Das Bauhaus kommt aus Thüringen: Kreativwirtschaft jenseits der Metropolen 9783412212100, 9783412210885


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Das Bauhaus kommt aus Thüringen: Kreativwirtschaft jenseits der Metropolen
 9783412212100, 9783412210885

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Matthias Machnig / Dirk Kiefer (Hg.)

Das Bauhaus kommt aus Thüringen Kreativwirtschaft jenseits der Metropolen

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien · 2013

Impressum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Ausschnitt aus der Produktion » Under an alias «, entwickelt und ausgeführt von NERDWORKING (Istanbul) für das Genius Loci Festival Weimar 2012, © MXperience UG (haftungsbeschränkt), 2012 – www.genius-loci-weimar.org

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion : Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Technologie, Erfurt Lektorat und Korrektorat : André Störr, Erfurt Umschlaggestaltung : Anika Friedemann, Weimar Typografie und Satz : Anika Friedemann, Weimar Druck und Bindung : Beltz Bad Langensalza Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-21088-5

Inhalt Vorwort der Herausgeber Matthias Machnig / Dirk Kiefer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Von der Kreativwirtschaft zur kreativen Wirtschaft Vom Bauhaus zur Kreativwirtschaft Eine wirtschaftspolitische Verortung Matthias Machnig  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 It’s the Creative Economy, Stupid! Holm Friebe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Von der Kunst zur Kreativwirtschaft Christoph Stölzl  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Reaching for the Stars Wirtschaftsförderung für Kreativunternehmen Dirk Kiefer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Journalismus als » creative industry « ? Medienpolitische Möglichkeiten & kreativ-wirtschaftliche Strategien Lutz Hachmeister / Leonard Novy / Orkan Torun  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Kreativwirtschaft jenseits der Metropolen Thüringer Kreativwirtschaft um 1900 Henry van de Velde und der kreative Aufbruch Steffen Höhne / André Störr  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Der Ring der Thüringer Kreativwirtschaft jenseits der Metropolen Kai Schächtele  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Das Jenagen Jena, das Internet und der E-Commerce Boris A. Knop  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Innovationskatalysator Kreativwirtschaft Der Mittelstand auf dem Weg zu modernen Wettbewerbsstrategien Sebastian Olma  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Vorwort Das Bauhaus kommt aus Thüringen. Und nicht nur das Bauhaus. Die Kreativ­ wirtschaft hat in Thüringen wesentliche Impulse erfahren, traf immer wie­ der auf eine Politik, die kulturelle Leistungen als integralen Bestandteil ge­ sellschaftlichen Fortschritts und selbstverständlichen Teil wirtschaftlicher Betätigung ansah. » Künstler werdet Kunstindustrielle « rief der Alleskünstler Henry van de Velde vor einhundert Jahren von Weimar aus einer Berufsgruppe zu, die er aus den Akademien zurück in die Mitte der Gesellschaft holen wollte. Und Walter Gropius, der Gründer des Bauhauses, gab schon im Jahr 1916 für die Industrie den Dreiklang aus » Künstler, Kaufmann und Techniker « als einzig mögliches Erfolgs­modell vor. Hieran wollen wir anknüpfen, das ist unser Ziel : Kultur in all ihren Er­ scheinungsformen mit Wirtschaft zu versöhnen, Kreativität und Industrie zusammen zu bringen, Innovation als mehr zu verstehen als eine auf die technische Neuerung fokussierte Entwicklung. Thüringen hat es bewiesen und wird in Zukunft beweisen, dass Kreativ­ wirtschaft auch jenseits der Metropolen blüht, ja vielleicht gerade dort blüht. Mit gutem Grund haben wir deshalb dieses Buch konzipiert, um die Per­ spektive in der aktuellen Debatte zur Kreativwirtschaft zu erweitern, die bisher vernachlässigte kulturgeschichtliche Dimension zu erschließen und zugleich einen neuen, ungekannten und dabei doch aufschlussreichen Blick auf die Kreativwirtschaft in einer der Kernregionen europäischer Kultur zu eröffnen. Zu Wort kommen dabei nicht nur Kenner und Experten, die kaum noch bekannte Bezüge aufdecken, die derzeitige Debatte forcieren und einige der aktuellen Wahrheiten kritisch prüfen. Zu Wort kommen auch die Akteure der Branche selbst, deren Motivation, deren Ziele und deren spannende Unternehmensgeschichten es zu entdecken lohnt. Wir laden Sie ein, Thüringen aus einem neuen Blickwinkel kennen zu lernen und künftig die Kreativwirtschaft – mit uns gemeinsam – neu zu denken und zu gestalten. Matthias Machnig

Dirk Kiefer

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Vom Bauhaus zur Kreativwirtschaft Eine wirtschaftspolitische Verortung Matthias Machnig

Einleitung Der Begriff der Kreativwirtschaft hat eine hohe assoziative Kraft. Es er­ scheinen sogleich Bilder von zu Kreativquartieren umfunktionierten alten Fabrikanlagen, von Menschen in bunten Sitzsäcken oder mit Laptop im Café. Jung, hip und großstädtisch sind die Attribute, Prestige statt Business soll der neue Wertemaßstab sein. Als Wermutstropfen schleichen sich Be­ griffe wie Gentrifizierung, Soloselbständige und prekäre Beschäftigungs­ verhältnisse ein. Alles ist verbunden mit der Klammer des Neuen und des Zukunftsweisenden. Und schließlich treten ganze Regionen in einen Wett­ streit um die Angehörigen einer kreativen Klasse, ohne die eine positive Entwicklung in Zukunft nicht mehr möglich zu sein scheint. Bei all den Debatten spielt die Wirtschaftspolitik indes allenfalls eine Nebenrolle. Dabei sollte es doch gerade die Wirtschaftspolitik sein, die sich des Diskurses um eine Wirtschaftsbranche annimmt. Es ist deshalb an der Zeit, den Diskurs um die Kreativwirtschaft zu erwei­ tern und dabei auch auf eine neue Grundlage zu stellen. Was ist das Neue der Branche, was das Besondere ? Wie fügt sie sich ein in das Gefüge der Wirtschaftsordnung und welche Erwartungen lassen sich mit ihr verbin­ den ? Das ist der Kern der Fragen, die auf dem Weg zu einem neuen Selbst­ verständnis für die Branche zu beantworten sind.

Die Kreativwirtschaft im politischen Diskurs Auch wenn im Rückblick die aufkommende Debatte um die Kreativwirt­ schaft mit dem Entwurf eines neuen Wirtschaftsmodells in der Ära des britischen Premiers Tony Blair einerseits und den Strukturwandelprozessen im Ruhrgebiet andererseits verbunden wird, so war es doch tatsächlich die Kulturpolitik, die in einem Moment der Ehrlichkeit und Klarheit die Kultur­ industrie entdeckte. Als der Greater London Council im Jahr 1983 daran ging, eine neue Kulturkonzeption für die Metropole zu entwickeln, wurde auch die Erkenntnis festgehalten, dass der größte Teil der kulturellen Teilhabe der Einwohner über kommerzielle und nicht über staatlich subventionierte

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Angebote erfolgt (Hesmondalgh 2007 : 139). Angesichts eines mehr als 500 Jahre alten Kunstmarktes, eines mehr als 400 Jahre alten Buchmarkts, eines mehr als 150 Jahre alten Musikmarktes, eines mehr als 100 Jahre alten Filmmarktes und eines mehrere Jahrzehnte alten Musicalmarktes ist diese Erkenntnis eigentlich nichts Überraschendes. Und doch war das Bewusst­ sein davon, dass es einen wirtschaftlich ausgerichteten Bereich gab, der sich mit der Produktion und dem Vertrieb kultureller Güter und Leistungen be­ fasst, von der Kulturpolitik bis dahin ebenso ausgeblendet worden wie von der Wirtschaftspolitik. Seines erwerbswirtschaftlichen Charakters wegen wurde dieser Bereich zunächst als cultural industries bezeichnet und damit eine interessante Nähe zur Industrie im Begriff festgehalten. Die Erkennt­ nis blieb zunächst folgenlos, auch weil die Tory-Regierung unter Margaret Thatcher den deutlich links stehenden Greater London Council im Jahr 1986 auflöste. Erst fünfzehn Jahre später wurde dann aus dieser offenkundigen Er­ kenntnis das politische Konzept eines » Creative Britain « (Chris Smith 1998) und von da an nahezu ein Heilsversprechen schließlich, spätestens mit der Formierung einer kreativen Klasse (Richard Florida 2002 a) ein auch für die Politik in den Staaten und Regionen Europas zugängliches Betätigungsfeld. Immerhin ist die Kreativwirtschaft heute ein fester Bestandteil der poli­ tischen Rhetorik. Aber noch immer mäandert der Diskurs zwischen Stadt­ entwicklung und Künstlertum, pendelt zwischen Zukunftsversprechen und Nischendasein. Als derzeit größtes Problem der Kreativwirtschaft stellt sich dann auch der Umstand dar, dass sie seit ihrer » Entdeckung « zwischen Kultur- und Wirtschaftspolitik fest hängt. Der einen Seite fällt die Erkenntnis schwer, dass dem kulturellen Bereich zugerechnete Leistungen im Rahmen eines Marktgeschehens erbracht werden. Die andere Seite beargwöhnt Kreative, deren Künstlertum sich um Vieles sorgt, nicht jedoch um ein betriebs­ wirtschaftliches Ergebnis. Vor dem Hintergrund dieses lähmenden Patts hat sich eine Allianz aus Stadtsoziologen und Wirtschaftsgeografen des Themas angenommen und sich zwischen Studien, Strategieempfehlungen und Kongressen eingerichtet. So ist nach einem inzwischen mehr als zwei Jahrzehnte umfassenden Diskurs noch immer Vieles unklar, allen voran der Begriff selbst, der im Zentrum der Debatte steht. Zwar schuf schon das britische Department of Culture, Media and Sport im Jahr 1998 eine erste Definition der creative industries als : » [...] those industries which have their origin in individual creativity, skill and talent and which have a potential for wealth and job

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creation through the generation and exploitation of intellectual property « (DCMS 2001 : 3), in der die wirtschaftliche Orientierung deutlich wird und » Kreativität « zum prägenden Merkmal eines neu konzipierten Wirtschafts­ zweiges avanciert. Die deutsche Politik zog im Jahr 2009 nach, als sich die Wirtschaftsminister der Länder darauf verständigten, unter Kultur- und Kreativwirtschaft diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen zu erfas­ sen, die überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und / oder medialen Verbreitung von kulturellen / kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen (Endbericht 2009 : XI). Aber was genau die Wirtschaftsbereiche sind, die ihren Ursprung in der individuellen Kreativität haben bzw. sich mit der Produktion kultu­ reller Güter befassen, lässt sich doch nicht willkürfrei ermitteln. Und so braucht diese Definition noch einen » Leitfaden für die statistische Daten­ grundlage « (Söndermann 2009), der dann die – jedenfalls für die Wirt­ schaftspolitik – gegenwärtig relevante Einteilung in elf Teilmärkte vorgibt. Dabei stellen diese Begriffe die Kreativwirtschaft als einen abgegrenzten eigenen Wirtschaftsbereich vor, in dem eigene Güter erzeugt oder Dienst­ leistungen geschaffen werden. Das ist einerseits nicht unbedingt falsch, bildet aber andererseits nur einen Teil der zur Branche zusammen­gefassten Teilmärkte ab. Unberücksichtigt bleiben die vielfältigen Verflechtungen zwischen Unternehmen aus der Kreativwirtschaft und Unternehmen aus anderen Branchen. Zugleich wird mit dieser Begriffsbestimmung die Ab­ grenzung in einer Schärfe vollzogen, die mit dem vorgestellten Charakter der Kreativwirtschaft als Querschnittsbranche, die nicht nur unterschied­ liche Wirtschaftsbereiche vereinigt, sondern auch unterschiedliche Be­ tätigungsfelder von der Produktion bis hin zur Dienstleistung, schwer zu vereinbaren ist. Vor allem aber bleibt trotz aller Definitionsbemühungen die Frage offen, ob sich im Zuge der statistischen Ableitung tatsächlich eine eigene Wirtschaftsbranche konstruieren lässt und wie diese in oder neben anderen Konzepten wie zum Beispiel dem der Unternehmensdienst­ leistungen als Teil des Dienstleistungssektors oder des volkswirtschaft­ lichen Quartärsektors bestehen kann. So bleibt letztlich unbeantwortet, ob durch die zum Wesensmerkmal der Branche erklärte Heterogenität zuletzt nicht doch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen den einzel­ nen Teilbereichen gegeben sind, die ein einheitliches Branchenverständnis ausschließen. Jedenfalls liegen die Gemeinsamkeiten zwischen der Pro­ grammierung einer App und dem Verkauf einer Geige nicht auf der Hand. Vielleicht war die Debatte vor einem Jahrhundert doch schon weiter, indem

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von einer Kulturindustrie gesprochen wurde, wenn die Produktion beson­ ders künstlerisch beeinflusster Güter gemeint war (van de Velde 1910 :  77), was im Hinblick auf die Dominanz des Designs in der gegen­wärtigen Debatte zur Kreativwirtschaft auch heute durchaus nicht ohne Berechti­ gung ist. So muss auch eine Abkehr vom gegenwärtigen Begriffsverständnis für die Zukunft nicht ausgeschlossen sein, etwa zu Gunsten einer Ausdifferen­ zierung in Kultur- bzw. Kreativindustrien einerseits, in denen gestaltende bzw. künstlerische Tätigkeiten maßgebend sind, die in Produkte münden und in Unternehmensdienstleistungen auf der anderen Seite, die anderen Branchen zur Verfügung stehen und die dabei auch kreative / künstlerische Dienstleistungen einschließen. In jedem Fall ist nach den inzwischen gewonnenen Erfahrungen ein Be­ griffsverständnis notwendig, das bei allen Besonderheiten weniger auf Abgrenzung abstellt, sondern auf die Verbindungen zu den anderen Be­ reichen. Die Kreativwirtschaft muss deshalb nicht unbedingt als eigene Branche begriffen werden. Sie ließe sich auch als ein Konzept vorstellen, das diejenigen Bereiche des produzierenden Gewerbes, des Handwerks bzw. der Dienstleistungswirtschaft umfasst, die sich mit der Herstellung kultureller / kreativer Produkte und der Erbringung entsprechender Dienst­ leistungen beschäftigen bzw. entsprechende Produkte an Dritte vermitteln.

Die Kreativwirtschaft in der Wirtschaftsordnung Wenn die Wirtschaftspolitik ernsthaft die Unterstützung der Kreativwirt­ schaft als Branche im Blick hat, muss sie die Kreativwirtschaft innerhalb des Systems Wirtschaft akzeptieren und sie vor allem integrativ betrach­ ten. Davon ist ein großer Teil der Debatte derzeit noch weit entfernt. Denn einer der Mythen in der Debatte um die Kreativwirtschaft ist die Annahme, die Branche sei Vorreiter einer Entwicklung hin zu einer wissensbasieren­ den Ökonomie oder auch einer Wissensgesellschaft (Endbericht 2009 :  X). Zuweilen wird die Kreativwirtschaft auch schon weitergehend als Teil­ bereich der Wissensökonomie verortet (Zillmer 2009 : 23) oder auch als zweite Basis neben einer Wissensökonomie in einem System, in dem der wesentliche ökonomische Vorteil aus einem Leistungsaustausch zwischen diesen beiden Basen folgen soll (Thierstein et al. 2009 : 66). Diese Diskussion bezieht ihre Schwäche aus einer Ungenauigkeit in der Handhabung der Begriffe Industrie, Wirtschaft und Gesellschaft und einer

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wirtschaftsgeschichtlichen Ignoranz. Tatsächlich wird die Kreativwirtschaft auch in Zukunft nicht die Industrie ablösen. Der sich in einem solchen Kon­ zept einer sog. Wissensgesellschaft verbergende Marxsche Ansatz einer Evolution der Produktionsverhältnisse hat zwar bis heute nichts von seiner Faszination verloren, jedoch einiges an Evidenz. Für die Politik sind solche Diskurse fatal und folgenschwer. So hat sich die in den späten 1990er Jahren von New Labour aus geführte Debatte um die Umwandlung einer als alt abgewerteten Industriegesellschaft in eine Dienstleistungs- oder Wissens­ gesellschaft als Fehleinschätzung erwiesen, deren Folgen jetzt mühsam umgekehrt werden sollen, wobei offen ist, ob das überhaupt gelingen kann. Tatsächlich stehen Industrie und Wissen in keinem Gegensatz. Die Be­ deutung von Wissen in einer Gesellschaft drückt sich deshalb auch nicht in der Größe des Anteils der Industrieproduktion an der Volkswirtschaft aus. Ein überzeugendes Konzept der Wissensgesellschaft ist vielmehr der UNESCO gelungen, die für das Wesensmerkmal einer Wissensgesellschaft oder besser wissensbasierenden Gesellschaft allein die Teilhabemöglichkeit am Wissen hält, insbesondere bezogen auf die Ausgestaltung des Zugangs zum Wissen (UNESCO 2005 : 17). Eine auf Wissen basierende Gesellschaft unterscheidet sich demnach von anderen Gesellschaftsformen durch den allgemeinen, freien Zugang zu Wissen und Inhalten, maßgeblich gesichert durch moderne Kommunikationswege und effektiven Schutz individueller Freiheitsrechte, gerade auch des Rechts auf Information. Über die Volks­ wirtschaft unmittelbar sagt das Konzept nichts aus. Und es ist auch in einer Diktatur beides, sowohl eine starke Industrie als auch eine starke Dienst­ leistungswirtschaft, denkbar, wobei natürlich in einer Gesellschaft, die den Zugang zu Wissen möglichst frei ausgestaltet, davon ausgehende positive wirtschaftliche Effekte erwartet werden können, soweit ein angemessener Ausgleich zwischen geistigem Eigentum und der Nutzungsmöglichkeit von Ideen besteht. Das Modell der wissensbasierenden Gesellschaft hat demnach lediglich mittelbar einen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Ausge­ staltung des Wirtschaftssystems. Umgekehrt ist für die Wirtschaft, gerade auch für die Kreativwirtschaft, die Ausgestaltung der Verfügbarkeit von Wissen relevant, vor allem dort, wie die Wirtschaft selbst Inhalte schafft und wirtschaftlich verwertet. Anders gesprochen : Eine Zensur wird sich im­ mer einschränkend auf den Buchmarkt auswirken ebenso wie freie Daten­ netze Innovationsprozesse, die Elemente des crowdsourcing aufnehmen, begünstigen können.

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Letztlich entscheidend ist deshalb für die wirtschaftliche Entwicklung, wie das verfügbare und zugängliche Wissen in das System Wirtschaft gelangen kann, wobei die wichtigsten Schnittstellen zum einen über Kooperationen im Rahmen von Innovationsprozessen, zum anderen beim Zugang zu Fach­ kräften entstehen. Die Industrie ist deshalb nicht nur noch immer, sondern wird auch und muss auch in Zukunft die Basis der Wirtschaft sein. Dienstleistungen, ein­ schließlich die in der Kreativwirtschaft enthaltenen, können nicht die Rolle übernehmen, die der Industrie innerhalb des Wirtschaftssystems zukommt, wenn nicht der Wohlstand und der als sozial verstandene Fortschritt gefähr­ det werden sollen. In Deutschland jedenfalls hat sich der Anteil des produ­ zierenden Gewerbes (ohne Baugewerbe) an der Bruttowertschöpfung in den letzten 20 Jahren nur von 30 Prozent im Jahr 1991 auf 26 Prozent im Jahr 2011 verringert (Statistisches Bundesamt 2012 : 324), der Anteil des produ­ zierendes Gewerbes am gesamten Bruttoinlandsprodukt ist mit erreichten 26,2 Prozent im Jahr 2011 nahezu konstant geblieben (Statistisches Bundesamt 2012 b). Zwar sind vormalige Industriereviere seit langem in einem wirt­ schaftlichen Umbruch und zudem ganze Produktionsbereiche in dieser Zeit aus Deutschland verschwunden. Doch lässt sich aus heutiger Sicht nicht ein­ mal sicher prognostizieren, dass dieser Trend anhält oder unumkehrbar ist. Eher fand eine Verschiebung innerhalb des produzierenden Gewerbes statt, so dass jedenfalls teilweise die Art der produzierten Güter sich änderte und neue Warenproduktionen die Verluste kompensieren. Dabei muss es Ziel der Wirtschaftspolitik sein, gegebenenfalls steuernd darauf hinzuwirken, die Sicherung der gewerblichen Produktion durch eine Anpassung an geeignete Wachstumsfelder vorzunehmen. Aus gutem Grund hat sich deshalb auch die EU zum Ziel gesetzt, den Anteil der Industrie am BIP von derzeit 16 Prozent im europäischen Durchschnitt auf 20 Prozent bis zum Jahr 2020 zu steigern, da eine solide Industriebasis die Grundvoraussetzung für den Wohlstand Europas darstellt (EU-Mitteilung 2012 : 4). Im Ergebnis besteht deshalb die Aufgabe nicht darin, die Industrie abzuschaffen, sondern vielmehr diese in ihrer Fortentwicklung zu unterstützen und letztlich nicht weniger als eine dritte industrielle Revolution zu initiieren, in deren Rahmen es darum gehen wird, Wachstum von Ressourcenverbrauch zu entkoppeln (BMU 2008 :  7) und Fortschritt immer auch in seiner sozialen und gesellschaftlichen Dimen­ sion zu denken. Für die Debatte um die Kreativwirtschaft bedeutet dies, ein Umdenken vorzunehmen. Die Kreativwirtschaft lässt sich eben nicht als Teil eines

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postulierten neuen Wirtschaftssystems in einem postindustriellen oder postfordistischen Zeitalter verstehen. Ein zielführender Ansatz muss da­ von ausgehen, die Kreativwirtschaft nicht zuletzt dort, wo sie künstlerisch-­ gestalterisch tätig ist, in einer Verbindung mit dem produzierenden Ge­ werbe zu verstehen, auch und gerade in Zeiten der Digitalisierung von Prozessen. Denn die Kreativwirtschaft hat eben nicht nur in einem post­ fordistischen Sinne die Fertigung in Kleinserien oder Einzelstücken zum Gegenstand. Kreativwirtschaft findet darüber hinaus auch in den schon vor 100 Jahren sogenannten Kulturindustrien statt, also in allen gewerb­ lichen Bereichen, in denen Güter letztlich für den Endverbraucher produ­ ziert werden. Es ist nicht zuletzt diese Dienstleistungsfunktion vieler Teilbereiche der Kreativwirtschaft für andere Branchen, insbesondere die Industrie, die zu einem nicht geringen Teil die wirtschaftliche Bedeutung der Branche aus­ macht, auch wenn selbstverständlich in der Vielfalt der Teilmärkte auch eigene Märkten unmittelbar bedient oder sogar ganz neu geschaffen werden. Und schließlich unterscheiden sich die Organisationsformen und Produk­ tionsbedingungen in der Kreativwirtschaft letztlich doch nicht so signi­ fikant von denen in anderen Branchen, selbst dort, wo in den einzelnen Teilmärkten der Kreativwirtschaft nicht mehr eine Produktion realer, also physischer Güter, erfolgt, sondern symbolische Güter oder gar Güter und Werte in digitalen Netzen generiert werden. Die Wirtschaftspolitik ist deshalb gefordert, die Kreativwirtschaft in einem engeren Sinne als » normale « Branche ernstzunehmen, die sich in die bestehende Wirtschaftsordnung fügt und mit den anderen Branchen eng verflochten ist.

Kreativwirtschaft und Industrie An diesem Punkt zeigt sich eine erstaunliche Geschichtsvergessenheit in der aktuellen Diskussion. Das Paradigma einer » jungen « Branche, das sich aus der kaum zwei Jahrzehnte umfassenden Diskussion zur Kreativwirt­ schaft ableitet, verstellt den Blick auf wirtschafts- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge. Vieles von dem, was in der Diskussion um die Kreativ­ wirtschaft als neuartig und zukunftsweisend bewertet wird, gehört in Wirklichkeit zum festen Erfahrungsschatz der Wirtschaftsgeschichte und stellt sich als Variante erstaunlich stabiler Problemlagen dar, zu denen

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schon unterschiedliche Lösungsstrategien entworfen wurden und nutzbare Erkenntnisse vorliegen. Die klassischen kulturellen Felder, die heute von der Kulturpolitik bedient werden, sind seit langem mit Märkten verbunden und haben sich häufig erst in Märkten zur kulturellen Blüte entwickelt. Der Künstler selbst tritt bis weit in das 19. Jahrhundert hinein als Handwerker auf und es war eine der tragenden Ideen des Weimarer Bauhauses, ihm diese Rolle wieder zuzuweisen. Die Malerateliers der italienischen Renaissance waren straff organisierte Manufakturen. Die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts war in Moti­ ven und Gattungen klar von einem Markt geleitet. Die literarische Produk­ tion im ausgehenden 18. Jahrhundert ist von verschiedenen wirtschaft­ lichen Strategien begleitet, die Schriftsteller teilweise in Gegnerschaft zu den Verlegern entwarfen. Das Theater basiert in seinem Grunde zumindest seit der Neuzeit auf kommerziell orientierten Compagnien. Und auch die Musik entwickelte sich schon vor der Erfindung von Radio, Fernsehen und Internet in erwerbswirtschaftlichen Strukturen, die in freien Komponisten wichtige Akteure und mit konzertierenden Virtuosen seit Franz Liszt auch Großverdiener kennt. Nicht die Kreativwirtschaft ist also ein junges Phäno­ men, sondern eine Kulturpolitik, die diesen sowohl volkswirtschaftlich als auch kulturell relevanten Bereich ausklammert. Vor allem bleibt aber in der bisherigen Debatte weitgehend außer acht, wie eng die Kreativwirtschaft mit der Industrie und der Industrialisierung verbunden ist, obwohl sich darin die zweite Säule der Kreativwirtschaft als Dienstleistungsbranche abbildet und die Entwicklung der Kreativwirt­ schaft tatsächlich erheblich von der Entwicklung der Industrie abhing und abhängt. Nicht zufällig findet sich eine erste intensive Diskussion von Indust­ rie und Kreativwirtschaft in der Zeit der Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Begriff der Kreativwirtschaft war damals zwar noch unbekannt, nicht aber die Bedeutung kreativer Dienstleistungen für die industrielle Massenfertigung. Denn mit der Massenproduktion erschloss sich dem gerade noch romantisierten Künstler als Formenbauer, später als Designer, ein neues Betätigungsfeld. Das rasant wachsende Produkt­ angebot erschuf den Werbemarkt und damit einen bis heute wirtschaft­ lich bedeutsamen Bereich der Kreativwirtschaft. Und auch wenn heute der Ingenieur als das Sinnbild der industriellen Entwicklung erscheint, so wurde doch schon vor über 100 Jahren die Wertigkeit der industriell gefertigten

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Produkte nicht nur aus einer technischen Neuerung abgeleitet, sondern auch aus funktionalen und ästhetischen Verbesserungen in Material, Aus­ führung und Gebrauchswert. Diese frühe Verbindung zwischen der Fertigkeit des Künstlers und dem Ziel der Massenfertigung führte zur Wortschöpfung des Kunstgewerbes bzw. der angewandten Kunst. Allerdings war diese Verbindung zwischen Form und Produkt kein sich selbstverständlich einstellendes System. Ein großer Teil der industriellen Produktion verzichtete auf die Einbeziehung kultureller / kreativer Dienstleistungen – meist aus Kostengründen – und produzierte Waren von mangelhafter Qualität. Das führte zum einen zur sich europaweit ausbreitenden Arts and Craft-Bewegung, die den Wert des Handwerks gegen die Industrieproduktion propagierte und zum Kunst­ gewerbe das Kunsthandwerk schuf, wobei es erstaunliche Parallelen zur derzeit aufkommenden Do-it-yourself-Bewegung gibt, welche die indust­ rielle Massenfertigung durch individuell produzierte Güter zu ersetzen hofft. Vor allem führte die mangelhafte Produktionsqualität, welche die Wettbe­ werbsfähigkeit gerade der deutschen Industrie bedrohte, zu einer frühen Intervention der Wirtschaftspolitik, als dessen Ergebnis Ausbildungssys­ teme, Beratungsstellen sowie Messe- und Ausstellungsformate geschaffen wurden, die alle zum Ziel hatten, die gewerbliche Produktion durch die Ein­ beziehung kreativer Dienstleistungen bzw. handwerklich-­kultureller Fertig­ keiten zu verbessern. Thüringen war in dieser Frage zwar kein Wegbereiter, aber für die weitere Entwicklung ein Vorreiter. Ein wichtiger Schritt war die Berufung des Ma­ lers und Architekten Henry van de Velde als Berater für Kunstgewerbe und Industrie nach Weimar im Jahr 1902. Mit dem von ihm geschaffenen Kunst­ gewerblichen Seminar als zentrale Beratungs- und Servicestelle für Indus­ trie und Handwerk in Thüringen, die der Einbeziehung künstlerischer bzw. kreativer Leistungen in die Entwicklungs- und Fertigungsprozesse diente, wurde in Thüringen begonnen, systematisch die Verbindung zwischen Handwerk, Industrie und Kreativwirtschaft zu erschließen. Es folgte die Einrichtung einer Kunstgewerbeschule als Qualifizierungsmöglichkeit für die Fachkräfte in Industrie und Handwerk und zur Ausbildung künstlerischkreativer Berufe und schließlich, in der Nachfolge dieser Schule, im Jahr 1919 die Gründung des Bauhaus in Weimar. In seinem Gründungsmanifest nimmt sich auch das Bauhaus die Heraus­ lösung der Kunst aus ihrer selbstgenügenden Eigenheit als » Salonkunst « und die Rückbesinnung auf die Einigkeit von Kunst und Handwerk vor. Auch

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wenn im Rahmen der Gründung dieser bis heute bedeutsamen Schule für Gestaltung zunächst der Bau das Ziel aller Aktivitäten war, kam der Verbin­ dung zur Industrie schon bald erhebliche Bedeutung zu. Schon van de Velde sah Kunst selbstverständlich in einem wirtschaft­ lichen Kontext. Seine Auffassung gipfelte in dem Aufruf, aus Künstlern Kunstindustrielle zu machen. Das beruhte auf der Ansicht, dass sich die Kunst als ein Stil zeigt, der auf eine gesellschaftliche Wirkung gerichtet ist, unabhängig vom Produkt, in dem sich der Stil realisiert. Nicht der Beuys­ sche Ansatz » Jeder ist ein Künstler « war die Basis, sondern der demokra­ tische Ansatz, das Kunst für jeden erreichbar sein soll und jeder einen An­ spruch auf qualitativ ansprechende und ästhetische Produkte hat, auch wenn diese einer industriellen Massenfertigung entspringen. Die gesell­ schaftliche Verantwortung des Künstlers, die Sozialbezogenheit der Kunst, beschränkt sich nicht auf die Museen und Ausstellungsräume, sondern er­ hält einen ganz praktischen und im Alltag eines jeden wirksamen Bereich. Es ist durchaus lohnend, diese noch immer revolutionäre Auffassung in der aktuellen Diskussion um die Kreativwirtschaft aufzugreifen und damit auch das Verhältnis zwischen der bildenden Kunst und dem Design neu zu justieren, bis hinein in die sozialen Sicherungssysteme. Schon im Bauhaus wurde ein solches Verständnis des Künstlers nicht nur in einem ästhetischen Programm sondern auch in einer wirtschaftlichen Dimension zur Basis eines bis heute nachwirkenden Erfolges. Das Neue, was das Bauhaus brachte, war dann auch gar nicht der Stil allein, sondern die auch in der Schule selbst gelebte Verbindung von Handwerk und Künst­ lern, von Industrie, Kultur und anzustrebendem wirtschaftlichen Erfolg. Im Grunde kulminiert im Bauhaus damit zum ersten Mal das Ideal einer an einem gesellschaftlichen Bedarf orientierten industriellen Produktion. Seitdem hat sich die Diskussion nicht wesentlich weiter entwickelt. Bezogen auf die branchenübergreifenden Effekte der Kreativwirtschaft beherr­schen noch immer das Design und die Werbung das Bild. Dabei muss eine wirtschaftspolitische Debatte zur Kreativwirtschaft im Grunde hier beginnen. Denn dieser seit nunmehr über 90 Jahren gültige Befund muss ein Ausgangspunkt sein, nicht aber schon das Ziel. Die Aufgabe der Wirt­ schaftspolitik ist es darum, den engen Bezug der Kreativwirtschaft zur Industrie anzuerkennen und dabei die Grundkonstellation, von der das Bau­ haus ausging, für das 21. Jahrhundert neu zu beschreiben. Die Computertechnik, das Internet, aber auch die heute bestehenden Ferti­ gungsmöglichkeiten fordern nicht zu einer Überprüfung der Frage­stellung

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heraus, aber doch zu einer Überprüfung von Antwortmöglichkeiten. Es ist deshalb nicht die Aufgabe der Debatte, einen Gegensatz von Kreativwirt­ schaft und Industrie herbeizureden oder Unterschiede herausarbeiten zu wollen. Vielmehr müssen die Verbundenheit der Branchen aufgezeigt und die Verflechtungen und Wechselwirkungen neu austariert werden. In der Tradition der kunstgewerblichen Initiativen und des Bauhauses ist eine auf die Zukunft orientierte Vision einer Kreativwirtschaft zu entwerfen. Es be­ darf dann keiner visionären Kraft, um anzunehmen, dass das Bauhaus für das 21. Jahrhundert, die neue Werkgemeinschaft, jedenfalls und zu allererst ein digitales Bauhaus in einer industriebasierenden Wirtschaftsordnung sein wird.

Kreativwirtschaft und die Zukunft der Arbeit In der Debatte um die Kultur- und Kreativwirtschaft wird gerne auch ein neues Verständnis von Arbeit angenommen, das der Branche immanent sein soll. Arbeitnehmer und vor allem Selbständige in den Teilmärkten der Kultur- und Kreativwirtschaft werden zu » Kreativen « . Diese, so eine ge­ läufige Annahme, bilden einen neuen sozialen Typus. Wortschöpfungen wie » Solo-Selbständige « sollen die Sonderrolle betonen, die den Akteuren in den Teilmärkten der Kultur- und Kreativwirtschaft zukommt. Das Kon­ zept der Kreativität als ein schöpferischer Prozess, wie er für den neuen Typus des Kreativen kennzeichnend sein soll, knüpft dabei unmittelbar an den Typus des Künstlers an, wie er in der Moderne ausgeformt wurde (von Osten 2008 : 42), nun modifiziert in der Gestalt des » digitalen Boheme « (Friebe / Lobo 2006). Das neue Rollenbild des Kreativen widerspiegelt dann auch die typischen Attribute des Künstlertums : Selbstbestimmung, Spon­ tanität, Unangepasstheit. Dort, wo dann innerhalb der Kreativwirtschaft gearbeitet wird, werden flexible oder auch hybride Arbeitsprozesse als Kennzeichen der Branche formuliert und zugleich als zukunftsorientierte Arbeits- und Geschäfts­ modelle vorgestellt (Forschungsbericht 2009 : 3). Allerdings gehen all diese Darstellungen bisher über die bloße These oder den Einzelfall nicht hinaus und bleiben vor allem schlagwortartig und oberflächlich. Ein wirklich sozia­ ler Diskurs wird daraus nur selten abgeleitet. Der kurze Weg von der Kreativwirtschaft zu den Kreativen lässt außer Acht, dass in den meisten Teilmärkten der Kultur- und Kreativwirtschaft klassische Unternehmen mit »  normalen  « Beschäftigungsverhältnissen,

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sog. Normalarbeitsverhältnissen, jedenfalls in der zweiten Stufe der Wert­ schöpfung, der Verwertungsstufe, dominieren und die Freiheit in diesen Beschäftigungsverhältnissen nicht unbedingt weiter geht als in anderen Bereichen des produzierenden Gewerbes. Verlage, Handelsunternehmen, selbst Architekturbüros oder Softwareunternehmen unterscheiden sich praktisch in der Form der Arbeitsorganisation nicht signifikant von ande­ ren Produktions- und Dienstleistungsunternehmen, auch wenn aktuelle Erkenntnisse über eine zeitgemäße Gestaltung des Arbeitsplatzes in den Unternehmen der Kreativwirtschaft heute womöglich schneller und besser zum Einsatz kommen. Und auch die angenommene Affinität zu flexiblen Arbeitsformen oder hybriden Arbeitsprozessen ist keine feste Größe oder gar Besonderheit der Kreativwirtschaft, sondern kennzeichnend für alle projektbezogenen Formen der Kooperation insbesondere bei höherwertigen Dienstleistun­ gen, unabhängig davon, ob diese innerhalb eines Innovationsprozesses in der klassischen Industrie, im Rahmen der Mandatsbearbeitung in einer Großkanzlei oder bei einer Filmproduktion stattfinden. Und wie sich mit Blick auf die Idee des Weimarer Bauhauses zeigt, gibt es diese » hybriden « Arbeitsprozesse schon seit Jahrhunderten, nicht zuletzt im Baugewerbe. Als Arbeitsmodell der Zukunft lassen sie sich im selben Maße postulieren wie die Ablösung der Industrie- durch eine Wissensgesellschaft – im Grunde also gar nicht. Dabei ist auch zu bedenken, dass solche hybriden Arbeits­ formen nicht per se als vorteilhaft angesehen werden, sondern den Erfolg eines Unternehmens auch gefährden können (Piantak et al. 2002). Letztlich ist natürlich das Thema Arbeit und Beschäftigung auch für die Kreativwirtschaft relevant. Der Wirtschaftspolitik kommt dabei indes die Aufgabe zu, nicht eine Sonderrolle der Kreativwirtschaft zu begründen, sondern sie in die Überlegungen zur Zukunft der Arbeit einzubeziehen. Auch hier war die Debatte vor 100 Jahren bereits weiter. Denn die Vor­ denker der Kunstgewerbe-Bewegungen setzten sich tatsächlich intensiv mit der gesellschaftlichen Wirkung von Arbeit bzw. Arbeitsformen aus­ einander. Nicht zufällig kommen dabei die großen Debatten politisch von Links, sehen sich die Vordenker, von Morris bis van de Velde, im Einklang mit sozialen Entwürfen. Ähnlich der Demokratisierung der Kunst, der sich alle Strömungen seit dem Arts and Craft Movement verpflichtet sahen, ist es immer wieder auch die Forderung nach humanen Arbeitsbedin­ gungen, welche in der Debatte geltend gemacht wird verbunden mit der Forderung nach einer Verbesserung der Lebensbedingungen. » When we

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talk of bringing art to the homes of the people, it would be well first to see that they had got homes «, schrieb etwa Walter Crane unter der Über­ schrift » Arts an Social Democracy « in einem der zentralen Werke der frühen Kunstgewerbe­bewegung (Crane 1892 : 142). Und er verband diese Einschät­ zung mit einem Plädoyer für gerechte Löhne. Auch van de Velde, der sich unmittelbar auf Crane bezog, begleitete seine Ideen zur Verbesserung der Kunstindustrie mit der Auffassung, dass die als frei organisiert angesehene Arbeit in den (handwerklichen) Kulturindustrien der als inhuman empfunde­ nen Fabrik­arbeit vorzuziehen sei und zwar maßgeblich aus dem Grund, da die eine mit Freude getan, die andere als Strafe empfunden werde (van de Velde 1901 : 143 f.). Neben der Verbindung von guter Arbeit und Lohnpolitik weist van de Velde zur Recht darauf hin, dass es ein sozialpolitisches Anlie­ gen sein muss, den Menschen eine positive Identifikation mit ihrer Berufs­ tätigkeit zu ermöglichen. Hier sollte die Debatte heute wieder anschließen. Es sind dann nicht äu­ ßere Erscheinungsformen einer » hybriden « Arbeit oder Fragen der Organi­ sation eines Tagesablaufs, die es im Kontext der Kreativwirtschaft zu disku­ tieren lohnt, sondern Fragen nach der guten Arbeit, der gesellschaft­lichen Bedeutung von Arbeit und der Sinnhaftigkeit, welche eine Erwerbstätigkeit dem einzelnen vermitteln kann, mithin wieder Fragen, die näher an Sozial­ ethik und humanistischen Entwürfen orientiert sind als an der bloßen Betriebs­organisation. In einem solchen Diskurs kann die Kreativwirtschaft tatsächlich eine bedeutende Rolle einnehmen. Eine solche Debatte kann dann auch unmittelbar einbezogen werden in den Diskurs um ein zeitgemäßes Konzept von Fortschritt. Die in diesem Kon­ text heute zusätzlich relevanten Fragen sind auch für die Kreativ­wirtschaft solche nach der Teilhabemöglichkeit am Erwerbsleben, der Integration in das Erwerbsleben, der Fachkräftesicherung und der Flexibili­sierung zur Anpassung der Arbeitsumgebung an individuelle Lebensumstände. Hinzu kommen Fragen der sozialen Absicherung bei Erwerbsformen, die einer ab­ hängigen Beschäftigung ihrem Wesen nach näher sind als einer selbstän­ digen Tätigkeit und auch in diesem Zusammen­hang die Frage nach dem Wert der Arbeit, der sich in angemessenen Honoraren für kreative Dienst­ leistungen ebenso widerspiegeln muss wie in Erwerbseinkommen, die ein Auskommen sichern. Das Thema gute Arbeit ist für die Kreativwirtschaft wie für alle anderen Branchen auch in Zukunft eine zentrale Aufgabe und nicht nur ein wirt­ schaftliches Gebot, sondern auch ein gesellschaftlicher Auftrag, mag es

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dann auch zum individuellen Empfinden guter Arbeit gehören, einen Teil des Arbeitstages in einer Büro-Lounge zu verbringen.

Kreativwirtschaft jenseits der Metropolen Schließlich ist ein Leitmotiv in der Debatte um die Kreativwirtschaft ihre angenommene Bedeutung für urbane Transformationsprozesse. Es ist ein empirischer Fakt, dass die Stadtstrukturen, wie sie sich in der Zeit der Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert haben, den ökonomischen Gegebenheiten nur noch eingeschränkt entsprechen. Groß­ flächige Altindustrieanlagen einerseits und neue Gewerbeparks an den nunmehrigen Stadträndern andererseits eröffnen in den Innenstädten die Chance zur Wiederansiedlung von Unternehmen aus Dienstleistungsbran­ chen (einschließlich Kreativwirtschaft) und Handel, aber auch neue Formen des produzierenden Gewerbes und damit zur Schaffung einer Verbindung von Arbeiten und Wohnen in räumlicher Nähe. Mit den Teilmärkten der Kreativwirtschaft, aber vor allem auch mit den Kreativen selbst wird nun die Hoffnung auf eine entscheidende positive Einflussnahme auf derartige Transformationsprozesse verbunden. Als Grundlage der diesbezüglichen Diskussion dient dabei das Modell der kreativen Stadt (creative city), wie es von Landry (Landry / Bianchini 1993) und Florida (2002 a) aus jeweils eigener Perspektive maßgeblich vermittelt wird. In diesem Konzept wird Kreativität beinahe zum Überlebensfaktor für Städte und Regionen aufgewertet und die der Kreativität innewohnende Innovationsfähigkeit nicht nur für Wirtschaftsunternehmen, sondern auch für Städte und Regionen als entscheidender Wettbewerbsfaktor formuliert (Danielzyk et al. 2008). Allerdings sind die Diskurse zu den Transformationsprozessen in der Wirtschaft und den Auswirkungen auf die Stadtentwicklung nicht wirklich neu und vor allem nicht an die Kreativwirtschaft als Branche gekoppelt. Zwar wurde bereits in den 1980er Jahren etwa durch die New England Foundation of the Arts (NEFA) die möglichen Auswirkungen bestimmter kreativwirtschaftlicher Branchenansiedlungen für die Stadtentwicklung diskutiert. Diese Debatte führte in einem vorläufigen Ergebnis zu der Ein­ schätzung, » that a relatively higher concentration of creative enterprises and creative workers in a geographic area yields a competitive edge by elevating the area’s quality of life and improving its ability to attract economic activity « (NEFA 2007).

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Allerdings liefen ähnliche Überlegungen auch für Branchen außerhalb der Kreativwirtschaft. Boomregionen wie das Silicon Valley waren Anlass, über den Einfluss neuer Wirtschaftsbereiche und vor allem neuer Inter­ aktionsformen zwischen Unternehmen auf die regionale Entwicklung nachzudenken. Entscheidende Bedeutung wurde in dieser Debatte dem Begriff des Milieus zur Beschreibung von neuen Formen der Wirtschafts- aber auch Sozialbeziehung beigemessen und dabei die Bedeutung informeller Netz­ werke zwischen den wirtschaftlichen Akteuren als tragendes Kriterium dieser Milieus betont (Aydalot / Keeble 1988 : 26). Dem Milieu, nicht nur der Kreativwirtschaft, kommt nach diesem Ansatz ein entscheidender Anteil an der Generierung von Innovationen zu. Begrifflich bestimmt wird ein sol­ ches Milieu als » the set, or the complex network of mainly informal social relationship on a limited geographical area, often determining a specific external › image ‹ and a specific internal › representation ‹ and sense of belonging, which enhance the local innovative capability through synergetic and collective learning processes « (Camagni 1991 : 3). Basis für das Inno­ vationspotential des Milieus ist demnach die als neu beschriebene soziale und damit personale Beziehungen der Unternehmer untereinander, aber auch von Unternehmern und zum Beispiel Hochschulangehörigen, die wirt­ schaftliche Austauschprozesse ergänzen. Auch hier ist es wiederum weniger zielführend, die Kreativwirtschaft in ihrer angenommenen Besonderheit zu positionieren als vielmehr ihre Integration in das Wirtschaftssystem anzu­ nehmen und sie deshalb innerhalb solcher komplexer Milieus zu denken. Damit werden zum einen weitergehende Formen der Kooperation im Mo­ dell mit erschlossen und kann zum anderen dem Umstand Rechnung ge­ tragen werden, dass bei aller Definition und statistischen Abgrenzung eine wirklich verbindliche Branchenabgrenzung gar nicht möglich ist. Insoweit ist das stark rezipierte und inzwischen auch häufig kritisierte Werk des amerikanischen Politikwissenschaftlers und Stadtforschers Richard Florida » The rise of the creative class « (2002 a) in seinen Ansätzen durchaus interessant angelegt, auch wenn es zum Kreativwirtschaftsdiskurs keine entscheidenden Aspekte beitragen kann, im Übrigen auch nicht will. Da­ bei geht es Florida gar nicht um die Bedeutung der Kultur oder den volks­ wirtschaftlichen Wert der Kreativwirtschaft. Er knüpft vielmehr eher an die oben skizzierte gesellschaftspolitische Diskussion um die Transformation der Industriegesellschaft in eine neue Form der Gesellschaft an. Im Zen­ trum seiner Überlegungen steht die Frage, an welchen Bedingungen sich

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künftig die Wachstums- und Entwicklungschancen von Städten orientieren, welche Kriterien also darüber entscheiden, ob eine Stadt prosperiert. In die­ sem Kontext erschafft Florida mit dem Begriff der creative class einen der populärsten Begriffe für die weitere Debatte um die Kreativwirtschaft und deutet das Prinzip der creative city neu. Dabei war der Begriff der creative city schon ein Jahrzehnt vor Florida durch Charles Landry in die Debatte eingebracht und von diesem noch gar nicht mit Blick auf die Kreativwirtschaft als Branche formuliert wor­ den (Landry / Bianchini 1993). Für Landry ist Kreativität einerseits in his­ torischer Dimension immer schon ein Charakteristikum von Städten ( «life­ blood of the city « Landry / Bianchini 1993 : 11). Sodann misst auch schon Landry der Kreativität (nicht der Kreativwirtschaft) eine neue Bedeutung bei als tragendes Kriterium am Übergang von der Industriegesellschaft (old industries) zu einer Industrie, die geprägt ist vor allem von Wissen, das aus kreativen Ideen erwächst. Für die Städte sagt er einen Wettbewerb voraus, der nicht mehr über natürliche Ressourcen oder Reputation funktioniert, sondern vor allem über das Vermögen eines Standorts, ein positives Image und zudem Symbole zu schaffen. Während Landry sich in seinen Überlegungen auf die Stadt als Raum­ konzept und als Lebensraum konzentriert, nimmt Florida das Individuum zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen und bestimmt den seiner Mei­ nung nach kreativ Tätigen (nicht im eigentlichen Sinne den » Kreativen «) zum Akteur einer gesellschaftlichen Entwicklung. Dazu fasst er sie in einem merkwürdigen Rückgriff auf die Klassengesellschaft zur creative class zu­ sammen, die er dann bestimmt als » a fast-growing, highly educated, and well-paid segment of the workforce on whose efforts corporate profits and economic growth increasingly depend « (Florida 2002 b). Die Angehörigen dieser Klasse sind also nicht über bestimmte Branchen zu ermitteln, son­ dern allein über ihre Funktion und darum in einem breiten Spektrum von Wirtschaftszweigen anzutreffen (Florida 2002 b). Florida kann deshalb heute 30 % der Beschäftigten in den USA der creative class zurechnen, wobei er innerhalb dieser Klasse noch einmal in drei Gruppen differenziert, einem super-creative core und zwei darum gelagerten Schichten von Menschen, deren Nähe zu diesem kreativen Kern sich in der Eigenständigkeit ihrer kreativen Betätigung im Rahmen ihrer Erwerbsarbeit definiert (Florida 2002 b). Floridas Konzept kennt mit den bohemiens auch einen Teilbereich von Kreativen, die als Künstler im engeren Sinn tätig sind. Ihre Funktion soll maßgeblich darin bestehen, ein offenes, kreatives Klima in einer Stadt zu

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schaffen, um die eigentlich wirtschaftlich bedeutsamen Akteure zu einer Standortwahl zu veranlassen. Ein solcher Entwurf ist nicht ganz neu und ließe sich auch an den Urba­ nisierungsprozessen um 1900 überprüfen. Doch ausgerechnet eine der Kernthesen Floridas hat sich jedenfalls in der europäischen Praxis nicht be­ stätigt : die Annahme einer hohen Mobilität der Kreativen als gut ausgebil­ dete und wohlstandsorientierte Akteure. Florida nahm noch an, dass die Qualität eines Lebensraumes nicht originär über die Verfügbarkeit eines Arbeitsplatzes bestimmt ist, sondern die Akteure die Arbeitsplätze mit­ bringen (» jobs follow people «). Sie sollen sich deshalb bei der Standort­ wahl weniger für die wirtschaftliche Infrastruktur am Ort interessieren als für Breitbandanschlüsse und ein tolerantes Umfeld, eben » a solid mix of high-tech industry, plentiful outdoor amenities, and an older urban center whose rebirth has been fueled in part by a combination of creati­vity and innovative technology, as well as lifestyle amenities. « (Florida 2002 b). Die Realität in Europa ist aber eine andere. Denn der Anteil der erwerbs­ wirtschaftlich kreativ Tätigen, die am Ort oder in der Region geboren wurden und dann dort auch tätig sind, beträgt bis zu 76 % (Barcelona) und macht in den meisten der untersuchten europäischen Städte immer­ hin etwa 50 % aus (Eckert et al. 2009). Das Gros der Kreativen rekrutiert sich demnach im Regelfall aus der Region selbst. Allenfalls kann noch eine Hochschule am Ort ein wichtiges Kriterium für die Zuzugswahrscheinlich­ keit und die Ansiedlung von Kreativen darstellen. Denn Mobilität wird noch am ehesten durch die Hochschulen begünstigt und die Studierenden kön­ nen durchaus eine Bereitschaft haben, nach ihrem Hochschulabschluss am Ort zu bleiben. Es sind damit die endogenen Potenziale, die für eine Region interessant sind. Zielgruppe für Ansiedlungsbemühungen sind dann vor allem Absol­ venten von Hochschulen. Zugleich haben damit aber auch die Räume jenseits der Metropolen eine Chance, wirtschaftliche Potenziale der Kreativwirtschaft zu erschließen, eine Annahme, die durch Studien auf Länderebene bestätigt wird (z. B. Thüringen 2011). Der Anspruch muss dann sein, gezielt und systematisch solche Bereiche zu erschließen, die eine plausible Verbindung zur Struk­ tur der Region haben und dabei auch die zufällig entstandenen Kerne strategisch aufzuwerten. Dass es solche zufällig entstandenen Kerne, die eine hohe Dynamik mit sich bringen und ein gänzlich neues Wirtschafts­ feld erschließen, immer wieder gibt, beweist etwa die Entwicklung des

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E-Commerce-Standorts im thüringischen Jena. Die besondere Herausforde­ rung besteht dann gerade im Blick auf diese darin, die Bedeutung künftiger Märkte und neuer Trends frühzeitig zu erkennen und sie so konsequent zu fördern, dass sie eine Chance haben, sich zu entfalten. Auch das Bauhaus entstand im Jahr 1919 nicht in Berlin oder Wien, son­ dern in der kleinen thüringer Stadt Weimar. Es entstand vor allem, da es die Bereitschaft in der damaligen – sozialdemokratischen – Landes­regierung gab, sich auf etwas Neuartiges einzulassen und dieses dann gezielt zu fördern, ohne von Beginn an Klarheit über die Erfolgschancen haben zu können. Der genius loci mag eine Rolle gespielt haben, das Wirken Henry van de Veldes ebenso wie die Ruhe in der Kleinstadt abseits des damals revolu­ tionsdurchdrungenen Berlins. Vor allem aber gab es verfügbare Räume und Zugänge zu Unternehmen des produzierenden Gewerbes, mit denen gemeinsam Produkte entwickelt und die für die Produktion der Entwürfe genutzt werden konnten. Der Wirtschaftspolitik stehen auch heute Anreizmöglichkeiten zur Ver­ fügung, um sowohl die endogenen Potenziale zu erschließen als auch, ins­ besondere im Kreis der Hochschulabsolventen, gezielt Ansiedlungen oder Tätigkeitsaufnahmen in der Region jenseits der Metropolen zu begünsti­ gen. Solche Anreize sind neben einem Zugang zum Arbeitsmarkt vor allem auch ein Zugang zu einem Milieu, verstanden als ein Netzwerk von Koope­ rationspartnern, welches das eigene meist im sozialen Umfeld begründete Netzwerk gerade im Blick auf mögliche wirtschaftliche Effekte erweitert. Relevant sind verfügbare Räume, um Ideen umzusetzen, wobei die aus der Gründerzeit stammende und inzwischen aufgelassene Fabrik zwar das Kli­ schee, aber nicht das ausschließliche Kriterium ist, da so vielfältig wie die Tätigkeiten innerhalb der Branche auch die Erwartungen an die Arbeits­ räume und die Einschätzung, was eine » gute Adresse « ist, sind. Hinzu treten muss natürlich eine grundsätzliche Akzeptanz vor Ort, wie sich wiederum schon am Beispiel des Weimarer Bauhauses zeigen lässt. Vor allem muss aber die Wirtschaftspolitik sich in die Rolle des MöglichMachen-Wollens begeben und in diesem Sinne aktivierend wirken, wobei die Herausforderung darin besteht, sowohl offen zu sein für gänzlich neue Geschäftsideen, die einen Markt noch gar nicht vorfinden, als auch für die gezielte Nutzung von Schnittstellen gerade auch zu anderen Branchen.

