet; s. 4.2.2.1.1.) Unter dieser Voraussetzung scheint es Hegel mißlungen zu sein, den Übergang von der Begierde zur Anerkennung zu klären, den er in der Enzyklopädie „dem Begriffe nach“ (3. Enz § 429 Zus., TW 10.219) darzustellen versucht. Man könnte doch anders verfahren, wenn man die Bedeutung der Erfahrung des Bewußtseins erkennt. Diese Erfahrung führt dazu, daß man im Selbstbewußtsein „in das einheimische Reich der Wahrheit eingetreten“ (GVE9.103) ist, welches das Element der Wissenschaft ausmacht.“* Sie kann also den betreffenden Übergang verständlich machen. Dabei geht es um die Struktur des Bewußtseins, in der es „für sich sein Begriff“ (GW9.57) ist. Mit dieser Bestimmung läßt sich die Formulierung „dem Begriffe nach“ innerhalb der Erfahrung des Bewußtseins interpretieren. eine Art Zwischenstufe zwischen sinnlicher Begierde und gegenseitiger (politischer) Anerkennung der Begehrenden und weist auf die Darstellung der Systementwürfe III hin {Hegel — Größe und Grenzen. 46), die wir im Hinblick auf die Unterscheidung von Begierde und Trieb erwähnt haben (s. 3.2.1.2. Zitat aus GW 8.209). Dabei muß darauf geachtet werden, daß Hegel dort den Terminus Trieb statt Begierde gebraucht, der für die Geschlechtsliebe nicht mehr zutreffend ist. Die Formulierung der Geschlechtsliebe als der „Begierde nach einem anderen Menschen“ ist somit auch entwicklungsgeschichtlich nur schwach begründet. Gleicherweise interpretiert Harris {The Concept of Recognition in Hegel’s Jena Manuscripts. In; Hegel in Jena. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing, 232, 240) die Darstellung der Phänomenologie des Geistes über das Leben und die Begierde im Zusammenhang mit der Darstellung der Systementwürfe I über die geschlechtliche Begierde (s. 3.2.1.2. Zitat aus GW6.301). Es ist aber fragwürdig, ob die Dialektik des Lebens und der Begierde als eine Erklärung der geschlechtlichen Begierde betrachtet werden kann. Lebendiges ist zwar der Gegenstand der Begierde, aber nicht „Eve“, die „Adam“ selbständig gegenübersteht. * In diesem Zuammenhang soll die systematische Funktion des Selbstbewußtseins berücksichtigt werden, in der sich das Wesen der Erfahrung des Bewußtseins wohl offenbart. Dazu vergleiche man Pöggelers Argumentation, die Idee der Phänomenologie werde maßgeblich durch das Prinzip des Selbstbewußtseins bestimmt {Hegels Idee.... 272), und K, Cramers, die Phänomenologie liefere eine Theorie des Selbstbewußtseins, insofern sie eine Gestalt des Bewußtseins als die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst mit Hilfe ihres formalen Operators (gemeint ist: Hegelsche Auffassung des Bewußtseins von Unterscheidung und Beziehung, s. Zitat aus GW9.58) auszeichne {Bemerkungen zu Hegels Begriff vom Bewußtsein in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes. In; Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. Hrsg, von R.-P. Horstmann, 368,387,393). Vgl. auch W. Marx: Hegels Phänomenologie des Geistes. 22,35, 54, 92, 113 ff.
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Die Aufgabe der Erfahrung des Bewußtseins als des Selbstbewußtseins besteht darin, den Prozeß von dem Verhältnis des einzelnen Subjekts zum einzelnen Objekt zu dem intersubjektiven Verhältnis zu begründen. Das Selbstbewußtsein findet sich zunächst als etwas, das sich selbst gewiß, nämlich Ich = Ich (wie bei FICHTE) ist. Hierin ist kein Unterschied vorhanden. Das Selbstbewußtsein steht aber als ein einzelnes Subjekt einem einzelnen Objekt gegenüber, was gleichzeitig einen Unterschied ausmacht. Angesichts dieses Unterschiedes tritt es als die Begierde auf, durch die es sich nicht nur von dem Nicht-Ich wie der FiCHTEsche Begriff Streben oder Trieb (vgl. 3.1.1.) unterscheidet, sondern auch auf sein Objekt bezieht.^ Hier läßt sich die Hegelsche Auffassung des Bewußtseins erkennen, das in sich selbst den Unterschied enthält: Das Bewußtsein „unterscheidet nemlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht“ (G1V9.58, auch folgende). Etwas oder der Gegenstand wird dabei in der Beziehung auf das Bewußtsein als das „Seyn für ein anderes“ bestimmt, das das „Wissen“ heißt. Außer dieser Beziehung findet sich der Gegenstand als das „an sich seyn“, das die „Wahrheit“ heißt. Der Unterschied von Sein-für-einAnderes bzw. Wissen und Ansichsein bzw. Wahrheit macht die Grundlage der Erfahrung des Bewußtseins aus. Es wird nämlich geprüft, ob eine bestimmte Beziehung des Bewußtseins auf den Gegenstand (als das Sein-fürein-Anderes) bzw. das Wissen mit dem außer dieser Beziehung stehenden Gegenstand (als dem Ansichsein) bzw. der Wahrheit übereinstimmt. Es soll untersucht werden, wie beim Selbstbewußtsein diese Prüfung stattfindet. Der Gegenstand wird zunächst in der Beziehung auf das Selbstbewußtsein als „Lebendiges“ {GW 9.104) bestimmt, was die erste Gestalt seines Wissens ist. Gegenüber dem Lebendigen verhält sich das Selbstbewußtsein als die Begierde. Die Begierde hält ihr Objekt für etwas Negatives und zehrt es auf.® In diesem Verhalten zeigt sich, daß das Subjekt dem Objekt 5 W. Becker betrachtet die Begierde als etwas, das dem Fichteschen Sollen gleich ist {Idealistische und materialistische Dialektik. 59 ff; Hegels „Phänomenologie des Geistes“. 53 ff). Er übersieht die Bedeutung der Erfahrung des Bewußtseins, die dem von ihm gemeinten Charakter der Begierde zugrunde liegt. ® Die Hegelsche Darstellung der Begierde erinnert uns an die des Menschen bei Hobbes. Nach Hobbes ist der Mensch von der Außenwelt unterschieden, insofern er seinen einzelnen Leib (body) hat, und steht vor dieser Welt, die die einzelnen Dinge ausmachen. Der Mensch, der als der Inhaber seines Leibes charakterisiert wird, wird als ein Wesen aufgefaßt, das „desire“ hat: „a perpetuall and restlesse desire of Power after power, that ceaseth onely in Death“ (Hobbes’s Leviathan. 75), nämlich die unendlich zunehmende und ausdehnende Begierde, um sich zu erhalten. Er betätigt sich also durch die Begierde in Richtung auf die Außenwelt. Diese Auffassung steht in einem auffälligen Gegensatz zu der von Descartes, nach der sich der Mensch umgekehrt auf sich selbst richtet. Bei Descartes wird das Ich theoretisch durch den methodischen Zweifel und praktisch durch die stoische innere Freiheit, die die „Begierde (desir)“ überwindet, wie die dritte Maxime der provisorischen Moral (Discours de la Methode. 57) aufzeigt.
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entgegengesetzt wird. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt macht die erste Gestalt des Wissens des Selbstbewußtseins aus, wobei der Gegenstand als das Sein-für-ein-Anderes vom Selbstbewußtsein aufgezehrt und völlig negiert wird. In diesem Verhältnis des einzelnen Subjekts zum einzelnen Objekt kann die Begierde aber nicht befriedigt werden. Denn die Befriedigung der Begierde bringt nur immer wieder eine neue Begierde hervor. Zieht man den späteren Ausdruck heran, findet sich in der Wiederentstehung einer neuen Begierde nur der „Progreß ins Unendliche“ (3. Enz § 428 Zus., TW 10.218). In diesem Progreß zeigt sich, daß das Selbstbewußtsein durch die Begierde seine Selbstgewißheit oder die Identität mit sich selbst in seinem Gegenstand nicht bestätigen kann, insofern der aufzuzehrende Gegenstand bestehen bleibt. Das Selbstbewußtsein als die Begierde setzt die Existenz des Gegenstandes voraus, weil es zuerst den Gegenstand geben muß, damit der Gegenstand aufgezehrt werden kann. Das Verhalten der Begierde führt also nämlich in sich selbst festgestellt. Insofern sich das Ich auf sich selbst richtet, gibt es kein Hindernis. Damit wird nur die anschauliche Selbstgewißheit des Ich betont. Bei Hobbes wird dagegen der Mensch, der als Leib aufgefaßt wird, von der Außenwelt bedingt, auch wenn sie nur die gegenständliche Natur ist und als solche vom Menschen total beherrscht wird. Er ist also nur etwas Einzelnes. Er kann dann nicht umhin, etwas zu begegnen, das die Befriedigung seiner Begierde begrenzt. Auch dieses hat die Natur zum Gegenstand und sucht seinerseits, die Befriedigung der Begierde zu erreichen. Es ist deshalb ihm gleichrangig und nichts anderes als ein anderer Mensch. Die Folge dieser Begegnung ist bekanntlich „bellum omnium contra omnes.“ Die unendliche Sucht nach der Befriedigung der Begiere führt also zur Gefahr des Lebens. Hier ist das Verhältnis der Individuen, d. h. das zwischenmenschliche entstanden. Es ist außer Zweifel, daß die Hegelsche Auffassung von dieser beeinflußt ist. Aber die beiden unterscheiden sich ganz klar voneinander. Bei Hobbes existiert der Mensch wie das individuelle Leben nach der Hegelschen Darstellung, nämlich wie „die natürliche Position des Bewußtseyns, die Selbstständigkeit ohne die absolute Negativität“ (GW9.112) und ändert sich selbst anders als das Bewußtsein bei Hegel nicht. Auch Hobbes findet im Menschen zwar „Reason“, aber betrachtet es als etwas, das dem Zweck der Selbsterhaltung unterworfen ist (vgl. Leviathan. 99). Dieses steht also mit der Begierde nur in einem äußerlichen Zusammenhang. Da der Zusammenhang der beiden nicht innerlich begriffen wird, bleibt der Mensch als die Begierde unverändert bestehen. Bei Hegel wird das Bewußtsein als etwas bezeichnet, das sich selbst ändert. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß das Bewußtsein bei Hegel während seiner Änderung mit sich selbst identisch bleibt. L. Strauss meint, daß Hegel die Priorität von Hobbesscher philosophischen Basis gegenüber der Descartesschen anerkenne, in dem Sinne, daß Hobbes nicht magnanimity, sondern „fear of violent death“ als das einzig adäquate Selbstbewußtsein bezeichne (The Political Philosophy of Hobbes. 57). Dies ist aber nicht berechtigt. Denn Hegel hält die Furcht vor dem gewaltsamen Tod nicht für den einzigen Charakter des Selbstbewußtseins. Solche Furcht ist nach der Hegelschen Darstellung dem Selbstbewußtsein zwar unvermeidlich, aber durch die Änderung der Gestalt des Bewußtseins wird vielmehr versucht, eine Gestalt zu erreichen, die solche Furcht überleben kann. Dieser Änderung liegt die Identität des Bewußtseins zugrunde. In diesem Punkt übernimmt Hegel mehr vom Descartesschen Standpunkt als vom Hobbesschen. Zur Auseinandersetzung Hegels mit Hobbes vgl. L. Siep: Der Kampf um Anerkennung. In: Hegel-Studien. 9 (1974), 155—207 ,ders.: Anerkennungais Prinzip der praktischen Philosophie. 304 Anm. 35, 316 Anm. 118.
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dazu, daß das Selbstbewußtsein umgekehrt von seinem Gegenstand bedingt wird. Hier ist auch das Selbstbewußtsein selbst als das Sein-für-ein-Anderes anzusehen. Der Gegenstand ist nicht mehr als etwas unmittelbar Aufzuzehrendes, sondern eher als etwas dem Selbstbewußtsein Vorausgehendes zu betrachten. Die erste Gestalt des Wissens des Selbstbewußtseins stößt damit auf einen anderen Gegenstand, der als etwas außerhalb des Wissens Bestehendes als die Wahrheit zu benennen ist. Der dem Selbstbewußtsein vorausgehende Gegenstand besteht als die Wahrheit außerhalb der Begierde. In dieser Wahrheit ist das Ansichsein des Gegenstandes für das Selbstbewußtsein klar geworden. Es tritt nämlich als etwas Selbständiges auf. Für das Selbstbewußtsein ist die „unorganische allgemeine Natur“ (GW 9.108) als sein Gegenstand entstanden. Das Selbstbewußtsein ist einerseits als ein einzelnes Subjekt in der allgemeinen Natur eingegliedert, doch andererseits noch durch die Entgegensetzung gegen die ganze Natur gekennzeichnet. Da die Selbständigkeit der Natur schon die Wahrheit für das Selbstbewußtsein geworden ist, kann hier von der Befriedigung der Begierde nicht mehr die Rede sein. Die Begierde widerspricht sich in dem Sinne, daß sie die Selbständigkeit des Objekts voraussetzt, um dessen Unselbständigkeit zu beweisen. Hier liegt der Grund, warum das Selbstbewußtsein in der Begierde nicht mehr bleiben kann. Es muß die Gestalt des Wissens ändern. Die Gestalt der Befriedigung des Selbstbewußtseins durch die Begierde muß nämlich aufgehoben werden, d. h. eine andere Gestalt der Befriedigung als die der Begierde ist gefordert^, damit das Selbstbewußtsein als das Bewußtsein sich selbst gewiß sein kann. Durch die Negation der Befriedigung der Begierde wird eine neue Gestalt der Befriedigung des Selbstbewußtseins benötigt und hervorgerufen, nämlich die Anerkennung der Selbständigkeit des Objekts. Wenn es noch die Befriedigung des Selbstbewußtseins geben kann, muß das Bewußtsein seine Gestalt ändern. Es handelt sich dabei nicht um die Vernichtung der Objektivität überhaupt, sondern um die Änderung der Form des Objekts, die eine neue Gestalt der Befriedigung des Selbstbewußtseins möglich macht. Hegel nennt später diese Form des Objekts „ein/refes Objekt“ (3. Enz§ 429; vgl. 1. Enz § 351). Bei diesem Objekt geht es darum, daß es einerseits von seiner Seite her die Negation seiner selbst ausführt, andererseits zugleich selbständig ist, daß es nämlich ein und denselben Charakter wie das Bewußtsein hat. ^ Auf den Zusammenhang des Inhaltes der Befriedigung des Selbstbewußtseins mit dem der Befriedigung der Begierde macht Ricoeur aufmerksam, insofern er von der Befriedigung als dem Bindeglied beider Termini spricht. Zunächst müsse gesagt werden, daß die Dialektik des Anerkennens, die auf diejenige der Begierde folgt, ihr nicht äußerlich, sondern in gewisser Weise ihre Entfaltung und Explikation sei; das Bindeglied zwischen den beiden Momenten bilde der wichtige Begriff der Befriedigung (Die Interpretation. 481).
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Dieses Objekt ist also ein anderes Subjekt; Um der Selbständigkeit des Gegenstandes willen kann das Selbstbewußtsein „zur Befreiung nur gelangen, indem dieser selbst die Negation an ihm vollzieht; er muß diese Negation seiner selbst an sich vollziehen, denn er ist an sich das negative, und muß für das andre seyn, was er ist. Indem er die Negation an sich selbst ist, und darin zugleich selbstständig ist, ist er Bewußtseyn.“ (GW9.108) Hier entsteht das Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem anderen Subjekt. Es wird durch die Bestimmung des Seins-für-ein-Anderes vermittelt und tritt als die Wahrheit bzw. das Ansichsein des Bewußtseins auf. Da etwas, das befriedigt werden soll, nicht mehr die Begierde genannt werden kann, stellt sich die Frage, worum es bei der neuen Gestalt der Befriedigung geht. Es muß dabei berücksichtigt werden, daß auch bei der anderen Gestalt ein und dieselbe Tendenz bestehen bleibt, die Befriedigung des Selbstbewußtseins zu erreichen, in welcher es als das Bewußtsein die unmittelbare Gewißheit seiner selbst (s. 3.2.2.1. Zitat aus GW 9.23) und deshalb stets identisch mit sich selbst ist. Diese Tendenz müßte sich auch bei der Begierde finden. Weil sie trotz der Negation der Befriedigung der Begierde bestehen bleibt, liegt sie der Negation zugrunde. Die Gestalten der Befriedigung, die durch die Negation hervorgebracht werden, sind dann die Unterschiede, denen ein und dieselbe Tendenz immanent ist. Im Hinblick auf die Struktur des Bewußtseins überhaupt wird dieser Sachverhalt unter einer doppelten Hinsicht betrachtet, einerseits der Hinsicht des „natürlichen Bewußtseyns“ (GW9.56), das auf eine Gestalt des Wissens beharrt, andererseits der des Begriffs (s. o. Zitat aus GW 9.57), der über sie hinausgeht und sich auf die Wahrheit richtet.* Der Übergang von der Begierde zur Anerkennung bedeutet die Negation einer Gestalt des Wissens, auf der das Bewußtsein als natürliches beharrt, und wird von dem Bewußtsein als Begriff ermöglicht. Dabei entsteht dieser Übergang insofern nicht außerhalb des Bewußtseins, sondern innerhalb desselben, als er seinen Maßstab „an ihm selbst“ (GW 9.59) gibt. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß das Bewußtsein von außen her bedingt wird. Bei der Erfahrung des Bewußtseins als des Selbstbewußtseins bedingt die unorganische Natur als die Substanz das Selbstbewußtsein und veranlaßt, das auf eine Gestalt des Wissens, d. h. die Begierde beharrende natürliche Bewußtsein zu verlassen. Wenn das Bewußtsein die Richtung dieser Veranlassung, nämlich der Einheit des Wissens und der Wahrheit befolgt, muß es diese Bedingung durch die Substanz innerhalb seiner selbst innerlich wirksam machen. Dieser Umstand wird als Selbstbedingung des * Die doppelte Struktur des Bewußtseins liegt dem Unterschied zwischen dem „natürlichen Bewußtsein“ und dem „erscheinenden Wissen“ zugrunde. Zu diesem Unterschied vgl. W. Marx: op. cit. 26 ff.
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Bewußtseins in dem „Gefühl der Gewalt“ {GW9.51) gefunden; „Das Bewußtseyn leidet also diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst.“ (ebd.) Es hört dann auf, die Begierde zu sein. Das Gefühl der Gewalt zeigt die Tendenz innerhalb des Bewußtseins auf, über sich hinauszugehen, damit die durch den Begriff vorgeschriebene Richtung der Substanz realisiert wird und dadurch sich die Substanz als das Subjekt betätigt. Die Gewalt als „Gewalt von der Vernunft“ (ebd.) bedeutet für das Bewußtsein also einen Zwang der Substanz, die Anstrengung des Begriffs (s. 3.2.2.1. Zitat aus GW9.41) auf sich zu nehmen, nämlich sich in Richtung auf die Vernunft zu verwirklichen.® Hiermit ist das Bewußtsein als der Verstand in den Prozeß der Vernunft einzuordnen. Es hängt allerdings vom Verhalten des Bewußtseins ab, ob diese Richtung realisiert wird. Denn es kann mit seinem „an ihm selbst“ vorhandenen Maßstab entscheiden, ob es diese Richtung befolgt. Insofern es so entscheidet, findet die Änderung der Gestalt des Wissens statt, Beim Eall des Selbstbewußtseins geht die Gestalt des Wissens von der Begierde zur Anerkennung. * Heidegger interpretiert die Gewalt als den Willen des Absoluten (Hegels Begriff der Erfahrung. ln : ders. : Holzwege. 160 ff, 190,193,196,207). Wäre sie so zu verstehen, hätte das Bewußtsein keine eigene Sphäre, in der es sich von der Substanz unterscheiden läßt und seine Erfahrung macht. Die Substanz und die Gewalt, die das Bewußtsein sich selbst gibt, sind nicht direkt verbunden, auch wenn diese Gewalt innerhalb des Bewußtseins die Richtung der Substanz ausdrückt. Es handelt sich um die Differenz zwischen der Erfahrung des Bewußtseins und seiner dialektischen Bewegung. Diese Bewegung drückt die Darstellung des erscheinenden Wissens aus und ist damit direkt mit der Dialektik der Substanz verbunden. Dazu macht Hyppolite zwar zu Recht auf die Differenz zwischen den beiden aufmerksam, aber er interpretiert sie als die der zwei Notwendigkeiten, einerseits der Notwendigkeit, in der das Bewußtsein innerhalb seiner Erfahrung den Gegenstand negiert, andererseits der Notwendigkeit, in der ein neuer Gegenstand aus der vorhergehenden Erfahrung entsteht (Genese et structure ... 29), und damit die Bedeutung der betreffenden Differenz nicht klar: Da die erste Notwendigkeit mit der zweiten, die die Notwendigkeit der Darstellung des erscheinenden Wissens ist und von Hyppolite als für uns eigene bezeichnet wird, schließlich übereinstimmt, sind die beiden miteinander verbunden zu verstehen. Die so verstandene erste Notwendigkeit zeigt sich nur erst als ein Ergebnis der Erfahrung des Bewußtseins und ist also von dieser Erfahrung selbst unterschieden. Bei Hyppolite wird die Differenz der Dimensionen von Bewußtsein und Substanz und damit die eigene Sphäre des Bewußtseins nicht erfaßt. Auch bei W. Marx (op. cit. 25, 31) scheint die eigene Sphäre des Bewußtseins nicht ganz klar aufgefaßt zu sein. Nach ihm ist das Bewußtsein z. B. in seinem Verhältnis mit der unorganischen Natur nicht von der Objektivität abgesondert, weil es kein „trockenes Ich“ habe, Beidieser Auffassung wird das Verhältnis von Bewußtsein und Natur vorausgesetzt, in dem es von der Objektivität nicht abgesondert ist. Dieses „trockene Ich“ zu haben, muß aber auch für das Bewußtsein für möglich gehalten werden, auch wenn es zuletzt eine andere Möglichkeit befolgen würde. Dabei kommt es darauf an, wie die Gewalt für das Bewußtsein wirksam ist, vorausgesetzt, daß das natürliche Bewußtsein ständig von einem Drang getrieben bliebe und zwar deswegen, weil die im Selbst des natürlichen Bewußtseins waltende Vernunft, der Begriff, ihm diese Gewalt antue, wie Marx argumentiert. Hier läßt sich die praktische Seite der phänomenologischen Methode finden, die die Existenz der eigenen Sphäre des Bewußtseins am deutlichsten verkündet. Auf diese Seite im allgemeinen weist Siep hin (Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. 209 ff).
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Hier scheint sich die Darstellung Hegels zu widersprechen, wenn die Begierde selbst eine Tendenz hat, die Wahrheit, nämlich die Anerkennung zu verwirldichen. Das Selbstbewußtsein hat die „Begierde überhaupt“ (GW 9.104, auch folgende), im „Gegensatz seiner Erscheinung und seiner Wahrheit“ „die Wahrheit, nemlich die Einheit des Selbstbewußtseyns mit sich selbst“ „ihm wesentlich werden“ zu lassen. Auf der Grundlage dieser Tendenz wird der Übergang von der Begierde zur Anerkennung durchgeführt. Dabei läßt sich sagen, daß die Begierde nicht ganz negiert, sondern nur ihre bestimmte Gestalt, d. h. die „unmittelbare Begierde“ aufgehoben wird. Wenn sich die Begierde so entwickelt, kann man in ihrer Entwicklung das Allgemeinwerden des Selbstbewußtseins als eines einzelnen Subjekts finden. Das Verhalten der unmittelbaren Begierde wird zwar aufgehoben, aber die Anerkennung selbst ist wohl als eine entwickelte Gestalt der Begierde überhaupt im zwischenmenschlichen Verhältnis anzusehen. Der Übergang von der Begierde zur Anerkennung ermöglicht dann die Befriedigung der Begierde im weiteren Sinne. Es gibt natürlich den zweiten engeren Sinn der Begierde, die eine unmittelbare Gestalt der Begierde überhaupt ist. Dies ließe sich nach der Bestimmung der Begierde überhaupt feststellen. Diese Begierde kann man die Begierde I nennen. Im Gegensatz dazu ist die unmittelbare Begierde als die Begierde II zu bezeichnen, “ insofern Hegel von der Differenz zwischen der Begierde und dem Selbstbewußtsein spricht: „Es ist in der That ein anderes, als das Selbstbewußtseyn, das Wesen der Begierde“ (GW9.107). In der Darstellung der Phänomenologie des Geistes läßt sich eine mögliche Feststellung erkennen, daß die Bestimmung der Begierde selbst eine Tendenz aufzeigt, die Wahrheit des Selbstbewußtseins zu verwirklichen, nämlich sich auf die Anerkennung zu richten und sie selbst zu sein. Dieser Ausdruck bleibt allerdings eher vorübergehend, denn er wird von der Nürnberger Zeit an durch die Bestimmung des Triebes ersetzt und nur auf die un“ Bonsiepen erörtert den Unterschied der Begierde überhaupt von der unmittelbaren Begierde und die Aufgabe verschiedener Schlußformen des Selbstbewußtseinskapitels, den Gegensatz zwischen Erscheinung und Wahrheit in der Begierde überhaupt zu überwinden (Der Begriff der Negativität, 161). Vgl. S.-Z. Lim: Der Begriff der Arbeit bei Hegel. 46 ff; O. Pöggeler: Hegels Idee, 245 ff; A. Wildt: Autonomie und Anerkennung. 375. In den bisherigen Untersuchungen ist dieser Unterschied nicht selbstverständlich. Was die obengenannten drei Interpretationsmöglichkeiten veranlaßt, ist, daß die Begierde und das gleichsam eigentliche Selbstbewußtsein anscheinend nicht in Verbindung gesetzt werden können, wie man aus Heideggers Argumentation (Hegels Phänomenologie des Geistes. 199) entnehmen wird. Nach Heidegger wird das Zu-sich, das zum Insichsein des Selbst gehöre, die Rückkehr in sich als die Wahrheit, als die Begierde gefaßt, als die Sucht des Selbst nach ihm selbst, derart freilich, daß die Befriedigung dieser Begierde auf dem Wege des Bewußtseins von den Gegenständen verlaufe und deshalb nicht in ihr Ziel komme, sondern immer nur neue Begierde erzeuge. Hier wird die Begierde mit dem Zu-sich des Selbstbewußtseins nicht klar in Verbindung gesetzt.
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mittelbare Begierde beschränkt, wobei es um die Erfahrung des Bewußtseins nicht mehr geht (s. 4.2.2.1.1.).i2 Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß auch die unmittelbare Begierde eine positive Rolle für das Allgemeinwerden des Bewußtseins spielt. Für dieses Ergebnis der Erfahrung des Bewußtseins kommt es darauf an, daß vermittels der Erkenntnis der Selbständigkeit des Objekts auch das Bewußtsein als das Selbstbewußtsein seines eigenen Charakters des Seins-für-einAnderes bewußt wird. Dieser Vorgang wird erst durch den Einsatz des Selbstbewußtseins als der Begierde ermöglicht. Das mit sich identische Selbstbewußtsein als ein einzelnes Subjekt setzt sich durch seinen ganzen Leib mit dem Objekt auseinander, was mit der unmittelbaren Begierde und ihrer unendlichen Wiederhervorbringung charakterisiert wird. Zieht man einen späteren Ausdruck heran, ist das Verhalten der Begierde auf der Grundlage der „Leiblichkeit“ (3. Enz § 431) vorhanden, auf der die Identität des Selbstbewußtseins basiert. Das Selbstbewußtsein als das Subjekt der Befriedigung der Begierde erscheint in seinem Verhältnis zum Objekt leiblich und zeigt als Leib seine Individualität auf, die in diesem Verhältnis zum Objekt den Charakter des Seins-für-ein-Anderes trägt. Als Leib wird es ferner von der unorganischen Natur, d. h. der Substanz bedingt, durch deren Selbständigkeit für es notwendig ist, auf das die Anerkennung verwirklichende zwischenmenschliche Verhältnis einzugehen. Ohne die Begierde kann die Erfahrung des Bewußtseins also nicht ausgeführt werden. Die Begierde ist demnach eine eigentliche Gestalt des Selbstbewußtseinsund spielt eine positive Rolle für sein Allgemeinwerden, insofern sie am Anfang seiner Bewegung steht. Hier zeigt sich, daß das Bewußtsein im allgemeinen erst durch die Bestimmung der Begierde seine Wahrheit realisieren kann.i^ In diesem Sinne hat die Begierde eine grundlegende Bedeutung für die Erfahrung des Bewußtseins. Anhand des Unterschiedes von Begierde I und Begierde II ist festzustellen, warum und wie die Begierde am Anfang der Bewegung des Selbstbewußtseins entsteht. Zunächst fehlt dem Selbstbewußtsein die Einheit mit sich selbst dadurch, daß der Gegensatz zwischen Ich = Ich und Ich-GegenR. Aschenberg sieht zu Recht, daß die von ihm genannte „hermeneutische“ Differenz von „für es“ und „für uns“, die die spezifische Methode und den spezifischen Einleitungscharakter der Phänomenologie des Geistes begründet, in der propädeutischen Bewußtseinslehre von 1808/09 ebenso wie in der enzyklopädischen Phänomenologie fehlt (Der Wahrheitsbegriff in Hegels „Phänomenologie des Geistes“. In: Die ontologische Option. Hrsg, von K. Hartmann, 272). Nach Siep versuche die Begierde als aktive Negation des Gegenstandes den Maßstab, das Anderssein als Erscheinung der Einheit des Selbst zu wissen, in der Handlung zu realisieren (op. cit. 214, 308 (Anm. 65)). Zum Umstand, daß es sich dabei um das Prinzip des Selbstbewußtseins als der Wahrheit dessen, was überhaupt ist, handelt, vgl. O. Pöggeler: op. cit. 247 f, 267.
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stand nicht überwunden ist. Der Gewißheit seiner selbst fehlt noch die Wahrheit, die in solcher Einheit liegt. Hier tritt die Begierde I auf, um diese Wahrheit zu verwirklichen. Sie richtet sich auf den fremden Gegenstand (Natur) und wird dabei zur Begierde II, in deren Bestimmung vorausgesetzt wird, daß der Mensch der Natur gegensätzlich gegenübersteht. Die Begierde I realisiert sich also erst durch die Begierde II. Auch in der Begierde II gibt es ein und dieselbe Forderung, daß die Selbstgewißheit in die Wahrheit Umschlagen soll. Dementsprechend hat die Begierde II eine positive Bedeutung für das Allgemeinwerden des Selbstbewußtseins. Beim Übergang von der Begierde II im Verhältnis von Mensch und Natur zur Anerkennung im zwischenmenschlichen Verhältnis handelt es sich um den Schluß der Begegnung der Selbstbewußtseine, die durch die Erfahrung der Selbständigkeit des Gegenstandes vermittelt wird. Als die Begierde II kann nämlich das Selbstbewußtsein seine Befriedigung nicht erreichen, weil die Befriedigung der unmittelbaren Begierde wieder neue unmittelbare Begierde hervorbringt, womit die Begierde über das Verhältnis von Mensch und Natur nicht hinausgehen kann. Da das Selbstbewußtsein seine echte Befriedigung sucht, kann es in dieser Beschränkung nicht mehr bleiben. Dann wird die Gestalt der Befriedigung des Selbstbewußtseins als der Begierde II aufgehoben, d. h. eine andere Gestalt der Befriedigung als diese gefordert. Es kommt zur Anerkennung. Es muß unterstellt werden, daß der Übergang von der Begierde II zur Anerkennung kein leichter ist. Es bleibt immer offen, ob das Selbstbewußtsein als das Bewußtsein sich für die Richtung auf die Anerkennung entscheidet. Insofern Hegel im Hinblick auf das zwischenmenschliche Verhältnis nicht von der Begierde, sondern von der Anerkennung spricht, fragt sich, ob die Begierde sich diesem Verhältnis anpaßt. Hier wäre zu erwarten, daß die Liebe für den Übergang zur Anerkennung eine Rolle spielen würde oder sogar eine Art von Anerkennung wäre, wie die früheren Auffassungen (s. 3.1.2.2. und 3.2.I.2.) zeigen. In der Phänomenologie des Geisteswird dies nicht erwähnt. Nur entwicklungsgeschichtlich läßt sich vermuten, daß unter der abstrakten Darstellung der Begierde sowie der Anerkennung die Liebe als realphilosophischer Gehalt nicht ausgeschlossen wird,!“* vorausgesetzt, daß die Liebe eine höhere Gestalt des menschlichen Verhaltens genannt
Darüber, daß hinter dem Begriff Begierde die in den/e«aerSystementzüü;fen behandelte Begierde zwischen Mann und Frau als realphilosophischer Gehalt vermutet werden kann, vgl. W. Bonsiepen: op. dt. 90. Siep hält es für möglich, daß Hegel auch in der Phänomenologie des Geistes dem Kampf die Liebe vorausgesetzt hat, insofern die Struktur der Bewegung der Anerkennung nicht dem Kampf, sondern der Liebe entspricht; allerdings sieht er grundsätzlich, daß die Liebe und die Familie nicht mehr als Voraussetzungen des Kampfes dargestellt werden (Der Kampf um Anerkennung. 194 und Anm, 57). Dazu vgl. A. Wildt: op. cit. 377.
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werden muß als die jeweilige Begierde bzw. der jeweilige Trieb von Mann und Frau. Es ist dazu bemerkenswert, daß bis zu einem gewissen Zeitpunkt der Nürnberger Zeit die Liebe als natürliches Anerkennen mit einbezogen und danach zu einer höheren Stelle verlagert ist (s. 4.2.2.2.3.). Daraus ergibt sich, daß in einem entwicklungsgeschichtlich begrenzten Rahmen die Rolle der Liebe für den Übergang zur Anerkennung denkbar ist. Es fragt sich dann, wo entwicklungsgeschichtlich kontinuierlich der Grund des Übergangs zu finden ist. Dazu soll die Bedeutung der Arbeit erwähnt werden. In der Phänomenologie des Geistes erscheint sie zwar anders als bei den früheren Auffassungen (s. 3.1.2.2. und 3.2.I.2.) erst im Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft, aber ihre Bedeutung besteht unverändert darin, die unmittelbare Begierde zu hemmen, damit die Begierde zu einer höheren Gestalt geführt wird: „Die Arbeit... ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet. Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zur Form desselben, und zu einem bleibenden; weil eben dem arbeitenden der Gegenstand Selbstständigkeit hat... das eirbeitende Bewußtseyn kommt also hiedurch zur Anschauung des selbstständigen Seyns, a 1 s seiner selbst.“ (GW 9.115) Hier zeigt sich, daß sich das Subjekt von dem Genuß des Objekts und das Objekt selbst von dem Verhältnis von Subjekt und Objekt befreit. Damit wird die Begierde zu ihrer höheren Gestalt der gehemmten Begierde, zur Arbeit erhoben. Das Subjekt findet dann das vom Genuß befreite Objekt als ein anderes Subjekt, wobei es um die Anerkennung geht (s. 3.2.1.2. Zitat aus GW 9.195). Der Übergang von der Begierde zur Anerkennung ist anscheinend der vom Verhältnis von Mensch und Natur zum zwischenmenschlichen. In der Arbeit, durch die der Übergang ausgeführt wird, sind allerdings die beiden Verhältnisse gleichzeitig vorhanden und werden vereinigt. Insofern nun die Arbeit selbst eine höhere Gestalt der Begierde ist, muß der Übergang als die Selbstentwicklung der Bestimmtheiten wie der Begierde durch die Erfahrung des Bewußtseins erklärt werden. In der Auffassung der Selbstentwicklung der Begierde läßt sich ein konkretes Beispiel dafür erkennen, daß sich die Bestimmtheit selbst entwickelt. Durch den Unterschied von Begierde I und Begierde II kann nämlich die damit identische seit der frühen Jenaer Zeit bestehende Frage beantwortet werden, wie die Vernunft und der Verstand im Hinblick auf die zweifache Bedeutung der von uns behandelten Termini miteinander Zusammenhängen. Wie die Begierde I sich erst durch die Begierde II realisiert, nämlich die erstere die letztere nicht einfach vernichtet, sondern als ihre bestimmte Gestalt benötigt, muß die Vernunft sich selbst ihre Realisation durch den Verstand geben. Erst mit dieser Unterscheidung ist entwicklungsgeschichtlich der Punkt erreicht, in der Selbstentwicklung der Bestimmtheiten die
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zweifache Bedeutung der Termini einheitlich zu begreifen und zu artikulieren. Es steht allerdings fest, daß der Standpunkt der Subjektivitätstheorie selbst noch keinen terminologisch angeordneten Ausdruck gefunden hat, auch wenn die Bewegung der Substanz als etwas der Erfahrung des Bewußtseins Zugrundeliegendes und deshalb als etwas möglicherweise mit dem Terminus Begierde Auszudrückendes bezeichnet werden könnte. Um den Punkt zu erreichen, in dem die betreffende Bewegung mit den von uns behandelten Termini ausgedrückt wird, ist nur noch dies zu leisten, daß sie von einem einheitlichen Prinzip aus organisiert wird, nämlich von dem teleologischen Schluß, in dem sich der „Trieb der Idee“ bestätigt. Der in der Phänomenologie des Selbstbewußtseins behandelten Problematik muß man im Zusammenhang mit der Entwicklung in Nürnberg nachgehen. Sie wird sich im einzelnen klären lassen im Blick auf die neue Zuordnung der Phänomenologie des Geistes im sich entwickelnden Gesamtsystem (vgl. 4.1.5.). Um diese angemessen würdigen zu können, ist hier noch die gesamte Nürnberger Entwicklung zu untersuchen.
4. SPEKULATIVE AUFFASSUNG DES BEGRIFFSKOMPLEXES (NÜRNBERG)
4.1. ENTWICKLUNG EINER SPEKULATIVEN BEDEUTUNG DER TERMINI
4.1.1. Die Termini als logische Bestimmungen Bei der Entwicklung der Auffassung der Termini nach dem Erscheinen der Phänomenologie des Geistes bis zum Ende der Nürnberger Zeit geht es um die logische Bestimmung der Termini, die ihren realphilosophischen Bestimmungen zugrunde liegt. In dieser Entwicklung gibt es zwei Stadien. In den beiden „Fragmenten „Das Erkennen hat“ und „Daseyn hat“ tritt der Trieb zum ersten Mal als logische Bestimmung neben dem Streben auf, während in der Wissenschaft der Logik die Auffassung des Triebes der Idee endgültig formuliert wird. Es ist zu betrachten, (1) was der erstere Trieb im Vergleich zur Auffassung des Triebes der Idee in der Wissenschaft der Logik bedeutet, (2) wo er entwicklungsgeschichtlich auf dem Weg zur letzteren Auffassung einzuordnen ist. Um den zweiten Punkt zu klären, wird im folgenden versucht, neben den Fragmenten und der Wissenschaft der Logik auch die noch nicht veröffentlichten Schülernachschriften zu behandeln. Dabei richtet sich die Untersuchung, da der Trieb in den Fragmenten hauptsächlich im Zusammenhang mit Zweck und Leben erscheint, darauf, wie sich der Trieb im Hinblick auf die Wandlung der systematischen Stellung von Zweck und Leben in der Logik mit diesen Kategorien zusammenhängend entwickelt hat. (Diese Untersuchung gibt einen inhaltlichen Hinweis auf die Datierung beider Fragmente.) Zum ersten Punkt: Man muß zunächst feststellen, was der Trieb in den Fragmenten bedeutet, um seine Bedeutung mit der in der Wissenschaft der Logik zu vergleichen. Im Fragment „Daseyn hat“ erscheint der Trieb im „Organismus“ bzw. „Lebensproceß“ in Zusammenhang mit dem Zweck. Er drückt die Bewegung bei der Selbsterhaltung aus, die in ihm selbst das Streben als die Bewegung in den beiden vorausgehenden Sphären, d. h. dem „freyen Mechanismus“ und dem „chemischen Proceß“, in denen die Bewegung den Dingen nur äußerlich ist, aufhebt: „Es [sc. Das Subject] ist Trieb, indem das
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Andre seiner selbst, nicht nur aüsserlich, als eine freye Gleichgültigkeit da ist, auch nicht nur ursprünglich oder dem Wesen nach eins mit ihm ist, sondern indem es in ihm selbst als ein aufgehobnes da ist.“ (GW 12.277) Der „Lebensproceß“ wird hier direkt als die nächste Stufe des „chemischen Processes“ und noch nicht als die „Idee des Lebens“ wie in der Wissenschaft der Logik bezeichnet. Dies weist darauf hin, daß der Trieb in den Fragmenten etwas anderes als in der Wissenschaft der Logik bedeuten kann. Auch im „Erkennen“ wird er in der gleichen Bestimmung betrachtet; er kommt zwar im Kapitel „Erkennen“ des Fragments „Daseyn hat“ nicht vor, aber er tritt an der entsprechenden Stelle des Fragments „Das Erkennen hat“ auf: „Indem das Erkennen von der Gattung durch die Art zur Individualität herabgestiegen ist, ist diese das von ihm freye, selbstständige Ding, und das Erkennen Trieb, erregte Thätigkeit gegen dasselbe“ {GW 12.258). Es handelt sich auch beim „Erkennen“ wie beim „Lebensproceß“ um den Trieb, der sich als die Bewegung des Subjekts mit dem von ihm freien und selbständigen Ding auseinandersetzt. Seine Auseinandersetzungsweise liegt in einer bestimmten Sphäre, die Hegel als Zweck bezeichnet: „Der Zweck ist Trieb, indem... das Moment des Andersseyn ebensosehr aufzuheben, die Einheit Daseyn bekommen, als auch eben dieses Moment vollkommen frey werden muß.“ {GW 12.290) Der Trieb tritt also als die Bewegung des Zwecks auf, der unter einem Widerspruch zwischen dem freien Dasein und der Einheit dieses Daseins steht. In der Entwicklungsgeschichte des Trieb-Begriffs kommt es damit zu einer neuen Phase; der Trieb erscheint hier erstmals als eine logische Bestimmung, m. a. W. so daß die Stellung des Triebes in der Logik hier zuerst verdeutlicht wird, während er bisher nur als eine realphilosophische Bestimmung vorkommt. Diese Bedeutung des Triebes im Zweck bleibt von nun an unverändert; in der Teleologie von der Wissenschaft der Logik kann man den entsprechenden Inhalt finden: „Der Zweck ist in ihm selbst der Trieb seiner Realisirung; die Bestimmtheit der Begriffsmomente ist die Aeusserlichkeit, die Einfachheit derselben in der Einheit des Begriffes ist aber dem, was sie ist, unangemessen und der Begriff stößt sich daher von sich selbst ab.“ {GW 12.162) Dies bedeutet aber nicht, daß der Trieb auch in der Wissenschaft der Logik immer in ein und derselben Bedeutung auftreten würde, denn er ist in der Ideenlehre in einer anderen Bedeutung vorhanden. Der Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen des Triebes betrifft die Frage, wie der Trieb und die Tätigkeit des Subjekts miteinander Zusammenhängen; einerseits setzt sich der Trieb im Fragment „Daseyn hat“ der Tätigkeit des Subjekts entgegen: „Der Trieb, der die Thätigkeit des Mangels ist, welcher darin bestand, daß die Individualität nur erst immaterielle Form war, ist befriedigt. Das Subject ist somit nicht mehr Trieb; aber als Subjekt bleibt es Thätigkeit“ {GW 12.280). Der Trieb ist hier offenbar von der Tätig-
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keit des Subjekts getrennt. Andererseits bedeutet der Trieb in der Ideenlehre der Wissenschaft der Logik die Tätigkeit des Subjekts selbst: „Der Begriff producirt also durch seinen Trieb sich so, daß das Product, indem er dessen Wesen ist, selbst das Producirende ist, daß es nemlich Product nur als die sich eben so negativ setzende Aeusserlichkeit, oder als der Proceß des Producirens ist.“ {GW 12.185) Hier wird die Tätigkeit des Begriffs, der als sich produzierendes Produkt das Problem der Entgegensetzung zwischen dem freien Dasein und der Einheit des Daseins beim Zweck (genauer: bei der äußeren Zweckmäßigkeit) dadurch löst, daß er sich als etwas Äußerliches produziert, gerade mit dem Terminus Trieb ausgedrückt. Der Trieb erscheint im Fragment „Daseyn hat“ also nur in einem begrenzten Sinne, während er in der Ideenlehre der Wissenschaft der Logik in einem den begrenzten Sinn aufhebenden Sinne auftritt, in dem er als die Tätigkeit des Begriffs selbst spekulativ geworden ist. Die letztere Aussage Hegels findet sich in der Idee des Lebens der Wissenschaft der Logik und ist von der Aussage über den „Lebensproceß“ im Fragment „Daseyn hat“ unterschieden. Ähnlich tritt der Trieb auch in der Idee des Erkennens der Wissenschaft der Logik in einem deutlichen Gegensatz zum Trieb im „Erkennen“ des Fragments „Das Erkennen hat“ auf: „Da diese Idee ... der Trieb des Begriffes ist, sich für sich selbst zu realisiren, so ist seine Thätigkeit, das Object zu bestimmen, und durch diß Bestimmen sich in ihm identisch auf sich zu beziehen.“ {GW 12.201; vgl. o. Zitataus GW 12.258) Zwischen den beiden Auffassungen des Triebes gibt es also eine Wandlung der Bedeutung des Triebes, die die Frage betrifft, ob die Idee vorhanden ist. Da der Trieb einerseits hauptsächlich im Lebensproceß des Fragments „Daseyn hat“, andererseits in der Idee des Lebens der Wissenschaft der Logik erscheint, muß diese Bedeutungswandlung auch mit der Auffassung des Lebens Zusammenhängen, die sich jeweils auf die Auffassung des Zwecks bezieht, insofern die Idee die innere Zweckmäßigkeit ist. Wie beziehen sich aber die beiden Auffassungen des Triebes inhaltlich aufeinander, wenn tatsächlich eine Bedeutungswandlung zwischen ihnen vorliegt? Hier ist es wichtig festzustellen, ob der Trieb auch im Zweck der Wissenschaft der Logik in ein und demselben Sinne, nämlich in einem begrenzten Sinne wie im Fragment „Daseyn hat“ betrachtet wird. Die Antwort auf diese Frage ist positiv, denn dort unterscheidet sich der Trieb von der Tätigkeit des Zwecks: „der Zweck ist eben insofern Thätigkeit, nicht mehr bloß Trieb und Streben, als im Mittel das Moment der Objectivität in seiner Bestimmtheit als Aeusserliches gesetzt ist, und die einfache Einheit des Begriffs sie als solche nun an sich hat.“ {GW 12.164) Der begrenzte Sinn des Triebes bleibt also erhalten. Ferner kommt noch dazu der Trieb der Idee des Lebens usw. vor. Diese Bedeutung ist durch die Wandlung in der Auffassung des Triebes erreicht worden. In der Wissenschaft der Logik hat der Trieb
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dann eine zweifache Bedeutung, einerseits im begrenzten Sinne wie in den Fragmenten, andererseits im spekulativen Sinne. Wie kann man aber diese beiden einheitlich verstehen? Es muß dafür einen allgemeinen Grund geben, der die Einheit der beiden ermöglicht, wenn es möglich ist, auf diese Frage positiv zu antworten. Hegels Antwort darauf besteht darin, daß der spekulative Trieb auch als der begrenzte erscheint und innerhalb der letzteren Bestimmung die grundlegende Tätigkeit des Subjekts aufzeigt, die die mit dem begrenzten Sinne des Triebes ausgedrückte Trennung des freien Daseins und seiner Einheit zur grundsätzlichen Einheit führt. Hier kann der Trieb im spekulativen Sinne innerhalb des begrenzten, wenn man so will, empirischen Bereichs als die Tätigkeit des Begriffs betrachtet werden. Hegel will in dieser Sache den Unterschied zwischen der Besonderheit und der Allgemeinheit des Triebes berücksichtigt wissen: „Das einfache Leben ist... als subjective Substanz Trieb, undzwarder specifische Trieb des besondern Unterschiedes, und eben so wesentlich der Eine und allgemeine Trieb des Specifischen, der diese seine Besonderung in die Einheit zurückführt und darin erhält.“ {GW 12.181) Damit findet sich das Leben als Einzelnes; der Trieb wird in einem Schluß Allgemeinheit-BesonderheitEinzelheit gleichsam als das Prinzip bezeichnet, das diesen Schluß vollzieht. Der begrenzte Sinn des Triebes wird dann in diesem spekulativen Sinne aufgehoben, vorausgesetzt, daß der Einzelne, in dem begrifflich schon dieser Schluß an sich vorhanden ist, ihn wirklich realisiert. Im Schluß durch den Trieb bildet das Leben eine Struktur, die nichts anderes als die der Intersubjektivität ist, über die wir später sprechen werden (s. 5.2.). Noch zu erörtern ist, wie die genannte Bedeutungswandlung entstanden ist. Eine Erörterung darüber muß eine Antwort darauf geben können, warum es im Denken Hegels nötig war, den sich der Tätigkeit des Subjekts entgegensetzenden Trieb für diese Tätigkeit selbst zu halten. Hierin liegt die Wandlung des Terminus Trieb von der Richtung auf ein äußeres Ding zu der Richtung auf das Subjekt selbst. Im Hinblick auf diese Wandlung ist ein wesentlicher Ansatzpunkt schon im Fragment „Daseyn hat“ gegeben. Dort wird der Trieb als ein Moment des „Werdens des Subjects“ {GW 12.280) betrachtet, obwohl er noch im Zusammenhang mit dem „Schein des freyen Andersseyns“ {GW 12.290) auftritt. Er ist insofern nicht einfach dem Subjekt entgegengesetzt, sondern auf das Subjekt bezogen. Da er aber nicht ganz in dieser Richtung steht, ist er „die unmittelbare Selbsterhaltung des Eins des Individuums gegen den Andrang, gegen die Beziehung auf ein anderes, und daher gegen die Gefahr des Verlustes der formellen Selbstständigkeit“ {GW 12.280; Hervorhebung vom Verfasser). Offensichtlich ist der Trieb noch vom „Andrang“ unterschieden, der nach der Wandlung des Terminus Trieb als Trieb selbst bezeichnet würde. Es ist aber bemerkenswert, daß die Ausdrücke Andrang und Trieb einander schon sehr nahe stehen. Allerdings
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sind dte beiden noch einander entgegengesetzt: die Tätigkeit des Subjekts ist die den sich ihr entgegensetzenden Trieb nach dem Anderssein in sich selbst setzende Tätigkeit, nämlich „das Setzen des Unterschiedes in sich selbst, der in der ersten ein aüsserlicher, fremder war“ (ebd.). Dieser Unterschied erscheint jetzt als Gestalt und wird in die Tätigkeit eingeordnet: „Diese Thätigkeit der Selbsterhaltung ist daher die Hervorbringung seiner selbst als entfalteter Organisation. Die Einheit seiner Form mit der Materie macht, daß das Individuum die Gleichgültigkeit des Daseyns an ihm selbst hat, und daß seine Form itzt Gestalt ist. Die Darstellung seiner, als Gestalt ist daher diese positive Thätigkeit desselben in und auf sich selbst.“ (ebd.) Da der Trieb hier als eine Gestalt der Tätigkeit des Subjekts erscheint, ist er nicht mehr dieser Tätigkeit entgegengesetzt. Damit wird der Grund aufgezeigt, wie der Trieb in die Tätigkeit des Subjekts eingeordnet werden kann. Es bleibt aber noch übrig, zu erörtern, wie die genannte Tätigkeit ausgerechnet mit dem Terminus Trieb ausgedrückt wird, der noch im Fragment „Daseyn hat“ in einem entgegengesetzten Sinne gebraucht wird. Die Grundlage für die neue Auffassung dieses Terminus ist auch in diesem Fragment — nämlich von der Seite des Triebes, nicht von der Seite der Tätigkeit des Subjekts — zu finden. Der Trieb, der im Fragment vorkommt, tritt zwar in einem engen Sinne auf, aber es eröffnet sich ein Weg zu einem allgemeineren Sinne desselben. Denn der Trieb im Zweck nähert sich der Bestimmung der Tätigkeit des Subjekts in der Weise, daß der Trieb der beiden einander gleichgültigen Extreme das Moment der negativen Einheit der beiden ausmacht: „Das Moment der negativen Einheit dieser Mitte, das wodurch beyde Extreme gegeneinander begeistet sind, ist der Trieb beyder, die Gleichgültigkeit ihres besondern freyen Daseyns aufzuheben und das Daseyn der Gattung darzustellen.“ (GW 12.290) Mit dieser Auffassung hat Hegel fast einen Punkt erreicht, in dem er den Trieb als die Tätigkeit des Subjekts selbst charakterisieren kann. Trotz der Annäherung an diesen Punkt bleibt der Trieb noch von dieser Tätigkeit getrennt, weil gerade im Trieb der Grund dafür gesucht wird, warum die Tätigkeit des Subjekts noch nicht den „Schein des freyen Andersseyns“ überwinden kann, der für den Charakter des Triebes gehalten wird: „Die Anschauung seiner selbst im Andern ist noch getrübt im Triebe, durch den Schein des freyen Andersseyns“ {GW 12.290). Der Trieb tritt also hier nur noch in einem begrenzten Sinne auf, insofern er in der Sphäre des Scheins liegt. Es muß dann betrachtet werden, auf welchem entwicklungsgeschichtlichen Stadium diese Auffassung steht. Dies ist nichts anderes als der zweite Punkt, den wir untersuchen müssen, um zu klären, in welchem Sinne Hegel mit dem Terminus Trieb u. a. seinen Gesichtspunkt auszudrücken versucht. Zum zweiten Punkt: Die genannte Auffassung hat einen Vorläufer in der Darstellung des Begriffs des Selbstbewußtseins von der Phänomenologie des
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Geistes (s. GW9.104ff). Was hier im Fragment „Daseyn hat“ im Vergleich zur letzteren Darstellung auffällig ist, besteht darin: (1) es geht um eine logische Bestimmung, (2) der Terminus Trieb tritt an der Stelle der Begierde auf, (3) der Unterschied zwischen dem Trieb I und dem Trieb II, der dem zwischen der Begierde I (Begierde überhaupt) und der Begierde II (unmittelbare Begierde) entsprechen sollte, kommt noch nicht vor, (4) es zeigt sich eine neue Phase der Wandlung des Terminus Trieb von dem bloßen unmittelbaren Trieb zum Trieb, „das Daseyn der Gattung darzustellen“ (GW 12.290), während der Trieb in den Jenaer Systementwürfen III, die fast gleichzeitig mit der Phänomenologie des Geistes entstanden sind, nur noch als ein Beispiel des Schluß-Begriffs in einem realphilosophischen Sinne dargestellt wird (s. GW 8.202). Die Auffassung im Fragment erreicht deswegen eine mehr ausgearbeitete Stufe der Entwicklungsgeschichte als bei der Begierde überhaupt in der Phänomenologie des Geistes, weil der Trieb schon in der Tätigkeit der Selbsterhaltung, d. h. in einem begrenzten Sinne die Möglichkeit zu einem weiteren Sinne eröffnet, während die Begierde überhaupt in Hinblick auf ihren Zusammenhang mit der unmittelbaren Begierde noch nicht ausführlich dargestellt wird. Der Trieb tritt also als eine logische Bestimmung auf, die als solche über die realphilosophische hinausgeht und kein Beispiel für den Schluß-Begriff mehr, sondern als ein Moment dieses Begriffs selbst vorhanden ist, auch wenn er noch in einem begrenzten Sinne erscheint; dieses Moment als Einzelheit oder „als sich selbst wieder gegebener Begriff; Trieb“ (GW 12.288) schließt die Allgemeinheit und die Besonderheit zusammen. Wie gesagt ist diese Auffassung noch von der der Wissenschaft der Logik derart unterschieden, daß der Trieb nicht die Tätigkeit des Begriffs selbst ist, sondern in der Sphäre des Scheins liegt; was die beiden Auffassungen unterscheidet, ist, ob die Idee vorkommt oder nicht. Es soll nun untersucht werden, wie sich Hegels Denken so entwickelt, daß der Unterschied der beiden von der Idee her einheitlich betrachtet wird. Der Trieb-Begriff in den Fragmenten ist in eine Stufe seiner Entwicklungsgeschichte einzuordnen, die, wie erörtert, nach der Darstellung der späten Jenaer Zeit entstanden ist. Dann ist er mit dem zu vergleichen, der in der Enzyklopädie für die Oberklasse 1808/09 vorkommt. Eine Schülernachschrift zeigt eine Darstellung über den Zweck i mit der verbalen Form die^ Die bisherige Vermutung, daß die die Zweck-Kategorie behandelnden Paragraphen (§§ 78—83, nach Rosenkranz) später, entweder von Hegel selbst oder von Rosenkranz, zwischen Schluß und Idee eingefügt worden seien, ist nach der Beschreibung einer Schülernachschrift der Enzyklopädie für die Oberklasse 1808/09 zu korrigieren. Hegel behandelt diese Kategorie schon vom Anfang der Nürnberger Zeit an im Rahmen der Begriffslehre (§§ 73—78). Allerdings macht die Lehre vom Zweck noch keinen selbständigen Teil der Logik aus und hat deshalb noch keinem systematischen Ort zugewiesen bekommen, worauf Pöggeler hinweist {Nachwort zu Fragment aus einer Hegelschen Logik. In: Hegel-Studien. 2 (1963), 57). Vgl. E. Molden-
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ses Terminus: „Der Zweck ... ist der reale und sich selbst realisirende Begriff, als Ganzes, wie in seinen Theilen, der ganze Schluß. Er ist A.) als das Subjektive, der ganze Schluß, nemlich 1.) das unmittelbare, in sich seyende Allgemeine, das sich 2.) selbst bestimmt oder besondert, und 3.) sich zum außer sich Gehen, zum Daseyn treibt.“ (§ 73, vgl. 7W4.28, Hervorhebung vom Verfasser). Der Trieb im Zweck findet sich auch in den Fragmenten, wie wir gesehen haben. Es kommt darauf an, ob er auch in der Ideenlehre vorhanden ist, von der in den Fragmenten nicht die Rede ist. Aber es gibt in der Ideenlehre keine Spur dieses Terminus, obwohl das Leben behandelt wird. Man kann also davon nicht sprechen, ob der Trieb auch die Tätigkeit des Begriffs selbst bedeuten kann. Der Sinn des Triebes ist möglicherweise in Zusammenhang mit dem Zweck begrenzt, der, auch wenn er innere Zweckmäßigkeit enthält, von der Ideenlehre getrennt wird. In diesem Punkt ist es wahrscheinlich, daß die Enzyklopädie für die Oberklasse 1808/09 und die Fragmente ein und dieselbe Auffassung teilen, abgesehen davon, daß die erstere schon die Ideenlehre enthält.^ hauer/K. M. Michel: Anmerkung der Redaktion. TW 4.606; W. Lefevre: Die Realisierung des Begriffs. In: Die Logik des Wissens und das Problem der Erziehung Hrsg, von W. R. Beyer, 82. Vgl. auch 4.1.2. Anm. 1. 2 In der Ideenlehre der Enzyklopädie von 1808/09 kann man wohl die Darstellung der Tätigkeit des Subjekts selbst sehen, die von der Tätigkeit des Zwecks unterschieden ist. In Hinblick auf die Selbsterhaltung entspricht das Fragment also inhaltlich der Ideenlehre der genannten Enzyklopädie', die Tätigkeiten des Zwecks und Subjekts sind der Darstellung nach im Fragment nicht deutlich unterschieden, während sie in der Enzyklopädie von 1808/09 als voneinander unterschiedene Stufen artikuliert dargestellt werden. Hier läßt sich möglicherweise eine Entwicklung des Hegelschen Denkens beobachten, insofern es darum geht, ob die Ideenlehre vorhanden ist. Da die genannten Tätigkeiten getrennt behandelt werden, muß man annehmen, daß in dieser Ideenlehre die Tätigkeit des Subjekts nicht teleologisch abgeleitet wird; bei der Darstellung über Mechanismus und Chemismus ist dies auch der Fall, indem sie in der Ideenlehre, also von der Kategorie des Zwecks getrennt, erwähnt wird. Daß in der Ideenlehre der Subjektiven Logik für die Oberklasse iS09/J0 teleologische Begriffe auftreten, ist als eine weitere Entwicklung des Hegelschen Denkens zu sehen, in dem Sinne, da der teleologicher Charakter der Idee mit dem Auftreten der Idee des Guten zusammenhängend betont wird (s. 4.1.2. Zitate aus SL 1809/10,86.§ und 105. §). Dabei darf nicht übersehen werden, daß zwischen dem Abschnitt „Teleologischer Schluß“ und der Ideenlehre der Abschnitt „Der Prozeß“ gesondert behandelt wird, der die ersten beiden verbinden soll. Es ist zu vermuten, daß dieser Abschnitt von 1809/10 dem Teil der nicht teleologischen Ableitung der Idee von 1808/09 entspricht, aber wegen der Betonung des teleologischen Charakters der Idee nicht mehr in der Ideenlehre erwähnt wird. Es ist kein Wunder, daß die Selbsterhaltung hier nicht teleologisch erscheint, denn sie repräsentiert die Kritik am Zweck, die schon im Fragment angedeutet wird (s. 4.1.2. Zitat aus SL 1809/10, 78.§); in den vorhergehenden Paragraphen dieses Abschnitts (73.§—77.§) gibt es zwar keine Ausdrücke Mechanismus und Chemismus, aber es geht um ein und denselben Sachverhalt, der mit der nicht teleologischen Ableitung der Tätigkeit des Subjekts zu tun hat, wie beim Fragment. Hiermit wird die Annahme bestätigt, daß die Entwicklung von Mechanismus, Chemismus und Lebensprozeß im Fragment in den Zusammenhang einer Realisierung des Begriffs eingeordnet werden kann; da das Fragment weder den Unterschied der äußeren und
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Eine ausdrücklich andere Auffassung als die genannte findet sich in einer Schülernachschrift über Subjektive Logik für die Oberklasse 1809/10; in der Ideenlehre kommt zwar der Terminus Trieb nicht vor, aber statt dessen der Terminus Bedürfnis, der offensichtlich der Sache nach mit dem Trieb zusammenhängt: „Das Verhältnis des Organischen zum Unorganischen ist die gedoppelte Bewegung des fortdauernden Kampfes, welcher einerseits das Uebergehen ins Entgegengesezte (sic) und die Macht des fremdartigen hemmt, die äussere Bedingung aufhebt, sie zur Materie der organischen Einheit macht und derselben unterwirft; andererseits diese auch wieder entzweyt und die als ein Negatives ihrer selbst sezt, welches... innerlich als ein Mangel und erneuertes Bedürfniß ist“ (90. §, Hervorhebung vom Verfasser). Das Bedürfnis zeigt eine Phase der Idee des Lebens auf. Daraus ergibt sich, daß erst in diesem Stadium der Entwicklungsgeschichte der Trieb u. a. auch als die Tätigkeit des Begriffs selbst bezeichnet worden ist, auch wenn die einheitliche Bestimmung von Begriffskomplex I und Begriffskomplex II damit noch nicht erreicht worden ist. Allerdings ist festzustellen, daß im Hinblick auf die Bestimmung des Bedürfnisses und Mangels eine spekulative Bedeutung in diesem Gymnasialunterricht für Subjektive Logik wie in der Wissenschaft der Logik beobachtet werden kann. Anschließend an die Betrachtung der Ideenlehre ist zu untersuchen, ob und wie die genannte Bedeutung im Selbstbewußtseinskapitel vorkommt, denn dieses Kapitel hängt hinsichtlich seiner logischen Stellung innerhalb der spekulativen Philosophie mit der Form ,Leben und Erkennen' zusammen (s. GW 8.286), auch wenn dies in diesem Stadium der Entwicklungsgeschichte nicht unmittelbar der Fall ist. Die Aussagen Hegels im Fragment „Daseyn hat“ und in der Bewußtseinslehre für die Mittelklasse 1809ff ober den Trieb sehen ähnlich aus; in den beiden ist von der Inhaltslosigkeit des Triebes die Rede. Insofern das Subjekt immaterielle, reine Form hat, tritt es als Trieb auf, heißt es im Fragment: „Das Subject ist dasjenige, welchem die Bewegung zukommt, und das sie aus sich selbst anfängt. Es ist Trieb; es ist, unmittelbar wie es gegen seine unorganische Natur im Verhältniße auftritt, das inhaltslose Selbst, das immaterielle, das sich mit seinem einfachen Wesen noch nicht als eins gesetzt hat, sondern reine Form ist.“ {GW 12.277) Ähnlich formuliert Hegel auch beim Trieb des Selbstbewußtseins: „Dieser Satz des Selbstbewußtseins [sc. Ich = Ich] ist ohne allen Inhalt. Der Trieb des Selbstbewußtseins besteht darin, seinen Begriff zu realisieren und in allem sich das Bewußtsein seiner zu geben.“ {Bew 1809ff § 23, Fasinneren Zweckmäßigkeit noch die Ideenlehre enthält, ist es entwicklungsgeschichtlich in ein früheres Stadium als das der Enzyklopädie von 1808/09 einzuordnen. Über die genannte Annahme s. O. Pöggeler: op. cit. 58; W. Lefevre: op. cit. 84. Über die Gliederung der Schülernachschrift s. E. Ziesche: op. cit, 441.
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sung IVa,3 TW 4.117) Trotz dieser Ähnlichkeit bestehen die beiden Triebe in voneinander unterschiedenen Dimensionen; die erste Art erscheint insofern noch in einem begrenzten Sinne, als sie sich der Tätigkeit des Subjekts entgegensetzt, wie wir oben gesehen haben, während die zweite Art diese Tätigkeit selbst bedeutet. Die erste Art entspricht der unmittelbaren Begierde (Begierde II) in der Phänomenologie des Geistes (s. GW 9.104) oder der Begierde in einer Fassung des Selbstbewußtseinskapitels (eine Beschaffenheit des sinnlichen Selbstbewußtseins, s. TW4.84, Fassung II), insofern der Trieb sich nach einem Dasein richtet: „Es [sc. das 2. Extrem, die Flucht von der allgemeinen Materie] ist selbst zunächst nur eine Richtung überhaupt, ein Trieb, welcher dem ersten [sc. dem Daseyn des Individuums als allgemeiner Materie überhaupt] entgegengesetzt, das Streben nach einem Daseyn“ (GW 12.281). Die zweite Art des Triebes liegt, systematisch gesehen, der ersten Art zugrunde, welche aber entwicklungsgeschichtlich früher als jene Art, nämlich in einer Randnotiz Hegels zu einer Schülernachschrift von Geisteslehre für die Mittelklasse 1808/09 vorkommt: „Diß Gefühl seines Andersseyns widerspricht seiner Gleichheit mit sich selbst; die gefühlte Nothwendigkeit, diesen Gegensatz aufzuheben, ist der Trieb“ (§ [9], Fassung lila, vgl. TW4.118). Dieser Trieb als der des unmittelbaren Selbstbewußtseins wird die Begierde genannt {Psychologie für die Mittelklasse 1811/12 § 32, Fassung IVb). Hiermit wird der Unterschied des Triebes des Selbstbewußtseins vom unmittelbaren Trieb deutlich gemacht. Hier läßt sich erkennen, daß der Trieb I und der Trieb II einheitlich betrachtet werden. Im Vergleich dazu muß bestimmt werden, in welchem Stadium der Entwicklungsgeschichte sich der Trieb-Begriff in den Fragmenten befindet. Da der Bedürfnis-Begriff in der Ideenlehre der Subjektiven Logik für die Oberklasse 1809/10 schon das Spekulativwerden der von uns behandelten Termini ankündigt, ist die Auffassung des Triebes in den Fragmenten wahr^ Es gibt verschiedene Nürnberger Fassungen des Selbstbewußtseins. Die Numerierung bezieht sich auf eine Hypothese zur Chronologie dieser Fassungen: 1808/09 Fas; g la: Harvard Manuskript ( — HM) 207a—207b —210a rechts—210b— 208a (7W4.78f-81f-84f) b: Text eines Schülerheftes c: HM 207b-210a links (7W4.79f) II: HM211b-211a (7W4.83f-82) 1809/10 lila: Hegels Notizen am Rande des obengenannten Schülerheftes b: Text nach Rosenkranz (Prop 84—89; TW4.117—123) IVa: 1811/12 b: Text eines Schülerheftes (von Chr. Meinel) 1812/13 V: Text eines Schülerheftes (von Chr. Meinel) Zur Begründung der Hypothese s. den Aufsatz vom Verf.: Zur Chronologie von Hegels Nürnberger Fassungen des Selbstbewußtseinskapitels. In: Hegel-Studien. 21 (1986).
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scheinlich früher als die des Bedürfnisses in diesem Gymnasialunterricht entstanden. Es ist ferner möglich, zu vermuten, daß die Fragmente vor 1808/09, aber nicht vor 1807, also 1807/08 datiert sind, weil in ihnen eine logische Bestimmung für den Trieb-Begriff schon anders als in der Phänomenologie des Geistes und in den Jenaer Systementwürfen III gegeben ist, die Ideenlehre jedoch noch fehlt.“* Auch beim Terminus Streben ist zu untersuchen, ob bei ihm eine ähnliche Entwicklung wie beim Trieb zu verzeichnen ist. Die Antwort auf diese Frage ist positiv, weil der Terminus Streben dem Spekulativwerden des Triebes entsprechend über seinen begrenzten Sinn im Mechanismus und Chemismus hinaus auch in der Ideenlehre auftritt, in der er die Tätigkeit der Idee selbst ausdrückt. Dies muß aber entwicklungsgeschichtlich geklärt werden. Im Fragment „Daseyn hat“ erscheint das Streben neben dem Trieb in einem begrenzten Sinne, wie wir gesehen haben (s. o. Zitat aus GW 12.281), insofern der Trieb im Zusammenhang mit Zweck und Leben steht. Das Streben ist auch im „freyen Mechanismus“ vorhanden: „Diß Verhältniß der beyden Dinge, insofern ihre Beziehung die allgemeine Einheit ihres Wesens ist, ist das Streben derselben ... Diß Streben erreicht sein Ende nicht, weil ... dasjenige welches das thätige wäre, das strebende, und dasjenige, nach welchem gestrebt wird, gleichgültig und frey von einander sind.“ (GW 12.260 f) Dieses Streben bedeutet die Bewegung der einander gleichgültigen, freien Dinge, denen ihr Vermittelndes fehlt. Offensichtlich wird der Terminus hier in einem begrenzten Sinne gebraucht. Eine verwandte Auffassung findet sich im „chemischen Prozeß“ der Enzyklopädie für die Oberklasse 1812/13, wo zwar nicht der Terminus selbst, aber seine Verbform auftritt: „Die Säure hebt sich auf, sie strebt ein Anderes zu erhalten wodurch sie neutralisirt wird, sie strebt nach der Verbindung, dann ist sie keine Säure mehr“ (Enz 1812/13 ad § 15). Auffällig ist, daß die Aussagen der beiden Zitate einer realphilosophischen, insbesondere naturphilosophischen Auffassung sehr nahe stehen; in der Tat werden die Beispiele ähnlicher Auffassungen im Bereich der „Naturwissenschaft“ fast gleich dargestellt (s. 4.2.1. Zitate aus SbW 1809/10, 25. §, 38. § und 45. §). Insofern scheint es im Hinblick auf die Bedeutung des Terminus nichts Neues zu geben. Wie kann man aber den Umstand verstehen, daß in der Enzyklopädie von 1812/13 vom Bestreben in der Ideenlehre gesprochen wird, das offenbar dem Streben gleich ist? „Die Dinge haben Wahrheit, indem die Wirklichkeit dem entspricht was sie seyn sollen. Nur in der Idee haben die Dinge Wahrheit. Das 2te ist die Idee von Wahren und Guten in ihrem Bestreben.“ ■* über die Datierung des Fragments sind die Herausgeber von GWl 1—12 auch der Meinung, daß es wahrscheinlich vor dem ersten Nürnberger Manuskript, also in der Bamberger Zeit, d, h. in den Jahren 1807/08 geschrieben worden ist (GW 12.331). Dazu vgl. auch O. Pöggeler: op. cit. 60.