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Das Thüringer Modell für die Kreativwirtschaft Kreativwirtschaft ist kein Thema nur für Großstädte. Vielmehr hat die Kreativwirtschaft in ihren vielfältigen Ausprägungen auch jenseits der Me­ tropolen eine eigenständige Bedeutung. Freiräume, soziale Gebundenheit, aber auch Kostenvorteile sind einige der subjektiven Motivationsgründe für bewusste Entscheidungen zugunsten bestimmter Orte und Regionen. Hinzu kommen aber auch konkrete ökonomische Gründe. Denn indust­ riell geprägte Regionen, wie zum Beispiel der Freistaat Thüringen, bieten in zweierlei Hinsicht wichtige Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entfal­ tung der Kreativwirtschaft : erstens dort, wo die Kreativwirtschaft Ideen­ geber für andere Branchen ist und als Unternehmensdienstleister Innova­ tion und Wachstum stärkt und zweitens dort, wo die Unternehmen der Kreativwirtschaft selbst in die Rolle des Produzenten wechseln und Unter­ nehmen des produzierenden Gewerbes als Produktionspartner nutzen. Gerade diese Produktionsbeziehungen werden in den bisherigen Überle­ gungen zur Kreativwirtschaft meist vernachlässigt. Dabei sind sie nicht nur in einer kulturgeschichtlichen Dimension prägend für die meisten Bereiche der Kreativwirtschaft. Vielmehr ist die Kreativwirtschaft im hohen Maße produktbezogen, nicht nur dort, wo sie Märkte für Gebrauchs- oder Luxus­ güter schafft, sondern auch wo sie die Unterhaltungs- und Freizeitwirt­ schaft als Märkte nutzt. Vor allem werden diese Produktionsbeziehungen künftig erheblich an Bedeutung gewinnen. Denn die sich abzeichnenden Trends im Kontext einer dritten industriellen Revolution – von der Produkt­ differenzierung (Costumization) bis hin zur Makerbewegung – erfordern enge und zunehmend regionale Produktionsbeziehungen. Die Massenpro­ duktion wird nicht verschwinden. Aber die Kleinserie wird an Bedeutung gewinnen. Selbst die künstlerischen Bereiche der Kreativwirtschaft nutzen die in ihrer Zeit verfügbaren handwerklichen und auch industriellen Ferti­ gungstechniken und Produktionskompetenzen für die Schaffung: So sorgt zum Beispiel der amerikanische Künstler Jeff Koons mit seinen Skulpturen aus Edelstahl nicht nur für Rekordergebnisse bei Kunstauktionen, sondern auch für dreißig Arbeitsplätze im Thüringischen Betriebsteil der Arnold A G, wo die Skulpturen gefertigt werden. Städte wie Berlin, Hamburg, Amsterdam oder Barcelona mögen eine ge­ wisse Sogwirkung auf Menschen in kreativen Berufen ausüben und in Be­ reichen wie Werbemarkt, Kunst und Filmwirtschaft starke Zentren bilden. Die wirtschaftliche Zukunft der Kreativwirtschaft liegt klar jenseits der

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Metropolen und eine kluge wirtschaftspolitische Strategie wird die Stär­ ken einer spezifischen regionalen Wirtschaftsstruktur nutzen können, um durch die Verdichtung von Produktionsbeziehungen Wachstumspotenziale sowohl in der Kreativwirtschaft als auch zugleich in anderen Wirtschafts­ feldern, vor allem des produzierenden Gewerbes, zu erschließen. Eine solche Strategie wird deshalb nicht an der Besonderheit der Branche anknüpfen, sondern die Gemeinsamkeiten der Wirtschaftsakteure sicht­ bar machen. Sie wird darauf angelegt sein, Prozesse durch Moderation zu stimulieren, durch Freiraum Avantgarden wirken zu lassen und durch eine Kultur der Chance Innovationen im vollen Verständnis des Begriffs entste­ hen zu lassen. Im Grunde knüpft Thüringen hier an eine lange Tradition an, die auf das Bauhaus ebenso aufbauen kann wie auf das Wirken Henry van de Veldes. Immer wieder hat es Thüringen geschafft, durch kulturell-kreative Leistun­ gen hervorzutreten und epochale Veränderungsprozesse nicht nur aufzu­ nehmen, sondern sie maßgeblich mit zu prägen. Wichtige Meilensteine ge­ rade in der langen Geschichte der Kreativwirtschaft wurden wesentlich in Thüringen mit geprägt und aus Thüringen heraus beeinflusst. Auch heute warten vielfältige Fragestellungen auf kreative Antworten, stehen neue epochale Umbrüche bevor, die sich um Fragen nach Ressourcen­ verbrauch, sozialer Teilhabe und einem neuen Verständnis von Fortschritt drehen. Nicht weniger als ein neues – in diesem Sinne digitales – Bauhaus wird benötigt, der Wille, in einer Gemeinschaft aus Künstler, Techniker und Kauf­ mann neue Produkte zu formen, die ein verantwortungsbewusstes Zusam­ menleben begünstigen und prägen. Damit wird die Kreativwirtschaft zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer Politik, die zu Entscheidungen fähig ist, Antworten suchen will und dazu bereit ist, Verantwortung für die weitere Entwicklung der Gesell­ schaft zu übernehmen.

Literatur Aydalot, Denis  / Keeble, David (1988) : High technology industry an innovative enviroments. The European experience.

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Wovon reden wir, wenn wir von Kreativwirtschaft reden ? Was für damit professionell befasste Politiker und Bürokraten eine klare Gestalt hat, verschwimmt beim Versuch, ranzuzoomen und scharfzustellen. Seit den 1990ern werden in Deutschland Kulturwirtschaftsberichte kompiliert, die versuchen, den Beitrag der Kultur- und Kreativwirtschaft zu Beschäftigung und Bruttoinlandsprodukt in harten Zahlen dingfest zu machen. Die Prob­ leme beginnen bereits beim Zuschnitt der » Branche « , die ungleich hete­ rogener und disparater ist als klassische Industriezweige wie Chemie oder Automotive. Was ist drinnen, was ist draußen ? Natürlich liegt es im Inter­ esse der Verfasser, die sich als » Lobby der Kreativen « begreifen, die Branche möglichst imposant erscheinen zu lassen, weshalb in Nordrhein-Westfalen etwa auch die Bautätigkeit für Theater und Museen oder die Herstellung von Kinoprojektoren zur Wirtschaftsleistung der Kreativwirtschaft zählen. Unstrittig ist nur das heiße Zentrum der klassischen Kulturberufe, die die » prima Materia « liefern : bildende Künstler, Schriftsteller, und Musiker. Bei den Verwertern wird es schon unschärfer : Verlage und Musiklabels fallen darunter, Fernsehsender tendenziell nicht. Vollends schwammig wird es bei der Abgrenzung des Kreativsektors, worunter gemeinhin Design, Mode, Werbung und Computerspiele gefasst werden, manchmal auch Software­ firmen und Teile des Handwerks. Wenn Architekten dazu zählen, warum dann keine Friseure und Tätowierer ? Wenn Schauspieler darunter fallen, warum dann keine Pornodarsteller ? Schwerer wiegt, dass die unter Kultur- und Kreativwirtschaft Subsu­ mierten, fragte man sie danach, sich in den seltensten Fällen selbst einer solchen Branche zugehörig fühlten. Sie sehen sich als Künstler, Literatur­ verleger oder Webdesigner ; das Hemd der eigenen Profession ist ihnen nä­ her als die Hose der Kreativwirtschaft. Selbst innerhalb einer Sparte gibt es entlang der Wertschöpfungskette kaum eine gemeinsame Interessen­ lage, oft sogar antagonistische Positionen. Freie Journalisten wehren sich gegen die Buy-out-Klauseln von Zeitungsverlagen, Clubbetreiber ächzen unter den Gema-Gebühren, die im Interesse der Musikproduzenten er­ hoben werden. Verlage bangen um das Copyright, dessen Lockerung neue Geschäftsfelder für Web-Start-ups eröffnet. Die Risse und Gräben laufen

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quer durch das Feld ; manche sind regelrecht zu gut befestigten Schützen­ gräben ausgebaut worden. Auch wenn Richard Florida für seine populäre Beschreibung der » creative class « das Lasso noch weiter als die meisten Autoren hiesiger Kulturwirt­ schaftsberichte auswirft und selbst Zahnärzte zur Kreativklasse zählt, kann von einer gemeinsamen » Klassenlage « im Marx’schen Sinne also keine Rede sein. Um es ganz platt mit dem Titel eines Theaterstücks von René Pollesch zu sagen : » Die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat « . Das macht es für die wohlmeinende Politik nicht gerade leicht, mit dem klassischen Besteck der Industrieförderpolitik etwas für die Branche zu tun, die sie sich als Golem selbst konstruiert hat. Und das macht es so schwierig, jenseits der fragwürdigen statistischen Erhebungen überhaupt sinnvoll über den ökonomischen Beitrag der Kreativwirtschaft zu reden. Dies gesagt habend, muss man natürlich einräumen, dass mit der stär­ keren Wahrnehmung des Sektors durch die Politik schon etwas gewonnen wurde. Seit Tony Blair Anfang der 1990er im deindustrialisierten Großbritan­ nien feststellte, dass der Beitrag des Britpop zur Außenhandelsbilanz den der Stahlindustrie übersteigt und die » creative industries « unter dem Label » Cool Britannia « zum Wahlkampfthema machte, hat das Sujet politische Konjunktur. Kein sich fortschrittlich gebender Politiker kann es sich heute mehr erlauben, die Kultur als » nice to have « gegenüber den klassischen wertschöpfungs- und beschäftigungsintensiven Industriezweigen gering zu schätzen. Und dass Copyrights » das Öl des 21. Jahrhunderts « sind, hat sich inzwischen sogar bis zu den Industriepolitikern und Mittelstandsförderern alten Schlages herumgesprochen. Das immerhin wäre erreicht.

Kultur vs. Kommerz Es gibt eine weitere Komplikation im Kontext Kultur und Ökonomie, die weni­ger mit Heuristik als mit Befindlichkeiten zu tun hat. Und zwar hat auch das werbende Klappern für die Kreativwirtschaft nicht dazu beige­ tragen, dass es insbesondere in Deutschland immer noch häufig als Frivo­ lität empfunden wird, über Kultur überhaupt in ökonomischen Termini zu sprechen und nachzudenken. Im Gegenteil könnte es glatt dazu beige­ tragen haben, die Abwehrreflexe noch zu verstärken. Eingepreist in diese Haltung ist womöglich das alte Thomas-Mann-Sentiment, dass die Deut­ schen die hehre Kultur besäßen, während der Rest des Westens nur mit der

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schnöden Zivilisation aufwarten könnte. Auf jeden Fall hallt darin der per­ fekte Alptraum des kulturpessimistischen Bildungsbürgers nach, den Max Horkheimer und Theodor W. Adorno mit ihrem berühmten » Kulturindus­ trie «-Kapitel aus der » Dialektik der Aufklärung « so fulminant in Worte gefasst haben : Kultur wird zum Massenbetrug, sowie sie sich auf die Ver­ kehrsformen der industriellen Massenproduktion einlässt. Wo sie auf den Markt treffen, verflachen die Produkte der Kultur, werden austauschbare Repräsentanten einer » ökonomischen Riesenmaschinerie « , die » alles mit Ähnlichkeit schlägt « . Dahinter schlummert ein Geniekult, der davon ausgeht, dass kulturelle Höchstleistungen und wahre Kunst nur in der welt- und marktabgewand­ ten Abgeschiedenheit des Elfenbeinturms und der Künstlerkemenate ent­ stehen können. Bei » creative industries « hören die Verfechter der Hochkul­ tur in Deutschland » Kulturindustrie « und entsichern ihren Revolver. Nach dieser Lesart, die sich in wolkigen Formulierungen wie » Kultur ist Daseins­ vorsorge « und Bestrebungen niederschlägt, » Kultur als Staatsziel « in der Verfassung niederzuschreiben, ist Kultur etwas, von dem man tendenziell nie genug haben kann, dass sich dem ökonomischen Diskurs damit per se entzieht. Damit ist die Kultur – als öffentliche Förderkultur – scheinbar im­ prägniert dagegen, sich nach dem Verhältnis von Ressourceneinsatz und Output befragen lassen zu müssen. Im Angelsächsischen hat man traditionell weniger Probleme mit dem fließenden Übergang und der Verschränkung von » high- « und » lowbrow « . Und historisch betrachtet, ist die sogenannte » Autonomie der Kunst « ein seltener Sonderfall. Künstler haben schon immer der Kirche, dem Hofe oder dem Markt gedient. Die Werkstätten von Raffael und Rembrandt waren mittelständische Betriebe, so wie es heute die Studios von Jeff Koons, Olafur Eliasson oder Anselm Reyle sind. Selbst in Deutschland gibt es diese Tradi­ tionslinie. Die Künstler des Werkbunds, dessen Ideen später im Bauhaus aufgingen, träumten von einer Welt, in der » Kultur und Ökonomie dieselbe Sprache sprechen « würden. An diesem Punkt stehen wir heute wieder. Aber wie könnte so eine Sprache aussehen, die den Eigengesetzmäßig­keiten der kulturellen Wertschöpfung gerecht wird und nicht bei jedem einzelnen Arte­ fakt danach fragt, wie dieses sich rechnet und verzinst ? Dafür muss man zunächst anerkennen, dass es sich bei Kunst und Kultur um ein » hit driven business « handelt. Das heißt : Weil Kultur in ihrer Avant­ gardefunktion eine Suchbewegung für neue Ästhetiken und individuali­ sierte Lebensstile darstellt, kann prinzipiell nicht vorhergesagt werden,

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welches Produkt und welche künstlerische Position floppt, welche sich als gültig und ergiebig erweist. Deshalb kann es nicht darum gehen, das ein­ zelne Produkt oder jede künstlerische Produktion im Vorhinein durchzu­ kalkulieren. Die Mischung des gesamten Portfolios muss stimmen ; der Ver­ such, Quersubventionierungen zu kappen, geht am Wesen eines solchen Marktes vorbei. Venturekapital-Geber beherzigen diese Logik seit jeher ebenso selbstverständlich, wie es Buchverlage traditionellerweise tun. Ein weiterer wichtiger Baustein für eine saubere Argumentation des öko­ nomische Wertes der Kultur ist das Konzept des » meritorischen Gutes « . Meritorische Güter – deren Existenz von einigen hartgesotten-liberalen Ökonomen rundweg abgestritten wird – sind solche, die vom Markt nicht in ausreichender oder wünschenswerter Menge nachgefragt werden. Des­ halb muss der Staat an dieser Stelle als Nachfrager auftreten und die Lücke schließen. Ursache solcher meritorischen Güter kann sein, dass sie externe Effekte, sogenannte » Spillovers « produzieren, die sich an anderer Stelle positiv bemerkbar machen, ohne dass sie dem Ursprung preislich zugerech­ net werden könnten. Eine gängige Veranschaulichung im Bereich Kultur sind Theateraufführungen oder Museumsausstellungen, die Touristen an­ locken und so die Hotelübernachtungen in die Höhe treiben. Richard Florida argumentiert, dass die kulturelle Attraktivität eines Standortes, indem sie die Talente der » kreativen Klasse « anlockt, signifikant korreliert ist mit der ökonomischen Prosperität. Diese Argumente zielen noch relativ linear auf die Rolle von Kultur als weicher Standortfaktor ab. Aber gerade die Kreativwirtschaft generiert darüber hinaus eine Reihe von nichtlinearen Effekten und Spillovers, die sich nur schwer oder gar nicht erfas­ sen und quantifizieren lassen. » Witz und innovatives Handeln « machen nach der Definition von Paolo Virno das Wesen der Kreativität aus. Die Kreativ­ wirtschaft als Ganzes und in Teilen ist Nährboden und Durchlauferhitzer für Innovationen jenseits der technischen Innovationen, die sich in Paten­ ten und Produktinnovationen niederschlagen, sondern in neuen Praktiken und Protokollen. » Low-Tech- « , » social « und » hidden innovations « sind die Suchbegriffe, mit denen nach diesen verborgenen Nutzen-Dimensionen und alternativen Quellen gesellschaftlichen Fortschritts geforscht wird. John Howkins, der Anfang der 1990er maßgeblich an der Entwicklung des Konzeptes der » creative economy « und dessen Popularisierung in Groß­ britannien beteiligt war, spricht deshalb in seinen jüngsten Veröffentli­ chungen nur noch von » creative ecologies « – kreativen Ökosystemen, die als Austauschkreisläufe und komplexe Stoffwechselsysteme modelliert

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werden. Nach diesem erweiterten Innovationsverständnis basieren Wert­ schöpfungsprozesse wie in einem intakten Ökosystem auf kultureller und sozialer Diversität, auf Wandlungsbereitschaft, auf Lernprozessen und auf der Fähigkeit zur kulturellen Adaption neuer Technologien und Trends. Hier leistet die Kultur- und Kreativwirtschaft einen enormen, wenn auch kaum zu beziffernden Beitrag – als kreative Grundlagenforschung für eine Gesell­ schaft, in der Innovationen aus komplexen und nichtlinearen Wirkungs­ zusammenhängen entstehen.

Die Kreativwirtschaft als fitness landscape Wie kann man sich also die ökonomische Landschaft der Kreativwirtschaft vorstellen ? Um die Ausdifferenzierung der Arten im Zuge ihrer Selektionsund Anpassungsprozesse zu visualisieren, hat die Evolutionsbiologie das Bild der » fitness landscape « hervorgebracht. Damit ist kein evolutionärer Trimm-Dich-Parcours gemeint. Vielmehr handelt es sich um ein imaginäres Gebirge mit lokalen Maxima optimal angepasster Arten und Tälern dazwi­ schen, die die Artenschranken markieren. Um dieses Bild für unsere Frage­ stellung fruchtbar zu machen, können wir zusätzlich einen Meeresspiegel einziehen : Das ist die Linie, ab der sich Kulturproduktion am Markt selbst trägt. Alles, was oberhalb von Normalnull liegt, verfügt über ein autonom funktionierendes Geschäftsmodell. Alles, was darunter liegt, muss in der einen oder anderen Form alimentiert werden, womit nicht gesagt ist (siehe oben die Feststellungen zu meritorischen Gütern), dass es sich dabei um einen rein mäzenatischen Akt der Philanthropie handelt. So erhalten wir ein plastisches Bild : Es gibt steil aufragende Gebirgs­ massive und Hochplateaus, die die größte tektonische Dynamik aufweisen, das sind die neuen prosperierenden Sparten der Softwareentwicklung, der Gaming-Industrien und der Designwirtschaft. Sie haben sich erst in jüngs­ ter Zeit aus dem Meer erhoben und ragen nun imposant auf. Um sie muss man sich wenig Sorgen machen, auch wenn sie von Erdbeben erschüttert werden und ab und zu Teile wieder ins Meer zurückbrechen. Es gibt den alten Kontinent der klassischen Kulturökonomie : Buch- und Zeitungsver­ lage, Kinos, Musiklabels- und Verlage. Diese Regionen bestehen vorwie­ gend aus Flachland nur knapp oberhalb der Wasserlinie und werden in letz­ ter Zeit häufiger von Überschwemmungen heimgesucht. Aber auch hier gibt es spitze Fels­nadeln, die hoch über das Flachland aufragen : Das sind die Leuchttürme der Kulturwirtschaft, die als positive Fixpunkte herhalten

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können und in deren Windschatten ein ökonomisch robustes Hinterland existiert. Es gibt flache Atolle, gebildet aus kleinen Inseln der Liebhaberei : Das sind Galerien, Kleinverlage und Modelabels, deren Bewohner oft ein materiell eher karges Dasein nah an der Subsistenz fristen, dafür aber mit den schöns­ ten Stränden und artenreichsten Korallenriffen belohnt werden. Ferner gibt es die Niederlande der subventionierten Hochkultur, die immer schon unter dem Meeresspiegel lagen : Das sind die Opernhäuser, staatlichen Museen und Theater. Würde man die Pumpen abstellen, die Deiche abreißen oder verkommen lassen, würden diese Landstriche unweigerlich absaufen. Aber niemand hätte ein Interesse daran, da die Ebenen unterhalb des Meeres­ spiegel-Niveaus zu den fruchtbarsten und ergiebigsten zählen. Daneben gibt es eine – zumeist jüngere – Population, die auf Flößen lebt. Es sind dies die Projektemacher, ewigen Praktikanten und Enthusiasten, die das Klischee der » brotlosen Kunst « für sich gepachtet zu haben scheinen. Fernab des Festlandes müssen sie künstlich aus der Luft ernährt und mit Trinkwasser versorgt werden. Meist geschieht das durch Alimente der ver­ mögenden Elterngeneration oder mittels staatlicher Transferleistungen. Obwohl diese kreativen Boatpeople nur einen kleinen Ausschnitt der kultur­ wirtschaftlichen Gesamtbevölkerung ausmachen und obwohl ihre Chancen, einmal festen Grund unter die Füße zu bekommen, nicht schlecht stehen, sind es doch diejenigen, die stark im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen, wenn es um » prekäre Verhältnisse « geht, in denen Kunst- und Kul­ turproduzenten leben. Den technischen Fortschritt können wir in dieses Modell einführen einer­ seits als Klimawandel, andererseits als Plattentektonik. Steigt der Meeres­ spiegel klimabedingt, werden ganze Landstriche überflutet oder zu Brack­ wasserzonen, so geschehen etwa mit Teilen der Musikindustrie. Auch der Journalismus, die Film- und Buchbranche fühlen sich durch die Digitali­sierung bedroht, weshalb die Rufe lauter werden, mit staatlichen Mitteln Deiche einzuziehen und neue Polder zu errichten. Gleichzeitig heben sich durch den technischen Fortschritt ganze Kontinente aus dem Meer, die früher unter­ halb des Wasserspiegels lagen und damit allenfalls als privates Hobby be­ trieben werden konnten. Web-Plattformen wie Etsy.com oder Dawanda.de etwa haben boomende Marktplätze für eine neue Crafting-Bewegung ent­ stehen lassen, wo vorher nur brotloses Kunsthandwerk war. Im Ganzen ergibt die Analogie der Kreativwirtschaft als fitness landscape eine vielschichtig fragmentierte Land- und Seekarte, deren Küstenlinien sich

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zudem dynamisch im Zeitraffer verändern. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Will man etwas über das Gesamt-Ökosystem erfahren, kommt man nicht umhin, einzelne Landstriche und Regionen, deren Topografie und Mikroklima genau zu studieren.

Ein Stück die Straße runter Was sich indes wasserdicht argumentieren lässt, ist, dass der Anteil kreati­ ver Arbeit an der volkswirtschaftlichen Gesamtwertschöpfung in den west­ lichen Industrienationen – und damit die Bedeutung der Kreativ­wirtschaft als Ganzes – weiter wachsen wird. Das lässt sich allein daraus herleiten, dass der Anteil der immateriellen Wertschöpfung wächst. Arbeitete um 1900 noch die Hälfte der deutschen Erwerbsbevölkerung in der Landwirt­ schaft, waren es 2000 gerade noch drei Prozent, denen es aufgrund der Produktivitätsfortschritte problemlos gelang, die Gesamtbevölkerung zu ernähren. So ergeht es gerade dem verarbeitenden Gewerbe und sogar Teilen des Dienstleistungssektors, der von Automatisierung auch nicht ver­ schont bleibt. Das bedeutet in gesamtwirtschaftlicher Perspektive, dass so­ wohl Arbeitskräfte als auch Anteile der verfügbaren Haushaltseinkommen freigesetzt werden und neue Märkte entstehen. Naturgemäß werden das Angebote, Produkte und Services sein, die in der Spitze der Maslowschen Bedürfnispyramide ansiedeln, also dort, wo es um Selbstverwirklichung und Sinnstiftung geht. Erfahrungen, Bildung, psychisches und körperliches Wohlbefinden sind die Wachstumssegmente, die auf eine älter werdende Bevölkerung mit postmateriellen Bedürfnissen reagieren. Viele dieser Berufe kennen wir heute noch gar nicht, sie werden erst noch entstehen. Wer hätte vor 15 Jahren gedacht, dass » Search Engine Opti­ mierer « einmal zu den gesuchten und hoch-dotierten Experten zählen würden. Das US-Wirtschaftsmagazin Fast Company sorgte kürzlich mit der Schätzung für Furore, dass 65 Prozent der heutigen Grundschüler in den USA einmal in Berufen arbeiten werden, die heute noch nicht existieren. Im wei­ testen Sinne werden das kreative Jobs sein. Der US-Autor Daniel Pink schärft diesen Gedanken weiter, wenn er in sei­ nem Sachbuch » Drive « über die Entdeckung der intrinsischen Motivation unterscheidet zwischen » algorithmischer « Arbeit, also solcher, die klaren Regeln und Lösungsroutinen folgt, und » heuristischer « Arbeit, sprich einer Arbeit, bei der es Teil der Aufgabenstellung ist, erst noch einen passenden Lösungsweg zu erfinden. Schon heute sieht er für die USA deutlich mehr

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Job-Zuwächse im Bereich der heuristischen als der algorithmischen Tätig­ keiten. Begründung : » Routinetätigkeiten können outgesourced oder automatisiert werden  ; künstlerische, emphatische Nicht-Routine-Tätigkeiten können das in aller Regel nicht. « Damit ist aber nicht weniger gesagt, als dass das Wesen kreativer Arbeit sich über die bekannten Felder der Kreativ­ wirtschaft – die klassischen Kreativberufe – hinaus über die gesamte Wirt­ schaft ausbreitet. Dieser Wandel der Arbeitswelt, der durch technologischen Fortschritt induziert wird, hat Einfluss auf die gesamte Wertschöpfungs- und Wirt­ schaftsstruktur. Die Digitalisierung hat in vielen Bereichen dafür gesorgt, dass die Nadelöhre des Industriezeitalters wegfallen. Einerseits fallen Markteintrittsbarrieren und der Kapitaleinsatz sinkt. Musik, für die man vor zwanzig Jahren ein voll ausgerüstetes Tonstudio brauchte, lässt sich heute am Laptop produzieren. Andererseits stehen die Kanäle für Marketing und Vertrieb jetzt durch das Internet potentiell allen offen. In der Summe führt dies dazu, dass die Skalenvorteile von Großunternehmen erodieren und die effiziente Betriebsgröße sinkt. Somit wird die Wirtschaftsstruktur ins­ gesamt kleinteiliger und granularer. Mikrobusiness und Soloselbständige spielen künftig eine größere Rolle als es innerhalb der Kreativwirtschaft heute bereits der Fall ist. Es greift zu kurz, dieses Potential allein im Bereich der immateriellen Wertschöpfung zu verorten. Vielmehr schwappt das Digitale gerade in die Welt der Atome zurück. » Atoms are the new bits « lautet das Credo der wachsenden Maker-Szene, die mittels Fabbing- und Rapid-PrototypingTechnolo­gien hochkomplexe Produkte in der eigenen Garage oder in öffent­ lichen Werkstätten herstellt. Der US-amerikanische Wirtschaftsautor Chris Ander­son sieht hinter dem Trend zum High-Tech-DIY bereits » The Next In­ dustrial Revolution « heraufziehen. Individualisierte physische Produkte und flexible Kleinserienproduktion eröffnen nicht nur neue Handlungsfelder für Designer, sondern könnten auch das verarbeitende Gewerbe in die Indust­ riestandorte und Innenstädte zurückbringen. Damit geht eine gewandelte und wachsende Bedeutung des Handwerks einher, das zur Kreativ-Disziplin aufsteigt, sofern es das nicht immer schon war. Wir erleben die Renaissance der Manufakturen im digitalen Zeitalter. Es gilt zu verstehen, dass ausgerechnet das Internet traditionelle Gewerbe und Manufakturen gestärkt und wiederbelebt hat, weil es die kritische Masse an Kunden für Nischen- und Liebhaberprodukte weltweit aggregie­ ren kann. Die nächste industrielle Revolution schließt den Kreis und schafft

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postindustrielle Strukturen, die in vielen Punkten eher Gemeinsamkeiten mit den Verhältnissen vor der ersten industriellen Revolution aufweisen. Vielleicht ist dieser Wandel, der sich noch weitgehend unterhalb des Radars klassischer Kulturpolitik und Wirtschaftsförderung abspielt, das derzeit spannendste Wachstumsfeld innerhalb der Kreativwirtschaft.

Prekarisierung Wenn dem aber so ist und der Kreativwirtschaft insgesamt rosige Zeiten bevorstehen, warum ist dann allerorten von den prekarisierten Kultur­ schaffenden zu lesen, die nicht wissen, wovon sie am Monatsende die Miete bezahlen sollen ? Eine viel zitierte Zahl in diesem Zusammenhang ist das Jahreseinkommen der in der Künstlersozialkasse (KSK) versicherten Soloselbständigen in Kreativberufen, das über alle Bereiche gemittelt bei knapp unter 15.000 Euro, in einigen Segmenten wie bei den darstellenden Künstlerinnen unter 30 Jahren sogar deutlich unter 10.000 Euro liegt. Wie soll man davon leben ?! Die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Zum einen basieren sie auf Selbstauskünften der Mitglieder, die zudem als Schätzung am Jahresanfang abgegeben werden müssen. Man ist gut beraten, diese Schätzung mög­ lichst niedrig anzusetzen, um nicht zu viele Abgaben zu zahlen, und es gibt wenig Anreiz, sie nachträglich anzupassen. Das heißt, das real erzielte Ein­ kommen dürfte deutlich höher liegen. Zum anderen bildet die KSK-Statistik nur das Einkommen der in ihr vertretenen Berufsstände ab. Das sind die traditio­nellen Kulturberufe, nicht die neu entstehenden Berufsfelder. Im Katalog der KSK-Berufe findet sich der » Puppen-, Marionetten-, Figuren­ spieler « ebenso wie der » Jazz- und Rockmusiker «, während Webdesigner und Wedding­planer wenig Aussicht darauf haben, in die KSK aufgenommen zu werden. Das heißt : Die in der KSK Versicherten bilden nur einen selek­ tiven Ausschnitt der kreativen Freiberufler ab. (Hier muss auch die Kritik an dieser vor 30 Jahren durchaus einmal fortschrittlich gedachten Absiche­ rungsmöglichkeit für Kreativschaffende ohne Arbeitgeber ansetzen, weil sie heute mehr Ungerechtigkeit und Willkür produziert, als sie Ungleichheit zu beseitigen hilft.) Hinzu kommt – und das ist ein durchaus ernst zu nehmender Faktor, der erklärt, warum das gefühlte Wissen vom Elend der Kreativschaffenden sich an der Realität vorbei so hartnäckig perpetuiert – , dass die meisten Artikel und Beiträge in den Medien zum Thema von freien Journalisten stammen,

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die tatsächlich bei sich und in ihrem unmittelbaren Umfeld den digitalisie­ rungsbedingten Niedergang einer gesamten Branche und die damit einher gehende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen gewärtigen mussten. Dieser » Home Bias « führt zu einer systematischen Verzerrung der öffent­ lichen Wahrnehmung. Auch wenn von Niedergang und Verelendung nicht die Rede sein kann. Unbestreitbar ist, dass die Existenzbedingungen vieler freischaffender Künstler und Kreativer nicht so beschaffen sind, wie man sie sich in einer idealen Welt erträumen würde. Die Paradoxie dabei : Selbst wenn die Be­ deutung und das wirtschaftliche Volumen der Kultur- und Kreativwirt­ schaft insgesamt wächst, der zu verteilende Kuchen also größer wird, heißt das nicht, dass sich das auf jeden einzelnen Kultur- und Kreativschaffenden überwälzt. Ursache ist, dass es sich um einen nicht-reglementierten Markt ohne nennens­werte Zutrittsbarrieren handelt. Jeder darf sich Künstler, Schauspieler, Designer oder Musiker nennen und sich ein Schild an die Tür machen. Es ist dem Zeitgeist geschuldet, dass viele junge Menschen, die in den Arbeitsmarkt drängen, es attraktiv finden, sich in diesen Feldern aus­ zuprobieren. Die meisten sind sich perfekt im Klaren darüber, dass sie damit eine lebenstaktische Hochrisikostrategie fahren und dass da draußen erst einmal niemand auf sie gewartet hat. Nur weil sich jemand per Selbstakklamation Künstler nennt, kann er oder sie nicht erwarten, von der Gesellschaft dafür alimentiert zu werden, und denjenigen, die sich dennoch darauf einlassen, ist das meist vollständig be­ wusst. Dennoch sind sie bereit, auf ein höheres und vermeintlich sicheres Einkommen in einer Festanstellung oder einem konventionelleren Beruf zu verzichten. Die Lücke wird geschlossen durch den Zugewinn an Autonomie und das nichtmonetäre Prestige, dass sich aus kreativer Arbeit ziehen lässt. Ihr Credo lautet : Besser ich beute mich selbst aus, als dass es ein anderer tut. Es gibt keinen Grund, diese Akteure vor sich selbst zu beschützen. Oft sind die selbst ernannten Beschützer selbst verbeamtete Soziologen oder quasi-verbeamtete Gewerkschafter, denen die ganze Richtung nicht passt. In einem Punkt haben sie dabei sogar nicht ganz Unrecht. Im Hintergrund lauert nämlich ein ernst zu nehmende ökonomische Allmende-Problematik, nämlich die, dass die neu und ambitioniert in den Markt drängenden Kreativen die Preise versauen. Chris Dercon, ehemali­ger Direktor am Haus der Kunst in München, mittlerweile Leiter der Tate Gallery in London, nennt das in einem Interview mit der Zeitschrift » Monopol « treffend die » Enthusiasmus-Falle « : » Man spricht von creative industries,

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aber das ist nur ein Trick, um das ökonomische Modell der kostenlosen Ar­ beit salonfähig zu machen. Man will Enthusiasten erzeugen, ihren Input nutzen, ohne Löhne zu zahlen. « Gerade die Neulinge sind so intrinsisch motiviert bei der Sache, froh überhaupt einen Fuß in die Tür zu bekommen und aus dem Häuschen, dass überhaupt jemand ihre Leistung nachfragt, dass sie darüber vergessen, ordentliche Honorare und Tagessätze durchzu­ setzen. Sie wirken in einem atomistischen Markt, der keine künstliche Ver­ knappung – etwa durch gewerkschaftliche Tarifierung – kennt, und in dem oft der oder die ausführende Kreative identisch mit der Person ist, die die Verhandlungen mit dem Kunden oder Auftraggeber führt. In diesem Seg­ ment braucht es eindeutig mehr » unternehmerisches Selbst «, so ein kri­ tisch gemeintes Soziologen-Schlagwort, und vor allem : unternehmerisches Selbstbewusstsein. Die eigentliche Kurzsichtigkeit in der Prekarisierungs-Debatte liegt aber darin, dass sie stark auf Hochschulabsolventen und Berufseinsteiger fokus­ siert. Darin überlappt sie sich mit der Debatte um die » Generation Prak­ tikum «, die sich ebenfalls als reine Feuilleton-Chimäre herausgestellt hat. Es gibt – zumindest in Deutschland – keine nennenswerte Arbeitslosig­ keit unter jungen Akademikern, und der demografische Wandel wird ein übriges tun, die letzten Reste davon zu beseitigen. Natürlich erzielen Existenzgründer in der Kreativbranche nicht aus dem Stand das Einkommensniveau von abhängigen Beschäftigten mit vergleich­ barer Qualifikation. Es braucht eine Zeit, Reputation aufzubauen und das eigene Geschäftsmodell so in den Wind zu drehen, dass es Fahrt aufneh­ men kann. Es erfordert ein geschicktes Ausbalancieren von Standbein und Spielbein, oft die anfängliche Quersubventionierung durch einen Brotjob. In seinem lebensklugen Essay » How to do what you love « beschreibt der Programmierer Paul Graham die unterschiedlichen Strategien und Stadien, die es braucht, um aus einer passionierten Neigung einen Beruf zu machen – und die Stolperstricke, die dabei auftauchen können : » Selbst im Erfolgsfall ist es außerordentlich selten, dass man die volle Freiheit erlangt, bevor man in den 30ern oder 40ern ist. Aber mit dem Ziel vor Augen ist es wahrscheinlicher, dass man irgendwann dort landet. « Und der erwähnte Daniel Pink beschreibt in seiner US-Freiberufler-Bibel » Free Agent Nation «, dass die von ihm befragten Soloselbständigen berich­ ten, dass es fünf bis zehn Jahre gedauert habe, bis sie ein gut gemischtes Portfolio an Jobs und Kunden und damit das Gefühl gehabt hätten, siche­ ren Grund unter den Füßen zu haben. Dann fühlten sie sich jedoch sogar

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sicherer als die meisten Angestellten : » Es ist nicht nur interessanter, ein Portfolio von Kunden und Projekten zu unterhalten, als für einen einzigen Boss zu arbeiten, es kann sogar mehr Sicherheit verheißen. Je mehr Kunden man gewinnt, je mehr Projekte man abgeschlossen hat, je mehr Knoten man zu seinem persönlichen Netzwerk hinzufügt, desto abgesicherter ist man. Freiheit, einmal das Gegenteil von Sicherheit, ist heute ein Weg zu mehr Absicherung. « Für Deutschland wird dieser Befund bestätigt durch eine Anfang 2012 ver­ öffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die aufräumt mit dem Klischee des erbarmungswürdigen Freelancers. Danach verdienen die 4,2 Millionen Selbständigen in Deutschland im Durchschnitt mehr als abhängig Beschäftigte – bei zugegeben größerer Streuung. Bereits nach drei Jahren lägen 38 Prozent der Gründer über dem Niveau vergleich­ barer Angestellter, nur bei 17 Prozent hat sich die Situation verschlechtert. Auch der Anteil der Geringverdiener mit einem Einkommen von weniger als 1100 Euro fällt unter Selbständigen deutlich geringer aus. Vielleicht sind diese verbesserten Aussichten – und nicht allein die neoliberale Deregulie­ rung – der Hauptgrund, warum der Anteil der Selbständigen in Deutschland in den zurückliegenden zwanzig Jahren um 40 Prozent gestiegen ist. Laut DIW entfallen 60 Prozent der Neugründungen auf den Dienstleistungs­ sektor gegenüber nur einem Fünftel in Handel und Gastronomiegewerbe. Was man davon der Kultur- und Kreativwirtschaft zurechnet, ist – siehe oben – Definitionssache. Unbestreitbar ist allerdings, dass kreative Freibe­ rufler und Soloselbständige das wichtigste Wachstumsfeld in dem Bereich ausmachen.

Was die Politik tun ( und lassen ) kann Was heißt das nun für eine Politik, die sich die Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft auf die Agenda geschrieben hat – sei es auf Bundes-, Landes- oder lokaler Ebene ? Bevor man über Programme und Fördermaß­ nahmen nachdenkt, die auf die spezifischen Gegebenheiten eingehen und etwa den internationalen Marktzugang verbessern, die Akteure besser vernetzen oder leerstehende Immobilien in Zwischennutzungen überfüh­ ren, gilt es, drei Grundprinzipien zu erwägen, die durchaus im Konflikt mit der gängigen Cluster- und Förderpolitik für die Kreativwirtschaft stehen können.

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1.) Weniger ist mehr ! » Letztlich kann die Politik nur die Rahmenbedingungen für die digitale Bohème schaffen, und es ist schon einiges gewonnen, wenn sie einfach nichts tut, also nicht nervt « , schrieben Sascha Lobo und ich 2006 in » Wir nennen es Arbeit « über das neue Lebens- und Arbeitsgefühl der kreativen Avantgarde. Das war flapsig formuliert, trifft aber dennoch einen wahren Kern. Abgesehen davon, dass es Teil des politischen Prozesses ist, Töpfe für diejenigen als wertvoll erkannten Kulturformen zur Verfügung zu stellen, die ökonomisch unter dem Meeresspiegel liegen und sich nicht aus eigener Kraft tragen, laufen viele wohlmeinende Initiativen der Politik eher unter » gut gemeint « als gut im Sinne der Betroffenen. Kreativwettbewerbe zum Beispiel sind ein beliebtes Instrument der Politik, Aktivität unter Beweis zu stellen und sich mit den Gewinnern öffentlichkeitswirksam zu schmücken. In Wahrheit verzerren sie aber das Anreizsystem, weil viele Akteure, die am Ende leer ausgehen, Arbeit in Wettbewerbspräsentationen stecken, anstatt ihre eigentlichen Projekte zu verfolgen. Ähnliches gilt für die aus­ ufernde Antragsprosa bei der Vergabe von Kulturfördermitteln. Der Öko­ nom Matthias Binswanger hat in seinem Buch » Sinnlose Wettbewerbe « diesen volkswirtschaftlichen Unsinn angeprangert. Die Konsequenz müsste lauten, auf Kreativwettbewerbe ganz zu verzichten und die Vergabe gene­ rell niederschwelliger und geschmeidiger zu gestalten. Warum muss man bei einem Antrag für ein Theaterprojekt einen vollständig ausgearbeiteten Finanzplan einreichen, wenn in der ersten Auswahlrunde schon ein Wasch­ zettel gereicht hätte, um zu klären, dass das Projekt keine Förderung er­ hält. Fragt man Kreative im Feld (und nicht am Tropf öffentlicher Förderung hängende Kulturlobbyisten), was ihnen das Leben schwer macht, jammern sie seltener über ihre prekäre Situation und fehlende Staatsknete, als über büro­kratische Schikanen. Viele Freiberufler ächzen darunter, dass sie im Umgang mit Behörden von der Gewerbeaufsicht bis zum Finanzamt den selben Aufwand betreiben müssen, der schon manch mittelständisches Unternehmen an den Rand der Überforderung bringt. Die kumulative KSK-Abgabe ist ein spezifischer Missstand, der gerade arbeitsteilig in Netz­ werken arbeitende Kreative besonders hart trifft. Und die Frage » 7 oder 19 Prozent « Mehrwertsteuer hat schon manchem das ökonomische Genick gebrochen. An diesen Punkten einmal die Perspektive zu wechseln, Entlas­ tung aus Sicht der Betroffenen zu schaffen und die » Usability « der staat­ lichen Infrastruktur zu erhöhen, wäre eine erste Pflichtaufgabe, bevor man über die Kür nachdenkt.

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2.) Keine Extrawurst für Kreative ! Die Grenze verläuft nicht zwischen kreativ und nicht kreativ, sondern zwi­ schen Groß- und mittelständischen Unternehmen auf der einen, MicroBusinesses und Soloselbständigen auf der anderen Seite. Die Kultur- und Kreativwirtschaft franst durch digitale Technologien, neue Berufsfelder und einen erweiterten Designbegriff derart an den Rändern aus, dass jede Politik, die bei der Eingrenzung der Adressaten auf ihrer Definition beharrt, notwendigerweise hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Dass freie Jour­ nalisten und Autoren in den Genuss der KSK-Absicherungen kommen, wäh­ rend große Teile des akademischen Mittelbaus, die heute üblicherweise mit Werkverträgen und kleinen Lehraufträgen abgespeist werden, nackt im Hemd dastehen, zeigt, wie durch Klientelpolitik neue Ungerechtigkeiten entstehen. Nur weil sich selbst jemand als Künstler definiert, ist damit nicht gesagt, dass er einen wertvolleren gesellschaftlichen Beitrag leistet, als ein selbständiger Paartherapeut oder die Betreiberin eines Cupcake-Ladens. Umgekehrt kann die Kreativwirtschaft nur gedeihen, wo es eine gute Support-Infrastruktur von Copy-Shops, Computer-Spezialisten, Schreinern, Cafés etc. gibt. Eine Standortpolitik, die ein gutes Klima für eine kleinteilige und möglichst diverse Wirtschaft schafft, die vom traditionellen Handwerk bis zur IT-Bude reicht, wird immer auch eine gute Politik für die Kultur- und Kreativwirtschaft sein. 3.) Nicht Existenzgründung fördern, sondern Existenzen ! Entgegen anderslautenden Gerüchten ist die erste Phase der Selbständig­ keit relativ unkritisch. Gründungen im Kreativsektor erfordern meist we­ nig Kapital. Man hat ein paar Rücklagen gebildet und testet sich aus, ohne große unternehmerische Risiken einzugehen. Im Nichtschwimmerbecken kann man nur schwer ertrinken. Die echten Probleme stellen sich nach drei bis fünf Jahren, wenn ein funktionierendes Geschäftsmodell gefunden ist, man sich am Markt etabliert hat und nun vor der ersten Wachstums­ schwelle steht. Das heißt : Partner finden oder Mitarbeiter einstellen, eine geeignete Rechtsform finden, investieren, den Cash Flow managen. Hier wird auch die Volatilität der Einkommensströme erstmals zum Problem : Ein sehr gutes Geschäftsjahr kann aufgrund des Schweinezyklus der Ein­ kommenssteuer ein größeres Risiko bergen als ein unterdurchschnittliches. Hier ist Professionalisierung angesagt – und eine sachkundige Beratung angezeigt, die die Spezifika des kulturökonomischen Feldes kennt. Kreative schreiben keine Businesspläne. Selbst die neue Generation von Start-ups

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schreibt keine Business-Pläne mehr, sondern testet im » permanent Beta «Modus so lange Prototypen, bis ein marktfähiges Produkt herauskommt. Kreativförderung nach dem Vorbild der IHK-Existenzgründerprogramme zielt deshalb komplett an der Zielgruppe vorbei. Kulturschaffende zu Unter­ nehmern machen ! – Diese Botschaft ist bei den Kreativen längst angekom­ men, die sich als » social entrepreneurs « oder » Culturepreneurs « begreifen. Jetzt ist es an der Politik, die Schnittstellen nachzurüsten zwischen einem System der öffentlichen Kulturförderung, das nach eigenen Regeln, Geset­ zen und Mehrwertsteuersätzen funktioniert, und dem freien Markt. Denn in dieser Grauzone, wo sich Pioniere als Wandler und Botschafter zwischen den Welten positionieren, knirscht es noch gewaltig. Die hier skizzierte junge Fraktion von Akteuren in der Kultur- und Kreativ­ wirtschaft braucht die Politik nicht und hat die Rechnung ohne sie ge­ macht. Aber Politik kann sich entscheiden, ob sie Teil der mannigfaltigen Problemlage ist, der sich Kulturunternehmer heute gegenübersehen, oder ob sie Lösungen anbietet, indem sie Unterstützung auf Augenhöhe leistet – und damit zum Verbündeten einer breiten Aufbruchbewegung wird, die ohne­hin stattfindet, weil die Vektoren des technologischen, ökonomischen, kultu­rellen und gesellschaftlichen Fortschritts in ihre Richtung weisen.

Literatur Anderson, Chris (2012) : Makers. The new industrial revolution. Binswanger, Matthias (2010) : Sinnlose Wettbewerbe. Warum wir immer mehr Unsinn produzieren. Dercon, Chris (2010) : » Das Künstlerprekariat sitzt in der Falle « (Interview). In: Monopol, 19. 07. 2010. Florida, Richard (2002) : The rise of the creative class. Friebe, Holm / Lobo, Sascha (2006) : Wir nennen es Arbeit . Die digitale Boheme oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (1969) : Dialektik der Aufklärung. Howkins, John (2002) : The creative economy. How people make money from ideas.

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Howkins, John (2010) : Creative ecologies. Where thinking is a proper job. Pink, Daniel (2002) : Free agent nation. The future of working for yourself. Pink, Daniel (2009) : Dive. The surprising truth about what motivates us. Schwarz, Frederic J. (1999) : The Werkbund . Design theory and mass culture before the First World War.

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Von der Kunst zur Kreativwirtschaft Christoph Stölzl

» München leuchtet « » Die Kunst blüht, die Kunst ist an der Herrschaft « : Thomas Mann bringt in 1 seiner Novelle » Gladius Dei «  das München um 1900 als Kunststadt zum Leuchten. Die Kunst ist allgegenwärtig und vor allem in einer Vielgestal­ tigkeit, die den strengen Kunstbegriff weit überschreitet und die » Kreativ­ wirtschaft « unserer Zeit antizipiert. Sie zeigt sich in der Architektur, in den kleinen Skulptur-, Rahmen- und Antiquitätenhandlungen, den Auslagen der Kunstschreinereien, den Basaren für moderne Luxusartikel und den Buch­ läden. Selbst die Werbung für Toilettenartikel an den Litfaßsäulen ist noch künstlerisch ausgestaltet. » Historismus « ist das ästhetische Leitmotiv : Es gibt keinen herrschen­ den Stil, sondern eine Vielfalt an Gattungen und Stilen aus allen Epochen. Und die Kunst ist vor allem erwerbbar und zwar nahezu für Jedermann. Das München Thomas Manns ist die Stadt der Vervielfältigung, der Repro­ duktion und der Nachahmung von Kunstwerken, des Dekors und der Kom­ merzialisierung der Künste. Der eigentliche Ort der Handlung von » Gladius Dei « ist dann auch eine Kunsthandlung, » Blüthenzweig «, am Odeonsplatz. Leicht erkennt man hin­ ter der Maskierung das Kunstreproduktions-Imperium der Familie Hanf­ staengl. Das objectum litis der Geschichte ist die golden gerahmte Fotografie eines Gemäldes, das eine erotisierte Madonna zeigt. Diese Kunsthandlung ist schon so etwas wie eine Vorform der Bilder-Globalisierung unserer Tage. Sie ist ein kommerzialisiertes » Weltmuseum «, weil sie einen Zugang ver­ schafft zu den Werken aus allen wichtigen internationalen Galerien. Ihr Schaufenster wird dabei zur frei zugänglichen Kunstausstellung. In ihrem Lokal sind die Werke » zu Hauf getürmt «, allesamt Repliken, Vervielfältigun­ gen, Stiche, Fotografien, abgestimmt auf ganz verschiedene » Kauffähigkei­ ten « eines modernen Massenpublikums.

1 Thomas Mann: » Gladius Dei «, zitiert nach: Thomas Mann: Sämtliche Erzählungen, Band 1, 7. Auflage, 2000, S. 192 ff., erschienen bei S. Fischer, Frankfurt /Main

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Hochkunst versus Kulturindustrie – eine alte Debatte Die hohe Kunst hier und der niedere Kommerz dort, gewissenlos die vulgä­ ren Instinkte des Publikums ausbeutend? Das ist der Grundklang der No­ velle. Zur Diskussion gestellt wird die Bedeutung der Kunst, ihre Funktion zwischen Handelsware und heiliger Fackel, » die barmherzig hineinleuchte in alle fürchterlichen Tiefen, in alle scham- und gramvollen Abgründe des Daseins. « Es ist dies eine Debatte, die im Kontext der Kreativwirtschaft heute wieder präsent ist und bei der fast 600 Mrd. US-Dollar (UNCTAD 2010) jährlicher Umsatz mit kulturellen / kreativen Gütern im Welthandel die eine Seite markiert, das schroffe Autonomie-Ideal der Künste die an­ dere. Und dieser Streit um die Rolle der Kunst reicht weit zurück in die euro­ päische Geschichte. Auf ihre historische Dimension spielt Thomas Mann in seiner kleinen Novelle selbst an. Sein mönchsgleicher Protagonist mit den dichten Augenbrauen und der großen gehöckerten Nase, vor allem aber mit dem weiten Mantel und der großen Kapuze ist unverkennbar der Physio­gnomie der historischen Persönlichkeit des Savonerola nachgezeich­ net, jenes Bilderstürmers des ausgehenden 15. Jahrhunderts, der Florenz von Sinnlichkeit und darum auch von Kunstwerken frei machen wollte. Flo­ renz war eine in jener Zeit üppig blühende Kunstmetropole, die indes ihre Kunst damals schon zu guten Teilen aus der Nachahmung bezog, der spä­ ter » Renaissance « genannten Wiederverwendung antiker Stilformen. Eine solche » Renaissance « offenbarte sich nicht nur in Plastiken und Gemälden, sondern auch in Architektur, Möbeln und Gebrauchsgegenständen. Dies al­ les war nicht eine bloße Stilrevolution, sondern als Teil einer umfassenden Erneuerungsbewegung hin zu einem » neuen Menschen « aus dem Geiste der Antike zu verstehen, eine Verlagerung vom Menschen als Geschöpf hin zum Menschen als Schöpfer, als » plastes et fictor « (Pico della Mirandola) seiner selbst und seiner Umwelt.

Lebensreform um 1900 Eine Renaissance als Epoche mit enormen Aufbruchsgefühlen stand auch um 1900 wieder an. Und ähnlich wie am Beginn der Neuzeit griff sie weit hinein in die Lebenswirklichkeit. Die Eliten des Bürgertums beschäftigten sich intensiv mit dem Verhältnis von Kunst und Leben. Die Suche nach ver­ bindlichen ästhetischen Normen war Teil der umfassenden Diskussion einer » Lebensreform «. Architekten und Designer sammelten sich im » Deutschen

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Werkbund « und gründeten Reformproduktionsstätten wie die » Vereinigten Werkstätten «. Vorbild war die vorhergehende » Arts and Craft «-Bewegung im England des späten 19. Jahrhunderts. Bücher wie » Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe « und die anderen Programmschriften von Henry van de Velde, Hermann Muthesius’ » Kunst und Maschine «, Paul SchulzeNaumburgs » Häusliche Kunstpflege « wurden tausendfach gekauft, und über ihre Thesen, darunter z. B. auch die über » weibliche Reformkleidung «, wurde abends vor vollen Sälen geredet. Zeitschriften wie der » Kunstwart « oder » Deutsche Kunst und Dekoration « hatten weite Verbreitung und bo­ ten das Forum für die Auseinandersetzung mit den neuesten Stilentwick­ lungen und ihrer Anwendung im Alltag. Dass » Gestaltung « eine Formel war, in der sich Elemente der autonomen Kunst ebenso finden wie solche des modernen, fundamental demokratisierten Lebensstils, der Wirtschaft und des Marketings, ist damals öffentlich sichtbar geworden. Im » Jugend­ stil « verwischte sich die von den Philosophen der Kunstautonomie ideali­ sierte Trennung zwischen Kunst und Leben. Drei Jahrzehnte später, im Jahr 1935, hat der Philosoph Walter Benjamin die Bilanz der ästhetischen Revo­ lution seiner Zeit in einem noch heute aktuellen Essay aufgegriffen : » Das Kunstwerk im Zeitalter seiner mechanischen Reproduzierbarkeit «.