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(ebd. ad § 16) Da dieses Bestreben mit der Wahrheit zusammenhängt, geht es über ein bloßes Sollen hinaus und hat deshalb einen positiven Sinn. Daraus ergibt sich, daß die Bedeutung dieses Terminus erweitert und zum spekulativen Sinne erhoben wird; das Streben erscheint also zweifach, einerseits im begrenzten Sinne und andererseits im spekulativen Sinne. Dies bezieht sich wohl auf das Spekulativwerden des Triebes, insofern die zweifache Bedeutung des Strebens der des Triebes entspricht, auch wenn die Entwicklungsgeschichte des Terminus Streben in bezug auf das Spekulativwerden der Termini nicht so deutlich wie die des Terminus Trieb ist. Spätestens Ende 1811 ist der Terminus Streben im spekulativen Sinne gebraucht, auch wenn nur in der Verbform, insofern es um die Religion geht: „Der Gegenstand der Religion ist das absolute Wesen, sie ist ein Geistiges weil der endliche strebt sich ihm zu nähern, ihn sich zu eigen zu machen ... In der Religion sucht der Mensch nicht blos in seinen Gedanken das absolute Wesen zu haben, sondern auch in seiner Wirklichkeit. Der Mensch will auch seiner Einigung mit Gott gewiß werden, er strebt nicht blos nach der Wahrheit, sondern auch nach der Wirklichkeit.“ {Rel 1811/13 ad § 1) Dies ist nur ein Beispiel innerhalb der terminologisch festgestellten Auffassung Hegels. Er persönlich gebraucht diesen Terminus im spekulativen Sinne schon in einem Gedicht an seine Braut Marie am 13. April 1811 (s. 4.2.2.2.3. Zitat aus Br 1.352f). Man kann also sagen, daß das Spekulativwerden des Strebens zu dem des Triebes parallel entstand. Eine auffällige Vorkommensweise des Terminus Streben nach seinem Spekulativwerden begegnet im Organismus der „Naturwissenschaft“ sowie in der Ideenlehre (s. 4.2.1. Zitat aus Rel ad § 8 und Enz. 1812/13 ad § 46). Diese beiden Phänomene sind möglicherweise analog zu verstehen. Da das Streben neben dem Trieb in Hinblick auf das Leben schon im Fragment „Daseyn hat“ auftaucht (s. o. Zitataus GW 12.281), ist der Umstand selbstverständlich, daß es im Organismus vorhanden ist. Dabei hat das Spekulativwerden der von uns behandelten Termini noch nicht stattgefunden. Beim Streben sowohl im Organismus als auch in der Ideenlehre hat die Struktur des Lebens einen so wichtigen Sinn, daß aufgrund deren das Spekulativwerden der betreffenden Termini entstanden ist (s. 4.1.2.). Daraus ergibt sich, daß das Spekulativwerden des Strebens erst dadurch ermöglicht worden ist, daß seine Bestimmung als etwas Unorganisches zu etwas Organischem erhoben wird und zwar nicht nur in der „Naturwissenschaft“, sondern auch in der Logik. Dies ermöglicht umgekehrt, daß der unorganische Bereich analog dem organischen betrachtet wird (s. 4.2.1. Zitataus Rel 1811/13 ad § 8); der Trieb, der eigentlich eine teleologische Bestimmung sowohl des Organischen als auch der Idee bzw. der inneren Zweckmäßigkeit genannt werden kann, ist auch im Unorganischen wie Physikalischen oder in den Objektivitätskategorien wie Mechanismus und Chemismus vorhanden (für das erstere Beispiel s. 4.2.1. Zitat aus 3. Enz § 270 Zus., TW9.97): „Ob zwar
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sein theoretischer oder praktischer Mechanismus nicht ohne seine Selbstthätigkeit einen Trieb und Bewußtseyn Statt finden kann, so fehlt darin doch die Freyheit der Individualität“ (GW 12.133). „Indem es [sc. das chemische einzelne Object] auf diese Weise an sich der ganze Begriff ist, so hat es an ihm selbst die Nothwendigkeit und den Trieb, sein entgegengesetztes, einseitiges Bestehen aufzuheben, und sich zu dem realen Ganzen imDaseyn zu machen, welches es seinem Begriffe nach ist.“ (GW 12.148; s. auch 151) Hier ist dargestellt, daß der Terminus Trieb über seinen eigenen Bereich hinaus auch auf andere, weitere Bereiche angewendet wird, ohne den Unterschied zwischen dem begrenzten und dem spekulativen Sinne zu verlieren. Neben der zweifachen Bedeutung des Triebes stehen die des Strebens in der Wissenschaft der Logik, einerseits im begrenzten Sinne im Abschnitt der Objektivität, andererseits im spekulativen Sinne in der Ideenlehre: „Die Bewegung des Zweckes hat nun diß erreicht, daß das Moment der Aeusserlichkeit nicht nur im Begriff gesetzt, er nicht nur ein Sollen und Streben, sondern als concrete Totalität identisch mit der unmittelbaren Objectivität ist.“ (GW 12.172; s. auch beim Mechanismus 143ff, 147; beim Chemismus 149; bei der Teleologie 160,164) „Die absolute Idee, wie sie sich ergeben hat, ist die Identität der theoretischen und der praktischen, welche jede für sich noch einseitig, die Idee selbst nur als ein gesuchtes Jenseits und unerreichtes Ziel in sich hat; —jede daher eine Synthese des Strebens ist, die Idee sowohl in sich hat als auch nicht hat, von einem zum andern übergeht, aber beyde Gedanken nicht zusammenbringt, sondern in deren Widerspruche stehen bleibt.“ (GW 12.236) Es ist bemerkenswert, daß auch in der Dimension der Idee das Streben vorhanden ist, das im letzteren Zitat noch im begrenzten Sinne gemeint zu sein scheint. Dies zeigt aber, daß die absolute Idee das Streben hat, den betreffenden Widerspruch aufzuheben; insofern sie „den höchsten Gegensatz in sich“ (ebd.) hat, ist das Streben ihr eigenes Moment. Der Unterschied dieses Strebens von dem begrenzten muß allerdings klargestellt werden. Außerhalb der absoluten Idee als dem „freyen subjectiven Begriff“, der „in seinem Andern seine eigene Objectivität zum Gegenstand hat“ (ebd.) und daher den genannten Widerspruch aufhebend in sich enthält, bleibt das Streben im begrenzten Sinne: „Alles Uebrige ist Irrthum, Trübheit, Meynung, Streben, Willkühr und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist Seyn, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit.“ (ebd.) Schließlich sei erwähnt, wie die Termini Trieb und Streben als logische Bestimmungen in den verschiedenen Sphären, die oben nicht behandelt worden sind, enthalten sind. Dies ist in den späten Werken deutlicher als in den Nürnberger Schriften zu sehen. Da es viele Beispiele gibt, können nur einige aus der zweiten Ausgabe der Wissenschaft der Logik (1831) angeführt
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werden: „Enthält aber eine Existenz den Begriff nicht bloß als abstraktes Ansichsein, sondern als für sich seiende Totalität, als Trieb, als Leben, Empfindung, Vorstellen usf., so vollbringt sie selbst aus ihr dies, über die Schranke hinaus zu sein und hinauszugehen.“ (TW5.146) „das Nicht-Ich bleibt ein unendlicher Anstoß, ein absolut Anderes; die letzte Beziehung seiner und des Ich aufeinander ist der unendliche Progreß, Sehnsucht und Streben, — derselbe Widerspruch, mit welchem angefangen wurde.“ (TW 5.270) Diese Aussagen, die in der Lehre des Seins auftreten, zeigen, daß die von uns behandelten Termini als logische Bestimmungen eine allgemeine Anwendungsmöglichkeit in der gesamten Logik haben. 4.1.2. Das Spekulativwerden des Triebes im Zusammenhang mit der Einführung der Ideenlehre in die Begriffslehre Es ist bemerkenswert, daß zwei Tatsachen chronologisch (1810/11) parallel entstanden sind: einerseits ist die Ideenlehre ein Teil der Begriffslehre geworden,! andererseits begegnet der Trieb erstmals in einer spekulativen
1 Dazu vgl. den folgenden Umriß der Gliederung der Begriffs- und Ideenlehre in den LogikKursen von 1808—1811:
Enzyklopädie 1808/09
Subjektive Logik 1809/10
Logik 1810/11
Erster Theil Logik (§ 6—10)
Logik (l.§)
Logik (§ 1—6) Erster Theil. Das Seyn in seinen reinen Bestimmungen (§ 7—32)
Erster Abschnitt Ontologische Logik (§ 11-48)
Zweiter Theil. Das Wesen (§ 33-92) Zweyter Abschnitt. Subjektive Logik
A. Begriffslehre
III. Theil. Begriff. Subjektive Logik (§ 93-94) I. Abschnitt. Der Begriff oder die formale Logik (§ 95)
1) Begriff (§ 49-52)
A. Verstand oder Begriff (2.-10.S)
a) Der Begriff (§ 96-104)
2) Urtheil (§ 53-54)
B. Urtheil (ll.-38.§)
b) Das Urtheil (§ 105-123)
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Spekulative Auffassung des Begriffskomplexes
Bedeutung. Beides hängt wohl miteinander zusammen. Um diesen Zusammenhang zu klären, muß die Bedeutung des teleologischen Schlusses als der inneren Zweckmäßigkeit erläutert werden, weil es sich bei der Entwicklungsgeschichte der Ideenlehre als eines Teils der Begriffslehre um die Stellung der inneren Zweckmäßigkeit handelt und weil früher in der Jenaer Zeit der Trieb als ein Beispiel des teleologischen Schlusses erscheint. Beim Übergang von der Teleologie zur Ideenlehre in der Wissenschaft der Logik, der von der Tätigkeit der Vernunft abhängt, wird der Terminus Trieb zweifach gebraucht: (1) Er setzt sich der Tätigkeit des Subjekts entgegen (s. 4.1.1. Zitat aus GW 12.164). (2) Er vereinigt sich mit dieser Tätigkeit (s. 4.1.1. Zitat aus GW 12.201). Was die beiden unterscheidet, ist der Unterschied der äußeren und inneren Zweckmäßigkeit. In der Enzyklopädie für die Oberklasse 1812/13 wird die innere Zweckmäßigkeit für die Idee gehalten. Hier wird der Sachverhalt zwar nicht mit dem Trieb ausgedrückt, aber mit einem ähnlichen Wort Gewalt (vgl. 3.2.2.2.): „Diese Durchdringung von Subjektivität und Objektivität ist die Idee, das Wirkliche in so fern es ganz in der Gewalt des Begriffs und umgekehrt daß im Begriff kein Zweck ist, der nicht realisirt sey.“ {Enz 1812/13 ad § 16, Hervorhebung vom Verfasser) Gleicherweise kann man den Trieb als etwas mit der Tätigkeit der Vernunft 3) Schluß (§ 60-78)
C. Schluß oder Vernunft (39.-40.§) I. (41.-65.S) II. Teleologischer Schluß (66.—72.§) III. Der Prozeß (73.-78.§)
Dritter Abschnitt. Ideenlehre (§ 79)
B. Ideenlehre (79.—82.§)
1) Idee des Lebens (§ 80—88)
a. Idee des Lebens oder der Schönheit (83.-91.§)
2) Erkenntniß (§ 89-97)
b. Die Idee der Erkenntniß und des Guten (92,§) a. Das Erkennen (93.-104.S) ß. Das Gute (105.-108.§)
3) Absolute Idee oder das Wissen (§ 98)
c. Idee des Wissens oder der Wahrheit (109.-114.§)
c) Schluß (§ 124-127)
F II. Abschnitt. Der Zweck, oder, teleologischer Begriff (§ 128—131) Dritter Abschnitt. Die Idee (§ 132—135)
Hier zeigt sich die Umwandlung der Gliederung der Begriffslehre und Ideenlehre in diesen Jahren deutlich. Zur genaueren Gliederung s. E. Ziesche: op. cit. 439—443,
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Vereinigtes oder als die Bestimmung der Idee finden. Die Wandlung des Hegelschen Gesichtspunkts hinsichtlich des Triebes ist also vor 1812/13 entstanden. Allerdings ist sie nach 1809/10 geschehen, weil zwar der Nebenbegriff Bedürfnis in der Ideenlehre von Subjektive Logik für die Oberklasse 1809/10 (s. 4.1.1. Zitat aus SL 1809/10, 90.§) vorkommt, aber noch keine einheitliche Bestimmung für die Ideenlehre und Lehre von der inneren Zweckmäßigkeit vorhanden ist. Die beiden Teile werden noch getrennt gefaßt, in der Weise, daß die beiden Teile trotz einer gemeinsamen Bestimmung zugleich nebeneinander bestehen. Die (Selbst-)Erhaltung erscheint nämlich nicht nur in der Begriffslehre, sondern auch in der Ideenlehre: „Die höhere Einheit ist, daß die Thätigkeit sich im Produkte erhält oder, daß das Produkt selbst producirend ist, somit die Neutralisirung der Momente eben so ihre Entzweyung oder das Erlöschen des Processes in der Vereinigung der Extreme das Wiederanfachen desselben ist. Die Thätigkeit dieses producirenden Produkts ist somit Selbsterhaltung, es bringt nur sich hervor, das schon da ist.“ (SL 1809/10, 78.§, vgl. TW4.156f)2 „Die Bewegung des Individuums in sich selbst ist der Proceß der Gestaltung, das Verhältniß des Organischen in und zu sich selbst. Es ist eigentlich nur Evolution und Erhaltung des an sich schon seyenden organischen Systems und besteht darin daß alle organischen Theile sich gegenseitig fortdauernd hervorbringen, Zwek, Mittel und Produkt gegenseitig sind und daß die Wirksamkeit eines jeden Einzelnen zugleich Wirkung des Ganzen ist.“ (ebd. 86.§) Wenn die beiden Teile ein und dieselbe Struktur hätten, wäre es nicht nötig, ein und dieselbe Bestimmung zu wiederholen. Unter der Voraussetzung dieser Struktur in den beiden Teilen wäre die Theorie vom Trieb in den beiden gleich. Weil jedoch beide getrennt sind, dürfte der Trieb noch keine einheitliche Bestimmung haben. Allerdings zeigt sich hier eine Zwischenphase von der von der Ideenlehre getrennten Theorie der inneren Zweckmäßigkeit zur mit der ersteren vereinigten, insofern in der Ideenlehre die teleologische Begriffe Zweck, Mittel und Produkt erscheinen. Obwohl es problematisch ist, ob die Aussage von der Selbsterhaltung in der Begriffslehre teleologisch verstanden werden kann,^ hat sie mit den Aussagen von der inneren Zweckmäßigkeit in der Enzyklopädie für die Oberklasse 1808/09 sowie in der Logik für die Mittelklasse 1810/11 ein und denselben Inhalt: „Die innere Zweckmäßigkeit ist die, daß Etwas an sich selbst gegenseitig eben so sehr Zweck, als Mittel, sein eigenes Produkt, und dieß Produkt das Producirende selbst 2 Ein gesonderter Paragraph über Selbsterhaltung findet sich hier: damit ist der editorische Bericht von GW 12, daß er sich in keinem der erhaltenen Nürnberger Manuskripte fände (GW 12.331), zu korrigieren. 3 Diese Aussage gehört zum Abschnitt „Der Prozeß“, der dem „Teleologischer Schluß“ folgt und also davon unterschieden ist, d. h. nicht teleologisch betrachtet wird. Dazu W. Lefevre: op. cit. 86. Über die entwicklungsgeschichtliche Einordnung dieser Aussage s. 4.1.1. Anm. 2.
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ist. Ein solches ist selbst Zweck“. {Enz 1808/09 § 78, vgl. TW4.29) „Die innere Zwekmäßigkeit ist, wenn ein Daseyendes seinen Begriff in sich selbst hat, und zugleich Zwek, Mittel, und sich realisirender und realisirter Zwek an ihm selbst ist.“ (L 1810/11 § 131, vgl. 7W4.202) Die Auffassung der inneren Zweckmäßigkeit bleibt also von 1808/09 bis 1810/11 unverändert, abgesehen davon, daß in der Logik für die Mittelklasse 1810/11 die Ideenlehre ein Teil der Begriffslehre wird. Da in der betreffenden Darstellung dieses Unterrichts der Terminus Trieb nicht vorkommt, ist es nicht klar, ob der Trieb eine einheitliche Bestimmung hat. Insofern sich die logische Bestimmung allerdings in Zusammenhang mit den realphilosophischen entwickelt,“* ist es nötig, zu untersuchen, wie der Terminus Trieb in den realphilosophischen Bereichen behandelt wird. Wir haben schon die Auffassung in einer Fassung des Selbstbewußtseinskapitels von der Bewußtseinslehre für die Mittelklasse 1809ff erwähnt, die zum ersten Mal eine einheitliche Bestimmung von Trieb I und Trieb II zeigt (s. 4.1.1. Zitat aus Bew 1809 ff § 23, Fassung IVa). Während die genannte Auffassung zeitlich nicht genau datiert werden kann, läßt sich eine verwandte Auffassung in der Psychologie noch näher datieren, nämlich im System der besonderen Wissenschaften für die Oberklasse 1810/11; hier tritt der Trieb mit einer gemeinsamen Bestimmung wie im Widerspruchsabschnitt der Wissenschaft der Logik 1813 (s. 4.1.3. Zitat aus GW 11.287) auf, obwohl er eine realphilosophische Bedeutung hat: „Die praktische Bestimmung ist wesentlich Thätigkeit. Das Gefühl einer solchen Bestimmung, und zugleich das Gefühl ihres Widerspruchs, ein innerliches nicht Realisirtes zu seyn, dem zugleich die Realität wesentlich ist, ist der Trieb.“ {SbW 1810/11 § 131, Hervorhebung vom Verfasser) In diesem Stadium der Entwicklungsgeschichte hat der Terminus Trieb wohl eine spekulative Bestimmung bekommen. Diese Auffassung des Triebes zeigt den Charakter der Tätigkeit bzw. Subjektivität überhaupt auf. Seine Bestimmung ist der Form nach mit der der Idee selbst identisch. Dann ist zu eruieren, wie sich diese Auffassung in der Psychologie entwickelt. Ein erster Befund der Schülerhefte zeigt, daß hinsichtlich der inneren Zweckmäßigkeit die Psychologie und die Logik entwicklungsgeschichtlich einander sehr nahe stehen. In der Psychologie ist die Idee dadurch zu einem Teil des Begriffs geworden, daß die innere Zweckmäßigkeit von der äußeren unterschieden und als Vernunftidee bezeichnet wird: auf der einen Seite kommt die äußerliche Zweckbeziehung als die teleologische Vernunft vor, die zweite Stufe der schließenden Vernunft ausmacht, auf der ande* Pöggeler sagt, daß die Umbildung der Hegelschen Logik in den späten Jenaer Jahren mit der Ausbildung der Realphilosophie zu tun hat {Die Komposition der Phänomenologie des Geistes. In: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Hrsg, von A. F. Fulda und D. Henrich, 365). Dies muß auch in der Nürnberger Zeit der Fall sein.
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ren Seite erscheint die Vernunftidee auch als die dritte Stufe der schließenden Vernunft. Trotz des Unterschiedes werden die beiden in ein und derselben Reihe der Vernunft, daher des Denkens behandelt, das die der subjektiven Logik bzw. Begriffslehre entsprechenden Bestimmungen enthält: „In der äußerlichen Zweckbeziehung ist erstens, der Zwek als vorausgesezter Begriff, zweitens, die vermittelnde Thätigkeit und das Mittel, drittens, die Materie, worinn der Zwek realisirt wird, von einander verschieden.“ {SbW 1810/11 § 123) „Die Vernunft Idee, ist der Begriff, in so fern seine Aeußerlichkeit oder seine Realität, durch ihn vollkommen bestimmt ist, und nur in ihrem Begriffe existirt oder das Existirende, das an ihm seinen eigenen Begriff hat, und das Mittel seiner seihst das Mittel also eben so sehr Zwek ist.“ (ehd. § 124, vgl. TW 4.56) Bei der letzteren Aussage im Vergleich zur ersteren ist die Vernunftidee dem Inhalt nach als die innere Zweckmäßigkeit zu bezeichnen, auch wenn davon wörtlich nicht die Rede ist. In der Logik für die Mittelklasse 1810/11 wird die innere Zweckmäßigkeit zwar noch getrennt von der Idee (s. o. Zitat aus L 1810/11 § 131, vgl. TW4.202) behandelt, deren Lehre aber im Gegensatz zu der von Subjektive Logik für die Oberklasse 1809/10 schon ein Teil der Begriffslehre geworden ist. Trotz der Schwankung der systematischen Darstellung bezüglich der inneren Zweckmäßigkeit kann man aufgrund der Beschreibung in der Psychologie vermuten, daß die Idee als die innere Zweckmäßigkeit in diesem Zeitraum konzipiert wird, und so als ein Teil der Begriffslehre bezeichnet und dann schließlich die ganze subjektive Logik in der Begriffslehre behandelt wird. Dies ermöglichte das Spekulativwerden des Triebes, bei dem es sich um die Tätigkeit des Begriffs handelt, der sich in der Idee betätigt. Hiermit ist die Rolle der Einführung der Ideenlehre in die Begriffslehre für das genannte Spekulativwerden geklärt. Es muß dann untersucht werden, zu welchem Zweck die Tätigkeit des Begriffs ausgerechnet mit dem Terminus Trieb ausgedrückt wird. In Hinblick auf diesen Punkt ist es bedeutsam zu sehen, daß im hier behandelten Zeitraum 1810/11 die Tätigkeit des Begriffs, d. h. sein praktischer Charakter stärker als vorher betont wird. Die Stelle, an der die Tätigkeit des Begriffs am deutlichsten gezeigt wird, liegt in der Idee des Guten, weil die Idee dort ihre Tätigkeit selbst zum Inhalt hat oder als das besteht, was diese Tätigkeit für sich ist. Dadurch, daß die Idee des Guten in die Ideenlehre eingeführt worden ist, hat es begonnen, daß der praktische Charakter der Idee unterstrichen wurde. Die Idee des Guten tritt erstmals 1809/10 auf: „In der Idee des Erkennens soll der Begriff dem Gegenstand angemessen seyn, in der Idee des Guten umgekehrt gilt der Begriff als das Erste und als der an sich seyende Zwek, der in der Wirklichkeit realisirt werden soll.“ (SL 1809/10,105.§, vgl. TW4.160) Hier zeigt sich, daß die Tätigkeit des Begriffs als die des Zwecks bezeichnet wird, die wir auch in der Idee des Lebens erwähnt haben (s. o. Zitat aus SL 1809/
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10, 86.§). Also kann man wohl sagen, daß der praktische Charakter der Idee mit den teleologischen Begriffen ausgedrückt und betont wird. In der Ideenlehre der Jahre 1809/10 ist aber dieser Charakter außer der Idee des Guten nicht so stark betont wie in den Jahren 1812/13 (s.o. Zitat aus 1812/13 ad § 16): „Die Idee ist der adäquate Begriff, in welchem die Objektivität der Subjektivität gleich ist oder das Daseyn seinem Begriffe so entspricht, daß in dem Daseyn nichts ist, was nicht in der Einheit des Begriffs enthalten und gehalten ist.“ (SL 1809/10, 79.§) Zwischen den beiden Ideenlehren gibt es eine Änderung in bezug auf die Betonung der Tätigkeit der Idee. Was durch diese Änderung entsteht, ist eine Erweiterung der Funktion der Idee des Guten bis zur Tätigkeit der Idee überhaupt. Dies zeigt Hegels Notiz zum oben erwähnten Paragraphen (SL 1809/10, 79.§), die wahrscheinlich zeitlich in der Nähe des von uns behandelten Zeitraumes steht, auch wenn sie nicht näher datierbar ist (möglicherweise stammt sie aus der Zeit nach 1810/11, denn der einleitende Paragraph zur Ideenlehre von Logik für die Mittelklasse 1810/11 hat einen ähnlichen Inhalt wie der von dieser Notiz her zu ergänzende Paragraph (vgl. TW4.202): „sie [sc. die Idee] ist Existenz, die Zweck an ihr selbst, und selbst producirendes Product ist.“ Hier ist zu untersuchen, wie diese Erweiterung geschehen ist. Um auf diese Frage zu antworten, ist es aufschlußreich zu sehen, daß im gleichen Zeitraum auch andere praxisbezogene Bestimmungen, nämlich „praktisches Bewußtsein“ und „praktischer Geist“ oder „Wille“ neben der Idee des Guten entstanden sind. Der Ausdruck „praktisches Bewußtsein“ tritt zwar schon 1808/09 (s. 7W 4.80) auf, aber sein Inhalt wird noch nicht geklärt; vermutlich erst 1809/10 wird er klar dargestellt {Bew 1809/10, Fassung lila). Der Abschnitt „praktischer Geist“ kommt 1810/11 vor und zwar ohne Beschreibung seiner systematischen Stellung {SbW 1810/11 § 67); es ist möglich, daß dieser Teil in der ersten Planung nicht präzise vorhanden war, sondern erst während des Unterrichts deutlich artikuliert worden ist. Auffällig ist, daß die Praxis, die mit diesen beiden Bestimmungen dargestellt wird, die Tätigkeit des Ich ist: „Als Selbstbewußtseyn schaut Ich sich selbst an“ {Bew 1809/10 § [l], Fassung lila, vgl. TW4.117), „Das Selbstbewußtseyn setzt sich durch Negation des Andersseyns, und ist praktisches Bewußtseyn“ (ebd. § [S]); „Der praktische Geist hat nicht nur Ideen, sondern ist die reine lebendige Idee selbst, d. h. der reine Begriff, als Ich = Ich, das in Einzelheit und Allgemeinheit sich unterscheidet, und beides in ungetrennter einfacher Einheit ist, hiedurch seine Bestimmungen aus sich selbst hat und setzt.“ (SbW1810/ll § 125) Diese Tätigkeit des Ich hat wohl mit der Tätigkeit der Idee des Guten oder der Idee überhaupt zu tun, denn die erstere ist nichts anderes als das, was im Rahmen der Psychologie den Anschluß der Idee an die innere Zweckmäßigkeit ermöglicht; dieser Anschluß ist insofern möglich, als der prak-
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tische Geist als Idee aufgrund der Tätigkeit des Ich auch eine Art der Zweckmäßigkeit und zwar die innere ist. Dabei ist die Tätigkeit des Ich, das nur sich selbst zum Gegenstand hat, von der äußeren Zweckmäßigkeit her unterschieden. Hier läßt sich eine nähere Beschreibung des praktischen Charakters der Idee sehen: „Der praktische Geist heißt vornehmlich in so fern Wille als er von der Trennung in Subiekt und Obiekt anfängt und das Obiekt als ein für sich bestehendes oder äußerliches Daseyn erscheint welches er zu dem Seinigen zu machen hat, um die Einheit mit sich hervorzubringen, was eine und dieselbe Thätigkeit des Hervorbringens seines Selbst in einem äußerlichen Daseyn ist.“ (SÖW1810/11 § 126) Der hier beschriebene Sachverhalt ist nichts anderes als das, was in der Ideenlehre der Wissenschaft der Logik mit dem Terminus Trieb ausgedrückt wird: Die Idee ist „dieBeziehung der für sich seyenden Subjectivität des einfachen Begriffs, und seiner davon unterschiedenen Objectivität; jene ist wesentlich der Trieb, diese Trennung aufzuheben, und diese das gleichgültige Gesetztseyn, das an und für sich nichtige Bestehen. Sie ist als diese Beziehung der Proceß, sich in die Individualität, und in deren unorganische Natur zu dirimiren, und wieder diese unter die Gewalt des Subjects zurückzubringen und zu der ersten einfachen Allgemeinheit zurückzukehren.“ {GW 12.177) Diese Aussage setzt entwicklungsgeschichtlich die Auffassung des Willen als der „reinen lebendigen Idee“ oder der inneren Zweckmäßigkeit voraus. Dadurch, daß die Idee ein und dieselbe Struktur des Ich hat, kann sie als die innere Zweckmäßigkeit bezeichnet werden, die gerade den praktischen Charakter der Idee ausdrückt. Es ist damit möglich, auch auf die Idee die teleologischen Begriffe anzuwenden. Unter diesem Umstand kann der Trieb wohl die Tätigkeit der Idee bzw. des Begriffs selbst charakterisieren, von der er im Fragment „Daseyn hat“ noch unterschieden ist (s. 4.1.1.). Hiermit kann geklärt werden, wie es möglich geworden ist, daß sich der Trieb der Tätigkeit der Idee nicht mehr entgegensetzt, sondern diese Tätigkeit selbst ausdrücken kann. Wie der Trieb in der Jenaer Zeit als ein Beispiel des teleologischen Schlusses erscheint (s. GW 8.202), ist er als die Tätigkeit der Idee selbst zu seinem realphilosophischen Ausdruck analog zu betrachten. Dabei ist er kein Beispiel des teleologischen Schlusses mehr, sondern er ist dieser Schluß selbst als die innere Zweckmäßigkeit. Hier gibt es eine logische Verallgemeinerung des Triebes, die in der Nürnberger Zeit entstanden ist und als sein Spekulativwerden charakterisiert werden kann. Eine Übergangsphase dieses Spekulativwerdens findet sich im Fragment „Daseyn hat“, wie er wähnt, in dem Sinne, daß dort der Trieb mit dem Zweck-Begriff zusammenhängend als eine logische Bestimmung auftritt, auch wenn er noch von der Tätigkeit des Begriffs getrennt ist. Diese Trennung löst sich erst dadurch auf, daß die Idee als die innere Zweckmäßigkeit bezeichnet wird. Dann wird die Tätigkeit des Begriffs mit dem Terminus Trieb ausgedrückt, insofern die
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Struktur des Ich, die die Tätigkeit des Begriffs zeigen sollte, in der inneren Zweckmäßigkeit bzw. dem teleologischen Schluß besteht. Was mit diesem Umstand erreicht wird, ist, daß die Tätigkeit der Idee oder ihr praktischer Charakter besonders betont werden kann. Wozu mußte Hegel die Tätigkeit der Idee betonen? Oder in welchem Sinne war es nötig, ihren praktischen Charakter hervorzuheben? In der Antwort auf diese Frage muß gezeigt sein, warum der Trieb spekulativ wird, damit die Idee aufgrund ein und derselben Struktur des Ich auch für die innere Zweckmäßigkeit gehalten werden kann. Durch die Kontinuität der äußeren und inneren Zweckmäßigkeit wird die Tätigkeit der Idee oder ihr praktischer Charakter betont. Hegel hat im von uns behandelten Zeitraum wohl eine Auffassung des Triebes im spekulativen Sinne erreicht, die Antwort auf die genannte Frage gibt. Erst danach ist es ihm möglich geworden, sein System darzustellen, und zwar mit dem betreffenden Begriffskomplex. Die hier erreichte Auffassung ist nichts anderes als die des Lebens, das den Trieb u. a. wirksam macht. Hier liegt die Grundlage der Praxis in dem Sinne, daß das Subjekt das Leben als seine Basis erhält. Die Betonung des praktischen Charakters der Idee bedeutet, daß die Idee nicht etwas selbstverständlich Gegebenes, sondern etwas zu Produzierendes ist, das erst durch die Praxis des Subjekts immer neu verwirklicht werden muß. Die Struktur des Ich, die auf den praktischen Charakter der Idee hinweist, wird analog zu der des Lebens beschrieben. Vermutlich 1809/10 entsteht ein gemeinsamer Ausdruck parallel für die beiden: einerseits in der Idee des Lebens (s. 4.1.1. Zitat aus SL 1809/10,90.§), andererseits im Selbstbewußtseinskapitel: „Im Begriff des Selbstbewußtseyns liegt die Bestimmung des noch nicht realisirten Unterschiedes. Insofern dieser Unterschied überhaupt in ihm sich hervorthut, hat es das Gefühl eines Andersseyns in ihm selbst, einer Negation seiner, oder das Gefühl eines Mangels, ein Bedürfniß.“ (Bezv 1809/10 § [8], Fassung lila, vgl. 7W4.118) Offensichtlich haben die beiden ein und dieselbe Struktur. In der Analogie zwischen ihren Strukturen zeigt sich, daß die beiden der Sache nach sehr nahe stehen und entwicklungsgeschichtlich parallel entstanden sind. Dies haben wir schon im Hinblick auf die Rolle der Struktur des Ich für die Einführung der Ideenlehre in die Begriffslehre im allgemeinen besprochen. Das Besondere hier ist, daß die Tätigkeit der Idee des Lebens gerade mit dem Terminus Bedürfnis ausgedrückt wird. Hierzu muß untersucht werden, wie die Einführung dieses Terminus mit der Betonung des praktischen Charakters der Idee zusammenhängt. Was die Tätigkeit der Idee des Lebens überhaupt betrifft, ist sie schon 1808/09 dargestellt: „Das Organische ist die gedoppelte Bewegung des fortdauernden Kampfes, welcher [auf der einen Seite] das elementarische Wer-
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den, und das Uebergehen ins Entgegengesetzte hemmt, seine Bedingung aufhebt, und die objektive Allgemeinheit individualisirt, auf der andern Seite aber das Individuelle oder Subjektive aus sich selbst auflößt, und zum organischen Daseyn herabsetzt.“ {Enz 1808/09 § 87, Ergänzung vom Verfasser; vgl. TW4.32) Was im entsprechenden Paragraph von 1809/10 neu ist, scheint nur ein neuer Ausdruck für den Terminus Bedürfnis zu sein. Dies bedeutet aber mehr als das Problem eines bloßen Ausdruckswechsels, denn der Terminus hat einen realphilosophischen Sinn und stammt aus einer Darstellung für das Selbstbewußtsein, die möglicherweise früher als die für die Idee des Lebens entstanden ist. Mit dem Terminus Bedürfnis wird nämlich der Prozeß vom unmittelbaren Selbstbewußtsein zur Anerkennung des Selbstbewußtseins, der die Struktur des Ich aufzeigt, und zwar dessen erste Stufe artikuliert, während die Darstellung von 1808/09 diesen Prozeß voraussetzt (Fassung la, s. TW4.78ff): „es [sc. das unmittelbare Selbstbewußtsein] hat die Bedürfnisse, d. h. es bezieht sich wesentlich auf fremde Dinge, die ihm notwendig und fremde sind“ (Fassung II, TW4.83). Damit wird die Idee des Lebens so dargestellt, daß sie inhaltlich den genannten Prozeß enthält, insofern sie analog zur Struktur des Ich betrachtet wird. Von der Seite des Selbstbewußtseins gesehen kann dieser Prozeß für den Inhalt der Idee des Lebens gehalten werden. Der praktische Charakter des Selbstbewußtseins kann daher darin gezeigt werden, die Struktur des Lebens zu erhalten. Daraus läßt sich vermuten, daß Hegel die Bedeutung der Praxis im allgemeinen in der Erhaltung der Struktur des Lebens sieht. Von daher läßt sich verstehen, was die Betonung der Tätigkeit der Idee oder ihres praktischen Charakters bedeutet. Da der von uns behandelte Begriffskomplex der Sache nach mit der Struktur des Lebens zusammenhängt, hat sein Spekulativwerden den Ursprung in dieser Struktur und den Zweck darin, diese Struktur zu verwirklichen. Es bleibt zu untersuchen, wie der erste Ausdruck des spekulativen Triebes im Selbstbewußtseinskapitel (s. 4.1.1. Zitat aus Bew 1809ff § 23, Fassung IVa, vgl. TW 4.117) erreicht worden ist. Wie oben geklärt, hängt der Trieb des Selbstbewußtseins mit dem Trieb der Idee zusammen und ist mit dem letzteren parallel entstanden, insofern das Selbstbewußtsein die Struktur des Ich oder des Lebens zum Inhalt hat. Die Entwicklungsgeschichte des ersten Triebes weist darauf hin, wie sich der Trieb der Idee entwickelt. Die systematische Stellung der beiden Triebe ist zwar verschieden, aber sie sind logisch gleich im spekulativen Sinne (Trieb I). Die beiden unterscheiden sich von ihren unmittelbaren Bestimmungen (Trieb II) her, z. B. vom unmittelbaren und einzelnen Trieb (Begierde II), oder vom Trieb in der äußeren Zweckmäßigkeit (s. 4.1.1. Zitat aus GW 12.164). Weil der Trieb des Selbstbewußtseins als der chronologisch erste Ausdruck für den Trieb I in den erhaltenen Nürnberger Manuskripten auftritt, ist es möglich und zulässig,
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in der Entwicklung des Trieb-Begriffs im Selbstbewußtseinskapitel das Spekulativwerden dieses Begriffs zu beobachten. Was in der betreffenden Entwicklung darzustellen versucht wird, besteht darin, daß die der Struktur des Lebens als der Idee analoge Struktur des Ich mit dem Terminus Trieb ausgedrückt wird. In der Analogie zwischen den beiden Strukturen muß es eine Grundlage dafür geben, daß auch die Struktur des Lebens als die Idee mit ein und demselben Terminus ausgedrückt werden kann. Zunächst ist festzustellen, daß die beiden ein und dieselbe Struktur haben, die als die innere Zweckmäßigkeit charakterisiert wird. In der inneren Zweckmäßigkeit ist ein äußerliches Dasein das Produkt des Ich. Die Totalität des Daseins macht umgekehrt die Struktur des Ich aus: „Beyde Seiten, die erste [die sich als das Daseyn] setzende, die zweyte die [das Daseyn] aufhebende, sind unmittelbar mit einander vereinigt.“ {Bew 1809/10 § [5], Fassung lila, Ergänzung vom Verfasser; vgl. TW4.117) In dieser Vereinigung besteht die Grundlage der spekulativen Bestimmung des Triebes in der Weise, daß das Dasein hier ein Moment der inneren Zweckmäßigkeit des Ich ist und deshalb im Begriff desselben enthalten ist, wie beim Leben ein Glied des Lebens ein Moment des ganzen Lebensprozesses ist und umgekehrt die Totalität der Glieder den ganzen Prozeß des Lebens ausmacht. In diesem Sinne kann man den Trieb in der Idee des Lebens bei der Wissenschaft der Logik verstehen (s. 4.1.1. Zitat aus GW 12.185). Auch dort handelt es sich offensichtlich um den Trieb im Lebensprozeß. Die Idee des Lebens, die die Bestimmung des Triebes enthält, bezieht sich also entwicklungsgeschichtlich auf die Auffassung des Lebens in den Nürnberger Schriften. Im Selbstbewußtseinskapitel macht Hegel zwar keine Aussage über Leben, aber der Trieb des Selbstbewußtseins hängt klar mit dem Leben zusammen; das Selbstbewußtsein hat eine gemeinsame Bestimmung mit dem tierischen Organismus, die entwicklungsgeschichtlich parallel in beiden Bereichen entstanden ist; bezüglich des tierischen Organismus heißt es: „Der Organismus steht überhaupt in Beziehung auf seine unorganische Natur. Die Trennung ist zuerst subiektiv, als Gefühl eines Mangels, als ein Bedürfnis vorhanden.“ (SÖW1810/11 § 62, vgl. TW4.41) Diese Aussage ist fast gleich der des Selbstbewußtseinskapitels (s. o. Zitat aus Bew 1809/10 § [8], Fassung lila, vgl. 7W4.118). Ferner bezeichnet Hegel den Trieb als den Charakter des Lebendigen, das sich als das Ganze durch den Trieb vervollständigt: „Das Lebendige, in so fern sein Trieb befriedigt ist, ist ruhig, aber es entsteht ein neuer Trieb. Es ist sich selbst das Negative, es gehl vom Negativen ins Seyn über, alles Lebendige hat Trieb und ist in diesem Trieb auf sich gerichtet... Durch seinen Trieb beweist das Lebendige daß es das Ganze ist. Weil es einen Widerspruch in sich hat, hat es einen Trieb.“ {Rel 1811/13 ad § 8) Diese Auffassung bleibt unverändert bis zur späten Zeit. In einem Zusatz zur Enzyklopädie z. B. lautet: „Das Nichtlebendige hat keinen Trieb,
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weil es den Widerspruch nicht zu ertragen vermag, sondern zugrunde geht, wenn das Andere seiner selbst in es eindringt. Das Beseelte hingegen und der Geist haben notwendig Trieb, da weder die Seele noch der Geist sein kann, ohne den Widerspruch in sich zu haben und ihn entweder fühlen oder von ihm zu wissen.“ (3. Enz § 426 Zus., TW 10.216) Dies beruht auf der Auffassung des Lebensprozesses, die in Enzyklopädie für die Oberklasse 1808/ 09 (s. o. Zitat aus Enz 1808/09 § 87, vgl. 7W4.32) festgelegt wird und nichts anderes als das ist, was als „praktisches Bewußtseyn“ auftritt (s. o. Zitat aus Bezv 1809/10 § [S], Fassung lila, vgl. 7W4.117). Es geht hier darum, daß die beiden Seiten, nämlich die sich als das Dasein setzende und die das Dasein aufhebende, zum Selbstbewußtsein gehören; „Wenn also im eigentlichen Bewußtseyn, das auch das theoretische genannt wird, die Bestimmungen desselben und des Gegenstandes sich an sich selbst veränderten, so geschieht diß itzt durch die Thätigkeit des Bewußtseyns selbst, und für dasselbe; es ist sich bewußt, daß ihm diese aufhebende Thätigkeit zukommt (das Bewußtseyn ist auf sich selbst gerichtet).“ (Bezv 1809/10 § [b], Fassung lila, vgl. 7W 4.117f) In ein und derselben Fassung wird die aufhebende Tätigkeit des Selbstbewußtseins im unmittelbaren Sinne als Trieb bezeichnet (s. 4.1.1. Zitat aus Bezv 1809/10 § [9], Fassung lila, vgl. 7W4.118). Von daher läßt sich vermuten, daß der Ausdruck für den genannten Trieb (Trieb II) aufgrund der gemeinsamen Bestimmung der aufhebenden Tätigkeit unter dem unmittelbaren Selbstbewußtsein und dem Begriff desselben auch auf die Tätigkeit des Begriffs desselben überhaupt angewendet wird; erst dann ist es möglich geworden, daß der Trieb als die Tätigkeit des Begriffs des Selbstbewußtseins bezeichnet wird (Trieb I, s. 4.1.1. Zitat aus Bezv 1809ff § 23, Fassung IVa, vgl. 7W4.117). Eine Anmerkung in einer Schülernachschrift der Psychologie für die Mittelklasse 1811/12 erläutert diesen Umstand näher: „Dieser Satz Ich = Ich ist ohne allen Inhalt. ... Der Begriff hat keinen Inhalt, kein Daseyn, er ist etwas Unvollkommenes. ... Trieb setzt einen Mangel voraus. Ich = Ich hat einen Mangel in sich, der Mangel besteht in seiner absoluten Negation. Diese Negation ist rein, also negirt sie sich selbst. Dieses Ich = Ich enthält die absolute Elasticitaet, sich zu negiren, herauszutreten aus sich selbst... Ein Thätigseyn heißt aufheben. Ich hebe in der Thätigkeit eine Innerlichkeit auf. Diese Thätigkeit kann von einer doppelten Seite betrachtet werden. Die eine Thätigkeit ist also, das Anders Seyn der Gegenstände oder deren Aeußerlichkeit, anderseits, seine Innerlichkeit aufzuheben. Dadurch giebt es sich Aeußerlichkeit, Daseyn, Realität, es macht sich objectiv und macht sich eigentlich zu einem Gegenstand. Man erkennt in dieser Aeußerlichkeit sich selbst.“ (Psy 1811/12 ad § 26, vgl. TW 4.117) Hier zeigt sich, daß die als doppelt gefaßte Tätigkeit des Begriffs des Selbstbewußtseins in der Tätigkeit des unmittelbaren Selbstbewußtseins ihre Realisierung findet und deshalb die Bestimmung des Trie-
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bes, die eigentlich für die Tätigkeit des unmittelbaren Selbstbewußtseins gehalten wird, als ihre eigene Bestimmung aufnimmt. Die beiden Tätigkeiten liegen in zwei eigentlich voneinander verschiedenen Dimensionen, einerseits in der, die den Mangel der Innerlichkeit des Begriffs an der Äußerlichkeit oder Realität überhaupt zeigt, andererseits in der, die den Mangel des unmittelbaren Selbstbewußtseins an der Innerlichkeit oder Gleichheit mit sich selbst gegenüber dem äußerlichen Anderssein zeigt. Die Richtungen der beiden sind gerade umgekehrt. Die Richtung der Tätigkeit des unmittelbaren Selbstbewußtseins ist nichts anderes als die, die vom Begriff des Selbstbewußtseins als eine der doppelten Seiten seiner Tätigkeit bestimmt wird, auch wenn die Tätigkeit des unmittelbaren Selbstbewußtseins zunächst nur die erste Stufe der Tätigkeit des Begriffs desselben, d. h. Begierde, ausmacht. Da die beiden Tätigkeiten als ein und dieselbe begriffen werden, ist es selbstverständlich, daß sie mit ein und demselben Terminus ausgedrückt werden können. Im allgemeinen ist dies wohl nicht unbedingt nötig. Bei Hegel ist es allerdings deswegen unbedingt notwendig, weil er im praktischen Charakter des Selbstbewußtseins einen wesentlichen Ausdruck seiner Auffassung der Idee findet. Der genannte Charakter wird vor allem in der Tätigkeit des unmittelbaren Selbstbewußtseins gezeigt, deren Ausdruck Trieb deshalb über den empirischen Bereich hinaus spekulativ begriffen wird. Hiermit ist eine einheitliche Bestimmung für den Trieb in den spekulativen und empirischen Dimensionen erreicht worden: Trieb I und Trieb II werden zum ersten Mal einheitlich begriffen; entwicklungsgeschichtlich ist der letztere zwar zuerst zum Ausdruck gebracht worden, aber der Sache nach ist er als eine Erscheinung des ersteren zu betrachten und trägt deshalb das Zeichen II gegenüber dem I des ersteren. Der Zusammenhang der beiden ist viel klarer als der der „Begierde überhaupt“ (Begierde I) mit der „unmittelbaren Begierde“ (Begierde II) in der Phänomenologie des Geistes (über die Zusammenhänge s. 4.1.1.). Da die praktische Bestimmung der Idee analog der der Struktur des Ich beim Selbstbewußtsein betrachtet wird, ist leicht zu sehen, daß die Idee des Guten als die im Hinblick auf die Praxis gesehene Idee auch mit ein und demselben Terminus Trieb ausgedrückt wird: „Sie [sc. die Idee des Guten] ist Trieb, insofern dieses Wirkliche noch subjectiv, sich selbst setzend ist, nicht die Form zugleich der unmittelbaren Voraussetzung hat; ihr Trieb sich zu realisiren, ist eigentlich nicht sich Objectivität zu geben, diese hat sie an sich selbst, sondern nur diese leere Form der Unmittelbarkeit. — DieThätigkeit des Zwecks ist daher nicht gegen sich gerichtet, um eine gegebene Bestimmung in sich aufzunehmen und sich zu eigen zu machen, sondern vielmehr die eigene Bestimmung zu setzen, und sich vermittelst des Aufhebens der Bestimmungen der äusserlichen Welt die Realität in Form äusserlicher Wirklichkeit zu geben.“ (GW 12.231) Diese Beschreibimg ist augenschein-
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lieh mit der des Selbstbewußtseins verwandt. Die Charakterisierung der Tätigkeit der Idee des Guten als des Triebes ist erst aufgrund des Spekulativwerdens des Triebes im Selbstbewußtsein im Hinblick auf die Entwicklungsgeschichte dieses Terminus verständlich. Es ist aber wichtig, zu sehen, daß der betreffende Ausdruck in der Idee des Guten nur eine Stufe einer Reihe innerhalb der Ideenlehre ist, denn die Idee überhaupt trägt ein und denselben Ausdruck. Dies ist das wichtigste Ergebnis der Entwicklungsgeschichte des Trieb-Begriffs in der Nürnberger Zeit. Sein Spekulativwerden ermöglicht, daß er das Prinzip des Systems der Wissenschaft wird.