» Kreativwirtschaft « – neues Wort für eine wohlbekannte Sache ? In der heutigen Kreativwirtschafts-Diskussion knüpft man direkt an die Positionen vom Beginn des letzten Jahrhunderts an, merkwürdigerweise meist ohne sich dieses » Déjà-vu « bewusst zu sein. Noch immer wird gerne eine Grenze gezogen zwischen sogenannter » Hochkunst «, sogenannter » E-Musik « etwa, und » U «, also Unterhaltung, zwischen freiem Kunstschaffen und dem Markt. Solche Unterscheidun­ gen sind jedoch willkürlich, wie jeder vergleichende Blick in die Kunst- und Kultur­geschichte zeigt. Vor allem geht in dieser Unterscheidung unter, dass jede Kunst der Vermittlung und Distribution bedarf, will sie ihre sinnstif­ tende Mission realisieren. Allein vom Staat solche Vermittlung zu erwar­ ten, ist gleichermaßen weltfremd wie in der Konsequenz auch fragwürdig für unseren Freiheitsbegriff. Bei den älteren kulturwirtschaftlichen Phäno­ men – wie etwa beim Verlagswesen und dem Buchhandel – hat sich längst die Anerkennung ihrer Unentbehrlichkeit im Markt durchgesetzt. Dass sie trotz ihrer Gewinnziele zur erhaltenswerten » Hochkultur « gehören, mag niemand bestreiten.

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Dennoch : Immer noch verstellen Berührungsängste der Hochkultur-Puris­ ten den unbefangenen Blick für die Chancen der Kreativwirtschaft. Dabei ist sie ein hochinteressantes wirtschaftliches Zukunftsfeld. Um es zum Blü­ hen zu bringen, bedarf es freilich auch bewusster politischer Hilfestellung.

Was eine blühende Kreativwirtschaft braucht

Historische Exempel und politische Nutzanwendung Fünf Faktoren sollen im Folgenden aufgezeigt werden, auf denen jedes Erblühen der Kunst und der Kreativwirtschaft gegründet ist. Beim Nach­ denken über einer Strategie zur Stärkung der Kreativwirtschaft sollten sie immer gegenwärtig sein. Erstens : Auftraggeber Jede Kunst braucht letztlich einen Auftraggeber. Überall dort, wo sich bis heute sichtbare Kunst(geschichte) findet, lässt sich dies unmittelbar oder mittelbar mit einem Auftraggeber in Verbindung bringen. Das bedeutet nicht, dass jede Kunst, jede künstlerisch-kreative Schöp­ fung, erst auf der Basis eines konkreten Auftrags entsteht. Selbstverständ­ lich gab es und gibt es einen Markt, für den kulturelle Güter produziert werden, die zunächst auf eigene Initiative, eigenes Risiko erzeugt werden. Aber auch diese autonomen » Risiko-Produzenten «, der Normalfall jeder künstlerischen Avantgarde, können von der langbewährten Vermutung ausgehen, dass es eines Tages Menschen geben wird, die sich (als Käufer, als Förderer) für genau diese schöpferische Leistung interessieren werden. Die Öffentlichkeit für kreative Leistungen folgt langlebigen Traditions­ linien, darunter der stillschweigenden Vereinbarung, dass » Qualität « das Kriterium für Kunst sein soll. Wie sie definiert wird, ändert sich in den historischen Wertewandlungen. Aber dass » Kunst von können « kommt, darüber besteht Konsens. Zwei Urbilder bestimmen auch heute die Ent­ stehung und Vermittlung von Produkten, deren maßgeblicher Bestandteil Gestaltung ist : Einmal der Auftrag vor der Schöpfung – übermächtig z. B. in der Architektur – und ein anderes Mal der » nachholende « Auftrag des Sammlers – übermächtig seit dem 19. Jahrhundert im Kunstmarkt. Historisch unerhört machtvoll waren jene Auftraggeber, deren Atem so lang war, dass sie Richtungsentscheidungen treffen und stilprägend wirken konnten.

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Das waren in der vormodernen Zeit vor allem die Repräsentanten der aristo­ kratischen Oberschicht, sei es eine Dynastie, ein geistliches Fürstentum oder ein, in der Regel ebenfalls vom Adel dominiertes, Kloster, später in den großen Städten auch Auftraggeber aus der bürgerlichen Oberschicht. Mit ihren Aufträgen zum Bau von Schlössern und Kathedralen, aber zum Bei­ spiel auch zur Ausstattung von Festen, förderten die Oberschichten der Ver­ gangenheit eine ausdifferenzierte Struktur der Produktion kultureller Güter und Dienstleistungen. Berühmt sind die Glanzzeiten solcher Auftragskünste wie etwa das » au­ gusteische « Zeitalter Dresdens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Damals entstand, angetrieben vom Repräsentationswillen der kursächsi­ schen Wettiner, ein breit gefächertes Luxus-Handwerk samt hochspeziali­ sierten Luxus-Dienstleistern. Die Stadt Dresden erlebte nicht zuletzt durch spektakuläre Repräsentationsbauten wie den Zwinger oder die Frauen­ kirche einen tiefgreifenden Charakterwandel. Dresden galt seitdem für immer als Stadt der Kunst- und Lebensfreude und als Sammelplatz gesell­ schaftlicher Eliten, ein Image, das sogar alle Katastrophen des 20. Jahrhun­ derts überstanden hat. Für Dauerhaftigkeit und Breitenwirkung solcher kulturwirtschaftlicher Impulse sorgt dann das Phänomen der » absteigenden Kulturgüter « : Das Vorbild der Eliten weckt den Nachahmungswunsch in der Breite der Be­ völkerung und schafft eine Nachfrage nach massenhaft erschwinglichen Kultur­gütern, die nur von einer wachsenden Zahl von Produzenten befrie­ digt werden kann. Schon die italienischen Maler der Renaissance sorgten durch Kupferstiche ihrer Gemälde dafür, dass sich das Unikat als Abbild auch auf einem Massenmarkt ertragreich einsetzen ließ und konnten da­ bei den Ruhm, den sie vom Auftraggeber ableiteten, gewinnbringend auf diesem neuartigen Markt einsetzen. Möbel, Mode, Kunsthandwerk und Hausrat, Wandschmuck und Bücher haben so ihre charakteristischen Pro­ duktionsformen und Märkte entwickelt. Solche mächtigen Auftraggeber gibt es bis heute, nicht mehr als aristo­ kratisch-höfische Instanzen, aber doch in anderer Gestalt : als kenntnis­ reicher Sammler, als staatliche Museums-Kuratoren, als Kunsthändler, als Architektur- oder Kunstjuroren, als Kunstexperten von Stiftungen und Unternehmen, als Kunstkritiker in den Medien. Von größter Bedeutung sind diese auf vielfältige Weise zusammenwir­ kenden » Agenten der Meinungsbildung « für die Wertentwicklung eines Werkes. Auch darauf verweist bereits Thomas Mann in seiner eingangs

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genannten Novelle : Der Kunstdruck, der in Thomas Manns Novelle zum Streitgegenstand wird, verdankt seine Prominenz und damit auch seinen kommerziellen Wert zweierlei Umständen – zum einen dass das Ori­ginal von der Pinakothek angekauft wurde und zum anderen dass der Künstler schon zweimal beim Prinzregenten zum Essen eingeladen war. In der Gegenwart, wo inzwischen ein extrem erweiterter Kunstbegriff herrscht, stellen die Agenten der Meinungsbildung oft überhaupt erst die Weichen dafür, welche Objekte bzw. Phänomene als » Kunst « eingestuft werden. Die Bedeutung, welche die Experten dem Werk beimessen, prägt die Wahrnehmung des Kunstwerkes und verändert schließlich das allge­ meine Sehen auf dieses Werk. Kommt dazu eine in Zahlen ausgedrückte Bewertung durch den Markt, so wirkt dies auf kurz oder lang auch auf die Geschmacksbildung des Publikums zurück. Auch die weniger erfahrenen Betrachter folgen in der Regel dem Mainstream des Marktes. Die Beispiele sind zahlreich, die belegen, dass Kunst im engeren Sinne, aber auch die Kreativwirtschaft in einem weiteren Sinne überall dort blü­ hen, wo es ein » Cluster « von Auftraggebern und Meinungsbildnern gibt. Auf den Ort, ob Metropole oder Provinz, kommt es dabei nicht vorrangig an. Große Städte wie Rom, Florenz oder München konnten zu » Marken « in der Geschichte der europäischen Kunst ebenso werden wie die kleinen Residenzen Darmstadt und Weimar. Die Kunst war, wie es bei Thomas Mann heißt, an der Herrschaft. Aber nicht zuletzt diente sie dieser Herrschaft. Die Folgen eines solchen Engagements kommen dann – und das macht die eigentliche Bedeutung aus – nicht nur dem Mäzen zugute. Die immate­ rielle » Wertschöpfung «, die durch die Künste für eine Stadt oder Region entstehen kann, geht oft deutlich über das hinaus, was durch andere Wirt­ schaftsbereiche geleistet wird. Der symbolische Gehalt der Künste vermit­ telt auch dem Ort selbst einen symbolischen Wert, der auch dann noch wirkt, wenn der zugrunde liegende Zusammenhang längst aufgelöst ist. Die Glockengießerstadt Apolda zum Beispiel genießt nicht annähernd die Bekanntheit und Bedeutung der benachbarten Klassikerstadt Weimar, ob­ schon die in Apolda gegossenen Glocken europaweit zum Einsatz kommen, zum Beispiel auch am Kölner Dom. Das Blühen Münchens um 1900 verdankte sich den früheren bayerischen Monarchen als ehrgeizigen Auftraggebern. Die Kulturstadt Paris profitiert bis heute von der Wirksamkeit eines Königshofes, der im 17. und 18. Jahr­ hundert sämtliche Kunstindustrien beflügelte : Theater und Musik, aber vor

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allem auch Architektur, Innendekoration und Möbelkunst, Malerei, Grafikund Buchkunst und nicht zuletzt die Modewirtschaft, allesamt zur ästhe­ tischen Vervollkommnung fähige Produktionszweige. Selbst der Wieder­ aufstieg Dresdens nach 1990 lebt zum nicht geringen Teil vom Mythos der » augusteischen « Kunststadt Dresden des 18. Jahrhunderts. Zweitens : Handwerk Zuerst eine simple Beobachtung : Jede Kunst, auch die alle modernen Techni­ ken benutzende, basiert letztlich auf Handwerk. Der schöpferische Zu- und Eingriff des Künstler-Individuums ist, zumindest am Beginn der Produktion, unersetzlich, auch wenn in der Vervielfältigung später Maschinen zum Ein­ satz kommen können. Kunsthandwerk, Kunstgewerbe und Kunstindustrie sind also legitime Verwandte des einsamen Künstlertums, das um das Uni­ kat ringt. Oft genug finden sich übrigens in ein und derselben Biographie beide Motive : Der von Königen und Kaisern wegen seiner einzig­artigen Unikate umworbene Albrecht Dürer war zugleich der erste Grafik-Groß­ verleger, dessen Produkte auf der Frankfurter Messe gehandelt wurden. Der künstlerische Werkauftrag verschaffte die Legitimation und Reputation, die Reproduktion durch den Druck sorgte für die wirtschaftliche Verwertung und den auch ökonomischen Gewinn. Kunst und Markt waren schon vor 500 Jahren eng verwoben und alles andere als Antipoden. Von Dürer stammt dann auch eines der ersten Markenzeichen der Warengeschichte, sein wohl­ bekanntes Signet, in dem das A und das D miteinander verschlungen sind. Freilich, als selbstverständlich anerkannt ist diese Einheit der Künste, trotz vieler Anläufe im 20. Jahrhundert, immer noch nicht. Mit dem Ringen um die Anerkennung einer Kreativwirtschaft knüpft der heutige Diskurs dann im Grunde auch an die Kunstreformbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an. Das von Walter Gropius im Jahr 1919 formulierte Bauhaus-Manifest fasst diese Ideen in dem Aufruf zusammen : » Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine › Kunst von Beruf ‹. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. « Diese neu formulierte Erkenntnis war über lange Zeit unbestritten gewe­ sen. Die Schöpfer jener Artefakte, die uns heute als bedeutende Kunstwerke gelten, waren seit der Antike begabte Handwerker, seien sie Steinmetze oder Bildhauer, Maler, Stuckateure, Möbeltischler, Keramiker, Silber- und Gold­ schmiede oder Weber gewesen. Der künstlerische Wert zeigte sich in der

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Außerordentlichkeit der Ausführung. Erst allmählich führte diese Besonder­ heiten zur Rangerhöhung einzelner Handwerker hin zur Ausnahme­existenz im Sinne eines » Künstlers « und damit verbunden zu einer Akademi­sierung bestimmter, später als Kunst im engeren Sinne akzeptierten Tätigkeiten. Darum fehlt es auch für die meisten Kunstwerke der alten und älteren Ge­ schichte an Signierungen durch ihre Schöpfer. Ein solches im Signet zu Tage tretendes Herausgehobensein war noch unbekannt. Im Kanon der Antike und in der Folge auch in den frühen Akademiebewegungen des Spätmittel­ alters hatte lediglich die Poesie den besonderen Status einer nicht in den Bereich des Handwerklichen fallenden besonderen Disziplin. Sie war aus dem Kreis der Tätigkeiten herausgehoben, die mit körperlichem Aufwand zu erbringen waren und die deshalb nach einem in der Antike gebräuch­ lichen Verständnis nicht zu einem aristokratischen Bildungsprogramm ge­ hörten, weil sie, wie Seneca in einem seiner Briefe schrieb, der Würde eines 2 freien Mannes nicht entsprachen.  Erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts setzte sich auch für die Malerei und Bildhauerei der Anspruch durch, zu diesen » freien Künsten «, damals noch sieben an der Zahl, gerechnet zu werden, mithin zu den akademischen – also auf einer Universität bzw. Akademie gelehrten – Disziplinen Rhetorik, Grammatik, Dialektik und Geometrie sowie Arithmetik, Astronomie und Musik. Bezeichnenderweise vollzog sich dieser Aufstieg aus dem Handwerk im Paris Ludwigs XIV. Dieser Aufstieg folgte dann auch gerade nicht einer ästhetischen Debatte, sondern einer wirtschaftlichen Logik. Denn die Ini­ tiative zur Rangerhöhung der bildenden Künste ging von den Hofmalern am französischen Königshof aus. Sie waren als einzige Maler und Bild­ hauer nicht in der Communauté des maîtres peintres et sculpteurs de Paris, der Handwerksgilde der Maler und Bildhauer, in zunftartigen Strukturen zwangsorganisiert. Ihnen kam zudem das Privileg zu, neben ihrer Tätig­ keit am Hof – losgelöst vom strengen Reglement der Zunft und vor allem außerhalb deren Abgabenzwangs – Aufträge auch jenseits des Königshofs und sogar außerhalb der Stadt Paris annehmen zu dürfen. In dem Moment, wo die städtische Gilde auch die als Konkurrenten gefürchteten Hofmaler unter das eigene Reglement zwingen wollte, gründeten diese mit Unter­ stützung des Königshauses die Académie Royale de Peinture et de Sculpture und teilten die Künstlerschaft fortan in die als praktische Künstler tätigen 2 Seneca, Epistolae LXXXVIII : » […] quia homine libero digna sunt. «

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Handwerker und in Akademiemitglieder ein, die nunmehr der Malerei und Bildhauerei als freien, von allen Zunftregeln befreiten Künsten nachgingen (Valerius 2010 :  18). De facto tauschten sie damit allerdings den engen Zwang der Zunft gegen die ästhetische Disziplinierung durch die Akademie, freilich um den Vor­ teil einer wirtschaftlichen Besserstellung. Der neue Status der AkademieKünstler bestand dann lange Zeit vor allem darin, sich dem in der jeweili­ gen Akademie herrschenden Stil unterzuordnen – für die Académie Royale de Peinture et de Sculpture war dies über die meiste Zeit ihres Bestehens eine bestimmte Art der Historienmalerei – und in den geschlossenen Salons der Akademien ihre Werke zu präsentieren. Damit nahm die Akademie die oben beschriebene stilbildende und auswählende Rolle des Auftraggebers ein. Sie kanalisierte aber auch Malereiaufträge, vermittelte durch ihre Legi­ timation den Mitgliedern ein Ein- und Auskommen aus der künstlerischen Tätigkeit, bestimmte aber vor allem auch, was Kunst ist, ein Anspruch, von dem sich auch manch Künstlerverband noch nicht lösen konnte. Diese der Zeit Ludwigs XIV. entstammende Hierarchisierung der zuvor auf einer Stufe stehenden Kunstfertigkeiten der Maler, Bildhauer, Stucka­ teure, Möbeltischler usw. wirkt im Grunde bis heute fort, nicht nur in der akademischen Praxis, sondern bis hinein in die Sozialgesetzgebung mit ihrer harschen Abgrenzung in der Künstlersozialversicherung. Auch die nunmehr schon mehr als 20 Jahre andauernde Debatte um die Kreativwirtschaft konnte diese Trennung noch nicht aufheben. Im Gegenteil laviert sie zuwei­ len um das Problem herum, will in Kulturwirtschaft und Kreativwirtschaft unterscheiden, klammert sich an einem exklusiven und doch zufälligen Be­ griff der Kunst, der Schriftsteller, bildende Künstler und Komponisten, aber auch Restauratoren und Journalisten als im eigentlichen Sinne künstlerisch Tätige anerkennt, nicht aber Fotografen, Illustratoren, Modemacher oder Setdesigner (Endbericht : Anlage D). Hier liegt für die Zukunft eine Chance, den Diskurs über die Kreativwirt­ schaft zu einer Klarstellung zu nutzen und diesem » Zerbröckelungswerk « der Neuzeit (Van de Velde 1901 : 26) ein Ende zu bereiten. Anknüpfen lässt sich dazu an das Weimarer Bauhaus und sein oben schon zitiertes Grün­ dungsmanifest. Ganz bewusst verstand sich das Bauhaus darum auch nicht als eine klassische Akademie, sondern als eine Ausbildungsstätte, die mehr an die von Henry van de Velde 1907 in Weimar gegründeten Kunstgewer­ beschule anknüpfte als an die Großherzogliche Kunstschule, die ebenfalls im Bauhaus aufging. In den Werkstätten des Bauhauses standen Künstler

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und Handwerker als Meister gleichberechtigt nebeneinander. Es wider­ sprach fortan nicht mehr der Würde des Künstlers als freiem Menschen, mit seinem Können auch unternehmerisch tätig zu sein : » Künstler, werdet (wieder) Kunstindustrielle! « hatte Henry van de Velde 1910 seinen Zeitge­ nossen zugerufen (Van de Velde 1910 : 150 f.). Im Gegenteil : Die Kunst sollte sich sogar mitten hinein begeben in den auch industriellen Produktions­ prozess und dort eine Wirkung entfalten, die sie in den Salons nie ent­ falten könnte, und zwar eine unmittelbar gesellschaftliche Wirkung im Dienste eines komplexen sozialen Entwurfs. Dass eine Abgrenzung von künstlerischen und » nichtkünstlerischen « Tätigkeiten in der Kreativwirtschaft auch heute gar nicht mehr mög­ lich ist, weiß jeder, der sich in der Praxis damit beschäftigt. Er wird recht rasch künstlerische Bereiche entdecken, die sich in den klassischen Kanon nicht einordnen lassen und Menschen begegnen, die selbstverständlich als Unternehmer tätig sind und dennoch den Anspruch, in ihrem Wirken künstlerisch zu sein, nicht aufgeben. Und es war alles andere als abwegig, wenn Henry van de Velde auch dem Ingenieur, der eine komplexe Maschine konstruiert, den Status als Künstler ohne weiteres einzuräumen bereit war (Van de Velde 1901 :  111). In der Trennung zwischen Kunst und Handwerk, auch in der edleren Form der » angewandten Kunst «, schwingt vor allem auch die noch immer in der Kulturpolitik genutzte Trennung zwischen Ernst und Unterhaltung mit, die nach formalen Abgrenzungskriterien sucht und im Zweifel die Publikums­ resonanz zum Kriterium nimmt, so als könne nicht als Kunst bestehen, was großen Beifall findet. Dazu hat schon Goethe in einem seiner Gespräche mit Eckermann im Jahr 1825 das unverändert gültige Wort gesagt : » Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben. « (Eckermann 1837 :  221). Drittens : Teamwork Wie wird Kunst? Gegen das Bild des in seinem Atelier einsam arbeitenden Künstlers setzte schon das Bauhaus die Kooperation und die Werkgemein­ schaft. Das Idyll des Handwerkers, der allein ein Werk erdenkt, erschafft und übergibt, wurde als frühe Form des Schaffens in vormodernen Gesell­ schaften definiert. Dagegen traten die Ideengeber des Bauhauses an, die Komplexität zeitgenössischer Gesellschaft in ihren vielfältigen Ausdiffe­ renzierungen gerade bei der Organisation von Arbeit auch für den Bereich der Künste zu formulieren. Das Bauhaus-Manifest forderte deshalb nicht

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nur die Rückbesinnung auf das Handwerk als Fundament jeder Kunst und setzte als » Endziel aller bildnerischen Tätigkeit « das größtmögliche Werk, den Bau. Es bezog sich dazu auch explizit auf die mittelalterlichen Bauhüt­ ten, die am Kathedralbau zusammen wirkten und dabei komplex arbeits­ teilig, individuell hoch spezialisiert und international orientiert einem ge­ meinsamen ästhetischen Konzept folgten. Der Werkbeitrag des Einzelnen war notwendig und wichtig, aber eben nur in der Gemeinschaft des Werkes und insoweit für sich genommen und isoliert nutzlos. Wo die Aufgaben komplex werden, kann auch nicht mehr die Kunst auf das Individuum be­ zogen bleiben, jedenfalls wenn sie ihre Verortung in der Gesellschaft nicht aufgeben will. Und in dem Maße, wie die Werke größer und komplexer werden, muss auch die Kunst sich der neuen Wirklichkeit stellen und an den ausdifferenzierten Arbeitsprozessen teilhaben. Tatsächlich lässt sich ein Aufblühen der Kunst – und im heutigen Sinne der Kreativwirtschaft – gerade dort aufzeigen, wo ihre einzelnen Diszi­plinen über eine längere Zeit an großen Bauwerken synästhetisch zusammen wir­ ken. Projektbezogene Kooperation, branchenübergreifende Vernetzung und vor allem Internationalität waren die Kennzeichen eines Wirkens, das wesentlich zur Herausbildung von Stilen beitrug. Nicht zufällig lassen sich bis zu den » Ismen « des späten 19. Jahrhunderts alle wichtigen europäi­ schen Kunststile von Architekturen ableiten. Die bildende Kunst selbst ist seit je her eine Kunst für den Raum und lange Zeit mit diesem fest verbun­ den. Malerei und Skulptur waren, wie es im Bauhaus-Manifest zutreffend heißt, im Wortsinn » unablösliche Bestandteile der großen Baukunst. « Zum Bau treten andere Werke, in der Sprache des Bauhauses : Einheits­ werke, hinzu, die das Zusammenwirken verschiedener Disziplinen erfor­ dern. Allen voran ist hier das Fest zu nennen. Das Fest in seiner höfischen Repräsentationsfunktion beflügelte förmlich die Gewerke der Kreativwirt­ schaft. Noch die heutige Vorstellung von Theater, Oper oder Film mit ihrer künstlerischen Ausstattung gründet im Wesentlichen auf dem höfischen Fest. Jenseits des Hofes wird das Fest zum sozialen Ereignis, in dem unter­ schiedliche Milieus zusammen kommen und der Einzelne unter anderem auch die Möglichkeit erhält, entdeckt zu werden. Das gilt für den Teilneh­ mer am Fest dabei ebenso wie für den Ausstatter, dem sein Werk auch als Werbung dient und neue Aufträge verschaffen kann. Zum Fest tritt im 19. Jahrhundert die öffentliche Ausstellung, die aus den geschlossenen Salons der Akademien heraus tritt und in der die Kunst­ industrie fortan im regelmäßigen Turnus auf den Punkt kommt. Und wer

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zur Ausstellung nicht eingeladen wurde, weil er sich dem vorgegebenen Stil nicht fügen wollte, der schuf sich ein eigenes Ereignis, wovon die Secessio­ nen des Fin de Siècle ein Zeugnis geben. Noch mehr Aufmerksamkeit als die zahlreichen Kunstausstellungen er­ fuhren die großen Kunstgewerbeausstellungen und vor allem die Weltaus­ stellungen. Mit ihrer Wirkung auf ein Massenpublikum demonstrierten und vor allem popularisierten sie eine neue Einheit von Kunst und Technik und ein neues Verständnis auch von Form und Werk. Schon für den Bauhaus-Gründer Walter Gropius war deshalb auch nicht nur der Bau ein Einheitskunstwerk. Auch das Industrieprodukt kann ein solches Kunstwerk werden. Tatsächlich begann das Engagements von Wal­ ter Gropius in Weimar dann auch nicht mit dem Fokus auf das Handwerk gerichtet, sondern mit Blick auf die Industrie. Schon im Jahr 1916 legte Gropius der Weimarer Regierung ein Programm für eine Beratungsstelle für Industrie, Gewerbe und Handwerk vor, das erkennbar an das Wirken van de Veldes und dessen Kunstgewerblichen Seminars anschloss. Auch für die Industrie nutzte Gropius dabei das Bild der mittelalterlichen Bauhütte als Vorbild, denn es sollte in der Industrie­ produktion » eine ähnlich glückliche Arbeitsgemeinschaft wiedererstehen, wie sie vorbildlich die Mittelalterlichen › Hütten ‹ besaßen, in denen sich zahl­reiche artverwandte Werkkünstler – Architekten, Bildhauer und Handwerker aller Grade – zusammenfanden und aus einem gleichgearteten Geist heraus, … , ihr selbständiges Teilwerk bescheiden [einfügten] « (Wahl 2007 : 352). Statt des Architekten, Bildhauer und Handwerker wählte Gropius für diese neue Arbeitsgemeinschaft den Dreiklang des » Künstlers, Kauf­ manns und Technikers « (Wahl 2007 : 349). Schon 1916 war für Gropius klar, dass, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen, nicht mehr die bloße technische Entwicklung genügt. Vielmehr heißt es in seinem Vorschlag, dass » das technisch überall gleich vorzügliche Ding, … , mit geistiger Idee, mit Form durchtränkt werden [muss], damit ihm die Bevorzugung unter der Menge gleichartiger Erzeugnisse gesichert bleibt « (Wahl 2007 :  349). Erst heute ist die Debatte um das Wesen und die Bedeutung der Innovation wieder auf dieser Höhe angekommen. Und auch die von Gropius geforderte Kooperation über Branchen hinweg, die ihr Modell in der altbewährten äs­ thetisch synchronisierten Zusammenarbeit der Gewerke am Einheitswerk hat, wird heute wieder ernst genommen, wenn inzwischen die Forderung nach der Einbeziehung kreativer Dienstleistungen in Innovationsprozesse erhoben wird (Endbericht ii  2012 :  145).

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Dabei ist eines der herausragenden Beispiele für das Einheitswerk des 20. und sicher auch noch 21. Jahrhunderts allgegenwärtig : das Automobil. An ihm zeigt sich der auch wirtschaftliche Erfolg des von Gropius geforderten Zusammenwirkens. Dieses Zusammenwirken hat dem Industriezweig in Deutschland nicht nur ein Überleben gesicherte, sondern die Automobil­ industrie geradezu zu einer Schlüsselindustrie werden lassen, die nach wie vor am Weltmarkt konkurrenzfähig ist, trotz der sonst immer gern beklag­ ten Lohn- und Energiekosten. Dabei ist das Automobil auch in einem ästhe­ tischen Sinne diskursbestimmend : Es dominiert das Stadtbild, ist Teil des gesellschaftlichen Gesprächs selbst noch auf der Familienfeier. Und schon Kinder lernen die » Gesichter « der Automarken zu unterscheiden. Letztlich basiert auch der Welterfolg des Computerbauers Apple auf die­ ser von Gropius formulierten Logik. Und nicht zufällig liegt den Produkten dieses Unternehmens unverkennbar die europäische Tradition des Einheits­ werkes und damit des Bauhauses zugrunde. Die alten Griechen, die für » Kunst «, Handwerk und Ingenieursleistung nur ein Wort hatten, » τεχνη «, hätten ihre Freude daran. Gropius Plan für die Belebung der Industrie in Weimar scheiterte übrigens an Bedenken der Handwerkskammer, denen sich das für Wirtschaft zustän­ dige Innenministerium gerne anschloss. Dessen Auffassung war, dass die Stärkung der Lage des Handwerks die » P flicht des Staatsministeriums sein muss, wenn es nicht der bis jetzt nach Kräften verfolgten Aufgabe untreu werden will. « (Wahl 2007 : 356 f.) Das Bauhaus hat seinen Ursprung damit auch in der Verweigerung einer Industriepolitik und es bleibt eine span­ nende Aufgabe der Wirtschaftspolitik, das Bauhaus im 21. Jahrhundert mit der Industrie und Technik zu versöhnen. Viertens : Mut zum Stil Die Kreativwirtschaft ist dort stark, wo sie einen eigenen Stil auszuprägen vermag. Dabei muss eine Kreativwirtschaft in der Lage sein, Bestehendes hinter sich zu lassen und Neues auszubilden. Gerade der Zusammenklang der Disziplinen und Gewerke bei der Schaf­ fung eines Werkes ermöglicht es, einen Stil zu schaffen. Auch hier kommt dem Auftraggeber eine entscheidende Bedeutung zu. Er lenkt mit seinen ästhetischen Vorstellungen, will sich mit seinem Geschmack durchsetzen, sei es nun aus dem imperialen Anspruch eines barocken französischen Königtums heraus oder aufgrund der Bauhaus-Affinität eines Steve Jobs.

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Gelingt es, einen solchen Stil zu etablieren, entsteht dadurch ein Prestige, das nicht allein auf den Auftraggeber und oftmals zugleich auf den Ort sei­ ner Entstehung zurück wirkt, sondern auch auf eine Produktgattung oder gar ein Produkt Einfluss haben kann. Gerade einen solchen, von einem Stil abgeleiteten Prestigetransfer, braucht jede erfolgreiche Kreativwirtschaft. Dann ist es auch möglich, die erlernte Kompetenz und den erlernten Stil jenseits des originären Verhältnisses zum Auftraggeber einem Konsum­ gütermarkt zur Verfügung zu stellen. Der Markt stellt dabei jeden Produ­ zenten vor das Problem, vom Luxusgut erst noch zum Angebotsmarkt zu gelangen und dabei eine Nachfrage nach dem Gut erst zu schaffen. Der Stil hilft, den Kunden zu einer Kaufentscheidung zu veranlassen, die nicht einem elementaren Bedarf folgt, sondern dem Wunsch, das haben zu wol­ len, was die geschmacksbildenden Eliten bevorzugen. Der Stil hilft damit auch, Produkte einer bestimmten Region, von be­ stimmten auch ledig­lich regional definierten Produzenten, am Markt zu positionieren. Die » Vereinigten Werkstätten «, zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts in München im Rahmen der Kunstgewerbebewegung entstanden, konnten ihre in der Salonausstattung erworbenen Fertigkeiten mit Erfolg in die Ausstattung von Hochseedampfer transferieren und diesen Stil­ erfolg des sogenannten Dampferstils noch Jahrzehnte später bei der Be­ lieferung der deutschen Upper Classes fortsetzen. Und das Bauhaus, von den Nationalsozialisten früh bedrängt und kaum ein Jahrzehnt nach seiner Gründung als Institution untergegangen, hat als Stilideal und DesignMythos bis heute überlebt. Die Bedeutung des Stils zeigt sich auch in der öffentlichkeitswirksamen Konstruktion sogenannter » Schulen « – wie etwa der nach 1990 die Welt erobernden Leipziger Schule in der bildenden Kunst – oder in dem Mythos Paris, das immer noch das symbolische Zentrum für die Modewirtschaft ist, obgleich dort längst nicht mehr nennenswert produziert wird. Mit dem Stil einher geht das Bestreben, Neues zu schaffen. Motivation dafür ist nicht selten eine Konkurrenzsituation am Markt. Die schnelle Folge von Stilen in der Kunst des späten 19. Jahrhunderts dürfte darum eine wich­ tige Ursache in der steten Zunahme der Zahl der Künstler der Zeit gehabt haben. Jede wirtschaftlich erfolgreiche Kunstindustrie oder Kreativwirt­ schaft muss die Fähigkeit zur zyklischen Erneuerung entwickeln und in der Lage sein, Bestehendes alt werden zu lassen. In einer solchen Erneuerung liegt nicht unbedingt eine Abwertung des bisher Bestehenden, das seine

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Geltung durchaus behalten kann, aber doch seine Überwindung. Zum Stil kommen damit der Trend und die Mode. Dabei muss eine erfolgreiche Kreativwirtschaft in einer Region nicht zwingend einen eigenen Stil ausbilden. Auch die Übernahme eines Stils kann wirtschaftlich erfolgreich sein, zumal jedenfalls die großen epoche­ machenden Stile gerade aus dieser ortsübergreifenden Anwendung ihre Bedeutung beziehen. Die oberitalienische Möbelindustrie mit ihren auf handwerklich höchstem Niveau gefertigten Stilmöbeln lässt sich dazu ebenso anführen wie abermals das Bauhaus, das inzwischen eher als Mythos denn als reiner Stil genutzt wird und dabei nicht auf Weimar, Des­ sau oder Berlin beschränkt ist, sondern zum weltweit genutzten Symbol wurde. Schließlich ist noch das Populäre eine nützliche Zutat für die Melange oder besser den Humus, aus dem sich auch das Neue emporheben kann. Die Ironisierung Münchens als bloßes Eldorado der Reproduktion, die Thomas Mann in seiner eingangs zitierten Novelle » Gladius Dei « vollführt, sagt deshalb nichts, jedenfalls nichts negatives, über die katalysatorische Wirkung solcher Cluster. Auch wenn es zunächst die Aneignung fremder Stile und vor allem der Handel mit und das Reden über Kunst war, was zur Wirkung Münchens als Kunststadt beitrug, so waren es auch dort die (handwerkliche) Fertigkeit und der Geschäftssinn, die eine moderne Kunst­ industrie aufblühen ließen. Jedenfalls im Bereich Druck, Lithografie, Foto­ grafie und damit einhergehend der Zeitschriftenillustration (» Jugend «, » Simplicissimus «) war München durchaus zur international ausstrahlenden Stilbildung fähig. Auch hier war es wieder ein Zusammenwirken, von dem die künstlerische Qualität profitierte. So kamen zu den Druckereien die Verlage, die Literaten, dann die Feuilletons und bald schon Menschen, die nicht selbst Künstler waren, die es aber darauf anlegten, Künstler im Café anzutreffen, ihnen im Atelier über die Schulter zu schauen oder Kunst zu konsumieren, als flüch­ tiges Ereignis oder als Sammlungsgut. Das München der Stilimitationen und des » Kunstbetriebs «, bei dem jedes Jahr im Glaspalast an die 20.000 (!) konventionelle, dekorative Gemälde verkauft wurden, ist auch der Humus gewesen, aus dem die Avantgarde des » Blauen Reiters « wachsen konnte, ebenso wie das historisierende Paris der Belle Epoque die Revolutionen der Impressionisten, Fauves und Kubisten stimuliert hat.

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Taugliche Orte Eine erfolgreiche Kreativwirtschaft braucht einen besonderen Ort. Über Raum und Kreativwirtschaft ist in den letzten Jahren besonders viel geschrieben worden und es hat zuweilen den Anschein, als sei die Debatte um die Kreativwirtschaft zu allererst ein wissenschaftliches Gespräch unter Stadtplanern. Doch auch schon bei Thomas Mann gehörte der Raum zur Kunststadt, etwa wenn jedes fünfte Haus Atelierfenster hat, was (auch) damals das Er­ gebnis einer bewussten Politik gewesen war. Bei der Erschließung des Neu­ bauviertels Schwabing hinter dem Siegestor zum Beispiel hatte es Ende des 19. Jahrhunderts eine steuerliche Begünstigung von Dachateliers gegeben. Und der Platz für den Künstler war schon immer ein gewichtiges Argu­ ment. Herzog Carl-August von Sachsen-Weimar schenkte einst dem aus Ita­ lien nach Weimar zurückgekehrten Goethe ein stattliches Haus am Frauen­ plan mit 33 Zimmern, um ihn, den es nach seinen zwei Jahren in Italien zu einem Neuanfang drängte, zum Bleiben in Weimar zu bewegen. Mit Franz Liszt lassen sich in Weimar Räume verbinden, Henry van de Velde schuf sich, als selbst berufener Architekt und Alleskünstler, in Weimar den Raum selbst und der von ihm gegründeten Kunstgewerbeschulen gleich noch mit. Die heutigen Zentren der Kreativwirtschaft prägen als Bild immer auch die nutzlos gewordene backsteinerne Fabrikanlage, umgewidmet zum Kreativraum, und der Gründerzeitstraßenzug mit seinen einst verpönten Hinterhöfen. Andererseits ist allein der Raum noch keine hinreichende Bedingung und noch nicht einmal eine in jedem Fall notwendige. Auch wenn das Raum­ angebot ähnlich ist : In der Wahrnehmung, im Prestige, ist Berlin als Stand­ ort der Kreativwirtschaft bedeutender als das Ruhrgebiet, mag Weimar im Hinblick auf die Kreativwirtschaft bessere Aussichten haben als zum Bei­ spiel Lüneburg. Die eigentliche Bedeutung kommt deshalb nicht dem Raumangebot zu, das natürlich gegeben sein muss, sondern dem Ort und seinen Mythen und Referenzen. Diese Erfahrung dürften inzwischen viele deutsche Mittel­ städte gemacht haben, die mit dem Umbau alter Fabriken einen Ersatz für die verlorene Industrie erhofften und in dieser Hoffnung vielerorts ent­ täuscht werden dürften. Denn auch wenn sich immer wieder Beispiele fin­ den lassen, in denen eine Unternehmensgründung im Bereich der Kreativ­ wirtschaft in einer Stadt ohne bestehendes kulturell-kreatives Umfeld

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erfolgte und die dann auch noch losgelöst von einer Einbindung in das oben beschriebene kollaborative Umfeld funktionierte, so ist dies doch nicht die Regel, widerlegt dies nicht die Erkenntnis, dass sich für die Kunstindustrie Zentren etabliert haben, die bedeutungsvoll sind gerade durch die Vielge­ staltigkeit des künstlerischen /kreativen Schaffens. Ein wirkungsvolles Zentrum der Kreativwirtschaft entsteht erst durch diese Verbindungen der Gewerke. Unverzichtbar scheint auch – jedenfalls zu Beginn – die machtvolle Hand eines ehrgeizigen Auftraggebers, sagen wir es rundheraus : einer visionären Wirtschafts- und Kulturpolitik aus einem Guss, zu sein. Notwendig ist weiterhin auch ein neugieriges und empfangsbereites Publikum. Toleranz kann sich dabei nicht auf die Ak­ zeptanz individueller Lebensentwürfe beschränken, sondern muss auch in einer Aufgeschlossenheit, in einer Unterhaltungslust des Publikums be­ stehen. Ein Werk wie Mozarts » Zauberflöte « war möglich, weil der Produ­ zent Schikaneder für ein solches Unternehmen auf ein aufnahmewilliges Publikum hoffen konnte und das Werk auf die Erwartungen dieses Publi­ kums – konkret : der neuen bürgerlichen Wohnviertel außerhalb der Wiener Stadtmauern – hin ausgerichtet war. Gerade diese Unterhaltungslust des Publikums sorgte damals dafür, dass die um die Gunst dieses zahlungs­ bereiten Publikums konkurrierenden privaten Theaterveranstalter letzt­ lich in einen Qualitätswettbewerb getrieben wurden, der Werke wie die » Zauberflöte « erst ermöglichte und der heute so ähnlich auch für das amerikanische Kino erkennbar ist. Das große Publikum ist nicht der Feind der großen Kunst, sondern häufig genug ihr Antreiber. Und anders herum : Wer nicht vor dem großen Publikum Erfolg haben will, der soll sich von der Kreativwirtschaft fern halten.

Ausblick : Kreativwirtschaft und Politik Trotz all ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für einen Ort darf aber nicht erwartet werden, dass die Kreativwirtschaft zur wirtschaftlichen Basis werden kann, die eine ganze Region trägt. Diese Aufgabe verbleibt auch weiterhin der Industrie und umsatzstarken Dienstleistungen bis hin zum Tourismus. Aber die Kreativwirtschaft kann die Fahne sein, die hoch dro­ ben weht mit dem Slogan : » Hier ist es gut, hier lasst uns Hütten bauen. « Gerade in der globalisierten Wirtschaft, wo im Grunde jeder jederzeit überall interagieren kann, wird es für einen Ort oder für eine Region wich­ tig, über die Kreativwirtschaft ein Prestige auszubilden. Prestige, Aura,

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Nimbus locken in eine Region und verknüpfen die dort anzutreffenden oder künftig erwarteten Kreativunternehmer miteinander. Was also kann die Politik für die Kreativwirtschaft tun? Da alles auf Menschen ankommt, gilt es zunächst, die richtigen Menschen zusammen zu bringen und für Begegnungen zu sorgen. Hier kann die öffentliche Hand durchaus helfen. Durch das Fest, das Er­ eignis, durch Wettbewerbe und Preise kann sie geschickt Anreize setzen, die Zusammenarbeit fördern und gerade die ungewöhnlichen, die nicht naheliegenden Kooperationen möglich machen. Dass eine solche Initia­ tive selbst der Industrie und dem Handwerk zugute kommt, zeigt nicht zuletzt das Wirken Henry van de Veldes in Weimar, der den modernsten Stil mit einer bis dahin kleinstädtisch orientierten Konstellation von Hand­ werkern und Kleinindustrie zusammen brachte. Das Beispiel lehrt zugleich, dass es für die Schaffung solcher fruchtbringender Verbindungen jeman­ den braucht, der das Zusammenkommen organisiert und dass es vor allem jemanden braucht, der diesen Mittler vorausschauend und mutig beruft. Auch diese Berufungsaufgabe kann der öffentlichen Hand obliegen. Schließlich muss der Unternehmer für die ihm zukommende Rolle ge­ wonnen werden, selbst auch ein Zusammenbringer zu sein, der die Künst­ ler, Techniker und Betriebswirte unserer Zeit in Gemeinschaft setzt und sie Dinge ausprobieren und kombinieren lässt, die Neues, Spannendes und Schönes bringen. Die öffentliche Hand sollte dann auch mehr Transferleistungen von » E « und » U « ermöglichen. Gerade das Zusammenwirken von Menschen ver­ schiedener Qualifikationen und Begabungen brachte oft die wunder­bars­ ten Gesamtkunstwerke hervor, wie sich am Beispiel der » Zauberflöte « gut illustrieren lässt. Die öffentliche Hand muss aber auch für gute Ausbildung und Qualifizie­ rung sorgen. Wer Neues schaffen will, muss die Geschichte und Traditionen kennen. Und er muss sein » Handwerk « beherrschen, egal ob als Möbel­ tischler, Hutmacherin oder Musiker. Die Menschen in der Produktionsreali­ tät können gar nicht überqualifiziert genug sein. Der Sensationserfolg der deutschen Unterhaltungsindustrie um 1930 war nur möglich, weil hoch ausgebildete und nicht zuletzt auch hoch gebildete Musiker und Literaten, Dramaturgen, Schauspieler und Filmpioniere sich der populären Formen annahmen und dabei die Film- und Schlagerkultur begründeten, die heute noch international vital ist, auch wenn sie uns inzwischen aus Hollywood und im Britpop begegnet.

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Und die öffentliche Hand sollte sich nicht scheuen, gleich ob in der Kunstoder Wirtschaftspolitik, einen Markt und seine Regeln anzuerkennen und den Künstler zu ermuntern, dies gleichfalls zu tun und dabei stets für viele Menschen als Publikum arbeiten zu wollen. Denn wer für ein großes Publi­ kum arbeitet, wird besondere Anstrengungen darauf verwenden, vor allen zu bestehen, ob mit einem Bestseller, einem bestaunten Möbelstück oder einer noch in 100 Jahren gespielten Komposition. Die öffentliche Hand kann weiter Orte stärken, die ein Prestige erworben haben. Und sie kann ambitioniert daran angehen, neue Orte zu schaffen, denen künftig ein Prestige zuwächst. Vor allem aber kann sie ermutigen, vorfinanzieren, stimulieren und Bei­ spiele geben, nicht zuletzt dort, wo sie Bauherr ist und sich der Verantwor­ tung für die Ästhetik und Stilbildung zu stellen hat, dabei auch stets die Gemeinschaft entstehen lässt, die aus dem Bau erst ein Werk macht, das dann Gültigkeit behält. Kreativwirtschaft ist stimulierbar, gestaltbar und – wo sie gedeihen kann – Basis und Zeichen für Lebensqualität und Prosperität. Nicht nur München vermag zu leuchten, nicht nur Berlin, sondern, mit guten Taten und guten Willen, selbstverständlich auch Städte wie Weimar, Jena, Erfurt oder Gotha.

Literatur Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.) (2009) : Endbericht . Kultur- und Kreativwirtschaft. Ermittlung der gemeinsamen charakteristischen Definitionselemente der heterogenen Teilbereiche der » Kulturwirtschaft « zur Bestimmung ihrer Perspektiven aus volkswirtschaftlicher Sicht. (Endbericht 2009) Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.) (2012) : Endbericht. Die Kultur- und Kreativwirtschaft in der gesamtwirtschaft­ lichen Wertschöpfungskette. Wirkungsketten, Innovationskraft, Potenziale. (Endbericht ii  2012) Eckermann, Johann Peter (1837) (2. Aufl.) : Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 1. Teil. Mann, Thomas (2000) (7. Aufl.) : » Gladius Dei « In : Sämtliche Erzählungen, Band 1.

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Valerius, Gudrun (2010) : Die Académie Royale de Peinture et de Sculpture 1648-1793. Geschichte. Organisation. Mitglieder. Van de Velde, Henry (1901) : Die Renaissance im modernen Kunstgewerbe. Van de Velde, Henry (1910) : Essays. Wahl, Volker (2007) : Henry van de Velde in Weimar. Dokumente und Berichte zur Förderung von Kunsthandwerk und Industrie (1902-1915).

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Wirtschaftsförderung für Kreativunternehmen Dirk Kiefer » Why they say the sky is the limit When I’ve seen the footprints on the moon « Will.i.am » Reach for the Stars (Mars Edition) « Erstausstrahlung 28. 08. 2012, Mars (via Curiosity Rover, NASA)

Einleitung Üblicherweise finden sich am Beginn von Äußerungen zur Kultur- und Krea­ tivwirtschaft als Branche eingrenzende oder kritische Bemerkungen zu der definitorischen oder statistischen Grundlage des Wirtschaftszweigs. Fünf­ zehn Jahre nachdem in Großbritannien erstmalig die erwerbswirtschaftli­ chen Erträge aus kreativen Aktivitäten und ihr Beitrag zur Gesamtwirtschaft beschrieben und systematisch gezählt wurden, ist ihre wirtschaftliche Be­ deutung zwar weltweit nachgewiesen (DCMS 1998 und UNCTAD 2010). Ein breit akzeptiertes Verständnis für die zusammenfassende Darstellung von Wirtschaftszweigen rund um Produktion und Verwertung kreativschöpferischer Leistungen hat sich aber noch nicht eingestellt. Dabei ist jede Klassifizierung wirtschaftlicher Tätigkeiten auf Unternehmensbasis notwendigerweise künstlich. Dies gilt für Zuordnungen auf Basis ähnlicher Produkte wie der Automobilindustrie, ähnlicher Herstellungsverfahren im Baugewerbe oder gleicher Ausgangsstoffe. Für alle Branchen gilt, dass die tatsächlichen wirtschaftlichen Vorgänge arbeitsteilig und in komplex in­ einandergreifenden Systemen organisiert sind sowie notwendigerweise viele Aktivitäten beinhalten, die auch für andere Branchen wesentlich sind. Als Beispiel seien die Energiewirtschaft genannt, deren technische und wirtschaftliche Entwicklung eng verzahnt mit Fortschritten aus der Infor­ mations- und Kommunikationstechnik verläuft, oder auch die sich gleicher­ maßen über Technologie- wie Design-Merkmale voneinander abgrenzen­ den Wettbewerber der Automobilindustrie (Bouchenoire 2003). In den vergangenen Jahrzehnten lässt sich quer durch alle wirtschaft­ lichen Tätigkeiten ein Trend hin zu einer stärkeren Bedeutung immateriel­ ler Werte und ihrer Vermittlung erkennen (Castells 1996). Dies erfordert

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neue Perspektiven für wirtschaftliches Handeln und neue Bewertungssys­ teme, wie sie durch die Auseinandersetzung rund um die Informations- und Wissens­gesellschaft oder die Berücksichtigung von Dimensionen der Nach­ haltigkeit beispielhaft erfolgt. Einer dieser wirtschaftlichen Megatrends, der insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem entscheidenden Faktor unternehmerischen Handelns in beinahe allen Branchen geworden ist, ist die zunehmende Bedeutung emotional, ästhetisch oder symbolisch geprägter Werte (Howkins 2001). Wir leben zunehmend in einer Erlebnis­ welt, in der Markenwerte, kulturelle Identitäten und der Feel-Good-Faktor angebotener Produkte oder Dienstleistungen auch bei nüchternen Unter­ nehmensbewertungen für die Bilanz einen ähnlich hohen Stellenwert ein­ nehmen wie technologische Kompetenz oder Produktivität (Europäische Kommission 2009, Pine 2011). Kreativität ist der zentrale Treiber bei die­ sen Vorgängen. Ohne kreative Impulse kann kein Unternehmen mehr im Wettbewerb bestehen. Technologische und funktionale Kompetenz ohne die Fähigkeit, sie in der Wahrnehmung des Kunden wirksam werden zu las­ sen, wird zunehmend wertlos. Erfolgreiches wirtschaftliches Handeln setzt heute voraus, die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen im Blick zu haben, sich von der Vielzahl der global operierenden Wettbewer­ ber abzugrenzen und Wachstum sowie Innovationen durch für den Kunden rele­vante Wertschöpfung zu schaffen (Potts / Cunningham 2008). In diesem Ringen um » Bedeutung « kommt kreativ-schöpferischen Leis­ tungen eine zentrale Rolle zu. Mit der wirtschaftlichen Verwertung krea­ tiver Leistungen werden hohe Erwartungen für Wachstum, Innovation, Beschäfti­gung, Stadtentwicklung, soziale Inklusion und gar Identität ver­ bunden. Viele Regierungen, internationale Organisationen (OECD, WIPO, UNCTAD) und Wissenschaftler haben sich mit der Frage auseinanderge­ setzt, wie die Zusammenhänge von kreativen Impulsen und wirtschaft­ lichen Effekten genau beschaffen sind und vor allem, wie sie geplant, verstärkt und verstetigt werden können. Gleichzeitig diskutiert die Wissen­ schaft mindestens seit den 1960er Jahren intensiv die Besonderheiten des Wirtschaftens rund um kreative Leistungen. Auf der einen Seite steht da­ bei die Herausarbeitung von spezifischen Problemen. So bleiben Produk­ tivitätszuwächse in der Kultur- und Kreativwirtschaft notwendigerweise immer hinter denen in weniger dienstleistungs- und wissensorientierten Branchen zurück (Baumol / Bowen 1966). Demgegenüber stehen spezi­ fische Chancen der neuen kreativitäts- und kulturbasierten Wertschöp­ fung, die unendlich reproduzierbare Güter ohne Lagerhaltungskosten und

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Verfallsdatum schafft. In Verbindung mit der Digitalisierung werden so früher unrealisierbare Verwertungssystematiken möglich : Hochrentable Geschäfts­modelle rund um wenig nachgefragte Güter, kostenlose Ange­ bote oder einzeln gestaltete Unikate (Anderson 2004, 2009 und 2012).

Die Kreativwirtschaft – Ideenwirtschaft und Avantgarde Unabhängig von Standort und produktionstechnischen Kapazitäten entste­ hen sowohl in den kreativen Metropolen als auch in der Region erstaunlich profitable und wachstumsstarke Unternehmen auf Basis ideeller Werte. Dies können softwaregestützte Anwendungen auf mobilen Geräten sein, die traditionell hochspezialisierten Branchenlösungen weit überlegen sind wie das cloudbasierte Kassensystem von Pepperbill aus Erfurt. Es sind aber auch international oder überregional aufgestellte Firmen wie » Graft Gesell­ schaft von Architekten « (Beijing, Berlin, Los Angeles) oder » HKS Architek­ ten « (Aachen, Bad Neuenahr, Erfurt, Hamburg), die kreative Prozesse mit ihren Kunden organisieren statt fertige Produkte anzubieten, und so den Mehrwert kreativer Leistung maximieren. Besonders interessant wird es, wenn auf künstlerischer Recherche basierende neue Designkonzepte her­ kömmliche Lösungen auch technisch übertreffen, wie es etwa beim huma­ nitären Designkonzept von » more than shelters « aus Berlin der Fall ist. In Deutschland hat sich die Wirtschaftsministerkonferenz darauf ver­ ständigt, diese und ähnliche Unternehmen in einer Branche zusammenzu­ fassen und als Kultur- und Kreativwirtschaft zu bezeichnen. Die Bezeich­ nung » Kreativwirtschaft « ist ein Kunstwort, ein Konstrukt und dennoch eine griffige Formel, um jene erwerbswirtschaftlichen Aktivitäten zu er­ fassen, denen ein » schöpferischer Akt « zugrunde liegt. Trotz der vielfach beschwore­nen Heterogenität der Branche ist allen Aktivitäten der Kreativ­ wirtschaft gemeinsam, dass geistige Ressourcen – wie Ideen, Konzepte oder Texte – als zu verarbeitende Rohstoffe in den Wertschöpfungsprozess ein­gehen und zu immateriellen Gütern werden – wie Designentwürfe, Softwarecodes oder Marketingpläne. Insbesondere seit der Digitalisierung können in der durch Ideen und immaterielle Werte dominierten Kreativ­ wirtschaft ihre Endprodukte ohne nennenswerte weitere Kosten beliebig reproduziert und ohne Verschleiß unendlich konsumiert werden. Außer­ dem ist bei kreativwirtschaftlichen Produkten und Leistungen ein spezi­ fisches ästhetisches und sinnliches Verständnis beim Kunden oder Konsu­ menten unabdingbar. Jede Wertschöpfung in der Kreativwirtschaft setzt

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Wertschätzung für ein spezifische Angebot voraus. Auch das vortrefflichste Design ist in der Einschätzung des Marktes nichts Wert, wenn Formenspra­ che und der stilistische Bezugsrahmen unbekannt sind oder nicht verstan­ den werden. Produktion und Konsumption stehen in der Kreativwirtschaft in einem fast symbiotischen Verhältnis (Zöllner / Nakamura 2010). Diese Besonderheiten führen zu fundamental anderen wirtschaftlichen Prozessen als in Branchen, bei denen Form und Funktion der Erzeugnisse vorgegeben sind und Nutzwert im Wesentlichen durch Funktionalitäten bestimmt wird. Daher macht es durchaus Sinn, die Branche nach ihren wirt­ schaftlichen Aktivitäten abzugrenzen, um ihr ein quantifizierbares Gesicht zu geben und als Gegenstand der Wirtschaftspolitik fassbar zu machen. So hat jedes Bundesland in Deutschland zumindest einen Kultur- und Kreativ­ wirtschaftsbericht vorgelegt und auf Bundesebene findet mittlerweile ein regelmäßiges Monitoring statt, das die Branche mit der Anzahl der Unter­ nehmen, ihrer Wertschöpfung, ihren Umsätzen und Erwerbstätigen dar­ stellt. Diese Studien der letzten Jahre leisteten einen wesentlichen Beitrag dazu, dass Besonderheiten und Bedeutung der Kreativwirtschaft für Politik und Öffentlichkeit sichtbar wurden und Aufmerksamkeit bekamen. Die Konjunktur der Kultur- und Kreativwirtschaft kann als Reaktion auf einen grundlegenden Strukturwandel der Wirtschaft betrachtet werden, der mit dem Ende der Dominanz der industriellen Massenproduktion standardi­ sierter Konsumgüter (» Fordismus «  : 1918-1969) begann. Die Veränderungen, die mit dieser Phase einhergehen, wurden im Kontext von Modernisierungsoder Transformationstheorien unter jeweils verschiedenen Gesichtspunkten beschrieben als post-fordistische Phase, post-industrielle Gesellschaft (Bell 1976), Netzwerkgesellschaft (Castells 1996), flüchtige Moderne (Baumann 2000, 2005), Informationsgesellschaft, » new economy «, » new capitalism «, Risikogesellschaft (Beck 1986), oder » experience economy « (Pine / Gilmore 1999). Im Zuge dieses grundlegenden strukturellen Wandels nimmt die Kreativ­ wirtschaft eine avantgardistische Rolle ein : Sie fungiert als Modell für Trans­ formationen in anderen Wirtschaftsbranchen (Lash / Urry 1994, Hesmondhalgh 2003) und ist Seismograph für gesellschaftlichen Wandel. Viele Aspekte aktueller Veränderungen im Wirtschaftsleben sind seit Jahren in der Kreativwirtschaft vorweggenommen, wie die zunehmende Mobilität und Flexibilisierung der Arbeitsweisen oder die Betonung von Netzwerken und projektbasierter Zusammenarbeit.

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Wirtschaftsförderung für Kreative Rationale Wirtschaftsförderung, die ihre Maßnahmen analytisch herleitet und zielgerichtet zu einer integrierten Entwicklung des Standorts einsetzt, ist die vielleicht in der Praxis wirksamste Form politischer Wirtschaftspoli­ tik. Wirtschaftsförderung beschränkt sich dabei schon lange nicht mehr auf das Bereitstellen von Gewerbeflächen und das Aushändigen von För­ derbescheiden. Vielmehr ist eine moderne Wirtschaftsförderung wichtiger Bestandteil einer integrierten Stadt- oder Regionalentwicklung und kann von dieser auch nicht losgelöst betrachtet werden. Kultur- und sozialpoliti­ sche Rahmenbedingungen wirken auf wirtschaftliche Prozesse in den Kom­ munen ebenso ein wie Förderbedingungen und technische oder räumliche Infrastruktur. Die neue Branche Kreativwirtschaft ist als ein wichtiger Wirtschaftsfak­ tor in Metropolen als auch in den Regionen fest etabliert : Unternehmen der Branche erbringen einen hohen Anteil an der wirtschaftlichen Wert­ schöpfung, schaffen auch in Krisenjahren stabil steigende Raten an sozial­ versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und sind erstaun­ lich erfolgreich bei Neugründungen (BMWi 2010, KfW 2010, Deutsche Bank Research 2011). Angesichts ihres statistisch guten Abschneidens bei wesent­lichen Indikatoren im Vergleich zu anderen Branchen liegt der Schluss nahe, dass die Kreativwirtschaft als feste Größe und gleichwerti­ ger Partner zu anderen Branchen angekommen ist. Die Realität sieht hier aber anders aus. Die Kreativwirtschaft hat sich bisher so positiv eher trotz der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen entwickelt, als dass sie aktiv gefördert worden wäre. Eine auf die Besonderheiten der Kreativwirt­ schaft abgestimmte Wirtschaftsförderung findet in den Städten bisher nur ausnahmsweise und als Randerscheinung statt, in den Regionen blei­ ben Kreativwirtschaftsunternehmen weitgehend unberücksichtigt, wenn sie nicht eher zufällig durch andere Maßnahmen zum Beispiel im Touris­ mus oder bei der Kulturförderung erfasst werden. Obwohl sich in den letzten Jahren auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zahlreiche öffentlichkeitswirksame Initiativen entfaltet haben, bleibt die Reichweite der Maßnahmen für die Kreativwirtschaft begrenzt und ihre Wirkung eher punktuell. Dennoch haben diese Pilotprojekte eine wichtige Funktion, da sie in der Regel eindeutig belegen, welche positiven wirtschaftlichen Ef­ fekte eine zielgerichtete Förderung der Kreativwirtschaft haben kann.

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Dass eine spezifische Wirtschaftsförderung für die Kreativwirtschaft über­ haupt erforderlich ist und die traditionellen, branchenübergreifend konzi­ pierten Instrumente hier nicht so wirksam sind wie in anderen Branchen, hat vor allem zwei Gründe : Zum einen unterscheiden sich die wirtschaft­ lichen Zusammenhänge in der Kreativwirtschaft wesentlich von den Me­ chanismen im Rest der Wirtschaft. Daher greifen viele Instrumente der Wirtschaftsförderung nicht oder wirken sogar kontraproduktiv (Grüner et al. 2009, Müller et al. 2011, U-Institut 2012). Zum anderen ist die Branche in ihrer Struktur so wesentlich anders beschaffen als der Rest der Wirt­ schaft, dass vom Grundsatz eigentlich branchenunabhängig definierte Instrumente eben nicht gleichmäßig in allen Branchen wirken, sondern beispielsweise die besonders kleinteilig strukturierte Kreativwirtschaft ef­ fektiv benachteiligen (Lange et al. 2009, Mundelius 2009).

Grundlagen einer spezifischen Ökonomik der Kreativwirtschaft Der amerikanische Ökonom Richard Caves (2002) hat einige Grundlagen für eine spezifische Ökonomik der Kreativwirtschaft zusammengestellt, die hier exemplarisch für die mittlerweile umfangreiche empirische und theo­ retische Basis der Fachrichtung zusammengefasst werden. Diese empirisch nachgewiesenen Zusammenhänge führen zu einer grundsätzlich anderen Wirkungsweise kreativwirtschaftlicher Prozesse, auf die sich eine spezifi­ sche Wirtschaftsförderung einlassen sollte. 1. Nachfrage ist inhärent unsicher Es ist prinzipiell unmöglich, die Nachfrage nach neuen kreativen Produkten im Voraus einzuschätzen. Eine Auswertung der Ergebnisse unterschiedlichs­ ter Marktforschungsinstrumente hat ergeben, dass zwischen den mit ver­ schiedenen Instrumenten getroffenen Voraussagen und dem tatsächlich eingetretenen Markterfolg oder Misserfolg kein signifikanter Zusammen­ hang hergestellt werden kann. Dies liegt daran, dass der Wert kreativer Gü­ ter seitens des Konsumenten erst als Reaktion auf die erfahrene Nutzung und durch die subjektive Einschätzung ihres » Erlebniswerts « oder ihrer » Be­ deutung « gebildet wird. Selbst im Nachhinein fällt es schwer bis unmög­ lich, den erzielten Markterfolg mit objektiven und somit reproduzierbaren Merkmalen zu erklären. Weiter erschwert wird eine Voraussage außerdem durch die Entwicklung und Veränderung des ästhetischen Empfindens, die im Zuge des Konsums kreativer Güter unweigerlich eintreten. Diese können

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positiv verlaufen und sich somit ein Trend/eine Mode entwickeln oder ne­ gativ, sodass ein vermeintlich sicheres Erfolgsrezept zu einem » Flop « wird (Ryan 1992). 2. Intrinsische Motivation Für Kreativschaffende und Künstler ist die innere Befriedigung, die sie aus dem schöpferischen Tun und allen damit verbundenen Aktivitäten ziehen, in der Regel das einzig wirklich wichtige Entscheidungskriterium. Diesem werden meist alle anderen Optionen untergeordnet. Insbesondere ökono­ mische Überlegungen werden von Unternehmern der Kreativwirtschaft üblicherweise weit stärker nachrangig beurteilt als von Unternehmern an­ derer Branchen, die mit Leidenschaft » ihrem « Thema verbunden sind und sich dafür besonders einsetzen. 3. Hochindividualisierte Produktionsketten Nur wenige kreativwirtschaftliche Leistungen werden ausschließlich durch den einen » kreativen Kopf « erbracht. In den meisten Fällen greifen viele Kreativleistungen ineinander, um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen, wie dies zum Beispiel bei einer Filmproduktion mit bis zu mehreren Hundert Kreativdienstleistern der Fall ist. Da jede Einflußnahme auf den kreativen Prozess durch die Beteiligten hochspezialisiert und mit einer jeweils indi­ viduell ausgestalteten kreativen Freiheit erfolgt, sind die Einzelschritte für das Gesamtergebnis nicht substituierbar. Für ein stimmiges Gesamtpro­ dukt kommt es ganz wesentlich auf das richtige Team an, das während des Produktionszeitraums seine jeweils individuellen Beiträge eng aufeinander abstimmen muss. Der Austausch nur eines Texters bei einem komplexen Konzeptionsauftrag kann durch die Veränderung nur weniger kreativer Ideen ein gänzlich anderes Gesamtergebnis bewirken. 4. Unendliche Produktdifferenzierbarkeit Der Wert eines Produkts oder einer Leistung durch den Nutzer wird zu einem großen Teil dadurch bestimmt, dass ein Vergleich mit Konkurrenz­ produkten angestellt wird. Im einfachsten Fall findet der Vergleich über eine sogenannte » vertikale « Differenzierung statt, das heißt ein bestimm­ tes Produktmerkmal ist bei Variante A stärker und bei Variante B weniger stark ausgeprägt. Wenn es bei der Nutzung auf genau dieses Produkt­ merkmal ankommt, wird die Wahl bei gleichem Preis immer auf Variante A fallen. Kreative Leistungen werden aber meist nicht nach solchen vertikal

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differenzierbaren Merkmalen eingeschätzt, sondern der Vergleich zwischen zur Verfügung stehenden Optionen findet » horizontal « über multidimen­ sionale, eigentlich gleichwertige qualitative Merkmale statt. Zum Beispiel könnten Kinobesucher, die vor der Wahl zwischen zwei Filmen stehen, darin übereinstimmen, dass zum Beispiel mit Blick auf die Leistung der Hauptdar­ steller Film A besser als Film B ist. Trotzdem wird es unter ihnen in der Regel jemanden geben, der aufgrund anderer Merkmale lieber doch Film B sehen will. Dies ist übertragbar auf alle sinnlich wirksamen Güter wie Designleis­ tungen, Software- und Gamesprodukte oder auch Kunstgegenstände. 5. Vertikal differenzierte Rangfolgen Kreative Güter unterscheiden sich unvorhersagbar über die Qualität, die ihnen von Nutzern zugemessen werden. Sie unterscheiden sich auch durch die künstlerischen und kreativen Kompetenzen des Urhebers, die aus ih­ nen deutlich werden. Diese Kompetenzen sind oftmals nur für eingeweihte » Spezialisten « erkennbar, werden häufig aber auch vom breiten Publikum wahrgenommen. Aus den am schöpferischen Produktionsprozess eines kreativen Gutes beteiligten Urhebern und den ihnen zugesprochenen Quali­täten wird üblicherweise eine Kategorisierung in der Art einer A-/Boder C-Liste vorgenommen. Die Reputation, die aus einer Zuordnung zu einer der Kategorien erwächst, ist beträchtlich, und bestimmt meist zwin­ gend und unabhängig vom geforderten Preis, ob ein bestimmter Kreativ­ dienstleister für die Mitwirkung an einer Produktion in Frage kommt. 6. Zeitgebundenheit Für erfolgreiche kreativwirtschaftliche Unternehmungen ist neben dem richtigen Team und der schwer bestimmbaren Nutzungsbereitschaft beim Kunden oder Publikum vor allem auch der Zeitpunkt entscheidend. Es kommt nicht nur darauf an, dass vor Ort oder im Netzwerk passende Mit­ wirkende für eine Produktion vorhanden sind, sie müssen auch in einer eng definierten Zeitspanne verfügbar sein. Auch bei grundsätzlicher Ver­ fügbarkeit können kleinste zeitliche Abweichungen einzelner Leistungen den Erfolg des Gesamtprojektes empfindlich stören. In Verbindung mit der kaum möglichen Substituierbarkeit individueller Produktionsbeiträge Dritter ist dieses Merkmal für kreativwirtschaftliche Unternehmungen sehr gefährlich.

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7. Dauerhaftigkeit Schöpferische Leistungen, die über das Urheberrecht in einen Verwertungs­ wert gesetzt werden, sind wirtschaftlich so dauerhaft wie die Zeitspanne, die ihnen das Urheberrecht zumisst. Auch darüber hinaus sind sie weiter verwertbar, dann aber ohne wirtschaftlichen Vorteil für den Urheber. Durch ihre Verwertung nutzen sie sich grundsätzlich nicht ab oder werden we­ niger. Im Gegenteil, häufig steigt der Wert kreativer Güter durch die mit der Nutzung verbundenen Verbreitung : Empfehlungen zufriedener Nutzer (zum Beispiel » Fans «) führen zu größerer Bekanntheit. In der Folge kann der höhere Marktanteil einen » Trend « begründen und es dem Urheber ermög­ lichen, einen höheren Preis für die gleiche Leistung zu fordern. Auf der anderen Seite werden häufig kreativ-schöpferische Leistungen einmalig abgegolten und die weiteren Verwertungsrechte dem Auftrag­ geber überlassen. Dies ist vor allem der Fall, wenn Kreativleistungen als Inputfaktor in Wertschöpfungsprozesse anderer Branchen eingehen. Das überzeugende Design, der prägnante Sound oder der effiziente Manage­ ment-Prozess wird dann weiterhin wirtschaftlich positiv wirksam für das Unternehmen, das ihn verwendet, ohne aber den Schöpfer dauerhaft in an­ gemessenem Umfang am Erfolg seiner Schöpfung teilhaben zu lassen. Ein gutes Beispiel ist das Design der Coca-Cola-Flasche, die zu einer stilistischen Ikone wurde und zur Unverwechselbarkeit der Marke entscheidend beitrug.

Spezifische Branchenstruktur der Kreativwirtschaft Das bestimmende Merkmal der Kultur- und Kreativwirtschaft ist die Klein­ teiligkeit ihrer Branchenstruktur. Neun von zehn Unternehmen der Branche gehören in die Kategorie Kleinstunternehmen mit einem Umsatz von unter zwei Mio. Euro. Davon sind außerdem eine große Zahl freiberuflich tätig. Rund ein Viertel der Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft zählen zu den Selbstständigen. Im Vergleich zu anderen großen Branchen, etwa dem Maschinenbau, der Automobilindustrie oder der chemischen In­ dustrie in Deutschland ist eine solche von kleinen und kleinsten Einheiten geprägte Branchenstruktur sehr ungewöhnlich. Daher überrascht es, dass bei Betrachtung ihres Beitrags zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung die Kultur- und Kreativwirtschaft in etwa vergleichbar mit diesen anderen Branchen ist. Ebenso erstaunlich ist die Tatsache, dass in der Kultur- und Kreativwirtschaft in den letzten zehn Jahren jeweils überdurchschnittlich viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen

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wurden und in den Jahren der Krise 2007-2009 die Zahl der Beschäftigten entweder gleich blieb oder deutlich geringer geschrumpft ist als in anderen Branchen (BMWi 2012). Diese Zahlen zeigen : In der Kultur- und Kreativwirtschaft arbeiten viele Menschen hoch produktiv und individualisiert und erbringen als Ganzes Leistungen, die in ihrer Wirtschaftskraft den großen traditionellen Bran­ chen des Industriestandorts Deutschland mindestens ebenbürtig sind. Dieser positive Gesamteindruck darf aber den Blick auf bestimmte Be­ sonderheiten auf betrieblicher und individueller Ebene nicht verdecken. Die persönlichen Einkommensverhältnisse einer Vielzahl von Freiberuflern und Beschäftigten in der Kultur- und Kreativwirtschaft sind weitaus be­ scheidener als dies in anderen Branchen für vergleichbare Tätigkeiten und bei ähnlichem Bildungsstand der Fall ist. Dazu kommt, dass neben den von der Statistik erfassten Erwerbstätigen auch noch eine sehr große Zahl von geringfügig Tätigen (Selbstständige mit weniger als 17.500 Euro Jahresum­ satz) und geringfügig Beschäftigten in der Kultur- und Kreativwirtschaft ihren Lebensunterhalt zu bestreiten versuchen. Die Gruppe der geringfügig Beschäftigten macht hier etwa 700.000 Menschen aus und erreicht damit die Anzahl der abhängig Beschäftigten in der Branche (BMWi 2012). Somit steht jedem regulär Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft ein prekäres Beschäftigungsverhältnis gegenüber. Mit dieser Branchenstruktur gehen zahlreiche andere Besonderheiten einher. So ist die Ausstattung mit Eigenkapital deutlich niedriger und der Zugang zu Fremdkapital für Unternehmer der Kultur- und Kreativwirtschaft deutlich eingeschränkter möglich als in anderen Branchen. Auf der anderen Seite ist die Neigung von jungen Unternehmern zu einer Gründung höher ausgeprägt als es dem Anteil der Branche bei den Bestandsunternehmen entspricht. Während im Jahr 2008 7,3 % der bestehenden Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft zugehörig waren, entfielen auf diese Branche 12,6 % der Neugründungen. Erfreulich ist, dass Gründungen in der Kulturund Kreativwirtschaft deutlich beständiger und erfolgreicher verlaufen als in anderen Branchen (KfW 2011). In der akademischen Literatur und bei Bewertungen der statistischen Kennzahlen wird häufig die Frage gestellt, warum ausgerechnet die Kulturund Kreativwirtschaft so stark von einer Kleinteiligkeit der Unternehmen geprägt ist und eine so hohe Zahl prekärer Einkommensverhältnisse vorherr­ schen. Die derzeitige Branchenstruktur wird dabei überwiegend als Konse­ quenz aus den spezifischen Arbeitsweisen und Persönlichkeitsmerkmalen

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der Kultur- und Kreativschaffenden betrachtet und folgerichtig als den Wirt­ schaftsprozessen der Branche angemessen eingeschätzt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die derzeitige Branchenstruktur wirklich typisch für die Kultur- und Kreativwirtschaft per se ist oder ob nicht die ak­ tuelle Statistik nur einen Zwischenstand abbildet einer Entwicklung hin zu einer gänzlich anderen strukturellen Beschaffenheit der Kultur- und Kreativ­ wirtschaft. Da es sich bei der Kultur- und Kreativwirtschaft um eine Branche handelt, für die statistisch vergleichbar nur für wenige Jahre Zahlen­material vorliegt, lässt sich diese Frage noch nicht abschließend beantworten. So­ wohl die große Dynamik der unternehmerischen Entwicklungen auf einzel­ betrieblicher Ebene als auch die starken Veränderungen bei Kennziffern ein­ zelner Teilmärkte der Kultur- und Kreativwirtschaft, zum Beispiel bei den überaus positiven Umsatzentwicklungen in einzelnen Teilmärkten, legen den Schluss nahe, dass sich hier eine Branche noch fundamental verändert. Für die Formulierung wirtschaftspolitischer Grundsätze und die Entwick­ lung eines auf die Kreativwirtschaft abgestimmten Instrumentariums zur Wirtschaftsförderung ist es daher sehr wichtig, zukünftige Veränderungen und mögliche Entwicklungsszenarien zu antizipieren bzw. Freiräume für diese zu schaffen, um nicht die heutige, in vielen Bereichen ökonomisch un­ befriedigende Ausprägung der Kultur- und Kreativwirtschaft ungewollt zu zementieren. Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass das, was heute als Be­ sonderheiten kreativwirtschaftlicher Aktivitäten angesehen wird, morgen als Zwischenstufe zu einer gänzlich neuen Branchenstruktur der Kreativ­ wirtschaft im 21. Jahrhundert erkannt werden wird.

Beispiele für kreativwirtschaftsspezifische Wirtschaftsförderung Etwa zeitgleich mit der Diskussion um eine bundesweit einheitliche Defi­ nition für die Kultur- und Kreativwirtschaft und den damit einhergehenden statistischen Auswertungen haben sich seit einigen Jahren regional sehr unterschiedlich ausgeprägte, auf die Spezifika der kreativen Branchen be­ sonders ausgerichtete Wirtschaftsförderungseinrichtungen herausgebildet. Allen diesen Kreativwirtschaftsförderern ist gemein, dass sie sich weitest­ gehend unabhängig und komplementär neben den bestehenden Institu­ tionen entwickelt haben. Nur so können sie gewährleisten, dass die von branchenübergreifenden Angeboten vorher ungenügend erreichten Ak­ teure der Kultur- und Kreativwirtschaft nun Ansprechpartner erhalten, die von der Branche akzeptiert und verstanden werden.

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In ihren wesentlichen Arbeitsweisen und Methoden sind sich die neuen, auf die Kultur- und Kreativwirtschaft spezialisierten Beratungs- und Förder­ institutionen sehr ähnlich. Grundlage für die Arbeit mit den Branchenak­ teuren ist eine Gesprächssituation » auf Augenhöhe « und mit einem hohen Maß an Kenntnis und Verständnis für die Spezifika der Branche. Unter­ stützung findet eher als » Hilfe zur Selbsthilfe « denn als » Förderung « statt. Voraus­setzung für die Arbeit ist zunächst, ein Branchenverständnis bei den Unternehmen der Kreativwirtschaft zu erzeugen und die junge Branche gegenüber anderen sichtbarer zu machen. Außerdem wirken die auf die Kultur- und Kreativwirtschaft spezialisierten Angebote in der Regel nicht auf sich selbst gestellt als » One-Stop-Agency «, sondern bemühen sich um enge Vernetzung mit anderen Institutionen der Wirtschaftsförderung, den Kammern, Banken und vielen anderen. Dabei haben sich je nach regionaler Situation durchaus auch unter­ schiedliche Schwerpunkte für die Maßnahmen ergeben. Die folgenden, aus den vielen Aktivitäten auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene ausgewählten Beispiele zeigen, in welchen Kontexten Kreativwirtschafts­ förderung stattfinden kann. So wirkt die » Kreativgesellschaft Hamburg « zum Beispiel eng eingebunden in die Kulturförderung als Teil der städti­ schen Kulturbehörde und sorgt für ein reibungsloses Ineinandergreifen öffentlicher Kulturförderung und privatwirtschaftlicher Kreativwirtschaft (kreativgesell­schaft.org/). Berlin hat mit dem » Projekt Zukunft « schon früh begonnen, neu entstehende Wirtschaftsfelder gezielt zu entwickeln. Die Bundeshauptstadt, die vielen als die kreative Metropole in Europa schlechthin gilt, hat sich aber interessanterweise dagegen entschieden, die Kreativwirtschaft ganz spezifisch in den Fokus ihrer eher breit auf Techno­ logie-, Start-up-Szene und Netzwerke orientierten Wirtschaftsförderung zu nehmen (www.berlin.de/projektzukunft/). Ganz anders die Hansestadt Bremen. Dort hat man sehr früh auf eine ganz spezifische Form von Wirt­ schaftsförderung für die kreativen Branchen gesetzt. Die in Bremen im Projekt Ideenlotsen (www.ideenlotsen.de/) entwickelten Methoden sind in Deutschland richtungsweisend geworden für den Umgang mit Freiberuf­ lern und Kleinstunternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft und haben bundesweite Verbreitung über die Regionalbüros des Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes gefunden (www.rkw-kreativ.de). Auch kleinere Städte haben die Kultur- und Kreativwirtschaft als Wirtschaftsfaktor und zur Standortentwicklung früh entdeckt. Aachen arbeitet seiner örtlichen Lage entsprechend sehr stark europäisch und

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länderübergreifend vernetzt (www.kulturunternehmen.info/). Die Stadt Offenbach entwickelt im Windschatten des Rhein-Main-Gebietes eine stark kommunal geprägte kreativwirtschaftliche Identität (www.offenbach.de/ kreativ), während man in Mannheim den Teilmarkt Musikwirtschaft beson­ ders hervorhebt und sich daraus aktivierende Impulse auch für die anderen Bereich der Kreativwirtschaft erwartet. Schließlich haben sich auch Regionen jenseits urban geprägter Zentren den Anforderungen nach einer modernen, auf die vorhandenen Bedarfe orientierten Wirtschaftsförderung gestellt und eigenständige Kreativwirt­ schaftsfördereinrichtungen gegründet. Den Anfang machte der Freistaat Thüringen mit der Einrichtung der Thüringer Agentur für die Kreativwirt­ schaft (www.thueringen-kreativ.de). Eine ähnliche Initiative gibt es inzwi­ schen im Saarland (www.kreativzentrum-saar.de/). In beiden Bundeslän­ dern wird durch die praktische Arbeit bewiesen, dass Kreativwirtschaft eben auch in der Fläche stattfindet und es erhebliche wirtschaftliche Potenziale jenseits der großen Kreativmetropolen zu heben gibt. Mit diesen Maßnahmen haben sich bereits erstaunliche Erfolge einge­ stellt. Welche Kraft aus zielgruppen- und branchengerechter Betreuung für kreativwirtschaftliche Vorhaben erwachsen kann, ist zum Beispiel auch an den Erfolgsgeschichten der Titelträger des seit 2011 durchgeführten bundesweiten Wettbewerbs » Kultur- und Kreativpiloten Deutschland « ablesbar (www.kultur-kreativpiloten.de/). Die jährlich 32 ausgezeichneten Akteure aller Altersgruppen und aus allen Bereichen der Kreativwirtschaft führen einer breiten Öffentlichkeit eindrucksvoll vor Augen, welche Arbeit landauf und landab mit den vielen in den unterschiedlichsten Kreativwirt­ schaftfördereinrichtungen betreuten Unternehmen geleistet wird. Dennoch bleiben die erzielten positiven Effekte so lange punktuell und begrenzt, wie eine auf die Besonderheiten kreativwirtschaftlicher Wert­ schöpfung orientierte Unterstützung nur bei einzelnen spezifischen Insti­ tutionen angesiedelt ist. Notwendig für eine breite und verstetigende Nutzbarmachung aller kreativwirtschaftlicher Potenziale in der Gesell­ schaft ist ihre Verankerung im Mainstream der Wirtschaftsförderung. Zu oft führt die geforderte Branchenunabhängigkeit und -offenheit wichtiger Förderprogramme zu einer ungewollten Benachteiligung gerade einer der dynamischsten Wirtschaftszweige in Deutschland, weil diese jedenfalls teilweise anderen inneren Gesetzmäßigkeiten folgt bzw. anders strukturell organisiert ist. Der nächste Schritt in der bisherigen Erfolgsgeschichte der Kultur- und Kreativwirtschaftsförderung muss es also sein, den erworbenen

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Wissens- und Erfahrungsschatz auf breiter Basis zum Einsatz zu bringen und als Querschnittsaufgabe in allen relevanten Institutionen zu verankern.

Orientierungsrahmen für eine wirksame Kreativwirtschaftsförderung Dass die Kreativwirtschaft einer besonderen, zum Teil auch anderen Unter­ stützungslogik bedarf, ist nach dem oben Gesagtem offenbar. Das » Wie « stellt Entscheidungsträger jedoch noch immer vor Herausforderungen. Statt formelhafter Empfehlungen, die einen direkten Kausalzusammen­ hang zwischen bestimmten Methoden oder Instrumenten und wirtschaft­ lichem Erfolg suggerieren, soll an dieser Stelle ein Rahmen skizziert werden, an dem sich wirksame Strategien orientieren können, wobei an dieser Stelle auf detaillierte Ausführungen zur methodischen Vorgehensweise verzich­ tet werden muss. Spezifische Beratungsmethodik Die zentrale Frage für Beratungen von Freiberuflern und Kleinstunterneh­ men in der Kreativwirtschaft ist die nach der Vision und dem Selbstbild. Am Anfang der unternehmerischen Entwicklung gilt es für viele Kreative zunächst Grundsatzfragen nach dem Verhältnis zwischen schöpferischem Anliegen und wirtschaftlicher Ausrichtung zu klären. Hier können An­ gebote wie das der regionalen Ansprechpartner im Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes entscheidende Impulse setzen. Wichtiger noch als die Unterstützung bei der erwerbswirtschaftlichen Orientierung ist, angehenden Kreativunternehmerinnen und -unterneh­ mern in ersten Gesprächen eine ungeschminkte Rückmeldung zu geben, wenn die intendierte unternehmerische Tätigkeit eben keine realistische Aussicht auf wirtschaftliche Tragfähigkeit hat oder die individuellen per­ sönlichen Überzeugungen dem für erfolgreiches Wirtschaften unabding­ baren marktorientierten Wirken grundsätzlich im Wege stehen sollten. Hier wäre eine rein formale Gründungsberatung kontraproduktiv. Der Be­ ratungsauftrag durch den Klienten darf nicht so verstanden werden, dass auf Biegen und Brechen Wege gesucht werden, wie ein bestimmtes Vor­ haben umgesetzt werden kann. Vielmehr sollte die schöpferische Person in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen und nach Ansatzpunkten gesucht werden, wie sich hieraus realistische unternehmerische Ideen formen las­ sen. Typische Fragen der Klienten sind zu Anfang : » Wie kann ich Kunstwerk

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X oder Kreativleistung Y besser und für mehr Geld verkaufen ? « Natürlich gibt es hier und da Optimierungspotenzial bei der Markteinschätzung oder der Umsetzung. Bei einer tieferen Beschäftigung mit der Person stellt sich aber meist heraus, dass die Frage besser lauten sollte : » Welche am Markt verwertbare Leistung kann ich aus meinem schöpferischen Anliegen oder meinen kreativen Kompetenzen heraus entwickeln ? « Als Konsequenz sind ein umfassendes Verständnis typischer Persönlich­ keitsmerkmale von Künstlern und Kreativen sowie breite Marktkenntnis kreativer Branchen wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Bera­ tung in der Kreativwirtschaft. Für solche Kreativunternehmen, die bereits stabil am Markt etabliert sind, insbesondere wenn sie schon eine im Branchendurchschnitt beacht­ liche Größe erreicht haben (5-30 Mitarbeiter), gibt es bisher wenig spezi­ fische Beratungsangebote. Persönlichkeitsmerkmale der Eigentümer und Mitarbeiter und Fragen nach dem Selbstverständnis sind hier weniger vor­ dergründig relevant für eine erfolgreiche Beratung. Bei Kreativunterneh­ men dieser Größenordnung dominieren typische unternehmerische und betriebswirtschaftliche Fragen, die aber dennoch nur an der Oberfläche identisch mit den Fragestellungen vergleichbarer Unternehmen in anderen Branchen sind. Zwar geht es um ganz handfeste Fragen nach Mitarbeiter­ führung, Deckung von Kapitalbedarf, überregionale und internationale Markterweiterung, Produkt- bzw. Dienstleistungsentwicklung oder auch Fragen der Unternehmensnachfolge, Qualitätssicherung und Produktions­ kapazitäten. Aber alle diese Fragen müssen mit Blick auf die für die Kreativ­ wirtschaft geltenden Gesetzmäßigkeiten beantwortet werden. Antworten lauten dabei in jedem Fall nicht grundsätzlich anders, müssen aber kreativ­ wirtschaftliche Besonderheiten berücksichtigen. Zukünftig muss es eines der zentralen Ziele der Kreativwirtschaftsförde­ rung sein, dass Beratungsangebote konzipiert, bestehende Berater diesbe­ züglich weitergebildet und zertifiziert, vor allem aber neue Experten mit sowohl kreativ-künstlerischen sowie unternehmerischen Kompetenzen ge­ funden werden, die Bestands- und Wachstumsunternehmen der Kreativ­ wirtschaft fachgerecht unterstützen können. In der Beratungspraxis haben sich dazu insbesondere peer-to-peer-An­ sätze bewährt. Externe Berater, die selbst über Erfahrung in der Führung von kreativwirtschaftlichen Unternehmen und über spezielle Marktkennt­ nisse verfügen, sind durch ihre eigenen Erfolge und Misserfolge glaubwür­ dig. Sie kennen die innere Logik kreativ-schöpferischer Tätigkeiten, das

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besondere Marktverhalten gegenüber kreativwirtschaftlichen Leistungen und auch die für andere Branchen oft scheinbare Irrationalität der Kreativ­ akteure aus dem eigenen Erleben. Förderung In Zukunft wird es nicht nur im Falle der Kreativwirtschaft schwierig, auf einen Standardkanon erprobter Instrumente zu setzen. Zu schnell wandeln sich technologische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, zu flexibel verändern sich Arbeitsformen und Geschäftsmodelle. Förder­programme gerade im Bereich der Investitionsförderung, die nur dann genutzt wer­ den können, wenn zugleich zusätzliche Dauerarbeitsplätze geschaffen werden, schließen darum die Mehrzahl der Investitionsvorhaben in der Kreativwirtschaft, aber auch den meisten wissensnahen Dienstleistungen jedenfalls bei kleineren Unternehmen aus. Wirtschaftszweige in diesen Bereichen weisen seit Jahren überdurchschnittlich hohe Wachstumsraten sowie bei qualitativer Untersuchung erhebliche ungenutzte wirtschaftliche Potenziale auf (TMWAT 2011). Wachstum und wirtschaftlicher Erfolg in die­ sen Branchen ist allerdings gerade nicht zwingend mit der Schaffung von Dauerarbeitsplätzen oder hohem Investitionsbedarf verbunden. Ein weiteres Beispiel ist die in Deutschland üblicherweise auf die im AUMA-Katalog aufgeführten Messen beschränkte Messeförderung. Viele für die Unternehmen der Kreativwirtschaft besonders relevanten Mes­ sen und noch mehr neuartige Formate zwischen Messe, Ausstellung und Festival werden in dieser Liste nicht aufgeführt. Auch ist die Präsenz auf Messen nicht in jedem Fall die geeignete Form zur überregionalen Markt­ erweiterung für die kleinen Unternehmen der Branche. Vielmehr ist eine umfassendere Strategie zur Internationalisierung von Kreativwirtschafts­ unternehmen zu entwickeln, die zum einen die Verwertungs- und Ver­ triebsbedingungen der jeweiligen kreativwirtschaftlichen Disziplin berück­ sichtigt und zum anderen die besonderen Bedarfe der in der jeweiligen Region ansässigen Unternehmen in den Blick nimmt. Dies impliziert auch, dass Wirtschaftsförderer in Zukunft nicht nur quan­ titativ messbaren Kennzahlen hinterher schauen dürfen, sondern auch die Sinnorientierung der Unternehmen würdigen müssen. Finanzierung und Investitionen Die kaum mögliche Berechenbarkeit des Risikos beziehungsweise der Ren­ dite einer Investition in kreativwirtschaftliche Güter oder Dienstleistungen

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führt unter anderem zu einer praktischen Inkompatibilität fast aller regu­ lärer Förder- und Finanzierungsinstrumente. Ausgenommen sind nur die inhaltlich orientierte Kulturförderung und eine Risikostreuung über eine Portfolioinvestition. Für die Kreativwirtschaft fehlt es an adäquaten Finan­ zierungsinstrumenten, die dringend entwickelt werden müssen. Untersuchungen des Finanzbedarfs in der Kreativwirtschaft und Analy­ sen der ausgehändigten Finanzierungen seitens der Finanzinstitute schei­ nen seit Jahren zu belegen, dass kreativwirtschaftliche Unternehmungen keinen besonderen Kapitalbedarf benötigen (BMWi 2010, BMWi 2009). Bei­ spielsweise wird darauf hingewiesen, mit wie wenig Kapital eine Gründung im Bereich der Kreativwirtschaft erfolgen kann und dass der Kapitalbedarf im Wesentlichen aus den fixen und variablen Kosten für Betriebsmittel resultiert. Oft sind nicht viel mehr als ein tragbarer Computer, ein Mobil­ telefon sowie ein oder zwei Softwareprogramme erforderlich. Mit diesen Arbeitsmitteln lassen sich grundsätzlich bereits pro Kopf beträchtliche Um­ sätze in Höhe von 100.000 EUR pro Jahr erzielen, legt man den Berechnun­ gen branchenübliche Tagessätze zugrunde. Diese Schlussfolgerungen basieren aber auf Beobachtungen des Status Quo und setzen voraus, dass die Kreativwirtschaft in ihrer heutigen Aus­ prägung selbsttätig eine ihr entsprechende Struktur erreicht hätte. Ana­ lysen auf betrieblicher Ebene ergeben hingegen ein gänzlich anderes Bild. Freiberufler und Kleinstunternehmen können verhältnismäßig geringe Kapitalbedarfe nicht auf den üblichen Wegen über Bankdarlehen oder auch Förderprogramme decken. Dies gilt umso mehr für größere Kapital­ bedarfe wachstumsträchtiger Unternehmen der Kreativwirtschaft, schon da es häufig an anerkannten Sicherheiten zur Absicherung etwa eines Investitions­darlehens fehlt, häufig aber auch, da es an einem Verständnis für die Geschäftsidee mangelt. So ist die Aussagefähigkeit der oben ge­ nannten Untersuchungen zum Kapitalbedarf der Unternehmen aus der Kreativwirtschaft schon deshalb begrenzt, da die abgelehnten Förder- und Kredit­anträge sowie die bereits im Vorfeld nach Vorgesprächen nicht ge­ stellten Anträge nicht erfasst sind. Entgegen der bestehenden Annahme müssen aber auch kreativwirtschaftliche Unternehmungen im Hinblick auf den Kapital­bedarf als ganz » normale « Unternehmen angesehen werden, die für ihre Gründung oder ihr Wachstumsvorhaben selbstverständlich Ka­ pital benötigen, wie andere Unternehmen auch. Es wird dabei gar nicht vorrangig darum gehen, besondere Finanzierungs­ instrumente zu entwickeln. Ein deutlicher Schritt nach vorne besteht schon

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darin, der Branche angemessene Bewertungskriterien und in den Kredit­ instituten und Fördermittelverwaltungen Sachkompetenz für die Beurtei­ lung der Geschäftsmodelle in der Kreativwirtschaft zu entwickeln. Geschäftsfeldentwicklung statt Business-Plan Der Businessplan bedeutet für viele kreativwirtschaftliche Geschäftsideen ein zu enges Korsett. Obwohl die grundsätzlichen Stufen einer BusinessplanEntwicklung auch für kreativwirtschaftliche Unternehmen ein probates Mittel zur Planung und Darstellung des unternehmerischen Vorhabens sind, erfolgt in der Praxis ihre Anwendung häufig formelhaft und schematisch. Die Orientierung an Standardvorlagen wird vielen Aspekten einer unterneh­ merischen Entwicklung in der Kreativwirtschaft nicht gerecht. Dies trifft insbesondere auf Abschnitte zum angebotenen Produkt beziehungsweise der Leistung zu. Hier wird oft nicht das tatsächliche Allein­stellungsmerkmal einer schöpferisch originellen Leistung mit seinem spezifischen Kundennut­ zen herausgearbeitet, sondern das Vorhaben auf Vergleichbarkeit mit an­ deren schon etablierten Angeboten getrimmt. Ein solches Vorgehen macht zwar die Abschätzung der Marktsituation und auch die zahlenmäßige Pla­ nung etwa bei der Liquiditätsvorschau leichter, konterkariert aber gerade die Besonderheit – und auch die besonderen Chancen – des jeweils eigenen unternehmerischen Anliegens. Auch die Beantwortung von Fragen zu den voraussichtlichen Marktbedingungen erfordert in der Kreativwirtschaft in der Regel hohen Aufwand mit anspruchsvollen Instrumenten, der in vielen Businessplanentwicklungen nicht darstellbar ist. Die Versuchung liegt nahe, sich mit pauschalen, scheinbare Vergleichbarkeit herstellenden groben Aussagen mit wenig Überzeugungskraft zu behelfen. Schließlich scheitern viele Kreativunternehmen insbesondere bei der Darstellung einer schlüs­ sigen Rentabilitätsvorschau. Es ist eine Grundeigenschaft vieler kreativ­ wirtschaftlicher Unternehmen, dass sie zunächst eine nur eingeschränkte Skalierbarkeit aufweisen. Sollen sich aus diesen Vorhaben schlagkräftige und entwicklungsfähige Unternehmen entwickeln lassen, so ist spätestens an dieser Stelle eine Revision des der Businessplanung zugrunde liegenden Geschäftsmodells erforderlich. Anfangs basieren viele Businessideen in der Kreativwirtschaft darauf, die erwerbswirtschaftliche Betätigung eines ein­ zelnen Kreativen zu beschreiben. Der Umsatz entsteht aus der Multiplikation der angebotenen Kreativ­leistung mit der Anzahl der Kunden. Für ein wirk­ lich robustes und skalierbares Unternehmen notwendig ist die schonungs­ lose Frage nach dem tatsächlichen, wirtschaftlich dauerhaft verwertbaren

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Mehrwert, den die Tätigkeit schaffen kann. Die kreativ-schöpferische Leis­ tung, die vorher zentraler Angelpunkt des Kreativunternehmens zu sein schien, sollte in einer umfassenden Geschäftsfeldentwicklung für kreative Freiberufler, Selbständige und Kleinstunternehmen zum Ausgangspunkt für die Konzeption neuer Verwertungsformen und Anwendungsbereiche der individuellen Leistung werden. Oft muss an dieser Stelle die Aufmerk­ samkeit in der Businessplanung zunächst scheinbar zurückgeführt werden auf die schöpferischen Ressourcen und Erfahrungen aus der Vergangenheit, um belastbare Ansatzpunkte für eine wirkliche unternehmerische Entwick­ lung zu finden. Es ist ein Grundproblem in der Dynamik vieler Kreativunter­ nehmen und freiberuflichen Tätigkeiten, dass der Verwertungsdruck, unter dem diese Aktivitäten stehen, schnell zu einfachen Lösungen und traditio­ nellen Modellen führt, die dem wirklichen Potenzial, das in einer Idee oder den Kompetenzen der Ideenträger liegt, nicht annähernd gerecht wird. Wertschätzung und Wertschöpfung/Reputationsbeziehungen Erfolg bedeutet für viele kreativwirtschaftliche Unternehmerinnen und Unternehmer nicht in erster Linie wirtschaftlichen Gewinn. Wichtiger er­ scheinen die soziale Reputation, die aus dem » inneren « Wert der kreativen Arbeit erwächst, sowie die eigene » Befriedigung «, dem gesetzten schöpfe­ rischen Anspruch gerecht geworden zu sein. Im Zusammenwirken mit diver­ sen Akteuren im Umfeld des Kreativunternehmens wie Kollegen, Kritikern, dem Publikum, öffentlicher Förderung und nicht zuletzt natürlich auch dem privatwirtschaftlichen Markt, auf dem die Leistung gehandelt wird, ergibt sich ein hochkomplexes Geflecht von Beziehungen, die in ihrer Gesamt­ heit den » Wert « einer künstlerischen oder kreativen Tätigkeit ausmachen (Becker 1982). Nicht immer ist die vermeintlich » hohe « Einstufung durch eine Seite dabei ein Garant für Wertzuwachs. Es kann sein, dass gerade der Erfolg bei einem Akteur, zum Beispiel einem bestimmten Kundenkreis, in den Augen anderer zu einer Abwertung der schöpferischen Leistung führt, weil eben dieser Kundenkreis als nicht vereinbar mit den eigenen Wertvor­ stellungen angesehen wird. Für eine kreativwirtschaftliche Unternehmung muss es darum gehen, aus dieser Vielzahl an Wertschätzungen diejenigen herauszuarbeiten, die ein Optimum an wirtschaftlich verwertbarer Wert­ schöpfung ermöglichen. Verbindungen zu potenziell passenden Kooperationspartnern und Kundenkreisen aufzuzeigen und die Entwicklung des Kreativunterneh­ mens dahingehend zu fördern, kann eine wichtige Funktion regionaler

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Wirtschaftsförderung sein. Hier ist die Sicht von außen und die Kenntnis anderer Branchen und Märkte von großem Vorteil, die oft nur nach innen gerichtete Orientierung der Kreativwirtschaft erweitern zu helfen. Beziehungen zu Sozialpolitik und Kulturpolitik Die Förderung der Kreativwirtschaft aus wirtschaftspolitischen Erwägun­ gen heraus wird von manchen, die für die Förderung von kreativer und künstlerischer Arbeit eher die Kulturförderung als berufen und die Sozial­ politik als in der Pflicht ansehen, als zu einseitig kritisiert. Während Stadtund Regionalentwickler die Bedeutung der Kreativwirtschaft zunehmend erkennen, nehmen Sozial- und Kulturpolitik oft eine ablehnende oder dis­ tanzierende Haltung gegenüber der Kreativwirtschaft ein und übersehen den Beitrag von am Markt erbrachten Leistungen für die Kultur und vor allem kulturelle Teilhabe. Ein ressortübergreifender Dialog auf administra­ tiver Ebene findet demgemäß bisher kaum statt. Dies ist besonders proble­ matisch, da gerade das soziale und kulturelle Umfeld zu neuen Ideen und Ansätzen führen, die in der Folge unternehmerisch umgesetzt oder krea­ tivwirtschaftlich verwertet werden könnten. Ohne den eigenen Wertan­ spruch aufzugeben, kann Kulturförderung durchaus so angelegt sein, dass sie die Chancen von Künstlern und Kreativen auf erwerbswirtschaftliche Verwertung der geförderten Projekte erhöht. Auf jeden Fall sollte verhin­ dert werden, dass Kulturförderungs- und sozialpolitische Instrumente zu Fehlanreizen führen, die gerade die originellsten und zukunftsweisendsten Konzeptionen einer weiteren Verbreitung über den privatwirtschaftlichen Markt entziehen. Netzwerke Ein immer wieder aufkommender Wunsch seitens der Akteure ist der nach mehr » Vernetzung «. Nicht nur ist die Kreativwirtschaft als Branche bis auf wenige lokale Ausnahmen nicht als solche organisiert. Sondern auch die teil­ marktbezogenen Verbände verfügen – mit Ausnahme der Architekten mit ihrem Kammerprinzip – nur über einen geringen Organisationsgrad. Gleich­ wohl sind gerade kreativwirtschaftliche Unternehmer auf die Kooperation mit anderen angewiesen. Die Unterstützung von Netzwerkbildung für die vorzugsweise projekt- und netzwerkbasiert arbeitenden Kreativunterneh­ men gehört deshalb zum Kern der Wirtschaftsförderung für die Kreativ­ wirtschaft. Dabei ist es mit Blick auf die branchenübergreifend wirkenden Impulse der Kreativwirtschaft wichtig, Verbindungen der Kreativwirtschaft

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zu anderen Branchen zu etablieren. Hier bestehen große Defizite, die weder die Kreativwirtschaftsakteure selbst noch die Nachfrage nach deren Leis­ tungen aus anderen Branchen heraus ohne die Unterstützung regionaler Wirtschaftsförderung wird ausgleichen können. Außenwirtschaft / Internationalisierung Kreativwirtschaftliche Unternehmen bedienen in Deutschland bisher in erster Linie lokale und regionale Märkte und den nationalen Markt. Grenz­ überschreitende oder gar international ausgerichtete Dienstleistungen sind noch unterentwickelt (Söndermann 2012 : 28). Die Unterstützung kreativ­ wirtschaftlicher Kleinst- und Kleinunternehmen bei der Internationalisie­ rung ist deshalb künftig ein wesentliches Handlungsfeld. Hier ist unbedingt darauf zu achten, dass nicht eine überregionale Markterweiterung um je­ den Preis angestrebt wird. Denn die eröffneten Marktpotenziale müssen vom Unternehmen dann in der Praxis auch bedient werden können, ohne dass das Kerngeschäft darunter leidet. Gerade bei den vielen Mikrounter­ nehmen der Kreativwirtschaft fällt dies nicht immer leicht. Unterstützung zur Markterweiterung sollte sich daher nicht in der Sub­ ventionierung von Messepräsentationen oder Unternehmerreisen erschöp­ fen, sondern muss die Gesamtkosten einer Erweiterungsstrategie in die Kalkulation einbeziehen. Hier besteht vor allem im Vorfeld viel Beratungsund Konzeptionsbedarf bei den Kreativunternehmen, für welche die Wirt­ schaftsförderer ein kompetenter Begleiter sein sollten. Inkubatoren / Gründerzentren Inkubatoren und Gründerzentren in Deutschland konzentrieren sich nach wie vor fast ausschließlich auf technologieorientierte Start-Ups und Unter­ nehmen. In der Integration kreativwirtschaftlicher Unternehmen liegt ein bisher ungenutztes Potenzial. Kreativwirtschaftliche Leistungen sind Trei­ ber sowohl technologischer Entwicklungen als auch ihrer Anwendung und Verbreitung. Umgekehrt sind Innovationen in der Kreativwirtschaft heute kaum ohne die enge Verflechtung mit Wissenschaft und Technologie denk­ bar. Gerade Gründungsideen auf Basis kreativ-schöpferischer Ideen benö­ tigen den Zugang zu anderen Disziplinen, um unternehmerisch erfolgreich umgesetzt werden zu können. Die Zukunft solcher Einrichtungen der regio­ nalen Wirtschaftsförderung besteht in einer Betriebsform, die darauf hin­ wirkt, dass sich unterschiedlichsten Disziplinen treffen und gemeinsame Ideen entwickeln können.

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Immobilien / Räume Die Branchenstruktur und Arbeitsweise in der Kreativwirtschaft stellt auch spezifische Anforderungen an den Arbeitsort. Die Konjunktur von Cowor­ king-Spaces belegt dies eindrücklich. Sie bieten eine flexible, der jeweili­ gen wirtschaftlichen Situation anpassbare Infrastruktur gerade für Mikro­ unternehmen und Freiberufler, in der Akteure allein oder projektbezogen miteinander arbeiten können, und ermöglichen en passant den Aufbau von Netzwerken. Das bedeutet indes nicht, dass eine konventionelle Bürostruktur in je­ dem Fall verfehlt ist. Vielmehr gilt auch hier, dass die Heterogenität der Branche eine Bandbreite unterschiedlicher räumlicher Einfallstore in die erwerbswirtschaftliche Aktivität gebietet und die » gute Adresse « für die Unternehmen von nicht geringer Bedeutung ist. Informations- und Kommunikationstechnologien Kreativwirtschaftliche Unternehmen sind Nachfrager nach neuen Techno­ logien. Sie erweitern nicht nur die Anwendungsfelder neuer Technologien, sondern stimulieren als Kunden auch Innovationen bei ihren Technologie­ lieferanten. Speziell in Deutschland wird die IKT-Branche zu sehr von den mit ihnen eng verbundenen Wirtschaftszweigen der Medien und der Krea­ tivwirtschaft abgegrenzt. Innovative Kooperationen zwischen Technologieherstellern oder -ent­ wicklern und den Inhalteanbietern haben das Potenzial, den belastenden Preisdruck aus Asien speziell auf die IKT-Branche auszugleichen.

Plädoyer für eine Erweiterung der bisherigen Förderansätze hin zur » Mitte « Bisher sind erste Lösungsmodelle für die typischen Probleme der klein­ teilig strukturierten Kreativwirtschaft entwickelt worden. Spezialisierte Einrichtungen zur Kreativwirtschaftsförderung arbeiten zur Stärkung er­ werbswirtschaftlicher Impulse, Unternehmertum, Selbstfindung und an der Vermittlungskompetenz speziell der vielen Freiberufler und Kleinst­ unternehmen. Diese sind auch die bisherige Hauptzielgruppe und ihre Professionalisierung das Kernstück der Kreativwirtschaftsförderung. Die bisher fast ausschließliche Beschränkung auf diesen Bereich verstellt je­ doch den Blick auf die » Mitte «, auf jene Unternehmen zwischen 5 und 30 Mitarbeitern mit anderen Bedarfen und höheren Wachstumspotenzialen.

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Diese wachstumsträchtige Gruppe von Kreativwirtschaftsunternehmen, von denen auch viele Impulse gerade in andere Branchen und Märkte ausgehen, wird in der Praxis bisher weitestgehend den traditionellen In­ stitutionen überlassen. Dennoch sind auch bei diesen Unternehmen die gleichen Barrieren und Schwierigkeiten im Zugang zu Beratungs- und För­ dereinrichtungen oder Finanzierungsangeboten festzustellen wie bei den Kleinstbetrieben. Das Versäumnis, diesen im Branchenvergleich innerhalb der Kreativwirtschaft bereits mittelgroßen Unternehmen, adäquate, auf ihre Geschäftsmodelle und den spezifischen Bedarf zugeschnittene Ange­ bote machen zu können, wiegt umso schwerer, da diese Unternehmens­ gruppe auf der Grundlage des bereits erzielten Markterfolges und einer stabilen wirtschaftlichen Basis deutlich höhere absolute Zuwachsraten er­ warten lässt. Einerseits handelt es sich um ganz » normale « Unternehmen, die sehr gut auch von etablierten Institutionen wie den Industrie- und Handelskammern betreut werden können, andererseits wirkt auch bei ih­ nen die spezifische Ökonomik der Kreativwirtschaft in einer besonderen Weise, so dass nur bei Beachtung und Ausnutzung der Besonderheiten dieses Wirtschaftszweiges wirklich alle wirtschaftlichen Potenziale ausge­ schöpft werden können. In diesem » mittleren « Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft bedeu­ tet eine wirksame Kreativwirtschaftsförderung noch stärker als im Mikro­ bereich der Kleinstunternehmen immer auch Nachfragestärkung. Indem zum Beispiel die Kooperationsbeziehungen zwischen kreativwirtschaftli­ chen Unternehmen und Unternehmen anderer Branchen gestärkt werden, kann einerseits die Nachfrage nach kreativwirtschaftlichen Leistungen ge­ stärkt und andererseits die Wertschöpfung und Innovationskraft auch in den anderen Branchen zusätzlich erhöht werden. Diesen Fokus der bishe­ rigen Förderansätze um den Mehrwert für andere Branchen zu erweitern, ist ein weiteres Argument dafür, die Kreativwirtschaftsförderung in den Kanon der Wirtschaftsförderung zu integrieren, statt sie wie bisher primär als » Zusatzaufgabe « zu betrachten. Eine in diesem Sinne umfassend verstandene kreativwirtschaftsspezi­ fische Förderung richtet sich dann auch zugleich an kreativwirtschaftliche Wertschöpfung quer durch alle Branchen : Zukünftig geht es also um krea­ tive Wirtschaft statt allein um Kreativwirtschaft.