4.1.3. Trieb als Prinzip des Systems der Wissenschaft In der Einleitung der Enzyklopädie für die Oberklasse 1812/13 tritt der Trieb in Verbform auf, der den Charakter des Gegenstandes in der Philosophie zeigt, sich vom empirischen zum rationellen Bereich hinzutreiben (s. u. Zitat aus Enz 1812/13 ad § 6). Auch ein verwandter Ausdruck Bestreben kommt vor: „es ist das Ziel des wissenschaftlichen Bestrebens das blos empirisch Gewußte immer mehr aufzuheben, es zu begreiffen und dadurch der rationellen Wissenschaft einzuverleiben“ (ebd. § 6, vgl. 7W4.10), „es ist das Ziel des wissenschaftlichen Bestrebens daß das Empirische rationell werde.“ (ebd. ad § 6) Diese Aussagen zeigen einen grundlegenden Charakter des wissenschaftlichen Wissens an, immer über das Empirische hinausgehend das Rationelle zu erzielen, der nicht nur das Resultat, sondern auch der Prozeß selbst ist. In der Enzyklopädie für die Oberklasse 1808/09 wird dieser Charakter noch nicht so stark wie in der Enzyklopädie von 1912/13 betont, sondern vielmehr als das Resultat betrachtet: „Die Wissenschaft sucht nicht die Wahrheit, sondern ist in der Wahrheit und die Wahrheit selbst.“ (Enz 1808/09 § 2, Hervorhebung vom Verfasser) Unter dieser Äußerung würde die Bestimmung wie Trieb oder Bestreben völlig ausgeschlossen, wie ihr verwandter Ausdruck „suchen“ als eine Charakterisierung für die wissenschaftliche Wahrheit abgelehnt wird. Hier ist die Wissenschaft nicht als ein Prozeß, sondern als ein Zustand, der mit dem Wort „sein“ gegenüber dem „suchen“ ausgedrückt wird, dargestellt. Zwischen beiden Enzyklopädien muß es also entwicklungsgeschicbtlich eine Wandlung des Hegelschen Gesichtspunkts gegeben haben, die mit der Einführung des von uns behandelten Begriffskomplexes zusammenhängt. Es geht um das Prinzip der wissenschaftlichen Konstruktion, das im Zusammenhang mit Hegels Konzeption der Idee steht, die gerade mit dem Terminus Trieb charakterisiert wird, wie wir oben gesehen haben (s. 4.1.2.). Es ist zu untersuchen, wie die Auffassung des wissenschaftlichen Prinzips in bezug auf die Bestimmung des Triebes der Idee entwickelt worden ist.
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Der tätige Charakter des wissenschaftlichen Prinzips oder des Prinzips des Wissens, das in der absoluten Idee behandelt wird, ist zwar schon 1808/09 formuliert, aber ohne die Bezeichnung des Triebes, die als die der Tätigkeit des Zwecks auftritt (s. 4.1.1. Zitat aus Enz 1808/09 § 73). Dabei wird der Begriff als Werden bezeichnet und die Dialektik oder negative Bewegung der realen Bestimmungen in Betracht gezogen: „Das absolute Wissen hat 1) Nichts Aeußerliches, auf irgendeine Weise Gegebenes zu seinem Gegenstände, sondern nur sich selbst, es ist der als Begriff existirende Begriff. 2) Der Begriff construirt sich aus sich selbst, indem er als Werden ist, und den in ihm enthaltenen Gegensatz in der Form verschiedener für sich bestehender realer oder Verstandes = Bestimmungen darstellt. 3) Indem die realen Bestimmungen zunächst in ihrer Reflexion zu Verstandesbestimmungen werden, stellt ihre Dialektik sie nicht nur als sich wesentlich auf einander beziehend, sondern auch in ihre Einheit übergehend dar. Aus dieser ihrer negativen Bewegung resultirt ihre positive Einheit, welche den Begriff in seiner realen Totalität ausmacht.“ (ebd. § 98, vgl. TW 4.33) Eben dieselbe Struktur ist uns schon von der Idee des Lebens oder der Struktur des Ich her bekannt (s. 4.1.2.). Die Tätigkeit des auf sich selbst gerichteten Subjekts, die in dieser Bestimmung der absoluten Idee geschildert wird, wird aber als die der Idee überhaupt vermutlich von daher nicht stark betont, daß sie sich der Tätigkeit des Zwecks entgegensetzt (s. 4.1.1.); die Idee überhaupt wird der Wissenschaft-Konzeption entsprechend etwa statisch dargestellt: „Die Idee ist der adäquate Begriff, in welchem die Objektivität der Subjektivität gleich ist, oder das Daseyn dem Begriffe, als solchem, entspricht.“ (ebd. § 79, vgl. TW 4.29) Diese Aussage bleibt fast wörtlich gleich auch 1809/10 (s. 4.1.2. Zitat aus SL 1809/10, 79.§). Auch bei der Bezeichnung der absoluten Idee ist dies der Fall: das absolute Wissen ist „der als Begriff existirende Begriff“ (SL 1809/10, 109.§). Allerdings wird der Zusammenhang des Begriffs selbst mit den realen Bestimmungen, der schon 1808/09 angedeutet wird, hier noch deutlicher in der Weise dargestellt, daß in ihm die Realisierung des Begriffs vorhanden ist. Dies hängt möglicherweise mit der Einführung der teleologischen Begriffe in die Ideenlehre (über diese Einführung s. 4.1.2.) zusammen. In der Bezeichnung der Realisierung des Begriffs wird der tätige Charakter des Wissens klar gemacht, der den Begriff in die Bewegung zu einem anderen Begriff bringt: „Die Entwicklung dessen, was im Begriff enthalten ist, ist nemlich die Realisirung desselben, denn diese ist nichts anders, als die Darstellung der vorher in der Einheit gehaltenen Momente, in ihrer Verschiedenheit. Dadurch wird dieser Begriff ein anderer. Er muß sich aber ein anderer werden, weil die Momente, in so fern sie in der Einheit sind, zugleich nicht gesezt sind als das, was sie sind, nemlich als verschiedene. Der Rükgang dieser Verschiedenheit in die Einheit giebt dem erfüllten oder dem sich selbst zum Inhalte habenden Begriff, die Totalität.“ (SL 1809/10, lll.§.
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vgl. TW4.161) Hier wird das Prinzip des Wissens als die „Methode des absoluten Wissens“ (ebd.) aufgewiesen, womit es Hegel möglich geworden ist, auf der Grundlage eines einheitlichen Prinzips sein System darzustellen. Dementsprechend kann er wohl von der absoluten Idee als dem „Inhalt der Wissenschaft“ (L 1810/11 § 135, vgl. 7W4.203) sprechen, auch wenn er den der Sache gemäßen Ausdruck für die Tätigkeit der Idee des Wissens noch nicht gefunden hat. Dieser Ausdruck ist erst festgelegt worden, nachdem die Ideenlehre zu einem Teil der Begriffslehre geworden ist. Die Idee wird dann als die innere Zweckmäßigkeit bezeichnet und trägt als die Charakterisierung ihrer Tätigkeit den eigentlich für teleologisch gehaltenen Terminus: Trieb, damit diese Tätigkeit stark betont werden kann (s. 4.1.2.). In dieser Richtung läßt sich die Bedeutung des Triebes der Wissenschaft in der Enzyklopädie von 1812/13 verstehen. Die Aussagen, die gemäß ihrer Stellung in der gesamten Schülernachschrift bestimmt aus dem Jahr 1811 und zwar wahrscheinlich aus der späten Zeit dieses Jahres, also vom Anfang des Schuljahres 1811/12 (Oktober?) stammen, kündigen die Wandlung der Hegelschen Auffassung der Wissenschaft an, auch wenn dort der genannte Ausdruck mit dem Terminus Trieb nicht vorkommt: „Unser gewöhnliches Wissen stellt sich die manichfaltigen Bestimmungen der Gegenstände blos gegenständlich und den Dingen selbst zukommend vor; es denkt dabey nicht an sich selbst, oder wenn es an sich denkt, stellt es sich als nur empfangen vor und hat keinen Gedankendrang, daß diese Bestimmungen wesentlich in der Beziehung auf das Wissen Vorkommen.“ {Psy 1811/12 § 1, Hervorhebung vom Verfasser) „Es ist hier angegeben worein das Geistige überhaupt besteht, der Geist ist nemlich sich entgegenzusetzen, zu entzweyen und dadurch zu sich selbst zu kommen. Man kann eigentlich nicht vom Geiste sagen, er ist, denn dieß bedeutet ein Unbewegtes, blos Ruhendes, das nicht sich selbst gleich wird. Die Wissenschaft ist auch wesentlich ein Geistiges, sie zu durchdringen.'' {Rel 1811/13 ad § 1, Hervorhebung vom Verfasser) Hier findet sich offensichtlich ein neuer Gesichtspunkt, der den bisherigen (vor dem Anschluß der Ideenlehre an die Begriffslehre) verleugnet. Die Bezeichnung der Wissenschaft mit dem Wort „sein“ wird im Gegensatz zur Darstellung der Enzyklopädie von 1808/09 in Frage gestellt in dem Sinne, daß die Bewegung des Wissens mit dieser Bezeichnung gar nicht ausgedrückt werden kann. Es geht darum, wie die den mannigfaltigen Bestimmungen immanente Bewegung zu einem klaren Ausdruck gebracht werden kann. Mehrere Versuche, die die gerade erwähnten Aussagen enthalten, führen zu einem Punkt, in dem das Denken selbst, das das Prinzip der Wissenschaft ausmacht, mit einer Bezeichnung wie „Gewalt des Begriffs“ (s. 4.1.2. Zitat aus 1812/13 ad § 16), oder „Anstrengung“ dargestellt wird, damit die genannte Bewegung deutlich ausgedrückt werden kann: „Das Spekulative oder Vernünftige erfaßt ihre Einheit
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in ihrer Entgegensetzung. Im Resultate des Dialektischen ist der Widerspruch und die widersprechenden Bestimmungen in Einem. Das Positive ist dann die Einheit dieser beiden Bestimmungen. Alles spekulative besteht darinn daß man eine Einheit in dem Entgegensetzen findet. Das ist diese Anstrengung zu dem (sic) sich das Denken emporheben muß. Das Spekulative allein erkennt das Ganze, weil sie (sic) in Einem auch das Andere hat. Die spekulative Seite betrachtet alles in seinem Werden.“ (Enz 1812/13 ad § 8, Hervorhebung vom Verfasser) Was hier zum Ausdruck gebracht wird, ist eine neue Bezeichnung für die grundlegende logische Kategorie Widerspruch. Auf der Grundlage dieser Kategorie kann ein und dieselbe Tätigkeit der spekulativen Vernunft überall gefunden werden. Dabei handelt es sich um die Aufhebung eines Widerspruchs, die im Werden eine Reihe, nämlich das System der Wissenschaft ausmacht. Man kann die spekulative Bedeutung des Triebes nicht als zufällig ansehen, insofern er gerade im Zusammenhang mit dieser Kategorie Widerspruch vorkommt. Im Widerspruchsabschnitt der Wissenschaft der Logik (1813) tritt der Trieb als mit dem Widerspruch zusammenhängend auf: Der „Trieb überhaupt“ ist „nichts anderes, als daß Etwas in sich selbst, und der Mangel, das Negative seiner selbst, in einer und derselben Rücksicht ist... Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar die Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.“ (GW 11.287) 1 Vom Widerspruch als der Bestimmung der spekulativen Vernunft ist auch in einer gleichzeitig entstandenen Schülernachschrift die Rede; der Trieb tritt in seiner verbalen Form — treiben — auf und zwar als die Tätigkeit der spekulativen Vernunft, die die Grenze des Verstandes aufhebt: „Die Vernunft indem sie weiß daß sie nur die Einheit in der Erfahrung auffinden kann, hält den Verstand ab, diese Einheit zu überfliegen. Die Vernunft treibt den Verstand immer weiter zu höheren Ursachen ... Die Erfahrung selbst ist das sich Widersprechende“ (Enz 1812/13 ad § 12, Hervorhebung vom Verfasser). Dieser Trieb ist keine inhaltliche Bestimmung, sondern etwas Formelles, das als die Tätigkeit der spekulativen Vernunft allen Gebieten der Wissenschaft innewohnt und einzelnen Bestimmungen zugrunde liegt. In dieser Bestimmung können also verschiedene inhaltliche Bestimmungen des Widerspruchs entstehen. Dabei kann der Trieb als eine umfassende Einheit ' W. I. Lenin hebt die Auffassung,,,Trieb“ zur, Bewegung“ und zur,Tätigkeit“ “‘hervor und bezeichnet sie als den „Kern der ,Hegelei“““, den „man entdecken, begreifen ... herausschälen, reinigen““ mußte, was „eben ... Marx und Engels getan““ haben (Über Hegelsche Dialektik. 94). Da er allerdings nur in bezug auf Hegels Auffassung der Bewegung überhaupt vom betreffenden Trieb spricht, bleibt ungeklärt, warum die Bewegung überhaupt ausgerechnet mit diesem Terminus ausgedrückt wird oder was mit diesem Terminus gemeint wird und welche systematische Stellung in Hegels Philosophie der genannte Trieb erhält.
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bezeichnet werden, die die mannigfaltigen Bestimmungen in sich ordnet. Der Trieb in diesem Sinne unterscheidet sich vom Trieb, der mit einem bestimmten Widerspruch zusammenhängt und daher einen materiellen Inhalt hat. Der erste wird von uns der Trieb I genannt, der in seiner Bewegung den zweiten, materiellen, der im Vergleich zum ersten der Trieb II genannt wird, enthält und als der letztere erscheint. Im Rahmen der formellen Bestimmung des Triebes I kann der Trieb II allgemein sein: „das ist der Trieb sich zu einem Allgemeinen zu machen; abstracte Freiheit zu erhalten. Der Trieb nach Ehre ist etwas Formelles, nemlich der Inhalt kann sehr manichfaltiger Art seyn denn man kann Ruhm in geringen Dingen suchen; sucht man aber Ruhm in etwas Wichtigem so ist der Trieb allgemein.“ {Psy 1811/12 ad § 44) Diese Reihe führt zum „Trieb nach Wahrheit“: „Das Vernünftige hat den Trieb nach Wahrheit.“ {Rel 1811/13 ad § 10) Dieser Trieb liegt nicht nur am Ende der Reihe, sondern auch der gesamten Reihe der Triebe zugrunde. In diesem Punkt sind der Trieb I und der Trieb II miteinander vereinigt. Der Trieb I kann wohl als der Trieb des Selbstbezugs der spekulativen Vernunft charakterisiert werden, die in den mannigfaltigen Widersprüchen, die mit verschiedenen Formen des Triebes II zu tun haben, ihre Identität erhält und sich zuletzt im absoluten Geist betätigt. Der Trieb, der als eine Motivationsform erscheint und einer Seite der traditionellen Dichotomie entspricht, ist nur eine Form des Triebes II. Indem dieser Sachverhalt klar gemacht wird, wird auch die Methode des Systems der Wissenschaft festgelegt; im Rahmen der absoluten Idee der Wissenschaft der Logik spricht Hegel nämlich vom Trieb der Methode, die das Prinzip der Wissenschaft ist, insofern die absolute Idee als Methode die Idee der Wissenschaft aufzeigt und deshalb dem System der Wissenschaft zugrunde liegen müßte: „Sie [sc. Methode] ist darum die höchste Kraft oder vielmehr die einzige und absolute Kraft der Vernunft nicht nur, sondern auch ihr höchster und einziger Trieb, durch sich selbst in Allem sich selbst zu finden und zu erkennen“ {GW 12.238). Mit diesem Trieb läßt sich die Philosophie organisieren; seine verbale Form erscheint in der Philosophiedarstellung einer Schülernachschrift: „Es giebt keinen Gegenstand in der Philosophie, der empirisch aufgenommen ist, er treibt sich immer zum rationellen hin“ {Enz 1812/13 ad § 6, Hervorhebung vom Verfasser). Hiermit wird der Charakter des Wissens überhaupt formuliert, das sich als das System der Wissenschaft bildet. Dieser Trieb wird allerdings nur noch der Form nach bestimmt und bleibt deshalb im logischen Bereich. In diesem Punkt hat die Vernunft noch immer eine subjektive Bedeutung. Sie muß als die Subjektivität selbst betrachtet werden, die die sich selbst immer aufhebende Tätigkeit ist. Die Vernunft betätigt sich nämlich als der Trieb, den Widerspruch zwischen der Subjektivität und der Objektivität aufzuheben. Der Trieb ist als ihre Funktion anzu-
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sehen, mit der sie sich den objektiven Inhalt geben muß, der ihre realen Bestimmungen ausmacht. Auf diesem Trieb gründet das System der Wissenschaft. Über diesen Trieb der Idee, aus dem Rahmen der Subjektivität herauszutreten und sich objektiv zu machen, sagt Hegel: „Weil die reine Idee des Erkennens insofern in die Subjectivität eingeschlossen ist, ist sie Trieb, diese aufzuheben, und die reine Wahrheit wird als letztes Resultat auch der Anfang einer andern Sphäre und Wissenschaft.“ (GW12.253) Was mit dem Terminus Trieb ausgedrückt wird, ist der tätige Charakter der absoluten Idee. Zu erörtern ist noch, was dieser Umstand für die mannigfaltigen Bestimmungen bedeutet, die den Inhalt der Wissenschaft ausmachen sollen. Wenn man in allem ein und dieselbe Struktur findet, kann man die primitivste Form dieser Struktur als Muster bezeichnen und von da her alles in ein und dieselbe Struktur einschließend begreifen. Bei Hegel hat der Trieb eine solche Funktion als Muster. Während durch den Anschluß der Ideenlehre an die Begriffslehre die Idee als die innere Zweckmäßigkeit betrachtet wird, wird die Tätigkeit des Subjekts beim teleologischen Schluß betont. Dementsprechend kommt der Trieb als die Tätigkeit der Idee vor, der eigentlich nur als das primitivste Beispiel des teleologischen Schlusses im realphilosophischen Bereich zu verstehen ist, also auch in der primitivsten Form auftritt und deshalb eine grundlegende Bedeutung für die Wissenschaft hat. Hegel sieht damit auch in der unmittelbarsten empirischen Bestimmung eine allgemeine rationelle Bedeutung. So läßt sich eine Reihe der mannigfaltigen Bestimmungen, die unter ein und derselben Struktur einheitlich begriffen werden können, als ein System organisieren.^
4.1.4. Skizze der Hegelschen Rezeption von Leibniz und Aristoteles sowie eines Vergleichs mit Schellings Freiheitsschrift Im Hinblick auf das Spekulativwerden des Triebes stellt sich die Frage, durch welche Gedanken Hegel zu einer solchen Auffassung des Triebes angeregt wurde. Um diese Frage zu beantworten, soll Hegels Rezeption von LEIBNIZ und ARISTOTELES herangezogen werden, auf die wir schon hingewiesen haben (s. 3.2.1.1. und 3.2.2.I.). Außerdem ist es aufschlußreich, SCHELLINGS
2 Das Weitergehen der absoluten Idee in eine andere Sphäre der Wissenschaft stimmt mit dem Prozeß überein, das ansichseiende Absolute für sich zu werden. Uber den Umstand, daß das ansichseiende Absolute einen Mangel hat, aus dem ein Trieb resultiert, für sich zu werden, vgl. H.-Ch. Lucas: Wirklichkeit und Methode in der Philosophie Hegels. 35. Das genannte Weitergehen kann auch als „die Unterwerfung des Seienden in der Methode“ charakterisiert werden, die nach Riedel „der Weg zur Wahrheit und die Wahrheit selbst“ ist (Theorie und Praxis im Denken Hegels. 178).
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anscheinend ähnliche Auffassung zu berücksichtigen, die in der zeitlich parallel erschienenen Freiheits-Schritt (1809) vertreten wird. Es ist denkbar, daß Hegels Rezeption von LEiBNizens Begriff der „Appetition“ für das Spekulativwerden des Triebes eine wichtige Rolle gespielt hat. Denn es handelt sich bei beiden Begriffen darum, die Substanz durch die „Appetition“ oder den Trieb in Bewegung zu bringen. In bezug auf den Widerspruch-Begriff können die beiden Begriffe nach Hegels Ansicht in der Tat gleichgesetzt werden: „der Trieb überhaupt (Appetit oder Nisus der Monade, die Entelechie des absolut einfachen Wesens)“ {GW 11.287; vgl. 4.1.3. Zitat aus derselben Stelle). Für Hegel zeigt sich im Trieb oder Appetit das „speculative Denken“ (ebd.). Durch diese Rezeption ist der Terminus Trieb bei Hegel wohl etwas geworden, das den tätigen Charakter des Subjekts oder die Subjektivität überhaupt ausdrückt.i Es fragt sich dann, in welchem Sinne Hegel LEiBNizens Standpunkt verstanden und rezipiert hat. Was Hegel am Gedanken LEiBNizens hervorhebt, ist nichts anderes als die Veränderung des als Vorstellen (Perception) bezeichneten Zustands der Monade durch das Begehren (Appetition): „Die Veränderung im Vorstellen ist Begehren. Das ist Spontaneität der Monade; es kommt alles nur ihr selbst zu, Influenz fällt weg. — In der Tat, diese Intellektualität aller Dinge ist ein großer Gedanke Leibnizens.“ {Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. TW 20.243; vgl. Definition der Perception und Appetition in den Lehrsätzen 14 und 15 der Monadologie-, vgl. auch Lehrsatz 2 von Principens de la Nature et de la Grace fondes en Raison) Es ist bemerkenswert, daß die genannte Intellektualität der Monade der spinozistischen Substanz gegenübergestellt wird (vgl. GW 11.378; 7W20.164, 238). Dabei geht es um nichts anderes als etwas, das über die Identität der spinozistischen Substanz hinausgeht: Subjektivität. Die LEiBNizische Auffassung der Subjektivität findet sich nach Hegel in der Bestimmung: „une multitude dans l’unite, ou dans la substance simple“ {Monadologie. Lehrsatz 14). Hegel sieht hierin „Unterschiedensein in Einem“ {TW 20.243), d. h. etwas, das den Unterschied in der Identität der Substanz ausmacht. Insofern diese Auffassung mit dem Begriff Appetition ausgedrückt wird, übernimmt Hegel sie in der Weise, daß die innere Selbstbewegung als der Trieb bezeichnet wird.^ Es fragt sich aber, ob Hegels LEiBNiz-Rezeption mit dem Gedanken LEiBNizens übereinstimmt. Nach LEIBNIZ ist jede Monade von der anderen verschieden (s. Monadologie. Lehrsatz 9). Die Vielheit der Monaden wird 1 Darüber, daß Hegel Leibnizens Auffassung der in der Weise der Tätigkeit gedachten Substanz hervorhebt und rühmt, vgl, M. Riedel: Theorie und Praxis, 164. 2 Zu Hegels Auffassung des Triebes in Hinblick auf seine Leibniz-Rezeption vgl. W. Bonsiepen: Hegels Rezeption der Leibnizschen Monadologie. In: Leibniz. Werk und Wirkung. 61, 66 (Anm. 21).
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also vorausgesetzt. Es ist bei LEIBNIZ nicht klar, ob nicht nur die Veränderung der einzelnen Monade, sondern auch die Selbstbewegung des Ganzen der Monaden der Appetition zugewiesen werden.^ Hegel hält die Appetition für die Selbstbewegung des Ganzen der Monaden, die der Veränderung der einzelnen Monade zugrunde liegt. Erst insofern konnte Hegel glauben, im LEiBNizens Begriff Appetition etwas gefunden zu haben, durch das die Identität der spinozistischen Substanz ergänzt werden sollte. Dabei kommt es darauf an, ob die Appetition in der unendlichen Vielheit die Bewegung der Einheit sein kann. Im Hinblick auf das Verhältnis von Einheit und Vielheit müßte also die Appetition als diese Bewegung der Einheit begriffen werden. Für Hegels Augen vermag LEIBNIZ diese Auffassung der innerlichen Bewegung der Einheit nicht auszuführen. Da für LEIBNIZ die unendliche Vielheit absolut und die Monade selbständig ist, fehlt der Appetition die Einheit: „diese Intellektualität hat das Eins nicht zu überwältigen gewußt. Die Trennung im Begriffe, die bis zum Entlassen aus sich selbst geht, dem Scheinen in unterschiedene Selbständigkeit, hat er nicht in die Einheit zusammenzufassen gewußt.“ (TW20.253) Notwendigerweise fragt LEIBNIZ nach der Ordnung und Hierarchie der Monaden. Seiner Ansicht nach stehen die individualisierten Monaden im Verhältnis der sog. „harmonie preetablie“ {Principes de la Nature et de la Grace fondes en Raison. Lehrsatz 3) oder der Einheit des Gottes, die sie voraussetzen: „Et c’est ainsi que la derniere raison des choses doit etre dans une substance necessaire, dans laquelle le detail des changemens ne soit qu’eminemment, comme dans la source: et c’est ce que nous appellons Dieu.“ {Monadologie. Lehrsatz 38). Diesen Vorgang lehnt Hegel ab. Der LEiBNizische Gottesbegriff wird von Hegel als eine Aushilfe bezeichnet, die außer dem Begriff steht: „Diese absolute Einheit wird nun in Gott verlegt; er ist die Monade der Monaden. Vor Gott waren sie nicht selbständig; in Gott sind sie absorbiert, ideell. Damit käme nun jetzt die Forderung, in Gott eben jene Einheit zu begreifen von dem, was vorher auseinanderfällt; allein Gott hat das Privilegium, daß ihm das aufgebürdet wird, was nicht begriffen werden kann. Das Wort Gott ist sodann die Aushilfe, die selbst nur zur Einheit führt, die nur eine genannte ist; das Herausgehen des Vielen aus dieser Einheit wird aber nicht aufgezeigt.“ (7W20.254 f) Damit erklärt Hegel den Versuch LEiBNizens deswegen für gescheitert, weil LEIBNIZ die Trennung im Begriff nicht aufgefaßt hat. Bei Hegel wird die Vielheit durch den Trieb der Einheit herausgebildet. Da Hegel gerade das von ihm hochgeschätzte Prinzip der Individuation ’ K. E. Kaehler sieht im „appetitus“ etwas, das die Vielheit entfaltet und sich wiederum auf sich selbst als immer übergreifende innere Einheit bezieht {Leibniz — der methodische Zwiespalt der Metaphysik der Substanz. 26), während O. Ruf vom „appetitus“ die Tendenz unterscheidet, die auf die Totalität des Seienden hingespannt ist {Die Eins und die Einheit bei Leibniz. 128).