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Literatur Anderson, Chris (2012) : Makers. The new industrial revolution. Anderson, Chris (2009) : Free. The future of a radical price. Anderson, Chris (2004) : » The long tail «. In : Wired magazine, Issue 12.10, Oktober 2004. Online : http://www.wired.com/wired/archive/12.10/tail.html Baumann, Zygmunt (2000) : Liquid modernity. Baumann, Zygmunt (2005) : Liquid life. Baumol, William J. / Bowen, William G. (1966) : Performing arts. The economic dilemma. Beck, Ulrich (1986) : Die Riskogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Becker, Howard S. (1982) : Art worlds. Bell, Daniel (1976) : » The coming of the post-industrial society«. In : The Educational Forum, Vol. 40 (4). Bouchenoire, Jean-Léon (2003) : » Steering the brand in the auto industry «. In : Design Management Journal, Vol. 14 (1). Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.) (2010) : Forschungsbericht Nr. 589. Monitoring zu ausgewählten wirtschaftlichen Eckdaten der Kultur- und Kreativwirtschaft 2009. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.) (2012) : Monitoring zu ausgewählten wirtschaftlichen Eckdaten der Kultur- und Kreativwirtschaft 2011. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.) (2009) : Forschungsbericht Nr. 577. Gesamtwirtschaftliche Perspektiven der Kulturund Kreativwirtschaft in Deutschland. Castells, Manuel (1996) : The rise of the network society. Caves, Richard (2000) : Creative industries. Contracts between art and commerce.

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Journalismus als » creative industry « ? Medienpolitische Möglichkeiten und kreativ-wirtschaftliche Strategien

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In den 1990er Jahren begann die britische Regierung unter Führung der Labour-Partei, operative Konzepte für ein » Creative Britain « zu entwerfen. Dazu gehörten » transformative investments « in traditionelle Kulturin­ stitutionen wie Theater und Museen, in die Musical-, Film- und Fernseh­ szene, in Fashion und Design, bald auch in Computer-Games und WebGestaltung. Dazu kamen gesetzliche Regulierungen, mit denen Kreative und Kultur­produzenten begünstigt wurden. In der Ära Blair, symbolisiert durch » Cool Britannia «-Branding und das » Creative Britain «-Buch des Kul­ tur- und Medien­ministers Chris Smith (1998), sollte es dabei nicht nur um Wertschöpfung durch postindustrielle Gewerke gehen, sondern auch um das Außenbild einer kreativeren Politik. » New Labour « und die Revitalisie­ rung von Swinging London – das sah gut aus und passte zum Image des Premiers als Peter Pan. Kultus- und Medienminister Smith, heute Baron Smith of Finsbury, war einer der ersten britischen Politiker, der sich offen zu seiner Homosexuali­ tät bekannte ; 2004 schrieb er dann einen aufsehenerregenden Artikel über seine HIV-Erkrankung. Bei allen strategischen Überlegungen zur creative economy, die über das in Deutschland favorisierte Konzept der » Kultur­ wirtschaft « hinauswiesen, ging es mehr oder weniger offen eingestanden auch um gesellschaftliche und moralische Liberalisierung. Ironischerweise markiert die Blair-Ära aber auch den Aufstieg von Rupert Murdoch und seinen rabiaten Boulevard-Troupiers, der zum einen faktisch als kreativ­ ökonomischer Erfolg (etwa durch die neue Marktmacht des Pay-TV) ver­ bucht werden konnte, zum anderen die publizistische Sphäre für das Weiter­ regieren zu sichern schien. Man sieht an dieser Konstellation, dass der Journalismus zwar ohne Weiteres zu den kreativökonomischen Faktoren gezählt werden kann, als permanente Selbstbeobachtungsinstitution der Gesellschaft im Sinne Max Webers (oder als » publizistisches Subsystem « in der Sichtweise Luhmanns) aber einen intellektuellen und organisatorischen Eigenwert besitzt. Der professionelle Journalismus ist zudem überwiegend Teil von Multimedia- und Entertainment-Konzernen, die in Verbindung

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mit der Werbewirtschaft » das tägliche Marketing für die Überproduktion an kommunikativen Möglichkeiten « betreiben und » gleichzeitig die kom­ munikative und mediale Erlebniswelt « fokussieren (Hachmeister / R ager 2005 : 22). Die Frage, ob und wie weit der professionelle Journalismus durch die Omnipräsenz des Internets und die damit erweiterten Möglichkeiten der Meinungsproduktion substituiert oder durch ein neues Selbstbeobach­ tungssystem der Gesellschaft marginalisiert werden kann, wird gegenwär­ tig in zahlreichen Essays und Branchenbefragungen durchgespielt. Es zeigt sich jedenfalls, dass neue » Geschäftsmodelle « der periodischen Publizistik, inklusive der Förderszenarien und möglicher Veränderungen medienrecht­ licher Rahmenbedingungen, ein besonderes Thema im kreativwirtschaftli­ chen Diskurs sein müssen. Der internationale Durchbruch der neuen Kreativitätssemantik lässt sich wohl am ehesten mit dem Namen des US-Ökonomen Richard Florida ver­ binden. Sein Konzept der » creative industries «, welches er in seiner 2002 erschienenen Publikation » Rise of the Creative Class « skizziert, prägte seither den weltweiten Diskurs in Bezug auf Entwicklungs- und Wachs­ tumsstrategien für Städte und Regionen. Auch in Deutschland finden sich kaum Studien, Strategiepapiere oder Tagungsberichte zum Zusammen­ hang Kultur- und Standortpolitik ohne zumindest implizite Bezugnahmen auf Floridas Ausführungen. Sogar CDU-Politiker wie der ehemalige NRWMinister­präsident Jürgen Rüttgers holten sich gerne Rat bei Richard Florida. In Berlin avancierten mit Floridas Ansatz konnotierte Begriffsprägungen wie die » digitale Bohème « (Friebe / Lobo 2006) zum festen Bestandteil des feuilletonistischen Ausdruckkanons und urbankultureller Erörterungen. Baden-Württemberg bietet sogar geldwerte » Gutscheine zur Entwicklung von innovativen Unternehmen aus der Soloselbständigkeit in der Kreativ­ wirtschaft « an. Diesem Hype der kreativen workforce steht freilich auch eine Bandbreite kritischer Positionen gegenüber. Diese reichen von generellen Kritiken an der Inszenierung der Ideen als Heilslehre bis hin zu kulturdogmatischen Einwänden gegen die konzeptionelle Verknüpfung von Kunst und Ökono­ mie. Tatsächlich sind bereits die Kernaussagen des Floridaschen Modells zu­ mindest streitbar. Weder erscheint die Komposition der » kreativen Klasse « – ein bunter Mix, der Berufsgruppen wie etwa Technik- und Naturwissen­ schaftler, Finanzdienstleister, Anwälte, Journalisten und Medienschaffende ebenso wie Architekten, Designer oder Verwaltungsbeschäftigte umfasst – als besonders kohärent, noch ist der Begriff der » Klasse « angesichts seiner

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sozio-historischen Konnotationen glücklich gewählt. Die Postulate für eine wachstumsorientierte Steuerungspolitik, die Florida mit der Trias Talent, Technologie und Toleranz – inklusive dem hierin enthaltenen Homosexu­ alitätsindikator – benennt, wirken wenig differenziert und eindimensional in Anbetracht der auch in Zeiten des postindustriellen Wandels weiterhin bedeutsamen » harten « Standortfaktoren wie Steuer- und Abgabenrecht, Verkehr- und Transportinfrastrukturen oder Absatzmarktpotentiale. Nicht zuletzt sind es zudem die Schattenseiten einer Stadt- und Regionalpolitik, die vornehmlich auf die Verbindung von kultureller Standortattraktivität und wirtschaftlichem Wachstum setzt, wie Gentrifizierungstendenzen und prekäre Arbeitsverhältnisse, die im Modell der kreativen Klasse fast völlig unberücksichtigt bleiben. Dennoch handelt es sich bei Floridas Anstoß – so hat es der Harvard-Öko­ nom Edward Glaeser ausgedrückt – um eine sinnvolle Zusammenführung bisheriger Befunde von Humankapitaltheorien sowie der Städte- und Werte­wandelsforschung. Und genau hier muss auch die Würdigung des » creative-class «-Konzeptes ansetzen. Zum einen kommt ihm der Verdienst zu, eine breite Öffentlichkeit für wichtige sozio-ökonomische Perspektiven sensibilisiert und einen diesbezüglichen Diskurs angeregt zu haben. Zum anderen liefert das Florida-Modell einen sinnvollen Erklärungs- und Orien­ tierungsansatz für den postindustriellen Werte- und Strukturwandel. Die­ ser scheint gerade in Zeiten der Verunsicherungen über die Auswirkungen der Digitalisierung von Lebens- und Arbeitswelten und insbesondere auch nach dem Scheitern des Sinn- und Begriffsinventars von » New-Economy « nötiger denn je : » Das Faszinosum kreativer Ökonomien verdankt seinen Reiz dem behaupteten Neubeginn. Zudem konnotiert die Überschrift die Anpassung an das digitale Zeitalter und eine intime Verbindung zur digitalen Universalsprache « (Jürg Stüdemann). Der Mehrwert des kultur- und kreativwirtschaftlichen Ansatzes für kon­ krete politische und wirtschaftliche Steuerungs- und Planungsmaßnahmen liegt schließlich in der psychologischen wie ökonomischen Kontextuali­ sierung verschiedener Lebens- und Arbeitsbereiche. Dies betrifft die Wir­ kungszusammenhänge und Spill-Over-Potentiale innerhalb des ständig neu zu bestimmenden Kreativsektors genauso wie das grundlegende Ver­ hältnis von geistig-schöpferischer Motivation und volks- und betriebswirt­ schaftlichen Prinzipien. Gerade der letzte Punkt weist dabei, vor allem in Be­ zug auf Medien und Journalismus als Kreativ- und Wirtschaftsfaktoren, um die es im Folgenden gehen soll, auf ein bislang stets evidentes Moment hin :

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Die Dialektik von intellektueller Aussageproduktion und dem Streben nach Profitmaximierung und der Ambivalenz der Medien zwischen merkantilem und öffentlichem Gut, zwischen Gesellschaft und Markt, publizistischem und kommerziellen Wettbewerb.

Journalismus im kreativwirtschaftlichen Kontext Journalistische Arbeit folgt häufig institutionellen und technologischen Routinen, ist aber als individuelle Aussageproduktion und in elaborierten Redaktionszusammenhängen kreativ. Sie erfordert die Kenntnis und An­ wendung spezifischer Techniken in einem schöpferisch-reflexiven Prozess der Beobachtung, Einordnung und Vermittlung kontingenter Geschehnisse und gesellschaftlich relevanter Zusammenhänge. Die Produktion und Ver­ breitung journalistischer Güter ist gleichzeitig schon immer auch eine origi­ när renditeorientierte Unternehmung gewesen. So ist – abgesehen von im Laufe des 20. Jahrhunderts aufkommenden öffentlich-rechtlichen Organi­ sationsmodellen – die ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte der Massenmedien auch geprägt von kapitalistischen Triebkräften und dem 1 Wettbewerb um Aufmerksamkeits- und Anzeigenmärkte.  In ihrem Leitfaden für die statistische Erfassung der Kultur- und Kreativ­ wirtschaft von 2009 hat die Wirtschaftsministerkonferenz der Bundes­ länder folglich die Presse- und Rundfunkmärkte auch als zwei von elf krea­ tivwirtschaftlichen Kernmärkten herausgestellt. Die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der deutschen Bundesregierung definiert daran anknüp­ fend die Hauptmerkmale kreativer Ökonomien : Die Schaffung » künstleri­ scher Qualität, kultureller Vielfalt und kreativer Erneuerung « und zugleich die Repräsentation » wirtschaftlicher Dynamik einer auf Wissen und Inno­ vation basierenden Ökonomie « . Journalismus und Medien sind jedoch nicht irgendein kulturelles Produkt, oder irgendeine kreativ-innovative Industrie. Sie gelten, ganz unabhän­ gig davon, wo man sie demokratietheoretisch verortet, als Kernbestand­ teil und Voraussetzung modernder Demokratien. An diesem normativen Postulat ändern auch veränderte technologische Rahmenbedingungen nichts. Eine freie und durch Vielfalt geprägte Presse- und Medienlandschaft 1 Vor allem der Leipziger Nationalökonom, Presseforscher und Publizist Karl Bücher hat das kapita­listische Movens der periodischen Presse in zahlreichen Aufsätzen betont; so in der pointierten Formel, dass » öffentliche Interessen « in der Zeitung nur gepflegt werden, » soweit es den Erwerbs­interessen des Verlegers nicht hinderlich ist « (Bücher 1921).

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schafft Informations-, Erklärungs- und Reflexionsinstanzen, welche ge­ rade in Zeiten der Veränderung von Lebens- und Arbeitswelten wichtige Orientierung bieten können. So sind die journalistischen Medien gerade in der technologischen Umformung der gesellschaftlichen Informationsund Kommunikationsstrukturen, die ja auch den gesamten kreativwirt­ schaftlichen Sektor dynamisiert, weiterhin zentrale soziale und kulturelle Intermediärinstitutionen.

Journalismus im Wandel Im ausklingenden 20. Jahrhundert überboten sich Politik und Publizistik mit optimistischen Vorhersagen zum Wissens- und Informationszeitalter. Wie einst Telegrafie, Radio und Fernsehen weckten die neuen digitalen Informa­ tions- und Kommunikationstechnologien euphorische Erwartungen. Der Glaube an Fukuyamas » Ende der Geschichte « und eine vermeintlich univer­ sale Entwicklung in Richtung liberaler Demokratie tat ihr übriges. Als die New-Economy-Blase platzte (die auch eine Journalismus-Blase war), wichen Utopien und Fortschrittsglaube vielerorts Verunsicherung und der Erkennt­ nis, dass neue Medien nicht einem Automatismus gleich zu immer mehr Wachstum führen müssen und die Zeiten, in denen sich bedrucktes Papier problemlos in Geld verwandeln ließ, ein für alle Mal vorbei sind. Über mehr als ein Jahrhundert erfolgte die Refinanzierung publizistischer Leistungen, insbesondere für Printmedien, über den Verkaufspreis und, maßgeblich, das Anzeigengeschäft. Die Blütezeit erlebte dieses System nach 1945, als der Journalismus ein Deutungsmonopol hatte und es über Jahrzehnte keine Konkurrenz für aktuelle Informationen gab. Das Internet, das sich immer mehr zum zentralen Lebensbestandteil und 2 Nachrichtenlieferanten für die große Mehrheit der Bevölkerung entwickelt, hat dieses Geschäftsmodell erschüttert. Gleichzeitig haben klassische journalistische Organisationen in der Ökonomie der Netzkommuni­kation ihre exklusive Stellung als Mittler von Information und gesellschaftlicher Selbstverständigung eingebüßt. Der Aufstieg digitaler Medien, die tech­ nisch-strukturell » soziale Medien « sind, also individual- und öffentlichkeits­ bezogene Kommunikation in Form dessen zusammenführen, was Manuel

2 Mittlerweile sind über drei Viertel der Deutschen (75,9 Prozent) online. Mit 53,4 Millionen Internetnutzern hat sich die Zahl der Internetnutzer in den letzten 12 Jahren laut ARD/ ZDF-Onlinestudie 2012 nahezu verdreifacht (vgl. van Eimeren und Frees 2012).

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Castells » mass self communication « (Castells 2007 : 246) nennt, befördert einen elementaren Wandel, der Verbreitungsformen und Rezeptionsge­ wohnheiten verändert, tradierte Arbeits- und Denkweisen heraus­fordert und klassische Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsmuster in Frage stellt, mit gravierenden Folgen. So konkurrieren journalistische Medien im Netz nicht nur mit anderen, vorher distinkt operierenden Medien­organisationen, sondern auch mit unzähligen neuen Anbietern um die Aufmerksamkeit der Rezipienten. Vormals passive Konsumenten beteiligen sich durch Blogs und soziale Medien an öffentlicher Kommunikation. Entsprechend verschieben sich die Erlösanteile der Mediengruppen. Mit dem jahrzehntealten Monopol der Medien auf die Produktion und Verbreitung von Nachrichten erodiert auch ihre Stellung – und die aller an­ deren Anbieter von Dienstleistungen und Inhalten, deren Marktstellung auf dem technisch begrenzten Zugang zu Öffentlichkeit und Individuen be­ ruhte – als Vermittler zwischen Werbekunden und Werbenden. So konnten die Verlage 2000 netto mehr als 6,5 Milliarden Euro aus Werbung bei Tages­ zeitungen erlösen. 2011 waren es gerade noch etwas mehr als 3,5 Milliar­ den Euro. Gleichzeitig ging die kumulierte tägliche Auflage der deutschen Tageszeitungen zwischen 2000 und 2011 um über 7 Millionen auf knapp 21,4 Millionen Exemplare zurück. Zwar erreichen einige Zeitungen, ihre On­ line-Ausgaben eingerechnet, mehr Leser als je zuvor. Doch geht die Zahl derjenigen, die für Journalismus in gedruckter Form bereit sind zu zahlen, tendenziell zurück. Und die Verluste bei den Vertriebserlösen und im An­ zeigengeschäft konnten bisher nicht durch zusätzliche Einnahmen im Netz ausgeglichen werden. Mit der Financial Times Deutschland verschwand im Winter 2012 eine überregionale Zeitung vom Markt, die Frankfurter Rundschau, ehemals ein Aushängeschild links-liberalen Journalismus in Deutsch­ land, strauchelt. Selbst die Süddeutsche Zeitung, Leitmedium mit Auflagen­ rekorden und für ihre Inhalte hochgelobt, ächzt unter der Schuldenlast ihrer Eigentümer, der Südwestdeutschen Medienholding. Die in Deutschland für die publizistische Versorgung traditionell besonders wichtigen Regional­ zeitungen, in ihren Verbreitungsgebieten häufig Monopolisten, sehen sich seit Jahren massiven Sparvorgaben ihrer Verleger ausgesetzt. Der Trend, Redaktionen zusammenzulegen, auszulagern oder – wie im Fall der Redak­ tion der zur WAZ Mediengruppe gehörenden Westfälischen Rundschau, deren Schließung im Januar 2013 verkündet wurde – zu schließen, ist un­ gebrochen. Für kostenintensive Segmente wie Auslandsjournalismus oder

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aufwändige Recherchen, aber auch für Ausstattung, Ausbildung und Inno­ 3 vation werden die Mittel knapper.  Zwar würden nur wenige in Abrede stellen, dass unabhängiger, professio­ nell betriebener Journalismus heute notwendiger denn je ist – und dass die Leistungsanforderungen an seine Protagonisten nie höher waren. Vor allem aber : Die gegenwärtige Krise öffentlicher Kommunikation ist keine Krise mangelnder Information, sondern eine Krise von technologisch induzier­ tem, kommunikativem Surplus. Immer mehr Informationen müssen gesich­ tet, analysiert und aufbereitet werden, Komplexität und Geschwindig­keit nehmen zu, die Gefahr von Fehlinformation und der Einfluss von PR werden größer. Professioneller Journalismus in Redaktionszusammenhängen bleibt notwendig, doch muss er sich nicht nur unter den veränderten Rahmenund Konkurrenzbedingungen bewähren, er muss sich auch verändern und weiterentwickeln. So entwickelte sich die These von der Krise des Journalismus zu einem Leitmotiv in den Debatten von Praktikern, Kommunikationswissenschaft­ lern und Medienpolitikern. Mit einer Mischung aus Empörung, Trotz und morbider Faszination wird seitdem über Qualitätsverfall, zu Echokam­ mern zersplitternde Öffentlichkeiten und das Ende der sozial-integrativen Funktion der Medien diskutiert. Ihren medienpolitischen Ausdruck fand diese Kombination aus Kulturpessimismus und Strukturkonservatismus in der » Nationalen Initiative Printmedien : Zeitungen und Zeitschriften in der Demokratie « des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me­ dien (2008), die Journalismus wie selbstverständlich mit der Distributions­ form Print gleichsetzte. Auch Jürgen Habermas hob 2007 in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung die zentrale Funktion der » Qualitätspresse « hervor. Er argumen­ tierte, dass » ohne die Impulse einer meinungsbildenden Presse, die zu­ verlässig informiert und sorgfältig kommentiert «, die Öffentlichkeit die nötigen » stimulierenden und zugleich orientierenden « Kräfte zur demo­ kratischen Meinungs- und Willensbildung nicht mehr aufbringen könne. Dieses im Kern antimoderne Krisenparadigma steht in einem grundle­ genden Missverhältnis zur Tragweite der technologischen Revolution, die 3 Radio- und Fernsehanbieter schienen von diesen Entwicklungen lange weniger getroffen. Doch konkurrieren auch sie mit zahllosen Anbietern um Aufmerksamkeit und Erlöse, während neue, durch höhere Übertragungsgeschwindigkeiten erst möglich gewordene Angebote das traditionell lineare Verständnis von Rundfunkprogrammen grundsätzlich in Frage stellen.

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unsere Gesellschaft erfasst hat, zu den sich daraus ergebenden Chancen und zu der Notwendigkeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, worum es eigentlich geht, um aus dieser Analyse heraus Erkenntnisse hinsichtlich publizistisch wie finanziell zukunftsfähiger Modelle abzuleiten. Geht es um das bedruckte Papier als Datenträger ? Um die Kulturform des Journalismus in seiner modernen Prägung ? Oder nicht doch um die Frage, wie ein kriti­ scher, unabhängiger und bestimmten professionellen wie ethischen Stan­ dards verpflichteter Journalismus seinen Funktionen für die Demokratie auch in Zukunft, unter sich verändernden technischen und gesellschaftli­ chen Rahmenbedingungen, gerecht werden kann? Und wie lässt sich dies in einem wirtschaftlich funktionierenden Modell denken ? Angesichts derart grundlegender Fragen scheinen romantisch-elitäre Auf­ fassungen von Qualitätsjournalismus à la Habermas den Blick auf auch demokratietheoretisch relevante Potentiale neuer, kollaborativer Journalis­ musformen zunächst nur zu versperren. Trotzdem lohnt auch Blick in die Vergangenheit, tauchten doch im 18. Jahrhundert all die Themen auf, die heute noch oder heute wieder Relevanz haben : Informationszugang und -freiheit, Transparenz, aber auch gesellschaftlicher Informations- und Bil­ dungsauftrag, Urheberrechte und wirtschaftliche / soziale Sicherung. Ähnlich wie am Beginn des 21. Jahrhunderts durch das Internet auch im Bereich der Medien neue Publikationsmodelle und Wertschöpfungswege, aber auch zivilgesellschaftliche Formen der Informationsbereitstellung entstehen, stellte sich die Situation schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­ hunderts dar, nur dass es hier tatsächlich die Presse war, die sich bis zu ihrer heute noch gültigen Form ausprägte. Zunächst war es die Nachricht, die einen Wert erhielt, in dem sie regional zumeist merkantile Informationen vermittelte. In der Zeit der Kriege und Re­ volutionen wurde dann zunehmend die Politik als Thema bestimmend. Und daneben verfolgten die Herausgeber der vielen in dieser Zeit entstehenden Journale und Magazine ihr je eigenes Informations- und nicht selten auch Bildungsprogramm. Gelehrte Schriftsteller und schriftstellernde Gelehrte gründeten Zeitungen und Zeitschriften und schufen dabei zugleich auch noch einen Markt für Beiträge als Aufsätze, Essays und Rezensionen. Neben den überall verfügbaren Druckkapazitäten und der Reichspost als Kerninfra­ struktur eines funktionierenden Vertriebsweges waren es dabei die sozia­ len Netzwerke dieser herausgebenden Vertreter der » Gelehrtenrepublik «, welche die stete Versorgung mit Inhalten für die Journale sicherten und zugleich mit diesen Journalen eine zusätzliche Einkommensquelle schufen.

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Damit schien auch erstmals konkret die Möglichkeit auf, unabhängig von Hof- und Lehrämtern als Autor ein wirtschaftliches Auskommen zu finden. Zugleich wurde auch gewagt, die sich gerade erst entwickelnden Mecha­ nismen eines neuen Buch- und Pressemarktes in Frage zu stellen. Der Ver­ leger wurde als Kapitalist geschmäht und die Subskription, im Grunde eine Form des crowdfunding, zur Basis diverser Modelle des Selbstverlages ge­ macht. Neue Geschäftsmodelle wurden ausprobiert : Von der privaten Einzel­initiative über die von Johann Joachim Bode für befreundete Schrift­ steller in Hamburg als fablab eingerichtete Druckerei (Wittmann 1999 :  162) bis hin zur genossenschaftlich organisierten Verlagsbuchhandlung in Des­ sau (Buchhandlung der Gelehrten) samt Mikrofinanzierung für den Selbst­ verlag in Form der » Verlagscasse für Gelehrte und Künstler « . Das Interesse des Publikums wuchs mit dem Angebot, dabei längst un­ geachtet des Standes. Und das Angebot erreichte auch alle Schichten einer noch ständisch gefassten Gesellschaft : Vom volksaufklärerischen Land­ boten, etwa den vom Pädagogen Salzmann in Schnepfenthal bei Gotha gegründeten » Boten für Thüringen «, bis hin zur Avantgardezeitschrift der Kant-Fraktion, der Allgemeinen Literaturzeitung (ALZ) aus Jena, um nur zwei Beispiele aus dem heutigen Thüringen zu nennen. Gerade die ALZ zeigt auch die vielfachen Wirkungen wirtschaftlich erfolgreicher Qualitäts­ zeitungen. Denn die ALZ trug nicht nur entscheidend dazu bei, das kleine thüringische Jena um 1800 zum wichtigsten europäischen Zentrum des Geistes zu machen (Mildenberg 2001 : 200), sondern ihr kam auch als Wirt­ schafts- und Standortfaktor für das kleine Land Sachsen-Weimar eine so wichtige Rolle zu, dass Goethe als Minister selbst für ihre Neugründung 4 sorgte, als die ursprüngliche Zeitung 1804 nach Halle abwanderte.  Erfolg­ reich war das neue Medium Presse im ausgehenden 18. Jahrhundert also,

4 Der Mitbegründer der Allgemeinen Literaturzeitung, Friedrich Justin Bertuch, schuf dann auch ein wirtschaftlich hoch profitables Unternehmen (Landes Industrie Comptoir), das mit Presserzeugnissen wie dem Journal des Luxus und der Moden und dem Bilderbuch für Kinder zum wichtigsten Arbeitgeber in Sachsen-Weimar aufstieg und der auch dem von Christoph Martin Wieland gegründeten » Teutschen Merkur «, einem weiteren intellektuellen und wirtschaftlichen Experiment der Zeit, einen sicheren Hafen gab. Bertuch befreite dann auch den Dichter Wieland aus dem Unternehmertum, das dieser zunächst als Freude und Chance empfunden hatte, das ihm letztlich aber zur Last geriet. Dieser Wechsel vom gelehrten Herausgeber zum Verleger war symptomatisch, das Modell der Selbstherausgeberschaft ökonomisch dauerhaft aber nicht lebensfähig. Lang ist darum die Liste der Projekte aus der Zeit, die kaum über drei, vier Jahrgänge hinaus kamen, während vor allem staatliche Intervention (wie im Falle der ALZ) oder die Einbindung in eine professionelle verlegerische Struktur (wie bei der Allgemeinen Zeitung) das Überleben sicherten.

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weil es Themen gab, weil es ein Informationsinteresse gab, weil es Ver­ triebswege und eine Herstellungsinfrastruktur gab und weil es die in die Rolle des Unternehmers eintretenden Intellektuellen gab, die mit ihrem Tätigwerden auch ein Qualitätsversprechen einlösen konnten (und die ihre Projekte dabei nicht selten aus der Sicherheit einer höfischen Alimentie­ rung, also einer gewissen Form staatlicher Unterstützung, starteten).

Ein dritter Weg ? Perspektiven alternativer Modelle zur Finanzierung und Produktion von Journalismus Heute, im Kontext der im digitalen Zeitalter entstandenen Ausweitung von Möglichkeiten journalistischer Betätigung, wird wieder über Formen der Produktion, Verbreitung und Finanzierung journalistischer Inhalte jenseits marktwirtschaftlicher Wettbewerbsmodelle und des öffentlich-rechtlichen Systems diskutiert. Gerade im von der aktuellen Medienkrise besonders ge­ troffenen Land der ungezügelten Märkte, den USA, sind in den vergangenen Jahren diverse Initiativen entstanden, die sich dem drohenden Verlust an Meinungsvielfalt und publizistischer Qualität entgegenstemmen. Vor allem die seit ihrer Gründung 2007 mehrfach mit dem Pulitzer-Preis ausgezeich­ nete Recherche-Plattform » Pro Publica « (» Journalism in the public Interest «) ist weltweit zu einem vielbeachteten Vorbild geworden (vgl. z. B. Péres-Pena 2007). Eine Redaktion mit aktuell 34 festangestellten Journalisten hat allein im letzten Jahr 110 Geschichten zu Themen aus Politik und Wirtschaft recher­ chiert und dabei diverse Enthüllungen verbuchen können. » Pro Publica « ist wie » spot.us « ein wenn auch millionenschweres Beispiel, wie sich philanthro­ pisch geförderter Journalismus Themen annimmt, denen von den kommer­ ziellen Medien oft aufgrund des hohen Rechercheaufwands – oder in den USA auch wegen der zu erwartender Prozesskosten – nicht die wünschens­ werte Beachtung zuteil wird. Der virtuelle Marktplatz » spot.us « arbeitet da­ bei nach dem Prinzip des » Crowdfunding «, während » Pro Publica « sich pri­ mär aus Stiftungsgeldern finanziert. Mit einer Reihe von interaktiven News Applications und Visualisierungen, die komplexe Sachverhalte und unüber­ schaubare Datensätze für den Leser nachvollziehbar machen, hat » Pro Pub­ lica « auch Standards hinsichtlich neuer journalistischer Darstellungsformen gesetzt. Insbesondere die amerikanische John S. and James L. Knight-Foun­ dation, die seit 1950 fast eine halbe Milliarde US-Dollar für die Förderung von Qualitätsjournalismus und Meinungsfreiheit ausgeschüttet hat, leistet Ent­ wicklungshilfe für neue journalistische Formate und Geschäftsmodelle.

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Auch in Deutschland – den milliardenschweren öffentlich-rechtlichen Rund­ funkanstalten zum Trotz – ist zumindest in Expertenkreisen eine breite De­ batte über den Bedarf nach nicht-kommerziellem, philanthropisch finan­ ziertem Journalismus in Gang gekommen. Zwar kümmert sich heute der zivilgesellschaftliche Sektor, Stiftungen insbesondere, zumindest um die Ausbildung von Journalisten, die Vergabe von Journalistenpreisen, die Orga­ nisation von Konferenzen, Austausch- und Leadership-Programmen und zu­ nehmend auch gerne um medienpädagogische Projekte. Auch hat sich mit lokalen nichtkommerziellen Radiosendern als Stiefkinder einer in bürger­ schaftlicher Romantik erstarrten Kultur der sog. Offenen Kanäle, Urahnen der Blogs und bis heute mit Rundfunkgebühren hoch subventioniert, eine Form zwischen Markt und Rundfunk von allen (weniger für alle) entwickelt. Doch erst die nun im Internet aufkeimenden Projekte wie » Regensburg Digi­tal «, » Jenapolis « in Jena oder die » Kontext : Wochenzeitung « versu­ chen, ein wirtschaftlich tragfähiges Geschäftsmodell abseits der Marktre­ geln durch einen direkten Kontakt mit dem Nutzer zu finden, wobei die Basis vor allem die Zuwendung durch die Nutzer anstelle des Abonnements sein soll. Solche lokalen Nachrichtenportale können eine Lücke besetzen, welche Zeitungsverlage zunehmend in Kauf nehmen, indem Lokalredak­ tionen reduziert und Newsdesks eingeführt werden. Solche Online-Portale, das zeigen die genannten Beispiele, können dabei mehr sein als ein Kaleido­ skop von Nachrichtenschnipseln und Pressemitteilungen, die auf vielen Sei­ ten im Netz automatisch aggregiert werden. Ob die im eigenen Selbstverständnis nichtkommerzielle Ausrichtung da­ bei Grundüberzeugung oder Pragmatismus ist, wird sich noch zeigen. Aller­ dings dürfte es eine Motivation für die Macher der Portale sein, dass der Rückgang der Abonnentenzahlen bei den Regionalzeitungen eher nicht mit gesunkenem Interesse an der lokalen Nachricht korrespondiert. So ließe es sich durchaus als Aufgabe auch für die Kreativwirtschafts­ politik beschreiben, den stetig sinkenden Umsätzen im Pressemarkt als einer der » Problemmärkte « der Branche mit einem Anreizsystem für neue Formate entgegen zu treten. Vielleicht tritt der Boom ja doch noch in an­ deren Medienkanälen ein. Für das Radio gibt es hier schon erste positive Zeichen. Denn im Bereich des Rundfunks haben sich längst die ersten auch wirtschaftlich erfolgreichen Internetradiosendern etabliert, die, wie zum Beispiel detector.fm aus Leipzig, in ihrem journalistischen Anspruch sogar manch öffentlich-rechtlichen Sender übertreffen. Der Erfolg müsste durch­ aus die Frage provozieren, ob die Millionen für die Offenen Kanäle nicht

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längst in solche professionellen Internetprojekte investiert werden müss­ ten oder gar in die Entwicklung neuer Formen des Radios, welche die Mög­ lichkeiten und Regeln der neuen Verbreitungskanäle nutzen. Während auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die Medienpolitik derzeit ernsthaft über die Schaffung eines Kinderradiosenders debattieren und schon längst dazu Standortdiskussionen führen, ohne auch nur zu fra­ gen, ob der traditionelle Rundfunk (stark am Frühstückstisch, am Arbeits­ platz und beim Autofahren genutzt) überhaupt von Kindern nennenswert rezipiert wird, sollte sich die Diskussion doch vielmehr an den neuen Heraus­ forderungen orientieren, wie etwa Kinder in den Informationskanälen er­ reicht werden können, in denen sie sich mit ihren Smartphones und Laptops längst bewegen. Und dann wird auch wieder das Thema relevant, wie die » gute « Infor­ mation beschaffen ist und wie sich ihre Erzeugung sicherstellen lässt. Denn das Problem der heutigen Zeit – und die Ursache für die zur Krise stilisier­ bare Umbruchsituation – ist ja nicht ein Mangel an Information, sondern die Siche­rung des Zugangs zur Information als Auswahl- und Relevanzent­ scheidung und die Informationsaufnahme und -bewertung. Das 18. Jahr­ hundert erfand die Rezension und das Rezensionsorgan, allen voran die ALZ, um die für die damalige Zeit dramatisch wachsende Zahl an verfüg­ barer Information handhabbar zu machen. Das beginnende 21. Jahrhundert erhielt Google. Doch beide Systeme können bei der Erschließung der Infor­ mation helfen, sie schaffen aber die Information nicht. So bleiben wie ehedem die beiden Modelle einer Marktfinanzierung oder einer Zuwendung als anerkennende, vor allem aber ermöglichende Unter­ stützung, das Modell Unternehmer gegen das Modell gesellschaftlich rele­ vanter Akteur und meritorisches Gut. Beides wird es geben können und beides in vielfältigen Facetten. Die Frage ist deshalb weniger auf ein » Ob « gerichtet als auf das » Wie « . Wenn die Politik es für erforderlich hält, dass in jeder Region in Deutschland die Filmwirtschaft hochsubventioniert am Leben gehalten werden muss, selbst dort, wo sie von sich aus gar nicht le­ ben wollte, und eine Überzahl an Kinofilmen schafft, die ihre eigene Gat­ tung durch das schiere subventionierte Überangebot in den Ruin treibt; wenn sie das vor 40 Jahren gut gemeinte Experiment der Offenen Kanäle auch im Zeitalter des Internets für eine tragende Säule des Rundfunksys­ tems hält, ohne sich zugestehen zu wollen, dass diese Form des Rundfunks wohl mehr Macher als Hörer hat; wenn die in den 1970er Jahren beseitigten allgemeinen Preisbindungsregeln für das Kulturgut Buch überlebt haben;

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und wenn inzwischen sogar die Populärmusik eine Förderung nach dem Modell der Filmförderung erhalten soll, ist die Frage berechtigt, warum ge­ rade der Journalismus als wohl der Bereich der Kreativwirtschaft, der die höchste unmittelbare Bedeutung für eine freiheitlich orientierte Gesell­ schaft hat, bisher nicht als Ziel einer vergleichbaren Förderung eingestuft wird. Natürlich ist die Pressefreiheit (noch) nicht in Gefahr, solange es, wie es das Bundesverfassungsgericht festschreibt, überhaupt irgendwie unabhän­ gige Presse gibt. Und freilich können Journalisten für sich auch keine Gleich­ heit im Unrecht begehren, sollten sich die aufgezählten Förder­instrumente als zwar von der Politik geliebt, aber letztlich doch überflüssig in Bezug auf was auch immer erweisen. Neue Anreizsysteme jedoch für die Entwicklung von Inhalten, wie sie der Kinofilm und der Musiksektor allemal kennen, aber auch ein in der Vergan­ genheit stets vermisstes Anreizsystem für die Entwicklung von Geschäfts­ modellen, welches spannenden Konzepten zu einem auch ökonomisch relevanten Durchbruch verhelfen könnte, würden der aktuellen Kreativ­ wirtschaftsdebatte wertvolle Impulse geben. Dabei sind entsprechende Instrumente gar nicht schwer vorzustellen. Geht es um die Inhalte, wäre ein möglicher Weg die Schaffung einer Stif­ tung bzw. eines Fonds mit dem Ziel der Finanzierung von journalistischen Rechercheprojekten. Was für den Dokumentarfilm im System der Filmför­ derung zwar zunehmend schwieriger, aber doch immerhin vorgesehen ist, müsste doch für den engagierten, kritischen Journalismus erst recht gelten. Die Finanzierung einer solchen Förderstruktur ist alles andere als schwierig. Es genügt schon, einen kleinen Teil der Rundfunkgebühren, der den Ländern für ihre Landesmedienanstalten zur Verfügung steht, für diesen Zweck zu binden, wie es für die (Kino-) Filmförderung und die Offenen Kanäle schon heute selbstverständlich erfolgt. Die Bezeichnung als Rundfunkgebühr muss hier nicht stören, da es auch bisher nicht als verbotswürdig eingestuft wird, andere mediale Wege als den klassischen Rundfunk aus den Gebüh­ ren zu finanzieren, seien es nun Internetseiten der Sender, die TagesschauApp oder Zeitungsprojekte, die etwa der Mitteldeutsche Rundfunk einst in hohen Auflagen versuchte. Schon 0,5 Prozent der an die Landesmedien­ anstalten verfügten Rundfunkgebühren ergäben nach derzeitigem Stand ca. 35 Mio. Euro jährlich. Neben dem Kulturgut Film ließe sich mit einem vergleichsweise geringen Mitteleinsatz dadurch das Kulturgut Qualitäts­ journalismus sichern. Dabei könnte dieser Mitteleinsatz auch intersektorale

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Ausstrahlungskraft entfalten und bspw. veranlassend auf das Engagement zivilgesellschaftlicher Stiftungen wirken, die – anders als in den USA – das Problem des erodierenden Qualitätsjournalismus bislang kaum wahrneh­ men und sich stattdessen auf die Förderung von Journalisten als Form der PR für die eigenen Anliegen konzentrieren. Natürlich wird eine solche Initiative die publizistische Versorgung nicht grundlegend verändern. Diese wird vielmehr auch in Zukunft maßgeblich von öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlich organisierten Medien getragen werden. Auch hier hilft ein Blick in die eingangs skizzierte Vergan­ genheit des Medienmarktes, in dem viele alternative Strategien letztlich Versuch blieben. Auch für die Zukunft wird wohl gelten, dass der Non-ProfitSektor nicht finanzstark genug sein wird, das Marktmodell auszuhebeln, 5 noch dass Gemeinnützigkeit automatisch besseren Journalismus bedeutet.  Doch können solche Projekte ein vitalisierendes, komplementäres Element in einem sich zusehends ausdifferenzierenden medialen Ökosystem werden, indem sie erkennbare Dysfunktionalitäten und blinde Flecken der privaten und öffentlich-rechtlichen Anbieter ausleuchten und als Innovationslabor für neue journalistische Formate fungieren, im Grunde also ein klassisches 6 Feld stimulierender Förderung.  Indem sie Bürger in die journalistische Produktion einbinden, bilden ins­ besondere aus der Zivilgesellschaft entstandene lokale Projekte zudem eine Art Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und professionellem Journalis­ mus und fördern so konkrete media literacy – Kulturtechniken also, die in modernen Mediengesellschaften Voraussetzung für politisch-gesellschaft­ liche Teilhabe sind.

5 Auf gerade einmal 0,3 Prozent bezifferte die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur » Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements « den Anteil von Stiftungen an der Finanzierung des Dritten Sektors; ihr Beitrag » zur Gesamtfinanzierung des Gemeinwohls liegt im nicht mehr messbaren Bereich « . Die wahre Bedeutung sei » in ihrem qualitativen Gemeinwohlbeitrag « zu sehen. Dieser Befund lässt sich auch auf den Bereich der Medienförderung übertragen. Diese Summen sind gemessen an den Bilanzen der Medienbranche ein Tropfen auf den heißen Stein, auch lösen sie die Probleme des Journalismus – diesseits wie jenseits des Atlantiks – nicht. Doch reichen sie für die Finanzierung von Pilotprojekten absolut aus. Deutscher Bundestag 2002: 117. Vgl. zudem Bergmann und Krüger 2011. 6 Bei dem im Rahmen des Europäischen Kulturstadtjahres Ruhr gestarteten Projekt Lab.TV, einer journalistischen Plattform im Internet, ist das schon durchaus einmal gelungen oder besser könnte zumindest gelingen, wenn die Finanzierung nicht so fragil und ungesichert wäre. Aber das weist auch auf eine Herausforderung hin, die sich mit der Frage der Nachhaltigkeit verbindet und die zu mutigen Antworten führen muss, ob das Experiment auch in gewisser Weise dauerhaft unterstützt werden darf bzw. muss.

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Ausblick Die in der Branche real erlebte Krise » der Medien « ist in Wahrheit eine Krise der » Massenkommunikation « – eine technologisch-publizistische Konfiguration, die im Laufe ihrer rund 200-jährigen Geschichte als Normal­ zustand empfunden wurde, deren Wirkungspotential sich aber zusehends abschwächt. Entsprechend groß sind Phantomschmerzen und Verunsiche­ rung. Doch ihre Deutungshoheit in den technologisch kontingenten elek­ tronischen Netzwerken sichern sich die klassischen Medienhäuser nicht, indem sie publizistischen Stellungen in neuen Trutzburgen zu konservieren versuchen. Auch Politik und Gesellschaft müssen sich den massiven Um­ brüchen in der Medienbranche stellen – und gemeinsam die normativ wie praktisch entscheidende Frage beantworten : » wie viel « und welche Art Journalismus sich eine Gesellschaft wünscht und leisten möchte, in wel­ chem Maße sie einer Ökonomisierung von Nachrichten- und Medienmärk­ ten entgegentreten und Qualität und Innovation fördern will, so dass die Leistungsfähigkeit und Funktion von Journalismus – durchaus in seinem erwerbswirtschaftlich orientierten Zweck und insoweit kreativwirtschaft­ lich – auch in Zukunft gewahrt bleibt. Denn trotz seiner jahrhundertealten Geschichte ist das Konzept des professionellen, überparteilichen, unabhän­ gigen Journalismus historisch betrachtet eine relativ neue und keineswegs unangefochtene Errungenschaft. Und obwohl er als Kernvoraussetzung funktionsfähiger Öffentlichkeit erachtet wird, heißt das nicht, dass wir sei­ nen Fortbestand als gegeben betrachten können. Letztlich gibt es auch ökonomische Argumente : Bottom-up orientierte Journalismusförderung kann Experimentierfelder schaffen und damit als Generator für neuartige Geschäfts- und Finanzierungsmodelle fungieren, die konkrete Wertschöpfungseffekte nach sich ziehen. Schließlich kann auch eine regional definierte Journalismusförderung – und dies ganz im Sinne des kreativwirtschaftlichen Ansatzes – lokale Kreativitäts- und Inno­ vationspotentiale freisetzen, das allgemeine kulturwirtschaftliche Profil schärfen und damit die Standortattraktivität für externe Talente und Knowhows forcieren. Guter Journalismus braucht keine Metropole, auch das zeigen geschicht­ liche Erfahrung und aktuelle Befunde. Ein Land, eine Region, eine Stadt haben hier Handlungsoptionen und ernsthafte Chancen, mit klug ge­ wählten Anreizen die Doppelwirkung von ökonomischer Stimulanz mit all ihren, womöglich auch durch Richard Florida beschriebenen, Neben- und

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Folgewirkungen und zugleich auch eine soziale und gesellschaftliche Rele­ vanz zu erreichen. Wenn andere die Popmusik fördern, kann auch ein Land, wie zum Beispiel Thüringen, sich des Journalismus annehmen und – warum auch nicht – in dessen 200. Todesjahr ein Christoph Martin Wieland Recher­ che-Stipendium ebenso schaffen wie das Bertuch-Förderdarlehen für neue innovative Medienunternehmen. Die Geschichte der Medienwirtschaft lässt sich zu einem guten Teil jenseits der Metropolen finden, warum dann nicht auch ihre Zukunft.

Literatur Bergmann, Knut / Krüger, Susanna (2011) : » Die Einkommensquellen der Zivilgesellschaft «. In : Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 24 (1). S. 19-28. Bücher, Karl (1921) : » Zur Frage der Pressereform, Neudruck in : Ders. (1926) : Gesammelte Aufsätze zur Zeitungskunde. S. 391-429. Deutscher Bundestag (2002) : Bericht der Enquete-Kommission. Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements. Castells, Manuel (2007) : » Communication, power and counter-power in the network society «. In : International Journal of Communication 1. S. 238-266. Florida, Richard (2002) : The rise of the creative class. Frees, Beate / van Eimeren, Birgit (2012) : » 76 Prozent der Deutschen online – neue Nutzungssituationen durch mobile Endgeräte. Ergebnisse der ARD /ZDF-Onlinestudie 2012 «. In : Media Perspektiven 7-8. S. 362-379. Friebe, Holm / Lobo, Sascha (2006) : Wir nennen es Arbeit. Die Digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Glaeser, Edward L. (2005) : » Review of Richard Florida’s › The rise of the creative class ‹ «. In : Regional Science and Urban Economics, 35 (5). S. 593-596. Habermas, Jürgen (2007) : » Keine Demokratie kann sich das leisten «. In : Süddeutsche Zeitung vom 16. 05. 2007.

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Hachmeister, Lutz (2005) : » Einleitung . Die Kulturen der Medienkon­ zerne «. In : Ders./ Rager, Günther (Hrsg.) : Wer beherrscht die Medien ? Die 50 größten Medienkonzerne der Welt. Jahrbuch 2005. S. 7-30. Hachmeister, Lutz / Vesting, Thomas (2011) : » Rundfunkpolitik und Netz­ politik. Zum Strukturwandel der Medienpolitik «. In : Funkkorrespondenz 13. S. 3-11. Mildenberg, Margarete (2001) : » Die › Allgemeine Literatur-Zeitung ‹. Der heilige Anker der Alma mater Jenensis? «. In : Müller, Gerhard et al. (Hrsg.) : Die Universität Jena, Innovation und Tradition um 1800. Novy, Leonard (2011) : » Stiftung Journalismus. Strategieorientierte Medien­ politik braucht praxistaugliche Konzepte «. In : Funkkorrespondenz 41-42. S. 6-10. Novy, Leonard (2013) : » Vorwärts (n)immer ? Krise, Normalität und Normativität im Journalismus «. In : Kramp, Leif / Novy, Leonard / Ball­ wieser, Dennis / Wenzlaff, Karsten (Hrsg.) : Journalismus in der digitalen Moderne. Einsichten – Ansichten – Aussichten. Péres-Pena, Richard (2007) : » Group plans to provide investigative jour­ nalism «. In : New York Times, 15. 10. 2007. Smith, Chris (1998) : Creative Britain. Söndermann, Michael (2009) : Leitfaden zur Erstellung einer statistischen Datengrundlage für die Kulturwirtschaft und eine länderübergreifende Auswertung kulturwirtschaftlicher Daten. Stüdemann, Jörg (2007) : » Die Kreativwirtschaft ist keine Kulturwirt­ schaft – oder ? «. In : Kulturpolitische Mitteilungen 119 (7). S. 48-51. Wittmann, Reinhard (1999) : Geschichte des Buchhandels.

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Thüringer Kreativwirtschaft um 1900 Henry van de Velde und der kreative Aufbruch Steffen Höhne / André Störr

Kultur und Wirtschaft Konzepte wie Kultur- und Kreativwirtschaft, die derzeit im Fokus der Wirt­ schafts- und der Kulturpolitik gleichermaßen stehen, deuten auf ein neues Verhältnis der zumindest in Deutschland traditionell als antagonistisch konnotierten Felder von Kultur und Wirtschaft. Vereinfacht formuliert er­ hofft man sich in der Nachfolge des industriellen Strukturwandels von den Kultur- und Kreativbranchen neue, auch ökonomisch relevante Impulse. Die Erwartungen reichen von Effekten auf die allgemeine Wirtschaftssituation durch eine arbeitsplatzschaffende, saubere, umwelt- und ressourcenscho­ nende Industrie über eine ästhetische Beeinflussung der physischen und geistigen Entwicklung der Bewohner bis hin zu Vorstellungen, nach denen die schönen Künste generell als Leitfaden für emotionales und mentales Wohlbefinden fungieren können. Per Ausbildung von Geschmack lässt sich – so die Vermutung – eine höhere Präferenz für nicht-materialistische Kon­ summuster und damit mehr Lebensqualität erzeugen. Kreativität fungiert dabei als ein neuer Imperativ, der die unterschiedlichsten gesellschaft­lichen Bereiche kolonialisiert (Reckwitz 2012). Ohne hier ausführlich auf ökonomische, soziale oder ästhetische Effekte der Kultur- und Kreativwirtschaft einzugehen, lässt sich tatsächlich nicht nur ein rapider Anstieg von Kulturgütern und Kulturdienstleistungen weltweit konstatieren. Durch technologische Veränderungen erzeugte Umbrüche bieten zudem Indizien dafür, dass durch die Produktion kultureller und krea­ tiver Inhalte eine wichtige Voraussetzung für Innovation und Erfolg vorzu­ liegen scheint, die sich auch in neuen Arbeits- und Organisationsformen niederschlägt. Der Marktwert von Unternehmen wird zunehmend nach den jeweiligen Wissensressourcen, dem Innovations- und Kreativitätspotential berechnet (Hansen 2005 : 170). Dass derartige Perspektiven gerade in indus­ trialisierten Ländern wie Thüringen mit seiner dichten Struktur an Hoch­ schulen und einem insgesamt vielschichtigen › Kreativ-Angebot ‹ auf Inter­ esse der Politik stoßen, dürfte daher nicht weiter verwundern. Diesen hypostasierten Aktiva stehen allerdings auch eine Reihe Pas­ siva gegenüber, die vor allem die Arbeitssituation eines großen Teils der

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Beschäftigten in der Kultur- und Kreativwirtschaft kennzeichnen. Aus­ gehend von der höchsten Differenz zwischen der Gesamtsumme der Be­ schäftigten und den davon abhängig Beschäftigten sowie dem höchsten Anteil an Klein- und Kleinstunternehmen (Söndermann 2009 : 54, 67) im Vergleich zu allen anderen Branchen, lassen sich für den Bereich Kultur- und Kreativwirtschaft ferner eine verstärkte Flexibilisierung der Arbeitsformen, diskontinuierliche Erwerbsbiographien sowie eine räumliche (Arbeit an be­ liebigen Orten) und zeitliche (keine klare Trennung von Arbeit und Freizeit) Endgrenzung von Arbeit und Freizeit konstatieren, die in sogenannte pre­ käre Arbeitsverhältnisse münden (können). Angesichts massiver Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, unregelmäßiger Vergütung, häufig ohne Vollzeit­ beschäftigung, sondern in befristeter und freier Tätigkeit auf Dienst- und Werkvertragsbasis sehen sich die Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft einem hohen ökonomischen Wettbewerb ausgesetzt. Verstärkt durch die Risiken sich ständig verändernder Marktbedingungen bei wachsender per­ soneller Konkurrenz bieten andererseits Perspektiven selbstbestimmter autonomer Arbeit sowie der hohe soziale Status offenbar nach wie vor An­ reize für eine Tätigkeit in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Es erscheint angesichts dieser Entwicklung nur selbstverständlich, dass auch der Freistaat Thüringen sich des Themas Kreativwirtschaft annimmt. Nachdem ein erster Bericht unter der Federführung des Kultusministeriums erstellt wurde, verlagerten sich die Aktivitäten in der seit 2009 laufenden Legislaturperiode in das Wirtschaftsressort. Das erste sichtbare Resultat dieser Verlagerung war mit der Potenzialanalyse für die Kreativwirtschaft in Thüringen ein neues Gutachten zur Kreativwirtschaft, das, anders als der 1. Kulturwirtschaftsbericht, tatsächlich die erwerbswirtschaftlichen Be­ tätigungen zum Gegenstand nahm und damit zur bundesweiten Debatte aufschloss. Die im Gutachten als Ergebnis der Untersuchung aufgeführten Handlungsempfehlungen haben eine hohe Übereinstimmung mit den Er­ gebnissen vergleichbarer Studien in anderen Bundesländern. Die Problem­ lagen und Herausforderungen sind offenbar ähnlich, das Thema gleicher­ maßen neu. Die Autoren der Potenzialanalyse betonen dann auch gerade diese Neuheit und empfehlen eine Seed-Phase als quasi Vorphase für die wirtschaftspolitische Strategie. In dieser vorgeschalteten Phase sollen erst die Potenziale identifiziert werden, an welche die Wirtschaftspolitik so­ dann anknüpfen soll. Eine solche Empfehlung ist aus zweierlei Gründen überraschend : Zum einen verlagert sie die Aufgabe, die an die Gutachter gestellt wurden, zurück in die Wirtschaftspolitik. Zum anderen liegt ihr die

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Annahme zugrunde, dass die Kreativwirtschaft eine Entdeckung sei, deren genauer Wert sich erst noch zeigen muss. Die Autoren der Studie bewegen sich damit in den Traditionen der jungen politischen Debatte zur Kreativwirtschaft. Mit der Kernthese, die Kreativ­ wirtschaft sei ein wichtiges Zukunftsfeld, wird die Debatte über Chancen und Perspektiven erstaunlich ahistorisch geführt, so als sei die Kreativwirt­ schaft, und nicht nur der Begriff der Kreativwirtschaft, tatsächlich eine Er­ findung der frühen 1990er Jahre. Durch diese Beschränkung wird indes viel an möglichen Erkenntnissen verschenkt. Deshalb soll an dieser Stelle eine kurze kulturhistorische Ver­ ortung vorgenommen werden. Eine solche kulturgeschichtliche Verortung kann durchaus neue Erkenntnisse für Legitimations- und Handlungsemp­ fehlungen in der Gegenwart erbringen. Allerdings kann das an dieser Stelle nur beispielhaft erfolgen, wobei anerkannt werden sollte, dass die Tradi­ tionslinien der Kreativwirtschaft in ihrer aktuellen Gestalt der Wirtschafts­ geschichte insgesamt folgen.