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für von LEIBNIZ nicht ausgeführt hält (vgl. GW 11.379; IW20.253), bleibt die Bedeutung LEiBNizens für Hegel auch im Vergleich zu derjenigen des gegenübergestellten SPINOZA beschränkt, dem Hegel immerhin die Auffassung der Identität der Substanz verdankt (vgl. 7W20.166).‘* Allerdings darf nicht vergessen werden, daß LEiBNizens Auffassung der Appetition als der Bewegung der Substanz Hegel dazu angeregt hat, diese Bewegung als den Trieb zu bezeichnen. Es muß aber einen Grund geben, warum Hegel glauben konnte, von LEiBNizens Begriff der Appetition die spekulative Bedeutung des Triebes übernehmen zu können. Hier ist wohl daran anzuknüpfen, daß LEIBNIZ seinen Begriff Monade als den ARiSTOTELischen Begriff Entelechie betrachtet (s. Monadologie. Lehrsatz 18).^ Da Hegel den spekulativen Trieb nicht nur mit der Appetition der Monade, sondern auch mit der Entelechie verbindet (s. o. Zitat aus GW 11.287), muß Hegels LEIBNIZ-Rezeption über seine AwsTOTELES-Rezeption verstanden werden.® Hegels Blick erstreckt sich also über LEIBNIZ hinaus bis zu ARISTOTELES. Hegels Auffassung der inneren Zweckmäßigkeit, die für seine Subjektivitätstheorie grundlegend ist, wird von ARISTOTELES angeregt, wie sich darin zeigt, daß diese Theorie in Anlehnung an den ARiSTOTELischen Zweck-Begriff erklärt wird (vgl. 3.2.2.1. Zitat aus GW9.20). Was Hegel an der ARiSTOTELischen Philosophie hervorhebt, ist nichts anderes als die Auffassung ARISTOTELES’ des sichselbstbestimmenden Zwecks: „Das Allgemeine ist tätig, bestimmt sich; und der Zweck ist das Sichselbstbestimmen, was sich realisiert. Dies ist die Hauptbestimmung, auf die es bei ARISTOTELES ankommt.“ (TW 19.153 f) Das sich realisierende Sichselbstbestimmen heißt nach Hegel Entelechie, die „in sich Zweck und Realisierung des Zwecks ist.“ (TW 19.154) Was den Zweck-Begriff, der Hegels Auffassung der inneren Zweckmäßigkeit beeinflußt haben könnte, betrifft, muß neben derjenigen des ARISTOTELES auch die Auffassung KANTS berücksichtigt werden, auf die Hegel bezüglich des Zwecks der Organischen in der Phänomenologie des Geistes anspielt (vgl. 3.2.2.1. Zitat aus GW9.147). Da nach Hegel dieser Begriff KANTS aber wieder als ein ARiSTOTELischer zu bezeichnen ist (s. IW 19.177; TW 20.379), kann man Hegels Rezeption dieses KANtischen Begriffs im Zusammenhang mit seiner ARiSTOTELES-Rezeption verstehen. Es muß allerdings * über die beschränkte Bedeutung Leibnizens gegenüber derjenigen Spinozas für Hegel vgl. H.-Ch. Lucas: Das Eine und/als das Andere. In: Leibniz. Werk und Wirkung. 436, 439 f. 5 Über den Umstand, daß der Leibnizsche Begriff „Monade“ in Anlehnung an Aristoteles als „Entelechie“ zu betrachten ist, vgl. H. Heimsoeth: Atom, Seele, Monade. 58; R. Bohle: Der Begaff des Individuums bei Leibniz. 117. ® Zu Hegels Leibniz-Rezeption und zum Unterschied des „Entelechie“-Begriffs von Leibniz und Hegel vgl. H.-Ch. Lucas: Wirklichkeit und Methode in der Philosophie Hegels. 185 f.
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erwähnt werden, in welchem Punkt Hegel sich mit KANT auseinandergesetzt hat. Bei dieser Auseinandersetzung mit KANT geht es darum, daß bei KANT der Zweck gar keine objektive, sondern nur eine subjektive Bestimmung ist. Nach KANT ist „der Begriff eines Naturzwecks seiner objektiven Realität nach durch die Vernunft gar nicht erweislich“ {KU 261; vgl. auch KU 238). Wegen dieses Mangels an Objektivität lehnt Hegel den Standpunkt KANTS ab (vgl. 7W20.381 f). Diese Auseinandersetzung gleicht derjenigen um den KANiischen Begriff der Antinomie. Hegel erkennt zwar KANTS Verdienst, die Notwendigkeit der Widersprüche zum Bewußtsein gebracht zu haben, an, aber er lehnt den genannten Begriff deswegen ab, weil bei KANT der Widerspruch subjektiv bleibt (vgl. KrVB 384, 520; TW20.352, 358). Hegel nimmt also den Begriff des Zwecks bei KANT nur insofern auf, als dieser Begriff die Bewegung der inneren Zweckmäßigkeit im Sinne des ARISTOTELES aufzeigen könnte. Unserer Thematik nach kommt es darauf an, ob ARISTOTELES in Hinblick auf das Spekulativwerden des Triebes der Hegelschen Auffassung der inneren Zweckmäßigkeit einen Anstoß gegeben hat. Hierzu ist festzustellen, daß bei ARISTOTELES die Auffassung des Zwecks auch mit dem Terminus öpe^tc (Begehren) zusammenhängt (s. Metaphysica 1072a 25ff). Hegel sagt dazu: „Das Unbewegte, was bewegt, — dies ist eine große Bestimmung; das Sichselbstgleichbleibende, die Idee, bewegt und bleibt in der Beziehung auf sich selbst... Es ist Zweck; dieser Inhalt oder Zweck ist aber das Begehren und Denken selbst“ (TW 19.161). Durch diesen Ausdruck wurde Hegels Auffassung des spekulativen Triebes möglicherweise angeregt. Da der genannte ARiSTOTELische Terminus hauptsächlich in der Seelenlehre auftritt, soll untersucht werden, was er in diesem Bereich bedeutet. Hegel hält bekanntlich ARISTOTELES’ Seelenlehre für das einzige Vorbild der Psychologie (s. TW 19.221; vgl. auch TW 10.11).^ Damit ist aber noch nicht klar, welche Stellung Hegels Rezeption von ARISTOTELES’ Seelenlehre im ganzen Denken Hegels hat. Dazu muß geklärt werden, in welchem Sinne Hegel in bezug auf das Spekulativwerden des Triebes die ARiSTOTELische Auffassung aufnimmt. Denn bei Hegel hat der Trieb seine eigentliche Stelle in der Psychologie und nimmt zugleich darüber hinaus eine allgemeine Stellung in Hegels Denken überhaupt ein. Unserer Thematik nach handelt es sich bei seiner ARiSTOTELES-Rezeption darum, ob bei ARISTOTELES die Möglichkeit vorhanden ist, den Trieb über das Unmittelbare hinaus spekulativ zu begreifen.
’ In der Geschichte der Psychologie ist der Einfluß Aristoteles’ auf Hegel betont. Vgl. O. Klemm: Geschichte der Psychologie. 70; M. Dessoir: Abriß einer Geschichte der Psychologie. 172.
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Bei ARISTOTELES enthält öpeftc nicht nur eTrtrJupt'a (Begierde), sondern auch ßodXTjCTtc (Willen) (De Anima. 433 a). Das Begehren geht also über etwas Unmittelbares hinaus. Als Vermögen der Seele richtet es sich auf das Allererste, das alles bewegt, ohne bewegt zu sein (vgl. op. dt. 433b). In diesem Punkt scheinen ARISTOTELES und Hegel sich zu nähern. Hier findet sich wohl der Grund, warum Hegel die ARiSTOTELische Seelenlehre als Vorbild hochschätzt. In Hinsicht auf den genannten Punkt ist es verständlich, daß Hegel im Trieb, der in der Psychologie vorkommt, die gleiche Bestimmung wie beim logischen Begriff Widerspruch sieht (s. 4.1.2. Zitat aus SbW 1810/ 11 § 131). Es ist bemerkenswert, daß die ARiSTOTELische Auffassung des Begehrens, das nicht nur Begierde, sondern auch Willen enthält, auch bei WOLFE grundlegend ist. Von ihm stammt die Vermögenspsychologie, die auch Hegel voraussetzt. WOLFF folgt LEiBNizens Richtung, die allgemeine Bedeutung der Appetition hervorzuheben.® Die Auffassung diesesTerminus im ARiSTOTELischen Sinne ist auch beim WOLFFschen Begriff „appetitus in genere“ vorhanden {Psychologia empirica. § 579). Unter diesen Begriff werden „appetitus sensitivus“ und „appetitus rationalis“ (volitio oder voluntas) eingeordnet (op. cit. § 580, § 880; vgl. auch Psychologia rationalis. § 517). Erst in der Schulphilosophie trat die Vermögenspsychologie auf, die die Vermögen als selbständige bezeichnet und nicht auf dem allgemeinen appetitus beruhen läßt, sondern nach den Gegenständen der Seele unterscheidet.® Erst seit FICHTE wurde versucht, den ARiSTOTELischen Standpunkt wiederherzustellen; dies war auch Hegels Absicht, die bei ihm letztlich zur Vollendung gelangt ist.i°
Es darf aber nicht übersehen werden, daß Hegel bei ARISTOTELES einen Mangel an Einheit des Begriffs findet: „Der Mangel der Aristotelischen Philosophie liegt also darin, daß, nachdem durch sie die Vielheit der Erscheinungen in den Begriff erhoben war, dieser aber in eine Reihe bestimmter Begriffe auseinanderfiel, die Einheit, der absolut sie verneinende Begriff nicht geltend gemacht worden.“ {TW 19.244) Nach Hegel erscheint dieser Umstand folgendermaßen: „das Bedürfnis ist Einheit des Begriffs.“ (ebd.) Was dies in Zusammenhang mit unserer Thematik bedeutet, ist festzustellen, daß bei ARISTOTELES das Begehren nicht die Bewegung des Allerersten selbst ist, insofern dieses etwas Begehrtes bleibt. Bei ihm gibt es also keine Auffassung des Triebes der Idee wie bei Hegel.“ In diesem Punkt muß be* Vgl. M. Dessoir: op, cit. 135. ^ Vgl. M. Dessoir: op. cit. 125, 134. Vgl. M. Dessoir: op. cit. 162 f, 168. “ Die Auffassung des „Triebes der Idee“ erweist sich als weniger intellektualistisch als bei Aristoteles, wie Dessoir nachweist (op. cit. 172).
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tont werden, daß Hegels Standpunkt obwohl er von ARISTOTELES angeregt ist über diesen hinausgeht und die Subjektivitätstheorie vollendet. 12
Da allerdings in der Nürnberger Entwicklung die logischen und psychologischen Bestimmungen miteinander verbunden zu betrachten sind (s. 4.1.2.), ist es denkbar, daß Hegels ARiSTOTELES-Rezeption in den psychologischen Bestimmungen zugleich auch eine logisch-systematische Bedeutung hat. In der Freiheits-Schnh. vertritt SCHELLING eine ähnliche Auffassung wie die Hegels, daß sich die Identität selbst bewegt. Die Identität ist nicht mehr als etwas Quietisches wie bei seiner Identitätsphilosophie, sondern als etwas Dynamisches zu betrachten,i^ das mit Wollen ausgedrückt wird: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.“ (AW 4.294) Die Auffassung der absoluten Identität des Absoluten in der Identitätsphilosophie wurde bekanntlich von Hegel in der Phänomenologie des Geistes abgelehnt (vgl. GW 9.17f). Da diese Auffassung revidiert wird, ist festzustellen, daß eine Wendung des ScHELLiNGschen Denkens stattfindet, die zu seiner Spät-Philosophie führt. Für unsere Thematik ist die Berücksichtigung dieser Wendung deswegen erforderlich, weil diese Hegel möglicherweise einen Denkanstoß gegeben hat, seiner Subjektivitätstheorie den endgültigen Ausdruck „Trieb der Idee“ zu verleihen. Da die Freiheits-Schriit als eine Antwort auf die Kritik in der Phänomenologie des Geistes angesehen werden kann,i'^ kann die genannte Wendung für die Entwicklung Hegels nach dem Erscheinen der Phänomenologie des Geistes relevant sein. Jedenfalls ist zu beachten, daß die Wendung SCHELLINGS und die Nürnberger Entwicklung Hegels einander nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich nahestehen. Es darf aber nicht übersehen werden, daß sich die beiden Denker darin voneinander unterscheiden, wie sie das dynamische Denken auffassen. Die gegenseitige Stellungnahme der beiden muß dazu herangezogen werden, um zu erhellen, in wieweit von einer Ähnlichkeit ihrer Auffassungen gesprochen werden kann. 12 über den Umstand, daß Hegels Psychologie trotz des Einflusses von Aristoteles in der Hervorhebung der Tätigkeit, die ihren eigentlichen Boden in der modernen Subjektivität hat, weit über diejenige von Aristoteles hinausgeht, vgl. M. Riedel: op. dt. 146. Zur Charakterisierung der Identität vgl. H. Fuhrmans: Einleitung. In: F. W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit. 15. 30. Dazu vgl. M. Heidegger: Schellings Abhandlung Uber das Wesen der menschlichen Freiheit. 231. Zur Reaktion Schellings auf Hegels „Verbesserung“ des Identitätssystems vgl. W. Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. 111. Vgl. auch X. Tilliette: Die Freiheitsschrift. In: Schelling. Hrsg, von H. M. Baumgartner. 98.
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ScHELLiNG lehnt Hegels Auffassung ab, insofern Hegel das dynamische
Denken in einer Form des Begriffs aufzufassen versucht. SCHELLING sieht später in dieser Form den vorausgesetzten Gedankenprozeß des Philosophierenden: „Von dem Subj ekt begreift sich, daß es nicht stehen bleibt, es hat eine innere Nöthigung überzugehen ins Objekt und so zugleich in seiner Subjektivität sich zu steigern. Aber ein leerer Begriff, wofür Hegel selbst das Seyn erklärt, hat, darum weil er ein leerer ist, noch keine Nöthigung sich zu erfüllen. Nicht der Begriff erfüllt sich, sondern der Gedanke, d. h. ich, der Philosophirende, kann ein Bedürfniß empfinden, von dem Leeren zum Erfüllten fortzugehen.“ (Zur Geschichte der neueren Philosophie. AW 5.420) Für SCHELLING ist nicht akzeptabel, daß sich die logischen Bestimmungen bewegen. In der FreiTzeits-Schrift stellt er sich der Auffassung des Gottes als „eines bloß logischen Abstraktums“, aus dem alles „mit logischer NothWendigkeit“ folgen müßte {AW4.338), entgegen. Eine derartige logische Notwendigkeit lehnt SCHELLING ab. Gerade in diesem Punkt schlägt Hegel die umgekehrte Richtung ein und lehnt SCHELLINGS Auffassung ab: „Die wahre Durchführung ... könnte nur auf logische Weise geschehen; denn diese enthält den reinen Gedanken. Aber die logische Betrachtung ist das, wozu SCHELLING in seiner Darstellung, Entwicklung nicht gekommen ist.“ (TW20.435) Beide sind also unterschiedlicher Meinung, ob das dynamische Denken in der logischen Form aufgefaßt werden kann. Man kann SCHELLINGS Stellungnahme zu Hegel nicht zustimmen. SCHELLING scheint nicht zu verstehen, daß bei Hegel die logischen Bestimmungen diejenigen sind, die den Widerspruch enthalten und sich deshalb bewegen. Es ist nicht nötig, diesen Bestimmungen etwas hinzufügen, das ihnen selbst nicht gehört, Hegels Urteil über SCHELLING, vor allem über die Freiheits-Schrift ist auch nicht zuzustimmen, insofern diese trotz ihrer spekulativen Art für einzeln gehalten wird: „SCHELLING hat eine einzelne Abhandlung über die Freiheit bekanntgemacht, diese ist von tiefer, spekulativer Art; sie steht aber einzeln für sich, in der Philosophie kann nichts Einzelnes entwickelt werden.“ (TW 20.453) SCHELLINGS dynamisches Denken in dieser Schrift kann gar nicht als etwas Einzelnes charakterisiert werden. Es verkündet einen Grundgedanken SCHELLINGS über die Einheit des Unendlichen und des Endlichen, die in der menschlichen Freiheit betrachtet wird.i® Diese Frage15 K. Brinkmann kommentiert, daß es nach Schellings Darstellung etwas Geheimnisvolles sein muß, was den Begriff durch seine Bestimmungen hindurch voran treibt, und daß Hegels Bezeichnung „Kraft“ nicht metaphorisch, wie bei Schelling, sondern kategorial gefaßt ist (Schellings Hegel-Kritik. In: Die ontologische Option. Hrsg, von K. Hartmann. 151, ebd. Anm. 44; auch über die kategoriale Deutung der Bezeichnung „Trieb“ vgl. 176 Anm. 198). 15 Heidegger wendet gegen Hegels Argument so ein, daß für Schelling die Freiheit nicht Einzelnes war, sondern als der Wesensgrund des Ganzen gedacht und entfaltet war (op. cit. 15).
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Stellung deckt sich wohl mit derjenigen Hegels. Da hier in der genannten Einheit das Unendliche nicht mehr die absolute Identität bleibt, wird es als etwas aufgefaßt, das seinerseits der Hegelschen Idee entspricht. Dieser Gedanke bietet eine mögliche Lösung zum Problem des „Bedürfnisses der Philosophie“,das bei Hegel in der Bewegung dieser Identität befriedigt werden soll. Was für „von tiefer, spekulativer Art“ erklärt wird, ist nichts anderes als das, was über die absolute Identität hinausgeht. Nach ScHELLiNG findet sich die genannte Einheit in der menschlichen Freiheit, in der Weise, daß der Wille des Menschen zweifache Fähigkeiten hat. Einerseits kann er den Willen Gottes vollziehen. Andererseits kann er sich auf das Böse richten: „Im Menschen ist die ganze Macht des finstern Princips und in eben demselben zugleich die ganze Kraft des Lichts. In ihm ist der tiefste Abgrund und der höchste Himmel, oder beide Centra.“ {AW 4.307) Da im Menschen „die Möglichkeit des Guten und des Bösen“ {AW 4.308) gegeben ist, ist er dafür verantwortlich, welche Richtung verwirklicht wird. Diese Doppeltheit im Willen des Menschen ist von der ursprünglichen Identität der beiden Prinzipien in Gott unterschieden. Erst in diesem Unterschied wird Gott offenbar. Der Unterschied ist als ein wesentliches Moment der Offenbarung anzusehen: „Wäre nun im Geist des Menschen die Identität beider Principien ebenso unauflöslich als in Gott, so wäre kein Unterschied, d. h. Gott als Geist würde nicht offenbar. Diejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich ist, muß also im Menschen zertrennlich seyn“ (ebd.). Es zeigt sich hier etwas über die absolute Identität Hinausgehendes. Es stellt sich die Frage, wie in diesem Unterschied auch die Identität erhalten werden kann. Dazu ist SCHELLING der Meinung, daß auch im Unterschied die Identität fortbesteht, auf deren Grundlage sogar die Entstehung des Unterschiedes ermöglicht wird: „Der Wille des Menschen ist anzusehen als ein Band von lebendigen Kräften ; solange nun er selbst in seiner Einheit mit dem Universalwillen bleibt, so bestehen auch jene Kräfte in göttlichem Maß und Gleichgewicht. Kaum aber ist der Eigenwille selbst aus dem Centro als seiner Stelle gewichen, so ist auch das Band der Kräfte gewichen; statt desselben herrscht ein bloßer Particularwille, der die Kräfte nicht mehr unter sich, wie der ursprüngliche, vereinigen kann, und der daher streben muß, aus den voneinander gewichenen Kräften, dem empörten Heer der Begierden und Lüste (indem jede einzelne Kraft auch eine Sucht und Lust ist) ein eignes und absonderliches Leben zu formiren oder zusammenzusetzen, welches insofern möglich ist, als selbst im Bösen das erste Band der Kräfte, der Grund der Natur, immer noch fortbesteht.“ (AW4.309f) Hiermit wird die Einheit des Unendlichen und des Endlichen in der Weise geklärt, daß W. Marx macht darauf aufmerksam, daß die „Freiheitsschrift“ dem damaligen „Bedürfnis der Philosophie“ entsprach {Schelling: Geschichte, System, Freiheit. 103, 144).
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die ursprüngliche Identität im Unterschied offenbar wird und sich darin erhält. Aus der obigen Skizze ergibt sich, daß Hegel und SCHELLING parallel etwas Ähnliches unternommen haben, obwohl sie einander nicht verstanden haben.1* Da SCHELLINGS Auffassung des Wollens zeitlich direkt dem Spekulativwerden des Triebes bei Hegel vorausgegangen war, beeinflußte sie in bezug auf den Ausdruck des dynamischen Denkens möglicherweise Hegels Auffassung des Triebes. Es ist üblich, das dynamische Denken von SCHOPENHAUER, NIETZSCHE, SCHEUER u.a. unter dem Einfluß des späten SCHELLING ZU betrachten. Insofern Hegels Richtung allerdings mit derjenigen SCHELLINGS übereinstimmt, muß man wohl auch mit seinem Einfluß rechnen. 4.1.5. Die Stellung der Phänomenologie des Geistes in den Nürnberger Enzyklopädie-Kursen Die oben durchgeführte Untersuchung der Phänomenologie von 1807 hat gezeigt, daß die Entwicklung des Hegelschen Denkens hinsichtlich des hier thematisierten Begriffskomplexes noch nicht zu ihrem Abschluß gekommen ist (s. 3.2.2.2.). Daher soll nun in bezug auf den Ausdruck „Trieb der Idee“ als die angemessene Exposition der Subjektivitätstheorie erörtert werden, wie sich die Dinge, vor allem die systematische Stellung der Phänomenologie des Geistes, in Nürnberg entwickeln. Die subjektivitätstheoretische Auffassung des von uns behandelten Begriffskomplexes, die in der phänomenologischen Problematik, besonders in der Phänomenologie des Selbstbewußtseins als die von der Begierde II unterschiedene Begierde I artikuliert wird, wird in Nürnberg als Trieb der Idee entwickelt, der als Prinzip des Systems der Wissenschaft wirkt (s. 4.1.3.). Die subjektivitätstheoretische Bewegung der Bestimmtheiten wird also nicht in der phänomenologischen Dazu vgl. M. Heidegger: op. cit. 15; W. Schulz: op. cit. 112; W. Beierwaltes: Platonismus und Idealismus. 74; W Dilthey: Fragmente aus dem Nachlass. 273. Von daher ist es problematisch, wenn man Schellings Auffassung des Subjekts des Weltprozesses Hegels Logik entgegensetzt, wie Dilthey meint (op. cit. 277). Freilich darf man nicht übersehen, daß Schelling zwar das dynamische Denken vertritt, aber eine Form dieses Denkens ablehnt, die den Gott nicht klar über die Welt setzt und deshalb als eine Art Pantheismus zu bezeichnen ist. Dazu vgl. W. Beierwaltes: op. cit. 79 f. Über Schellings durch seine Auffassung des Gottes klar sichtbare Absage an Hegels „Notwendigkeit der Idee“ vgl. H. Fuhrmans: Anmerkungen, ln: F.W. ]. Schelling: op. cit. 169. IS Dazu vgl. W. Schulz: Freiheit und Geschichte in Schellings Philosophie. In: F. W.). Schel-
ling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. 19f; H. Fuhrmans: Einleitung, ln: F. W. /. Schelling: op. cit. 28.
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Problematik, sondern in der Wissenschaft selbst begriffen und dargestellt. Damit zusammenhängend wird die Phänomenologie des Geistes so umgestaltet, daß sie einen Teil des Systems der Wissenschaft bzw. der Enzyklopädie ausmacht. Es stellt sich die Frage, wie die Phänomenologie des Geistes ihre enzyklopädische Stellung bekommen hat, wobei sie die Funktion einer Einleitung in die Philosophie verloren hat. Anhand der noch nicht veröffentlichten Schülernachschriften neben den uns bekannten Manuskripten aus der Nürnberger Zeit läßt sich die Frage näher als bisher beantworten. Nach den Materialien unterscheiden sich drei Schritte im Hinblick darauf, wie die Phänomenologie des Geistes behandelt wird: (1) zuerst ist die Geisteslehre, deren ersten Teil die der Phänomenologie des Geistes entsprechende Bewußtseinslehre ausmacht, als „Einleitung in die Philosophie“ von derWissenschaft selbst verschieden (1808/09), (2) dann wird die „Phänomenologie des Geistes“ in die „Lehre von dem Geiste“ eingeordnet, wobei sie allerdings von den anderen Teilen der „Philosophie des Geistes“ getrennt und deshalb nicht ganz in diese eingegliedert wird (1810/11), (3) schließlich wird sie zu einem Teil der Philosophie des Geistes, der den anderen Teilen gleichrangig ist (1812/13). Zu (1). In den ersten Nürnberger Jahren (1808/09) wird die Wissenschaft von der Einleitung in die Philosophie unterschieden, insofern die Wissenschaft von der Erscheinung unterschieden ist, wie es in der Enzyklopädie für die Oberklasse 1808/09 heißt: „Die philosophische Wissenschaft setzt voraus, daß die Trennung der Gewißheit seiner selbst und der Wahrheit bereits aufgehoben ist, oder daß der Geist nicht mehr der Erscheinung angehört.“ (§ 2) Dabei kann man unter der Erscheinung die „Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie“ verstehen. Da die Geisteslehre nämlich nicht zu der Wissenschaft selbst gehört, entspricht sie ihrer Stellung nach der Erscheinung, wie die Geisteslehre für die Mittelklasse 1808/09 von „einer Einleitung in die Philosophie“ spricht: „Eine Einleitung in die Philosophie hat vornehmlich die verschiedenen Beschaffenheiten und Tätigkeiten des Geistes zu betrachten, durch welche er hindurchgeht, um zur Wissenschaft zu gelangen.“ (Dritter Ansatz, § 1, TW 4.73) Hier zeigt sich, daß sich die „Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie“ von der Philosophie bzw. Wissenschaft selbst unterscheidet. Diese Geisteslehre, die die „Lehre von dem Bewußtsein“ und die „Seelenlehre“ ausmachen, ist in diesem Punkt als etwas Vor-Wissenschaftliches zu betrachten. Aber es darf nicht übersehen werden, daß sie gleichfalls „eine Wissenschaft“ ist, insofern sie „in einem notwendigen Zusammenhänge“ steht (ebd.) Hier geht es um nichts anderes als eine Wissenschaft, deren Funktion der Einleitung in die Philosophie die Phänomenologie von 1807 zu tragen hat. In diesen Jahren wollte Hegel in der Tat den ganzen Umfang der Phänomenologie von 1807 als „die Lehre von dem Bewußtsein“ in der Geisteslehre vortragen: „«) das Bewußtsein
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von abstrakten oder unvollständigen Gegenständen, ß) das Bewußtsein von der Welt des endlichen Geistes, y) das Bewußtsein von dem absoluten Geiste“ {Gei 1808/09 § 6,7W4.74).i In dieser Konzeption der Bewußtseinslehre ist der Charakter der Einleitung in die Philosophie wohl beibehalten. Der ursprüngliche Plan, den ganzen Umfang der Phänomenologie von 1807 vorzutragen, konnte aber wegen der Verständnisschwierigkeiten für die Schüler nicht durchgeführt werden. Die Darstellung der Bewußtseinslehre wurde am Anfang des Vernunftkapitels abgebrochen und ging direkt zur Logik über. Dieser Umstand veranlaßte Hegel wohl dazu, die Darstellung der Bewußtseinslehre auf die ersten drei Stufen (Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft) zu beschränken. Dabei ist zu bemerken, daß anläßlich der Beschränkung der Darstellung der Bewußtseinslehre die Geisteslehre damit begann, die Funktion der Einleitung in die Philosophie zu verlieren.2 Mit diesem Funktionswechsel der Bewußtseinslehre zusammenhängend wurde das System der Wissenschaft neu organisiert, wobei die Bewußtseinslehre auf eine andere Weise als in ihrer Funktion der Einleitung in die Philosophie in dieses System integriert wird. Von den Jahren 1809/10 an wurde die eben ausgesprochene beschränkte Darstellung der Bewußtseinslehre festgelegt, wie Hegels Randnotizen zu einem Schülerheft dies zeigen {Bew 1809/10). Damit wurde die enzyklopädische Gestaltung der Phänomenologie des Geistes eindeutig. Zu (2). Bei der beschränkten Darstellung der Bewußtseinslehre geht es nicht mehr um eine Einleitung in die Philosophie, sondern darum, das Bewußtsein unter der systematischen Hinsicht der Enzyklopädie zu betrachten. Die Bewußtseinslehre bzw. Phänomenologie des Geistes tritt nämlich als ein Teil der Philosophie des Geistes auf. Daß die Phänomenologie des Geistes in die Philosophie des Geistes eingeordnet wird, hat den Materialien nach 1810/11 {System der besonderen Wissenschaften für die Oberklasse) stattgefunden: „Der Geist sich beziehend auf seine Bestimmung, als auf einen äußerlichen an- und für sich seienden Gegenstand, und dessen Bestimmung ist Bewußtsein oder der erscheinende Geist und die Betrachtung desselben, die Phaenomenologie des Geistes.“ (§ 65) So wird die Phänomenologie des Geistes als ein Teil der „Lehre von dem Geiste“ bezeichnet. Es muß allerdings berücksichtigt werden, daß ihre Stellung in dieser Lehre nicht ganz festgelegt wird. Denn hier bezieht sich der Geist als das Bewußtsein auf das Äußere und verhält sich nicht zu sich selbst: „Der Geist für sich betrachtet fängt nur von dem Aeußern an, bestimmt dieses, und verhält sich fernerhin nur zu sich selbst, und zu seinen eigenen Bestimmungen.“ (§ 66, * Dazu vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee, 201; £. Moldenhauer und K. M. Michel: Anmerkung der Redaktion. 7TV4.610f. 2 Dazu vgl. W. Bonsiepen: Phänomenologie des Geistes. In: Hegel Hrsg, von O. Pöggeler. 73.
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vgl. 7W4.42) Daher unterscheidet sich die Phänomenologie des Geistes von den drei Abschnitten der Philosophie des Geistes:^ „Die Philosophie des Geistes enthält drei Abschnitte. Sie betrachtet 1) den Geist in seinem Begriff, Psychologie überhaupt, 2) Realisirung des Geistes, Staatswissenschaft und Geschichte, 3) Die (sic) Vollendung des Geistes in Kunst, Religion und Wissenschaft.“ (§ 67, vgl. 7W4.42). Daraus ergibt sich, daß die Phänomenologie des Geistes noch nicht ganz in die Philosophie des Geistes eingegliedert wird.'* Zu (3). Daß in bezug auf die Konzeption des gesamten Systems der Wissenschaft von der Einleitung in die Philosophie nicht mehr die Rede ist, wird den Materialien nach erst in der Enzyklopädie für die Oberklasse 1812/13 bestätigt. Anders als in der Enzyklopädie von 1808/09, unter deren Systemkonzeption die Einleitungsproblematik noch denkbar ist, geht es hier um den wissenschaftlichen Charakter der „philosophischen Enzyldopädie“ gegenüber der „gewöhnlichen“. Dabei handelt es sich um den Unterschied zwischen den „empirischen“ und den „rein rationellen“ Wissenschaften: „Die Wissenschaften sind nach ihrer Erkenntniß Weise entweder empirisch oder rein rationell, absolut betrachtet sollen beyde denselben Inhalt haben“
5 Sowohl die von Rosenkranz überlieferte (Prop 178 f; TW4.42) als auch die von Moldenhauer/Michel vorgeschlagene Nürnberger Gliederung der Philosophie des Geistes, die „einen Vorgriff auf die Heidelberger Enzyklopädie“ darstellt (7W4.608 f), müssen aufgrund der Schülernachschriften korrigiert werden, insofern die beiden Gliederungen unter dem Abschnitt „Der Geist in seinem Begriff“ bzw. „Psychologie überhaupt“ die Stufenfolge Anthropologie — Phänomenologie des Geistes — Psychologie darstellen. Die Gliederung nach Rosenkranz beruht auf einer Kompilation, die die der im § 67 von SbW 1810/11 entsprechende (§ 128) sowie die keiner der erhaltenen Schülernachschriften entsprechende und wegen der Eingliederung der Anthropologie sicher zur späteren Phase gehörende (von der Eingliederung unter den genannten Abschnitt abgesehen) Gliederung (§ 129) enthält. Es ist festzustellen, daß in keinem erhaltenen Enzyklopädie-Vntemchtsheft unter der Bezeichnung „Der Geist in seinem Begriff“ bzw. „Psychologie überhaupt“ die gerade besprochene Stufenfolge dargestellt wurde. Die Bezeichnug „Psychologie überhaupt“ bezieht sich auf die Psychologie, die sich von der Phänomenologie des Geistes unterscheidet. Es gibt also keinen Unterschied zwischen ihren weiteren und engeren Sinn, wie bisher angenommen worden ist (Hoffmeister: NS XIX f; Moldenhauer/Michel: TW4.613 f). Allerdings enthält die Psychologie für die Mittelklasse sowohl die der Phänomenologie des Geistes entsprechende „Lehre vom Bewußtsein“ als auch die der eben bezeichneten Psychologie entsprechende „eigentliche Geisteslehre“ (Psy 1811/12 §§ 4—5; Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien. 23.10.1812. TW Berichte Hegels über seine Vnterrichtsgegenstände. 1811/12, 1813/14, 1815/16. TW 4.297, 299, 302). Vgl, auch Br 1,397 (24.3.1812). '* In der Vorrede zur ersten Ausgabe der Wissenschaft der Logik (22. 3.1812. GW11.8) wird die Phänomenologie des Geistes als der „erste Theil des Systems der Wissenschaft“ von der Philosophie des Geistes unterschieden, insofern die Logik, die mit den ihr folgenden „realen Wissenschaften der Philosophie“ (Philosophie der Natur und Philosophie des Geistes) den zweiten Teil ausmacht, als die „erste Folge zur Phänomenologie des Geistes“ bezeichnet wird. Vgl. G. Schmidt: Hegel in Nürnberg. 148.
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(§ 6, vgl. TW 4.10). Unter der „absoluten“ Betrachtung wird das „wissenschaftliche Bestreben“ betont, das Empirische aufzuheben. Hier zeigt sich, daß aufgrund der spekulativen Auffassung des von uns behandelten Begriffskomplexes das Prinzip des Systems der Wissenschaft festgelegt wird (s. 4.1.3.). Was die Phänomenologie des Geistes betrifft, so gehört sie zu diesem System und zwar als erster Teil der „Lehre von dem Geiste“: „Die Lehre von dem Geiste enthält erstens: die Lehre vom erscheinenden Geiste, vom Geiste nemlich in so fern er sich auf äussere Gegenstände bezieht, oder vom Bewußtseyn, Phänomenologie des Geistes.“ (§ 54) Neu ist hier, daß sie den anderen Teilen der Philosophie des Geistes (zweitens: „Psychologie“ (§ 55), drittens: „die Rechtswissenschaft und Moral, die Staatswissenschaft und die Geschichte“ (§ 56),^ viertens: „Kunst, Religion und Philosophie“ (§ 61)) gleichrangig ist und in diese Philosophie, deshalb in das System der Wissenschaft, endgültig eingeordnet wird. Damit wird ihre enzyklopädische Stellung fast festgelegt. Dazu müssen nur noch zwei Schritte vollzogen werden, (1) daß die Anthropologie als erster Teil der Philosophie des Geistes hineingeschoben wird (zweiter Teil: Phänomenologie des Geistes, usw., Hegels Randnotiz zu SbW 1810/11 § 65),® (2) daß die Phänomenologie des Geistes mit der Anthropologie und der Psychologie gegenüber den anderen Teilen (in 1.—3. Enz: dem objektiven und dem absoluten Geist) einen eigenständigen Teil der Philosophie des Geistes (in 1.—3. Enz: den subjektiven Geist) ^ ausmacht (vgl. die Stufenfolge der „concreten Wissenschaften des Geistes“ in der Wissenschaft der Logik {IS16): Anthropologie — Phänomenologie des Geistes — Psychologie, GW 12.197 f).
5 Während 1810/11 das Recht und die Moral zum praktischen Geist als einem Teil der Psychologie gehören (SbW 1810/11 §§ 135—149), werden sie 1812/13 mit der Staatswissenschaft und der Geschichte in einem selbständigen Teil zusammengestellt, der inhaltlich dem späteren objektiven Geist entspricht. ® In dieser Randnotiz wurde zuerst eine fast gleiche Gliederung wie die in Enz 1812/13 gegeben. Danach wurde die Anthropologie als erster Teil der Philosophie des Geistes hinzugefügt. Dementsprechend wurde die Numerierung für die Phänomenologie des Geistes geändert (1.—2.). Allerdings ließ Hegel sie für die anderen Teile unverändert stehen (2., 3., 4.). So entwickelt sich die Einteilung der Philosophie des Geistes in drei Schritten: (1) dreiteilig (1810/11), (2) vierteilig (1812/13), (3) fünfteilig (1813/16?), bevor die enzyklopädische Dreiteilung eingeführt wird. Vgl. f. Nicolin: Pädagogik — Propädeutik — Enzyklopädie. In: Heget Hrsg, von O. Pöggeler, 100 f. ^ Die Überschriften „Anthropologie“, „Phänomenologie des Geistes“ und „Psychologie“ treten erst in der zweiten Ausgabe der Enzyklopädie (1827) auf.