Vom kreativen Aufbruch in Thüringen Der Kulturraum Thüringen bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für einen solchen historischen Blick. Das Bauhaus ist dabei einer der zentralen Mark­ steine in der Entwicklung. Interessant sind aber nicht nur dieses konkrete kreative Milieu, sondern auch seine Vorläufer. Denn nicht erst Walter Gropius schuf einen gänzlich neuen Ansatz. Schon mit dem Amtsantritt von Henry van de Velde (1863-1957) in Weimar im Jahr 1902 war ein explizit kultur­ökonomisches Konzept verbunden. Weimar avancierte in dieser Zeit um 1900 wieder zu einem kulturellen Zentrum. Mit dem Wechsel in der Regentschaft, die lange Regierungszeit des Großherzogs Carl Alexander endete mit dessen Tod 1901, gab es wie häufig bei Regierungswechseln auch eine zumindest am Beginn behaup­ tete grundlegende Neuausrichtung der Politik. Dabei setzte auch der neue Großherzog, Wilhelm Ernst, nicht zuletzt auf die Kunst als das identitätsstif­ tende Element in dem kleinen Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Nach der Phase der Archivierung und Musealisierung des kulturellen Erbes (Goethe und Schiller Archiv) sollte nun wieder ein Aufbruch stattfinden. Da­ für zur Verfügung zu stehen schien vor allem – wie zur selben Zeit in Darm­ stadt – die bildende Kunst, nachdem, wie die Berliner Zeitung später (1910) feststellte, von der Poesie und der Musik in Weimar nur mehr die Denkmale

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sprächen (Wahl 2006 : 5 + Fn. 3). Für diesen dritten kulturellen Aufbruch steht im besonderen Harry Graf Kessler (1868-1937), ein schillernder Kultur­ politiker und Kulturmanager, der in dem kurzen Zeitraum zwischen 1902 und 1906 mit dem Ziel an der Ilm wirkte, Weimar nach den Epochen der Klassik und dem eine Generation später unternommenen Versuch eines silbernen Zeitalters mit Franz Liszt im Zentrum erneut zu einem führenden kulturellen und intellektuellen Zentrum zu machen : das Neue Weimar. Kessler ging es um Standortaufwertung per Re-Branding, ließe sich im heutigen Jargon des Marketings formulieren. Die Ausstrahlung der klassi­ schen Stätten, die regelmäßigen Aufenthalte des Freundeskreises um Hugo von Hofmannsthal im Hause Cranachstraße 15, die mit Cosima Wagner in Bayreuth rivalisierende Elisabeth Förster-Nietzsche sowie der Herzog Wilhelm Ernst (1876-1923) bildeten das personelle Tableaux von Kesslers kulturpolitischen Ambitionen : » Ich [ergriff] mit Freuden die Gelegenheit, die sich mir unverhofft im Jahre 1903 bot, in Weimar mitzuhelfen an dem Aufbau einer deutschen Kulturstätte, die im Gegensatz zu den kaiser­lichen Bestrebungen dem vielen Guten, was Deutschland in Kunst und Dichtung damals hervorbrachte, einen Mittelpunkt und eine Heimstätte bieten und von hier aus auch die Brücke schlagen sollte zu den gleichlaufenden Bewegungen in England, Amerika, Frankreich usw., um so die Isolierung, in die Deutschland durch die kaiserliche Politik hineingeraten war, zu durchbrechen und dem neuen deutschen Geiste neue Einbruchspforten in die Außenwelt zu eröffnen. « (Kessler 1988 :  328 f.) Doch während die allmählich rivalisierenden kulturellen Zirkel und Kreise das Neue Weimar als Epoche entwarfen und Brücken bis nach Amerika er­ dachten, war der Blick der Politik nüchterner. Dem Großherzog ging es nicht zuletzt oder sogar vor allem um die Belebung des Handwerks als zentrale wirtschaftliche Basis in einem industriell strukturschwachen Land. Bei allem Reden über die Kunst schwangen deshalb immer auch das Kunsthandwerk und das mit der Industrie verknüpfte Kunstgewerbe mit. Hierfür wurde nun ein Wirtschaftsberater gesucht und als solchen setzte Kessler den belgi­ schen Maler, Gestalter und Architekten Henry van de Velde durch. Die Verbindung von Kunst und Handwerk oder auch Industrie waren dabei keine neue Bestrebung des jungen 20. Jahrhunderts. Bis weit in das 19. Jahrhundert reichen die Bemühungen zurück, künstlerische Betätigung und handwerkliche und industrielle Produktion zusammenzubringen. Die sich im 19. Jahrhundert durchsetzende industrielle Massenproduktion ließ nicht nur soziale Fragen neu aufkommen. Sie benötigte auch eine gänzlich

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neue Produktionsstufe : den Formenbau. Die weitere Diskussion über Wert oder Nichtwert der Industrieproduktion wurde dann zum einen an der ma­ teriellen Qualität der produzierten Güter, aber eben auch an deren ästhe­ tischer Qualität entlang geführt. Dies war der Ausgangspunkt für den Ruf von mehr Kunst in der Industrie. Künstler sollten die Aufgabe des Formen­ baus (Prototypen) übernehmen und damit wieder den Weg zurück finden zum Handwerklichen. Angewandte Kunst und Kunstgewerbe waren die be­ grifflichen Bemühungen, diese Verbindung auch in der Sprache auszudrü­ cken. Die noch heute gültigen Begriffe Design und Mittelstand haben ihren Ursprung in dieser Zeit. Der gesellschaftliche Auftrag der Kunst sollte sich nicht in einem artifiziellen Einzelstück als sich selbst genügendes Kulturgut ausdrücken, sondern in einem Stil als Grundlage eines ästhetischen-erzie­ herischen Programms. Ziel war dann auch nicht mehr das Museum, son­ dern der Ausstellungsraum, künstlerische Tätigkeit nicht entrückt im priva­ ten Atelier vorzustellen, sondern im Zentrum der Produktion wirkend und auf das gesellschaftliche Ganze abzielend. Diese Forderung nach einem künstlerischen Einfluss blieb nicht auf die industrielle Produktion begrenzt. Auch die im ausgehenden 19. Jahrhundert entstandenen und explizit gegen die industrielle Produktion gerichtete Bewe­ gungen, die Massenproduktion zugunsten des Handwerks ablehnten, über­ nahmen auch für das Handwerk die ästhetischen Ansprüche, die gegenüber der Industrie formuliert wurden. So findet sich am Ende des 19. Jahrhunderts das Kunstgewerbe im Verbund mit einer den Fortschritt versprechenden Industrieproduktion neben dem Kunsthandwerk als Begleiter einer roman­ tisierenden Manufakturbewegung, von do-it-yourself-Initiativen und einer die Individualisierung versprechenden Kleinserienbewegung. Die Leitidee, wirtschaftliche Betätigung in Industrie und Handwerk durch die Einbeziehung von Künstlern zu stärken, wurde recht schnell auch von der Politik aufgegriffen. Es entstanden vielerorts Kunstgewerbeschulen und » Kunstgewerbliche Museen « genannte Musterausstellungen, die der Bil­ dung von Handwerkern aber auch der Geschmacksbildung des Publikums dienen sollten. Im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach wurde früh über politische Initiativen diskutiert. Später gab Harry Graf Kessler diesen Initiativen eine interessante Begründung, indem er festhielt : » Kunsthandwerk fördern für Mittelstaat lohnender als grosse Kunst, weil ein hervorragender Maler oder Bildhauer, den die Kunstschule hier hervorbrächte, wahrscheinlich nicht im Lande bleibe sondern nach Berlin oder München gehe, wo er mehr Aussicht

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auf Aufträge hat, während tüchtige Kunsthandwerker im Lande bleiben. Ferner sofortiger Vorteil für die Industrien des Landes, wenn ihnen unentgeltlich a) gute, originale Modell geschaffen, b) tüchtige Kunsthandwerker, Dessinateure etc. ausgebildet werden (Kessler 2004 : 440, 26. 10. 1901). Die Abwanderung der Kreativen war offenbar schon damals ein Problem, an des­ sen Lösung seitens der Politik ernsthaft und pragmatisch gearbeitet wurde. Bereits im Jahr 1867 wurde über ein Zentralinstitut für Kunst und Kunst­ gewerbe nachgedacht. Seine Angebote sollten vor allem in Vorträgen und Vorlesung bestehen, um » Handwerker künstlerisch auszubilden und selb­ ständige Künstler zu erziehen «. Gedacht war weiter eine jährliche Ausstel­ lung und eine reisende Bibliothek und Wanderausstellung, um flächen­ deckend auf gute Produkte und Gestaltungsformen hinzuweisen. Bei dem Plan blieb es zunächst, bis dann im Jahr 1881 eine Großherzoglich Sächsische Centralstelle für Kunstgewerbe eingerichtet wurde. Dieser Initiative voraus­ gegangen war eine Reise des Großherzogs Carl Alexander nach München mit dem Ziel, sich über die Verbindung von Kunst und Industrie zu informie­ ren (1879), die offenbar nachhaltig wirkte. Die Aufgabe der in der Folge ge­ schaffenen Centralstelle bestand dann darin, zum einen die Administration des Landes zu allen Fragen des Kunstgewerbes zu beraten. Vor allem aber sollten die Gewerbetreibenden selbst kostenlos beraten werden und diese zudem weitere praktische Hilfe erhalten, etwa durch erklärende Zeichnun­ gen. Ging es um mehr als eine erklärende Zeichnung, etwa einen Modell­ entwurf, durfte der Berater ein Honorar fordern. Das Angebot sollte auch außerhalb der Landes­hauptstadt in die Fläche getragen werden. So war be­ stimmt, dass der Berater an 25 Tagen im Jahr seine Leistungen außerhalb der Residenz anzubieten hatte, was aber schnell aufgegeben wurde, da es an Re­ sonanz für diese auswärtigen Sprechtage mangelte. Bereits nach drei Jah­ ren wurde die als Modellprojekt angelegte Einrichtung wieder aufgegeben, maßgeblich aus Geldmangel. Jedoch griff das für das Gewerberecht und die Gewerbeaufsicht zuständige Innendepartment die Idee zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder auf und beauftragte den Berliner Künstler Georg Malkowski mit der Anfertigung eines Gutachtens zur staatlichen Pflege von Kunst und Kunstgewerbe im Großherzogtum Sachsen-Weimar. In dieser Potenzialanalyse mit einer durchaus kritischen Bestandsaufnahme wurden auch konkrete Vorschläge unterbreitet, um künftig Kunst und Kunstge­ werbe zum Blühen zu bringen, etwa die Einrichtung von Schausammlungen, Fachschulen oder auch einer Vertriebsstelle für kunstgewerbliche Erzeug­ nisse Thüringens außerhalb Thüringens. Allen vorangestellt war indes die

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Forderung nach einer Bündelung der Zuständigkeiten in einer Instanz, die nach Malkowskis Vorstellung dem Kultusministerium unterstehen sollte. In Preußen lief zur gleichen Zeit eine ähnliche Debatte oder besser gesagt ein regelrechter Streit zwischen dem Kultus- und dem Handelsministerium um die politischen Zuständigkeiten für das Kunstgewerbe, der dort letztlich zu­ gunsten des Handelsministerium beendet wurde, dem dann auch die Auf­ sicht über die Kunstgewerbeschulen oblag (Maciuika 2005 :  21). Auch in Weimar ging es im Weiteren nicht ohne politische Händel. Denn während das zuständige Innendepartment die erwähnte Studie anfertigen ließ, verhandelte das Ministerialdepartment, im heutigen Verständnis die Staatskanzlei, angetrieben von Graf Kessler und mit Billigung des Groß­ herzogs längst mit Henry van de Velde über eine Berufung nach Weimar. Bereits im Dezember 1901 war man sich im Grunde einig. Am 15. Januar 1902 wurde ein umfangreicher Vertrag zwischen Henry van de Velde und dem Großherzog (nicht der Regierung) geschlossen. Das Innendepartement war brüskiert, musste sich aber beugen. Die Aufgaben van de Veldes wa­ ren ähnlich denen der früheren Centralstelle. Er sollte sich um die Pflege und Förderung der Kunst auf gewerblichem und kunstgewerblichem Gebiet kümmern und dabei einerseits der Regierung, andererseits den Gewerbe­treibenden und Industriellen mit Rat zur Seite stehen. Vergütet wurde er dafür aus der Privatkasse des Großherzogs. Für Musterzeichnun­ gen, Modelle u. ä. konnte er aber auch von den Ratsuchenden eine Vergü­ tung fordern. Van de Velde sollte sich darüber hinaus an der Veranstaltung von Fach- und Musterausstellungen beteiligen und Vorträge übernehmen. Die zunächst auf drei Jahre befristete Anstellung wurde von einem er­ heblichen – auch überregionalen – Presseecho begleitet. Darunter misch­ ten sich auch Misstöne, etwa wenn die Weimarischen Neuesten Nachrichten, wie zuvor das Berliner Tageblatt, fragte, ob man nicht hätte besser einen deutschen Künstler für diese Aufgabe wählen müssen. Hierin schwingt auch der Affront mit, dem Malkowski sich ausgesetzt sah, und ebenso wohl eine Revanche des Weimarer Innendepartments, weshalb durch das Ministerialdepartment nicht nur eine öffentliche Kampagne für van de Velde über die Jenaische Zeitung initiiert wurde, sondern auch das Innendepartment darauf verpflichtet wurde, van de Velde nach Kräften zu unterstützen, insbesondere beim Zugang zu den Gewerbetreibenden und Industriebetrieben. Zudem wurde van de Velde nach seinem Umzug nach Weimar im April 1902 der Titel eines Professors für Kunstgewerbe verliehen.

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Das Verhalten van de Veldes nach seiner Berufung wäre heute durchaus zeit­ gemäß. Er unternahm zwischen 1902 und 1908 Inspektionsreisen im gan­ zen Land und führte im heutigen Verständnis empirische Untersuchungen durch. Dabei besuchte er Fabriken ebenso wie Handwerksbetriebe : Holz­ schnitzerei und Möbeltischlerei, Schlossereien, Töpfereien und Porzellan­ fabrikationen, Textilbetriebe, die Ruhlaer Pfeifenindustrie, die Weberei im Eisenacher Oberland und die Teppichfabrikation in Neustadt an der Orla. Für jeden Gewerbezweig und sogar für einzelne Betriebe fertigte er schriftliche Gutachten mit Vorschlägen zur Verbesserung der Produktion. Dabei traf er zuweilen auch auf Befunde, die ihn für seine Arbeit optimistisch stimmten. Über die Burgauer Porzellanmanufaktur beispielsweise äußerte sich van de Velde schon 1902 positiv : » Ich […] kann nicht umhin meiner Freude […], Ausdruck zu geben, dass die Fabrik sich einzig der Herstellung solcher Gegenstände widmet, welche offenbar in ihren Formen, wie auch zum größten Teil in der Ornamentik den Charakter der meinigen tragen. Sie ist meines Wissens die erste Fabrik, deren Betrieb einzig auf die Fabrikation von Gegenständen im › modernen Stil ‹ gerichtet ist. « Seine Reiseberichte gingen über das hinaus, was heute als Kreativwirt­ schaftsbericht zusammengestellt wird. So erstellt er ein Verzeichnis » derje­ nigen Fabriken, in denen kunstgewerbliche Interessen in Frage kommen […]. « (Wahl 2007 : 97 f.). Sein Resümee war dabei positiv : » Folglich erscheint mir das Ensemble der Werkstätten und Fabriken, der Handwerker und Fabrikanten des Großherzogtums Sachsen-Weimar wie ein großes Labora­ torium, wie ein weit ausgedehntes Seminar, in welchem sich unter dem Großherzoglichen Schutz der Stil vorbereitet « (zit. n. Wahl 2007 :  17 f.). Der Stil war dann auch die treibende Kraft in seinen Bestrebungen und ein Schlüsselbegriff, mit dem eine Rückbesinnung auf eine » vernunftmä­ ßige Schönheit « (van de Velde 1910 : 7, 77) als Ausdruck eines Realismus, der auch aus dem Gebrauchszweck folgt, verbunden ist. Der angestrebte neue Stil entsagt dabei » dem Gebrauch aller Elemente, welche nicht klar und deutlich eine Funktion ausüben, die der Konstruktion des Gegenstandes un­ entbehrlich ist « (van de Velde 1907 : 7). Dichtkunst, Malerei, Bildhauerei und Architektur stehen dabei ohne Einschränkung nebeneinander und öffnen die Kunstgattungen für den praktischen Gebrauch oder besser den konkre­ ten Zweck. Der Wert der Kunst ergibt sich dann aus der Fähigkeit, neben dem eigentlichen Gebrauchswert eine sinnliche Wirkung zu erzielen und in diesem Sinne ästhetisch zu sein, ohne dem jeweiligen Ding eine Zutat zu geben, die das durch den Zweck begrenzte Notwendige überschreitet (van

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de Velde 1910 : 12). Im Grunde wiederholt sich hier in der Hochphase der Mo­ derne eine Debatte, die bereits 100 Jahre zuvor in der Hochphase der Klassik für die Vermessung von Natur, Kultur und die Rolle der Vernunft vorgenom­ men wurde und in ihrer Visionskraft ein frühes Aufleuchten der Moderne barg (Schiller 1962 :  413 ff.). Für die Praxis stellten sich indes ganz andere Fragen. Hier war van de Velde mit strukturellen Veränderungen konfrontiert, in deren Folge die Zahl der » Volkskunsthandwerker « stark zurückging, was einerseits soziale Ver­ werfungen mit sich bringen konnte, vor allem aber auch künftige Probleme bei der Sicherung von Kulturtechniken, also handwerklichen Fähigkeiten, zur Folge hatte. Dabei war es nicht einmal immer eine unmittelbare Kon­ kurrenz von Handwerk und industrieller Produktion, die zu einem Rückgang der Zahl der Handwerksbetriebe führte, sondern zum Teil einfach bessere Erwerbsaussichten in der Produktion. Das Aus für die meisten der familien­ geführten Töpferwerkstätten im kleinen thüringischen Bürgel zum Beispiel führte van de Velde nicht auf die Konkurrenz emaillierter Blechwaren zu­ rück, sondern auf die blühende industrielle Fertigung von Spazierstöcken, die in den Handwerksbetrieben zu einem erheblichen Fachkräfteproblem führten. Van de Velde schlug der Regierung vor, ein Prämiensystem einzu­ führen, mit dem die Löhne in den Handwerksbetrieben aufgestockt und so die Attraktivität der entsprechenden Arbeitsplätze gesteigert werden sollte, im Grunde eine Form des jüngst wieder in der aktuellen Politik diskutier­ ten Kombilohnmodells. Für van de Velde ging es freilich nicht darum, einen staatlich subventionierten Niedriglohnsektor zu schaffen, sondern ganz im Gegenteil den Sinn für » gute Arbeit « zu bewahren und den Betroffenen die » Erniedrigung « vom freien Handwerker zum Fabrikmenschen zu ersparen (van de Velde 1910 : 133). Die Rettung der Volkskunst war insoweit ein Bei­ trag, » das richtige, aktuelle Problem der guten Arbeit zu lösen «. (van de Velde 1910 : 133). Die Kreativwirtschaft war also in diesem Verständnis nicht der Vorreiter für neue » hybride « Formen der Arbeit, sondern für humanere. Neben den sozialen Intentionen war die Wirksamkeit van de Veldes aber erneut auch auf die Beratung gerichtet. So galt gleich nach seinem Amtsan­ tritt seine erste Handlungsempfehlung zur Hebung und Förderung des hei­ mischen Kunstgewerbes der Gründung eines Kunstgewerblichen Seminars in Weimar, das tatsächlich am 15.10.1902 seine Tätigkeit aufnahm und eine Art Auskunfts- und Beratungsbüro darstellte. Konzipiert war es als unab­ hängige Einrichtung, die gemäß Verlautbarung in der Weimarischen Zeitung als » zentrale Beratungsstelle für Handwerk und Kleinindustrie zwecks

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Erteilung von Auskünften, Ratschlägen und Korrekturen, aber auch für die direkte Unterrichtung der Zeichner und Modelleure von Handwerkern und Fabrikanten « angelegt war (zit. n. Wahl 2007 : 18) . Das kunstgewerbliche Seminar kann deshalb durchaus als ein Vorläufer der heutigen Thüringer Agentur für Kreativwirtschaft (www.thueringenkreativ.de) angesehen wer­ den. In seiner Wirksamkeit war es durch und durch praktisch orientiert und die von Henry van de Velde formulierten Vorschläge zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit in einzelnen handwerklichen Bereichen überaus kon­ kret. Den Schnitzern in der Rhön empfahl er die Umstellung der Produktion auf Holzspielzeug und Kleinmöbel. Den Frauen und Mädchen schlug van de Velde die Fabrikation von Knüpfteppichen vor. Den Porzellanfabriken in Ilmenau und Blankenhain unterbreitete er praktische Vorschläge zur Erhö­ hung der Konkurrenzfähigkeit (z. B. Produktion von einfachen geschmack­ vollen Tafelservices zu mittleren Preisen); für die Bürgeler Töpfereien ent­ warf er gar selbst mehrere Modellserien (Emmrich 2009 :  132 , Häder 2009). Auch die Frage der Fachkräftesicherung ging van de Velde an. Im Jahr 1907 wurde das Projekt einer privaten, nicht staatlichen Großherzoglichen Kunstgewerbeschule (1908-1915) konzipiert, die dann ab 1908 ihre Arbeit aufnahm, die allerdings kriegsbedingt – van de Velde wurde als Ausländer die Arbeits­ erlaubnis entzogen – bereits 1915 wieder geschlossen wurde. Dennoch lag in dieser Einrichtung der Keim für das spätere Bauhaus (Föhl 2010 b). Dabei war es anfänglich völlig unklar, ob sich neben der noch in der Goethezeit eingerichteten Zeichenschule (seit 1775 / 76), der Kunstschule (1860), der Bau­ gewerkeschule (1859) und der Gewerbeschule (1890) eine Kunstgewerbe­ schule würde behaupten können (Wahl 2011 : 34). Van der Veldes Interesse war es deshalb, mit seiner Initiative möglichst erfolgreich überregional in Erscheinung zu treten. Im Rahmen der 3. Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden 1906 organisierte van der Velde einen » Kollektiv-Raum Weimar « , einen Gemeinschaftsstand für 21 thüringische Unternehmen (Wahl 2007 : 149-152). Die Bedeutung der Dresdener Ausstellung in ihrer Zeit war enorm und lieferte unter anderem einen entscheidenden Impuls zur Gründung des Deutschen Werkbundes. Für die Kunstgewerbeschule initiierte van de Velde eine Werkstatt für Buchdruckerei, eine für Goldschmiedearbeiten und Emailbrennerei, eine für Weberei und Stickerei sowie eine Werkstatt für Teppichknüpferei. Die Kunstgewerbeschule sollte laut Satzung : » der theoretischen und prakti­ schen Ausbildung von Kunsthandwerkern dienen und das Kunstgewerbe des Großherzogstums fördern. « (Wahl 2007 : 27) Eingerichtet wurden dabei

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nicht nur Kurse zur Ausbildung, sondern auch zur fachlichen Weiterbildung bis hin zu Abendkursen. Die industrielle Produktion sollte nicht nur den Entwurf dem Künstler überlassen, sondern auch in der Fertigung auf tech­ nisch gut ausgebildete Arbeitskräfte zurückgreifen. Der Schlüssel unterneh­ merischen Erfolgs, gleich in welcher Industrie, lag für van de Velde in der Qualität der Ausbildung aller an der Produktion Beteiligten. Darin einge­ schlossen war auch die soziale Vision der Überwindung von Standes- bzw. Klassenschranken : » […] helft uns die Ansicht zu verbreiten, daß es für einen Sohn der besseren Stände ebenso ehrenwert ist, Buchbinder, Goldschmied, Keramiker oder Emailleur zu werden, wie Advokat, Bankier und Offizier « (van de Velde 1910 : 157), formulierte van de Velde eindringlich. Dabei ver­ wies er, nicht ohne Ironie, auf den Umstand, dass, gleichgültig auf welcher sozialen Stufe der Einzelne auch stehe, er bei einem Schritt zurück » einen oder den anderen Beruf weit besser ausfüllen könnte als den, welchen er bis jetzt inne­hatte « (van de Velde 1910 : 182), eine frühe Antizipation des Peter-Prinzips (Peter 1969). Das Argument, dass qualifizierte Beschäftigung zu höheren Löhnen und diese zu höheren Preisen und damit zu weniger Absatz und zu einem Nieder­ gang der Wirtschaft führen würden, ließ van de Velde als Einwurf nicht gel­ ten. Er verwies einfach auf den Markterfolg hochwertiger und hochpreisi­ ger ausländischer Erzeugnisse und prophezeite gerade für die hochpreisigen Industrieprodukte, die seiner Logik einer Kunstindustrie als einer Qualitäts­ industrie folgten, einen künftigen Erfolg am Weltmarkt, wobei er auf die A. E. G. mit ihrem künstlerischen Berater Peter Behrens, wie van de Velde Architekt, Grafiker und Designer, verwies (van de Velde 1910 :  152).

Zwischen Wirtschafts- und Kulturpolitik Van de Velde allein als Wirtschaftsförderer zu beschreiben, wird ihm indes nicht gerecht. Graf Kessler und van de Velde teilten vielmehr auch kultur­ politische Ambitionen. Auch insoweit lassen sich Linien bis in die Gegenwart ziehen, in der es neben einer ad hoc Arbeitsgruppe der Wirtschaftsministe­ rien der Bundesländer unter dem Titel Kulturwirtschaft eine Arbeitsgruppe der Kultusministerien unter dem Titel Kreativwirtschaft gibt, in einer fast ironischen Umkehrung des jeweiligen Begriffsverständnisses. Kessler und van der Velde hatten dabei ihre Ziele weit ambitionierter ge­ setzt als es sich die Politik heute leisten will. Bei allem Engagement ging es mindestens auch darum, über die rein ökonomische Zielsetzung hinaus den

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» Stil des 20. Jahrhunderts zu gestalten « (Wahl 2007 : 18), die Stadtentwick­ lung eingeschlossen. In diese kulturpolitischen Ambitionen eingebettet war wiederum ein gesellschaftlicher Diskurs. Die Frage des Stils war nicht nur eine Frage der Kunst, sondern ein Gemeingut, von dem jedermann eine Vor­ stellung habe und das die » Quintessenz alles dessen [ist], was der Geist und der Geschmack einer Epoche all ihren Produkten aufgeprägt hat « (van de Velde 1907 : 4). Insoweit ist der Stil » das Gemeingut aller Gewerbe « (van de Velde 1907 : 5), das Verbindungsglied zwischen Kunst und Industrie. Dabei waren diese beiden Begriffe mehr als nur Gegensätze : die Kunst stand für die Moral, die Industrie für die » Sucht, – Geld – so viel Geld wie nur mög­ lich zu verdienen « (van de Velde 1910 : 139), was sie dadurch zu erreichen suchte, dass sie sich um die Achsen Billigkeit und schlechte Qualität drehte. In den dazu zwischen Kunst und Industrie ausgetragenen » Feindseligkei­ ten « musste das Publikum als Partei erst noch gewonnen werden, wobei die Industrie zunächst im Vorteil war, da sie auf den Geschmack eines Pub­ likums bauen konnte, » das seit Jahren jedes Bewußtsein verloren hatte und vollkommen direktionslos geworden war. « (van de Velde 1910 : 141) Diesen Kampf gewinnen könne der Künstler nur durch die Einführung eines neuen Stils, der über den Anspruch des Publikums letztlich die Industrie zwingen sollte, auf die Forderungen der Nachfrager mit entsprechenden Produkten zu reagieren. So hält die Kunst Einzug in die klassische Marktlogik. Das Ganze gipfelt in der Forderung an die Künstler, sich nicht darauf zu beschränken, der Industrie zu guten Produkten zu verhelfen, sondern vielmehr selbst vom Künstler zum Kunstindustriellen zu werden, um das, was sie erfinden, auch selbst auszuführen (van de Velde 1910 :  151). Für Weimar waren nun van de Velde und noch mehr Graf Kessler ent­ schlossen, neben den wirtschaftspolitischen Aufgaben auch den dazu als notwendig angesehenen Kampf um die Durchsetzung des neuen Stils auf­ zunehmen. Die Grundannahme dabei war, dass Kulturpolitik in letzter Ins­ tanz immer » revolutionär « sei und, in Nietzsches Duktus, die Umwertung aller Werte zum Ziel habe (van de Velde 1910 :  169). Mindestens Harry Graf Kessler ging dann auch in dieser Konsequenz vor. Als er im Oktober 1902 zum ehrenamtlichen Vorsitzenden des Kurato­ riums des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe beru­ fen wurde, gab er seinen Einstand mit einer Ausstellung von Gemälden, Plastiken und Graphiken Max Klingers (Juni 1903). Daran schloss sich die Weima­rische Kunstgewerbe- und Industrie-Ausstellung mit ersten Ergeb­ nissen der Arbeit des Kunstgewerblichen Seminars an, ferner Ausstellungen

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zur angewandten Kunst (zu Edward Gordon Craigs Theater-Dekorationen; zur modernen Druck- und Schreibkunst). Das bewegte sich durchaus noch im Rahmen der Erwartungen. Die dann folgende Fokussierung Kesslers vor allem auf Werke der französischen Impressionisten und Neo-Impressionis­ ten brachte jedoch einen Konflikt zwischen Kulturpolitik auf der einen und kulturwirtschaftlichen Erwartungen des Herzogs und des Hofes auf der anderen Seite, denn die einst hervorgehobene utilitaristische Zielsetzung war kaum zu erkennen. Es ging zunehmend um die ästhetische Erziehung des Publikums; die › Modernisierung ‹ des Museums erwies sich als durchaus inhaltlich und ging über das hinaus, was die Hofleute gewünscht hatten (Grupp 1999 : 128). U. a. gegenüber Hugo von Hofmannsthal äußerte sich Kessler im April 1903 dagegen ziemlich unverblümt über seine eigentlichen Intentionen : » Man hofft an diesem Hof allmählich durch ausgezeichnete Menschen, die man dauernd oder vorübergehend, aber wiederkehrend hinzieht, wieder ein Kulturzentrum und eine geistige Atmosphäre, die auf vielen Gebieten unseres Lebens mögliche Blüten fördern würde [zu schaffen] « (zit. n. Grupp 1999 :  131 f.). Weimar sollte nach Kessler Ausgangspunkt für die Herausbildung des von Nietzsche verkündeten, › höheren ‹, › neuen ‹ Menschen werden, es ging ihm – und auch van de Velde – nicht bloß um eine ökonomische Reform, sondern um eine › ästhetische Reformierung des Menschen ‹ und seiner Lebensweise. Auch das ist der heutigen Debatte um die Kreativwirtschaft nicht fremd. Denn betont wird gerne deren Bedeutung nicht nur für wirtschaftliche, sondern auch für gesellschaftliche Entwicklungen. Für Kessler nahm dieses Engagement indes kein gutes Ende in Weimar. Zum Skandal wurden eine Schenkung von 14 Aquarellskizzen (Aktzeich­ nungen) Auguste Rodins und ihre Widmung an Wilhelm Ernst, die im Wei­ marer Museum für Kunst- und Kunstgewerbe auf Vermittlung Harry Graf Kesslers ausgestellt wurden. Diese Aktzeichnungen, über die sich der Maler und Kunstprofessor Hermann Behmer empörte, wurden als › anstößig ‹ und › ekelhaft ‹ diffamiert. Behmer warnte insbesondere weibliche Besucher vor der Betrachtung solcher › Obszönitäten ‹. Behmers öffentliche Empörung löste nicht nur eine nationale Presseschlacht um Rodins Kunst aus, sondern führte auch zu Auseinandersetzungen mit dem Hof, die in der Folge zur De­ missionierung Kesslers führten. Kessler, der seine Weimarer Zeitgenossen überforderte und der politi­ sche Kompetenzen überschritt, vertrat selbst eine höchst elitäre Konzep­ tion, von der aus er seine Gegner verachtete, dabei aber ihre Macht und

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ihren Einfluss unterschätzte. Sein Scheitern ist somit nicht nur Ausdruck von Zielkonflikten zwischen Kultur- und Wirtschaftspolitik, sondern kann auch als Beleg für unterschiedliche, konträre Logiken dienen, nach denen das ökonomische und das kulturelle Feld organisiert sind. Die relative Auto­ nomie des Kunstfeldes bringt demnach eigensinnige, weitgehend selbst­ lose Interessen hervor, die allein dem künstlerischen Ausdrucksstreben verpflichtet sind. Zugleich steht das Kunstfeld jedoch nicht über, wie Kess­ ler meinte, sondern in Relation zu anderen politischen und ökonomischen (Macht-) Feldern und Prinzipien. Nimmt man Pierre Bourdieus konflikttheo­ retisches Paradigma ernst, dann ist nicht der Konsens des herrschaftsfreien Diskurses ein Motor gesellschaftlicher Entwicklung, vielmehr steht der Künstler, Kulturpolitiker oder Kulturmanager als Akteur auf verschiedenen Feldern ständig in einem Kampf um verschiedene Kapitalformen und der damit verbundenen Macht, gegen die er sich in komplexen Prozessen der Aushandlung behaupten muss. Henry van de Velde zog daraus seine eigenen Erkenntnisse. Was könne die reine Kultur zur Verbesserung der Menschheit bewirken und sei der Druck, der von ihr ausgeht noch so hoch, wenn selbst » die mächtige Stimme eines Nietzsche, eines Goethe ungehört verklang ? « (van de Velde 1910 : 180) Die Aufgabe, den Menschen lehren, wie von Goethe gefordert, alle schlechte Arbeit zu hassen wie die Sünde, wollte van de Velde darum zuletzt in den Händen vorsichtiger gemäßigter Erzieher wissen, die auch immer » in Indus­ trie und Kunst die beträchtlichsten und gesichertsten materiellen Vorteile « erzeugen (van de Velde 1910 : 180). Die Berufung solch geeigneter Erzieher kannte bei van de Velde keine nationalen Grenzen. Und ohne Zweifel sah er sich selbst, wohl nicht zu unrecht, als einen solcher Erzieher. » Berufen wir die Erzieher, wo wir die geeigneten finden, wenn auch aus dem Ausland, – eine wahre Kultur kann sich nicht auf national begrenztem Boden entwi­ ckeln – ; gründen wir eine Anzahl von › Kulturherden ‹ an geeigneten Orten, auf fruchtbarer Erde « (van de Velde 1910 : 180), schrieb der Europäer Henry van de Velde im Jahr 1909 in Weimar, fünf Jahre bevor der 1. Weltkrieg ihm die Begrenztheit jedes Nationalismus in eigener Person hart erfahren ließ und mit der Ausgrenzung und 1917 dann auch tatsächlichen Ausweisung des für die Weimarer wieder zum » Ausländer « gewordenen van de Velde vorerst dafür sorgte, dass Weimar, das Thüringen, für fast ein Jahrhundert nicht zu den › fruchtbaren Erden ‹ gerechnet werden konnte, auf dem das Neue sich entwickeln kann.

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Schluss Ungeachtet aller kulturpolitischen Auseinandersetzungen und ungeachtet der Konflikte mit den großherzoglichen Behörden, beispielsweise um die Absicherung des Schulbetriebs an der Kunstgewerbeschule, lieferte van de Velde wichtige Impulse für das Kunstgewerbe bzw. -handwerk in Thüringen und konnte zumindest zeitweise somit – in heutiger Diktion – eine erfolg­ reiche Beratungs- und Lehrtätigkeit in den Dienst der sich entwickelnden Kultur- und Kreativwirtschaft stellen. Diese kultur- und wirtschaftshistori­ schen Erfahrungen belegen zugleich auch die tatsächliche Bedeutung des Dreiklangs aus Technik, Talent und Toleranz, der sich schon in den Initiati­ ven van de Veldes widerspiegelt. Insofern können sich die gegenwärtigen Initiativen für die Kreativwirt­ schaft in Thüringen in eine höchst erfolgreiche Tradition stellen und tat­ sächlich auf einige Wirksamkeit hoffen.

Literatur Emmrich, Angelika (2009) : » Von Friedrich Justin Bertuch zu Henry van de Velde. Die Idee, Kunst und Handwerk zu verbinden «. In : Klinger, Kerrin (Hrsg.) : Kunst und Handwerk in Weimar. Von der Fürstlichen Freyen Zeichenschule zum Bauhaus. S. 121-135. Föhl, Thomas (2009) : » Henry van de Velde. Vom internationalen › Star ‹ zum Lehrer und Produktdesigner in Weimar «. In : Ackermann, Ute / Bestgen, Ulrike / Klassik Stiftung Weimar (Hrsg.) : Das Bauhaus kommt aus Weimar. S. 45-55. Föhl, Thomas (2010 a) : Henry van de Velde. Architekt und Designer des Jugendstils. Föhl, Thomas (2010 b) : » Die › erste Zitadelle der Moderne ‹ . Henry van de Veldes Kunstgewerbeschule in Weimar «. In : Simon-Ritz, Frank / Winkler, Klaus-Jürgen / Zimmermann, Gerd (Hrsg.) : Von der großherzoglichen Kunstschule zur Bauhaus-Universität 1860-1945 [aber wir sind ! wir wollen und wir schaffen !]. S. 99-121.

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Fritz, Bernd (2010) : » Im › modernen Stil ‹ . Die Porzellan-Manufaktur Bur­ gau a. d. Saale, Ferdinand Selle und Henry van de Velde «. In : Weimar-Jena, die große Stadt Bd. 3. Das kulturhistorische Archiv. S. 247-253. Grupp, Peter (1999) : Harry Graf Kessler. Eine Biographie. Häder, Udo (2009) : » Henry van de Veldes Berichte über die Töpferei in Bürgel, Teil 1 «. In : Verein für Thüringische Geschichte, Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte, 19. S. 19-25. Hansen, Kent (2005) : » Produktionen von Positionisten. Das Spektrum korrelativer Kunstpraxis im Organisationskontext «. In : Brellochs, Mari /  Schrat, Henrik (Hrsg.) : Raffinierter Überleben. Strategien in Kunst und Wirtschaft. Sophisticated survival techniques. Strategies in art and economy. S. 170-181. Kessler, Harry Graf (1988) : » Curriculum vitae «. In : Ders. : Gesichter und Zeiten. Erinnerungen (= Gesammelte Schriften in drei Bänden). S. 319-334. Kessler, Harry Graf (2004) : Das Tagebuch Dritter Band 1897-1905. Maciuika, John F. (2005) : Before the bauhaus. Architecture, politics and the german state 1890-1920. Pöthe, Angelika (2010) : » Die großherzogliche Initiative. Die bildende Kunst im › Silbernen Zeitalter ‹ «. In : Simon-Ritz, Frank / Winkler, KlausJürgen / Zimmermann, Gerd (Hrsg.) : Von der großherzoglichen Kunstschule zur Bauhaus-Universität 1860-1945 [aber wir sind ! wir wollen und wir schaffen !]. S. 13-39. Post, Bernhard (2010) : » Von der fürstlichen Kunstschule zur staatlichen Hochschule «. In : Simon-Ritz, Frank / Winkler, Klaus-Jürgen / Zimmermann, Gerd (Hrsg.) : Von der großherzoglichen Kunstschule zur BauhausUniversität 1860-1945 [aber wir sind ! wir wollen und wir schaffen !]. S. 61-80. Puchta, Dieter / Schneider, Friedrich / Haigner, Stefan / Wakolbinger, Florian / Jenewein, Stefan (2009) : Kreative Industrien. Eine Analyse von Schlüsselindustrien am Beispiel Berlins. Reckwitz, Andreas (2012) : Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung.

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Rothe, Friedrich (2008) : Harry Graf Kessler. Biographie. Schäfer, Carina (2004) : » Einleitung «. In : Dies. / Biedermann, Gabriele (Hrsg.) : Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Dritter Band 1897-1905. S. 13-48. Schiller, Friedrich (1962) : Über naive und sentimentalische Dichtkunst, Nationalausgabe Band 20. S. 413-505. Schirmer, Heidemarie (Hrsg.) (2011) : Van de Veldes Kunstgewerbeschule in Weimar. Geschichte und Instandsetzung. Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen (Hrsg.) (2008) : Kulturwirtschaft in Berlin. Entwicklungen und Potentiale. Söndermann, Michael / Backes, Christoph / Arndt, Olaf / Brünink, Daniel (2009) : Endbericht Kultur- und Kreativwirtschaft. Ermittlung der gemeinsamen charakteristischen Definitionselemente der heterogenen Teilbereiche der › Kulturwirtschaft ‹ zur Bestimmung ihrer Perspektiven aus volkswirtschaftlicher Sicht. Wahl, Volker (Hrsg.) (2007) : Henry van de Velde in Weimar. Dokumente und Berichte zur Förderung von Kunsthandwerk und Industrie (1902-1915) (= Veröffentlichung der Historischen Kommission für Thüringen, 14). Wahl, Volker (2008) : » › Ick ’aben keine Pietät ‹. Henry van de Velde als Opfer des Streites um Goethes Gartenmauer 1903 «. In : Die Pforte 9. S. 329-354. Wahl, Volker (2011) : » Henry van de Veldes Kunstgewerbeschule in Weimar von 1908 bis 1915. Gründung, Aufgaben und Wirkungen «. In : Schirmer, Heidemarie (Hrsg.) : Van de Veldes Kunstgewerbeschule in Weimar. Geschichte und Instandsetzung. S. 33-49. van de Velde, Henry (1907) : Der neue Stil. van de Velde, Henry (1910) : Essays. Zimmermann, Olaf / Schulz, Gabriele (2009) : Zukunft Kulturwirtschaft. Zwischen Künstlertum und Kreativwirtschaft.

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Kreativwirtschaft jenseits der Metropolen Kai Schächtele

» Das hier ist mein kleines Finnland «, sagt Katrin Sergejew in ihrem Atelier in Apolda, während im Hintergrund eine ihrer Schneiderinnen an einer Maschine sitzt und einen Frauenmantel für die kommende Wintersaison bearbeitet. » Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Art Medien wir in fünf Jahren produzieren werden. Aber es wird wahrscheinlich nicht mehr das sein, was wir heute machen, wenn man die technische Entwicklung der vergangenen fünf Jahre betrachtet «, sagt Jörg Michel im Besprechungsraum seiner eige­ nen Firma, die auf einer Etage des Kindermedienzentrums in Erfurt ihr Zu­ hause gefunden hat. » Als Selbständiger muss man eine Disziplin an den Tag legen, die ein bisschen konträr zur Idee eines Kunststudiums steht «, sagt Robert Krainhöfner, der in Jena mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf seinem selbst zusammen­ gezimmerten Holzpodest sitzt. Katrin Sergejew, Jörg Michel, Robert Krainhöfner – drei Unternehmer mit Geschäftsfeldern, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Die erste ist eine Modedesignerin, die Anfang 2007, mit gerade mal 24 Jahren, das Mode­ label Kaseee gegründet und deren Umsatz sich seit 2009 in jedem Jahr ver­ doppelt hat. Der zweite ist der Geschäftsführer von KIDS interactive, einer mehrfach ausgezeichneten Agentur, die ihr Geld mit Software für inter­ aktive Schultafeln und Webseiten für Kinder verdient, ihrer Zeit aber ein paar Jahre voraus ist. Und das ist im Moment kein Vorteil. Der dritte ist ein studierter Bildhauer, der sich in einem kleinen Fachwerkhaus direkt an den Bahngleisen seine Werkstatt eingerichtet hat. In der arbeitet er an tonnen­ schwerer Kunst. Ohne voneinander zu wissen, bewegen sich die drei in einem gemein­ samen Rahmen. Sie gehören zu einer Branche, die zu einem immer bedeu­ tenderen Wirtschaftsfaktor in Deutschland wird : Sie sind Teil der Kreativ­ wirtschaft. Und das nicht dort, wo man Kreative wie sie vermuten würde : in den großen Metropolen, Hamburg, Berlin oder München. Sondern in Apolda, Erfurt und Jena, Orten, die auf der Landkarte der Kreativen bislang

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weiße Flecken waren. Sergejew, Michel und Krainhöfner arbeiten daran, diese Flecken mit Buntheit zu füllen. Und sie sind nicht allein. Zwischen Eisenach und Altenburg, zwischen Nordhausen und Sonneberg gibt es immer mehr Selbständige, die aus der geographischen Mitte Deutschlands auch ein kreatives Zentrum machen wollen. Doch wie arbeitet es sich hier, abseits der Metropolen? Wo liegen die Vorteile, wenn man nicht in einem großen Teich ein kleiner Fisch sein möchte, sondern in einem kleinen ein großer? Welche Nachteile bringt das mit sich? Und wie viel Durchhaltevermögen ist dabei nötig? Es ist dies das Protokoll einer Reise zu denen, die so viel Vertrauen in sich haben, dass sie daraus ein Geschäft gemacht haben. Ihr eigenes Geschäft. Erster Halt : Apolda. Das Städtchen hat seine gute Zeit lange hinter sich. Knapp über 20.000 Einwohner, schmale Gassen, Hausfassaden in Einheits­ braun. Über Jahrhunderte war Apolda eine Hochburg der Textilindustrie. Zu DDR-Zeiten waren die zahlreichen Strickereien und Lederwerkstätten noch wichtige Arbeitgeber. Direkt nach der Wende investierte der LuxustaschenHersteller MCM zwei Millionen Mark, um ein Gebäude am Stadtrand zu seiner Hauptproduktionsstätte zu machen. Heute erinnert daran nur noch der von jedem Verdacht der Bescheidenheit freizusprechende Schriftzug mit dem Cäsarenkranz an der einen Ecke. In der anderen hält das » Planet Casino « schon am Nachmittag die Türen offen und wartet auf Zocker, die nicht kommen. Genau hier, zwischen der Vergangenheit des lederschweren Luxus und der Gegenwart plastikgelber Casino-Schriftzüge, hat Katrin Sergejew vor drei Jahren ihr Label angesiedelt. An diesem Ort wirkt die Anwesenheit von Kaseee wie die einer jungen, attraktiven Frau, die einem alten Mann wieder eine Portion Lebensmut und Optimismus verpasst hat. Dass sie hier gelandet ist, war allerdings weniger Folge von Planung als von Fügung. Sergejew ist nicht freiwillig Unternehmerin geworden. Ihre Fähigkeiten ließen ihr keine andere Wahl. Nachdem die gebürtige Jenaerin nach der zehnten Klasse die Schule geschmissen hatte, machte sie zunächst eine Ausbildung zur Modegestalterin und begann 2002 in Schneeberg im Erzgebirge mit einem Modedesign-Studium. Sie experimentierte mit Schnitten und entwickelte ihre eigene Handschrift. Bis heute arbeitet sie ausschließlich mit Asymmetrien. Nähte verlaufen nicht in rechten Winkeln, die Taschen einer Jacke liegen nicht auf gleicher Höhe. » Grundlage meiner Arbeit sind Kunst und Malerei. So entstehen immer wieder Formen und Linien, die um den Körper laufen «, erzählt sie auf einer Sitzgruppe, inmitten

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von Rollständern mit Stücken aus den aktuellen Kollektionen und raum­ hohen Papierbahnen mit Skizzen ihrer Entwürfe. Die Haare hochgesteckt. Blaues Kleid, grauer Schal – beides Stücke aus ihrer Kollektion. Geistiger Geburtsort ihres Labels war aber nicht das Erzgebirge, sondern ein Ort namens Hämeenlinna in Finnland. Genauso verschlafen und über­ schaubar wie Apolda, aber viel weltoffener. » Die Finnen sind sehr herzlich und haben ein großes Vertrauen «, sagt sie. » Jeder kann sich an allen Maschinen ausprobieren. Damit lernt man das Allerwichtigste als Designerin : das Wissen, wie eine Mangel, eine Nähmaschine oder Siebdruck funktionieren. « Nachdem sie 2006 ihr Studium abgeschlossen hatte, war deshalb klar : Sollte sie je ihr eigenes Atelier haben, soll bitte alles so sein wie in Finnland. In Apolda ist ihr das gelungen. In dem turnhallenlangen Raum stehen hinten links die Tische für den Siebdruck. Daneben zwängt sich das Büro zwischen die Regale, auf den sich Stoffbahnen, Entwürfe und Klamotten türmen. Hier arbeiten inzwischen eine Damenschneiderin in Vollzeit, eine Herrenschneiderin und eine Täsch­ nerin, die zweimal in der Woche kommen, eine Auszubildende und eine bekleidungstechnische Assistentin, die Sergejew die Büroarbeit abnimmt. Dazu kommt eine finnische Austausch-Studentin, die gerade an ihrer eige­ nen Kollektion arbeitet. Man hat nicht den Eindruck, dass das hier eine Arbeitsstätte ist. Es ist eine Oase und Sergejew nicht die Chefin, sondern eine Freundin unter Gleichen. Dass es soweit kam, lag wesentlich daran, dass sie nach dem Ende ihres Studiums im Jahr 2006 am » Baltic Fashion Award « teilnahm, für den sie eine ganze Kollektion zusammenstellen musste. Allein, innerhalb von ein paar Wochen und auf eigenes Risiko. Nur einer der drei Nominierten der Schlussrunde würde am Ende das Preisgeld von 7.500 Euro kassieren. Also richtete sie in Kahla, wohin sie damals von Jena aus pendelte, schnell eine eigene Werkstatt ein, mit gebrauchten Maschinen, die sie entweder ande­ ren abgekauft oder aus Finnland mitgebracht hatte, und legte los. Arbei­ tete bis spät in die Nacht, merkte nicht, wie die Zeit verging, tauchte nach zwei Monaten wieder aus ihrer Werkstatt auf – und gewann. Sie hatte das Gefühl : Wenn ich jetzt mehr Stücke dabei hätte, könnte ich sofort mit dem Verkaufen beginnen. So wurde aus der Designerin eine Unternehmerin. In Apolda ist sie letztlich gelandet, weil die Infrastruktur dafür ideal war. Ein paar der Strickereien von damals sind übrig geblieben, vom Keller unter ihr her spürt man das Stampfen der Lederbearbeitungsmaschinen. Dort kann sie auch kleine Stückzahlen in Auftrag geben, ohne überteuerte Preise

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zahlen zu müssen. Das ist wichtig, denn Sergejew muss sich jetzt nicht mehr nur Gedanken darum machen, wie die Linien ihrer Entwürfe verlaufen. Son­ dern auch darum, dass ihr Laden läuft. Dazu gehört nicht nur, die nächs­ ten Kollektionen so rechtzeitig zu entwerfen, dass die Wintermäntel fertig sind, wenn es draußen kalt wird. Sondern auch, für ihre Angestellten Ver­ antwortung zu tragen. Es ist ein Gefühl, an das sie sich noch immer nicht recht gewöhnt hat. » Nach dem Studium habe ich mir keine Gedanken gemacht, was es heißt, Unternehmerin zu sein «, sagt sie. » Für mich stand im Vordergrund, dass ich das verwirklichen konnte, was ich machen wollte. Das Verkaufen kam erst später. Der Lernprozess, Unternehmerin zu sein, hält bis heute an. « Sie sei zwar noch immer lieber Designerin, gesteht sie. » Doch ohne das Unternehmerding geht nichts. « Und hat sie das Gefühl, bei diesem Unternehmerding ausreichend unter­ stützt zu werden? Am Anfang ja, antwortet sie. So belegte sie im ersten Jahr einen Existenzgründerkurs. Später saß sie mit Bundeswehr-Offizieren und Bankangestellten in einem Führungskräfteseminar. Doch dabei, einzuschät­ zen, ob eine Entscheidung über eine Investition noch sinnvoll ist oder schon halsbrecherisch, ob sie einen Investor ins Boot holen soll oder nicht und wie viele Stücke sie von einer Kollektion herstellen kann, ohne sich zu verschul­ den, fühlt sie sich ziemlich allein gelassen. » So etwas bringt einem keiner bei. Alle sagen : Ich soll mehr Mitarbeiter einstellen. Aber wovon? Da gibt es niemanden, der einen an die Hand nimmt. « Apolda zu verlassen und mit ihrem Label in die Großstadt zu ziehen, dorthin, wo viele ihrer potentiellen Kunden leben, kam für sie nie in Frage. Erstens enge eine Großstadt sie nur ein, sagt sie. Und zweitens kommt die Großstadt inzwischen ja zu ihr. Zu ihrer wichtigsten Einnahmequelle ist neben Boutiquen, die ihr einzelne Stücke ihrer Kollektionen abkaufen, der Brunch geworden, den sie einmal im Monat veranstaltet. Angefangen hatte alles damit, dass sie zu ihrem Start in Apolda all ihre Freunde und Bekann­ ten eingeladen hatte. Bald wurde daraus eine regelmäßig wiederkehrende Institution. Seitdem spricht sich bis nach Hamburg und Berlin herum, was in Apolda an jedem ersten Sonntag passiert. Die Mutter bereitet Schnittchen und Salate zu, ihre Mitarbeiterinnen nähen den ganzen Tag und die Leute verkriechen sich zur Anprobe sogar hinter Sergejews Gemälden oder auf der Toilette. Die Belohnung für diese Entwicklung gab es im vergangenen Frühjahr : Zehn Jahre, nachdem sie ihr Studium begonnen hatte, zeichnete

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sie eine Zeitschrift gemeinsam mit der KfW-Bankengruppe zur pfiffigsten Gründerin des Jahres 2012 aus. Trotz ihrer erst 30 Jahre ist Sergejew damit eine Art role model für die­ jenigen, die ihr berufliches Schicksal in die eigenen Hände nehmen, weil sie nur so verwirklichen können, was sie während des Studiums im Kopf und im Herzen hatten. Das gilt auch für viele Kreative in Weimar. Die Stadt ist einer der Kumulationspunkte der Kreativszene in Thüringen, weil viele hier hängen bleiben, die ihr Studium an der Bauhaus-Universität abgeschlos­ sen haben. So wie die Grafiker, Illustratoren und Designer, die sich in der » Kreativ-Etage « am Goetheplatz zusammengeschlossen haben; in einem Gebäude mit knarzenden Treppen und langen, dunklen Fluren, das ihnen die Stadtverwaltung zu günstigen Konditionen zur Verfügung gestellt hat. Oder Yvonne und Wolfgang Andrä, zwei Filmemacher, die sich während eines Uni-Filmprojekts kennenlernten, anschließend mit einem Freund die Filmproduktionsfirma 1meter60 gründeten und im Frühjahr 2012 ihren ers­ ten Langfilm in den Kinos hatten. Sich in Weimar als Kreativschaffender an­ zusiedeln, ist jedoch Fluch und Segen zugleich. Einerseits Segen, weil sich in der Überschaubarkeit von Weimar viele Kontakte von ganz allein ergeben, die einem beruflich nützlich sein können. Das erzählt Yvonne Andrä im Wohnzimmer des Reihenhäuschens, in dem sie zusammen mit ihrem Geschäftspartner, der nach Büroschluss ihr Ehe­ mann ist, und den beiden Kindern lebt. Im selben Haus sind die Räume der Produktionsfirma untergebracht. » Als Filmemacher leben wir zu einem guten Teil von öffentlichen Fördermitteln. Da ist es natürlich von Vorteil, dass bei den Entscheidungsträgern bereits bekannt ist, was wir machen, wenn wir uns mit einem Projekt bewerben. « Und andererseits Fluch, weil aus Mangel an Alternativen immer wieder dieselben Kreativen auf Podien geholt werden, ohne dass sich an deren beruflicher Situation etwas ändert. So beschreibt es Henriette Gruber. Die Produktdesignerin koordiniert in der Kreativ-Etage die Ein- und Auszüge und ist erste Ansprechpartnerin, wenn Firmen von außen nach Spezialisten auf den insgesamt drei Stockwerken suchen. Dass sich das Wirtschaftsmi­ nisterium seit einiger Zeit so intensiv um die Kreativwirtschaft kümmert, sei durchaus wahrzunehmen. Die Kreativen seien dadurch untereinander besser vernetzt, sagt sie. » Aber man denkt sich oft : Jetzt habe ich damit wieder drei Stunden meiner Arbeitszeit verbracht, aber nichts mitgenommen, was meiner Arbeit hilft. Und neue Aufträge gibt es auch nicht. «

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Es ist eine Stimmung, gegen die Jörg Michel im 30 Kilometer entfernten Er­ furt in den vergangenen Jahren auch immer wieder ankämpfen musste. Der gebürtige Hesse ist schon oft als Vorzeigeunternehmer präsentiert worden, etwa als Vertreter Thüringens bei der Ländermeile zum Tag der Deutschen Einheit in Berlin. Er hat schon viel Energie und Herzblut investiert, um zu demonstrieren, was seine Kindermedienagentur KIDS interactive leisten und zum Profil des Medienstandortes Thüringen beitragen kann. Und schon oft hat er gehofft, dass die Politik ihre Versprechen wahr machen würde, die Bedingungen für Kindermedien-Produzenten wie ihn zu verbessern. » Das Thema Kindermedien ist zwar sympathisch, aber letztendlich leider einfach kein bedeutender Wirtschaftsfaktor für die Region «, sagt er. Es sei in den vergangenen Jahren zwar viel versprochen worden – nur passiert sei wenig. Inzwischen bewege sich hier und dort etwas. » Aber leider nur sehr mühsam und in kleinen Schritten. « Seine Firma hat sich auf hochwertige Computerinhalte für Kinder spe­ zialisiert. Mit Goethes Worten ausgedrückt lautet das Firmenmotto : » Für Kinder ist das Beste gerade gut genug «. In großen gelben Buchstaben steht dieser Satz auf der Wand gegenüber der Eingangstür im ersten Stock des Kindermedienzentrums, das an diesem Nachmittag ansonsten ziemlich verlassen wirkt. Es scheint, als sei Michel auf den weiten Fluren einer der wenigen, die den Glauben noch nicht verloren haben, dass man damit, für Kinder etwas Gutes zu tun, auch für sich selbst etwas Gutes tun kann. Das ändert allerdings nichts daran, dass seine Leidenschaft wie auf Knopfdruck zu lodern beginnt, wenn es um das geht, wofür Michels 17 Mit­ arbeiter hier Tag für Tag hinter ihren Computerbildschirmen abtauchen. » Wie lange haben wir Zeit? Eineinhalb Stunden? Da werde ich Ihnen kaum alles zeigen können, was wir hier machen. « Michel schnappt sich eine kabellose Tastatur und eine Funkmaus und setzt sich an die Stirnseite des Konferenztisches. Auf dem schultafelgroßen Bildschirm an der Wand ruft er beinahe im Minutentakt Webseiten auf. » Das hier ist die Seite Nordmeerforscher.de. Für die haben wir den › Goldenen Spatz ‹ für das beste Onlinegame 2012 bekommen. Von allen Auszeichnungen, die wir schon erhalten haben, bin ich darauf fast am stolzesten. Denn der Preis wird von einer echten Kinderjury vergeben. « Mithilfe eines virtuellen U-Boots lernen Kinder auf dieser Seite Flora und Fauna der nördlichen Meere kennen. Mehrere Monate lang hat KIDS Inter­ active dafür mit einer Firma aus Rostock Daten zusammengetragen und in eine umfangreiche Seite eingearbeitet. Oder die » Kinderzeitmaschine « :

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ein Projekt, mit dem KIDS interactive als deutscher Vertreter beim Europäi­ schen Kindermedienpreis den zweiten Platz belegt hat. Kinder können da­ mit in vergangene Epochen reisen und auf spielerische Weise Geschichten begreifen. Die Internetseiten sind aber nicht das, womit KIDS interactive das Haupt­ geschäft macht. Sie sind vielmehr ein Schaufenster, mit denen Michel zeigen kann, zu welch komplexen Projekten seine Leute in der Lage sind. Geld ver­ dient wird mit den Inhalten, die originär für diesen überdimensionalen Bild­ schirm an der Wand bestimmt sind. Denn tatsächlich ist das nicht einfach nur ein Bildschirm. Es ist ein interaktives Whiteboard. Eines Tages könnten diese Geräte in deutschen Schulen das ersetzen, was früher grüne Tafeln waren, die nach jeder Stunde gewischt werden mussten. Gewischt werden muss hier nichts mehr. Hier wird nur noch geklickt oder mit Wischgesten interaktiv gearbeitet. » Das erste Whiteboard hing 2007 bei uns «, erzählt Michel. Es war der Beginn seines ganz persönlichen Abenteuers. Bis dahin war bereits ein kurvenreicher Weg als Unternehmer hinter ihm gelegen. Noch während des Studiums an der Bauhaus-Universität hatte er gemeinsam mit Kommilitonen eine Werbeagentur gegründet. Drei Jahre lang waren sie verantwortlich für die Werbung zur » Kulturstadt Europas «. Sie entwarfen Plakate und Videos und organisierten Veranstaltungen. Nach dem Diplom trennten sich allerdings die Wege. Der eine wollte zurück nach Fulda, wo alle hergekommen waren, der zweite nach Berlin. Nur Michel blieb – er hatte sich in eine Thüringerin verliebt. So entstand in Erfurt die Idee, gemeinsam mit einem Kollegen eine Produktionsfirma für 3D-Inhalte aufzubauen. Das Ziel : für den Kinderkanal arbeiten. Aus der Firma wurde nichts, aber für Michel war das der Einstieg in die digitale Welt. Er gründete mehrere Agenturen, produzierte parallel Inhalte für CD-ROMs der Serie » Löwenzahn « und für Tourismusportale, arbeitete für Schulbuch-Verlage genauso wie für den Kinderkanal. Und dann kamen die Whiteboards, ganz unverhofft und zufällig. Michel und seine Kollegen schlenderten über die Bildungsmesse » Didacta «, als sie sahen, wie eine kanadische Firma die in Deutschland damals noch völlig unbekannte Technik vorführte. Mit Beispiel-Inhalten, die Michel für einen Schulbuch-Verlag für einen ganz anderen Zweck produziert hatte. » Wir sind dann sofort hingegangen und haben gesagt : Hallo, das ist von uns. Und die Kanadier haben geantwortet : Dann kommen Sie mal gleich mit nach hinten in den Besprechungsraum. « So begann Michel, mit den Erfahrungen

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aus Websites und Unterrichts-Software erste Inhalte für das Whiteboard zu produzieren. Zum Beispiel digitale Landkarten. Michel, über die Hose hängendes Hemd und Sonnenbrille im Haar, springt auf und ruft eine dieser Landkarten auf. Thema : » Die Punischen Kriege von 264 bis 201 v. Chr. « Europa ist darauf unter Galliern, germani­ schen Stämmen und Römern aufgeteilt. Er tippt mit dem Finger auf die Leinwand und klappt die Legende auf und wieder zu. Das funktioniert, weil Infrarot-Kameras im Gehäuse jede Bewegung registrieren. Dann schiebt Michel mit dem Finger den Zeitstrahl am unteren Bildrand nach rechts. Das Gebiet der Gallier verfärbt sich. Die germanischen Stämme werden zurück­ gedrängt. Pfeile tauchen auf, die Gebietseroberungen im Laufe von Jahr­ hunderten illustrieren. Am Ende landet Michel beim » Römischen Reich zur Zeit seiner größten Ausdehnung von 98 bis 117 n. Chr. « Es ist Geschichte zum Anfassen, im Wortsinn. Wer solche Inhalte noch als Lernstoff kennt, bei dem man sich mühevoll Landkarten und Jahreszahlen einbläuen musste, die später in Schularbeiten abgefragt wurden, hat nach der Präsentation den Eindruck, nicht nur zwei­ tausend Jahre nach hinten geblickt zu haben, sondern auch mindestens fünfzig Jahre nach vorne. Auch Michel hatte zunächst das Gefühl, mit dem Einstieg in die Produk­ tion von Whiteboard-Inhalten in eine neue Dimension des Unternehmer­ tums vorgedrungen zu sein. Als 2007 das Kindermedienzentrum gebaut wurde, bündelte er alle Kinderaktivitäten in einer neuen Firma, die er KIDS interactive nannte. Seitdem hat die Firma 80 Titel für Schulbuchverlage wie Klett, Westermann und Cornelsen produziert. Fünf Jahre nach der Grün­ dung muss man allerdings konstatieren : Michels Erwartungen haben sich noch nicht erfüllt. Verantwortlich sind mehrere Gründe. Zum einen hat sich der Markt nicht so entwickelt, wie Michel sich das erhofft hatte. In Deutschland setzen ge­ rade mal acht Prozent aller Schulen Whiteboards ein. In England etwa sind es bereits über 90. Die Vorbehalte in deutschen Schulen gegenüber dieser noch jungen Technologie sind nach wie vor groß. Deutschland gilt in der Szene als » sleeping giant «, und keiner weiß, wann er aufwacht. Zum zwei­ ten brachte auch die Nähe zum benachbarten Kinderkanal keine neuen Aufträge. » Es ist ein Trugschluss zu glauben, wenn man mit seiner Firma hier im Kindermedienzentrum sitzt, könne man automatisch mit Auftragsprojekten vom KIKA nebenan rechnen «, sagt Michel. » Wir würden gerne viel intensiver mit dem Kinderkanal zusammen arbeiten und die kurzen Wege

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und Synergien hier am Standort nutzen. Leider ist das in den vergangenen Jahren nach dem schweren Betrugsskandal im KIKA nicht unbedingt einfacher geworden. « Abgesehen von einem Großauftrag für die Bibelserie » Chi Rho «, den er noch mit der Vorgängerfirma von KIDS interactive umgesetzt hatte, haben sich bislang keine gemeinsamen Projekte ergeben, obwohl Michel einige Konzepte auf den Schreibtischen von Redakteuren liegen hat. Bei anderen Sendern war er da deutlich erfolgreicher : Für SuperRTL kreiert KIDS interactive seit Jahren regelmäßig sendungsbegleitende Online­welten zu bekannten Kinder-TV-Serien wie Disneys » Jake und die Nimmerlandpira­ ten « oder » Bob der Baumeister «. Und zum dritten hat Michel dabei zusehen müssen, wie andere Bun­ desländer die Thüringer einfach überholt haben. Das Paradebeispiel dafür sei das » Kindermedienland Thüringen «, eine Initiative mit dem Ziel, das Bundesland als Standort für Kindermedien zu profilieren. » Wir haben in der Vergangenheit immer wieder Ideen und Vorschläge eingebracht, das Thema hier stärker voran zu bringen, sei es im Rathaus oder in der Staatskanzlei. Ich habe immer gehört : Es ist ganz fantastisch und wichtig, was Sie hier machen. Leider gab es nie ein Budget für irgendwelche Aktivitäten und so passierte kaum etwas in den letzten Jahren «, klagt Michel. » Letztendlich hat man leider tatenlos zuschauen müssen, wie das Bundesland BadenWürttemberg mit konsequentem Engagement und cleverer PR-Arbeit den Begriff » Kindermedienland « inzwischen für sich besetzt hat. « Es ist nicht genau zu ermitteln, welches Gefühl bei ihm gerade überwiegt : Empörung oder Erschöpfung. Noch hat er allerdings Hoffnung, dass sich in Thüringen etwas bewegen lässt. Für ihn ist sie Grund genug, sich auch weiter für den KindermedienStandort Erfurt zu engagieren. Ideen dazu gäbe es jedenfalls eine Menge, sagt er, und an der nötigen Kreativität mangele es auch nicht. Und auch nicht an der Bestätigung von außen : Im vergangenen Jahr wurde KIDS interactive als » Bundessieger Kreativwirtschaft « im Rahmen des KfWGründerwettbewerbs im Berliner Wirtschaftsministerium ausgezeichnet. In mehrfacher Hinsicht verdichten sich in Michels Firmenbiographie die Vorzüge wie die Gefahren in der Thüringer Kreativbranche. Auf der einen Seite hat sich KIDS interactive ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet, weil eine Firma mit einem so innovativen Profil zwangsläufig heraussticht, wenn es darum herum nichts Ähnliches gibt. Auf der anderen Seite nutzt aller Glanz nichts, solange er sich nicht in geschäftlichen Erfolg umsetzen lässt. Im Gegenteil : Wenn es so läuft wie bei Michel, droht er sogar den Antrieb

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abzuwürgen, der für Selbständige so wichtig ist, die von ihren eigenen Ideen abhängig sind. Darum, dass Robert Krainhöfner irgendwann die Lust verlieren könnte, muss man sich keine Sorgen machen. Das liegt vor allem daran, dass er kei­ nen Beruf ausübt, sondern eine Berufung hat. Und auch ein bisschen da­ ran, dass er in Jena sitzt. Wenn Weimar der Kumulationspunkt ist und Er­ furt mitunter der Ort unerfüllter Hoffnungen, dann ist Jena das Nest, trotz seiner Größe von mehr als 100.000 Einwohnern. Hier kennt man sich, man unterstützt sich gegenseitig, Geschäfte werden gern abends bei einem Glas Wein besiegelt. Oder wie es Karsten Meyer formuliert, der Gründer von ART-KON-TOR, einer 50-Mann-Agentur, die Unternehmen bei der Vermark­ tung von High-Tech-Produkten begleitet : » Wenn man in Jena eine Fete macht, ist sie nie ganz privat. Es ist immer auch ein bisschen Geschäft und Lobbyarbeit dabei. Das vermischt sich. « So gesehen ist Meyer einer der besten Mixer der Stadt. Der studierte De­ signer, dessen Agentur im Frühjahr 1990 als Zwei-Mann-Laden begonnen hatte, lädt einmal im Monat Geschäftspartner, Künstler und Politiker ein. Auf dem Programm stehen Vorträge, Meyer kümmert sich um Häppchen und Getränke. Bei einem solchen Abend läuft einem dann zum Beispiel der Künstler Krainhöfner über den Weg. In diesem Umfeld wirkt er wie ein Ge­ ländemotorrad auf einem Parkplatz mit Firmenlimousinen. Doch in Jena scheint so etwas normal zu sein. Meyer hat Krainhöfner eingeladen, weil er demnächst einige von dessen Objekten im Eingangsbereich seiner Agentur ausstellen möchte. Als Krainhöfner hört, dass der Sinn der Reise darin besteht, die Kreativ­ wirtschaft Thüringens vorzustellen, sagt er, dass er dazu auch etwas erzäh­ len könnte. Nicht, um zu prahlen, das würde zu seinem ruhigen Wesen nicht passen. Eher aus der bloßen Lust am Plaudern. Und so sitzt man tags darauf auf seinem Holzpodest an den Gleisen und hört sich die Geschichte eines Mannes an, der vor bald zwanzig Jahren an der Kunstakademie in Nürnberg Bildhauerei und Kunst im öffentlichen Raum studiert und vor einiger Zeit beschlossen hat, mit seiner Kreativität künftig besser zu wirtschaften. Schauplatz dieser Metamorphose ist das Fachwerkhüttchen, früher ein Umschlagplatz für Güter, die von Zügen auf Lastwagen verladen wurden, in dem Krainhöfner gemeinsam mit einem Schreiner arbeitet. Im Unterge­ schoss steht ein Ofen, mit dem er Stahl zum Glühen bringt, im Erdgeschoss stehen Maschinen zur Holzbearbeitung. Es gibt einen eigenen Raum, in dem Krainhöfner die Miniaturversionen seiner Exponate stehen hat, darin einen

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alten Holzofen. Von der Wand daneben blättert die Farbe ab. Der Ort strahlt die gleiche Zeitlosigkeit und Ruhe aus, die auch Krainhöfners Arbeiten aus­ machen : geometrische Formen, die er ineinander faltet oder verkantet. So wie bei dem Ring, der vor vier Jahren entstanden ist. Eine Tonne schwer, mit einem Durchmesser von zweieinhalb Metern, an einer Stelle auseinander geschnitten und verdreht wieder zusammengesteckt. Mit ihm kam alles ins Rollen. Entstanden war er für eine Ausstellung des Verbands Bildender Künstler in einer Stahlschmelze in Pößneck. Dafür hatte er so lange Stahlarbeiter überredet, bis sie ihm irgendwann eine Tasse Kaffee anboten. » Da wusste ich : Jetzt hast du sie überzeugt «, erzählt er. Anfangs hatten die befürchtet, das Ding ruiniere ihnen die Maschinen. Wochenlang war er immer wieder in die Schmelze gefahren und hatte sich vertrösten lassen. Als der Ring fertig war, war er so stolz wie pleite. Für Material und die Stahlarbeiter hatte er 3.000 Euro ausgegeben. Und es war niemand in Sicht, der ihm den Ring abkaufen wollte. Ihm war klar, dass nun etwas passieren musste. Schließlich trägt er nicht nur für sich Verantwortung, sondern auch für seine Tochter. Nur was? Seine erste Antwort : Kerzenständer. Der 45-Jährige hatte sich auf das be­ sonnen, was er konnte. » Ich gehe in meiner Kunst meistens vom Quadrat aus. Aber in den Größen, in denen ich arbeite, kann man nur schwer etwas verkaufen. Also habe ich mir gesagt : Denk doch mal kleiner. « Das Ergeb­ nis zieht er aus einer ledernen Dokumentenmappe : eine handtellergroße Platte aus Edelstahl mit vorgestanzten Linien, dank derer sich die einzel­ nen Flächen zu einem Würfel falten lassen. Mit dem von ihm so benann­ ten » Lichtfalter « zog er los und bot ihn Firmen als Weihnachtsgeschenk für deren Kunden an. Nach wenigen Wochen hatte er so viele verkauft, dass er damit seinen Ring finanzieren konnte. Eine Zeit lang war von nun an ein Teil seiner Arbeitszeit für sie vorbehalten. Doch dann besuchte er im Herbst ein Seminar, zu dem ihn die Thürin­ ger Agentur für die Kreativwirtschaft (THAK) eingeladen hatte. Die THAK ist eine der konkreten Maßnahmen, die aus den Bemühungen des Wirt­ schaftsministeriums für die Kreativen resultiert ist. Teilnehmer des Semi­ nars waren sechs Designer und zwei Künstler. Das Thema : Markenidenti­ tät. Zwei Tagen später fuhr Krainhöfner mit dem sicheren Gefühl nach Hause, dass er sich getäuscht hatte. Es sind nicht die Kerzenständer, die ihn auf Dauer glücklich machen würden, als Künstler genauso wenig wie als Unternehmer. Es ist die Kunst. Denn auf Schloss Ettersburg hatte er seinen

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Markenkern gefunden. Der lautet : » Ich heiße Robert Krainhöfner und ich verforme Stahl. « Um an diesen Punkt zu kommen, hatte er in mehreren Übungen sich und seine Kunst präsentieren und sich dem Feedback der Experten stellen müs­ sen. Dabei wurde ihm irgendwann klar, dass ihm zwar die Arbeit an den Kerzenständern Spaß gemacht hatte, nicht aber deren Vermarktung. Also beschloss er, sich in Zukunft nur noch auf das zu konzentrieren, was ihm von Anfang bis Ende des Verwertungsprozesses erfüllen würde. Sein Plan : Er möchte seine Kunst in Zukunft vor und mit Publikum entstehen lassen. Als Installationen im öffentlichen Raum, mit Kränen und Feuer. Die Flamme ist also geblieben, Krainhöfner macht sie nur größer – so wie es seiner Kunst entspricht. Im September feiert er in Weimar ihre Premiere. Und wie kompensiert er den dadurch entstandenen Einkommensausfall? Durch sein parallel entstandenes neues Selbstbewusstsein. Im vergange­ nen Jahren hatte Krainhöfner immer wieder Schulkinder in seine Werkstatt eingeladen, um mit ihnen in Kursen Eisen zu schmieden. Dafür hatte er sich allerdings in den Thüringer Schulbetrieb eingliedern müssen. Die Kurse gibt er auch heute noch. Allerdings nicht mehr als Hilfslehrer, sondern als Künst­ ler. » Ich komme jetzt von außen und sage : Das ist mein Honorar und entweder es klappt zu diesem Preis oder nicht « , erzählt er. Er hat die Erfahrung gemacht : Meistens klappt es. Mit seiner Unaufgeregtheit ist Krainhöfner ein gutes Beispiel für all die anderen, die aus Thüringen stammen. Es macht den Anschein, als sei das Leben hier bodenständiger, verwurzelter und ganz anders als in Berlin oder Hamburg, wo viele mindestens so viel Energie in ihre Arbeit stecken wie darin, sich in ihr zu spiegeln. Viele sind aus den Metropolen deshalb sogar wieder hierhin zurückgekehrt, weil sie gemerkt haben, dass es sich in der vermeintlichen Provinz besser arbeiten und leben lässt. Größe ist kein Selbstzweck. Den Mangel an Kollegen, mit denen man sich austau­ schen kann, gleichen sie mit Engagement und Eigeninitiative wieder aus. Sie schaffen sich ihre eigenen Netzwerke. In der THAK hat auch Krainhöfner Künstler getroffen, von denen er gar nicht wusste, dass es sie gibt. Mit eini­ gen davon hält er jetzt regelmäßig Kontakt. Auch die Geschichte des Rings hat ein schönes Ende gefunden : Der wird seinen dauerhaften Platz vor dem Oberbürgermeisteramt von Jena finden. Man kann ihn deshalb als Symbol für die gesamte Kreativwirtschaft in Thüringen begreifen.

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An seinem Anfang stand eine einfache, aber gute Idee, die dank Hartnäckig­ keit und auch ein bisschen Sturheit ihren Weg in die Welt genommen hat. Entstanden ist der Ring nicht, weil sein Schöpfer zuvorderst im Sinn hatte, damit Geld zu verdienen. Sondern weil er schlicht wollte, dass es ihn gibt. Trotzdem hat er am Ende, wenn auch zum Teil über Umwege, so viel Geld abgeworfen, dass er sich als gutes Geschäft entpuppt hat. Und so wie seine beiden ineinander verkeilten Enden sind bei ihm das Kreative und das Wirt­ schaften fest miteinander verbunden.

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Jena, das Internet und der E-Commerce Boris A. Knop

Der Stadt Jena ist spätestens seitdem der Weimarer Carl Zeiss hier 1846 sein Unternehmen gründete, der Geist der Innovation und Forschung fest eingeschrieben. Um im Bereich der feinmechanisch-optischen Produktion Industriestandards zu schaffen, arbeitete man unermüdlich. Was Zeiss an optischem Glas erster Güte für seine weltweit führenden Produkte brauchte, brachte die Ansiedlung von Schott. Die immer weiter führenden bahnbrechenden Entwicklungen in der Optik, den chemischen Verfahren und dann der Optoelektronik verlangten nach Rechenleistung und führten schließlich auch dazu, dass Jena in Berührung mit der Halbleitertechnolo­ gie kam und hier bei Zeiss die ersten Computer in der DDR gebaut wurden. Wafers sollten zu Zeiten der DDR in Jena entwickelt, im großen Stile pro­ duziert und im gesamten Raum des RGW vertrieben werden. Um all diese Dinge – von der komplizierten Optik bis hin zum Computer – bauen und betreiben zu können, hatte man natürlich schon früh Programmierer und Softwareentwickler an Bord. Auch dafür entstand das markante Hoch­ haus, der heutige Jentower, der damaligen Absichten zufolge einem Fern­ rohr ähneln und eben dem Kombinat Carl Zeiss Jena als Forschungs- und Technologiezentrum dienen sollte. Zu dieser Nutzung kam es aber nie. Den mitbestimmenden sowjetischen Machthabern lag Jena 1972 als Zentrum für eine neue Schlüsseltechnologie dann doch zu gefährlich nah am Wes­ ten. Man entschied sich um und wählte Kiew als zentralen Standort für die Halbleitertechnologie im Ostblock. Die Friedrich-Schiller-Universität zog in den Technologieturm ein und erst viel später, nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde der Jentower 1996 zum Büroturm, den zum großen Teil die Intershop Communications AG nutzte, die sich mit Entwicklung und Vertrieb der ersten professionellen Onlineshops für den Versandhan­ del hervor taten. Und ob des gigantischen Welterfolgs des Unternehmens setzte man dem Turm sein bis heute leuchtendes Firmensignet auf. Die Intershop Communications AG hat nach wie vor seinen Hauptsitz im Jen­ tower, neben vielen anderen aber kleineren E-Commerce Anbietern und Softwareentwicklern, die sich zum Teil in einer Genossenschaft, der Tower­ Byte e. G., organisiert haben.

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Jena ist eine sehr moderne Stadt mit vielen jungen Leuten und interna­ tionalem Flair. Und es sind nicht nur Studenten, die das ausmachen. Man sieht viele junge Väter mit Kinderwagen, die ihren Nachwuchs durch die Nach­mittagssonne schieben. Die Bürger Jenas genießen ihre Stadt. Die Saaleufer bieten Erholungs­ raum mitten im Zentrum. Das wird rege angenommen. Ob Joggen, Laufen, Rudern, Rennrad oder Mountainbike Fahren, viele Einwohner sind hier aktiv unterwegs. Sie nutzen die weiten Saaleauen, die bis hinein in das Stadt­ zentrum reichen und dort das Jenaer Paradies bilden. Sonnen, Grillen, Seil­ tanzen, Jonglieren, Frisbee und Skateboarding sind hier angesagt. Praktisch von überall her ist der Jentower mit dem großen Firmensignet des E-Commerce Riesen Intershop zu sehen. Intershop steht symbolisch für Jenas bedeutende Stellung im E-Commerce Geschäft. Auf dem Höhe­ punkt der ersten Entwicklung hatte Intershop 1.000 Mitarbeiter, davon 600 in Jena. Nachdem der New Economy Markt im Frühjahr des Jahres 2000 platzte, war davon auch Intershop betroffen. Aber es war hier nicht gleich alles vorbei. Es gab viele Ausgründungen von freigesetzten Intershop Mitarbeitern und bemerkenswerte unternehmerische Anstrengungen und Initiativen, die allesamt auf einen besonderen Jenaer Unternehmensgeist schließen lassen. Das ist im Verbund mit dem in Jena traditionell veranker­ ten Forschergeist etwas, das sich durchaus als Jenagen verstehen lässt. In Jena kann man sehr gut studieren und forschen und das Umfeld aus jun­ gen erfolgreichen Unternehmen flößt denjenigen, die gründen wollen, Ver­ trauen in die Sache ein. In Jena kann man diesen Geist spüren, weil erfolg­ reiche Beispiele für Neugründungen existieren. Heute zählt Jena allein im Bereich Software und E-Commerce gut 100 Unternehmen mit etwa 2.500 Beschäftigten. Die zerplatzte Blase der New Economy ist hier keinesfalls vergessen, man hat daraus nicht nur an Bescheidenheit gelernt. Jena ist in der Internetwirtschaft als E-Commerce Standort nach wie vor gefragt. Das liegt vor allem an der hier angesiedelten exzellenten Ausbildung und Forschung an der Friedrich-Schiller-Universität und der Ernst-Abbe-Fach­ hochschule, die durch die Unternehmen der Branche gezielt unterstützt werden. Die jungen erfolgreichen Firmen haben aber sehr gut verstanden, dass neben ihren langjährigen Stärken in der Entwicklung von E-Commerce Plattformen heute drei Dinge entscheidend sind : das volle Serviceangebot einer Agentur, die Kunden in ihrem Online Handelsauftritt fortwährend be­ treut und berät und neben technischen Neuerungen auch modernste An­ sprüche an Design mit kreativen Kräften aus dem eigene Hause direkt für

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die Kunden umsetzt. Das zweite Merkmal ist, dass sich die Betriebe einer jungen Unternehmenskultur mit flachen Hierarchien verpflichtet fühlen, ohne dabei betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten, wie z. B. eine zweite Führungsebene, außer Acht zu lassen. Drittens schaut man sehr genau, was man mit der zur Verfügung stehenden Technologie, die E-Commerce Plattformen eben zugrunde liegt, noch anderes entwickeln kann, wie EGovernment Portale, die mit dem neuen digitalen Personalausweis arbei­ ten. Ehemals reine E-Commerce Entwickler und Anbieter erschließen sich weitere Geschäftsbereiche und bieten auch umfangreiche Dienste rund um die intelligente Nutzung und Verwaltung von Daten im kaufmännischen, betriebs- und personalwirtschaftlichen Ablauf an. Das kann ein Kunde dann als Paket aus einer Hand bekommen. Die erfolgreiche Integration genau dieser drei Merkmale machen die jungen Software und E-Commerce Unternehmen in Jena konkurrenzfähig zu Anbietern aus den Großstädten Hamburg, Berlin oder München. Jenaer Unternehmen gelingt es in diesem harten Konkurrenzkampf immer wie­ der, die Arbeit in die thüringische Stadt zu holen. Unternehmen wachsen hier, Jena wächst : Studienabsolventen finden hier Arbeit oder gründen ihren eigenen Betrieb. Die Menschen bleiben hier und gründen Familien. Hochqualifizierte Arbeitskräfte der Branche kehren mittlerweile in ihre Hei­ matstadt zurück. Und nicht nur die Friedrich-Schiller-Universität sorgt in­ zwischen für Zuzug sogar aus dem Ausland. Die Stadt ist sehr erfolgreich darin, ihren Lebenswert zu steigern und auf einem hohen Niveau zu erhal­ ten. Aber genauso wie das Phänomen zu beobachten ist, das westdeut­ sche Software und E-Commerce Firmen in Jena Filialen gründen, gründen expandierende Jenaer Unternehmen Filialen in Städten vergleichbarerer Größe, wie u. a. Bielefeld. Es ist bei weitem nicht so, dass die Jenenser nur knapp über ihren eigenen Tellerrand schauen, sondern sie beobachten den ganzen Markt sehr genau und schaffen es immer wieder, sich durch inno­ vative Neuentwicklungen und intelligente Servicekombinationen als exzel­ lente Entwickler und Dienstleister zu positionieren.

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» Dafür ist das Internet ja auch gemacht « Ein mittleres E-Commerce Unternehmen, das ständige und andauernde In­ novationskraft sehr gut vorlebt, ist die dotSource GmbH. Gründer und Ge­ schäftsführer Christian Otto Grötsch ist mit seinem Unternehmen gerade

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umgezogen. Die Räumlichkeiten im Jentower reichten nicht mehr aus und jetzt wohnt man gegenüber in den oberen Etagen der Goethe-Galerie direkt am zentralen Campus der Friedrich-Schiller-Universität, dem früheren Sitz des Zeiss Werks. Grötsch findet es äußerst passend, dass seine erfolgrei­ che E-Commerce Agentur, die viele Kunden aus dem Versand- und Einzel­ handel vertritt, nun in einem Gebäudekomplex mit dem angesagtesten Einkaufszentrum Jenas sitzt. E-Commerce wächst seit zehn Jahren jedes Jahr mit Wachstumsraten um die 20 %. Hier verschieben sich Milliardenum­ sätze von stationären Geschäften hin zu Online Shops. Und diese virtuellen Einkaufszentren wollen gebaut werden. Genau dieses Geschäft besorgt in der Goethe-Galerie die Agentur dotSource. Nicht ohne Stolz verkündet Grötsch, dass er hier mit seinen 80 Mitarbeitern schon zwei Etagen des Stadthauses belegt. Achtzig ? Die allerletzten Zahlen wiesen 75 Mitarbeiter in seinem Betrieb aus. Ja, man habe gerade noch zusätzlich einstellen müs­ sen. Dieser Standort sei für 120 Mitarbeiter ausgelegt und im Grunde ist man auch schon wieder auf der Suche nach mehr Raum für die Firma. Das ist imposant. Die hellen Räume, die offenen Büros verbreiten eine herzliche und moderne Atmosphäre. Man hat sofort den Eindruck, dass hier Team­ work herrscht. Grötsch startete seine Karriere bei einem Onlineauktionshaus in Gera, und obwohl man dort bereits in fünf Ländern online tätig war, wollte er mehr und ging zu Intershop, um sich dort im Geschäft mit den ganz gro­ ßen Kunden wie Tchibo, Otto und Quelle seine Sporen zu verdienen. Einen Monat nach seinem Start bei Intershop platzte allerdings die Blase des New Economy Markts. Intershop musste Leute entlassen. Grötsch selbst musste zwar nicht sofort wieder gehen, aber die Entlassungswelle, die Intershop nun los trat, führte zu vielen Neugründungen in Jena. Dem Zusammen­ bruch und der Arbeitslosigkeit gab sich hier fast niemand lange hin. Und auch trotz der Entlassung wollte fast niemand weg aus Jena. Neugrün­ dungen von kleinen Firmen waren somit eine logische Konsequenz, denn die Insider wussten, dass immer noch genug Potential in der Internetwirt­ schaft schlummerte, wenn auch das Social Web noch nicht geboren war. Wohl aber kam auf diese neuen kleinsten Unternehmen mit drei bis fünf Mitarbeitern eine magere Zeit zu. Ein Überwintern war in den kommenden Jahren angesagt. Grötsch nennt das gerne ironisch den » nuklearen Winter « Jenas : Nach dem Platzen der Dotcom Blase gab es von 2001 bis 2005 prak­ tisch nur noch Intershop und Epages als große Firmen im E-Commerce Be­ reich. Grötsch selbst » überwinterte « dann mit Fort- und Weiterbildung.

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Er studierte Internet Business Engineering an der Jenaer Fachhochschule, ein E-Commerce Studiengang, der von Intershop gegründet wurde. Als er im Februar 2004 fertig war, legte er noch seinen Master an der Steinbeis Hochschule im Nachwuchsführungskräfteprogramm der Telekom drauf, denn erst 2005 waren die neuen Unternehmen in dem Bereich endlich wieder so stark gewachsen, dass sie selbst eine Basis für Neueinstellungen bieten konnten. Grötsch bewarb sich wiederum bei der gesundeten Inter­ shop AG, wurde aber nicht genommen. Man hört dem dotSource Firmen­ gründer ein bisschen Verzweiflung aus der Seele sprechen, denn eines war schon damals völlig klar : » Ich will aber nicht weggehen aus Jena, aus Thüringen. Ich will hier bleiben ! « Unter den Fittichen von Reinhard Hoff­ mann und der TowerByte Genossenschaft, die damals zehn kleine Firmen für Internetprojekte in sich bündelte, fand Grötsch genau das fruchtbare Umfeld, das im Januar 2006 zur Gründung der dotSource GmbH mit drei Mitarbeitern führte. Zurückblickend kann man feststellen, dass die Ausgründungen aus der damals kriselnden Intershop AG im Wesentlichen den Nukleus Jenaer ECommerce Szene ausmachen. Heute sind wir allerdings schon wieder einen Schritt weiter. Aus der dotSource GmbH heraus gibt es mittlerweile auch schon wieder zehn Ausgründungen. Grötsch sieht das mit einem weinenden und einem lachenden Auge. So verlassen mit jeder Ausgründung » Hochleis­ ter « seine Firma, » sehr leistungsfähige, sehr kreative, sehr wertvolle Mit­ arbeiter «, die dann fehlen. Andererseits kann Grötsch gar nicht anders, als auch Sympathie für diese hochqualifizierten Mitarbeiter zu hegen, denn natürlich erinnert er sich sehr gut an die Zeit, als dotSource seine Jenaer Alternative zu Intershop wurde. Aber es gibt noch ein drittes Argument, dass ihn das Ziehenlassen seiner Mitarbeiter etwas erleichtert und das ist vielleicht das tatsächlich entscheidende unter allen anderen. Die Techno­ logien in dem Markt entwickeln sich rasch und » nicht immer verfolgt man als Firma alle Trends. Dafür ist das Internet ja auch gemacht, dass da immer wieder Ausgründungen produziert werden. « Zwar springt man bei dot­ Source nicht immer auf jeden Trend, aber besitzt ein sicheres Gespür für die richtige Wahl unter den neuesten Trends. » Ja, das ist schon das, was uns ausmacht, dass wir da oft richtig liegen, was denn als nächstes kommt. « So ist zum Beispiel dotSources hauseigener Blog Handelskraft 2006 einer der ersten E-Commerce Blogs gewesen. Von Beginn des Social Webs an wurde der Blog konsequent als Marketingtool genutzt, um in der Branche wahr­ genommen zu werden. Das war damals ein Novum. Einschlägige Blogs sind

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heute eine Selbstverständlichkeit, aber dotSources Handelskraft Blog hat sich in den Jahren seiner Existenz behauptet. Das führende Fachmagazin t3n zählt www.handelskraft.de aktuell unter die dreizehn nützlichsten ECommerce Blogs. » Macht mal Social Commerce, fragt mal eure Kunden, lasst mal Kommentare zu, lasst euch mal Feedback geben ! « Das ist einfach gesagt, aber Grötsch kam zu einer Zeit, als nicht viele den Mut zu dieser Behauptung hatten, mit dem Liveshoppingportal Preisbock heraus. Das Einkaufen mit Social Community zu verbinden, traf den Nerv der Zeit. Dass man immer wieder einer der ersten in der erfolgreichen Anwendung von Neuentwicklungen ist, schafft Aufmerksamkeit, Medienrummel und Hype. Das tut der Agentur gut. Das moderne Prinzip der bidirektionalen Kommu­ nikation, die Orientierung am Kunden und Nutzer, scheut sich Grötsch aber auch nicht firmenintern einzusetzen, um seine Unternehmenskultur voran zu bringen. Der letzte Streich von dotSource in der komplett neuen Bran­ che des Social Commerce in Deutschland ist die Scoobox – social commerce out of the box. Dahinter verbirgt sich eine selbst entwickelte Software, aus deren Werkzeugkoffer genau die Social Commerce Komponenten kombi­ niert und installiert werden können, die einen klassischen Onlineshop für die » neue Zeit « fit machen, » um Kunden zu Beratern, Empfehlern und Ver­ käufern zu machen ! « In den vergangenen sechs Jahren hat sich die dotSource vom reinen E-Commerce Consulting, von der Software und IT lastigen Beratung hin zu einer Agentur entwickelt : Neben dem genauen Wissen um E-Commerce Geschäftsprozesse, also was man alles machen muss, wenn man mit sei­ nem Online Shop erfolgreich sein will, gewinnen dabei die Kreativleistun­ gen mehr und mehr an Bedeutung. Zielgruppen werden heute durch an­ sprechendes Design, die grafische Gestaltung, das Logodesign, die Usability, die gute Bedienbarkeit, Anordnung von Bedienelementen einer Webseite angesprochen. Was früher ein » Steckenpferd der Hamburger Agenturen « war, ist heute auch bei dotSource Standard. Das schlägt sich auch längst in der Mitarbeiterstruktur nieder. Die dotSource beschäftigt viele junge Leute. Der Altersschnitt liegt bei 30 Jahren. Die meisten haben Informatik studiert, es gibt 50 Ingenieure, aber dann eben auch Bauingenieure, Archäologen und Geisteswissenschaftler, die man bewusst zusammen gewählt hat, um am Puls der Zeit zu arbeiten. Was nicht nur bei der dotSource auffällt, ist, Kunden aus Thüringen sind sehr rar. Die dotSource hat in Thüringen einen und in Sachsen zwei Kunden. Hier gibt es noch keine großen Händler, keine großen Verlage,

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keine Markenartikler oder Hauptsitze von Konzernen. In der Realität bedeu­ tet das für Grötschs dotSource : » Egal, wo ich verkaufen muss, ich muss immer drei Stunden fahren. « Das Jena dabei an der sogenannten Perlenkette der Internetmetropolen Hamburg, Berlin und München liegt und Thüringen sich zunehmend zur wirklichen Mitte Deutschlands als Verkehrsknoten ent­ wickelt, ist hierbei von ungeheurem Vorteil. Vielleicht wird es eines Tages Filialen von dotSource außerhalb Jenas ge­ ben, aber » bis jetzt sind wir sehr erfolgreich damit, einfach die Arbeit hierher zu holen. Und wir stellen eher fest, dass Firmen hier nach Jena kommen. Sogar Onlinehändler kommen her, um vom hohen Fachkräftebestand des E-Commerce Personals vor Ort zu profitieren. « Damit das auch so bleibt, ko­ operiert dotSource in Jena umfangreich und gezielt mit der Universität und der Fachhochschule und in Eisenach und Gera mit den Berufsakademien, von wo man derzeit sechs Studenten im Betrieb hat. Im Jahr lässt man durchschnittlich zehn Diplomarbeiten schreiben, hat Werksstudenten aus der Uni im Betrieb und unterhält eine eigene Vorlesungsreihe zu E-Com­ merce an der FH. DotSource gehört auch zu den Stiftern einer Professur für E-Commerce an der Jenaer Fachhochschule, die ab dem Wintersemes­ ter 2013 / 2014 einen besonderen Studiengang für E-Commerce anbietet. Wenn die dotSource weiter wächst, kommt das mittlere Unternehmen aber unweigerlich an einen entscheidenden Punkt. Das weiß natürlich auch Grötsch : » Größere Agenturen haben mehrere Standorte ! « Eine unter den Firmen, die nach Jena gekommen sind, ist die godesys AG aus Mainz. Das Unternehmen hat Jena als zweiten Standort für seine Ent­ wicklungsabteilungen gewählt. Der Schein des Besonderen, dass ein west­ deutsches Unternehmen mit seiner Entwicklungsabteilung in den Osten geht, relativiert sich aber schnell im Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzen­ den Godelef Kühl. Wo man früher häufiger von einer Phobie vor dem Osten hören konnte, herrscht heute bei den Unternehmen der Branche Anerken­ nung und Vertrauen in die Leistungen aus Jena. Was zählt sind die Vorteile, die ein Standort bieten kann. Und die sind in Jena eindeutig im Bereich der hochqualifizierten Fachkräfte angesiedelt. Die godesys findet hier die Entwickler und Programmierer für ihre individuellen Enterprise-RessourcePlanning Lösungen. Dabei geht es um die Gestaltung von Geschäftsprozes­ sen in mittelständischen Unternehmen und weniger um Online Shops. Ex­ pandieren und Filialen gründen ist für die godesys aber auch der Weg zum Ziel. Die Firma hat neben dem Hauptsitz Mainz Standorte in Dortmund, Hannover, Jena, München, Villingen-Schwenningen, der Wiener Neustadt

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und im schweizerischen Glattbrugg. Diese europäische Region, die auch als D-A-CH bekannt ist, bildet dann auch die Städte ab, mit denen Jena in direkter Konkurrenz steht und zeigt den Rahmen, in dem man konkurrenz­ fähig bleiben muss. Bei der godesys will man nah beim Kunden sein, den man intensiv und lange an sich bindet, denn das sich technologisch schnell entwickelnde Produkt bedarf als Dienstleistung ständiger Betreuung und individueller Anpassung im Geschäftsprozess des Kunden. Diese intensive Betreuung wird auch die Zukunft im Tagesgeschäft der E-Commerce An­ bieter sein, wie wiederum die Entwicklung von dotSource hin zur Agentur belegt. Damit einhergehend werden die Jenaer Unternehmen auch ihre Fi­ lialen bauen und mit ihrer Technologie weiter in Geschäftsbereiche wie der Unternehmens­ressourcenplanung expandieren müssen. Das Beispiel der AGETO Holding AG zeigt das sehr gut auf. Trotz aller Konkurrenz hat sich in Jena übrigens die positive Atmosphäre des kollegialen Austauschs untereinander erhalten, die nicht nur Grötsch sehr schätzt : » Man kennt sich ja untereinander sehr und man hat auch viele Ideen einfach beim Bier in der Wagnergasse. «

AGETO Holding AG

» Ich bin in Jena geboren. « Wenn man im Zentrum Jenas die Goethe Galerie Richtung Süden verlässt, liegt der Jentower hinter einem. Und wenn man sich immer weiter auf einen Spaziergang durch die schönen Wohnviertel der Stadt mit ihren Grün­ derzeit- und Jugendstilbauten und Beispielen der neuen Moderne einlässt, kommt man an den frisch renovierten Gebäuden der Ernst-Abbe-Fachhoch­ schule mit ihren Abteilungen und Forschungslaboren vorbei. Noch impo­ santer wird es im Anschluss gleich dahinter. Hier ist der Sitz von Carl Zeiss Jena. Alte und neue Arbeits- und Forschungsgebäude der Weltfirma bilden ein riesiges Werksareal. Linkerhand liegt dann ein weiteres Großwerk, die Firma für technische Gläser, die eng mit Zeiss’ Weltruhm verbunden ist und ihn mit seinen eigenen Produkten selbst genießt : SCHOTT. Um zum Sitz der AGETO Holding AG zu kommen, bedarf es aber noch ein paar weite­ rer Schritte nach Süden. Auf dem großzügigen Beutenberg Campus mit­ ten unter den renommiertesten Laboren für Physik, Optik, Biomedizin und Infek­tionsforschung findet man die AGETO im Gebäude des Bioinstrumen­ tezentrums. Hier fand man bezahlbaren Platz im aufgrund seiner Tallage mit Wohn- und Geschäftsräumen nicht üppig ausgestatteten Jena.

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Sascha Sauer muss nicht bei jedem Trend mitmachen. Der Vorstand der AGETO Holding AG setzt mit seiner langjährigen Erfahrung auf ein reifes Produkt und langfristige Bindung der Kunden. Er beobachtet den sich rasch entwickelnden Markt, aber es ist sein langer Atem in Verbund mit hohem Qualitätsanspruch, der die Firmenphilosophie ausmacht. Sauer fällt es nicht schwer zu antworten, wenn man ihn fragt, warum er in Jena arbeitet und lebt : » Ich bin in Jena geboren. « Noch während seines Studiums in Ilmenau gründete er seine erste Firma und ging damit nach dem Studienabschluss 1995 als Subdienstleister für Intershop nach Jena. Und diese Entscheidung für das Geschäft hat noch mehr Gründe als die Liebe zur Geburtsstadt : » An Jena hängt schon mein Herz; eine tolle Stadt. Es gibt viele positive Ecken und viele positive Sachen zu berichten : viele Leistungen, die hier entwickelt wurden und diese Verzahnung von Wirtschaft und Wissenschaft, die man hier findet, ist ganz einzigartig. Die Leute sind in Jena irgendwie leistungsbereit. Wenn man Kultur haben will und Spaß, dann gibt es sicherlich andere Städte, wo man hingeht in Thüringen oder in Mitteldeutschland, Weimar ist ja nicht weit weg, aber Jena ist zum arbeiten da, das spürt man eigentlich. « Und wie man das spürt. Ende 1997 kann Sauer seine Firma verkaufen und profitiert vom prächtigen Wachstum der Branche. Doch 2000 ging es dann » ab ins Tal der Tränen. « Nachdem die Dotcom Blase geplatzt war, suchte man die Zukunft. Und Sauer gehört ge­ wiss zu denjenigen, die aus diesem Sturz Entscheidendes für ihr heutiges Unternehmen gelernt haben : » Am Ende bewahrt einen das vor einer Blauäugigkeit. « 2003 wird AGETO gegründet, ist seitdem gewachsen und hat sein Angebot angepasst und verändert. Das liegt aktuell vor allem an den Kunden, die viel mehr über die Möglichkeiten von IT für ihr Unternehmen wissen. Heute wird nur noch Internettechnologie gekauft. Andere Konzepte sind im Grunde passé. Vor fünf Jahren lautete die Frage überall : » Wie kann Internet uns helfen ? « Heute unterhält man sich anders und geht direkt zum Dienstleister und fordert : » Okay, reden wir über das nächste IT Projekt. « Diese Entwicklung hat auch die AGETO verändert. Die 15 Jahre Internet Er­ fahrung aus dem E-Commerce Bereich ihres Gründers verknüpft die AGETO nun schon mittlerweile seit 5 Jahren mit SAP Erfahrung. Um in der Unter­ nehmensressourcenplanung weiter Fuß zu fassen, beschäftigt man gezielt auch Mitarbeiter, die ihre Erfahrung aus 15 bis 20 Jahren Arbeit mit SAP Lö­ sungen einbringen. Die SAP Beratung bietet AGETO häufig den Einstiegs­ punkt in die Unternehmen der klassischen Industrie, die dann auch auf die Möglichkeiten des E-Commerce stoßen. Sauer bezeichnet diese spezifische

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Kombination als » AGETOs Sweet Spot. « Beherrscht man die zwei Sprachen Internet und SAP, kann man mit voller Bandbreite aus der Wertschöpfungs­ kette antworten : » Manchmal haben wir auch eine E-Commerce Anfrage, die sich anders entpuppt : dann ist es doch ein Lagerverwaltungssystem, das gebraucht wird. « Mit dem Dienstleistungsmix hält sich die AGETO einer­ seits auf ihrem ursprünglichen Markt. Der Versandhandel hat E-Commerce schon längst integriert. Über 85 % wird über das Internet verkauft. Auf die­ sem konsolidierten Markt geht es für den E-Commerce Dienstleister um die fortlaufende Optimierung und Aktualisierung der Systeme beim Kunden, um Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und zu erhalten. AGETO ist dabei in Österreich, in der Schweiz und Deutschland u. a. für Otto, Hermes, Bosch, Philips und Douglas tätig. Es geht um Effizienz, Schnelligkeit und Perfor­ mance der angewandten modernen Technologie. Anders sieht das bei Her­ stellern von Produkten aus, die E-Commerce noch entdecken und ganz viel Beratung brauchen. Das ist in Deutschland der klassische Mittelstand. Im industrie- und fertigungsnahen Bereich steckt E-Commerce noch in den Kinderschuhen. Auf diesem Markt gilt es, weiter Fuß zu fassen. All das kann und will die AGETO nicht mehr nur mit Mitarbeitern aus der Region leisten. Natürlich kommen viele Mitarbeiter aus der Region, darunter viele Jenaer, aber man hat auch Leute aus Berlin und München hierhin eingestellt oder » alte Thüringer « als Mitarbeiter zurückgeholt, und man findet unter den 65 Kollegen in Jena inzwischen einen Spanier und einen Ecuadorianer. Das fachspezifische Wissen ist eben global verteilt, und wenn man auf Quali­ tät setzt, dann muss man auch überall suchen und bereit sein, dafür relativ viel Geld auszugeben, dass die Leute dann auch nach Jena kommen. AGETO setzt auf solide und erfahrene Mitarbeiter und das verändert nicht nur die Mitarbeiterstruktur des Unternehmens : » Mitarbeiter, die aus zehn Jahren Erfahrungsschatz aus anderen Projekten gestandene Beratungen abliefern können, die sind hier in Jena mittlerweile genauso schwer zu finden und zu bekommen, wie überall sonst in Deutschland und da muss man drauf reagieren. « Damit sich diese hohen Anforderungen auch möglichst reibungslos in einer hohen Kundenzufriedenheit niederschlagen, hat AGETO seine Nieder­ lassungen mit zwölf Mitarbeitern in Bielefeld, drei Leuten in Frankfurt am Main und sechs Beschäftigte in Leipzig bestellt. Die direkte Nähe zum Kunden ist immer noch der entscheidende Vorteil im Betriebsprozess und der Projektabwicklung. Andererseits weiß man auch bei AGETO nicht nur

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um die enormen Kostenvorteile durch das » Remote Consulting «, das die Verfügbarkeit der Technologie in der Cloud eingeführt hat. Nicht nur der Kosteneffekt auf wegfallende Reise-, Tages-, und Hotelkosten ist enorm attraktiv für die Kunden, auch die Mitarbeiter sind zufriedener, da sie ihr Privat- und Familienleben durch den Job weniger belasten und somit bei guter Laune und Kreativität bleiben. Ein gutes kreatives Arbeitsumfeld ist ein Wert, den Sauer über alles schätzt. AGETO betreut deutschlandweit große und kleine Kunden. In Thüringen hat man jedoch nur ganz wenige. Man zählt drei Kunden in Jena und einen in Erfurt. Aber die noch bestehende Schwäche im Versandhandel der Region Erfurt-Weimar-Jena wird bald etwas ausgeglichen werden. Der Elektronik Online Händler Redcoon und auch einer der umsatzstärksten deutschen Onlineshops, Zalando, bauen in Erfurt ihre neuen Logistikzentren ebenso wie der Buchgroßhändler KNV. Arvato hat in Halle sein E-Commerce Logis­ tikzentrum und DHL sitzt in Leipzig. Daran kann man sehen, was hier an konkretem E-Commerce funktioniert. Die im März 2013 vorgestellte Poten­ tialstudie E-Commerce in Mitteldeutschland weist derzeit eine Beteiligung in dreistelliger Höhe auf. Das lässt schon jetzt auf repräsentative Schlüsse ziehen, die zu einer neuen Einordnung der länderübergreifenden Region Leipzig-Halle-Jena-Erfurt führen werden. Es führt aber nicht zu hochquali­ tativen akademischen Arbeitsplätzen auf Weltniveau, die AGETO durchaus zu bieten hat und sich auch leistet. Sicherlich, Sauer begrüßt die Investitio­ nen in Halle, Leipzig und Erfurt für die Region. Er wünscht sich aber eine Politik und Banken, die auch viel mehr in Bildung und akademische Arbeits­ plätze investieren, um Prozesswissen und intellektuelle Leistungen zu stüt­ zen. Die Kreativität zu besitzen, um alles immer schneller und besser und genauer zu machen : » Das trifft sich eigentlich in Software ganz gut. « Darin liegt die Chance für Deutschlands Zukunft. 2009 erwarb die AGETO eine Firma, die E-Commerce und E-Government anbietet. Da beide Portalideen auf den gleichen Technologien fußen, ist es eigentlich naheliegend, dass man als Onlineshop Entwickler seine vor­ handene Technologie auch zum Herstellen von E-Governmentportalen einsetzt. AGETO macht das, aber : » das ist eine kleine Nische, in der wir da sind. « Konkret baut man an Fördermittelportalen, die vom Antrag über die Zuwendungsverteilung, das Monitoring bis hin zum Reporting (das ist der gute alte Verwendungsnachweis) alles elektronisch abwickeln. Das Problem für die Anbieter ist, dass es als Geschäft immer nur im Rahmen der Zyklen, Laufzeiten und Fristen der öffentlichen Fördermittel und damit

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eher selten funktioniert. Investiert wird aber auch in den neuen Personal­ ausweis. AGETO hat eine Infrastruktur zum Auslesen dieses » behördlichen Dokuments mit elektronischer Identität im Bauch « entwickelt. Hieraus las­ sen sich interessante Geschäftsmodelle ableiten, die sich an Kommunen, Krankenkassen, Banken und Versicherungen wenden. Die Zurich Versiche­ rung benutzt das System bereits für ihre eigenen Makler. Im Bereich der E-Partizipation hat sich das leider noch nicht etabliert. Es gibt bisher vor allem Ideen, wie z. B. in Jena Bürgerbeteiligung digital voran getrieben wer­ den könnte : » dafür wäre der Ausweis ideal. « Als Vorsitzender im Aufsichtsrat der TowerByte e. G. kristallisiert sich Sauers ausgeprägtes gemeinschaftliches Engagement in einer festen Ab­ sicht für die heute 28 unter dem Dach der Genossenschaft im Jentower gebündelten Unternehmen. Aus dem 2010er Arbeitstitel Softwarecampus Jena ist mittlerweile das sehr konkrete Projekt IT Paradies geworden : » Wir wollen ein Haus bauen als Identifikation, auch für die Mitarbeiter, ein eigenes Gebäude. « Bisher war man überall immer nur in fertigen Räumlichkei­ ten eingemietet. Jetzt soll in einer Traumkulisse am Hang über der Saale ein gemeinsames Haus als gewolltes Abbild der digitalen Lebens- und Arbeits­ welt für die Software und E-Commerce Branche Jenas entstehen. Die An­ sprüche der einzelnen beteiligten Firmen hat man per Umfrage ermittelt. Eigentlich eine förderungswürdige Sache mit Strahlkraft für Stadt und Re­ gion. Doch die Realisierung gestaltet sich vor allem wegen der noch offenen Finanzierung schwierig. Aber so ist das Los der Branche : » wir haben keine Anlagen, wir haben keine Maschinen. Wir haben nur die kreativen Köpfe. « Und das erscheint heute für eine Bank überhaupt nicht belastbar. Dennoch, das Grundstück am Felsenkeller ist erworben, die technischen Zeichnungen zeigen ein hochmodernes Architekturkonzept, das auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter eingeht und architektonisch genau den Grad an Flexibilität auf­ weist, um sowohl mittlere wie auch kleine und kleinste Unternehmen nicht nur gemeinsam unterzubringen, sondern schon rein räumlich in Kommuni­ kation zu schalten. Sauer ist dieser Bau, diese Heimat für die Branche, eine Herzensangelegenheit : » Die Finanzierung ist schwierig. Ich hoffe, dass ich das hin kriege ! « Der Weg zurück fällt leicht, denn der Jentower weist stets den Weg ins Zentrum. Dort angelangt steht man dann vor einem schönen alten Wohn­ haus und fragt sich, ob man sich nicht doch in der Adresse geirrt hat. Aber die Tür öffnet sich und die wilden Blitze eines Fotoshootings zucken durch den Flur. Später löst sich das Rätsel, denn wenn diese Jenaer Online

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Handelsfirma ihr Logo auf die Klingelschilder schreiben würde, dann müss­ ten ständig ein paar Mitarbeiter runter an die Tür gelaufen kommen und Sticker an die Fans verteilen.