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4.2. SKIZZE DER DARSTELLUNG DER TERMINI IM „SYSTEM DER BESONDEREN WISSENSCHAFTEN“ 4.2.1. Streben und Trieb in der Naturphilosophie Im „System der besonderen Wissenschaften“ erscheinen die von uns behandelten Termini zuerst im Rahmen der Naturphilosophie („Naturwissenschaft“) und zwar auf zweifache Weise, einerseits als Streben bzw. Bestreben im Unorganischen, andererseits als Trieb und Streben bzw. Bestreben neben Bedürfnis im Organischen, in dem die beiden Termini in einem gleichen Sinne gebraucht werden. Dies bedeutet, daß trotz des Unterschiedes der Termini der gesamte Prozeß der Natur auf der Grundlage einer einheitlichen Auffassung betrachtet wird, die die betreffenden Phänomene ins System der Wissenschaft einordnet. Dieser Umstand beruht wohl auf dem Spekulativwerden des Triebes. Wenden wir uns zunächst dem Unorganischen zu. Auch unorganische Dinge werden unter der Hinsicht der Bewegung durch das Streben begriffen. Es geht um die Bewegung der Materie, die sich trotz ihres Außereinanderseins in Eins zu setzen strebt: „sie ist in ihrem Außereinander wesentlich als In sich seyn bestimmt oder als Bestreben sich in Eins zu sezen.“ {SbW 1809/10, 25.§) Damit wird das Phänomen der Schwere erklärt: „Die Schwere ist der Gegensaz des zum In sich seyn nur strebenden Außer sich seyns. Die Materie ist dies Daseyn des Strebens“ (ebd. 38.§). In diesem Streben liegt die physikalische Bewegung der Dinge, sich in Eins zu setzen, die eine Stufe des Systems der Wissenschaft ausmacht. Sie wird auch mit der Verbform „streben“ ausgedrückt {Enz 1812/13 § 35 und ad § 35). Auffallend ist, daß derselbe Terminus aber auch als der Ausdruck der Bewegung in der umgekehrten Richtung erscheint, nämlich die Dinge zu trennen: „Die Elemente suchen Selbstständigkeit gegen einander zu gewinnen. Wenn die Erde das Streben hätte sich zu trennen, so würde sie zu den 4 Hauptkörper werden zu dem solarischen, lunarischen, commetarischen und planetarischen.“ {Enz 1812/13 ad § 37) Auch als Verbform auftretend: „Der Proceß wird durch die Thätigkeit des Lichts angefacht, die ... ihre Unterschiede zu einer gleichmäßigen Selbsttischkeit zu bewegen und somit den in ihr gebundenen Gegensaz frey zu machen strebt.“ {SbW 1809/10,45.§) „Die Besondern suchen für sich zu seyn, dieß führt sie ins Ganze zurück. Diese einzelnen Momente streben nach der Absonderung, aber gerade dadurch kommen sie zu einer Einheit.“ {Rel 1811/13 ad § 8) Offensichtlich werden die gegensätzlichen Richtungen der Bewegung der Dinge mit ein und demselben Terminus Streben ausgedrückt. Dabei ist bemerkenswert, daß die genannte Bewegung der unorganischen
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Dinge auch in Analogie zum Leben betrachtet wird: „Die Lebendigkeit des Weltkörpers überhaupt ist der physikalische Proceß. Die Schwere ist der Grund der ersten Lebendigkeit, gegen diese steht das Licht, dieß kämpft mit der Schwere.“ (ebd.) Die genannten gegensätzlichen Richtungen der Bewegung der Dinge werden analog der Auffassung des Lebens einheitlich betrachtet. Dies ist der Grund dafür, daß die Bewegung überhaupt im Bereich der unorganischen Dinge mit demselben Terminus ausgedrückt wird. Dies macht den Umstand verständlich, daß der Terminus Streben auch im Organischen auftritt und analog dem Trieb gebraucht wird. Wie sieht es nun im Bereich des Organischen aus? Hier findet sich der eigentliche Ort für das Bedürfnis als das „Gefühl eines Mangels“ (s. 4.1.2. Zitat aus S&W1810/11 § 62). Daneben erscheinen der Trieb und das Streben, um das genannte Bedürfnis zu befriedigen. Dieser Vorgang des Organischen setzt das Unorganische als Bedingung voraus. Dabei wird diese Voraussetzung mit der Verbform „bedürfen“ ausgedrückt. Dabei wird diese Vorirgendeine Totalität, die dem Organischen noch fehlt, oder um den Begriff des Organischen. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen dem Unorganischen und dem Organischen, der gerade im Hinblick auf das Streben erklärt wird: „Das Organische bedarf allerdings des Unorganischen, aber es enthält auch zugleich sein Anderes ... Das Todte steht zwar auch mit andern in Beziehung, aber es hat keinen Trieb, sich zu vervollständigen. Das Lebendige hingegen hat ein Streben nach dem Ganzen“ {Rel 1811/13 ad § 8). Eine neue Form des Strebens begegnet da, wo das Organische das Negative nicht außer sich, wie das Unorganische, sondern in sich hat. Damit ist klar, daß das Streben auch im organischen Prozeß eingeordnet und dem Trieb gleichgestellt ist. Diese Bedeutung des Terminus Streben wird nicht nur im Verhältnis des Organischen zum Unorganischen, sondern auch weiter im Verhältnis unter den organischen Einzelnen artikuliert, nämlich bei der „Begattung“, in der die organischen Einzelnen im Hinblick auf die Erhaltung der „Gattung“ ihre Einzelheit aufheben und sich damit verallgemeinern lassen, soweit es im Rahmen der Natur möglich ist. Die Verallgemeinerung des organischen Einzelnen durch das Streben gibt eine klare Vorstellung der Anwendung des spekulativgewordenen Terminus auf den organischen Bereich, der entwicklungsgeschichtlich eben mit dem Spekulativwerden des Begriffskomplexes eng verbunden ist (s. 4.1.2.): „Das Einzelne hat das Bestreben in sich, sich zur Gattung zu machen.“ (Enz 1812/13 ad § 46) Dies könnte auch mit dem Terminus Trieb ausgedrückt werden. Die Gleichstellung der beiden Termini ist in der späten Zeit noch deutlicher geworden; der Trieb erscheint neben dem Streben auch im Unorganischen, während das Streben neben dem Trieb auch im Organischen auftritt: „Nach dem Gesetze des Falls bewegt sich der Körper gegen den Mittelpunkt
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Spekulative Auffassung des Begriffskomplexes
seiner Schwere, die Körper haben Trieb nach der Sonne“ (3. Enz § 270 Zus., TW9.91). „Der Selbsterhaltungsprozeß ist, das Selbst zu gewinnen, sich zu sättigen, zum Selbstgefühl zu kommen; weil aber das Selbst außer der Pflanze ist, so ist ihr Streben nach dem Selbst vielmehr Außer-sich-gerissenWerden, also ihre Rückkehr-in-sich immer Hinausgehen und umgekehrt.“ (op. cit. § 344 Zus., TW9.374) In diesen Beispielen können die genannten beiden Termini wohl gegeneinander ersetzt werden.
4.2.2. Die Termini in der Philosophie des Geistes 4.2.2.1. Die Termini als Bestimmungen des Selbstbewußtseins 4.2.2.1.1. Die Struktur des Zusammenhangs der Termini In den Nürnberger Schriften findet sich kein Unterschied zwischen der Begierde überhaupt (Begierde I) und der unmittelbaren Begierde (Begierde II). Vielmehr ist nur von der Begierde II ohne Zusammenhang mit der Begierde I die Rede. Allerdings hat der Trieb im einleitenden Teil der Fassung IVb des Selbstbewußtseinskapitels die gleiche Bedeutung wie sonst Begierde I. Mit dem Terminus Trieb wird hier die Bewegung des Selbstbewußtseins selbst ausgedrückt, die sich in drei Stufen entwickelt. In der ersten Stufe dieser Bewegung tritt die Begierde als der „Trieb des unmittelbaren Selbstbewußtseyns“ (Fassung IVb, Psy 1811/12 § 32) in dem Sinne der Begierde II auf. Der Sachverhalt ist klarer als in der Phänomenologie des Geistes geworden, insofern der Terminus Trieb im spekulativen Sinne eingeführt und von der Begierde unterschieden wird.^ Trotz dieses Unterschiedes werden die beiden dadurch vereinigt, daß die Begierde der Trieb des unmittelbaren Selbstbewußtseins als die erste konkret bestimmte Form des Selbstbewußtseins ist. Hier gibt es einen weiteren Unterschied zwischen dem Trieb des ' In den bisherigen Untersuchungen ist der Unterschied von Trieb und Begierde in der Nürnberger Auffassung kaum berücksichtigt worden. C. Daniel z. B. setzt die beiden ausdrücklich gleich {Hegel verstehen. 114f, 247 (Anm. 74)). Er spricht zwar vom Unterschied der beiden in bezug auf die Darstellung der Jenaer Systementwürfe III, aber er erklärt den Unterschied der beiden in der Propädeutik für nicht so deutlich hervortretend. Hingegen versucht Wildt die Darstellung des Triebes in den Systementwürfen I und III unter Voraussetzung der dieser gegenüber explizite ausgedrückten Darstellung des subjektivitätstheoretischen Charakters ues Triebes in der Propädeutik {Autonomie und Anerkennung. 335, 348). Dabei bleibt zu klären, wie in der Propädeutik der Trieb und die Begierde miteinander Zusammenhängen, zumal Wildt den Unterschied der beiden in den Systementwürfen III behauptet. Vgl. auch 3.2.1.2. Anm. 4.
Skizze der Darstellung der Termini
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Selbstbewußtseins überhaupt und dem des unmittelbaren, oder zwischen seiner Tätigkeit selbst und ihren bestimmten Formen, in denen sich das Selbstbewußtsein das Dasein gibt, das es in drei Stufen findet. Im Vergleich zum ersteren hat der letztere Trieb eine realphilosophische Bedeutung, obwohl er vom ersteren in einer spekulativen Bewegung des Selbstbewußtseins eingeordnet ist. Dies kann der Trieb II genannt werden, während der erstere als die Bewegung des Selbstbewußtseins selbst der Trieb I heißen kann. Es darf dabei nicht vergessen werden, daß der Trieb I erst durch den Trieb II realisiert werden kann. Entwicklungsgeschichtlich ist der Trieb I vielmehr als die spekulativgewordene Bestimmung des Triebes II zu bezeichnen. Der Trieb II gibt also dem Trieb I seinen Inhalt. Was die Begierde II betrifft, ist sie eine vereinzelte Form des Triebes II, der nicht nur in der Begierde II beschränkt ist, sondern auch als etwas Allgemeines den menschlichen Handlungen und allen Tugenden zugrunde liegt (s. 4.1.3. Zitat aus Psy 1811/12 ad § 44). Ferner kommt dazu der Terminus Bedürfnis vor, mit dem man sich den Prozeß des Selbstbewußtseins ganz konkret vorstellen kann. In den Nürnberger Schriften ist die Unterscheidung dieser drei Termini zum ersten Mal in der Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens klar formuliert. (Der Terminus Streben kommt hier nicht vor.) Der Prozeß des Selbstbewußtseins, der als die Realisierung seines Begriffs bezeichnet wird, ist als ein realer zu verstehen, in dem sich seine potenziellen Bestimmungen realisieren. Das Selbstbewußtsein, das die Gewißheit Ich = Ich hat, steht einem Andern gegenüber, wegen dessen Anwesenheit sich die Wahrheit Ich = Ich noch nicht realisiert. Es hat deshalb das Bedürfnis als das „Gefühl eines Mangels“. Potenziell ist es eine Totalität, die zunächst eine Gewißheit bleibt und erst durch die Vergegenständlichung des Selbstbewußtseins zu einer Wahrheit wird. Es wird analog dem Organismus dargestellt. Das Bedürfnis macht ein Moment eines dem Organischen analogen Prozesses aus. Als solches ist es als das Bedürfnis II zu bezeichnen, das Hegel als etwas Reales auch Schmerz nennt: „Das Ich fühlt einen Schmerz in so fern es die Vorstellung seiner Totalität hat.“ (Psy 1811/12 ad § 29) Dieses Bedürfnis entspricht dem Trieb II: „Das Bedürfniß erscheint als Trieb.“ (ebd. ad § 30) Also liegt das Bedürfnis dem Trieb zugrunde: „Aller Trieb geht von einem Mangel aus.“ (ebd.) Dieser Trieb hat einen gewissen allgemeinen Charakter, insofern er die Bewegung des Selbstbewußtseins zeigt, den Gegensatz zwischen seinem Anderssein und seiner Gleichheit mit sich selbst aufzuheben. Seine Stellung scheint zwar der der Begierde I in der Phänomenologie des Geistes zu entsprechen, aber er ist schon in der Stufe ,,a.) Begierde“ (Fassung lila) eingeordnet und deshalb vom Trieb im einleitenden Teil des Selbstbewußtseinskapitels (Fassung IVb, Text nach ROSENKRANZ § 23, s. TW 4.117) unterschieden. Zwischen beiden ist eine Wendung durch das Spekulativwerden dieses Terminus in der Entwick-
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lungsgeschichte des Hegelschen Denkens geschehen. Dabei macht derTrieb im spekulativen Sinne keine bestimmte Stufe mehr aus, sondern bedeutet die Bewegung des Selbstbewußtseins selbst, das diese Stufe als eine Form seiner Vergegenständlichung hat. Allerdings muß beachtet werden, daß derTrieb I einen gemeinsamen Ausdruck mit dem Trieb II hat: „Trieb setzt einen Mangel voraus. Ich = Ich hat einen Magel an sich, der Mangel besteht in seiner absoluten Negation.“ (Psy 1811/12 ad § 26, vgl. 4.1.2.) Dies zeigt, daß das Spekulativwerden des Triebes auf einer Auffassung Hegels über den realen Prozeß des Triebes beruht. Der Trieb II macht dabei wohl den konkreten Inhalt des Triebes I aus. Auch die Begierde II ist ein Teil dieses Inhalts, insofern sie der Trieb des unmittelbaren Selbstbewußtseins ist. Anders als in der Jenaer Zeit sind die beiden nicht nur voneinander unterschieden, sondern auch dadurch vereinigt, daß die Begierde II im Trieb II enthalten ist. Die Begierde II zeigt nur eine Form des Triebes II, der sich auf das Anderssein in verschiedener Weise richten kann. Es gibt also andere mögliche Formen des Triebes II als die Begierde II, die das Anderssein aufhebt. Der Trieb II kann also auch eine Bestimmung des Selbstbewußtseins sein, die über das Verhältnis von Mensch und Natur hinausgeht, mit dem sich die Begierde II beschäftigt, und im zwischenmenschlichen steht. Es kommt darauf an, wie der Übergang von der Begierde II im Verhältnis von Mensch und Natur zur Anerkennung im zwischenmenschlichen Verhältnis geschieht. Beim genannten Übergang handelt es sich um den Schluß der Begegnung der Selbstbewußtseine, der die Gegenständlichkeit des Selbstbewußtseins voraussetzt. Wegen der Trennung des unmittelbaren Selbstbewußtseins vom Begriff desselben ist es in den Nürnberger Schriften schwierig, aus der Bestimmung des unmittelbaren Selbstbewußtseins die Gegenständlichkeit desselben zu schließen, die in der Phänomenologie von 1807 durch die „Erfahrung von der Selbstständigkeit seines Gegenstandes“ (GW9.107) vermittelt wird. Die Darstellung der genannten Erfahrung fehlt den Nürnberger Fassungen des Selbstbewußtseinskapitels, obwohl sie ähnliche Formulierungen kennen: „In so fern sich ihm Isc. dem Selbstbewußtsein] die Negation darstellt als ein Aeusserliches, so schaut es seinen Mangel an. Seine Negation ist das Ding, dieses Ding fehlt ihm ... In so fern ich einen Mangel habe, habe ich ein Gefühl von Mangel, ich schaue ihn an als ein Ding das mir fehlt. Die Negation stellt sich dem Bewußtsein dar als ein Ding das selbstständig ist ... In so fern ist das Bewußtsein dem Selbstbewußtsein entgegengesetzt, denn das Bewußtsein betrachtet den Gegenstand als selbstständig. Das Selbstbewußtsein stellt sich aber die Dinge als nichtig vor ... Die Dinge sind nichts an sich sondern sie sind nur für ein Anderes.“ (Fassung IVb,Psy 1811/12 ad §31.) Das Selbstbewußtsein richtet sich mehr auf die Gegenständlichkeit des
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Selbstbewußtseins innerhalb des Begriffs desselben als auf die Erfahrung der Selbständigkeit des pegenstandes, durch die die erstere Gegenständlichkeit in der Phänomenologie von 1807 vermittelt wird. In den Nürnberger Fassungen geht es also um den Schluß der Gegenständlichkeit des Selbstbewußtseins ohne die Erfahrung der Selbständigkeit des Gegenstandes. Trotz der Abwesenheit dieser Erfahrung zielt die Darstellung der Stufe „Begierde“ in den Nürnberger Fassungen auf die Begegnung der Selbstbewußtseine, die von der Gegenständlichkeit des Selbstbewußtseins abgeleitet wird: „Ein Selbstbewußtseyn, das für ein anderes ist, ist nicht als blosses Object für dasselbe, sondern als sein anderes Selbst; ein Ich ist eine abstracte Allgemeinheit, in der kein Unterschied oder Bestimmung ist; indem also Ich dem Ich Gegenstand ist, ist es ihm nach dieser Seite als Dasselbe was es ist, oder es schaut sich selbst an.“ (Fassung lila, Bew 1809/10 § [14]) Die Begierde II in den Nürnberger Schriften spielt keine Rolle für das Ergebnis der Begegnung der Selbstbewußtseine und daher der Anerkennung derselben, weil die Begierde II hier von der Erfahrung der Selbständigkeit des Gegenstandes abstrahiert, obwohl diese Erfahrung eigentlich durch die Begierde II hervorgerufen wird und der Wendepunkt des Übergangs von der Begierde II zur Anerkennung ist, und obwohl das Selbstbewußtsein erst durch diese Erfahrung sich auf ein anderes Selbstbewußtsein zu richten vermag. Die Begierde II hat hier keinen Bezug zur Anerkennung. Der Zusammenhang der ersteren mit der letzteren bleibt in den Nürnberger Schriften weitgehend ungeklärt. An Stelle der genannten Erfahrung taucht der Terminus „Selbstgefühl“ auf, der eine andere Möglichkeit zur Klärung des Schlusses eines anderen Selbstbewußtseins, daher der Begegnung der Selbstbewußtseine geben kann. Er tritt zum ersten Mal in der Fassung lila auf und ist unverändert in den drei Ausgaben der Enzyklopädie erhalten. In der Fassung lila spricht Hegel davon: „das Selbstbewußtseyn kommt daher nur zu seinem Selbstgefühl, nicht zur Anschauung seiner Obj ectivität, aber es liegt in dem Resultate der Begriff des mit Objectivität verbundenen Subjects.“ {Bew 1809/10 § [12.2]) Und in der Fassung IVb heißt es: „Es kommt daher in der Befriedigung derselben [sc. der Begierde] nur zu dem Selbstgefühl seines für sich Seyns als Einzelnes, das Resultat oder die Befriedigung ist der unbestimmte Begriff des objectiv gewordenen oder des mit der Objectivität verbundenen Subjects.“ (Psy 1811/12 § 33) In den beiden Texten wird vom „Resultat“ gesprochen, das die Verbindung von Subjekt und Objekt aufzeigt. Seltsamerweise ist diese Verbindung in der Fassung IVa (Text nach ROSENKRANZ) dem Fürsichsein gleich gestellt und also das „Resultat“ zurückgedrängt: „in der Befriedigung derselben kommt es deshalb nur zu dem Selbstgefühl des Fürsichseins des Subjekts als einzelnen, dem unbestimmten Begriff des mit der Objektivität verbundenen Subjekts.“ {Bew 1809ff, § 28, TW4.119) Entwicklungsgeschichtlich gesehen ist der
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letzte Text sehr fragwürdig, weil er von den ersten beiden Texten abweicht. Ohne das „Resultat“ kann man sich den Übergang von der Begierde zur Anerkennung gar nicht vorstellen; denn erst damit kommt es zur Objektivität des Selbstbewußtseins, die ihm ermöglicht, sich auf ein anderes Selbstbewußtsein zu beziehen. Diese Objektivität im Selbstgefühl als sein Resultat muß von dem Selbstgefühl des Fürsichseins unterschieden werden; sie wird in den drei Ausgaben der Enzyklopädie noch deutlicher als in den Nürnberger Fassungen dargestellt: „Aber das Selbstbewußtseyn hat an sich schon die Gewißheit seiner in dem unmittelbaren Gegenstände; das Selbstgefühl, das ihm in der Befriedigung wird, ist daher nicht das abstracte seines Fürsichseyns oder nur seiner Einzelnheit, sondern ein Objectives; die Befriedigung ist die Negation seiner eigenen Unmittelbarkeit, und die Diremtion derselben daher in das Bewußtsein eines frey en Objects, in welchem Ich das Wissen seiner als Ich hat.“ (1. Enz § 351; s. auch 2./3. Enz § 429) Es kommt darauf an, wie die genannte Objektivität erreicht wird. Mit ihr ist die Verbindung von Subjekt und Objekt gemeint, die gerade in der dauerhaften Zerstörung des Gegenstandes durch die Begierde II entsteht, weil es dem Selbstbewußtsein in der immer sich erhebenden Begierde notwendig wird, sich auf den Gegenstand zu beziehen. Die genannte Verbindung ist nichts anderes als diese Beziehung selbst. Hier zeigt sich, daß das Selbstbewußtsein auch vom Gegenstand bedingt wird. Darin liegt eine Möglichkeit für das Selbstbewußtsein, den Standpunkt der Begierde II aufzuheben. Eine Anmerkung dazu lautet: „Das Selbstbewußtsein erhält sich immer auf Kosten der Aussen Welt... Das Subject hat sich verbunden mit der selbstlosen Gegenständlichkeit ... Das Selbstbewußtsein stellt dieses Negative dar, das ist die Zerstörung und dann aber die Vereinigung des Subjects mit dem Object ... Durch die Begierde kehre ich zwar in mich als Einzelnes zurük, dadurch geht die Begierde über sich selbst hinaus.“ (Fassung IVb, Psy 1811/12 ad § 33) In den späten Werken werden diese Umstände anhand der Ausdrücke „Daseyn des Selbstbewußtseyns“ und „Leiblichkeit“ erörtert: „sie [sc. die Unmittelbarkeit des Anderen] ist zugleich das Daseyn des Selbstbewußtseins, in welchen es als in seinem Zeichen und Werkzeug, sein eigenes Selbstgefühl und sein Seyn für Andere, und seine es mit ihnen vermittelnde Allgemeinheit hat.“ (1. Enz § 353) „diese Unmittelbarkeit ist zugleich die Leiblichkeit des Selbstbewußtseyns, in welcher es... seine es mit ihnen vermittelnde Beziehung hat.“ (2./3. Enz § 432) Das Selbstbewußtsein hat in seinem „Daseyn“ bzw. seiner „Leiblichkeit“ sein Selbstgefühl und zugleich den Grund der Begegnung der Selbstbewußtseine; insofern ermöglicht das „Daseyn“ bzw. die „Leiblichkeit“ als das Element des Selbstgefühls den Übergang vom Mensch-Natur-Verhältnis zum zwischenmenschlichen Verhältnis. In diesem Sinne gibt die Nürnberger Darstellung des Selbstgefühls eine Alternative zur Darstellung der Phänomenologie von
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1807, den Schluß der Begegnung der Selbstbewußtseine zu klären.^ Die Nürnberger Darstellung hat wohl als Voraussetzung eine realphilosophische Grundlage oder Tatsache der Begegnung der Selbstbewußtseine; in der Verbindung von Subjekt und Objekt sieht Hegel schon eine Vermittlung der Selbstbewußtseine: „Aufzehren des Subjects; Untergang nicht nur der Begierde als solcher, sondern diese Selbsterhaltung zugleich Vermittlung unsrer“ (Fassung lila, Bew 1809/10 § [12]). Die realphilosophischen Darstellungen über die Familie bzw. Liebe und die Gemeinsamkeit finden sich auch in der Fassung lila (s. u.).Sie zeigen eine Tendenz, die von der Nürnberger Zeit an anfängt, aufgrund der realphilosophischen Tatsachen den Übergang von der Begierde II zur Anerkennung zu erörtern. Auf jeden Fall tritt die Begierde von der Nürnberger Zeit an nur in einem negativen Sinne auf, der eine Verhaltensweise des Menschen überhaupt zur Natur besagt: „Wenn wir die Natur als nützlich betrachten, so verhalten wir uns zu ihr als negative, blos nach der Begierde.“ (Rel 1811/13 ad § 6) Mit der Auffassung der Begierde II ist der Anfangspunkt des Prozesses zum Allgemeinen festgelegt: „Dem Allgemeinen muß die Aufhebung des Einzelnen und Unmittelbaren vorausgehen, daß es sich zu seiner Allgemeinheit erhebt.“ (Fassung IVb, Psy 1811/12 ad § 33) Die Begierde II zeigt also die realphilosophische Grundlage des Problems, mit dem sich die Wissenschaft befassen muß, und hat deswegen trotz ihrer negativen Bedeutung eine grundlegende Stellung innerhalb des Systems der Wissenschaft. 4.2.2.1.2. Einführung der „Gemeinsamkeit“ Mit der Konzeption der Gemeinsamkeit im Selbstbewußtseinskapitel zeigt sich eine der auffallendsten Differenzen, die zwischen der kleinen Phänomenologie der Enzyklopädie und der großen Phänomenologie von 1807 vorhanden sind. Anhand der Schülerhefte aus der Nürnberger Zeit ist zu sehen, daß der Entwurf der kleinen Phänomenologie aus dieser Zeit stammt. Es soll im Hinblick auf die Entwicklung der kleinen Phänomenologie die Bedeutung der Einführung der Gemeinsamkeit geklärt werden. 2 Nach G. Schmidt ist das „Selhstgefühl“ etwas, das die klare Bestimmtheit des Selbstbewußtseins im ursprünglichen Gedanken der Phänomenologie des Geistes trübt; mit diesem Begriffwerde der Anfang zur „Psychologisierung des Selbstbewußtseins“ gemacht; Schmidt behandelt die uns interessierenden Termini als „psychologische“; „Bedürfnis“ und „Trieb“ seien „psychologische Momente“, die in der psychologisch aufgefaßten Begierde unterschieden werden (Hegel in Nürnberg. 218 f). Seine Interpretation kennt keinen Unterschied von Begierde I und Begierde II, sieht die spekulative Bedeutung des Triebes, die der Begierde I entspricht, und deshalb auch den Zusammenhang der Termini nicht.
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Es geht um den Unterschied zwischen der Gemeinsamkeit und der Allgemeinheit, der zuerst stark betont, aber allmählich in dem Sinne abgeschwächt wird, daß die Gemeinsamkeit die Voraussetzung des Übergangs zur Allgemeinheit ausmacht. (1) Im Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft findet sich „ein gemeinsamer, aber kein allgemeiner Wille“ (Fassung I, Gei 1808/09 § [28], 7W4.81), der in diesem Verhältnis der einseitigen Anerkennung entsteht. Der Ausdruck „gemeinsam“ tritt zum ersten Mal im Kontext des Selbstbewußtseinskapitels auf. Es ist bemerkenswert, daß es sich dabei nicht nur um ein Einzelnes, sondern auch um viele Einzelne handelt, insofern nämlich die Tätigkeit des Knechts mit dem Herrn zu tun hat. Allerdings ist der Inhalt dieses Ausdrucks noch nicht geklärt. (2) In der Fassung lila tritt der Terminus Gemeinsamkeit zum ersten Mal auf und zwar nicht nur im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft, sondern auch im Zusammenhang mit dem Familienverhältnis, das sich inhaltlich auf den „Familienbesitz“ in den Jenaer Systementwürfen III bezieht (s. GW 8.21 If). In der Fassung lila heißt es dazu: „Im Verhältnis der Familie wie auch in dem der Herrschaft und Knechtschaft ist eine Gemeinsamkeit vorhanden],] wodurch die Thätigkeit für die Befriedigung [der] Begierde aufhört, das bloß Einzelne und Verzehrende zu seyn: sie wird zur Arbeit, die für die gemeinsame Befriedigung sorgt, und sich auf Erhaltung und Erwerb legt.“ {Bew 1809/10 § [22], Ergänzung vom Verfasser) Hier zeigt sich wohl eine Antwort auf die Frage, wie das Selbst und der Gegenstand verbunden werden können (Fassung II. l.c), TW4.83), denn in der Gemeinsamkeit wird die Begierde zur Arbeit, die als die Formierung äußerlicher Dinge beide verbindet. In diesem Sinne macht die Gemeinsamkeit eine Voraussetzung des Übergangs zum allgemeinen Selbstbewußtsein aus. Es geht um eine „höhere“ Entäußerung, in der die Begierde aufgehoben wird (§ [24] der Fassung lila). (3) Während der Terminus Gemeinsamkeit im Text nach ROSENKRANZ nicht vorkommt, erscheint er wieder in der Fassung IVb und zwar ohne den Zusammenhang mit dem Familienverhältnis, das schon in dem System der besonderen Wissenschaften für die Oberklasse 1810/11 in die Psychologie versetzt worden ist (s. 4.2.2.2.3. Zitat aus SöW1810/ll§ 148); das Familienverhältnis, das ermöglicht, sich die Gemeinsamkeit vorzustellen, wird hier zwar nicht erwähnt, aber die Gemeinsamkeit bleibt unverändert: „Ausser diesem bestimmten Unterschiede des Herrn und des Dienenden ist überhaupt eine Gemeinsamkeit des Selbstbewußtseyns vorhanden, durch welche die Thätigkeit für die Befriedigung der Begierde aufhört das blos Einzelne und Verzehrende zu seyn. Die Thätigkeit des Dienenden wird zur Arbeit für die gemeinsame Befriedigung und das Gebieten des Herrn wird zugleich zur Sorge für die Erhaltung und den Erwerb.“ {Psy 1811/12 § 40)
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Offensichtlich bedeutet diese Darstellung eine Umarbeitung des § 1221 der Fassung lila und bezeugt die Stellung der Gemeinsamkeit beim Übergang zur Allgemeinheit des Selbstbewußtseins; die Gemeinsamkeit macht insofern die Grundlage für diesen Übergang aus, als sie die Begierde dadurch zur Arbeit werden läßt, daß der ursprüngliche Charakter der Begierde, den Gegenstand zu vernichten, oder ihre Einzelheit aufgehoben ist. Das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft bildet eine gemeinsame Grundlage für die beiden, die der Tätigkeiten des Herrn und Knechts vorausgeht, und bestimmt den Charakter dieser Tätigkeiten. Dies ist der Fall besonders bei der Tätigkeit des Knechts, die von der Begierde zur Arbeit übergeht und sich auf das gemeinsame Verhältnis richtet. Dies erläutert eine Anmerkung der Fassung IVb: „Hier ist die Begierde nicht verzehrend vorhanden, in Beziehung auf die Dinge tritt Erhaltung ein. Durch das Verhältniß der Herrschaft und Knechtschaft fängt die Begierde an, abgestumpft zu werden ... So ist in dem Verhältniß der Herrschaft und Knechtschaft eine Gemeinsamkeit des Willens vorhanden. Diese Gemeinsamkeit ist zu Stande gekommen durch die aufgehobene Einzelnheit... Die Begierde als solche verschwindet in so fern das für sich Seyende aufgehoben ist ... Es tritt nun die Arbeit ein in dem Verhältniß der Herrschaft und des Gehorsams. Die Arbeit hebt etwas auf, aber sie verzehrt nicht den Gegenstand. Die Arbeit hat den Zweck des Gemeinsamen.“ [Psy 1811/12 ad § 40) Aufgrund der Gemeinsamkeit ist es auch für die Seite des Herrn notwendig, den Übergang zur Allgemeinheit des Selbstbewußtseins zu leisten. Auch der Herr ist nämlich im Verhältnis mit dem Knecht eingeordnet und setzt dieses Verhältnis voraus, so daß sein Wille darauf ausgeht, auch für den Anderen zu sorgen: „Das Selbstbewußtseyn des Herrn ist ein gemeinsames Gehorchen... Und seinen Willen als für sich seyend in dem Andern anzuschauen das ist das Daseyn seines Willens. Indem er für sich sorgt, sorgt er auch für die Andern. Dadurch tritt ein Gut ein.“ (ebd.) In der Form eines Gutes wird also die Gemeinsamkeit festgelegt. Innerhalb des Verhältnisses wird sie allerdings hauptsächlich durch die Arbeit des Knechts erhalten, der in der Lage ist, aus Furcht vor dem Herrn seine Einzelheit aufzuheben: „Der Knecht hat Furcht, sein einzelner Wille löst sich in der Furcht auf. Die Furcht verschwindet, wenn man die Zweke der Einzelnheit aufgiebt. Der Dienende arbeitet und ist im Dienst eines Andern. Dieser Dienst ist die Entäusserung seines einzelnen Willens. Der einzelne Wille ist der natürliche, dieser wird entäussert und dadurch gewinnt der Mensch Freiheit. Das Gebieten des Herrn muß der allgemeine Wille seyn und dieß ist er erst durch die Entäusserung des einzelnen Willens des Dienenden.“ (ebd. ad § 41) Da der „allgemeine Wille“ als das Gebieten des Herrn auf der Arbeit des Knechts beruht, wird die Gemeinsamkeit durch diese Arbeit getragen. Die Arbeit findet umgekehrt in ihr die Möglichkeit der Verwirklichung ihrer Rolle zur Freiheit.
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Hier findet sich keine Darstellung der Gemeinsamkeit im Zusammenhang mit dem Familienverhältnis. Die von diesem Zusammenhang abgelöste Darstellung der Gemeinsamkeit bleibt aber bis zum Ende der Berliner Zeit bestehen. Damit wird die Stellung der Gemeinsamkeit im Hegelschen System schon in der Nürnberger Zeit festgelegt. Die Gemeinsamkeit hat eine positive Bedeutung und macht trotz ihres Unterschiedes von der Allgemeinheit des Selbstbewußtseins die Basis für den Übergang zu eben dieser Allgemeinheit aus, denn sie spielt eine Rolle als das Vermittelnde im zwischenmenschlichen Verhältnis. Damit hat die Arbeit nicht nur mit dem Verhältnis von Mensch und Natur, sondern auch mit dem Verhältnis der Menschen untereinander zu tun. Es ist also erst mit Hilfe der Gemeinsamkeit möglich, den Begriff des Selbstbewußtseins zu realisieren, weil diese Realisierung nur im zwischenmenschlichen Verhältnis stattfinden kann, das mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur zusammenhängt. Hegel findet in der Arbeit des Knechts die Möglichkeit, den Übergang zum allgemeinen Selbstbewußtsein zu leisten. Diese Auffassung bleibt unverändert bis zur Berliner Zeit. Warum tritt aber dann die Konzeption der Gemeinsamkeit auf? Weil es wohl nicht genügt, diesen wichtigen Übergang nur vermittels der Darstellung der Arbeit zu klären, insofern darin noch der Unterschied von Herr und Knecht fortbesteht und der Fortgang noch nicht geklärt wird, wie die Arbeit des Knechts das gesamte zwischenmenschliche Verhältnis verändern kann. Wohl um diesen schwachen Punkt zu ergänzen, ist die Konzeption der Gemeinsamkeit eingeführt worden, die der Realisierung des Begriffs des Selbstbewußtseins eine Basis geben sollte. Hiermit hat die Arbeit als die Tätigkeit für die gemeinsame Befriedigung einen zwischenmenschlichen Charakter. Diese Auffassung wird später in den drei Enzyklopädien stärker betont als in der Fassung IVb. Es ist dabei zu beachten, daß auch in der Gemeinsamkeit ein Schluß betrachtet wird, der trotz des Unterschiedes der Selbständigkeit (des Herrn) und der Unselbständigkeit (des Knechts) durchgeführt wird: „Dieß Verhältniß ist erstlich nach seiner Identität eine Gemeinsamkeit des Bedürfnisses der Begierde und der Sorge für ihre Befriedigung, und an die Stelle der rohen Zerstörung des unmittelbaren Objects, tritt die Erwerbung, Erhaltung und Formiren desselben als des Vermittelnden, worin die beyden Extreme der Selbständigkeit und Unselbständigkeit sich zusammenschließen.“ (1. Enz § 356) Dies bezieht sich auf den Trieb des Selbstbewußtseins, seinen Begriff zu realisieren. Diese Realisierung durch die Anerkennung wird schon in der Jenaer Zeit als ein Schluß in der „Constitution“ bezeichnet und zwar mit der Verbform „treiben“ ausgedrückt (s. 3.2.1.1. Zitat aus GW8.255). An der Gemeinsamkeit kann man sehen, wie die genannte Realisierung geschieht, nämlich, wie das Selbst und der Gegenstand miteinander verbunden werden. (1) Die Begierde als der „Trieb des unmittelbaren Selbstbewußtseyns“ (Fassung IVb, Psy 1811/12 § 32) ist dem Trieb (des Be-
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griffs) des Selbstbewußtseins unentbehrlich, weil erst durch die Begierde der Prozeß des Selbstbewußtseins zur Verbindung des Selbst mit dem Gegenstand in Gang gesetzt wird, die seinen Begriff realisieren sollte. (2) Die Gemeinsamkeit der Begierde gibt die Basis, auf deren Grundlage die Begierde erst zur Arbeit werden kann. (3) Dadurch, daß die Begierde zur Arbeit wird, kann der Trieb des Selbstbewußtseins zu seiner Befriedigung gelangen, d. h. er kann zur Realisierung des Begriffs des Selbstbewußtseins übergehen. Schließlich muß berücksichtigt werden, daß der Gemeinsamkeit die Struktur der Idee zugrunde liegt, in dem Sinne, daß in der Verbindung des Selbst und des Gegenstandes durch die Gemeinsamkeit der Begriff des Selbstbewußtseins, „der an sich die Idee, Einheit seiner selbst und der Realität ist“ (1. Enz. § 348), realisiert wird. Dieser Begriff als die Idee richtet sich darauf, den Schluß in der Form der Gemeinsamkeit zu realisieren. Die Gemeinsamkeit zeigt damit nicht nur ein Beispiel der Anwendung der Ideenlehre auf den realphilosophischen Bereich, sondern auch ein grundlegendes Modell für die Realisierung des Begriffs, d. h. die Idee, in dem Sinne, daß sie eine konkrete Form des Schlusses ist, in der die Allgemeinheit des Selbstbewußtseins als Grundlage aller geistigen Allgemeinheiten wie Familie, Staat usw. erreicht werden kann. 4.2.2.2. Die Termini als Bestimmungen des theoretischen und praktischen Geistes 4.2.2.2.I. Die theoretische Funktion des Triebes Es könnte seltsam klingen, wenn der Trieb auch in einem über den praktischen Bereich hinausgehenden Sinne auftritt, denn er wird eigentlich als eine praktische Bestimmung betrachtet. Allerdings findet sich solche Bedeutung dadurch, daß aufgrund des Spekulativwerdens dieses Terminus eine einheitliche Auffassung vorhanden ist, die dem Unterschied der theoretischen und praktischen Bestimmungen zugrunde liegt, wie wir sie im Selbstbewußtseinskapitel gesehen haben. Aufgrund dieser spekulativen Auffassung ist dann im Vernunftkapitel zu sehen, daß die theoretische Funktion des Triebes in Hinblick auf das „Wissen“ betont wird. Dabei geht es um den Trieb der Vernunft, mit dem die Gewißheit in die Wahrheit umschlägt: „Das Wissen der Vernunft ist die Wahrheit selbst. Der Begriff des Gegenstandes ist auch das Wissen unsrer... der Gegenstand ist nicht (sic) Anderes als das Wesen des Subjects selbst. Die Vernunft ist also der Trieb nur von sich selbst und von keinem Andern zu wissen.“ {Psy 1811/12 ad § 48) Das Wissen der Vernunft bezieht sich nicht nur auf etwas Subjektives, sondern auch auf die objektive Realität und macht damit eine Totalität aus, um die es sich
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bei den von uns behandelten Termini immer wieder handelt. Dieses Wissen von sich selbst ist der Trieb der Vernunft; „Das ist der Trieb der Vernunft, daß sie sich als Totalität weiß.“ (ebd. ad § 47) Im gleichen Sinne kann man wohl den „Trieb nach Wahrheit“ verstehen (s. 4.1.3. Zitat aus Rel 1811/13 ad § 10). Jedenfalls kommt es auf die Tätigkeit der Vernunft selbst an, sich über eine bloß subjektive Gewißheit hinaus in eine objektive Wahrheit umzusetzen in dem Sinne, daß die objektive Realität nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch dem Subjekt zu eigen gemacht wird. Diese theoretische Bedeutung des Triebes wird noch deutlicher im „theoretischen Geist“: „Die Intelligenz ist wesentlich Begriff als Subjekt . .. Wenn wir etwas begreiffen machen wir es zu dem Unsrigen, das ist der Trieb des Menschen“ (Psy 1811/12 ad § 86). Derselbe Sachverhalt wird auch mit dem Terminus Streben ausgedrückt: „Es ist das Streben des Geistes alles als Moment des Begriffs zu erkennen.“ {Rel 1811/13 ad § 8) „Die Wahrheit besteht in dieser Uebereinstimmung des Subjekts und Objekts. Die Vernunft ist diese Identität mit sich. Vernünftiges Wissen ist Wahrheit, dieses ist Göttliches. Das Streben in der Wahrheit geht in das Subjekt.“ (ebd. ad § 10) Es geht also auch um die theoretische Bedeutung des Strebens. Diese Bedeutung des Strebens gilt für die theoretische Seite dieses Terminus, der die Tätigkeit des Geistes überhaupt aufzeigt. Im Grunde genommen bleibt die genannte Bedeutung unverändert bis zur späten Auffassung: „In diesem [sc. theoretischen Geist] herrscht der Trieb des Wissens, der Drang nach Kenntnissen.“ (3. Enz § 443 Zus., TW 10.237) Dieser Trieb kann als die theoretische Form des „Geistes als Triebes“ (ebd.) verstanden werden.
4.2.2.2.2. Trieb und Wille im praktischen Geist In bezug auf den praktischen Geist steht der Terminus Wille da, wo der Trieb im spekulativen Sinne erwartet würde. Der Trieb tritt hier im Gegensatz zum Vernünftigen auf: „Der praktische Geist will sich verwirklichen daher hat er Triebe und Neigungen. Diese sind Selbstbestimmungen in ihm. Was er nun will ist zufällig oder nothwendig. Das Zufällige ist das Natürliche eben die Triebe. Das Nothwendige ist das Wesentliche, Vernünftige.“ {Enz 1812/13 ad § 55) Dieser Trieb ist nur in einem inhaltlich begrenzten Sinne betrachtet. Obwohl die Auffasung des Willens als der Idee einen Hinweis auf die Entstehung der Auffassung der Idee als der inneren Zweckmäßigkeit gibt und erst damit die Auffassung des spekulativen Triebes ermöglicht wird (s. 4.1.2.), bleibt der Zusammenhang des Willens mit dem spekulativen Trieb im Rahmen des praktischen Geistes unklar, weil dieser Trieb nicht dargestellt wird.
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Der Unterschied zwischen dem Trieb im begrenzten Sinne und dem Willen entspricht dem der zwei Begehrungsvermögen, den Hegel der Vermögenspsychologie entnimmt: einerseits das niedere, andererseits das höhere (s. TW4.205 f). Trotz dieses Unterschieds sind die beiden aber insofern zusammen zu betrachten, als der Trieb in der Tätigkeit des Willens enthalten ist und eine Stufe desselben als des praktischen Geistes ausmacht; beim Willen handelt es sich um „eine und dieselbe Thätigkeit des Hervorbringens seines Selbst in einem Äußerlichen Daseyn“ (SÖW1810/11 § 126). Der Wille als die genannte Tätigkeit ist dem Trieb I gleich, während der genannte Trieb, der inhaltlich begrenzt ist, als der Trieb II bezeichnet werden kann. Die beiden werden in einem Prozeß des Geistes betrachtet, sich aus der Versenktheit in die Triebe zu erheben: „Der Geist muß sich erheben aus der Versenktheit in die Triebe zur Allgemeinheit, so daß die Triebe nicht in ihrer Besonderung für sich, als absolute gelten sondern ihre Bestimmungen nur als Momente der Totalität ihre Stelle und richtigen Werth erhalten, wodurch sie von der subiektiven Zufälligkeit gereinigt werden, und die Subiektivität zur unbestimmten Subiektivität, d. i. zur seiner selbst, bewußten Thätigkeit überhaupt wird.“ (ebd. § 133) Mit dieser einheitlichen Hinsicht der Subjektivität ist es möglich geworden, auch im unmittelbaren Trieb etwas Vernünftiges zu finden. i Da der Trieb II in der spekulativen Bestimmung des Triebes I eingeordnet ist, muß der erstere auch als widersprüchlich betrachtet werden. Wie der Trieb I ist der Trieb II ein Prozeß, der einen Widerspruch enthält und ihn ununterbrochen aufhebt. Man kann wohl diesen Prozeß als einen Bildungsprozeß bezeichnen, in dem sich der genannte Widerspruch als Dichotomie zwischen dem niederen und dem höheren Begehrungsvermögen aufstellen und aufheben läßt. In diesem Kontext kann die folgende Auffassung der „Bildung überhaupt“ verstanden werden: „Die nothwendigen menschlichen Verhältniß (sic), jedes besondern Menschen zu sich selbst nehmlich seiner einzelnen Natur zu seinem allgemeinen Wesen, theils dem geistigen, theils dem natürlichen Wesen. 1) Dieses als die äußerliche physische Natur muß das Individuum sich unterwerfen und angemessen machen, die Selbsterhaltung. 2) Von ihm als seiner eigenen physischen Natur, muß es seiner geistigen Natur Unabhängigkeit erschaffen. 3) Seinem allgemeinen geistigen Wesen muß es sich unterwerfen und angemessen machen, Bildung überhaupt.“ {SbW 1810/11 § 147, vgl. TW 4.61 f) Hier beginnt die Aufhebung des Unterschiedes zweier Begehrungsvermögen in der Weise der Reflexion: „Die Reflexion hat also die Triebe zu vergleichen, ob sie mit dem Grund1 F. Schneider interpretiert, daß der Wille als Entelechie den Trieb leitet und es daher ermöglicht, auch den Trieb als frei zu fassen (Hegels Propädeutik und Kants Sittenlehre. In: Die ontologische Option. Hrsg, von K. Hartmann, 42). Es bleibt allerdings zu klären, über welche Struktur die genannte Leitung des Triebes durch den Willen stattfinden kann.
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zweck verwandt sind und derselbe durch ihre Befriedigung mehr befördert wird. In der Reflexion fängt der Übergang an von dem niedrigen Begehrungsvermögen zum höheren. Der Mensch ist darin nicht mehr bloßes Naturwesen oder steht nicht mehr in der Sphäre der Notwendigkeit.“ {RPR 1810 ff, TW 4.220) In dieser Auffassung kann man die Vorform des späten Ausdrucks der „Reinigung der Triebe“ {Rph § 19) finden, die man wohl als Bildung des niedrigen Begehrungsvermögens bezeichnen kann. Der genannte Prozeß der Bildung kann auch mit dem Terminus Streben ausgedrückt werden. Es handelt sich dabei besonders um die Zwecke des Guten im Bereich der Moralität. Das Streben nach diesen Zwecken wird das sittliche genannt: „Das Selbstbewußtseyn hat Zwecke, diese können seyn Zwecke der Einzelnheit oder der Allgemeinheit, d. h. Zwecke des Guten. Ein Zweck den für ein Einzelnes Subjekt giebt gehört dem Zufalle an. Die Zwecke des Guten sollen an und für [sich] seyn, in diesen liegt die Forderung daß sie realisirt seyen in der Welt, weil sie allgemein sind. In so fern der Mensch das sittliche Streben ausführt, so ist dieß eine Idee an und für sich selbst“ {Rel 1811/13 ad § 11, Ergänzung vom Verfasser). Hier zeigt sich also, daß das menschliche Streben nicht nur der Form nach, sondern auch dem Inhalt nach eine positive Bedeutung haben kann, oder seinen eigentlichen Grund gerade im sittlichen Bereich findet. Die erwähnte positive Bedeutung des Strebens mag vielleicht sonderbar anmuten, wenn man sich z.B. an das nicht unbedingt ehrenhafte Wort „Streber“ erinnert, wie es in einem Wörterbuch der heutigen deutschen Sprache erklärt wird (G. WAHRIG: Deutsches Wörterbuch: „jmd., der sich ehrgeizig u. egoistisch bemüht, rasch vorwärtszukommen“). Es ist aber interessant zu sehen, daß Hegel gerade im Bereich, wo das Wort „Streber“ im genannten Sinne am häufigsten auftreten würde, nämlich im Bereich der Schulbildung, vom Streben der Schüler im positiven Sinne, oder zumindest nicht im rein negativen Sinne spricht. Als Rektor des Gymnasiums verbindet er mit Streben etwas Positives: „das rasch vorwärtstreibende Streben des jugendlichen Alters“ (10.7.1809, 7W4.307). „Die Jugend ist in der Schule im Streben begriffen; wer in ihr zurückbleibt, hat immer noch die allgemeine Möglichkeit der Besserung vor sich“ (2.9.1811, TW4.353).^ Er weiß aber um die negative Form des Strebens und sieht ein, „daß das Streben nach dem 2 Diese Auffassung des Strebens bleibt unverändert bis zur späten Zeit: „Dies eigene Streben der Kinder nach Erziehung ist das immanente Moment aller Erziehung.“ (3. Enz. § 396 Zus., TW10.81) In bezug auf Hegels Auffassung der Erziehung sieht J. D’Hondt, daß Hegel über seine öffentlichen Reden hinaus den Endzweck der Erziehung wie folgt betrachtet: Der Mensch bltibt immer ein Vertreter und ein Deuter des Absoluten und erhebt sich durch die Erziehung zur übersinnlichen, sittlichen, gesellschaftlichen, geistigen Natur, die die gegenwärtigen und herrschenden Sitten bricht, wenn der Zeitgeist eine Erneuerung oder eine Revolution fordert (Der Endzweck der Erziehung bei Hegel. In: Die Logik des Wissens und das Problem der Erziehung Hrsg, von W. R. Beyer, 195—202).
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Besseren, wenn es zur Sucht wird, das Gute nicht zustande, nicht zur Reife kommen läßt.“ (2.9.1813, TW4.360) Nach dieser Auffassung scheint allerdings der Bildungsprozeß des Individuums nur innerhalb des subjektiven Zusammenhangs zwischen seinem natürlichen und geistigen Wesen zu entstehen; die Seite der Intersubjektivität scheint zurückzutreten, wenn Hegel sagt: „Durch die intellektuelle und moralische Bildung erhält der Mensch die Fähigkeit, die Pflichten gegen andere zu erfüllen, welche Pflichten reale genannt werden können, dahingegen die Pflichten, die sich auf die Bildung beziehen, mehr formeller Natur sind.“ {RPR 1810 ff, TW 4.263) Dabei muß beachtet werden, warum die Überwindung des Triebes im natürlichen Sinne durch den Willen thematisiert wird. Wir werden dieselbe Thematik im Hinblick auf den Schluß der Glieder des Lebensprozesses behandeln. Der Trieb der lebendigen Individualität zeigt einen Bildungsprozeß, in dem sich die Individuen aufheben, sich zum Mittel für die anderen machen und erst dadurch ihre Besonderheit zur Allgemeinheit erheben (s. 5.2.; GW 12.184); die Individuen machen miteinander zusammen das Ganze aus; der Bildungsprozeß vollzieht sich also in einer intersubjektiven Aktionen der Individuen; die genannte Reflexion entsteht nur unter Voraussetzung der intersubjektiven Struktur der Individuen. Es ist festzustellen, daß das Spekulativwerden des Triebes es ermöglicht, den natürlichen Trieb und den Willen einheitlich zu begreifen; ohne eine solche einheitliche Grundlage wäre die Bildung überhaupt kaum vorstellbar. Die Auffassung des Triebes im spekulativen Sinne bleibt unverändert in den drei Enzyklopädien: „Die formelle Vernünftigkeit des Triebes und der Neigung besteht nur in ihrem allgemeinen Triebe, darin, nicht als subjectives zu seyn, sondern realisirt zu werden.“ (1. Enz § 393 Anm.; s. auch 2. Enz § 475 Anm. und 3. Enz § 474 Anm.) Hier findet sich deutlich der Unterschied zweier Triebe, der erst in der Nürnberger Zeit klargestellt ist.
4.2.2.2.3. Systematische Umstellung von Liebe und Familie Im September 1811 hat sich Hegel in Nürnberg verheiratet. Diese persönliche Angelegenheit hat ihn wohl veranlaßt, seinen Gedanken über die Liebe eine neue Stellung zu geben. Denn zwischen den Jahren 1809—11 ist ihre Stellung innerhalb der Bewußtseinslehre geändert worden. In der Fassung lila des Selbstbewußtseinskapitels tritt die Liebe in der zweiten Stufe des Selbstbewußtseins, d. h. ,,b) Das Anerkennen“ auf, während sie in der Fassung IVa in der dritten Stufe, d. h. „C. Allgemeinheit des Selbstbewußtseins“ vorkommt. In der Fassung lila lautet: „Das natürliche und unmittelbare Anerkennen ist in dem Familienverhältnisse vorhanden; in dem Ver-
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trauen und der Liebe ist dem Selbstbewußtseyn das andre, dasselbe was es ist, und so daß sie von ihrer ursprünglichen Einheit ausgehen. Jedes ist seiner selbst nur im andern bewußt, und thut auf seinen Besitz und Eigenheit für dasselbe Verzicht.“ {Bew 1809/10 § [18]) Die Liebe bzw. die Familie stehen parallel neben Herrschaft und Knechtschaft, wie in bezug auf die Gemeinsamkeit gesagt wird (s. 4.2.2.1.2. Zitat aus § [22] der Fassung lila). Im Unterschied dazu handelt es sich bei der Fassung IVa um die Allgemeinheit des Selbstbewußtseins, die mit der Liebe bzw. Familie zusammenhängt (s. § 39 des Textes nach ROSENKRANZ; TW4.122). In der zweiten Stufe der Fassung Illb bzw. IVa, nämlich „B. Herrschaft und Knechtschaft“, findet sich keine Erwähnung von Liebe bzw. Familie. Offensichtlich wird die Liebe als die grundlegende Eigenschaft der Familie im bürgerlichen Verhältnis in der Fassung IVa höher als in der Fassung lila gewertet. Diese neue Auffassung trug Hegel klar vor im System der besonderen Wissenschaften für die Oberklasse 1810/11, in dem die Liebe im Abschnitt der „Moralität“ als der höchsten Stufe der „Psychologie“ auftritt: „Das familien Verhältniß ist die Natureinigkeit von Individuum, das Band dieser natürlichen Gesellschaft ist Liebe und Vertrauen, das Wissen dieser ursprünglichen Einigkeit und des Handelns im Sinne desselben.“ (§ 148, vgl. 7W4.62) Dieses Verhältnis geht direkt dem Staat voraus, der die zweite Stufe der „Philosophie des Geistes“, „Realisirung des Geistes“ (§ 67, vgl. 7W4.42) ausmacht: „Die natürliche Gesellschaft die Familie erweitert sich zur allgemeinen Staatsgesellschaft“ (§ 150, vgl. TW4.62). Im Hinblick auf die geänderte Stellung der Liebe ist es bedeutsam, Hegels persönliche Aussagen in Nürnberg zu berücksichtigen. Im Sommer 1811 schrieb er an seine Braut über die Liebe in einer Weise, die an seine Auffassung in der Frankfurter Zeit erinnert: „Deine Liebe zu mir, meine Liebe zu Dir — so besonders ausgesprochen — bringen eine Unterscheidung herein, die unsere Liebe trennte; und die Liebe ist nur unsere, nur diese Einheit, nur dieses Band; wende Dich von der Reflexion in diesen Unterschied ab und laß uns fest an diesem Einen halten, das auch nur meine Stärke, meine neue Lust des Lebens sein kann; laß dieses Vertrauen zum Grunde von allem liegen, so wird alles wahrhaft gut sein.“ {Br 1.368) Man kann wohl vermuten, daß Hegels persönliche Erfahrung den Hintergrund der Änderung der Stellung der Liebe ausmacht. Diese persönliche Erfahrung hängt aber außerdem mit dem Spekulativwerden des Triebes zusammen, insofern die Verbform dieses Terminus treiben sowie der Terminus Streben im der genannten Liebe entsprechenden Sinne auftreten, während der Terminus Begier[de] deutlich herabgesetzt gebraucht wird. Hegel schrieb an Marie: „Dumpfen Sinns an die Begier gebunden, / Nie hat es Dein Herz bewohnt. Aber fühlend ein unsterblich Streben, / Treibt’s ihn [sc. Phönix] über sich hinaus; / Mag die irdische
Skizze der Darstellung der Termini
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Natur erheben, / Führt er es in Flammen aus.“ (13. 4. 1811, Br 1.352f) „Doch armes Wort, der Lieb’ Entzücken, / Wie’s innen treibt und drängt / Zum Herz hinüber, auszudrücken / Ist Deine Kraft beschränkt.“ (17.4.1811, Br 1.355) Hier bezeichnet der Terminus Streben bzw. Treiben sowohl die Tätigkeit des Phönix als auch die der Liebe. Dieses Streben oder Treiben als die Tätigkeit des Phönix hat offensichtlich eine spekulative Bedeutung, insofern er damit über sich hinausgetrieben wird und trotz des Opfers seines Todes immer wieder aufersteht.i Hegel sagt dazu: „Sieh den Altar hier auf Bergeshöhen, / Auf dem Phönix in der Flamme stirbt, / Um in ew’ger Jugend aufzugehen, / Die ihm seine Asche nur erwirbt. / Auf sich war gekehrt sein Sinnen, / Hatte sich zu eigen es gespart, / Nun soll seines Daseins Punkt zerrinnen, / Und der Schmerz des Opfers ward ihm hart.“ (Br 1.353) Wie Phönix entsteht die Liebe aus gepreßter Brust: „Wie ich Dich lieb’, ich darf’s jetzt sagen; / Was in gepreßter Brust / So lang geheim entgegen Dir geschlagen, / Es werd’, ich darf nun, laute Lust!“ (Br 1.355; s.o. Zitat aus Br 1.368: „meine neue Lust des Lebens“) In diesen Aussagen zeigt sich, daß die Liebe dem spekulativen Streben bzw. Treiben gleicht. Es ist bemerkenswert, daß das Spekulativwerden des Triebes im gleichen Zeitraum wie die Aussagen über die Liebe entstanden ist. In der Fassung IVa des Selbstbewußtseinskapitels wird vom „Trieb des Selbstbewußtseins“ gesprochen, der in der dritten Stufe, „C. Allgemeinheit des Selbstbewußtseins“, befriedigt werden sollte, wo sich das Selbstbewußtsein auch als die Grundlage der Liebe bzw. der Familie bezeichnen läßt (s. § 39 des Textes nach ROSENKRANZ; 7W4.122). Indem diese neuen Auffassungen desTriebes und der Liebe der gleichen Fassung angehören, müssen die beiden Auffassungen innerlich miteinander Zusammenhängen. Daß hier die beiden tatsächlich mit der persönlichen Erfahrung eng verbunden sind, ist naheliegend. Ein ähnlicher Umstand läßt sich auch in bezug auf die Bildung sehen. Die Erhebung der „irdischen Natur“ (Br 1.353), wovon in der persönlichen Aussage Hegels die Rede ist, ist generell gesagt die Aufgabe der Bildung. Mit der Bildung soll sich der praktische Geist beschäftigen, der erst im gleichen Zeitraum (Oktober 1810 — August 1811) seine systematische Stellung bekommen hat. Es ist denkbar, daß Hegel bei seinen persönlichen Angelegenheiten an die Bildung des Menschen dachte. Beim praktischen Geist handelt es sich darum, den Menschen zu bilden, so daß die Triebe nicht ' Der Phönix veranschaulicht hier das neue Leben der Verlobten. Er hat damit offensichtlich eine positive Bedeutung, wie D’Hondt ihn als „une metamorphose spirituelle“ interpretiert (Hegel secret. 316). Diese Auffassung des Phönix scheint aber eine seltene bei Hegel zu sein, weil mit dem Phönix meistens nur die endlose Wiederholung, also etwas nicht besonders Positives gemeint ist, wie D’Hondt bemerkt. Vgl. ders.: Hegel en son temps. 42.
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Spekulative Auffassung des Begriffskomplexes
in ihrer Besonderung, sondern als Momente der Totalität zu betrachten sind, wodurch sie sich von der subjektiven Zufälligkeit befreien und zur „Thätigkeit überhaupt“ werden (s. 4.2.2.2.2. Zitat aus SbW 1810/11 § 133). Diese „Thätigkeit überhaupt“ klingt wie „ein unsterblich Streben“ (Br 1.353) als die Tätigkeit des Phönix. Gleichzeitig wurde der natürliche Trieb auch mit einer allgemeinen Bestimmung als „Widerspruch“ (s. 4.1.2. Zitat aus SbW 1810/11 § 131, vgl. 7W4.58) charakterisiert, der als spekulative Bestimmung allen Trieben zugrunde liegt. In der Tätigkeit des praktischen Geistes wird die Liebe als eine Stufe seiner Bildung systematisch bestimmt. Dabei spielte die genannte persönliche Erfahrung wohl eine wichtige Rolle; denn die Liebe wird nicht nur von der „Begierldel“ (Br 1.352) getrennt, sondern auch höher als jedes Rechtsverhältnis geschätzt, als welches die Liebe bzw. die Ehe zuvor von KANT bezeichnet worden war. Hegel erwähnt diesen Punkt ablehnend; „Nach ihren besondern Bestimmungen kamen den Individuen die diese Gesellschaft ausmachen, besondere Rechte zu, insofern diese aber in der Form von Rechten behauptet würden, so wäre das moralische Band dieser Gesellschaft zerrissen, worin ieder wesentlich aus der Gesinnung der Liebe das erhält, was ihm an sich zukommt.“ (SbW 1810/11 § 148, vgl. TW 4.62) Was die persönliche Erfahrung Hegel gegeben hat, ist nichts anderes als das, was dem Menschen „an sich“ zukommt. Hegel schrieb an Niethammer nach seiner Hochzeit: „Ich habe damit im ganzen ... mein irdisches Ziel erreicht, denn mit einem Amte und einem lieben Weibe ist man fertig in dieser Welt. Es sind die Hauptartikel dessen, was man für sein Individuum zu erstreben hat. Das Uebrige sind keine eignen Kapitel mehr, sondern etwa nur Paragraphen oder Anmerkungen.“ (10.10.1811, Br 1.386) Der Unterschied zu der Jenaer Zeit, wo die Liebe nur als ein Mittelstadium zur Anerkennung betrachtet wird, ist auffällig; in Nürnberg tritt die Anerkennung nur im Selbstbewußtseinskapitel auf und macht die Grundlage der sozialen Verhältnisse wie Familie aus. Da die Liebe eine Eigenschaft der Familie ist, ist der Zusammenhang der Liebe mit der Anerkennung fast umgekehrt geordnet; die Liebe wird zuerst als ein „natürliches Anerkennen“, das noch kein wirkliches soziales Verhältnis ist, dann später als eine Stufe des praktischen Geistes, die schon ein wirkliches soziales Verhältnis ist, bezeichnet.^ Hier läßt sich die Entwicklung der Auffassung der Liebe bzw. der Familie von der Jenaer Zeit zur Nürnberger Zeit sehen. Erst aufgrund dieser Entwicklung ist die enzyklopädische Stellung der Familie in der Sittlichkeit in Heidelberg ermöglicht worden; dort heißt die Familie „für sich eine Totalität, zwar ein natürliches, aber durch die Geistigkeit gleichfalls in die Sittlichkeit erhobenes Ganzes“ (1. Enz § 433); die Auffassung der Familie, die bis zur dritten 2 Darüber, daß in der späten Philosophie des subjektiven Geistes die Liebe gar keinen Stellenwert hat, vgl. A. Wildt: Autonomie und Anerkennung. 345 (Anm. 87).
Skizze der Darstellung der Termini
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Enzyklopädie unverändert bleibt, hat also ihre entwicklungsgeschichtliche Grundlage zu einem ziemlich hohen Grade in Hegels persönlichen Angelegenheiten in Nürnberg, die außerdem beim Spekulativwerden des Triebes eine gewisse Rolle gespielt haben. 4.2.2.3. Die Termini in den Sphären Kunst, Religion und Wissenschaft In den Sphären, die in den späten Werken „Der absolute Geist“ genannt werden, finden die betreffenden Termini ihre höchste Form; hier wird der Unterschied zwischen ihrem spekulativen und begrenzten Sinne (I und II) aufgehoben und entsteht ihre Einheit an und für sich (III), damit das Bedürfnis der Philosophie befriedigt wird. Da die allerletzte Stufe „Die Wissenschaft“ {SbW 1810/11) oder „Die Philosophie“ {Enz 1812/13) nun mit dem gesamten Prozeß vereinigt ist und das Prinzip des Systems der Wissenschaft schon am Anfang dieses Prozesses als Trieb bezeichnet wird, müssen im folgenden nur die beide ihr vorausgehenden Stufen, nämlich „Die Kunst“ und „Die Religion“ behandelt werden. In der Enzyklopädie für die Oberklasse 1812/13 wird hinsichtlich der „Vollendung des Geistes“ klar ausgesprochen, worum es geht: „Die Vollendung des Geistes ist die Kenntniß in seiner Unendlichkeit. Der Geist in der Kunst producirt sich als Unendliches in der Gestalt. Das Bestreben der Kunst ist das Absolute darzustellen zu gestalten für die Anschauung für den Sinn.“ (ad § 61) Es handelt sich also um die Tätigkeit des Geistes, das Unendliche bzw. Absolute zu erkennen, die hier bei der Kunst als das Bestreben dargestellt wird und nicht nur in der Kunst, sondern auch in der „Vollendung des Geistes“ im allgemeinen vorkommt. Auch in der Religion findet sich ein und dieselbe Tätigkeit, die mit der Verbform „streben“ ausgedrückt wird: „Der Gottesdienst ist die bestimmte Beschäftigung des Gedankens und der Empfindung mit Gott, wodurch das Individuum seine Einigkeit mit demselben zu bewirken und sich das Bewußtsein und die Versicherung dieser Einigkeit zu geben strebt, welche Übereinstimmung seines Willens mit dem göttlichen Willen es durch die Gesinnung und Handlungsweise seines wirklichen Lebens beweisen soll.“ (RPR 1810ff, TW 4.274; Hervorhebung vom Verfasser) Hiermit wird die Bedeutung des religiösen Verhaltens wie des Gottesdienstes von der Seite des Individuums her so verständlich gemacht, daß der Mensch auch nach der Einigkeit mit Gott streben kann, oder das Streben sich zu solchem Punkt entwickelt. Diese spekulative Auffassung über die Tätigkeit des Geistes in der Religion wird auch mittels anderer Termini Bedürfnis und Trieb dargestellt. Das Bedürfnis, das eigentlich eine Bestimmung im Organismus ist, entwickelt sich
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Spekulative Auffassung des Begriffskomplexes
zu seiner Form in der Sphäre der Religion; „Bedürfnis der Religion ist Gefühl von der Nichtigkeit des zeitlichen Weltwesens und seiner Einzelheit, Versenkung seiner in das Wesen, und sich darin Erhalten.“ {Rel 1811/13, TW 4.276) Diese Darstellung erinnert uns an die eigentliche Bestimmung des Bedürfnisses im Organismus als des „Gefühls eines Mangels“. Man kann hier von einem anderen Bedürfnis sprechen, doch die Struktur bleibt erhalten, nämlich das Bedürfnis ist gleich dem „Gefühl eines Mangels“ der Einheit zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Dieses Bedürfnis hängt direkt mit dem Trieb zusammen, die genannte Einheit zu realisieren: „Weil wir ein Bedürfnis der Religion haben, so muß etwas sein, das diesem Triebe entspricht; vom Subjektiven aufs Objektive.“ (ebd.) Der Sachverhalt, der mit den Termini Bedürfnis und Trieb dargestellt wird, bleibt ohne Zweifel unverändert Hegels Anliegen seit seiner Jugendzeit (s. 2.4.) und wird erst in der Nürnberger Zeit aufgrund der spekulativen Auffassung der genannten Termini begriffen. Die Auffassung des Bedürfnisses, das das Bedürfnis der Philosophie befriedigt, leitet das Denken Hegels bis zur späten Zeit: „Das allgemeine Bedürfnis zm Kunst also ist das vernünftige, daß der Mensch die innere und äußere Welt sich zum geistigen Bewußtsein als einen Gegenstand zu erheben hat, in welchem er sein eigenes Selbst wiedererkennt.“ (Vorlesungen über die Ästhetik. TW 13.52) „Bedürfnis der Philosophie, durchdringen mit dem Denken; absolute Identität des Subjektiven und Objektiven an sich“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Vorlesungen 3.156).
5. SCHLUSSBETRACHTUNG 5.1. AUSBLICK AUF DIE SPÄTE ENTWICKLUNG (HEIDELBERG UND BERLIN) Auf der Grundlage der in Nürnberg erreichten spekulativen Auffassung des von uns betrachteten Begriffskomplexes werden in der Entwicklung der Spätzeit einzelne Bestimmungen des Systems der Wissenschaft artikuliert, wenn sie auch nicht direkt durch diesen Begriffskomplex ausgedrückt werden. Da das Prinzip des Systems der Wissenschaft schon in der Nürnberger Zeit festgelegt ist, ist in der Spätzeit noch seine Anwendung auf verschiedene Bereiche durchzuführen. ^ Es gibt zwar Präzisierungen, aber wohl keine grundsätzliche Änderung des Prinzips des Systems der Wissenschaft. Deshalb darf die hier durchgeführte entwicklungsgeschichtliche Untersuchung des Begriffskomplexes mit der Betrachtung der Nürnberger Entwicklung enden. Eine genaue Untersuchung der weiteren Entwicklung in Heidelberg und Berlin muß einer anderen Arbeit überlassen bleiben. Bei dieser weiteren Entwicklung geht es weniger um die Entwicklungsgeschichte als um die systematische Darstellung des Begriffskomplexes. Während die Auffassung des Begriffskomplexes in mehreren Teilen des Systems der Wissenschaft schon in Nürnberg entwickelt wurde und auch in der Spätzeit auf eine ähnliche Weise weiterentwickelt wird, worauf in der bereits dargestellten Skizze der logischen und realphilosophischen Bestimmungen hingewiesen wurde (vgl. 4.1.1.; 4.1.2.; 4.2.), werden einige Bestimmungen, die entweder schon in Jena inhaltlich entwickelt wurden (z. B. das System der Bedürfnisse, vgl. 3.1.2.2.; 3.2.1.2.) oder erst in der Spätzeit inhaltlich erarbeitet werden (z. B. Begriffskomplex als Bestimmungen der Anthropologie, vgl. 4.2.2.2.2. Anm. 2), ins System eingeordnet. Zum Schluß der vorliegenden Arbeit soll nur ein Ausblick auf die späte Entwicklung gegeben werden, insofern diese Entwicklung in bezug auf einzelne Teile sowie das Prinzip des Systems der Wissenschaft als solches gegenüber den Nürnberger Auffassungen eine Präzisierung aufzeigt. > Darüber, daß die Enzyklopädie (1817) als „eine Frucht der langen didaktischen Arbeit an den einzelnen Disziplinen der Philosophie und an der Vermittlung ihres Zusammenhangs“ erschien, vgl. F. Nicolin: Pädagogik — Propädeutik — Enzyklopädie. In: Hegel Hrsg, von O. Pöggeler, 101.
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Schlußbetrachtung
Was die Präzisierung in einzelnen Teilen betrifft, ist auffallend, daß der Wille, dessen Entwicklung den Bereich des objektiven Geistes ausmacht, in der Entgegensetzung zum Trieb, der hauptsächlich im Rahmen des subjektiven Geistes behandelt wird, artikuliert wird. Dabei wird das Prinzip des objektiven Geistes auf der Grundlage der spekulativen Auffassung des Triebes festgelegt. Dadurch wird der Zusammenhang zwischen dem Willen und dem Trieb in bezug auf den Zusammenhang von Trieb I und Trieb II klargemacht, was in Nürnberg noch nicht klar genug herausgearbeitet wurde. Außerdem wird die Problematik des Zusammenhangs von Trieb I und Trieb II in der Auffassung der Weltgeschichte, die zwar bereits in Nürnberg systematisch festgestellt wurde {SbW 1810/11 §§ 158—9, vgl. TW4.64), aber erst in der Spätzeit mehr ins Einzelne gehend erarbeitet wird, deutlich präzisiert. Was die Präzisierung des Prinzips des Systems der Wissenschaft als solchen betrifft, greift Hegel auf die Problematik des Bedürfnisses der Philosophie zurück, die sein Anliegen in der frühen Jenaer Zeit war. Der folgende Ausblick auf die späte Entwicklung beschränkt sich darauf, hinsichtlich der Problematik des Zusammenhangs von Begriffskomplex I und Begriffskomplex II die Festlegung des Prinzips des objektiven Geistes, den geschichtsphilosophischen Ansatz und die Betonung des Prinzips des Systems der Wissenschaft zu erörtern. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts hält Hegel die Forderung der „Reinigung der Triebe“ für wahrhaft, insofern nach dieser Forderung „die Trielje als das vernünftige System der Willensbestimmung“ anzusehen seien, und sieht den Inhalt dieser Philosophie darin, „sie so aus dem Begriffe zu fassen“ {Rph § 19). Dabei handelt es sich darum, ob die Triebe vernünftig sind (vgl. Vorlesung von 1819/20. HENRICH 62f). Hiermit wird erklärt, daß die natürlichen Triebe vernünftig sein können, insofern ihnen die Bestimmungen des Willens zugrunde liegen. Es ist zu beachten, daß auch der „Trieb zur Geselligkeit“ usf., der der sittliche Trieb genannt wird, für natürlich gehalten werden muß, wenn er sich auch vom Naturtrieb unterscheidet. Denn für Hegel geht es dabei um etwas bloß Subjektives und Zufälliges, das die empirische Psychologie behandelt (vgl. Rph § 19 Anm.; Vorlesung von 1822/23. ILTING 3.142; Vorlesung von 1824/25. ILTING4.78, 128,134,136). Hier fragt es sich, wie der Übergang von der Natürlichkeit zur Vernünftigkeit stattfinden kann. Dazu muß untersucht werden, wie die natürlichen Triebe mit dem Willen Zusammenhängen. Sie decken sich mit dem Willen auf eine gewisse Weise (vgl. Vorlesung von 1824/25. ILTING 4.128f). Es ist festzustellen, daß der Trieb in zweifacher Hinsicht aufgefaßt wird; er ist entweder als etwas nicht-Vernünftiges oder als etwas Vernünftiges zu betrachten. Als etwas Vernünftiges stimmt er mit dem Willen überein! Was bedeutet aber die zweifache Auffassungsweise des Triebes für den Willen? Der Trieb und der Wille scheinen noch getrennt zu sein, insofern sie sich nur teilweise
Ausblick auf die späte Entwicklung
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decken. Es ist zu untersuchen, wie die beiden einheitlich begriffen werden können. Bemerkenswerterweise wird das Vernünftige als solches durch den Terminus Trieb bezeichnet, so daß durch den Trieb der Widerspruch des Vernünftigen aufgehoben wird (vgl. Vorlesungen 1818/19. Vorlesungen 1.276f und ILTING 1.247). Dieser Trieb des Willens ist nichts anderes als der Trieb der Idee, der im Bereich des Rechts entwickelt wird. Hiermit ist das Prinzip des objektiven Geistes festgelegt, was die Auffassung des Triebes im spekulativen Sinne ermöglicht (vgl. mehrere Aussagen; Vorlesung von 1817/18. Vorlesungen 1.9f; Vorlesung von 1818/19. Vorlesungen 1.278; Rph § 27; Vorlesung von 1822/23. iLTiNG 3.154f und 163; Vorlesung von 1824/25. ILTING 4.138). Wie bezieht sich nun der Trieb des Willens auf die natürlichen Triebe? Die Antwort darauf soll zugleich die Antwort auf die Frage nach dem einheitlichen Begreifen von den natürlichen Trieben und dem Willen sein, insofern der Wille in bezug auf seinen Trieb betrachtet wird. Zunächst scheint der Trieb des Willens von den natürlichen Trieben völlig verschieden zu sein2 (vgl. Vorlesung von 1824/25. ILTING 4.79). Mit dieser Auffassung wird zwar der Unterschied von dem Trieb des Willens und den natürlichen Trieben geklärt, aber es bleibt noch ungeklärt, was die natürlichen Triebe für den Trieb des Willens bedeutet. In bezug auf den Zusammenhang von den natürlichen Trieben und dem Willen ist festzustellen, daß die natürlichen Triebe als der Wille in der Form der Besonderheit (vgl. Rph § 6) zu betrachten sind, was für den Willen ein wesentliches Moment ist (vgl. Vorlesungvon 1822/23. ILTING 3.116f). Hiermit wird erklärt, daß die natürlichen Triebe für den Willen unentbehrlich sind, insofern dieser sich beschränken muß, um Wille zu sein. Daraus ergibt sich, daß die natürlichen Triebe als eine Besonderung des Willens angesehen werden müssen. Auf der Grundlage dieser Auffassung kann man sagen, daß die natürlichen Triebe von der Vernünftigkeit des Willens herkommen (vgl. Rph § 11; Vorlesung von 1822/23. ILTING 3.128; vgl. auch Vorlesung von 1819/20. HENRICH 62f und Vorlesung von 1824/25. ILTING 4.128f). Wie findet nun in der Besonderung des Willens der Übergang von der Form der Natürlichkeit zu derjenigen der Vernünftigkeit statt? Was diesen Übergang ermöglicht, ist der Widerspruch des Willens zwischen der Allgemeinheit und der Besonderheit. Dabei geht es um nichts anderes als das, was 2 Zum Umstand, daß es „keine Teleologie der Natur“ gibt, die „die Trieb- und Bedürfnisnatur der Einzelnen mit dem sittlich-geschichtlichen Dasein des Staats vermitteln könnte“, vgl. M. Riedel: Natur und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie. In: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Band 2. 122. Es bleibt allerdings zu klären, wie die genannte „Trieb- und Bedürfnisnatur der Einzelnen“ mit dem „Trieb des Willens“ zusammenhängt, der hier keine Erwähnung findet, zumal derselbe Autor die „ontologische“ Bedeutung der aus „Bedürfnis“, „Begierde“, „Trieb“ entspringenden Tätigkeit erörtert. Dazu vgl. 1.1. Anm. 23.
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Schlußbetrachtung
über „die subjektive Willensbestimmung“ ausgesprochen wird, die gegen die Einheit des Subjektiven und Objektiven ein Widerspruch ist (vgl. Vorlesung von 1818/19. Vorlesungen 1.276f und ILTING 1.247f). In den natürlichen Trieben d. i. in der Besonderheit des Willens ist die Allgemeinheit des Willens latent vorhanden. Deshalb gibt es den Widerspruch der beiden, der die „Reinigung der Triebe“ veranlaßt. Damit ist der Zusammenhang zwischen den natürlichen Trieben und dem Trieb des Willens geklärt. Da der Prozeß des Willens, den genannten Widerspruch aufzuheben, als der Trieb des Willens bezeichnet wird, werden die natürlichen Triebe als eine Besonderung des Triebes des Willens in diesen Prozeß eingeordnet. Sie sind nämlich für den Trieb des Willens unentbehrlich, insofern sich der Wille durch die Besonderung verwirklichen muß. Hierbei handelt es sich um die Unterschiede, die die Idee hervorbringt (vgl. Vorlesungvonl818/19. Vorlesungen 1.277). So findet sich derTrieb der Idee als der Trieb des Willens, der in den natürlichen Trieben von sich unterschieden ist und doch die Einheit in sich erhält. Hierin läßt sich die von uns behandelte Thematik des Zusammenhangs von Trieb I und Trieb II deutlich erkennen. In diesem Zusammenhang zwischen beiden wird ein mögliches Prinzip der Praxis aufgezeigt, durch das der Maßstab oder das Sollen begründet wird (vgl. Vorlesung von 1818/19. ILTING 1.248). Der Zusammenhang von Trieb I und Trieb II ist in der Sphäre der Weltgeschichte klar artikuliert. Denn hier wird für den Menschen dieser Zusammenhang als Problem seiner Praxis gestellt. Es geht um die Auseinandersetzung mit der geschichtlich überlieferten Situation. Will er sich mit dieser Situation auseinandersetzen, muß er den Maßstab seiner Praxis festlegen. Es ist dieser Maßstab, den Hegels geschichtsphilosophischer Ansatz anbieten könnte. In der Weltgeschichte entwickelt sich der Geist durch die Stufen der Volksgeister sich selbst erkennend und deshalb teleologisch.^ Der Umstand, daß die Weltgeschichte ein teleologischer Prozeß ist, wird auf der Grundlage der spekulativen Auffassung des Triebes, d. i. des „unendlichen Triebes des Weltgeistes“ {Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. TW 12.73) betrachtet. Hiermit wird die geschichtsphilosophische Perspektive des Triebes der Idee klar artikuliert. Es wird vorausgesetzt, daß die Weltgeschichte in der Sphäre des Geistes im Gegensatz zu derjenigen der Natur auftritt.'^ Der Trieb des Geistes wird hier als der „Trieb der Perfektibilität“ {TW 12.74) charakterisiert. Da diese Perfektibilität etwas Unbestimmtes bleibt (vgl. TW 12.75), muß sie auf der 5 über den teleologischen Ansatz der Hegelschen Geschichtsphilosophie vgl. M. Baum/K. R. Meist: Recht — Politik — Geschichte. In: Hegel. Hrsg, von O. Pöggeler, 123; Ch. Taylor: Hegel. 509. * Zum Unterschied von Natur und Geschichte vgl. K. Rothe: Selbstsein und bürgerliche Gesellschaft. 137.
Ausblick auf die späte Entwicklung
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Grundlage der spekulativen Auffassung des Triebes derart begriffen werden, daß das Unvollkommene das Gegenteil seiner selbst als Trieb enthält (vgl. TW 12.78). Durch die Auffassung des Triebes im spekulativen Sinne wird also ermöglicht, den Grund des Prozesses vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren als den dem Unvollkommenen immanenten Widerspruch zu begreifen.5 Was den Inhalt dieses Prozesses betrifft, wird er als die Befreiung des Geistes von der Natürlichkeit zu seinem Bewußtsein deutlich bestimmt, die teleologisch aufzufassen ist. Es ist zu untersuchen, wie der Zweck der Weltgeschichte verwirklicht wird. Mit dieser Auffassung des Prozesses der Weltgeschichte als eines teleologischen ist gemeint, daß in ihr trotz der Häufung der zufälligen Begebenheiten die Vernunft herrscht, was die „List der Vernunft“ genannt wird (vgl. TW 12.49). Diese Herrschaft der Vernunft findet allerdings nicht derart statt, daß die Individuen als Mittel geopfert werden, sondern derart, daß diese als etwas anerkannt werden, durch dessen Tätigkeit, d. i. „des Menschen Bedürfnis, Trieb, Neigung, Leidenschaft“ (TW 12.36) der Zweck der Weltgeschichte verwirklicht werden kann. Der „innerste bewußtlose Trieb“ (TW 12.39) des Geistes kann also erst durch die „subjektive Seite“ (TW 12.40), d. i. durch den Trieh u. a. des Menschen auf irgendeine Weise verwirklicht werden, die genauer zu erörtern ist. Hier wird offensichtlich unsere Thematik des Zusammenhangs von Trieb I und Trieb II in der Sphäre der Weltgeschichte artikuliert. Hegel versucht mit der Auffassung der „welthistorischen Individuen“ zu erklären, wie der Geist den Menschen innerlich bestimmt. Diese Individuen hatten die Einsicht „von dem, was not und was an der Zeit ist“ {TW 12.46). Ihnen war das Allgemeine immanent (vgl. ebd.). Durch die Immanenz in diesen Individuen zeigt das Allgemeine seine nächste Richtung auf. Hiermit läßt sich das Innerlichwerden der Vernunft verstehen, durch das alle Individuen bestimmt werden, welche Richtung eingeschlagen werden soll (vgl. ebd.). Da die einzuschlagende Richtung mit der „unwiderstehlichen Gewalt“ (ebd.) aufgezeigt wird, scheint es keine andere mögliche Richtung zu geben. Es darf aber nicht übersehen werden, daß Hegel hierbei die Verantwortung des Menschen erhalten wissen will, in bezug auf die Richtung der nächsten Zeit, eine Entscheidng zu treffen. Hierin besteht eine Dimension, in der das Prinzip der Praxis als Problem gestellt wird. Es muß einen gemeinsamen Grund für die Vernunft und die Individuen geben, damit die Vernunft den Individuen immanent wird.® Dazu spricht 5 Mit H. F. Fulda kann man sagen, daß der Trieb zum Vollkommenen nicht als „Bestimmungen einzelner moralischer Subjekte“ zu begreifen ist {Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik. 205). Es bleibt allerdings zu klären, wie sich dieser Trieb auf die Triebe als die genannten Bestimmungen bezieht. ® Nach Taylors Interpretation wird das Werk des Weltgeistes von den Menschen als „immanenter Trieb“ empfunden und nicht verstanden, so daß es „inmitten des Konflikts individueller
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Schlußbetrachtung
Hegel vom Göttlichen im Menschen, durch das dieser als Selbstzweck über die Kategorie eines Mittels hinausgeht, und das Moralität, Sittlichkeit und Religiosität ausmacht (vgl. TW 12.50). Dies bedeutet aber nicht, daß die Individuen unbedingt eine der Vorschrift der Vernunft entsprechende Entscheidung treffen werden. Sie können sich für eine andere Richtung als die der Vernunft entscheiden. Sie sind für die eingeschlagene Richtung selbst verantwortlich. Dabei ist vor allem von Schuld beim Einschlagen der sittlich negativ zu beurteilenden Richtung die Rede (vgl. 7W12.50f). Die Individuen müssen also die Verantwortung dafür übernehmen, ob der Zweck der Weltgeschichte verwirklicht werden kann. In diesem Sinne ist die Richtung der Weltgeschichte trotz der Behauptung der Herrschaft der Vernunft als nicht definitiv anzusehen. Hierbei wird das Prinzip der Praxis als Problem gestellt, und damit die einzuschlagende Richtung der Weltgeschichte begründet. Als ein mögliches Prinzip der Praxis zeigt sich die Auffassung des Triebes im spekulativen Sinne, die es ermöglicht, die Herrschaft der Vernunft und die Tätigkeit der Individuen einheitlich zu begreifen. Während das Prinzip des Systems der Wissenschaft in ihren einzelnen Teilen weiter artikuliert wird, erweist sich dieses Prinzip als dasjenige des gesamten Systems der Wissenschaft, wie anläßlich des Bedürfnisses der Philosophie erläutert wird (vgl. 3. Enz § 11). Das Bedürfnis der Philosophie muß als die Tätigkeit des Geistes verstanden werden. Diese Tätigkeit enthält die Reflexion des Verstandes, in der der Geist sich in Widersprüche verwickelt und deshalb sich selbst nicht erreicht. Dies bedeutet aber nicht, daß es dem Geist völlig unmöglich ist, zu sich selbst zu kommen. Das Bedürfnis der Philosophie ist gerade dabei wirksam, sich mit der Reflexion des Verstandes auseinanderzusetzen (vgl. ebd.). Dieses Bedürfnis der Philosophie vollzieht sich als das System der Wissenschaft, das als die Einheit von Bedürfnis I und Bedürfnis II, d. i. als das Bedürfnis III anzusehen ist. Hegel hält es für unnötig, in dem Philosophie-Studierenden das Bedürfnis der Philosophie zu erwecken, weil „das, was dem eigentlichen Bedürfnis der Philosophie zugrunde liegt, bei jedem {denkenden) Menschen vorauszusetzen“ {Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin. 22.10.1818, TW 10.406) ist. Mit dem „eigentlichen Bedürfnis der Philosophie“ ist das auf das Bewußtsein bzw. den Verstand bezogene Bedürfnis der Philosophie, d. i. das „Bedürfnis nach einer Philosophie“ gemeint, insofern es sich dabei um das Bedürfnis handelt, das vor dem Philosophie-Studium vorhanden sein soll. Das genannte Bedürfnis der Philosophie ist nämlich bei jedem denkenden Menschen vorauszusetzen, weil es im Wesen des Denkens enthalten ist. Diese Voraussetzung ist schon Ambitionen in der Geschichte verwirklicht“ wird (op. dt. 514). Hierbei ist außerdem genauer zu erörtern, wie das Innerlichwerden der Vernunft mit der Entscheidung der Menschen zusammenhängt.
Bedeutung der These in der heutigen Diskussion
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„ein Beginn der Philosophie“ {TW 10.407). Da das betreffende Bedürfnis der Philosophie in die Tätigkeit des Geistes integriert wird (vgl. 3.1.2.3.), braucht man dieses Bedürfnis nicht zu erwecken,^ vorausgesetzt, daß der Mensch zum Denken fähig ist. Nötig ist, das Bedürfnis der Philosophie, d. i. das spekulative Bedürfnis zu befriedigen, das das auf das Bewußtsein bezogene Bedürfnis der Philosophie als ein Moment des Prozesses seiner eigenen Befriedigung enthält. Diese Befriedigung kann erst stattfinden, wenn man den Widerspruch aufhebt, den der Standpunkt der Reflexion des Verstandes, d. i. derjenige des auf das Bewußtsein bezogenen Bedürfnisses der Philosophie zwar in sich enthält, aber nicht lösen kann. Hierbei ist das Bedürfnis der Philosophie als das spekulative Bedürfnis an der Reihe: „Dieser Widerspruch ist es, der das nähere Bedürfnis der Philosophie enthält, dessen Auflösung sie zum Ziele hat; der in sich entzweite Geist sucht in ihr, d. h. in sich selbst, seine Versöhnung.“ {TW 10.407) Die Auflösung des „näheren Bedürfnisses der Philosophie“ besteht nun darin, das System der Wissenschaft, d. i. die Philosophie selbst, zu bilden. Das Bedürfnis der Philosophie als das spekulative Bedürfnis kann mit einem paradoxen Ausdruck so verstanden werden, daß es das „Bedürfnis der Bedürfnislosigkeit“ ist, insofern es darauf gerichtet ist, die natürlichen Bedürfnisse aufzuheben, wovon Hegel direkt vor dem Ende seines Lebens sprach (vgl. Vorrede zur zweiten Ausgabe der Wissenschaft der Logik. 7.11. 1831, 7W 5.23; ferner: Vorlesungsnachschrift von D. F. STRAUSS über die Philosophie des Rechts. 11.11.1831, ILTING 4.923). Seine Auffassung des Bedürfnisses der Philosophie als des Prinzips des Systems der Wissenschaft bleibt unverändert bis zum Ende seines Lebens. Auf der Grundlage dieser Auffassung kann man die Grundbestimmung des Bedürfnisses als das Bedürfnis der Bedürfnislosigkeit verstehen, das nichts anderes als die Bewegung des Geistes selbst, d. i. als der Selbstzweck ist, in dem die lebendige Totalität wiederhergestellt wird. 5.2. BEDEUTUNG DER THESE IN DER HEUTIGEN DISKUSSION In der obigen entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung haben wir herausgefunden, daß in der Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens der von uns betrachtete Begriffskomplex spekulativ wurde. Auf der Grundlage des Spekulativwerdens des Begriffskomplexes wurde es ermöglicht, die zwei einander gegenüberstehenden Auffassungen des Begriffskomplexes in der Begriffsgeschichte vor Hegel, nämlich entweder etwas Naturhaftes oder etwas darüber Hinausgehendes, als die Einheit von Begriffskomplex I und ’ Zum Unterschied von Jenaer und Berliner Auffassung des „Bedürfnisses der Philosophie“ vgl. O. Pöggeler: Hegels Idee, 162.
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Schlußbetrachtung
Begriffskomplex II zu begreifen. Dadurch wurde der Begriffskomplex über die realphilosophische Sphäre hinaus systematisch aufgefaßt. Die Entwicklungsgeschichte des Begriffskomplexes kann als die zu seiner Systematisierung angesehen werden. Die Bedeutung des Spekulativwerdens des Begriffskomplexes besteht allerdings nicht bloß im Rahmen des Begriffskomplexes als solchen, sondern auch darin, daß der Begriffskomplex den Standpunkt der spekulativen Philosophie als solcher ausdrückt. Hegel drückt nämlich den Standpunkt, der der Systematisierung des Begriffskomplexes zugrunde liegt, als das Bedürfnis der Philosophie aus. Dieser Standpunkt müßte in seiner Philosophie verwirklicht werden, die laut unserer Interpretation in der Hegelschen Auffassung des Begriffskomplexes organisiert wird. Läßt man den Begriff Bedürfnis gemäß seiner grundlegenden Stellung im Begriffskomplex diesen vertreten, kann das Hegelsche System gleichsam als Philosophie des Bedürfnisses bezeichnet werden, auch wenn Hegel dies nicht explizit so ausspricht; das Bedürfnis der Philosophie kann sich erst dann befriedigen, wenn die Philosophie das Bedürfnis selbst zum Inhalt hat; das System wird also von verschiedenen Bestimmungen ausgemacht, denen jeweils das Bedürfnis zugrunde liegt, d. h. es wird zum System der Bedürfnisse. Der Ausdruck „System der Bedürfnisse“ hat natürlich seinen eigenen Inhalt, der Hegels Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft entspricht. Er bekommt aber in unserer neuen Sicht eine andere Bedeutung als die ursprüngliche, d. h. man kann die Philosophie des Bedürfnisses als das System der Bedürfnisse in einem weiteren Sinne charakterisieren, in dem das sog. ursprüngliche System der Bedürfnisse als dessen Teil eingeordnet ist. Dieses System enthält der Sache nach auch die menschlichen Bedürfnisse, über die heutzutage viel diskutiert wird, und gibt einen systematischen Gesichtspunkt ab, wie sich die gegenwärtig im Brennpunkt stehende Problematik der menschlichen Bedürfnisse sinnvoll begreifen läßt. Gerade darin, diesen Gesichtspunkt gegeben zu haben, besteht Hegels eigenes Verdienst zur Begriffsgeschichte, das m. E. bisher wenig beachtet worden ist. Im Anschluß an die entwicklungsgeschichtliche Untersuchung ist schließlich darauf hinzuweisen, was Hegels Auffassung des Begriffskomplexes in der heutigen Diskussion der praktischen Philosophie bedeuten könnte. Hegel stellte den Begriffskomplex als ein System dar, das fast alle damals denkbaren Bestimmungen enthält. Damit wird uns eine umfangreiche Bilanz über die praktisch-philosophischen Probleme und eine methodologische Grundlage zur Lösung dieser Probleme gegeben. Es bleibt zu klären, wie die Philosophie des Bedürfnisses vor allem im Rahmen der Philosophie des Geistes mit dem Prinzip der Praxis zusammenhängt, von dessen Begründung in der heutigen Diskussion der praktischen Philosophie die Rede ist (vgl. 1.1.). Es geht darum, wie der Einzelne über seine eigennützigen Bedürfnisse
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hinausgehen kann. Dabei muß das Prinzip der Praxis, das dem Einzelnen dieses Hinausgehen ermöglichen soll und kann, ihm selbst immanent sein. Sonst bleibt dieses Prirtzip etwas, was nur von außen her gegen den Einzelnen gefordert wird, nämlich ein bloßes Sollen. Hegel betrachtet diesen Fall als eine Art des Bedürfnisses, in der der Begriff für den Einzelnen eine äußerliche Bestimmung bleibt (vgl. Wissenschaft der Logik; GW 12.175). Hier kann es dem Einzelnen höchstens gelingen, die äußere Zweckmäßigkeit zu erreichen. Hegel bietet statt dieser Zweckmäßigkeit die Auffassung der Idee des Lebens als der inneren Zweckmäßigkeit, in der der Einzelne den Begriff an ihm selbst haben kann; der Begriff hört dabei auf, eine äußerliche Bestimmung für den Einzelnen zu sein. Was dieses Verfahren ermöglicht, besteht darin, daß Hegel die genannte Äußerlichkeit als den unmittelbaren Unterschied des Begriffs betrachtet, m. a. W. daß der Begriff ein und dieselbe Bestimmung mit dem Einzelnen teilt, so daß der Begriff dem Einzelnen immanent sein kann. Unter dem unmittelbaren Unterschied des Begriffs ist ein äußerliches Verhältnis der Glieder des Organismus gemeint, die in der lebendigen Individualität bestehen. Dieses Verhältnis wird als der Lebensprozeß dargestellt, in dem das Lebendige der absolute Widerspruch zwischen der objektiven Äußerlichkeit und der Identität mit sich ist (vgl. GW 12.187). Der Begriff ist dem Einzelnen in dem Sinne immanent, daß er als der absolute Widerspruch vom Einzelnen selbst getragen wird; der Einzelne wird von ihm immanenten Widerspruch dazu gedrungen, die ihm anderen Glieder aufzuheben und sich zu objektivieren, sei es bewußt oder nicht. Hier muß das Prinzip der Praxis oder deren Norm eine Rolle spielen, damit der Einzelne nicht bloß die anderen Einzelnen aufhebt, sondern über sich selbst als eigennütziges Bedürfnis hinausgehen kann. Dieses Hinausgehen ist schon an sich derart vorhanden, daß der Begriff dem Einzelnen immanent ist. Es gibt aber immer noch die Gefahr der Rückkehr zum bloß äußerlichen Verhältnis. Hegel vergißt nicht, auf diese Gefahr aufmerksam zu machen, deren Ergebnis er als ein Totes charakterisiert (vgl. GW 12.183 f). Der Einzelne muß sich entschließen, wie er sich verhält, d. h. ob er sich auf den Begriff richtet oder nicht. Hier gibt es den Bereich der Praxis, in dem ihr Prinzip den Einzelnen leiten soll. Man braucht dabei dieses Prinzip von nirgendwo anders als dem dem Einzelnen immanenten Begriff her zu bringen. Da er schon an sich vorhanden ist, bleibt nur noch das Problem, diesen Begriff für sich zu machen. Der genannte Lebensprozeß ist als der dieses Für-sich-Machens zu betrachten. Wenn der Einzelne ein lebendiges Glied dieses Lebensprozesses bleiben will, muß er seinem Begriff folgen. Was dieses Folgen zum Inhalt hat, beschreibt Hegel als den Schluß der Glieder des Lebensprozesses. Hierbei machen die Glieder als Mittel voneinander einen Schluß aus, damit ihre eigennützigen Bedürfnisse bzw. Triebe in eine bestimmte Beziehung ge-
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Schlußbetrachtung
bracht werden, in der sie sich selbst aufheben (vgl. GW 12.184). Offensichtlich entsteht hier eine Beziehung der Intersubjektivität, an der die Einzelnen teilhaben. Wenn ihre Bedürfnisse bzw. Triebe eigennützig sind, müssen sie auf diese Ordnung stoßen. Dies bedeutet für die Einzelnen die Auflösung ihres Selbst. Darin zeigt sich die Rolle des Prinzips der Praxis oder deren Norm. Hegel sieht diese Funktion dieses Prinzips in der „negativen Einheit des Begriffs an sich selbst“ (vgl. GW 12.184f). Das Für-sich-Machen des Begriffs wird erst durch das An-ihm(dem Einzelnen)-Machen dieses Begriffs verwirklicht, das für den Einzelnen eine Selbstauflösung bedeutet. Da dieses An-ihm-Machen von dem Einzelnen selbst getragen wird, ist es auf das Verhalten des Einzelnen angewiesen. Dies bedeutet, wohl, daß der Einzelne als das Subjekt des Lebensprozesses auftritt; er ist gar nicht eine Marionette des gesamten Prozesses, wie es ihm manchmal bildlich vorgestellt wird. Dies bedeutet aber nicht, daß der Einzelne ohne irgendeine Voraussetzung seine Entschließung treffen kann. Es bleibt zu klären, wie der Begriff an sich dem Einzelnen an ihm selbst deutlich gegeben werden kann. Da es für den Einzelnen notwendig ist, sich zu entschließen, auf welchem Weg er geht, bleibt es offen, wie der Begriff heißt, und wo er vorhanden ist. Was seine Entschließung voraussetzt, besteht in der Struktur der Intersubjektivität, die auf irgendeine Weise wie z. B. als eine Institution dem Einzelnen gegenüber vorhanden ist; hier werden verschiedene Erfahrungen der vorherlaufenden Generationen überliefert, aus denen auch verschiedene vorgeschriebene Normen gegeben sind. Diese Normen werden durch Kommunikation der Einzelnen geprüft, ausgeführt oder umgebildet; dies läßt verstehen, wie der Begriff dem Einzelnen immanent wird und an ihm selbst gegeben werden kann; der Begriff als Norm setzt den Einzelnen in eine Bewegung, um sich zu verwirklichen. Diese Bewegung, die mit dem Terminus Trieb ausgedrückt wird, wird zweifach begriffen, nämlich einerseits die des Begriffs an sich selbst, andererseits die des dem Einzelnen immanenten Begriffs. Der erstere zeigt durch den letzteren, wie sich der Einzelne verhalten soll. Diese beiden Begriffe sind ein und derselbe Begriff, dessen Tätigkeit in der vorliegenden Untersuchung der Trieb I genannt wird. Dieser Trieb I ist sozusagen eine latente Tätigkeit des Begriffs, die noch nicht an und für sich wird, sondern nur an sich bleibt. Erst durch die Tätigkeit des Einzelnen als seine materielle Triebe, den Trieb II kann er in den Gang gebracht werden. Der Trieb I liegt aber dem Trieb II zugrunde. So wird der Einzelne von seiner Substanz bedingt. Dann muß er sich entschließen, auf welchem Weg er geht, und ob er der vom ihm immanenten Begriff vorgeschriebenen Norm folgt. Wenn er sich entschließt, diesen Weg zu gehen, muß er auch die Selbstauflösung durchschreiten. Wenn er eine andere Entschließung trifft, muß er mit der Gefahr einer toten Welt rechnen. Jedenfalls gibt es hier den Bereich seiner Praxis. In diesem Punkt sind der Trieb I und der Trieb II nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich. Nur dann, wenn der Einzel-
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ne dem ihm immanenten Begriff nachgeht, können die beiden wieder kontinuierlich sein. Sie sind dabei vereinigt; diese Vereinigung der beiden kann Trieb III genannt werden, der schon nicht mehr an sich ist, sondern an und für sich wird. Bis dahin muß es verschiedene Bestimmungen geben, die der „Reinigung der Triebe“ (d. i. des Triebes II) entsprechen. Sie enthalten Institutionen wie z. B. das sog. System der Bedürfnisse, die als geschichtliche Produkte des Geistes betrachtet werden können. Was diese Formen notwendig macht, besteht in einer jeweiligen Entschließung des Einzelnen innerhalb der Struktur der Intersubjektivität in Hinblick auf verschiedene Probleme, die in einer jeweiligen geschichtlich-sozialen Situation Vorkommen; eine neue Institution z. B. muß gegebenenfalls gebildet werden, wenn eine alte Institution, die den schon vorhandenen Normen entspricht, für eine neue Situation nicht geeignet ist; es ist dabei selbstverständlich, die vorgeschriebenen Normen zu überprüfen. Hier kann man eine Reihe der verschiedenen Bestimmungen sehen, in der die Bildung des Geistes gezeigt wird. Jeweils wird der Unterschied zwischen dem Trieb I und dem Trieb II nach der betreffenden Form des Triebes II artikuliert und fortgesetzt, bis die beiden vereinigt werden. Wenn der gesamte Prozeß der Bildung des Geistes als ein System dargestellt wird, so besteht das System der Triebe oder das System der Bedürfnisse im weiteren Sinne und zwar in der Weise, daß sich in ihm der „Geist als Trieb“ (3. Enz § 443 Zus., TW 10.237) betätigt. Die systematische Auffassung des Begriffskomplexes könnte zur Lösung der praktisch-philosophischen Probleme in der Weise beitragen, daß sie als ein mögliches Prinzip der Praxis anzusehen ist, dessen Genese systematisch begründet werden könnte. In der heutigen Diskussion über das Prinzip der Praxis scheint es nicht ausreichend begründet zu sein, worin der Grund der Genese dieses Prinzips besteht. Dabei bleibt das Bedürfnis bzw. der Trieb gegenüber dem Prinzip der Praxis bestehen, so daß der Zusammenhang der beiden selbst nicht berücksichtigt wird. Dies ist z. B. bei der praktischen Philosophie der Erlanger Schule sowie bei der philosophischen Anthropologie von H. PLESSNER der Fall. Auf der einen Seite werden nämlich nach P. LORENZEN 1 einige von Begehren bzw. Begehrungen, die sich faktisch natürlich und kulturell finden, als Bedürfnisse vom Moralprinzip der Transsubjektivität entschieden. Was das Bedürfnis sei, sei also ausschließlich auf dieses Moralprinzip angewiesen, das sich offenbar auf das Wollen bzw. den Willen beziehe. Da die Unterscheidung zwischen Begehren und Wollen als eine normative bezeichnet wird, sind die Begehrungen, die vom Moralprinzip nicht als Bedürfnisse anerkannt werden, vom Anfang an vom Willen ' Vgl. P. Lorenzen: Szientismus versus Dialektik. In: Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Hrsg, von M. Riedel. Bd II. 349 f; ders.: Theorie der technischen und politischen Vernunft- 51,56,117,160; ders. und O. Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. 194.
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Schlußbetrachtung
ausgeschlossen. Die kritische Genese hätte dann mit den faktischen Begehrungen als Besonderheiten innerhalb der reinen Philosophie nichts zu tun, weil diese Begehrungen vom Moralprinzip prinzipiell ausgeschlossen sind. Dies wäre der grundsätzliche Unterschied zum Hegelschen Standpunkt des Bedürfnisses der Philosophie. Dieser Standpunkt als ein mögliches Prinzip, der Praxis enthält nicht nur etwas, das dem LoRENZENschen Moralprinzip entspricht, sondern auch die Bedürfnisse, die den gesamten Begehrungen einschließlich der vom Moralprinzip nicht anerkannten Begehrungen entsprechen, als Besonderheiten. Er begreift diese beiden innerhalb der reinen Philosophie einheitlich im System der Wissenschaft. Auf der anderen Seite ist nach PLESSNER2 der Trieb als Unterbau für das Verhalten des Menschen entscheidend, auch wenn er als etwas von Normen Gehemmtes charakterisiert wird. PLESSNER sieht hier das, was Menschsein heißt. Es ist dabei nicht klar, wie der Trieb und die Normen im Rahmen des Menschseins prinzipiell miteinander Zusammenhängen. Hier würde Hegel ganz klar argumentieren, daß das Menschsein von einer spekulativen Bedeutung des Triebes bestimmt wird, die an sich schon die genannten Normen enthält. Das System der Bedürfnisse im weiteren Sinne enthält bestimmt die Bedürfnisse, die über die ökonomischen Bedürfnisse hinausgehen wie z. B. Streben nach Erkenntnis (H. ALBERT, S. 1.1.). Folgt man dieser Auffassung Hegels, gibt es eine Sozialordnung, in der alle menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden können, vorausgesetzt, daß die eigennützigen Bedürfnisse in dieser Ordnung aufgehoben werden. Diese Aufhebung ist eine unbedingte Voraussetzung für die Entstehung der genannten Sozial Ordnung. Wenn eine Gesellschaft die Struktur der Intersubjektivität hat, muß sie mindestens das Bedürfnis der Philosophie haben, die Philosophie des Bedürfnisses bzw. das System der Bedürfnisse im weiteren Sinne zu verwirklichen, sei es auch latent. Im Bedürfnis der Philosophie läßt sich die Intersubjektivität als Menschlichkeit zeigen, die nichts anderes als das ist, was in der heutigen Diskussion über die menschlichen Bedürfnisse als Thema wie z. B. Bedürfnis nach einer universalen Ethik (K.-0. APEL, S. 1.1.) gestellt ist und sich auf die Aufhebung der eigennützigen Bedürfnisse richtet. Bei Hegels Warnung vor der Gefahr einer toten Welt handelt es sich gerade darum, ob die Menschen ihre eigennützigen Bedürfnisse aufheben. Für Hegels Augen würden die gegenwärtigen Probleme als Ergebnisse der eigennützigen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung in der Gegenwart Vorkommen; Hegel würde argumentieren, daß in den gegenwärtigen Problemen die Gefahr einer toten Welt gezeigt wird, und davor warnen, daß die Menschen in diese Welt geraten, wenn sie versäumen, ihre Bedürfnisse vernünftig zu ordnen; Menschen wären dafür verantwortlich, daß die tote Welt nicht wirklich wird. Gerade in den genannten Problemen liegt aber die Quelle des Bedürfnisses der PhiloVgl. H. Plessner: Die Frage nach der Conditio humana.
58,
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Sophie, das zwar noch an sich bleibt, aber zeigt, daß es noch eine Möglichkeit gibt, die Philosophie des Bedürfnisses bzw. das System der Bedürfnisse im weiteren Sinne zu verwirklichen, damit die Welt von der Gefahr, eine tote Welt zu werden, errettet werden kann. In dieser Weise könnte das Bedürfnis der Philosophie an und für sich werden. Nach Hegelscher Sicht wäre es verständlich und plausibel, daß heute im Rahmen der praktischen Philosophie.u.a. über menschliche Bedürfnisse viel diskutiert wird; die heutige Diskussion wäre ein Zeichen der Hoffnung, daß die gegenwärtigen Menschen dazu fähig sind, sich mit der Gefahr einer toten Welt auseinanderzusetzen.
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