Aus der WG gegründet : SK8DLX

» Weil ich zum Studieren nach Jena gekommen bin, eigentlich und dann hier hängengeblieben. « Man kann dem Charme dieses Unternehmens einfach nur erliegen : Chris­ toph Hartleib fing als Informatikstudent in seinem Jenaer WG-Zimmer nebenbei an, Skateboardbedarf im Internet bei Ebay zu handeln. Der Hob­ byskater Hartleib hatte hier sehr schnell eine enorme Nachfrage feststellen können. Auf der Basis eines Open-Source-Programms richtete er sich 2004 seinen eigenen Online Shop ein. Nach einem Jahr hatte er sich Einkauf, Versand, Kundenservice und Buchhaltung selbst beigebracht. Quasi aus der Wohngemeinschaft heraus gründete er sein eigenes Online Handels­ unternehmen und mit Hilfe seiner Kommilitonen, Freunde und Familie, dabei angebunden auch an die TowerByte e. G., bewerkstelligte der Infor­ matiker alles. Aus dem Skateboard fahrenden Informatikstudenten wurde ein Geschäftsführer mit Informatik-Diplom. Christoph Hartleib stammt aus dem Eichsfeld : » Ich seh jetzt keinen großen Vorteil zu Berlin. Ich bin zwar oft in Berlin arbeitsmäßig, aber das ist einfach nicht so naturnah, nicht so spannend. Man hat auch nicht mehr als hier, man muss dort auch eine Stunde fahren, ehe man irgendwo ist. In einer Stunde ist man auch in Leipzig oder Erfurt. « 2006 / 2007 drehte sich die Sache und Hartleib realisierte, dass er mit dem » etwas Sinnvolles nebenbei machen « längst zu einem hauptberuf­ lichen Geschäftsführer geworden war : » Verantwortung für so viele Leute zu haben, ist eben etwas anderes als ein Stück Software zu schreiben. « Das Studium geschah jetzt nebenbei, er legte Urlaubssemester ein und besann sich 2009 schließlich doch noch, seine Diplomarbeit bei Intershop zu schrei­ ben. Andere hielten nicht so lange durch und einige seiner Mitstudenten sind heute seine Mitarbeiter. Nicht wenige darunter sind Lehramtsstuden­ ten, Soziologen, Ernährungswissenschaftler, Biologen. Ein paar haben ihr Studium für den Job bei Skatedeluxe an den Nagel gehängt : » teilweise haben die ihr Studium abgebrochen, arbeiten immer noch hier, weil es ihnen mehr Spaß macht zu arbeiten, als ihr Studium zu verfolgen. Die sind auch hängen geblieben ! «

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Die Wohnungsgemeinschaft gibt es nicht mehr, aber ihr inspirierender freier Geist, der das Individuum in der Gemeinschaft schätzt, hat sich auf den vier Etagen des Jenaer Firmensitzes erhalten. Aus dem Wohnhaus im Herzen Jenas ist die wohl bunteste und musikalischste Firma Jenas gewor­ den. Hier muss arbeiten Spaß machen. Sämtliche Abläufe von Programmie­ rung über Produktfotografie und Katalogerstellung, Einkauf, Verkauf, Mar­ keting und Vertrieb, selbst der Kundenservice am Telefon hat sein eigenes Zimmer, das sich die gestalten, die darin arbeiten und eben auch ihre Musik hören. Das ist wahrlich einmal eine moderne Arbeitswelt. Die jungen Ideen sind hier im Betrieb umgesetzt : » Es gibt Abteilungen und die können das eigentlich ziemlich frei gestalten. Das sind viele kritische Leute, Leute direkt von der Uni, die gute Ideen haben und diese auch eingebracht haben und dann ist es so gekommen, wie es gekommen ist. « Die Mitarbeiter fühlen sich pudelwohl. Überall stehen die Türen offen. Hier gibt es kein typisches Bürofeeling und niemand braucht eine spezielle Kleiderordnung. Der Kon­ zentration auf die Tätigkeit tut das keinen Abbruch. Der Erfolg und der Um­ satz belegen, dass Hartleib damit auf dem goldrichtigen Weg ist. Natürlich bringt die spezifische Handelsware hier den Lifestyle der Skaterszene mit ins Haus. Die bewusste Entscheidung dafür, das in der Firma auch leben zu können, geht voll auf. Dennoch, Hartleib ist dem sich um alles Kümmern treu geblieben. Seine Online Handelsseite basiert komplett auf eigener Pro­ grammierung und unterliegt der ständigen Entwicklungsanpassung durch firmeneigene Programmierer. Dass die neuen Technologien die Kraft haben, den guten alten Begriff vom Familienbetrieb ganz von der anderen Seite her zu definieren, das be­ legt das Beispiel Skatedeluxe eindrucksvoll. 2005 wuchs das Tagesgeschäft von Christoph Hartleibs Gründung derart, dass ihm seine Mutter die Buch­ haltung abnahm und die elterliche Garage im Eichsfeld zum Versandlager umfunktioniert wurde. Hier wurde nichts vererbt. Der Sohn hatte die Fami­ lie erfolgreich ins Geschäft gebracht. 2008 musste man einen alten Super­ markt mit 800 m ² Fläche anmieten, um die Versandlagerkapazität im thü­ ringischen Schimberg zu erweitern. Schon 2009 reichte auch das nicht mehr richtig aus und Ende 2010 musste man dann in größere Räumlichkeiten nach Eschwege ins benachbarte Hessen ausweichen. Dort stehen der Logistik, Re­ tourenabteilung und Buchhaltung 2.500 m ² auf zwei Ebenen zur Verfügung. Diese waschechte Thüringer Erfolgsgeschichte ist heute ein Betrieb mit 60 Mitarbeitern in Jena und 40 Mitarbeitern im Versandlager in Eschwege und macht 20 Millionen Euro Umsatz.

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Bei alledem ist vielleicht die größte Besonderheit, dass dieses Jenaer Unter­ nehmen sein Onlinehandelssystem komplett selbst entwickelt hat. Sowohl die Warenwirtschaft, das Logistiksystem als auch der Shop sind Eigenent­ wicklungen, die die neun festen Skatedeluxe Programmierer ständig wei­ terentwickeln. Auch darum hat sich Hartleib zunächst noch selbst geküm­ mert, aber : » seit zwei drei Jahren mache ich eigentlich aktiv nichts mehr an Programmierung. « Er ist aber zu Recht stolz auf seine Unabhängigkeit. Als Informatiker weiß er genau, dass das Problem der Anpassung des Sys­ tems, wenn man eines einkauft, die größte Herausforderung darstellt : » Wir haben da noch kein System gefunden, dass uns so sehr gefallen hat, um sagen zu können › okay wir geben das selbst entwickelte auf und machen uns abhängig von jemandem. ‹ Das ist auch ein Stück Flexibilität, das man sich erhalten hat. « Deutschland und Österreich sind der momentane Hauptabsatzmarkt : » In Deutschland haben wir einen bestimmten Kundenstand erreicht und es gibt keine Mitbewerber, die uns das Leben schwer machen. « Die komfortable Position im konsolidierten Markt lässt Hartleib aber nicht stehen bleiben. Im Gegenteil, die Seite ist mittlerweile auch englischsprachig und das Er­ schließen weiterer Nachbarmärkte in Europa ist fest eingeplant. Hier spricht der Vollblutunternehmer aus dem skateboardenden Diplominformatiker : » denn dann macht das keinen Spaß mehr, wenn man nicht mehr wächst und keine Kunden mehr dazu bekommt. « Natürlich denkt man auch über die Verbreiterung der Angebotspalette nach, aber da bleibt man bei Skate­ deluxe zunächst dem puren Boardsport treu : Longboarden, Snowboarden und Skateboarden bleiben angesagt. Marketing und Werbung kann hier mit Besonderheiten auftrumpfen, die manch ein anderes Unternehmen neidisch machen könnte. Die große Ver­ bundenheit zur stadt- und deutschlandweiten Skaterszene zahlt sich aus. Es ist nur eine logische Konsequenz, dass man Skatehallen in Berlin, Ham­ burg, Aurich und Kassel unterstützt : » Die meisten Kunden haben wir nicht in Jena, die meisten Kunden haben wir in einer größeren Stadt, da kommen auch die meisten Kunden von uns hin, die uns dann einfach da sehen. « Denn Skatedeluxe sponsert seine eigenen Skate- und Snowboardteams : » Das gehört dazu, dass man Leute hat, die das auch auf der Straße präsentieren. Wir haben einen eigenen Blog und Teamfahrer, die in Deutschland unterwegs sind, Videos drehen, Veranstaltungen machen, präsent sind; Fahrer von denen die Kids Tricks lernen können, die Vorbilder sind. « Auf sol­ che Veranstaltungen lädt man auch sehr gerne Szenecracks aus den USA

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ein. Das oder eben auch wie das letzte Fotoshooting abgelaufen ist, kann man dann als Videoclip im Netz anklicken und sehen. Hartleib hat sich nie davor gescheut Kreativleistende gleich fest anzu­ stellen und in den Betrieb zu integrieren. So hat er z. B. für Produktfotogra­ fen Arbeitsstellen geschaffen, anstatt ständig Aufträge an Freischaffende vergeben zu müssen. Nur Drehaufträge für Team- und Veranstaltungs­ videos und eben das Skateteammanagement sind in Auftragshand. Und überhaupt die Fotos. Bei Skatedeluxe wird jedes Produkt eigens in Szene gesetzt. Jedes Textilteil wird komplett individuell abgelichtet : » Und die Models sind Leute, die hier aus Jena kommen und im Katalog erscheinen wollen, umsonst. Sodass sie in der Schule und im Freundeskreis sagen können, sie sind auf der Seite drauf. « Die E-Commerce- und Versandhandelsbranche hat den Erfolg von Hart­ leibs Firma natürlich registriert. Und lässt man Revue passieren, was da alles an Kreativität und in Zahlen in den vergangenen Jahren entstanden ist, ist es eigentlich kein Wunder, dass der Bundesverband des Deutschen Versand­ handels den » Young Business Award 2011 « an Skatedeluxe verliehen hat.

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Innovationskatalysator Kreativwirtschaft Der Mittelstand auf dem Weg zu modernen Wettbewerbsstrategien Sebastian Olma

Was kommt nach der Industriegesellschaft ? Auf diese eng mit dem politi­ schen Diskurs zur Kreativwirtschaft verknüpfte Frage gibt es als eine mögli­ che Antwort : eine kleinteilig-kreativere Art von Industriegesellschaft. Denn zumindest im europäischen Raum gibt es bereits einen anhaltenden säku­ laren Trend der Schrumpfung innerhalb des sogenannten Corporate Sector. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Klar ist jedoch, dass die auf Industrieund Massenproduktion formatierten Großstrukturen zumindest in ihrer derzeitigen Form nur bedingt überlebensfähig sind. Die wissenschaftliche Forschung spricht nicht ohne Grund bereits seit längerem von aufkommen­ den Netzwerkstrukturen, welche die zunehmend entscheidend werdenden Produktionsfaktoren Wissen und Kreativität weitaus besser verwerten können als traditionelle Industriestrukturen (vgl. Castells 1996, Benkler 2006, Lessig 2008). Für Standorte wie etwa Thüringen lässt sich vor diesem Hintergrund mit Blick auf die dort vorfindbaren Wirtschaftsstrukturen sogar von einem Standortvorteil sprechen, da es kaum industrielle Großstrukturen gibt, die den Weg in die wirtschaftliche Zukunft verbauen könnten. Allerdings be­ deutet die Abwesenheit derartiger Hürden allein keineswegs die automa­ tische Aussicht auf Modernisierungserfolg. Dazu müssen die Wertschöp­ fungsnetzwerke, in denen sich der Mittelstand derzeit bewegt, dringend erneuert und auf das Niveau des 21. Jahrhunderts gehoben werden. Die ein­ zelnen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) müssen agiler werden, ihre Netzwerke heterogener und die allgemeine Orientierung erheblich of­ fener und kreativer. Die Aufgabe für die Zukunft wird darin bestehen, das, was die Bauhaus­ gründer vor fast 100 Jahren als Werkgemeinschaft erfanden – die Koopera­ tion aus Künstler, Kaufmann und Techniker – für das digitale Zeitalter und die damit einhergehenden Produktionsstrukturen und Produktionsmög­ lichkeiten neu zu bestimmen. Kreativität ist dabei eine wichtige Ingredienz jeder zeitgemäßen Form des Wirtschaftens und in Form der Kreativwirt­ schaft inzwischen eine feste Größe auch im wirtschaftspolitischen Diskurs.

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Tatsächlich handelt es sich bei der Kreativwirtschaft um einen Wirtschafts­ sektor, der zunächst aus wirtschaftspolitischen Gründen ins Leben gerufen wurde (Olma 2010). Konkret geht es dabei um den Versuch, Bereiche der Ökonomie, in denen die Wertschöpfung vor allem auf der Basis von intel­ lektuellem Eigentum stattfindet, zu einem Wirtschaftszweig zusammen­ zufassen (Lash / Urry 1994, Rossiter 2007). Die Motivation hierzu hat Mark Getty in dem Satz » Intellektuelles Eigentum ist das Öl des 21. Jahrhunderts « auf den Punkt gebracht. Wie sich dabei mittlerweile herausstellt, folgt die Verwertung intellek­ tuellen Eigentums anderen Gesetzen, als beispielsweise die Verwertung fossiler Brennstoffe. Denn intellektuelles Eigentum ist keine Ressource, die ohne weiteres zu Tage gefördert werden kann (Drucker 1969). Intellek­ tuelles Eigentum ist im Kern nichts anderes als wertvolles Wissen. Umso wichtiger wird es, Strukturen zu schaffen, die systematisch Kreativität in den ökonomischen Kreislauf einspeisen. Solche Strukturen werden sich wesentlich von denen der überkommenen industriellen Ökonomie unter­ scheiden (Shirkey 2010, Hippel 2005) und damit den eingangs skizzierten Wandelungsprozess jedenfalls mit motivieren und verstärken. Denn wie die Innovationsforschung in den letzten Jahren immer wieder zeigt, wird intel­ lektuelles Eigentum dort geschaffen und effektiv verwertet, wo die Arbeitsund Unternehmensstrukturen systematisch Räume für das Zusammentref­ fen heterogener Produktionsfaktoren öffnen (Lester / Piore 2004, Olma 2012). Mit anderen Worten, die Innovationspraxis eines Unternehmens ist immer dann effektiv und nachhaltig, wenn sie sich durch ihren disruptiven Charakter auszeichnet (Christensen 2003, Pine / Korn 2011). Dahinter steht die Erkenntnis, dass Unternehmen mit nachhaltigen Innovationserfolgen nicht nur ihren unmittelbaren Markt im Blick haben, sondern in der Lage sind, sehr weitläufige Beobachtungen ihres technologischen, kulturellen und organisatorischen Umfeldes in relevante Innovationsimpulse umzu­ wandeln (Clippinger 1999). Unterschieden werden kann diesbezüglich zwischen » explorativer « und » exploitativer « Unternehmenslogik (Lester / Piore 2004). In der industriel­ len Massenökonomie neigte die Gewichtung innerhalb dieses Dualismus stark zur Seite der exploitativen Logik : die Produktion musste schnell, preis­ wert und funktional vonstatten gehen. Forschung und Entwicklung (F & E) als eine der noch immer tragenden Säulen im überkommenen Innovations­ verständnis wird punktuell und top-down in den Produktionsprozess ein­ geleitete und dominiert die Innovationswahrnehmung.

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Im Zeitalter der Wissensökonomie verändert sich allerdings die Balance zugunsten der explorativen Logik : Qualität und Preis materieller Produkte bleiben wichtige Faktoren, treten jedoch als entscheidende Wettbewerbs­ merkmale zurück (Pine / Gilmore 1999, Schulze 1992). Stattdessen geben die sogenannten immateriellen, kognitiven, ästhetischen Dimensionen in der heutigen Ökonomie immer öfter den Ausschlag für den Erfolg oder das Scheitern von Produkten und Diensten (Howkins 2001, Lazzarato 2002). Für die Unternehmen gestaltet sich die notwendige Neuorientierung in Richtung Exploration allerdings offenbar schwierig, wie sich in der Praxis 1 zeigt  (Olma 2012, Pine / Korn 2013). In diesem Sinne ist die Suche nach potentiellen Schnittstellen zwischen mittelständischen Unternehmen traditionell-industrieller Prägung und der » Kreativwirtschaft « eine der vielleicht wichtigsten Herausforderungen, vor der Europa und dabei insbesondere die von kleinteiligen mittelständi­ schen Strukturen geprägte Regionen wie Thüringen gesamtwirtschaftlich gesehen heute stehen. Denn innerhalb der Kreativwirtschaft – vor allem in deren sogenannten » superkreativen Kern « – zeigt sich ein starker Hang zur explorativen Logik im Wertschöpfungsprozess, auf die es künftig ver­ stärkt ankommen wird (Florida 2000, Friebe / Lobo 2006). Im Gegensatz zu den traditionellen Wirtschaftssektoren wird innerhalb der Kreativwirt­ schaft das Gewichtungsproblem Exploration / Exploitation geradezu mit umgekehrten Vorzeichen versehen. Disruptives Innovationsdenken besteht tendenziell im Überfluss, während es an der exploitativen Umsetzung – mithin der Überführung von Ideen in betriebswirtschaftlich nachhaltige Unternehmensstrategien – in Teilen hapert. Ein wichtiger Grund hierfür liegt auch darin, dass in einigen Teilmärkten der Kreativwirtschaft viele Akteure ihren › Platz ‹ oder ihre › Rolle ‹ innerhalb des gesamtwirtschaftlichen Gefüges erst noch finden müssen. Ein Problem, mit dem sich Kreativunternehmer dabei regelmäßig konfrontiert sehen, ist, dass die überkommene, auf industrielle Massenproduktion gerichtete Infrastruktur (einschließlich klassischer Bürogebäude, Businessparks, etc.), der für den kreativen Wertschöpfungsprozess lebenswichtigen Heterogeni­ tät der Produktionsfaktoren keine Rechnung trägt (Mommaas 2004, Olma 2011). Dabei ist Raum nicht auf physische Faktoren zu beschränken. Mit der trendbewussten Umwidmung gründerzeitlicher Fabriken zu Kreativzentren 1 Dies ist übrigens nicht nur eine akademische Erkenntnis, sondern durchaus die Erfahrung aus unserer Beratungspraxis bei www.serendipity-lab.com

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ist noch gar nichts gewonnen. Maßgeblich ist vielmehr die Schaffung von Räumen – sowohl virtuell als auch physisch – für heterogene Produktions­ milieus, die in der Lage sind, die Konnektivität der sozialen Netzwerke konkret abzubilden und dabei Kooperation und Kollaboration in offenen Prozessen ermöglicht. Zu einem Schlüsselwort wird dabei der Begriff der Serendipität (Olma 2012, Hagel et al. 2010). Im Kontext der Kreativindustrie hebt dieser auf Mi­ lieus ab, in denen die Wahrscheinlichkeit des Entstehens unternehmerisch wertvoller Verbindungen hoch ist, wobei dieser Prozess in einem erheb­ lichen Maße nicht intendiert und damit auch nur in den Rahmenbedingun­ gen steuerbar abläuft (Howkins 2009, Nonaka 1991, Vogler et al. 2012).

Innovationen in mitteldeutschen KMUs In einer praktischen Analyse hat die Thüringer Agentur für Kreativwirt­ schaft mit Unterstützung des Thüringer Wirtschaftsministeriums im Jahr 2012 die Möglichkeiten und die tatsächliche Relevanz von Verbindungen zwischen Unternehmen des produzierenden Gewerbes und Unterneh­ mensdienstleistern aus der Kreativwirtschaft für den Standort Thüringen untersucht. Das Ausgangsbild war dabei nicht untypisch für die Situation des Mittel­ stands in Deutschland. Die einbezogenen Unternehmen weisen allesamt eine beachtliche Innovationshöhe im Kerngeschäft auf. Dennoch bleiben die Ausgaben der Unternehmen für Forschung und Entwicklung, in Bezug gesetzt sowohl zur Einwohnerzahl als auch im Hinblick auf die Innovations­ intensivität, in Thüringen wie in ganz Ostdeutschland deutlich hinter den jeweiligen Daten in den süd- und westdeutschen Bundesländern zurück (Thüringen 2012 : 14 f.). Mit Blick auf die Wirtschaftsförderung sind die An­ strengungen zur Überwindung dieser Kluft derzeit auf der Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und mittelständischen Unternehmen fokussiert. Was die Unternehmen selbst betrifft, so richten sich die Bemühungen im Bereich F & E sehr konzentriert auf den eigenen » Fachbereich «. Gleichzeitig sind sie stark technologisch orientiert. Was bisher leider noch fehlt, ist eine Strategie zur Einbeziehung kreativer Unternehmensdienstleistungen in den Innovationsprozess. Das auf die bisherigen eher konventionellen Bausteine aufbauende Inno­ vationsvermögen fußt somit auf einer soliden, aber zugleich recht begrenz­ ten Grundlage. Die sehr traditionelle Ausrichtung der Anstrengungen birgt

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dabei durchaus Gefahren für Dynamik und Nachhaltigkeit der zukünftigen Innovationsfähigkeit der mittelständischen Unternehmen. Dies artikuliert sich nicht zuletzt in einer Tendenz zur Selbstüberschät­ zung, die auf der unrechtmäßigen Verallgemeinerung der eigenen, sehr spezifischen Innovationsleistung beruht. Denn allein ein derzeitiger Markt­ erfolg auf der Basis technologisch innovativer Produkte und Dienste be­ rechtigt ein Unternehmen nicht zu Erfolgsprognosen. Mehr noch : Da der momentane Markterfolg beinahe ausschließlich auf der Produktqualität beruht, besteht in der Tendenz eine Gefahr fehlender Nachhaltigkeit der Innovationskraft. Denn hohe Produktqualität muss in der heutigen Wett­ bewerbssituation zwar als Grundlage gegeben sein, als alleiniger Wettbe­ werbsfaktor ist sie jedoch längst nicht mehr ausreichend. Vor allem in den Bereichen Marketing, Public Relations, Werbung und Gestaltung / Design besteht heute erst recht ein Handlungsbedarf. Hinzu kommt, dass die eingesetzten Innovationsmethoden und -instrumente zu einem guten Teil selbst nicht innovativ sind und in ihrer Begrenzt­ heit auf die bloß technische Neuerung wesentliche Anforderungen im Wettbewerb außer Betracht lassen. Insoweit befindet sich der Mittelstand tendenziell in einer Innovationsfalle, die sich aus dem Beharren auf die Restfunktionalität traditioneller Innovationsmechanismen und der unzeit­ gemäßen Engführung von F & E -Prozessen auf die technologischen Kern­ fragen der jeweiligen Unternehmen ergibt. Der häufig anzutreffende › Innovationskonservatismus ‹ spiegelt sich auch im Bild, das bei mittelständischen Unternehmen von den möglichen Leis­ tungen der Kreativwirtschaft vorherrscht. Hier steht noch häufig in einem engeren Sinne der Künstler als Synonym für die Branche. Das Interesse eines Kontakts zur Kreativwirtschaft beschränkt sich dann nicht selten auf die als inspirierend empfundene Aussicht, mit einem Künstler ein Glas Wein zu trinken oder im Unternehmen eine Kunstausstellung zu ermöglichen. Es fehlt dabei noch an Augenhöhe zwischen produzierendem Gewerbe und kreativen Unternehmensdienstlern und an einem Bewusstsein für die zu­ nehmend zentrale Bedeutung der › immateriellen ‹ Beiträge, die in Bereichen wie Marketing, Design, Branding etc. vor allem von den Unternehmen der Kreativwirtschaft erbracht werden. Im Folgenden sollen einige zentrale, aus der oben genannten Analyse abgeleitete Themen aufgegriffen werden, die wichtige Schnittstellen zwi­ schen produzierendem Gewerbe und kreativen Unternehmensdienstlern beschreiben. Dabei werden bestehende Beschränkungen identifiziert und

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angedeutet, wie durch deren Überwindung die Erfolgsaussicht von Inno­ vationen in kleinen und mittleren Unternehmen erhöht werden kann.

Environment scanning

Entgrenzung des Innovationsbegriffs Voraussetzungen für eine Steigerung des Innovationserfolgs ist zunächst die Entgrenzung des Innovationsbegriffs. Das beginnt beim in den Prozess einzubeziehenden Wissen selbst. Für Innovationen wird es künftig nicht mehr darum gehen, eine bestimmte Form von Wissen zu nutzen, sondern viele Formen des Wissens zu erschließen. Der österreichisch-amerikanische Management Experte Peter Drucker hat dies bereits vor fast drei Jahr­ zehnten formuliert (Drucker 1985 : 81). Heute bedeutet das nichts ande­ res, als dass die Organisation des Innovationsprozesses selbst, also die Art, wie die Antworten auf bestimmte Problemstellungen gefunden werden, zum entscheidenden Faktor wird. Mit Verfahren wie dem Design-Thinking (Plattner et al. 2009, Mareis 2011 : 186-191) stehen schon seit einiger Zeit Ansätze zur Verfügung, mit denen die Herausforderungen des Marktes in ihrem Gesamt­kontext wahrnehmbar und in den Prozess integrierbar wer­ den. Dabei geht es keineswegs darum, aktuelle Managementmoden zu übernehmen, sondern vielmehr darum, kreative, zeitgemäße und vor allem interdisziplinäre Lösungsansätze zu entwickeln. Dazu ist es dringend erforderlich, die bisher noch verbreitete branchen­ begrenzte Wahrnehmung der eigenen Marktposition aufzugeben. Im Zeit­ alter schneller, dynamischer Märkte ist die Installation von Beobachtungs­ systemen geboten, mit denen die gesamte Marktumgebung permanent betrachtet werden und das Erfordernis von Anpassungsentscheidungen frühzeitig erkannt wird. In der systemtheoretischen Innovationsliteratur ist in diesem Zusammenhang schon seit längerem von » Umweltbeobachtungs­ systemen « (environment scanning systems) die Rede (e. g., Clippinger 1999). Organisationen, die in der heutigen hochdynamischen Wettbewerbssitua­ tion erfolgreich sein wollen, sind dazu angehalten, sich als komplexe Ad­ aptionssysteme zu verstehen, die systematisch ihre Umwelt beobachten. Das zentrale Merkmal solcher Umweltbeobachtungssysteme heißt Nicht­ linearität. Im vorliegenden Kontext bedeutet dies, dass ein Unternehmen Innovationserfolge der Vergangenheit nicht linear in die Zukunft projizieren darf. Seit einigen Jahren verweist die Innovationsforschung verstärkt auf den disruptiven Charakter erfolgreicher Innovationsstrategien (einschlägig :

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Kim / Mauborgne 2005), die auf der Fähigkeit der Unternehmen zur Inte­ gration branchenfremder Entwicklungsimpulsen beruhen. Mit anderen Worten : Nachhaltige Innovationsfähigkeit bedeutet die Kunst, innova­ tionsrelevante Impulse in der weiteren Organisationsumwelt erfolgreich wahrnehmen zu können. Dringend neu zu justieren ist dabei die Bedeutung von Ingenieuren und Technologen in Innovationsprozessen. Im Schub der ersten industriellen Revolution wurden sie zu Symbolen des Wirtschaftssystems. Noch immer nehmen sie eine Gatekeeper-Funktion ein. Allerdings zeigt dieses Fachper­ sonal im Allgemeinen einen funktionalen Tunnelblick, der auf der techno­ logischen Seite von Innovation durchaus angebracht ist, der jedoch bei der Abschätzung relevanter Informationen aus der Organisationsumwelt das Gesichtsfeld einschränkt. Der Verweis auf die Überbelastung von Unter­ nehmen durch inadäquate Informationsmengen hilft hier nicht weiter, sondern belegt vielmehr die Notwendigkeit zur kooperativen Form zeitge­ mäßer Innovationsprozesse. Ein Zuviel an Information existiert dabei nicht. Vielmehr liegt die Herausforderung gerade darin, auch ICT / Social Media gestützte Umweltbeobachtungssysteme zu entwickeln, die relevante In­ formationen vom Rauschen trennen können. Solche Informationen dienen nicht zuletzt dazu, von Beginn an neben der technischen Lösung die Pro­ duktdifferenzierung im Prozess zu berücksichtigen. Diese erfolgt nicht nur über die äußerliche Form, sondern vor allem über die Handhabung und An­ wendbarkeit des Produkts. Und schließlich muss sich die Entgrenzung auf den Innovations­prozess selbst beziehen und die gesamte Breite von Faktoren erschließen. Es braucht dabei kein neues Verständnis von Innovation und auch keinen neuen Be­ griff. Zu überwinden ist vielmehr die auch in der Logik der Wirtschaftsför­ derung noch immer verankerte Fokussierung auf die rein technische oder technologische Dimension des Innovationsprozesses. Die notwendige Ent­ grenzung kann dann den Blick frei machen auch auf Organisationsformen, Kooperationsmodelle, soziale Faktoren, auf die Produktdifferenzierung zum Beispiel über Anwendungsmerkmale bzw. spezi­fischen Kundennutzen. Die Gewichtung bei der Ausgestaltung des Innovationsprozesses wird sich da­ mit auf die Organisation verlagern und dabei nicht zuletzt auf die Erreich­ barkeit und sinnvolle Einbeziehung von externen Kompetenzträgern aus der Kreativwirtschaft in möglichst offenen, die Lösungs­findung begünsti­ genden Innovationsstrukturen.

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The bigger picture

Von der Werbung zur Geschichte Zur Innovation gehört von Beginn an auch die Kommunikation. Auch hier ist eine Entgrenzung geboten. Denn Kommunikation beschränkt sich nicht auf bloßes Marketing und Werbung. Kommunikation erstreckt sich viel­ mehr auf die Gesamtheit eines modernen Produktionsprozesses. Die dafür zur Verfügung stehenden Experten aus der Kreativwirtschaft sind nicht nur Dienstleister, die nach Abschluss eines Entwicklungsprozesses dessen Ergebnis an den Markt kommunizieren sollen und damit zum Markterfolg beitragen. Sie können vielmehr schon zuvor als Mittler wirken und zwar von Marktinformationen in den Innovationsprozess hinein, mithin als Gestalter eines heute lebenswichtigen Informationsflusses zum Unternehmen hin. Mit Blick auf die derzeitige Unternehmenspraxis besteht im Bereich der Kommunikation jedoch eklatanter Handlungsbedarf. Im Marketing wird bei einem nicht unerheblichen Teil der Unternehmen resigniert, weil ledig­ lich auf die traditionellen Formen (beispielsweise der Werbung) referiert wird. Anstatt den Agilitätsvorteil eines mittelständischen Unternehmens auszuspielen, werden die Handlungsoptionen durch teilweise überzogene Erwartung an die eigene Leistungsfähigkeit blockiert (» Wir brauchen Fern­ sehwerbung ! «) und ausbleibender Erfolg nur auf einen zu geringen Marke­ tingetat zurückgeführt. Dabei lässt sich gerade für mittelständische Unternehmen eine Kommu­ nikationskultur unter gezieltem Einsatz von Social Media entwickeln. Hier besteht allerdings noch eine verbreitete Skepsis. Die dabei anzutreffende Einstellung, wonach direkter Kontakt mit dem Kunden wichtiger sei als Social Media Präsenz, gründet auf einem Mangel an Fachwissen bezüg­ lich des effektiven Einsatzes dieser neuen Kommunikationstechnologien. Richtig ist, dass beispielsweise das Anlegen einer Facebook-, Twitter- oder LinkedIn-Präsenz nicht mit dem Einrichten einer wirkungsvollen Kommuni­ kationsstrategie verwechselt werden sollte. Das Potential von Social Media entfaltet sich nur dann, wenn die neuen Kommunikationskanäle in eine ad­ äquate Kommunikationskultur eingebettet werden. Dabei bieten die sozialen Netzwerke im Internet einen besonderen An­ knüpfungspunkt für ein neues Verständnis von Marketing und Kommuni­ kation. Denn gerade weil die verfügbaren Etats mittelständischer Unter­ nehmen große Werbekampagnen nicht zulassen, können crossmediale bzw. transmediale Narrationen als zentrale Elemente des Marketings eingesetzt

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werden. Wenn, wie oben ausgeführt, nicht mehr nur die technischen Para­ meter für den Produkterfolg entscheidend sind, sondern ein Markterfolg mindestens ebenso von einer Produktdifferenzierung abhängt, gewinnen für solche Differenzierungen konsequent entwickelte Produktgeschichten an Bedeutung. Der Einsatz einer in dieser Hinsicht entwickelten Marketingstrategie er­ weitert auch den Kreis von Dienstleistern für die Kommunikationsprozesse über den Bereich der klassischen Werbung hinaus und verlagert vor allem den Zeitpunkt, in dem die Einbeziehung der Experten stattfinden sollte, weit nach vorne in den Entwicklungsprozess. Die Identifizierung und Aus­ wahl von Dienstleistern für einen solchen Prozess setzt wie für den eigentli­ chen Innovationsprozess den Zugang zu nicht abgegrenzten Milieus voraus, wofür der mittelständische Unternehmer seine bisher genutzten Struktu­ ren verlassen muss. Und nicht zuletzt muss ein neues Verständnis auch für die Dauer eines Kommunikationsprozesses erworben werden. Die Einsicht in das Erfordernis einer kontinuierlichen Strategie wird auch dabei neue stabile Formen der Kooperation mit kreativwirtschaftlichen Experten als Dienstleister mit sich bringen. In eine solche umfangreiche und durch alle Prozessebenen mit durch­ gesteuerte Kommunikationsstrategie sind dann auch die traditionellen Messebeteiligungen einzubeziehen. Fachmessen sind für mittelständische Unternehmen nach wie vor gute Katalysatoren für das Marketing neuer Produkte und Dienste, aber auch für das Aufnehmen von Trends – nicht zu­ letzt durch spezi­fisches Kundenfeedback. Die Nutzung solcher Fachmessen für den unternehmerischen Erfolg erfordert vom jeweiligen Unternehmen, die eigene Messe­beteiligung mit großer Ernsthaftigkeit vorzubereiten. Im 21. Jahrhundert bedeutet dies, dass die Präsentation auf der Fachmesse nicht mehr mit dem Drucken von Hochglanzprospekten beginnt und auch nicht beim Abstellen der Präsentationswände im betriebseigenen Konfe­ renzraum endet. Das punktuelle Ereignis Fachmesse muss vielmehr in ein permanentes Netzwerk der Kundenbindung und des Marketings integriert werden, während gleichzeitig eine Systematisierung der Marktumweltbe­ obachtung gewährleistet wird. Im Grunde finden auf der Messe die beiden Teile der Kommunikation – die nach außen gerichtete Produktgeschichte und die nach innen abzie­ lende Informationsvermittlung vom Markt in das Unternehmen – zusam­ men, so dass für die in den Innovationsprozess einbezogenen Partner auch

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Schnittstellen zum Messeauftritt geschaffen werden und vor allem die Informationskanäle in beide Richtungen funktionieren müssen. Der kooperative Charakter von Innovationsprozessen in kleinen und mittleren Unternehmen muss letztlich auch im Bereich der Kommunikation eigene Ausdrucksformen finden.

Design oder Nichtsein, das ist die Frage ! Die offenkundigste und ohne weiteres nachvollziehbare Schnittstelle zwi­ schen Unternehmen des produzierenden Gewerbes und der Kreativwirt­ schaft ist der engere Bereich des Produktdesigns, also Gestaltung und Formgebung. Obwohl diese Schnittstelle bekannt ist, » German Design « weltweit zur Marke wurde und gegenwärtig selbst asiatische Automobil­ konzerne ihre Designzentren gezielt in Deutschland ansiedeln, wird die essentielle Position von Design innerhalb der Wertschöpfungskette durch mittelständische Unternehmer in nicht geringen Teilen immer noch nur be­ grenzt verstanden. Dabei wird Design auf (äußere) Formgebung reduziert und als Kostenposten abgewogen. Design wird so zu einer reinen ästheti­ schen Kategorie, die für das Produkt nützlich sein kann, im Zweifel aber ver­ zichtbar ist. Die Bereitschaft zum Verzicht auf Gestaltung steigt, je weiter ein Produkt oder eine Dienstleistung weg vom Endkundengeschäft im Kon­ sum- und Gebrauchsgütermarkt angesiedelt ist. Für den Bereich der B2BTechnologien dominieren dann noch immer technische Parameter. Dabei bewegt sich Design in der heutigen Erlebnisökonomie mindestens auf Augenhöhe mit der funktionalen Produktqualität. Diese Tatsache ist keineswegs neu und wurde bereits Ende der 1990er Jahre einschlägig be­ schrieben (Pine / Gilmore 1999). Das erhellt sich, wenn Design nicht auf die äußere Formgebung reduziert wird, sondern zum Beispiel auch die Handha­ bung, die Funktionalität aber auch die Bedienbarkeit etwa an der MenschMaschine-Schnittstelle Berücksichtigung finden. Das Interface und seine Gestaltung wirken dabei unmittelbar auf die Produktivität. Denn dieses ist entscheidend daran beteiligt, Bedienfehler zu vermeiden und wirkt sich zum Beispiel auch auf Einarbeitungszeiten und Schulungsaufwand aus. Schon deshalb gehört der Bereich Design zu den kreativwirtschaftlichen Leistungen, die in dem oben beschriebenen Sinne integraler Bestandteil eines jeden Innovationsprozesses sind. Design ist dabei, wenn die eben skizzierten Wirkungsfelder berücksichtigt werden, in diesem Prozess nicht lediglich als Formgebung der technischen Entwicklung nachgelagert,

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sondern an jeder Stufe des Prozesses beteiligt. Der Designer gehört deshalb auch von Beginn an zum Entwicklungsteam dazu und erweitert das Wissen, das in den Prozess einfließt. Während große Unternehmen mit eigenen Designabteilungen diese Leis­ tungen internalisiert haben, stehen mittelständische Unternehmen auch hier vor der Herausforderung, den Prozess mit den passenden externen Dienstleistern zu organisieren.

Der Unternehmer als Netzwerker Kooperation ist für kleine und mittlere Unternehmen der Schlüssel zu Inno­ vation. Die für den Erfolg erforderlichen Kooperationsstrukturen sind dabei nicht nur auf technische und technologische Entwicklungspartner, nicht auf Schnittstellen zwischen Forschung und Wirtschaft begrenzt, sondern müssen auch Unternehmensdienstleister aus dem Bereich der Kreativwirt­ schaft umfassen. Für den Bereich Design (Produktdesign, Kommunikations­ design) und Werbung liegt das auf der Hand. Doch sind die Kompetenzen, die in dem als Kreativwirtschaft beschriebenen Wirtschaftsfeld verfügbar und in Innovationsprozessen potenziell nutzbar sind, damit nicht abschlie­ ßend erfasst. Tatsächlich sind sie auch gar nicht abschließend beschreib­ bar, da sich gerade im Bereich der Kreativwirtschaft aus den sich ästhetisch oder technisch ableitbaren Möglichkeiten und dem damit verbundenen Wissen und persönlichen Fertigkeiten ständig neue Tätigkeitsfelder erge­ ben, welche die Grenzen üblicher Branchenbeschreibungen überschreiten. Die Organisation eines Innovationsprozesses, der solche Kompetenzevolu­ tionen abbilden und sich verändernden Marktsituation gerecht werden kann, wird damit zu einer der zentralen Aufgaben eines Unternehmens. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen bietet sich hier ein ent­ scheidender Vorteil, da es für sie in der Regel einfacher ist, sich direkt in die relevanten Netzwerkstrukturen zu begeben. Während Großunternehmen durch crowdsourcing oder open-design-Strategien versuchen, von Wissen innerhalb oder außerhalb der eigenen Organisation zu profitieren, kann ein kleiner Mittelständler unmittelbar teilhaben an den längst wirksamen Strukturen der Netzwerkgesellschaft auch in seiner Region. Vor diesem Hintergrund wird die anfangs gestellte Frage nach dem geeigneten Raum als Schnittstelle zwischen Kreativwirtschaft und traditionellem Mittel­ stand wieder relevant. An dieser Stelle sollte sich die Politik durchaus als Vermittler und Ermöglicher verstehen. Noch einmal : Es geht dabei weder

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um das Einrichten von Kreativfabriken durch Ministerialbeamte, noch um das Aufsetzen kostspieliger Förderprogramme. Stattdessen sollten Unter­ nehmer facilitiert werden, die bereit sind, betriebswirtschaftliche Risiken beim Aufbau der für die Region adäquaten Vernetzungsstrukturen zu tragen. Neue Institutionen wie beispielsweise die Thüringer Agentur für Kreativ­wirtschaft können in Zusammenarbeit mit eingesessenen Institu­ tionen den globalen Wissenstransfer und seine Einbettung in den lokalen Kontext organisieren. Funktionierende Modelle für effektive Schnittstellen­ bildung gibt es in der Tat, die Herausforderung besteht in deren Integration in, beziehungsweise Anpassung an den konkreten lokalen Kontext. Der Zugang zu oder die Einbindung von kleinen und mittleren Unterneh­ men in solche Netzwerke wird unmittelbar auf die Qualität der Produkte und Dienstleistungen wirken. Vom mittelständischen Unternehmertum, das sich darauf einlässt, wird zwar eine neue soziale Kompetenz gefordert, diese jedoch mit einem ungeheuren Innovationsgewinn belohnt. Dies alles erfordert die Kompetenz zur Prozessorganisation. Der Unter­ nehmer wird dabei ein Stück weit zum Moderator, der im besten Verständ­ nis des frühen Bauhauses die Gemeinschaft aus Techniker, Kaufmann und Kreativen zusammenführt und zusammen hält. Er sorgt dafür, dass der Innovationsprozess tatsächlich ein Prozess zur Entfaltung von Kreativität ist und sich nicht selbst beschränkt bzw. auf die bloße technische Lösung verengt. Die wichtigsten Innovationen der letzten 30 Jahre sind zu einem großen Teil außerhalb von Konzernstrukturen und Großunternehmen entstanden. Der Mut zur Kooperation, ein entgrenztes Verständnis von Innovation unter Einbeziehung des Leistungsspektrums der Kreativwirtschaft und die unmittelbare Partizipation an neuen sozialen Strukturen bietet die Chance gerade für kleine und mittlere Unternehmen, ihre Marktposition durch In­ novation auszubauen und ein hohes Maß an Innovationskraft zu entfalten.

Literatur Benkler, Yochai (2006) : The wealth of networks. How social production transforms markets and freedom. BMWi (2012) : Die Kultur und Kreativwirtschaft in der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfungskette. Wirkungsketten, Innovationskraft, Potentiale.

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Castells, Manuel (1996) : The rise of the network society. Christensen, Clayton M. (2003) : The innovator’s solution. Creating and sustaining successful growth. Clippinger, John Henry (Hrsg.) (1999) : The biology of business. Decoding the natural laws of enterprise. S. 153-181. Drucker, Peter (1969) : The age of discontinuity. Guidelines to our changing society. Drucker, Peter (1985) : » The discipline of innovation «. In : Harvard Business Review, 76 (4). S. 73-84. Florida, Richard (2002) : The rise of the creative class. Friebe, Holm / Lobo, Sascha (2006) : Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. Hagel, John / Seeley Brown, John / Davidson, Lang (2012) : The power of pull. How small moves, smartly made, can set big things in motion. Hippel, Eric von (2005) : Democratizing innovation. Howkins, John (2009) : Creative ecologies. Where thinking is a proper job. Kim, W. Chan / Mauborgne, Renée (2005) : Blue ocean strategy. How to create uncontested market space and make competition irrelevant. Lash, Scott / Urry, John (1994) : Economies of signs and space. Lazzarato, Maurizio (2002) : Puissances de l’Invention. La Psychologie Économique de Gabriel Tarde contre l’Économie Politique. Lessig, Lawrence (2008) : Remix. Making art and commerce thrive in the hybrid economy. Lester, Richard K. / Piore, Michael J. (2004) : Innovation. The Missing Dimension. Marais, Claudia (2011) : Design als Wissenskultur. Mommaas, Hans (2004) : » Cultural clusters and the post-industrial city. Towards the remapping of urban cultural policy «. In : Urban Studies, 41 (3). S. 507-532.

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Nonaka, Ikujiro (1991) : » The knowledge-creating company «. In : Harvard Business Review, 69, November-December. S. 96-104. Olma, Sebastian (2012) : The serendipity machine. A dispruptive business model for society 3.0 . Olma, Sebastian (2011) : » Die Topologisierung der Wertschöpfung «. In : Lange, Bastian / Bergmann, Malte (Hrsg.) : Eigensinnige Geographien. S. 247-267. Olma, Sebastian (2009) : » Kritik der Kreativindustrien «, In : Wellmann, Inga et al. (Hrsg.) : Governance der Kreativwirtschaft. S. 103-122. Pine, B. Joseph / Gilmore, James H. (1999) : The experience economy. Pine, B. Joseph / Korn, Kim C. (2013) : The regenerative imperative. Whitepaper. Pine, B. Joseph / Korn, Kim C. (2011) : Infinite possibility. Creating customer value on the digital frontier. Plattner, Hasso / Meinel, Christoph / Weinberg, Ulrich (2009) : Design Thinking. Innovation lernen – Ideenwelten öffnen. Schulze, Gerhard (1992) : Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Shirkey, Clay (2010) : Cognitive surplus. Creativity and generosity in a connected age. Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Technologie (2012) : Zukunft Ost – Analysen, Trends, Handlungsempfehlungen. Vogler, Tim / Bathel, Jan / Krusche, Bernd (2012) : » Dritte Orte. « In : Revue . Magazin fort he Next Society, Heft 11, Oktober 2012.

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Die Autoren Holm Friebe

ist Journalist, Autor und Hochschullehrer. Als Gründer der » Zentrale Intelli­ genz Agentur « und Co-Autor des Werkes » Wir nennen es Arbeit « zählt er zu den wichtigsten Stimmen in der Debatte um eine kreative Wirtschaft.

Lutz Hachmeister

ist Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik mit Sitz in Berlin. Der langjährige Leiter des Kölner Fernseh- und Filmfests (Cologne Conference) ist seit vielen Jahren als Sachbuchautor und Dokumentarfilm­ produzent tätig. Er ist Mitherausgeber des » Jahrbuchs Fernsehen «.

Steffen Höhne

ist Leiter des Studiengangs Kulturmanagement an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar. Er war Gründungsvorsitzender des Fachverbands Kul­ turmanagement und ist Sprecher der Landesgruppe Thüringen der Kultur­ politischen Gesellschaft, sowie Geschäftsführender Herausgeber des Jahr­ buchs für Kulturmanagement und der Weimarer Schriften zu Kulturpolitik und Kulturökonomie.

Dirk Kiefer

ist Leiter des Thüringer Zentrums für Existenzgründungen und Unternehmer­ tum und der Thüringer Agentur für die Kreativwirtschaft. Nach mehreren Jahren als Unternehmer in der Kreativwirtschaft und einem Abschluss am Birkbeck College in London war er für die britische NESTA und anschließend im Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes tätig.

Boris A. Knop

ist freier Journalist und Autor. Er arbeitet als Redakteur für das europäische Webmagazin LABKULTUR.TV und leitet die Online-Redaktion der Thüringer Agentur für die Kreativwirtschaft.

Matthias Machnig

ist Thüringer Minister für Wirtschaft, Arbeit und Technologie. Zuvor arbei­ tete er unter anderem als Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Staatssekretär im Bundesministerium für Um­ welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie als Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter der SPD.

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Leonard Novy

ist Mitglied der Institutsleitung am Institut für Medien- und Kommunika­ tionspolitik und internationaler Tandempartner am Centre for Digital Cul­ tures (CDC) der Leuphana Universität Lüneburg. Er ist Herausgeber des mit dem Grimme Online-Award ausgezeichneten Mehrautorenblogs carta.info und seit 2013 Direktor des Medienforum NRW.

Sebastian Olma

arbeitet international als Wissenschaftler, Organisationsforscher und Innova­ tionsberater an der Schnittstelle zwischen Kreativität und Wirtschaft. Er ist der Direktor des Serendipity Lab in Amsterdam und international als Sach­ autor und Impulsgeber gefragt.

Kai Schächtele

ist selbständiger Journalist, Buchautor, Moderator und Blogger. Er schreibt für Magazine und Zeitungen von sonntaz bis GQ und ist Mitbegründer des Netz­ werks weltreporter.net sowie von Freischreiber, dem Berufsverband freier Journalistinnen und Journalisten, dessen Vorsitzender er mehrere Jahre war.

Christoph Stölzl

ist Präsident der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und lehrt als Honorarprofessor Kulturmanagement am Institut für Kultur- und Medien­ management der Freien Universität Berlin. Der promovierte Historiker war Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums und später Wis­ senschafts- und Kultursenator des Landes Berlin.

André Störr

ist Referent für Kreativwirtschaft im Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Technologie. Er war zuvor mehrere Jahre als Rechtsanwalt und zu­ letzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Kulturmanagement der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar tätig.

Orkan Torun

ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien- und Kommuni­ kationspolitik (IfM) in Berlin sowie im Projekt Grundversorgung 2.0 am Cen­ tre for Digital Cultures (CDC) an der Leuphana Universität Lüneburg tätig.

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Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen Neue Folge. Kleine Reihe Herausgegeben von Werner Greiling Eine Auswahl

Bd. 36  |  Kerstin Vogel Carl Heinrich Ferdinand

Bd. 31  | Ulrich Wieler

Streichhan

Bauen aus der Not

Architekt und Oberbaudirektor in

Architektur und Städtebau

Sachsen-Weimar-Eisenach 1848–1884

in Thüringen 1945–1949

2013. 365 S. 60 s/w-Abb. Gb.

2011. 304 S. 88 s/w-Abb. Gb.

ISBN 978-3-412-20955-1

ISBN 978-3-412-20645-1 Bd. 37  | Sebastian Nickel Bd. 32  |  Jörg Voigt

Männerchorgesang und bürger-

Beginen im Spätmittelalter

liche Bewegung 1815–1848 in

Frauenfrömmigkeit in

Mitteldeutschland

Thüringen und im Reich

2013. 392 S. 35 s/w Abb. Gb.

2012. X, 521 S. Gb.

ISBN 978-3-412-21067-0

ISBN 978-3-412-20668-0 Bd. 38  | Christoph Matthes Bd. 33  | Ulrike Kaiser

Finanzier – Förderer – Vertrags-

Das Amt Leuchtenburg 1479–1705

partner

Ein regionales Zentrum

Die Universität Jena und die

wettinischer Landesherrschaft

optische Industrie 1886-1971

2012. IV, 278 S. 43 s/w-Abb. und eine

2013. Ca. 544 S. Gb.

farb. Kt. Gb.  | ISBN 978-3-412-20776-2

ISBN 978-3-412-21068-7

Bd. 34  | Reinhard Hahn

Bd. 39  | Alexander Krünes

Geschichte der mittelalterlichen

Die Volksaufklärung in

deutschen Literatur Thüringens

Thüringen im Vormärz (1815–1848)

2012. VIII, 425 S. Gb.

2013. X, 662 S. 4 s/w-Abb. 5 Graf.

ISBN 978-3-412-20926-1

Gb.  | ISBN 978-3-412-21071-7

Bd. 35  |  Joachim Emig, Volker Leppin, Uwe Schirmer (Hg.) Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1525/30) 2013. ca. 416 S. Gb.

TR806

ISBN 978-3-412-20921-6

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar