Chinesische Mauern: Neue Vorzeichen und alte Wege im chinesischen Denken der Gegenwart 9783495820636, 9783495490518


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Table of contents :
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Inhalt
Einführung
Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit
1. Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe
2. Zur Orientierung
3. Geschichtlichkeit: Die Frage nach der Identität Chinas im 20. und 21. Jahrhundert
4. Hero
Wandlungen. Zur Krise der Repräsentation und die Frage nach dem Subjekt
1. Gefühle
2. Ich. Verlust der Kontrolle
2.1 Aspekte des Lachens
Chinesische Volkskunst und chinesischer Buddhismus
Abgründiger Witz – Lachen als Distanzierungsleistung
Das Lachen wird sein Leben verändern
Komisches Lachen – Erkenntnis
2.2 Geng Jianyi, »Der zweite Zustand«
Der Einbruch des Realen
Durch Lachen sich bessern
Lachen: Underdogs und Unterhaltungskünstler, Leib-Bilder und Physiognomie
Der Underdog lacht
Der Master of Ceremonies lächelt
Lachen – Lächeln
Provokation
3. Nicht-Ich
3.1 Chinesische Porträts im Allgemeinen, buddhistische Porträts im Besonderen
3.2 Zeng Mi, »Selbstporträt«
4. Ich. Entfremdung
4.1 Prägende Erfahrungen
4.2 Liu Fenghua, »Shout to Lu Xun« (huhuan Lu Xun)
Chinesisches Denken, chinesische Philosophie: neue Vorzeichen und alte Wege
Ästhetik!
Chinesisches Denken, chinesische Philosophie!
1. Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie
Japan
China
2. Methodik und das Projekt der Selbstbestimmung chinesischer Philosophie
Schluss
Literatur
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Chinesische Mauern: Neue Vorzeichen und alte Wege im chinesischen Denken der Gegenwart
 9783495820636, 9783495490518

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Heinrich Geiger

Chinesische Mauern

Neue Vorzeichen und alte Wege im chinesischen Denken der Gegenwart

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820636

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B

Heinrich Geiger Chinesische Mauern

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Heinrich Geiger

Chinesische Mauern Neue Vorzeichen und alte Wege im chinesischen Denken der Gegenwart

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Heinrich Geiger Chinese Walls New Signs and Old Ways in Contemporary Chinese Thinking Contemporary Chinese philosophy is the result of selective appropriation of Western thought and Western culture as it has occurred since the end of the Chinese empire. Chinese philosophy today is a form of derivative ways of reflecting on »value orientation« and »illuminations of existence« (Karl Jaspers). Furthermore, Chinese thought now also has taken on the role of steering the process of social differentiation of modern consumer society. Chinese philosophy is tasked with the establishment of value ideas, which are fundamental to the modernisation of the country according to the Chinese government. This means that »Confucianism« is employed as a means to legitimise in a fundamental way the politics of the government. The present book »Chinese Walls« shows how schemata of meaning and interpretation are co-opted to bring to the fore what is supposedly »Chinese« to contemporary Chinese culture and thought. As a matter of fact these narratives are used to enforce state authoritarianism. Within this carefully staged historical drama contemporary Chinese philosophy has to prove itself in the tension between sacred tradition and the challenges of the presence. Thus, the focus is the abysmal nature of identities that are developed in present-day China. Geiger’s book must hence also turn to the scurrile, the laughable, the absurd, the devastating, and the incredible – the book not only tells of these moments, but relies on and lives through them.

The Author: Dr Heinrich Geiger, Head of Asia Division and Assistant General Secretary of the Catholic Academic Foreign Service (KAAD), Bonn. Publications and teaching experience in Aesthetics, Philosophy, Cultural Studies, Intercultural Dialogue. In 2019 his book Hearing Smell: Nature, Concepts of Nature and Environmental Behaviour in China (Den Duft hören. Natur, Naturbegriff und Umweltverhalten in China) was published by Matthies & Seitz.

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Heinrich Geiger Chinesische Mauern Neue Vorzeichen und alte Wege im chinesischen Denken der Gegenwart Die chinesische Philosophie in ihrer heutigen Form verdankt sich der selektiven Aneignung westlichen Denkens und westlicher Kultur seit dem Ende des chinesischen Kaiserreiches. Sie stellt eine Form von sekundärer, in Gestalt von Reflexion sich vollziehender »Weltorientierung« und »Daseinserhellung« (Karl Jaspers) dar. Heute nun wird ihr die Aufgabe zugewiesen, den Prozess der Ausdifferenzierung der modernen Konsumgesellschaft zu steuern. Sie soll Wertideen etablieren, die nach der Meinung der chinesischen Regierung für die Modernisierung des Landes von Bedeutung sind. Dabei wird die historische Tiefenlegitimation für die Politik des Landes mittels des »Konfuzianismus« hergestellt. In dem Buch Chinesische Mauern wird aufgezeigt, wie Sinn- und Deutungsschemata, mit denen versucht wird, das »Chinesische« an der chinesischen Kultur und am chinesischen Denken zu erfassen, lebenspraktisch vereinnahmt werden. Sie werden unter anderem für die Rechtfertigung staatlicher Autorität instrumentalisiert. Innerhalb eines sorgfältig inszenierten Geschichtsdramas hat sich die chinesische Philosophie in der Spannung zwischen heiliger Tradition und fordernder Gegenwart zu bewähren. Es geht um die Abgründigkeit der Identitätskonzeptionen, die in diesem Kontext entwickelt werden. Das Buch kommt nicht ohne das Skurrile, das Lachhafte, das Bodenlose, das Niederschmetternde, Unglaubliche aus – es lebt aus, mit und von ihnen.

Der Autor: Dr. Heinrich Geiger, Referatsleiter Asien und stellvertretender Generalsekretär beim Katholischen Akademischen Ausländer-Dienst (KAAD), Bonn. Publikationen und Lehrtätigkeit in den Bereichen Ästhetik, Philosophie, Kulturwissenschaften, interkultureller Dialog. 2019 erschien bei Matthes & Seitz Den Duft hören. Natur, Naturbegriff und Umweltverhalten in China.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: Megapolis, © dimapf – iStock – GettyImages Abbildungen im Buch: China Avantgarde 1993: 125; Sommer 2003: Abb. 9; Shikong 1999: 30. Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49051-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82063-6

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Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit . . . . 1. Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe 2. Zur Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geschichtlichkeit: Die Frage nach der Identität Chinas im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Hero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 21 31

Wandlungen. Zur Krise der Repräsentation und die Frage nach dem Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ich. Verlust der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Aspekte des Lachens . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Geng Jianyi, »Der zweite Zustand« . . . . . . . . . 3. Nicht-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Chinesische Porträts im Allgemeinen, buddhistische Porträts im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zeng Mi, »Selbstporträt« . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ich. Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Prägende Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Liu Fenghua, »Shout to Lu Xun« (huhuan Lu Xun) .

33 55

59 59 65 66 77 94 94 100 112 112 113

Chinesisches Denken, chinesische Philosophie: neue Vorzeichen und alte Wege . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie . . 143 2. Methodik und das Projekt der Selbstbestimmung chinesischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

7 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Inhalt

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

8 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Einführung

Der im Exil lebende chinesische Dichter Yang Lian (geb. 1955) führt in einem Text aus dem Jahr 1998, der »China?« überschrieben ist, das Bild der Elfenbeinkugel an. Diese dient ihm als Sinnbild für die Komplexität eines im Alltag selten hinterfragten Begriffs, nämlich »China«. Wer weiß, was »China« ist? Wer weiß, ob es ein »China« gibt? Auf der Welt war und ist »China« immer nur ein Wort. Ein »Nichtsein«, das sich in der Vorstellung der Menschen eingenistet hat. Ein allzu tiefes Schweigen in der Geschichte, eine allzu große Leere. […] Doch wer hat es dann erdacht? Wie wurde »China« Schicht für Schicht sorgfältig zu einer zierlichen, innen hohlen Elfenbeinkugel ziseliert? 1

Zweifel an dem allzu Selbstverständlichen werden manifest, aber auch die Differenz von Ich und Wir, von persönlich erfahrener und kollektiver Identität. Weil sich »China« in den Augen des Dichters jeder inhaltlichen Bestimmung entzieht, gleicht es dem höchst kunstvollen Gegenstand der Elfenbeinkugel, die in der Bewegung der einzelnen Kugeln, die ihr Inneres bilden, immer wieder unterschiedliche Ansichten freigibt. Es eröffnen sich bei jeder Drehung neue Perspektiven, sodass sie ein Gegenstand des Spiels in der Nichtigkeit der Zeit bleibt. Der Überschuss an Einsichten und der verschwenderische Umgang mit ihnen – sie finden in einem Gegenstand, nämlich der Elfenbeinkugel, zusammen, der den eng gezogenen Rahmen einer ökonomischen Zweck-MittelLogik sowie die Lehre des rechten Maßes sprengt. Yang Lian spricht mit Worten von »China«, die in den Bereich der Mystik verweisen. Er spricht vom »Nichtsein«, vom »allzu tiefen Schweigen« und von einer »allzu großen Leere«. Damit

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Yang 1998: 40.

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Einführung

entzieht er den Begriff »Chinas« allen vordergründigen Festlegungen. 2 * * * In der Auseinandersetzung mit Chinas »Nichtsein«, seinem »allzu tiefen Schweigen«, seiner »allzu großen Leere« helfen a) der Begriff der Negativität und b) die uns aus den Traditionen des Daoismus und des Buddhismus bekannte Idee der Leere weiter. Die Begriffe der Negativität und der Leere eröffnen neue Perspektiven in einem kulturellen Umfeld, das durch eine »leere Mitte« gekennzeichnet ist. Dieser hat Helwig Schmidt-Glintzer (geb. 1948) 2018 einen Essay gewidmet. Wir lesen, dass die Annahme, China sei »ein von einem homogenen ›Staatsvolk‹ getragener Nationalstaat« »nichts als ein wenn auch immer wieder anzutreffendes Missverständnis« sei. Vielmehr ist China seit frühester Zeit »ein Land der Einwanderung ebenso wie der Auswanderung und damit ein Land der Migration und der Grenzziehungen«, ein Ort der ethnischen, religiösen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt, wobei letztere, die kulturelle Vielfalt, mit »bisher niemals wirklich aufgelösten Spannungen verbunden« ist. 3 Damit hängt zusammen, dass – so widersprüchlich das auch klingen mag, und ich deutete das bereits an – das »Reich der »Mitte«, womit die Selbstbezeichnung »Zhongguo« auch übersetzt wird, keine Mitte hat – oder eben eine leere Mitte. 4 Um sich Chinas »Nichtsein«, seiner »leeren Mitte« unter den Bedingungen des politischen Systems der Volksrepublik China (VRCh) annähern zu können, verdienen neben den Begriffen der »Negativität« und der »Leere« zwei Grundüberlegungen der Negativen Theologie Berücksichtigung. Sie besagen, dass sich im Allgemeinen und natürlich auch im besonderen Fall der VRCh

2 3 4

Geiger 2005: 55–59. Schmidt-Glintzer 2018: 17, 18. Schmidt-Glintzer 2018: 18.

10 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Einführung

a) das menschliche Leiden auf keinen Namen mehr reimen lassen will und b) die Wahrheit nicht adäquat von einer einzelnen Person / Kultur / Religion oder Partei vertreten wird, obgleich dieser Anspruch von unterschiedlichen Akteuren weltweit und auch von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) erhoben wird. Die KPCh verteidigt ihr Macht- und Organisationsmonopol gegen jede Herausforderung mit größtmöglicher Entschlossenheit, setzt gleichzeitig aber auch auf Expertenwissen, woraus ein konsultativer Autoritarismus chinesischer Prägung hervorging. Das System staatlicher Thinktanks bildet den Grundstein der wissenschaftlichen Politikberatung. * * * Die Begriffe der Negativität und der Leere haben keinen Eingang in das offizielle kulturelle Selbstverständnis der 1949 gegründeten Volksrepublik China gefunden, obwohl sie in der chinesischen Geistes- und Religionsgeschichte eine zentrale Rolle spielen. Zum Beispiel entwirft einer der daoistischen Klassiker, Das Buch vom Sinn und Leben (das Daodejing, andere Lautschriften: Tao Te King, Tao Te-King, Daudedsching), ein politisches Modell, das die Gesellschaft in Harmonie mit einem gestaltlosen Prinzip, dem Dao, zu bringen versucht und deswegen dem Herrscher empfiehlt, seinen Einfluss durch Nicht-Eingreifen (wu wei) zur Geltung zu bringen. Seit dem Ende der sogenannten Ära Mao Zedongs (1893–1976) ist aber wieder der Konfuzianismus en vogue. In China lässt sich das verwirrende Schauspiel verfolgen, wie eine totgeglaubte Vergangenheit ein geradezu gespenstisches Wiedergängertum erfährt. Mit dem Konfuzianismus lebt eine vorrevolutionäre Tradition wieder auf. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass der Konfuzianismus, ganz anders als der Daoismus, in Zeiten des soziokulturellen Wandels neue Wege gesellschaftlicher Verwirklichung anbietet. Er lehrt, wie eine auseinanderbrechende soziale Ordnung durch die Rückbesinnung auf die stabilen Ordnungsprinzipien eines »Goldenen Zeitalters« wieder zusammengefügt werden kann. Aber selbst diese Überlegungen, die sehr viel mit der Mo11 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Einführung

dernisierung Chinas zu tun haben, konnten erst am Ende der 1970er Jahre wieder Eingang in den offiziellen Diskurs finden. In dem Prozess der sozialistischen Kulturentwicklung nach 1949, dem von der Kommunistischen Partei geführten Kampf zur allseitigen Verwirklichung der führenden Rolle der Arbeiterklasse, zur Durchsetzung der sozialistischen Ideologie und zur Auseinandersetzung mit allen Formen der bürgerlichen Ideologie, mit überlieferten Vorurteilen und tief verwurzelten Gewohnheiten, war weder Platz für die Begriffe der Negativität und der Leere noch für die konfuzianische Tugendlehre. Mächtiger war und blieb bis heute der chinesische Nationalismus, der mit sozialdarwinistischem Gedankengut eine enge Verbindung einging. So darf es nicht verwundern, dass im Rahmen der kulturellen Sinnsuche, die auf die Jahre der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 folgte, keine Rückbesinnung auf Geistestraditionen stattfand, die mit der Vorstellung von einem Seinsprinzip arbeiten, das gestaltlos und unfassbar ist (das Dao im Daoismus) und individualistische Praktiken befördert. Ganz gleich, ob es um Unsterblichkeitssehnsucht, um millenaristische Heilserwartungen oder um rituelle Fertigkeiten einzelner Persönlichkeiten geht, sie ziehen alle ihre Inspiration aus einem Dao, welches sich ihnen in jeweils ihren Bedürfnissen entsprechender Weise vergegenwärtigt. Der neuen Form des von höchsten politischen Kreisen vertretenen Traditionalismus, der besonders den Neukonfuzianismus favorisiert, blieben all diese Vorstellungen bis zum heutigen Tage zumindest in den offiziellen Verlautbarungen fremd. Die sogenannten »abergläubischen« Praktiken, die im Westen als »volksreligiös« bezeichnet werden, erfolgen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Regierungsamtlich gilt: Für das Leiden politisch Andersdenkender oder sonstiger sozialer outlaws keine Spur des Mitleids. Ohne Gerichtsurteil können Justizorgane willkürlich Hausarrest und sogar mehrjährige Gefängnisstrafen verhängen. Oftmals verschwinden auch verdächtigte Personen ganz einfach; ihre Angehörigen werden über Monate hinweg nicht über ihren Verbleib benachrichtigt. In Arbeitslagern werden politische Dissidenten als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. 12 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Einführung

* * * Die ständige Geschichtsausstellung des Nationalmuseums im Zentrum Beijings mit dem Titel »Der Weg des Wiederaufstiegs« verdeutlicht die Situation. Die am 1. März 2011 eröffnete Ausstellung ist so konzipiert, dass den Besuchern keine andere Wahl bleibt, als der dargebotenen narrativen Struktur zu folgen. Sie müssen dem Hauptgehweg des Rundgangs folgen. »Grenzüberschreitungen« in der Wahrnehmung der chinesischen Geschichte sind nicht möglich. Der Titel des dritten Teils der Ausstellung »Die KPCh hat die schwierige Aufgabe der Realisierung der nationalen Unabhängigkeit und der Befreiung des Volkes übernommen« darf als Motto des gesamten Ausstellungsprojektes gelten, mit dem ein absolutistisch gesinnter Parteienstaat seinen Machtanspruch unverhüllt demonstriert. Die realen Elemente der historischen Quellen spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Hierzu ein Zitat aus dem Aufsatz Liu Hongyus »Geschichtsdarstellung im Dienste staatlicher Kulturpolitik«: Als Sieger der politischen Konkurrenz will die KPCh die Geschichtspolitik zur Eigenlegitimation instrumentalisieren und den anderen politischen Konkurrenten nur ein begrenztes Einflussgebiet in der Geschichtsschreibung überlassen. Im Übrigen kann man zwar »das chinesische Volk« eventuell auch als einen Hauptakteur der Geschichtsdarstellung bezeichnen, was von den Ausstellungsmachern selbst auch gerne behauptet wird. Aber in der Präsentation ist das »Volk« als Akteur einerseits stark verschwommen und profillos, andererseits ist es auch stark verstreut und heterogen. Manchmal wird das »Volk« durch aufständische Bauern repräsentiert, manchmal durch revolutionäre Arbeiter, manchmal durch Flüchtlinge, manchmal durch Milizen, demzufolge bekommt »das Volk« keine klare kulturelle Identität zugewiesen, sondern ganz unterschiedliche, multiple, Identitäten. Somit dient der kollektive Massenkörper des »Volkes« hauptsächlich als eine Art Statist eines sorgfältig inszenierten Geschichtsdramas, welches – genau wie die meisten Ausstellungsobjekte – als auswechselbarer Beleg für die Konstruktion historischer Bedeutungen verstanden wird. 5

5

Liu 2016: 138.

13 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Einführung

Auch diejenigen unter den Kultur- und Geisteswissenschaftlern, die nicht am Nationalmuseum tätig sind, stehen unter dem Druck, Identitätskonzeptionen des »Chinesischen« liefern zu müssen, die eigentlich Identitätskonzeptionen der KPCh sind. Der Staatspräsident und Generalsekretär der KPCh Xi Jinping (geb. 1953) sagte am 23. November 2013: Klarzustellen ist, dass die grandiose traditionelle Kultur Chinas einen herausragenden Vorzug der chinesischen Nation darstellt, sie ist der am tiefsten reichende Teil unserer kulturellen Soft Power. 6

* * * Zugänge zu einem Verständnis der chinesischen Geisteswelt des 20. und 21. Jahrhunderts lassen sich beim Durchschreiten des Nationalmuseums sicherlich teilweise finden. Wesentliche Einsichten werden aber dadurch verhindert, dass die Ausstellungsmacher mit einer binären Struktur der Geschichtsnarration – das »Eigene« und das »Fremde«, »Chinesen« und »Ausländer« – arbeiten, die in dieser Form nur ideologisch, nicht aber lebensweltlich gerechtfertigt ist. Die Denkbewegungen chinesischer Intellektueller verdeutlichen, dass der skizzierte Vorgang des Wiederaufstiegs der chinesischen Nation geistesgeschichtlich keineswegs einen linearen Vorgang darstellt, in dem, der Logik des Historischen Materialismus folgend, die jeweils »falsche« Fraktion von der jeweils »richtigen« besiegt wird. Yang Lians Bild von »China« als einer Schicht für Schicht sorgfältig ziselierten Elfenbeinkugel ist da viel aufschlussreicher. Indem es die Bewegung der Kugeln, die das Innere der Elfenbeinkugel bilden, berücksichtigt, berücksichtigt es auch die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, 7 das als ein wesentliches Kennzeichen der chinesischen Geisteswelt im 20. und 21. Jahrhundert gelten darf. Für meine eigene Arbeit habe ich daraus folgende Konsequenzen gezogen:

Unveröffentlichte Mitschrift einer Rede. Zitiert nach Kahn-Ackermann 2014: 435. 7 Siehe Kahn-Ackermann 2014. 6

14 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Einführung

Ich habe mein Buch als eine Szenerie heterogener, sich teilweise überlagernder Ereignisse konzipiert. Es finden sich sinnliche Details, zwischengeschaltete Überlegungen, Denkirritationen. Der Leser wird Ausführungen zu Strukturen, Mentalitäten und Diskursen begegnen, die in das Leben von Menschen hineinwirken, aber keinen imposant klingenden Formeln, die der revolutionären Geschichtsanschauung des Historischen Materialismus entstammen. In der konkreten Ausgestaltung und Artikulation chinesischer Kultur- und Geistesgeschichte lässt sich im Falle der Volksrepublik China keine einheitliche begrifflich-typologische Ordnung erkennen. Sie lässt sich weder als »konfuzianisch/ neukonfuzianisch« noch als »kommunistisch« im engeren Sinne bezeichnen. Deswegen stehen in meinem Buch Lebenshaltungen und Lebensvollzüge, Lebenslagen und Lebenschancen im Vordergrund und nicht Gedankensysteme oder Ideologien. Politische, ästhetische und moralische Bezüge spiegeln sich in den besten Momenten gegenseitig wider. Die Antwort der Hermeneutik ist darauf, das Sein und das Denken von Menschen innerhalb eines bestimmten Lebenskontextes plastisch zu beschreiben und historische Vorgänge aus verschiedenen Perspektiven in ihren haarfeinen Verästelungen offenzulegen. Ich habe mich für diese hermeneutische Herangehensweise entschieden. * * * Zeitpunkt, Zustand, Lage, Situation. Eine dichte Beschreibung der Gegenwart chinesischen Denkens kommt nicht ohne die Inhalte kritischer Erinnerungsarbeit aus. Die uns allen bekannten und uns immer wieder erzählten »Master-Narratives« über die mehrtausendjährige chinesische Geschichte bedürfen aus gutem Grund einer Ergänzung. Sie zu benutzen, heißt, etwas vorauszusetzen, was sich erst im Nachhinein, quasi als Ergebnis einer längeren Beschäftigung chinesischer Intellektueller mit den kulturellen Traditionen des eigenen Landes, herausgebildet hat. Eine unerlässliche Ergänzung zu den Meistererzählungen, die im Falle Chinas aus realen Elementen, aber auch aus ideologischen Überzeichnungen bestehen, bieten die inoffiziellen Geschichten (yeshi), die sich dem Kontextrahmen offizieller chinesischer Historio15 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Einführung

grafie (zhengshi) entziehen. Trotz des parteilich verordneten Schweigens wirken in ihnen die katastrophischen Einschnitte der chinesischen Geschichte im 20. Jahrhundert nach. Diese Feststellung ist wichtig, denn das Bodenlose und Menschenvernichtende einzelner politischer Kampagnen in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren haben, wie ich hervorheben möchte, die Grundstrukturen der chinesischen Geisteswelt bis in die Gegenwart geprägt. Die katastrophischen Einschnitte der jüngsten Geschichte geben den Geistesschaffenden und geistig Interessierten in China zu verstehen, dass es keinen Sinn der Geschichte, sehr wohl aber einen Sinn in der Geschichte gibt. Zu konstatieren ist, dass die selektive Erinnerungskultur der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), die die Verjährung kritischer Momente der eigenen Vergangenheit ohne Trauerarbeit befördert, von inoffiziellen Akteuren herausgefordert wird. In vorliegendem Buch sind es Künstler, die uns mit ihren Arbeiten sagen, dass das chinesische Denken der Gegenwart nur dann ganz zu sich finden kann, wenn es dem geschlossenen Kreis von Vergangenheits- und Zukunftsvorstellungen entkommt. * * * »Es ist Zeit, dass es Zeit wird«, wie es im Titel eines Textes von Heinz Kimmerle (1930–2016) heißt. Der Satz entstammt einem Gedicht von Paul Celan (1920–1970). Indem ich der chinesischen Geisteswelt in der Spannung zwischen Tradition und Gegenwart nachspüre, verorte ich sie in einer Zeit, die aufs Engste mit dem Sein des Menschen, dessen »Lebensexistenz« (shengming cunzai), verbunden ist. Nach der Auffassung des neukonfuzianischen Denkers Tang Junyi (1909–1978) sind die Begriffe des »Lebens« (shengming) und der Existenz (cunzai) einander ebenbürtig. Wie er in seinem 1969 erstmals niedergeschriebenen und bis 1977 mehrfach überarbeiteten und erweiterten Werk Die Existenz des Lebens und die Horizonte des Geistes (shengming cunzai yu xinling jingjie) systematisch entwirft, stehen sie zusammengenommen für den kontinuierlichen Ablauf des Lebens von der Geburt an. Sie bergen nach seiner Auffassung etwas in ihrem Inneren, das sie erhalten 16 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Einführung

und welches wiederum sie kontinuierlich erhält. Anja Steinbauer hat dies in einer 2005 erschienenen Arbeit ausführlich dargelegt. 8 Die in dem Titel des Werkes genannten drei Hauptelemente des Lebens, des Geistes und der Horizonte definiert sie folgendermaßen: – Leben, die ganzheitliche Betrachtung des Prozesses, in welchem sich der einzelne Mensch befindet; – Geist, das transzendente und ständig aktive Element des menschlichen Wesens; – die Horizonte, die Gegenstände des äußeren Umfelds und inneren Zusammenhangs, in welchem das Leben vollzogen wird und mit welchem der Geist sich auseinandersetzen muss. 9 Bedeutsam ist, dass Leben und Geist in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen und gemeinsame Horizonte haben. Tang Junyi will die Lebensexistenz als eine menschliche definiert wissen. Mit dem Begriff der »Geisteslebensexistenz« bringt er unmissverständlich zum Ausdruck, dass es ihm um die Existenzform des menschlichen Geistes geht, der höchst aktiv ist, indem er »erspürt« (gan) und »durchdringt« (tong). Die Kombination von »Erspüren« und »Durchdringen« ist dem Buch der Wandlungen (yijing) entnommen. Um den Vorgang des Gantong zur Verfolgung höherer Ziele zu nutzen, ist der Mensch auf verschiedenen Ebenen gefordert: Er muss sich zunächst der Existenz eines äußeren Objektes gewahr werden, um es dann mit der eigenen Empathie zu durchdringen. 10 Bewusstwerdung und Durchdringung. Begreift man Gegenwart als einen geisteslebensexistentiellen und nicht als einen ganz allgemein existentiellen Zustand, dann kommen geistige Situationen in den Blick, die einen großen Erkenntnisgewinn in Bezug auf den Sinn in der Geschichte versprechen. Sie zeigen, dass in China die Zeit der Menschen nicht mit irgendwelchen partei-

Steinbauer 2005: 42, 43. Steinbauer 2005: 8. 10 Steinbauer 2005: 45,46. 8 9

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Einführung

amtlich verordneten Zukunftsträumen, so dem »Chinesischen Traum« (zhongguo meng), deckungsgleich ist. Sie ist weit mehr. Auch im »Land der Mitte« führt »die Frage nach dem Sein der Zeit … auf die Frage nach dem Sein selbst« 11 , wie es Kimmerle formuliert hat. Welche Rolle spielt da ein Denken, das wir »Philosophie« nennen? * * * Jürgen Habermas (geb. 1929) besuchte 2001 die VR China. Zu seinem ersten Vortrag an der Peking-Universität (beida) gab der stellvertretende Leiter der dortigen Philosophischen Fakultät eine sehr knappe, aber denkwürdige Einführung. Er erinnerte daran, dass in den 1920er Jahren die Philosophen Bertrand Russell (1872–1970) und John Dewey (1859–1952) an der Beida unterrichtet hatten und dass sich von dort aus seinerzeit die moderne westliche Philosophie in den intellektuellen Kreisen Chinas ausbreitete. Er sagte auch, dass Habermas’ Vortrag deswegen eine historische Bedeutung zukomme. Mehr äußerte er nicht, doch für chinesische Studenten und Professoren war dies deutlich genug. Zurück in die 1920er und 1930er Jahre, als Chinas philosophischer Diskurs noch offen war? Zwischen damals und heute liegen Jahrzehnte der kommunistischen Dominanz, für Chinas Denker schmerzhafte Zeiten zwischen geistiger Offenheit auf der einen und geistiger Anpassung und Unterdrückung auf der anderen Seite. Und in den vergangenen Jahrzehnten der Reform immer wieder die Hoffnung, dass auf die wirtschaftliche Freiheit die akademische folgen werde. Könnte Habermas – wie seinerzeit Dewey und Russell – die moderne Philosophie beleben? Aus heutiger Perspektive hat sich die damals gehegte Hoffnung nicht erfüllt; die 2001 gestellte Frage ist heute mit einem klaren »Nein« zu beantworten. Einem Gespräch, das Habermas mit sechs exponierten Vertretern der chinesischen Kulturszene führte, ließ sich aber bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts entnehmen, wie unbegründet diese Hoffnung war und

11

Kimmerle 1998: 124.

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Einführung

nach wie vor ist. 12 Das Problem ist die chinesische Philosophie selbst, wie sie sich unter dem Kommunismus entwickelte. Von einem der Teilnehmer an dem Gespräch mit Habermas, dem Schriftsteller Xu Xing (geb. 1956), wurde die chinesische Philosophie als eine »ausgestorbene Wissenschaft« bezeichnet. Ein weiterer Diskutant, der Bestsellerautor Qian Ning (geb. 1961), meinte die Stellung der Philosophie im Umfeld der Modernisierungsbestrebungen des Landes so schildern zu können: Genau das ist das Problem der chinesischen Modernisierung. Man definiert sie wirtschaftlich oder wissenschaftlich, aber nicht geistig oder philosophisch. So läuft sie aus der Sicht der Intellektuellen zwangsläufig ins Leere.

Da ich Xu Ning und Qian Ning bei ihren Einschätzungen größtenteils folge, habe ich mich dazu entschieden, keine Geschichte, in der chinesischer Parteistaat und chinesische Geisteswelt eine wie auch immer geartete Einheit bilden, zu schreiben. Orientiert an dem Begriff der »Geisteslebensexistenz« möchte ich ein Bild voller Spannungen zeichnen, in dem sich das chinesische Denken zu bewähren hat. Es erfolgt, so Tang Junyi, in der Außenwelt. 13 Unter den Bedingungen der Volksrepublik China ist dies Chance und Gefahr zugleich. Wie hieß es bei Kimmerle? Der radikalste Ausdruck der Frage nach der Zeit wird in die noch radikalere Frage überführt: Was ist, wenn Nichts ist? Als Philosophen, die nach Kant leben und denken, wissen wir mit Sicherheit, dass diese Art Fragen nicht beantwortet werden kann. Wir müssen die Situation aushalten lernen, in der es auf die Frage nach der Zeit und dem Sein keine Antwort gibt. Dies bedeutet nicht, dass wir in das »leere Auge« des Nichts blicken. Dies geschieht nicht, indem wir die Haltung eines Helden annehmen, sondern eher in der Haltung der Geduld und Gelassenheit. 14

* * * Das von Georg Blume moderierte Gespräch wurde unter dem Titel »Schmerzen der Gesellschaft« in DIE ZEIT Nr. 20, 10. Mai 2001 veröffentlicht. 13 Steinbauer 2005: 43. 14 Kimmerle 1998: 124. 12

19 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Einführung

China: Heißt das einfach nur passiv Ausharren in einem totalitären System, das auf seine Zukunft als Weltmacht setzt? Gelassenheit üben, um zu überleben? Passivität ist allenthalben anzutreffen, von Gelassenheit aber keine Spur. Es herrscht eine nervöse Spannung. In dem bereits zitierten Gespräch mit Kulturschaffenden erwähnt Jürgen Habermas den hohen Produktionsdruck der chinesischen Intellektuellen. Er begründet ihn mit folgenden Worten: Denn sie befinden sich in einer Situation, in der sie überhaupt nur produktiv sein können oder aufhören, Intellektuelle zu sein.

Ich finde dies zutreffend formuliert. Bonn, 20. 08. 2018

Heinrich Geiger

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Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit

1. Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe Mit Überlegungen, die Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen einschließen, begibt sich ein Geistes- und Kulturwissenschaftler auf ungesichertes Terrain. Er stößt allenthalben auf vage Befunde sowie Terminologien und Typsierungen mit einer nur geringen Halbwertszeit. Politische und weltanschauliche Tabuzonen versperren darüber hinaus den Weg. Dennoch gilt es, in diesem »anhaltend unübersichtlichen und damit ungesicherten gesellschaftlichen Gelände«, wie es Jürgen Raab und Hans-Georg Soeffner im Handbuch der Kulturwissenschaften formulierten, einerseits einige hinlänglich verlässliche und weithin sichtbare Markierungen zu setzen, die eine Beschreibung der gegenwärtigen sozialen Topographie und ihrer Bedingungen erlauben, und andererseits, über derartige Momentaufnahmen hinaus, die blassen und dünnen Fäden einzelner ›Entwicklungstrends‹ mit nicht allzu heißer Nadel zu bunten Zukunftsszenarien zu verstricken. 15

* * * »Sichtbare Markierungen«, »bunte Zukunftsszenarien«: Sie sind nur im Kontext des rasanten chinesischen Transformationsprozesses, mit dem die Volksrepublik China »nach außen die Öffnung durchzuführen und nach innen die Wirtschaft zu reformieren« (duiwai kaifang, duinei gaihua jingji) versuchte, in den Blick zu bekommen. 1976 waren der Große Vorsitzende Mao Zedong (geb. 1893) und der Premierminister Zhou Enlai (geb. 1898), die das Schicksal Chinas über ein halbes Jahrhundert in der Hand gehalten hatten, verstorben. Im selben Jahr wurde die »Viererbande«, 15

Raab, Soeffner 2011: 341.

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Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit

die Ultralinken unter der Führung von Maos Frau Jiang Qing (1914–1991), gestürzt. 1977 geriet China in eine tiefe Krise, die nicht nur die Wirtschaft betraf. Auch ideologisch war das Vertrauen der Bevölkerung zur herrschenden Partei durch die dauernden politischen Bewegungen und Machtkämpfe sowie durch die gesellschaftliche Übermobilmachung stark erschüttert. Eine historische Wende brachte die 3. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der KPCh im Jahr 1978, als die Reformkräfte um Deng Xiaoping (1904–1997) die kommunistische Orthodoxie hinter sich ließen. Seit 1978 befindet sich China in einer Phase der zwei Transformationen: einer Umgestaltung der sozialistischen Planwirtschaft zur sogenannten sozialistischen Marktwirtschaft (you shehuizhuyi jihuajingji xiang shehuizhuyi shichangjingji de zhuanxiang) und einer Umgestaltung von der traditionellen zu einer modernen Gesellschaft (you chuantong shehui xiang xiandai shehui de zhuanxiang). Die offizielle Strategie lautet, »Schritt für Schritt vorwärtsgehen, Schritt für Schritt die Lage beurteilen« (zou yi bu, kan yi bu) beziehungsweise »über den Fluss gehen, indem man nach den Steinen tastet (mozhe shitou guohe). Pragmatismus pur. Auf der politisch-administrativen Ebene wurden am 5. August 1987 die »Einstweiligen Verwaltungsbestimmungen für städtische und dörfliche Einzelgewerbehaushalte« (cheng xiang ge ti gongshanghu) erlassen. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in der Stadt und auf dem Land wurde sogar die Privatwirtschaft als »notwendige Ergänzung« zur staatlichen Wirtschaft anerkannt. Im Jahr 1988 wurde schließlich ihr Schutz in die Verfassung aufgenommen. Welche Auswirkungen die veränderten politischen Rahmenbedingungen gesamtgesellschaftlich hatten, lässt sich an folgenden Zahlen ersehen: Nachdem privatwirtschaftliches Engagement von 1958 bis 1979 verboten gewesen war, waren bereits im Jahr 1991 wieder über zehn Prozent der ländlichen Erwerbstätigen im Einzelgewerbe tätig. In der Stadt stellten im Jahr 1992 die Selbständigen und Beschäftigten privater Betriebe 7,2 Prozent der Erwerbstätigen. Die Reformen berührten alle Lebensbereiche. So veränderte sich im Zuge der Wirtschaftsreformen auch die Aufgabe von Kul22 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe

tur als Motor der Gesellschaft in einer Weise, wie es Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) 1944 für den Spätkapitalismus und nicht für den Kommunismus diagnostiziert hatten. Kultur wurde gleichermaßen zu einem Mittel von Herrschaft, Machtlegitimation und zu einem Bestandteil der Kulturindustrie. Im kulturellen Bereich beschritt China einen Weg, der, wie der am 7. Mai 2017 veröffentlichte 13. Fünfjahresplan (2016–2020) zur kulturellen Reform und Entwicklung zeigt, das Unvereinbare miteinander vereint. Das Dokument skizziert, wie China starke und global wettbewerbsfähige Akteure in der Kulturindustrie hervorbringen will. Hürden für privatwirtschaftliche Investitionen sollen abgebaut und finanziell erfolgreiche Zusammenschlüsse im Unterhaltungs- und Mediensektor befördert werden. Gleichzeitig plant die Regierung die Kontrolle über Webseiten und Online-Nachrichtenportale weiter zu verschärfen. Letztere dürfen künftig nur noch Nachrichten veröffentlichen, wenn sie über eine entsprechende staatliche Lizenz verfügen. Diesem Prinzip folgt auch die Online-Version der Chinesischen Enzyklopädie (zhongguo dabaike quanshu), die doppelt so umfangreich wie die Encyclopaedia Britannica und ungefähr so umfassend wie die chinesisch-sprachige Version von Wikipedia mit 300.000 Einträgen sein soll. Im Falle der Chinesischen Enzyklopädie können aber, und das ist ein entscheidender Unterschied, die Nutzer nicht zugleich als Autoren auftreten. Die Beiträge stammen von Autoren, die an Universitäten und Forschungseinrichtungen arbeiten. Sie haben von der Regierung genehmigt zu werden. * * * Folgt man den regierungsamtlichen Verlautbarungen zur Wissenschaftspolitik, dann muss es für chinesische Forscher, ganz gleich in welcher Fachrichtung sie arbeiten, naturgemäß immer um China gehen. Da für die Modernisierung des Landes die Konfuzius-Welt als nicht ausreichend eingestuft wird, wird nach ihrer Ergänzung durch westliches Wissen gerufen: »Das Westliche ist für China nutzbar zu machen« (yang wei zhong yong). Aus rein pragmatischen Gründen steht die chinesische Geistes23 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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welt mit einem Bein – es handelt sich nicht um das Stand-, sondern das Spielbein – im Westen. Solange China diesen nicht verstehe, so wird argumentiert, werde es auch nicht begreifen können, was ihm selbst in den letzten beiden Jahrhunderten widerfuhr und wie die dabei gezeigten Schwächen zu beseitigen seien. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war es zu den ersten folgenschweren Zusammenstößen mit den westlichen Mächten gekommen, durch die die chinesische Geisteswelt mit Fragen konfrontiert wurde, die sie bis zum heutigen Tage beschäftigen. Sie lauten: »Was bedeutet der Westen?«, »Was heißt Modernisierung?« Sie werden von folgenden Fragen, die für das eigene Selbstverständnis bedeutsam sind, begleitet: »Was bedeutet China?«, »Was heißt Tradition?« Die Fragen »Wer bist du?« und »Wer bin ich?« sind von den Nachwirkungen jenes im 19. Jahrhundert in der Begegnung mit dem Westen entstandenen Kulturschocks durchsetzt. Um Antworten auf die aus ihnen resultierende Identitätsfrage wird bis zum heutigen Tage gerungen. Während der Vierten-Mai-Bewegung von 1919 wandte sich in China eine republikanisch gesinnte Generation städtischer Intellektueller im Namen der »Neuen Jugend« gegen die Tradition und auch die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas (KPCh) fand zunächst wenig gute Worte für die 1911 gestürzte alte Ordnung. Heute nun werden Elemente der technologischen Modernisierung mit symbolischen Versatzstücken aus der Zeit der kaiserlichen Dynastien und der Revolutionsgeschichte des 20. Jahrhunderts verbunden. Die Qing-Dynastie (1644–1911) wird als das ewige China in die erwartete glänzende Zukunft projiziert und die Person Mao Zedongs beginnt wieder zu erstrahlen. Der »große Steuermann« hatte nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches die Demütigung durch die Kolonialmächte abgeschüttelt und China erneuert. Zur Bewältigung dieser gewaltigen Aufgabe hatte er sich den wechselnden innenpolitischen Herausforderungen angepasst und dabei durchaus undogmatisch agiert. Wie die heutigen politischen Führer, die den Spagat zwischen Kommunismus, Nationalismus und Wirtschaftsliberalismus wagen, war auch Mao weniger von einem bestimmten Aktionsplan als von der Einschätzung einer 24 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe

gegebenen Situation und deren Handlungsmöglichkeiten ausgegangen. Vorschlag: Diejenigen, die »China« unverstellt durch große Theoriegebäude wie den Konfuzianismus oder den Kommunismus sehen wollen, sollten sich ganz einfach mit der Lehre von den Strategemen befassen. Das chinesische Schriftzeichen zhi für Strategem (= List) kann auch Weisheit bedeuten. Weisheit und List fließen in China ineinander über, weshalb auch der Begriff der List im Chinesischen nicht negativ besetzt ist. Zhishu ist ein Kunstgriff, der auf Taktik und nicht auf Gewalt beruht. Zhiyu ist die Geistesbildung, dank derer sich der Mensch ganzheitlich, nämlich geistig, körperlich und moralisch zugleich, entwickelt. * * * Auf dem Feld der Strategem-Kunde ist Harro von Senger (geb. 1944) der führende westliche Forscher. Unter anderem die Bücher Kunst der List: Strategeme durchschauen und anwenden, 36 Strategeme: Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden und Die Klaviatur der 36 Strategeme: In Gegensätzen denken lernen stammen aus seiner Feder. Anhand einer Vielzahl von Anekdoten, überwiegend aus der chinesischen Geschichte, zeigt von Senger, dass die 36 Strategeme, die in einem Traktat der Ming-Zeit (1368–1644) vor etwa 500 Jahren in seiner heutigen Form zusammengestellt wurden, ein unerschöpfliches Potential für die unterschiedlichsten kulturellen Kontexte und Konfliktkonstellationen besitzen. Auf den ersten Blick handelt es sich bei der Schrift Die 36 Strategeme. Geheimbuch der Kriegskunst (sanshiliu ji. miben bingfa), auf die sich von Senger bezieht, um eine Sammlung von populären Redewendungen und Zitaten, die auf historische Legenden anspielen, in denen Schläue und List den Helden zum Sieg über meist stärkere Gegner verhelfen. Jedes Strategem beinhaltet einen Hinweis darauf, wie sich die Wirklichkeits- und Interessenswahrnehmung eines Gegners mit Hilfe überraschender, unkonventioneller Finten manipulieren lässt. Der Erfolg bei der Verwendung von Strategemen beruht auf Geistesgegenwart, Phantasie und Kombinationsgabe. Seine Anwen-

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Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit

dung kann nur durch beispielhafte Erzählungen angeregt, aber nicht systematisch gelehrt werden. Lebens- und Überlebenslisten sind für das Verständnis von »China« bedeutsam, weil sich an ihrem Beispiel den »kleinen« Traditionen des chinesischen Denkens nachspüren lässt, die neben der »großen Tradition« des Konfuzianismus eine untergründige, aber nicht minder wichtige Rolle spielen. Durch Listen lassen sich zumindest punktuell Freiräume in einer »Chinese World Order 2.0« gewinnen, in der die chinesische Regierung ihren Herrschaftsanspruch mit den Errungenschaften der Kommunistischen Partei Chinas und auch mit konfuzianischen Quellen legitimiert. Mit ihren Lebens- und Überlebenslisten eröffnen sich die Listreichen einen gestaltbaren Erwartungshorizont in einem Staatswesen, das wieder die alte Ambivalenz zwischen einer ehernen Ordnung und persönlichen Freiheitsräumen aufleben lässt. Neu im frühen 21. Jahrhundert ist das selbstbewusste Anknüpfen an die letzte Glanzzeit des kaiserlichen China, das 18. Jahrhundert. Unter den Kaisern Kangxi (regierte von 1661 bis 1722), Yongzheng (regierte von 1723 bis 1735) und Qianlong (regierte von 1735 bis 1796) expandierte das Reich. Es hatte ab etwa 1680 den inneren Frieden gesichert und im Osten und Süden des Landes einen durchschnittlichen Wohlstand erschaffen, der nicht wesentlich unter dem des damaligen Westeuropa gelegen haben dürfte. Wie von Senger hervorhebt, ist das chinesische StrategemeDenken ausgesprochen individualistisch und nonkonfirmistisch – im Gegensatz zum westlichen Klischee vom gemeinschafts- und autoritätsorientierten chinesischen Sozialverhalten. Gegenwärtig ist Sunzi, der chinesische Philosoph der Kriegskunst und des Sieges durch List, in seinen verschiedenen Adaptionen einer der einflussreichsten klassischen Denker. Sunzi (alternative Transkriptionen Sun Tsu, Sun Tzu, Sun Tse) lebte am Ende der Frühlingsund Herbstannalen (770–481 v. Chr.), um circa 544 bis circa 496 v. Chr. Der Titel des ihm zugeschriebenen Werkes lautet Sunzi bingfa, englisch: The Art of War, deutsch: Die Kunst der Kriegsführung. Angesichts der großen Popularität dieses Werkes drängt sich die Frage auf, ob Sunzi in seiner Bedeutung nicht selbst Kon26 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe

fuzius (551–479 v. Chr.) übertrifft, dessen Lehre von der heutigen chinesischen Staatsführung weltweit propagiert wird? Und, ganz nebenbei: Ist die Aktualität der Kunst der Kriegsführung nicht als Indiz dafür zu werten, dass viele Menschen die Rede von der »harmonischen Gesellschaft« nur mehr als leere Floskel ansehen? Ist nicht allen bewusst, dass sie in einer Gesellschaft leben, in der nur der überlebt, der listenreich ist? So weit möchte ich mit meinen Mutmaßungen nicht gehen, sondern einfach feststellen, dass das chinesische System einem Cluster aus zahllosen Elementen ähnelt, die empfindlich aufeinander reagieren, sich in ihrem Beziehungsgefüge unentwegt verändern und deswegen Eindeutigkeit nicht zulassen. Obgleich die offiziellen Normen wenigstens nach außen so scheinen, als ob sie in Granit gemeißelt wären, ist die Sphäre der praktischen Entscheidungen in dichten Nebel gehüllt. In ihr scheint auch das möglich zu sein, was der reinen Lehre widerspricht. Der britische Ökonom Donald N. Sull – Autor des Buchs Made in China: What Western Managers Can Learn From Trailblazing Chinese Entrepreneurs, 2006 – stellt den chinesischen Umgang mit der Ungewissheit sogar als Vorbild für ein globales Management in hochgradig unvorhersehbaren Märkten dar. Die wirtschaftliche Entwicklung und die Integration in globale Märkte verliefen so schnell, dass die langfristigen Pläne und Strategien, die westliche Firmen sich ausdächten, von vornherein zum Scheitern verurteilt seien. Chinesische Uneindeutigkeit und List scheinen somit einen Wettbewerbsvorteil darzustellen. Auf jeden Fall ist es nicht nur die Vorgehensweise vorsichtiger Dissidenten, sondern auch diejenige der Regierung selbst, nie eindeutig Position zu beziehen, um nicht den eigenen Handlungsspielraum einzuengen. * * * China gehört zu den wenigen Staaten der Welt, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein sozialistisches politisches System beibehalten haben. In allen für den Staat zentralen Fragen gilt unverändert der Führungsanspruch der KPCh. In dem personell verflochtenen Partei- und Staatsapparat durchdringt und kontrolliert eine hierarchisch-zentralistisch aufgebaute Parteiorganisati27 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit

on alle Ebenen der staatlichen Verwaltung mit ihrem Führungsanspruch. Das grundlegende Organisationsprinzip des chinesischen Parteistaates ist der sogenannte Demokratische Zentralismus, den Lenin erstmals 1902 in seiner Schrift »Was tun?« beschrieb. Die chinesische Volkswirtschaft jedoch verfügt über einen grundsätzlich marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnungsrahmen. Der wirtschaftliche Erfolg bestätigt die Annahme, dass ideologische Leitbilder für die Entfaltung wirtschaftlicher Potenziale äußerst bedeutsam sind. Mit seiner geballten Wirtschaftskraft gibt China zunehmend auf der internationalen Bühne den Ton an. Was nie zuvor in der Moderne einem nicht-westlichen Land gelang, ist China gelungen: Indem es mehr als ein Drittel zum globalen Wachstum beiträgt – fast doppelt so viel wie alle Industrieländer zusammen – und über die größten Devisenreserven der Welt verfügt, hat es für die Welt »Systemrelevanz« erlangt. Dennoch bezeichnet sich die Volksrepublik China selbst als das größte Entwicklungsland der Welt und offenbart auf diese Weise ein hybrides Selbstverständnis. Um mit diesem richtig umgehen zu können, wäre es wichtig, Abschied zu nehmen von überholten Denkmustern. Handelt es sich beim politischen System der Volksrepublik China um einen lernfähigen Leninismus? Man ist geneigt, diese Frage im Blick auf den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und die augenscheinliche Vitalität der chinesischen Gesellschaft in pulsierenden Weltstädten wie Shanghai mit einem »Ja« zu beantworten. Ich will dies aber nicht tun (als listiger Autor sage ich weder »Ja« noch »Nein«), sondern vielmehr den Abgründen und den Wegen der List folgen, die sich in diesem Geflecht aus Intransparenz, politischen Kurswechseln, Bürokratenwillkür und oftmals historisch überkommenen Gesetzeslücken auftun. Dies tue ich nicht in kritischer Manier: Mir liegt jede Art des China-bashing fern. Ich bin kein Kritiker anderer, allerhöchstens ein Kritiker meiner selbst. Mich interessiert »Die Kunst des Lebens und andere Künste«, denen der Philosoph Günter Wohlfart (geb. 1943) ein ganzes Buch gewidmet hat. Er hat seinem Buch den Untertitel »Skurrile Skizzen zu einem euro-daoistischen Ethos ohne Moral« gegeben. Meine Ausführungen kommen ebenso nicht ohne das Skurrile, das 28 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe

Lachhafte, das Bodenlose, das Niederschmetternde, Unglaubliche aus – sie leben aus, mit und von ihnen. * * * Brüche und Umbrüche markieren den Weg Chinas im 20. und 21. Jahrhundert. Ein typologisierendes Verfahren, das auf das Ganze einer ontologischen Kontinuität abzielt, wie es François Jullien (geb. 1951) praktiziert, hilft hier nicht weiter. Altbekannte Scheingewissheiten (zum Beispiel: China ist konfuzianisch) versprechen uns nur so lange Orientierungssicherheit, wie wir nicht auf etwas Unerwartetes stoßen, das den gewohnten Deutungsrahmen sprengt. Und das ist schnell passiert. Die chinesische Kultur wurde von westlichen Intellektuellen zeitweise bewundert, zeitweise verachtet, aber auch zeitweise angstvoll beobachtet. Daran zeigt sich beispielhaft die historische Bedingtheit der Fremd- wie auch der Selbstwahrnehmung, die dem gleichen Muster folgt. Derzeit wird die chinesische Kultur eher kritisch beäugt. Um sich einem Verständnis »Chinas« frei von Emotionen und rein sachlich annähern zu können, muss der Pauschalbegriff des »chinesischen Denkens« in seine eigene Vielfalt, aber auch in seine Widersprüche aufgefächert werden. Aber es ist auch Abschied zu nehmen von der beliebten Vorgehensweise, die Denktradition Chinas immer wieder nach Echo-, Kontrastund Gleichklängen zur abendländischen Denktradition abzuklopfen und dann, wenn sie gefunden sind, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu klären. Dies wurde hinlänglich in vergleichenden Studien zu Konfuzius und Kant praktiziert. Für die interkulturelle Philosophie besteht die Herausforderung darin, in der Beschäftigung mit dem geistigen China den Fallstricken der offiziellen Geschichtsschreibung und Ideologie zu entkommen und sich auf die Suchbewegungen einzulassen, in denen die individualistischen, herrschaftskritischen, spirituellen und religiösen Elemente wieder in den Blick kommen. * * * Für Ernst Cassirer (1874–1945) steht am Ende des Wegs der Kultur nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferi29 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit

sche Prozess erstarrt, sondern das ›Du‹, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt. 16 Was »China« anbelangt, so bedeutet dies, dass es kulturell erst dann zu sich findet, wenn es sich lebensweltlich nicht wieder durch eine große Mauer vom Rest der Welt absondert. In Erwiderung auf die chinesische Kulturpolitik, die zum einen starke und global wettbewerbsfähige Akteure in der Kulturindustrie hervorbringen will, zum anderen aber die freie Meinungsäußerung unterdrückt, ist festzuhalten, dass Kultur nicht einem Generalsubjekt unterliegt, dessen Verlautbarungen alle Beteiligten brav zuhören und folgen müssen. Im Bereich der Kultur sind wir nicht zu einem passiven Rezipieren oder einem Nachahmen in Kursen der Erwachsenenbildung verdammt. Grundlegend sind, folgt man Ernst Cassirer, • das dialektische Verhältnis mit einem ›Du‹ und • die Bereitschaft, dessen Werk eine Relevanz für das eigene Leben zu geben. »Kultur« basiert auf einem Ensemble ineinandergreifender Zeichen. Erst im Rahmen einer Interpretationsgemeinschaft entfalten sie ihr volles Leben, nicht nur national, nicht nur in durch die Regierung bestellten Beratergremien unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sondern in der community der Weltgemeinschaft oder, ganz einfach, der Gemeinschaft aller, die verstehen und sich dabei das Recht auf Rechthaben oder auch Irrtum nicht nehmen lassen wollen. Analysen, Zeitsprünge, Ungereimtheiten, Sinnentwürfe, die den jeweiligen kulturellen Ausdifferenzierungsprozessen folgen: Es ist unerlässlich, sich mit ihnen in ihrer ganzen Spannbreite auseinanderzusetzen.

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Cassirer 1961: 110.

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Zur Orientierung

2. Zur Orientierung Ausgangs- und Orientierungspunkt meiner Ausführungen sind drei Porträts, die uns in ihrer Unterschiedlichkeit sehr viel über ihr jeweiliges zeit- oder geistesgeschichtliches Umfeld sagen. Bei meiner Beschäftigung mit ihnen bin ich zu der Einsicht gelangt, dass mir die Bilder von Gesichtern – mögen sie wie versteinert gucken, lächelnd grüßen oder lauthals lachen – viel mehr über die chinesische Geisteswelt der Gegenwart und deren Befindlichkeit sagen als so mancher Begriff. Prosopopoeia: Gib der Sache ein Gesicht, dann kannst du selbst komplexe Konstellationen verstehen, ohne dabei auch nur im Geringsten an Differenziertheit einzubüßen. Mittels dreier Porträts werde ich charakteristische Einzelheiten der chinesischen Geisteswelt im 20. Jahrhundert aufzeigen: 1. Bild: Ich. Verlust der Kontrolle 2. Bild: Nicht-Ich 3. Bild: Ich. Entfremdung. Dem ein oder anderen sind die Darstellungen aus zwei meiner früheren Publikationen bekannt. Das erste Bild steht im Zentrum meines im Jahr 2000 veröffentlichten Aufsatzes »Das Unbedingte befindet sich immer am Rande der Lächerlichkeit. Zum Thema des Lachens in der chinesischen Gegenwartskunst und zum Ernst von Traditionen«. 17 Das zweite und das dritte Bild zitiere ich in meinem Buch Die große Geradheit gleicht der Krümmung. Chinesische Ästhetik auf ihrem Weg in die Moderne aus dem Jahr 2005 18 , in dem folgende Fragen im Vordergrund stehen: 1. Verengen die europäischen Traditionen des Denkens nicht den Blickwinkel auf die chinesische Kultur? 2. Inwieweit dürfen die Bedeutungssegmente, die durch den Vergleich zwischen den Kulturen in den Blick kommen, überhaupt als aussagekräftig für das gelten, was wir als »chinesische Phi-

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Geiger 2000. Geiger 2005.

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Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit

losophie«, »chinesisches Denken« oder auch »chinesische Ästhetik« bezeichnen? Bezogen auf die chinesische Geisteswelt im 20. und 21. Jahrhundert möchte ich diese Fragen neu formulieren. Gegenstand meiner Überlegungen ist nun nicht mehr das Verstehen im interkulturellen, sondern im innerkulturellen, chinesischen Kontext. Ich frage: 1. Greifen im heutigen China die institutionalisierten Formen des Denkens, darunter die akademische Philosophie, noch die zentralen Fragen der chinesischen Geisteswelt auf? Die Betonung bei dieser Frage liegt auf dem Begriff der »Institution« und deren repräsentativen Charakter für ein »chinesisches Denken«, das sich unter Umständen längst außerhalb der Institutionen artikuliert, auf die sich der ausländische Sinologe forschend konzentriert. 2. Sind sie, die institutionalisierten Formen des Denkens, nicht vielmehr zu Abteilungen einer alles kontrollierenden Bürokratie geworden, die mit Bedacht gerade die fundamentalen Formen des Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns ausklammert, um die es uns bei einer Beschäftigung mit China in interkultureller Hinsicht gehen sollte? Das erste Bild: »Ich. Verlust der Kontrolle« vermag uns in diesem Zusammenhang tiefe Einblicke zu geben. * * * Auf den drei Porträts, denen ich mich mit der Beschreibung von sinnlichen Details, geistes-/ kulturgeschichtlichen Exkursen und zwischengeschalteten Überlegungen annähere, herrschen Gesichter, zu denen sich die Körper, die verkleidet sind, wie Leibeigene verhalten. Als pars pro toto der Person zeigen sie sich als eine Art Metaobjekt, auf das sich das Wissen und die Wünsche um den Menschen konzentrieren: Gesichter sind Projektionsflächen, sie haben ihre eigene Fiktion. Gleichzeitig sind sie aber auch konkret und rufen in einem ganz bestimmten gesellschaftlichen und historischen Umfeld ganz bestimmte Assoziationen hervor. Zum Beispiel wird der Mensch in der chinesischen Porträtmalerei der Gegenwart zunehmend als ein Ich präsentiert, das von Verlassen32 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Geschichtlichkeit: Die Frage nach der Identität Chinas im 20. und 21. Jh.

heit gekennzeichnet ist. Hatte nicht Konfuzius (K’ung-fu-tzu, Meister Kong, 551–479 v. Chr.) einst die Tugendsamen eindringlich ermahnt, sich der Verlassenheit mit allen Kräften zu erwehren? Vergeblich. Einsamkeit ist unvermeidlich, wenn das Denken in die Dienste einer Art Wissensfabrik gestellt wird oder der Apologie eines Staates zu dienen hat. Trotz aller Versuche, sich der Verlassenheit zu erwehren, vor der Konfuzius warnt, bilden »Unergründlichkeit«, »Bodenlosigkeit«, »Entsicherung« das fundamentum concussum (Helmuth Plessner, 1892–1985) der gegenwärtigen chinesischen Geisteswelt. Im heutigen China wird der Verlust der vielfältig verflochtenen Solidarität, die das Individuum in der traditionellen Gesellschaft gleichzeitig fesselte und stützte, durch den Gewinn individueller Freiheiten nicht unbedingt aufgefangen. Dies am wenigsten, wenn sie der Allgemeinheit vom Staat nur in kleinen Dosen zugestanden werden.

3. Geschichtlichkeit: Die Frage nach der Identität Chinas im 20. und 21. Jahrhundert Ausgelöst durch die Begegnung mit dem Westen und dessen Denken wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die chinesische Geistesgeschichte neu gesichtet und strukturiert, wobei gleichsam nachholend die These der Aufklärung widerlegt wurde, dass die chinesische Kultur keine Geschichte besitze. China war von den europäischen Aufklärern unter anderem deshalb philosophisch ernst genommen worden, weil ihrer Auffassung nach aus den chinesischen, namentlich konfuzianischen Texten die »natürliche«, also von Zeit unverfälschte Vernunft spreche. Dies war im 18. Jahrhundert gewesen. Dagegen tendierten die chinesischen Denker am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu, zu ihrer eigenen Geschichte ein ganz spezifisches Verhältnis einzunehmen und deren Natürlichkeit in Frage zu stellen. Im Medium der Philosophie erschlossen sie sich ganz neue Zugangsweisen zur eigenen Tradition. Nicht wenige von ihnen zielten dabei auf eine Wesensbestimmung des »Chinesischen« in der Zeit ab. Auf 33 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit

dem Feld der Philosophie wurden Aussagen über das Wesen der chinesischen Kultur und Gesellschaft getroffen. Geistesgeschichtlich lässt sich dieser Vorgang folgendermaßen beschreiben: In einer Grenzsituation, die das Ende des Kaiserreichs für China darstellte, sah sich die chinesische Geisteswelt herausgefordert, über das Wesen chinesischen Denkens nachzudenken und dadurch einen Prozess zu eröffnen, der das Verstehen der geistigen Objektivationen in der eigenen Geschichte radikalisierte. Die Anziehungskraft, die die Philosophie als Wissenschaft ausübte, beruhte nun keineswegs allein auf den Erfolgen der westlichen Nationen. Der Glaube, man könne mit ihrer Hilfe die Welt des Geistes exakt bestimmen, hatte zwei Wurzeln: • eine chinesische, die noch von der traditionellen Vorstellung eines allgemeinen und umfassenden kosmischen Zusammenhangs genährt wurde, und • eine westliche, die bis zu den Ursprüngen der westlichen Philosophie im alten Griechenland zurückreicht. Das epochale Bewusstsein, das von diesem Glauben getragen wurde, drückt sich in einem Aufsatz, der in der ersten Nummer der im Juli 1907 von zwei Anarchisten in Paris gegründeten Zeitschrift Xin shiji (Das neue Jahrhundert) erschien, beispielhaft aus: Die Entdeckung wissenschaftlicher Universalgesetze und das Anschwellen der revolutionären Strömungen sind die eigentlichen Merkmale der Menschheit im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Beide ergänzen und beeinflussen einander und setzen so das natürliche Gesetz der sozialen Revolution in Kraft … Was man in der Vergangenheit eine Revolution genannt hat, war nur eine Veränderung der Oberfläche … Die Revolution des Neuen Jahrhunderts jedoch wird alle verändern, die sich nicht den Universalgesetzen anpassen. Und nicht allein das: diese Revolution wird überdauern und sich immer mehr dem Recht und der Wahrheit annähern. Sie ist folglich eine unbarmherzige und fortschrittliche Revolution, eine Revolution, die für das Glück der Menschen arbeitet.

Fast alle wichtigen Themen und Thesen, die in den politischen und geistigen Kontroversen des 20. und 21. Jahrhunderts von Bedeutung sein sollten, klingen in diesen Sätzen an. Sie wurden in einer im westlichen Ausland gegründeten Zeitschrift publiziert. 34 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Geschichtlichkeit: Die Frage nach der Identität Chinas im 20. und 21. Jh.

Nur wenige Jahre später drang der Ruf von Paris nach Beijing, denn die Revolution von 1911 brachte die Menschen und die revolutionären Ideen auf chinesischen Boden zurück. Er lebte weiter in der Bewegung für Neue Kultur und prägt meines Erachtens das chinesische Geistesleben bis in die Gegenwart. * * * Die Bewegung für Neue Kultur wird meist in einem Atemzug mit der Bewegung des Vierten Mai (1919) genannt und auf den Zeitraum von 1915 bis 1923 oder 1925 beschränkt. Meines Erachtens ist sie aber in einem weitaus größeren geschichtlichen Rahmen zu verorten, nämlich im Rahmen der sich bis zum heutigen Tage hinziehenden Umgestaltung Chinas. Die neue Moral, die in eine neue Kultur einmünden sollte, sollte vom Geist der Wissenschaft durchdrungen sein. Folgende Ideen der beiden genannten Bewegungen sind für das chinesische Geistesleben leitend geblieben: 1. das leidenschaftliche Eintreten für den Umbruch aller Lebensbereiche, 2. der szientistische Glaube an die Allmacht der Wissenschaft, 3. die messianische Begeisterung für das Glück der Menschheit. Bei diesen Ideen handelt es sich um wesentliche Strukturelemente der intellektuellen Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert, die sich selbst in jüngsten Debatten wiederfinden. Unter dem Eindruck der Unfähigkeit Chinas, den militärischen und wirtschaftlichen Eingriffen der europäischen Mächte zu begegnen und mit zunehmender Kenntnis der westlichen Zivilisation wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Bruch mit dem Konfuzianismus vollzogen. Weshalb es nun in den letzten Jahrzehnten zu einer erneuten Annäherung an ihn kam, lässt sich zuvorderst mit dem Verweis auf die Identitätsfrage erklären, mit der ein erstarktes China in der globalisierten Welt konfrontiert ist. Ich werde darauf gleich noch eingehen. An dieser Stelle möchte ich etwas anderes hervorheben. In der Begegnung mit dem Westen erwies sich das sogenannte »Eigene« brüchiger als das sogenannte »Fremde«. Der Schriftsteller Lu Xun (1881–1936) hat dies literarisch unter anderem in einem fingierten Diarium, dem »Tagebuch eines Verrückten« (ku35 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit

angren riji), dessen Abfassung er auf den 2. April 1918 datiert, zur Darstellung gebracht. Bei ihm reißt ein Abgrund zwischen Individuum und Gesellschaft auf, ein Abgrund, der kaum zu überbrücken ist, weil er selbst schon in jedem Einzelnen Platz gegriffen hat. * * * Lu Xun war einer der fleißigsten und kreativsten Rezipienten der Philosophie Friedrich Nietzsches (1844–1900), aber nicht der einzige. Fast alle Literaten aus der Gründergeneration der modernen chinesischen Literatur setzten sich in ihrer Frühzeit mehr oder weniger intensiv mit dem Denken des deutschen Philosophen auseinander. Als seine chinesischen Jünger dürfen neben Lu Xun Mao Dun (1896–1981), Guo Moruo (1892–1978) und Yu Dafu (1896–1945) gelten. Mit Ausnahme von Mao Dun verbrachten die genannten Autoren entscheidende Jahre ihres Lebens in Japan, wo sie auch die Bekanntschaft mit dem Werk Nietzsches machten. In geschichtsphilosophischer Hinsicht wurde das Denken Friedrich Nietzsches im Laufe der 1920er Jahre zum Gegenstand eines breiteren Interesses. Dies aufgrund ihres Anspruchs, ein Vorspiel zu der Philosophie der Zukunft zu sein. Es war die Zeit nach der Bewegung des Vierten Mai im Jahr 1919, als Mao Dun im Studentenmagazin (xuesheng zazhi) Nietzsches Gedanken einem breiteren Kreis von jungen Lesern bekannt machte. Aber auch heute noch besteht ein großes Interesse an ihnen. In den 1980er Jahren setzte in der Volksrepublik China eine neue Rezeptionswelle ein. Der Blick auf China zeigt, dass es Nietzsche im interkulturellen Kontext gelingt, das Gefühl des Epochenwandels auf eine faszinierende Weise zu vermitteln. Den Übergang vom metaphysischen Zeitalter zum Zeitalter der menschlichen Wirklichkeit schildert er als einen schicksalshaften Vorgang, der den Menschen zum einen mit einer ungeheuren Schuld belastet, zum anderen aber auch mit einer großen Aufgabe betraut. In Die fröhliche Wissenschaft lässt er den »tollen Menschen« sagen:

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Gott ist tot! Gott bleibt tot. Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dieses Blut von uns ab? … Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in einer höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war. 19

* * * Die Grundfrage Nietzsches nach dem Sinn des menschlichen Daseins im Ganzen des Seienden und nach dem Sinn des menschlichen Willens und der Geschichte innerhalb des natürlichen Universums ist so überzeugend, dass sie leicht kulturelle Barrieren zu überwinden vermag. Zarathustra will die »höchste Art alles Seienden« offenbaren; er ist ein Plan zu einer neuen Art des Lebens. Dabei besteht der Reiz, aber auch die Schwierigkeit dieser Philosophie darin, dass es nicht die großen Entwürfe sind, um derentwillen sie aktuell bleibt. Es sind ihre zeitdiagnostische, kulturkritische Kraft und ihr psychologisches Vermögen, die sie in den intellektuellen Debatten des 20. Jahrhunderts verankern, über Europa hinaus. Zarathustras entscheidende Erfahrung der Verwandlung und Wiedergeburt zu einer neuen »großen Gesundheit« nach einer großen Krankheit oder Verzweiflung findet in China anhaltenden Widerhall. Es ist gemäß Nietzsche das »Zeichen der großen Gesundheit«, »auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen«. 20 Damit vertritt er eine grundsätzlich in allen Kulturen mögliche Experimentalexistenz, die dem Einzelnen – und darin dürfte ihre besondere Ausstrahlung liegen – zu einer Perspektive des freien und offenen Denkens wie Schaffens in einem epochalen, kulturhistorisch bedeutsamen Kontext verhilft. * * * 19 20

Nietzsche 1999, Band 3:481. Nietzsche 1999, Band 2: 18.

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In einem gesellschaftspolitischen Kontext, der keine Voraussetzungslosigkeit zulässt, wurden im China des 20. Jahrhunderts philosophische Texte unter anderem aus dem Englischen und dem Deutschen übersetzt, um auf diese Weise Fragen zu klären, die auf die Felder der Ethik und der politischen Philosophie führen: An welchen Werten und Normen ist das eigene Handeln zu orientieren? Was ist das Gute? Welche Herrschaft darf als legitim gelten? In diesem Umfeld wurden natürlich auch sozialphilosophische Fragen berührt. Die verschiedenen Ansätze begannen miteinander zu konkurrieren. Unter anderem gerieten in den 1920er Jahren die Vertreter der Lebensphilosophie, die den vitalen Lebenszusammenhang als Wurzel der kulturellen und auch wissenschaftlichen Schöpfungen betonten, mit den Vertretern einer positivistischen, szientistischen Haltung aneinander. Genau zu dieser Zeit kamen im Bereich der praktischen Philosophie revolutionäre Theorien sowie auf dem Feld der theoretischen Philosophie kritische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien in den Blick. Alles sollte der Stärkung der Nation dienen. Da das Westliche zum Nutzen des Chinesischen studiert, im positiven Falle übernommen und angewandt werden sollte, konnte der Eindruck entstehen, dass auch bei der Rezeption westlicher Philosophie die chinesische Kultur ihrer ganz eigenen Dynamik und ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. In Wirklichkeit fand aber ein Traditionsbruch statt, dessen Ausmaß nur deswegen nicht erkannt wurde, weil, rein äußerlich gesehen, die chinesische Philosophie unter dem Dach des in den 1920er Jahren neu eingerichteten Fachs der Philosophie ihr ganz eigenes Dasein führte. »Westliche« und »chinesische« Philosophie bestanden nebeneinander und konnten, je nach Bedarf, miteinander ins Gespräch gebracht werden. Im philosophischen Dialog sollten sich West und Ost gegenseitig erhellen oder auch in Frage stellen. * * * Das neue Fach mit der Bezeichnung »chinesische Philosophie« ließ die Identitätskrise, aus der das Projekt einer Neubestimmung des geistigen Erbes Chinas hervorgegangen war, vergessen. Es 38 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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kam zu einem Fehlschluss. Man glaubte, ausgehend von bestimmten philosophischen Lehrsätzen auf eine faktische kulturelle Identität Rückschlüsse ziehen zu können, und übersah, dass sich diese Lehrsätze einer konstruierten Identität verdanken. Im Rahmen des Versuchs, mit dem »Chinesischen« an der chinesischen Philosophie eine Identitätsformel chinesischer Kultur zu entwickeln, wurden im Laufe der Zeit die Bestimmung und Festschreibung des »Chinesischen« langsam zu Aufgaben von nationaler Bedeutung. Sie konnten nicht mehr den Zwängen entraten, in die sie die Verknüpfung der philosophischen Forschung mit Fragen der kulturellen Identität gebracht hatte. Das Ergebnis ist folgendermaßen: Selbst Philosophen, deren Arbeitsschwerpunkt eindeutig im Bereich der westlichen Philosophie liegt, werden zu einem Kurswechsel verpflichtet und dazu gezwungen, sich nicht mehr, um nur ein Beispiel zu nennen, mit Albert Schweitzer (1875–1965), sondern mit traditionellen chinesischen Denkströmungen wie dem Konfuzianismus oder dem Daoismus zu beschäftigen. Im heutigen China wird das »nationales Lernen« (guo xue) genannt. Freigesetzt durch die Begegnung mit der westlichen Philosophie setzte ein Vorgang ein, der, wie am Beispiel des »nationalen Lernens« im Zeitalter der globalen Modernisierung ersichtlich ist, im Laufe des 20. Jahrhunderts • nicht nur westliche Formen und Inhalte in den chinesischen Horizont des Denkens einbrachte, sondern • ebenso das »Chinesische« auf eine neuartige Weise aktivierte. * * * Guo xue hat eine Geschichte von mehr als hundert Jahren. Der Gedanke des »nationalen Lernens« reicht bis in das letzte Jahrhundert der Qing-Dynastie (1644–1911) zurück. Seine Bedeutung lässt sich an Kang Youweis (K’ang Yu-Wei, 1858–1927) Buch von der großen Gemeinschaft (da tong shu, ta t’ung shu) ersehen. Kang erkannte die hoffnungslose Rückständigkeit Chinas, das Scheitern der militärischen und diplomatischen Reformbemühungen der Regierung und forderte deswegen eine gründliche

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Modernisierung der chinesischen Gesellschaft – so deutlich wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen. In seinem 1902 niedergeschriebenen, aber erst 1935 veröffentlichten Buch von der großen Gemeinschaft entwirft er ein ideales Gesellschaftssystem. Allerdings geht er, orientiert an der eigenen Vergangenheit, über die engen nationalen Grenzen hinaus, die die heutigen Denker mit ihren Überlegungen zu verteidigen versuchen. Kang Youweis Utopie ist kein starres U-topia, es ist an den realen Bedürfnissen und Sehnsüchten der Menschen orientiert. Ausgehend vom chinesischen Wirklichkeitssinn, in dem Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus und auch das Christentum auf eine höchst anregende Weise zusammenfinden können, konzipiert er eine Welt, in der schließlich alle nationalen und gesellschaftlichen Schranken überwunden werden. Das »nationale Lernen« muss also nicht, wie man an diesem frühen Beispiel ersieht, in einen kruden Alltagsnationalismus und -patriotismus einmünden, wie das im heutigen China der Fall ist. 1911 erlebte China eine Revolution, aus der die Republik China (1912–1949) hervorging. Ihr Führer, der früh verstorbene Sun Yatsen (Sun Zhongshan, 1866–1925), gehörte zu denen, die ausdrücklich daran interessiert waren, von den modernen Institutionen des Westens zu lernen. Doch in seinen öffentlichen Erklärungen um 1911 und auch in seiner Inaugurationserklärung als zeitweiliger Präsident der chinesischen Republik benutzte er die Sprache der konfuzianischen Klassiker, um seine politischen Ziele in Worte zu fassen. In seinen berühmten »Drei Prinzipien des Volkes« (san min zhuyi) wies er darauf hin, dass das Recht des Volkes in China schon seit abertausend Jahren durchdacht und begründet worden sei; jetzt gehe es nur mehr darum, ihm eine angemessene Form zu geben und die entsprechende Rechtspraxis einzuführen. * * * Schon zu Beginn der Republik China konnten sich jene Progressiven zu Wort melden, deren revolutionärer und anti-konfuzianischer Geist die Gründungsväter der Volksrepublik China dann später beseelte. Dagegen begann die in den 1920er Jahren und am 40 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Anfang der 1930er Jahre ebenso vorwiegend anti-konfuzianisch eingestellte Kuomintang (Guomindang) in dem Grade, wie sie innerlich verfiel, von den traditionellen konfuzianischen Tugenden zu sprechen. Sie führte das Konfuzius-Opfer wieder ein. Konfuzianische Tugenden wurden auch von den Japanern in dem von ihnen besetzten Nordchina während der Kriegsjahre 1937–1945 propagiert. So wurde im Laufe der Republik China der Konfuzianismus zur Begründung einer Gesellschaftsordnung herangezogen, die innen hohl und brüchig und, infolge der umwälzenden Weltereignisse, nicht mehr überlebensfähig war. Der Sinologe Otto Franke (1863–1946) brachte diese Erkenntnis 1927 in einem Vortrag klar zum Ausdruck: Wir werden nun mehr bei der Frage: Welche Rolle spielt der Konfuzianismus in der Krise der Gegenwart? die Antwort geben können. Diese Antwort lautet: keine Rolle. Oder höchstens: die eines Verstorbenen in einem zusammengestürzten Hause. Wer glaubt, den Konfuzianismus aus den Trümmern des alten China retten zu können oder zu sollen, der muss sich bewusst bleiben, dass er einen Leichnam trägt. Der mit Konfuzius und dem Konfuzianismus getriebene Kultus, der unter dem Einfluss ungeschichtlicher Vorstellungen im Abendlande vielfach Mode geworden ist, wird in China teils mit Erstaunen, teils mit einem Lächeln beobachtet. 21

* * * Die Sichtweise auf den Konfuzianismus nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 sollen verschiedene Schlaglichter verdeutlichen. Zuerst ein Foto, das erste Schlaglicht. Ich beschreibe es: Auf ihm ist Kong Fanyin, ein direkter Abkomme des Konfuzius, zu sehen, wie er seine Kritik an der damals als »reaktionär« eingestuften Ideologie des Konfuzius vorträgt. Um das Ausmaß der zu kritisierenden Verfehlungen zu verdeutlichen, hält er dem Betrachter eiserne Ketten entgegen, mit denen ein Großgrundbesitzer, der ebenfalls der Familie des Konfuzius angehörte, seine Arbeiter gefesselt habe. Kong Fanyin selbst war vor der Befreiung ein unterbezahlter Landarbeiter gewesen. Zum Zeitpunkt seiner 21

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Kritik hatte er sein Auskommen in der Volkskommune »Ostwind«. Zweites Schlaglicht. In der 1974 im Verlag für Volksliteratur (Beijing) erschienenen Anthologie Kampflieder zur Kritik an Lin Biao und Konfuzius (pi lin pi kong zhange) finden sich die Worte des zu dieser Zeit 58-jährigen Vorarbeiters Zhao Erwa, mit denen er seiner Kritik an Konfuzius Ausdruck verlieh. Sie wirken nach wie vor wie ein Donnerschlag. Er sagt: Wer ist schon dieser Konfuzius? Ich hab’ ihn nie gesehen. In der Vergangenheit und in der Gegenwart, in China und im Ausland gibt es Leute, die ihn in den Himmel heben, die ihn als ›Heiligen‹ bezeichnen, als ›Urlehrer‹, als ›Denker‹ und als was sonst noch. Hier meine Meinung: Konfuzius lebte wie ein Hund, der vor der herrschenden Klasse in einem fort mit dem Schwanze wedelte und Aussprüche hinterließ wie: es gebe ›allerklügste‹ und ›allerdümmste‹ Menschen und Menschen, die ›von Geburt an die Tugend kennen‹. Alle diese Konfuziusworte sind nichts als Hundefürze.

Und ein drittes Schlaglicht. Am Vorabend des siebten Jahrestages des am 8. August 1966 gefassten Beschlusses des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) über die Große Proletarische Kulturrevolution (wenhua da geming) veröffentlichte die Beijinger Volkszeitung (renmin ribao) einen Leit- und Grundsatzartikel eines Philosophieprofessors aus Kanton: »Konfuzius – ein hartnäckig die Gesellschaftsordnung der Sklaverei verfechtender Denker«. 22 Abermals wurde mit Meister Kong abgerechnet. Er wurde von den Kulturrevolutionären zu einem Überbleibsel der alten feudalistischen Gesellschaft und somit zu einem Hindernis für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung erklärt. Viertes Schlaglicht: Seinem 2545. Geburtstag zu Ehren wurde im Jahre 1994 Konfuzius gefeiert. Im Rahmen eines internationalen Symposiums, das vom 5. bis 8. Oktober 1994 abgehalten wurde, wurde das Thema »Historischer Rückblick und Vorausschau auf den Konfuzianismus im 21. Jahrhundert« ergründet. Es bot 22

Schickel 1976: 13.

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Geschichtlichkeit: Die Frage nach der Identität Chinas im 20. und 21. Jh.

die Plattform für die Gründung der »Internationalen Konfuzianischen Vereinigung« (guoji ruxue lianhehui) mit Lee Kuan Yew (1923–2015), dem damaligen Seniorminister von Singapur, als Ehrenpräsidenten. Nun fiel das Urteil über Konfuzius ganz anders aus. Der stellvertretende Ministerpräsident Li Lanqing (geb. 1932) verkündete während der Eröffnungszeremonie des Symposiums den etwa eintausend Anwesenden, dass Konfuzius einer der großen Denker und Erzieher in der chinesischen Geschichte sei; er sei der Ahnherr und Begründer der konfuzianischen Lehre; seine Gedanken stellten einen wichtigen Beitrag zur chinesischen Zivilisation dar. Während Li Lanqing noch mit einer gewissen Zurückhaltung zur Verbreitung der kritisch zu rezipierenden Gedanken des Konfuzius aufrief, proklamierte Li Ruihuan (geb. 1934), eines der sieben Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros des Zentral Komitees der KPCh, bereits »die Nutzbarmachung des Konfuzianismus für die heutige Realität«. * * * Der Bruch mit der konfuzianischen Vergangenheit, der in den 1950er und 1960er Jahren eingefordert und vollzogen worden war, wurde am Ende der 1970er wieder rückgängig gemacht. Leitend war hierbei die Einsicht, dass ohne Berücksichtigung des kulturellen Erbes Chinas der von Deng Xiaoping geforderte Aufbau eines »Sozialismus chinesischer Prägung« nicht zu bewerkstelligen sei. Die angestrebte Vervierfachung des Bruttosozialproduktes von 1980 bis zum Jahr 2000 mit Hilfe einer »sozialistischen Marktwirtschaft« und die Heranführung des Bruttosozialproduktes der Chinesen an das Niveau westlicher Länder bis zum Jahr 2050: diese materiellen Ziele der »sozialistischen Modernisierung« seien abzusichern durch den Aufbau einer sogenannten »Zivilisation des Geistes«. Eine solche Zivilisation solle, um noch einmal Li Lanqing anzuführen, »eine Generation neuer Menschen mit Idealen, Sittlichkeit, Kultur und Disziplin« beflügeln und den durch den Konsum, den Mammonismus und den extremen Individualismus der sozialistischen Modernisierungsära verschlimmerten »ethischen Analphabetismus« in Schach halten. Vom Standpunkt der Herrschenden als attraktiv erscheinen muss43 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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te auch die politisch stabilisierende Funktion, die der Konfuzianismus während der über 2000-jährigen chinesischen Kaiserzeit (221 v. Chr. bis 1911 n. Chr.) ausgeübt hatte. Mit ihm sollte China modernisiert werden, ohne dabei das Machtmonopol der KPCh infrage stellen zu müssen. Zu dem mit Lob bedachtem Erbe des Konfuzianismus wurde auf dem Konfuzius-Symposium vom Oktober 1994 unter anderem die Vorstellung von der »Harmonie zwischen Mensch und Natur« (tian ren heyi) gerechnet. Konfrontiert mit den Herausforderungen der Umweltpolitik zitiert die heutige Beijinger Führung sie häufig und lässt damit erkennen, dass sie sich, wie die Politiker der 1990er Jahre, selektiv-eklektisch auf das konfuzianische Erbe bezieht. Unter dem Motto des Lernens von der eigenen großen Tradition werden wissenschaftliche Projekte bereitwilligst mit großen Geldsummen gefördert, wenn sie der Nutzbarmachung der »guten« Komponenten des Konfuzianismus für die Belange der Modernisierungspolitik, darunter die Umweltproblematik, dienen. Altes wird für die Gegenwart nutzbar gemacht. Auf Seiten der chinesischen Regierung stehen bei dieser Renaissance des Konfuzianismus erstens der neu erwachte Stolz auf die eigene kulturelle Vergangenheit und zweitens der Wunsch, deren Essenz weltweit den Menschen nahezubringen, Pate. Schließlich (last but not least) versucht die KPCh, patriotische Gefühle anzusprechen, und zwar auch bei den Chinesen in der Diaspora, und sich als getreue Bewahrerin der chinesischen Kultur zu profilieren. * * * Was aber ist der Konfuzianismus? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich gleich zu Beginn meiner Ausführungen hervorheben, dass die Begriffe des »Konfuzianismus«, des »Neokonfuzianismus« der Song-Zeit (960– 1279) und des Neukonfuzianismus der Gegenwart Schöpfungen des Westens sind. In China wurde allenfalls seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert von der »Lehre des Herzogs von Zhou und des Konfuzius« (zhou kong zhi jiao) gesprochen. In späteren Zeiten wurde noch der Name des nach dem Herzog von Zhou 44 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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(lebte der Überlieferung nach bis 1105 v. Chr.) und nach Konfuzius lebenden Denkers Menzius (Mencius, Meng-tzu, Meister Meng, ca. 370–ca.290 v. Chr.) hinzugefügt. Das Wortungetüm lautete: »Lehre des Herzogs von Zhou, des Konfuzius und des Menzius« (zhou kong meng zhi jiao). Der in den westlichen Sprachen geläufige Begriff »Konfuzianismus« beruht auf der lateinischen Transkription der chinesischen Bezeichnung »Kong fuzi« (Lehrer Kong). Im Chinesischen ist dagegen von den »rujia« (wörtlich: Schule der Sanftmütigen) die Rede, wenn über die Geistestraditionen gesprochen wird, die wir im Westen als »konfuzianisch« bezeichnen. Der Begriff des »Konfuzianismus« verfügt also im Chinesischen über keine wörtliche Entsprechung. Weder bei den chinesischen Begriffen für »Konfuzianismus« oder »Neokonfuzianismus« noch bei demjenigen für »Neukonfuzianismus« (dangdai xin rujia) der Gegenwart ist der Name des »Konfuzius« zu finden. Wie sich am Begriff des »Neokonfuzianismus« ersehen lässt, verwendet die chinesische Terminologie zur Bezeichnung des Konfuzianismus Worte, die a) einfach nur die Periode (im Falle des Neokonfuzianismus: Lehre der Song-Zeit, 960–1279, songxue), oder b) eine bestimmte Richtung (wiederum im Falle des Neokonfuzianismus: »Lehre vom Prinzip«, lixue, oder »Lehre vom Sinn / Herz / Bewusstsein«, xinxue) hervorheben. c) Auch wird von keinem Ismus im Sinne eines Systems gesprochen. * * * Rujia bezeichnet ganz allgemein diejenigen, die philosophisch-intellektuell, mit friedlichen und nicht mit militärischen Mitteln für ihre Ziele eintreten. Die Gelehrten werden von den Militärs unterschieden. Die Etymologie des Zeichens ru lässt sich nicht eindeutig klären, sie ist umstritten. Es scheint aber klar zu sein, dass in der späten Zhou-Zeit (ca. 1100–ca. 256 v. Chr.) die Experten in den Sechs Künsten (Riten, Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Schreiben und Rechnen) als ru bezeichnet wurden. Sie traten nicht vor dem 5. Jahrhundert v. Chr. auf und hatten keine direkte 45 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Beziehung zu Konfuzius oder den konfuzianischen Lehren. Im engeren Sinne bezog sich der Begriff ru auf Fachleute im Ritualwesen; aufgrund der konfuzianischen Betonung der Riten wurde er schließlich gleichbedeutend mit Interpreten der Lehrtradition, die mit Konfuzius ihren Anfang genommen hatte. Es handelt sich, wie der Begriff »jia« von rujia besagt, um eine beziehungsweise mehrere Schulen, die sich alle auf Konfuzius berufen, aber in der Bewertung seiner Person voneinander abweichen. Die einen sehen und ehren in ihrem Meister den vollkommenen Menschen, andere verstehen und schätzen ihn als Überlieferer einer bestimmten, durch das Mandat des Himmels (tian) legitimierten Herrschaftsform. Damit sind einflussreiche Positionen bestimmt: a) ein an den einzelnen gerichteter moralischer Rigorismus, b) dann eine autoritäre Staatslehre. Das Bildungsziel liegt in der Selbstvervollkommnung des Menschen, dessen Natur von den einen als gut, von den anderen als schlecht eingeschätzt wird. Letztere sind der festen Auffassung, dass das Gute an ihr sich allein dem Kulturbemühen der Weisen verdanke. Zusammengefasst verdeutlicht der Begriff »rujia«, dass die Lehre des Konfuzius durch eine Gelehrtenschicht vorgeprägt worden ist. Sie hat traditionsbildend auf sie gewirkt. Das Gleiche gilt für die konfuzianischen »Klassiker«, die sicherlich nicht von Konfuzius persönlich redigiert oder gar verfasst worden sind. Sie stellen einen Ausschnitt aus der frühen vorkonfuzianischen Literatur dar, aber keineswegs einen untypischen. Konfuzius ist nicht der erste chinesische »Philosoph«, wie es die fromme Überlieferung will. Spuren »philosophischen« Denkens lassen sich durchaus schon vor ihm nachweisen. Allerdings ist er der erste chinesische Gelehrte ru, dem es gelungen ist, eine Schule zu gründen und eine ganze Reihe von Anhängern dazu zu inspirieren, seinen Namen und seine Gedanken weiterzutragen. Anders als den griechischen Philosophen der Achsenzeit, die immerhin einiges von der Hochkultur in Ägypten gewusst haben, hat Konfuzius kein anderes Anschauungsmaterial als die eigene Geschichte zur Verfügung 46 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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gestanden. Inhalt und Form seines Denkens sind nicht ohne den tiefgreifenden Wandel zur Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (770–481 v. Chr.) zu denken. Nicht länger durch Herkunft, sondern sich durch persönliche Fähigkeiten auszeichnende Männer machten dem alten Erbadel die Posten streitig. Die Sozialstrukturen wurden flexibler. * * * Um ein besseres Verständnis der gegenwärtigen Ideologisierung des Konfuzianismus zu ermöglichen, möchte ich zwischen zwei Formen des Konfuzianismus unterscheiden: 1. dem Konfuzianismus des Meister Kong, den das Abendland auf den Namen »Konfuzius« taufte, und 2. dem Konfuzianismus der Gelehrten ru. * * * Erstens: Konfuzianismus des »Meister Kong«, Kongzi. Der Überlieferung nach war er eine von Konfuzius um 500 v. Chr. begründete soziale und politische Philosophie, die 200 Jahre später von Menzius, der sich als der Vollender seines Werkes verstand, erweitert wurde. Kein Fürst war zu Lebzeiten des Konfuzius bereit, seine Lehre in reale Politik umzusetzen und, seinem Rat folgend, den Staat nach dem Muster der alten Herrscher zu regieren. Erst einige Jahrhunderte später sollte der Konfuzianismus, nach Anleihen bei seinen Gegnern, zur staatstragenden Philosophie des chinesischen Kaiserreichs werden. Seit dieser Zeit bietet er für große Bevölkerungskreise nicht nur in China, sondern auch in weiteren Ländern Ostasiens eine ethisch-kulturelle Orientierung, diese aber häufig in einer synkretistischen Durchdringung mit anderen asiatischen Lehrsystemen oder Religionen, obgleich die Lehrsätze des »Meisters Kong« ausdrücklich jede magische oder animistische Art zu denken zurückweisen. Der Konfuzianismus wurde in China ungefähr 130 Jahre vor unserer Zeitrechnung als offizielle Lehre eingeführt, sozusagen in den Stand einer Staatsreligion erhoben. Damit aber begann die Geschichte seiner stufenweisen Sinnentleerung und Veräußerlichung. Zu Recht weist Nicolas Zuffrey in seinem Buch To The 47 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Origins of Confucianism. The Ru in pre-Qin times and during the early Han dynasty aus dem Jahr 2003 darauf hin, dass der Versuch einer Definition des Konfuzianismus immer unter politischen Vorzeichen stehe. Als Belege hierfür möchte ich a) die im 11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung einsetzende »neokonfuzianische« Bewegung, die den Konfuzianismus zu der staatstragenden Lehre beziehungsweise Ideologie machte, die er bis zum Ende des chinesischen Kaiserreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts blieb, und b) den Diskurs um asiatische Werte nennen. Dieser Diskurs war die Antwort einiger asiatischer Politiker auf den Niedergang des Realsozialismus in Osteuropa und den Kommunitarismus im Westen. Auf der Suche nach einer neuen Weltordnung formulierten die Vertreter asiatischer Werte im Rückgriff auf den Konfuzianismus eine neue Form des asiatischen Selbstverständnisses. Das Beispiel Singapurs machte genau zu dem Zeitpunkt Schule, als in China die Führungselite unter Deng Xiaoping, wie gerade beschrieben, den Konfuzianismus als geeignetes Instrument zur Legitimierung ihrer Herrschaft entdeckte. Die Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen von Staat, Regierung und Gemeinschaft wurde ex post zur Ursache des ostasiatischen Erfolgs erklärt, zu »asiatischen Werten« umdefiniert und sodann der Weltgemeinschaft als Richtschnur vorgesetzt und zur Nachahmung empfohlen. * * * Zweitens: Der Konfuzianismus der Gelehrten ru beziehungsweise der eben bereits erwähnten und vorgestellten rujia. Sie bilden eine Tradition innerhalb des »konfuzianischen« Erbes Chinas, die sich nicht so leicht wie der derzeit ideologisch überhöhte Konfuzianismus des »Meisters Kong« für die Zwecke des »Sozialismus chinesischer Prägung« instrumentalisieren lässt. Es gab immer wieder unter ihnen Persönlichkeiten und Schulen, die das konfuzianische Projekt der Verwirklichung von Menschlichkeit vor dem Schicksal der missbräuchlichen Verwendung, zum Beispiel als reiner Karrieregelehrsamkeit, zu retten versuchten. 48 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Ihnen ist es zu verdanken, dass trotz der staatlichen Vereinnahmung des Konfuzianismus dessen kreative Impulse nie ganz erstickt wurden. Die in Berlin lehrende Eun-Jeung Lee hat in ANTI-EUROPA. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft (S. 618) den Verblendungszusammenhang, in dem sich mittlerweile Ost und West in Bezug auf den Konfuzianismus befinden, treffend beschrieben. Ich zitiere: Betrachtet man den gesamten Kontext, in dem sich im Osten wie im Westen die Debatte um asiatische Werte entfaltet hat, kann man sagen, dass die Dynamik und Popularisierung dieser Debatte nicht unwesentlich auf einem bemerkenswerten Zusammenspiel zwischen den autoritären Herrschern Asiens und den neokonservativen Kräften des Westens, insbesondere in den USA, beruhte. Sie warfen sich gewissermaßen gegenseitig die Bälle zu: im Westen wurde die ›konfuzianische‹ Genüg- und Fügsamkeit der Arbeiter Ostasiens zumindest rhetorisch zur Disziplinierung der Arbeiterschaft und zum Abbau des Sozialstaates und von Rechten der Arbeiter instrumentalisiert. Umgekehrt diente in Ostasien die internationale Anerkennung der wirtschaftlichen Erfolge zur Rechtfertigung autoritärer Herrschaft. Zugleich wurde der im Westen zur Grundlage dieser Erfolge erklärte Konfuzianismus als neue Legitimationsquelle entdeckt und propagiert. Im Westen sollte dies wiederum als Bestätigung des konfuzianischen Charakters des ostasiatischen Kapitalismus gewertet werden. Eigentlich ein Spiel: Die eine Seite malt ein Bild von der anderen und hält es ihr dann wie eine Maske vors Gesicht. Anschließend versichert man sich gegenseitig, dass die Masken die Wirklichkeit sind, und manche Maskenträger glauben es am Ende selbst.

* * * Je nach Standpunkt wird der Konfuzianismus als Ideologie, Philosophie, Religion oder, ganz allgemein, als Hort asiatischer Werte interpretiert. Unter anderem Mou Zongsan (1909–1995) hat hervorgehoben, dass jede konfuzianische Schule ihren eigenen Schwerpunkt und ihre eigene Orientierung wählte. Im Laufe des 20. Jahrhunderts trat der Konfuzianismus als Neukonfuzianismus in den Wettstreit mit den großen Systemen westlicher Philosophie und politischen Denkens. Folgt man einem seiner prominenten Vertreter, dem Harvard-Philosophen Du Weiming (Tu Wei49 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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ming, geb. 1940), dann verdanken sich der Konfuzianismus und seine Werte der Vorstellung, dass das Individuum in der Mitte von teilweise konzentrischen, teilweise sich überschneidenden Beziehungskreisen steht. Diese beginnen mit der Familie, dehnen sich aus zu den Kollegen im Arbeitsleben, den Freunden, den Gemeindemitgliedern und, über Staat bzw. Land hinaus, bis hinein ins Universum. Siehe sein Buch Confucian Thought: Selfhood as Creative Transformation aus dem Jahr 1985. Der »Neukonfuzianismus« (xin ruxue), der von dem Neokonfuzianismus der Song- (960–1279) und der Ming-Zeit (1368– 1644) zu unterscheiden ist, entstand unter anderem als eine Reaktion auf den Ikonoklasmus der Bewegung des Vierten Mai. Er wirkte für die damaligen konfuzianisch gesinnten Gelehrten identitätsbildend, indem er ihr Denken entweder • im globalen Kontext an einer möglichen internationalen Gemeinschaft »konfuzianischer Intellektueller«, zu denen Philosophen, Schriftsteller, Künstler, aber auch Politiker, Geschäftsleute und andere gehören konnten, oder, • im chinesischen Kontext an der Aufgabe einer möglichen Wiederherstellung von chinesischen Denkweisen und Werten orientierte. Insbesondere mit dem Ziel einer kulturellen Renaissance konnten sich politisch-kulturelle Leitbilder, die für die Herausbildung eines Alltagsnationalismus förderlich waren, nahtlos verbinden. Der Konfuzianismus machte Karriere als Korrektiv einer unbefriedigten Aufklärung. * * * Zu Recht widersetzten sich die Denker des Neukonfuzianismus der Kritik, mit der der Konfuzianismus dermaßen pauschal von den Akteuren der Bewegung für Neue Kultur und der Bewegung des Vierten Mai bedacht wurde. Zu Recht traten sie der allzu generell geäußerten und überdies eurozentrisch geprägten Meinung entgegen, dass konfuzianische Positionen immer nur schädlich für die Entwicklung der Wissenschaft gewesen seien, einen kritischen und strengen Umgang mit dem Wissen verhin50 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Geschichtlichkeit: Die Frage nach der Identität Chinas im 20. und 21. Jh.

dert und durch die Unterwerfung des Einzelnen unter die Normen gesellschaftlicher Gruppen den Individualismus unterminiert hätten. Zu Unrecht aber verwenden seit geraumer Zeit Führer ost- oder südostasiatischer Staaten (neu-)konfuzianische Positionen zur Rechtfertigung autoritärer Eingriffe in Demokratie und Wissenschaft. Misstöne haben mittlerweile das in der Theorie so stimmige Bild von einer weltweiten, nationale Grenzen überschreitenden Gemeinschaft »konfuzianischer Intellektueller« zu stören begonnen. Als Folge der wirtschaftlichen und politischen Interessenskonflikte Chinas mit dem Rest der Welt ist der Konfuzianismus unversehens zu einem in sich geschlossenen System von Werten geworden. Indem ein kausaler Zusammenhang zwischen Kultur und Nation, Kultur und Macht hergestellt wird, hat er die Ebene des philosophisch-ästhetischen Austausches verlassen. Maskenspiel. Da es einfach nicht gelingen will, das Besondere der chinesischen Denkbewegungen mit dem internationalen Diskurs in eine Beziehung zu setzen, erschöpft sich die Auseinandersetzung mit dem Konfuzianismus derzeit in Formulierungen, die einfach nur das Chinesische am Chinesischen bestätigen sollen. Dies geschieht meist, wie bei Du Weiming, mit Ausführungen zum Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, die, ganz en passant, eine spezifische Form von Herrschaft legitimieren. Wir können dies einordnen: Von Anfang an hat die moderne Rechts- und Staatsphilosophie Herrschaftslegitimation und Herrschaftslimitation als ihre zentralen Aufgaben angesehen. Gleichzeitig musste der Anarchist und Naturzustandsillusionist widerlegt und der Etatist gemäßigt, institutionell gebunden und normativ gezähmt werden. Und die neuzeitliche politische Philosophie hat großartige Konzeptionen entwickelt, um dieser sich verschränkenden Doppelaufgabe gerecht zu werden. Sie hat in ihren Theoriegebäuden die Gleise gelegt, denen dann die politische Wirklichkeit in ihrer zivilisatorischen Fortentwicklung zum Rechtsstaat, Verfassungsstaat und zur Demokratie gefolgt ist. Um endlich auch im chinesischen Kontext die Diskussion auf diese Punkte lenken und zum Beispiel über Rechtsstaatlichkeit mit Gewinn sprechen zu können, wäre der Zweifel an dem »Altertum«, 51 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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wie es von Philosophen wie Du Weiming verstanden wird, angesagt. * * * Im qing-zeitlichen China (1644–1911) war eine rege Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte erfolgt, in der das geistesgeschichtliche Erbe textkritisch aufgearbeitet und dabei auch strukturiert wurde. Liang Qichao (1873–1929) bezeichnet diese im 17. Jahrhundert anbrechende Bewegung als »Befreiung durch Wiederbelebung des Altertums«, die sich seiner Meinung nach bis zum 19. Jahrhundert in fünf Schritten vollzog, in deren Verlauf die jeweils zur Gegenwart nähere Lehre kritisch untersucht und verworfen wurde. So wurde Schicht für Schicht von dem im Laufe von zweieinhalb Jahrtausenden aufgebauten Lehrgebäude des Konfuzianismus abgetragen, bis von ihm nichts mehr übrig blieb. Mit der »Wiederbelebung der Vergangenheit« war die Vergangenheit und mit ihr die Basis für die Zukunft langsam abhandengekommen, so dass sich zum Ende der Qing-Zeit eine »lähmende Melancholie« ausbreitete. 23 Die Geschichtsstudien zu Beginn der Republikzeit, also nach dem Jahr 1911, waren vom Skeptizismus geprägt. In der Bewegung »Zweifel am Altertum« (yi gu), die Hu Shi (1891–1962) einleitete, wurde der Zweifel zum Ausgangspunkt der Geschichtsstudien erhoben. Dabei ging den Konfuzianern die Geschichtswissenschaft als eine der Domänen, in der sie ihre Weltsicht darzustellen pflegten, verloren. Ebenso büßten die konfuzianischen Klassiker ihre Heiligkeit und ihre Autorität ein. Die »Umwertung aller Werte« wurde propagiert. Chow Tse-tsung (1916–2007) bezeichnet es als Ruf der Zeit, was Chen Duxiu (1879–1942) in einem Artikel schrieb: Zerstören? Zerstört die Idole. Unsere Vorstellungen müssen auf der Realität und der Vernunft beruhen. All die Phantasien, die von alters her überliefert wurden, die religiösen, politischen und ethischen und all die anderen falschen und unvernünftigen Vorstellungen sind Idole, die zerstört werden müssen! Wenn diese Idole nicht zerstört werden, kann die 23

Bauer 1974: 345.

52 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Geschichtlichkeit: Die Frage nach der Identität Chinas im 20. und 21. Jh.

universale Wahrheit nicht wieder so hergestellt werden, dass wir wirklich an sie glauben. 24

Vor diesem Hintergrund half Nietzsches Gedankengut den chinesischen Intellektuellen bei ihrem eigenen Bemühen, die verkrusteten Strukturen der chinesischen Gesellschaft aufzubrechen. Die »Umwertung aller Werte« konnte zu einem Schlagwort werden, das unter anderem Eingang in das Programm der reformerischen Zeitschrift die Neue Jugend (xin qingnian) fand. * * * Um das Thema der Identität mit Gewinn behandeln zu können, ist zwischen »kleiner« und »großer Tradition« zu unterscheiden. Letztere wird vornehmlich vom Staat repräsentiert. Mit ihr wird unter anderem versucht, kulturell die Moderne mit sich selbst auszusöhnen und die Entpersönlichung in der Gesellschaft durch illusionäre Gemeinschaftlichkeit abzumildern. Dagegen bedeutet die »kleine Tradition« den persönlichen, individuellen Umgang der Akteure mit dieser illusionären Gemeinschaft. 25 Die Volksrepublik China legitimiert sich durch die »große Tradition«, sie spiegelt sich in ihrem Glanze. Für ihr Gesellschaftsmodell hat sie eine Bezeichnung gefunden, mit der sie die Macht der »großen Tradition« mit dem Machtanspruch der Kommunistischen Partei Chinas verbindet: »Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten«. Alle Versuche, nebenzudenken, entlangzudenken, hinauszudenken oder gegenzudenken, werden mit diesem Entwurf, der Tradition und Moderne lückenlos miteinander verbindet, in ihre Schranken verwiesen. In Entsprechung dazu wird die »kleine Tradition«, die für die individuelle, persönliche Sicht steht, nicht oder nur ungenügend respektiert, obgleich zum Beispiel in Ausstellungen, in denen das Werk einzelner chinesischer Künstler vorgestellt wird, zuvorderst sie und nicht die »große« gemeint ist. Der Gedanke der Experimentalexistenz wird abgedrängt, um eine andere Art der »großen Gesundheit« heraufzubeschwören: die Gesundheit der unsterblichen chinesischen Nation. 24 25

Galik 1971: 9. Kößler, Schiel 1996: Kp. 5.

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Genau an diesem Punkt, der für die Frage der individuellen Freiheit von großer Wichtigkeit ist, wird nicht zwischen den beiden Formen der »kleinen« und der »großen Tradition« unterschieden und, im Angesicht des Kulturriesen China, alles letzterer zugeschrieben. Die Elemente der »kleinen Tradition«, die sich als zu sperrig für die »große« erweisen, verschwinden dabei einfach im Niemandsland zwischen den Kulturen, während sich die »große Tradition« wie aus einem Guss und auch ohne jeden Fremdkörper präsentiert. Es ist ganz einfach: Wer seine »kleinen« Traditionen nicht in die »großen« zu integrieren vermag, ist ein nemo, ein nobody in Sachen Kultur und, was ebenso schlimm ist, ein Ausgestoßener aus der eigenen Nation. Er muss die internationalen Kunstmessen und die Freundschaftsveranstaltungen durch den Hinterausgang verlassen, ihn lädt keiner mehr zu einer Podiumsdiskussion ein. * * * Dem »Chinesischen« an der chinesischen Kultur liegt ein Begriff von Tradition zugrunde, der nicht konsequent genug in Bezug auf seine Bedeutungsgehalte befragt wird. Er wird – übrigens nicht nur in China, sondern auch im Westen – monolithisch, abgeschlossen, geradezu sakrosankt ausgelegt und ganz undifferenziert dem modernen Menschen vorgehalten. Von Hans Urs von Balthasar (1905–1988) wissen wir, dass sich menschliche Tradition auch da ereignet, wo das Sterben ist. 26 Ich möchte, in Abwandlung dieses Satzes, feststellen, dass nur da Kultur lebendig ist, wo sie auch absterben, im Nichts endigen kann. Aber im Falle Chinas durfte und darf das Sterben in dem von Hans Urs von Balthasar gemeinten geschichts- und traditionsbildenden Sinne nicht sein, weil sich mit dem Begriff der chinesischen Kultur wieder allzu viele Vorstellungen verbinden. Es geht um Macht und um Deutungshoheit, weswegen die Tradition auch nicht nur für eine Sekunde ins Nichts fallen darf, obgleich gerade dies für ihre lebendige Fortführung so wichtig wäre. Sie wird rund um die Uhr in Fernsehshows am Leben erhalten. Ihr ist, wie man 26

Balthasar 1970: 95.

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Hero

im Berufsleben sagt, keine »Auszeit« gegönnt, nach der sie sich dann wieder raffen, übersteigen und ins Ungewisse ergießen könnte. Dem »Chinesischen« wird mit den Mitteln der modernen Medien und der Unterhaltungsindustrie neues Leben eingehaucht; gleichzeitig wird es von allem abgegrenzt, was von den Gelehrten, die auf die »große Tradition« spezialisiert sind, als »westlich« identifiziert wird. Auf diese Weise ergibt sich ohne Not eine Dichotomie zwischen Tradition und Moderne, zwischen dem Westen und China, die man wiederum nur unter Zuhilfenahme eines essentialistisch verstandenen Begriffs des »Chinesischen« glaubt auflösen zu können.

4. Hero Selbstverkleinerung und Großmachtphantasien geben sich in China die Hand. Das Selbstverständnis, das sich darin offenbart, lässt fast schon vergessen, dass der idealistische Internationalismus, der das Denken in China vom Ende des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts bestimmte und letztendlich zur Übernahme des Marxismus-Leninismus führte, in Teilen der chinesischen Geisteswelt fortlebt. Trotz des heute verordneten Patriotismus und Nationalismus ist ihr der Gedanke einer humanen Universalität tief eingepflanzt, denn er gab ihr die entscheidenden Impulse für ihr Denken und ermöglichte ihr auch in Phasen der ideologischen Verengung geistig-ideell das Überleben. Angesichts der Globalisierung stellt sich aber die Frage, worauf sich denn heute die Hoffnung eines »›Weltfesttags‹ des gegenseitigen Verständnisses und einander alternierend Ins-Licht-Setzens« der Kulturen gründen kann, um eine Redewendung von Walter Jens (1923–2013) zu verwenden. 27 Sind es nach wie vor ein bestimmtes Menschenbild und die Vision des Humanen, die von einer Weltkultur träumen lassen? Ist es die Begeisterung für Jens 1988: 43. Der Begriff des »Weltfesttags« stammt von Maxim Gorkij (1868–1936).

27

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die großen und einzigartigen Künstler und Denker gleich welcher Kultur, mit der die Grenzen zwischen den Nationalstaaten überwunden werden können? Oder liegt etwa dem Gedanken der Weltkultur nur ein Handelsgeschäft des Geistes zugrunde, von dem im Zeitalter der Globalisierung eine hohe Rendite erwartet wird? * * * Die Frage nach der kulturellen Identität, von der die geschichtlichen Überlieferungen Zeugnis ablegen sollen, ist nichts anderes als ein weiterer Beweis für die geschichtliche Bedingtheit des Denkens, von der ich soeben sprach. Geschichte stellt entgegen aller landläufigen Meinung keine Realität dar, die man beim Besuch der Terrakottaarmee des Ersten Kaisers von China, Qin Shihuangdi (259–210 v. Chr.) in der Nähe von Xi’an, dem alten Changan, oder des Palastmuseums in Beijing gleichsam mit Händen greifen kann. Die Idee von Geschichte ist vielmehr ein symbolisches System, dem gerade in China von alters her eine besondere Bedeutung zukommt. Als Kulturgeschichte trägt sie gleichermaßen utopische wie reaktionäre Züge und tendiert dazu, ihre ununterbrochene Kontinuität zur letztverbindlichen und höchsten Instanz zu erheben, wie unter anderem die Unterhaltungskultur zeigt, die sich rund um Qin Shihuangdi, der den zentralistischen chinesischen Staat gründete, rankt. Sie inspirierte Theater- und Filmregisseure. An dem Heldenepos Zhang Yimous (geb. 1950) Hero, das 2003 in den deutschen Kinos anlief, lässt sich beispielhaft ersehen, wie ausgehend von einer bestimmten historischen Figur – hier des Ersten Kaisers von China – kollektive Identität mit »chinesischen Besonderheiten« (zhongguo tese) hergestellt wird. Der Film stellt unter Beweis: Alles Natürliche ist konstruiert, das Gegebene ist immer irgendwie gemacht, und, nein, nichts kann anders sein, als es ist, auch wenn es aufgrund von ethischen Überlegungen ganz anders sein müsste. Der Ruf, den wir im »Alten Europa« aus der Ecke der Identitären Bewegung vernehmen, schallt uns auch hier ganz laut entgegen: »Wir haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, unsere nationale Persönlichkeit und auch un56 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Hero

ser Recht auf Differenz zu verteidigen.« Konfuzius und sein humanes »Sorge-Bewusstsein« schweigen, dafür tönt die Botschaft des Films umso lauter. Sie verdankt sich auf der erzählerischen Ebene einem höchst geschickten Kunstgriff, auf den ich nachfolgend eingehen werde. * * * Hero spielt in dem historischen Moment, in dem sich das Königtum Qin (221–207 v. Chr.) zur Vorherrschaft über die anderen Königtümer aufzuschwingen und kraft seiner militärischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Macht die vielen Kleinstaaten zu dem einen Reich zu vereinen beginnt. Im Zentrum des Films steht ein Attentäter, der, obgleich die Gelegenheit zum Tyrannenmord immer näher rückt und am Ende nur mehr am Schopfe gepackt werden muss, auf sie verzichtet und sich sogar selbst opfert, um nicht die Einheit Chinas im letzten Augenblick scheitern zu lassen. Der Gedanke der Einheit und, mit ihr, der durchgängigen institutionellen Identität ist bedeutender als alle anderen Erwägungen, das ist die Botschaft des Films. Und weil die Einheit des Reichs und die Bewahrung des Friedens höchste Güter darstellen, sind ihnen selbst Gerechtigkeit und Menschlichkeit unterzuordnen, wie der zu Beginn des neuen Jahrtausends gedrehte Film den Kritikern der jetzigen chinesischen Regierung mit diesem historischen Beispiel deutlich machen will. Über nahezu die gesamte Länge des Filmes hinweg kann sich der Zuschauer ungestört mit der Geschichte und den Motiven von »Regimegegnern« in Gestalt von potenziellen Attentätern vertraut machen und, was ganz wichtig ist, sich mit ihnen identifizieren. Aufgrund von moralischen Überlegungen kann sich im Laufe des Films kritisches Potenzial entfalten und auch personifizieren. Umso gewaltiger und nachhaltiger ist dann die Wirkung, wenn sich das Ansinnen der potenziellen Attentäter, mit deren Person und mit deren Zielen der Zuschauer eine emotionale Bindung eingegangen ist, am Ende des Films plötzlich ins Nichts auflöst und die dadurch frei werdenden Energien ungebremst der ganz eigenen Botschaft des Regisseurs zufließen. Was auf Grund seiner Unmenschlichkeit und kalten Macht zuerst dem Zuschauer fremd 57 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Denkirritationen und kritische Erinnerungsarbeit

gegenübersteht und von ihm als Ziel eines möglichen Attentats akzeptiert wird, gewinnt auf einer neuen Ebene, der ideellen Ebene des Reichsgedankens, eine positive Bedeutung, da sich ja die antagonistischen Elemente selbst liquidiert beziehungsweise aus dem Rennen gezogen haben. * * * Zurück in die Gegenwart. Nach wie vor wird im »Land der Mitte« Macht nicht auf demokratische Weise erworben; die Machtfrage wird in einem engen Kreis von Eliten gelöst. Hier gilt allein der Führungsanspruch der Kommunistischen Partei Chinas. Ein personell verflochtener Partei- und Staatsapparat durchdringt sämtliche Ebenen der staatlichen Verwaltung und kontrolliert sämtliche Führungsorgane des Militärs, der Wirtschaft und der Gesellschaft. Wie im Film Hero herrscht ein »Konformismus des Andersseins« (Norbert Bolz, geb. 1953), in dem alle Überlegungen – seien sie politischer, ethischer oder, ganz allgemein, humaner Natur – zu Gunsten der einen Idee, der Größe und Einheit der Nation, geopfert werden. Ganz gleich, ob Ethiker, Historiker, Politikwissenschaftler, Künstler – sie alle sind in diesem Kontext machtlos.

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Wandlungen. Zur Krise der Repräsentation und die Frage nach dem Subjekt

Um mit Gewinn auf die Verfasstheit der chinesischen Geisteswelt im 20. und 21. Jahrhundert blicken zu können, werde ich nicht den Kulturheroen der »großen Tradition«, sondern das Subjekt der »kleinen« in den Mittelpunkt meiner Beobachtungen stellen. Meine Frage lautet: Welchen Aufschluss gewähren die Darstellungen von Gefühlen über die Verfasstheit der chinesischen Geisteswelt, die, wie ich thesenhaft formuliert habe, durch »Unergründlichkeit«, »Bodenlosigkeit« und »Entsicherung« gekennzeichnet ist?

1. Gefühle In den Geistes- und Kulturwissenschaften spielten Gefühle lange Zeit keine Rolle. Weil nicht zum Intellekt oder zur Ratio zählend, wurden sie in die Nähe der archaischen Instinkte gerückt. Philosophisch wird zur Kennzeichnung von Gefühlen auf die Momente der Sinnesempfindung und der Erlebnisqualität verwiesen. Insofern gehört zum Gefühl die Objektbezogenheit ebenso wie ein reflexives Verhältnis. Da man sich aber über die eigene Befindlichkeit im objektiven Sinne täuschen kann, sind Objekt und Ursache des Gefühls verschieden. Es hat Dispositionscharakter und als solches hängt es von physiologischen sowie lebensgeschichtlichen Bedingungen individueller und allgemeiner Art ab. Psychologisch gesehen stellt das Gefühl neben Denken, Sprechen und Handeln die grundlegendste Erfahrungs- und Ausdrucksweise des Menschen dar. Wilhelm Wundt (1832–1920), dessen Werk in den 1920er Jahren intensiv in China rezipiert wurde, bestimmt es als ein Zustandsbewusstsein. Gefühle lassen sich verstehen als unwillkürlich auftretende, häufig im Kontext von Interaktionen entstehende, Betroffenheit auslösende seelische 59 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Wandlungen. Zur Krise der Repräsentation

Zustände, die meist mit einem erhöhten Grad an Erregung einhergehen. Mittlerweile sind die Gefühle als eine der wichtigsten Relaisstellen zwischen Erfahrung und Verstand, zwischen Affekt und regulierender Vernunft erkannt. Das Gefühl muss zur Vernunft hinzutreten, damit das Gute, das zum Beispiel im politischen Kontext unterschiedlich definiert wird, eine Herrschaft über den Willen gewinnt. Damit ist eine doppelte Funktion des Gefühls im Kontext der Ethik markiert. Es steht der Moral nicht nur als immerwährende Herausforderung entgegen, sondern verleiht ihr überhaupt erst bewegende Kraft. Daraus ergibt sich das Paradox, dass die Moral, die den Gefühlen Einheit gebieten soll, sich gleichzeitig ihrer bedient. Mich beschäftigt, welche Funktion der Darstellung von Gefühlszuständen bei der Bildung individueller und kollektiver Identität, bei der Strukturierung des Gedächtnisses, wie ich sie beispielhaft am Film Hero dargelegt habe, zukommt? Da Bilder von Emotionen den strukturellen Rahmen für die Bildung persönlicher Bedeutungsmuster prägen und den Grundton unserer Gestimmtheit beeinflussen, spielen sie eine wichtige Rolle bei meinen Erkundungen zur chinesischen Geisteswelt der Gegenwart. Nun sind Gefühle schwer fassbare und häufig auch flüchtige Zustände, auf die das Subjekt allein einen privilegierten Zugriff hat. Bildende Kunst, Literatur, Schauspiel und Film tragen diesem Umstand Rechnung, indem sie mit ihren Werken die Gefühlszustände von Menschen festzuhalten und einem breiteren Publikum, der Öffentlichkeit, der Nachwelt usw. zu übermitteln versuchen. Sie verdeutlichen uns, welche Gefühlswelten sich im Blick auf das menschliche Leben im Allgemeinen und das eigene im Besonderen auftun. Trotz aller Einfühlung, der erforderlichen Empathie, entziehen sie sich aber im interkulturellen Kontext häufig dem Verständnis, was zum Beispiel beim Betrachten eines Films augenfällig wird, der bei dem einen tiefste Gefühlsregungen, beim anderen aber bloßes Unverständnis auslöst. Einer der hierfür zu nennenden Gründe ist der Unterschied in den GrundEmotionen, auf die ich ausgehend von einer Studie noch ausführlicher eingehen werde. 60 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Gefühle

* * * In den drei Porträts, mit denen ich mich beschäftigen werde, ist das Zeigen eines Gefühlzustandes im wahren Sinne des Wortes »Programm«. Hier wird gezielt mit der Darstellung eines Gefühlszustandes gearbeitet. Programm ist es zu »veröffentlichen«, wie man selbst auf bestimmte gesellschaftliche Vorgaben / Zwänge reagiert und sich zu ihnen verhält. Sich-Fühlen und Sich-Verhalten: Bei meiner Auseinandersetzung mit den drei Porträts gehe ich davon aus, dass Gefühle Handlungen in einem ganz bestimmten kulturellen Umfeld sind. Gegen den transzendentalen Hochmut der Philosophie, gegen deren krypto-theologische Obsessionen, aber auch gegen den Dualismus von Körper und Geist, von Natur und Kultur hat die Beschäftigung mit dem Bild des Menschen eine neue Aktualität erlangt. Der Gedanke verlockt, dass der Mensch einfach das ist, was sein Körper ist. Folgt man Hans Belting (geb. 1935) in seiner Studie »Menschenbild und Körperbild«, die 2002 in dem Sammelband Das Bild des Menschen in den Wissenschaften erschien, 28 dann ist die Kulturgeschichte des Körpers eine Bildgeschichte im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Löst man das Dreieck Mensch – Körper – Bild auf, dann geht man seiner Auffassung nach das Risiko ein, gleich alle drei als Bezugsgrößen zu verlieren. Denn der Körper ist nur das stets wechselnde Bild, das wir uns von ihm machen. Zu berücksichtigen ist: Je mehr er von Biologie, Genetik und Neurowissenschaften erforscht wird, umso weniger steht er uns in einem einzigen symbolträchtigen Bild zur Verfügung. Im interkulturellen Kontext meint man nach wie vor, durch Bilder von Menschen Einblicke in deren Wesen, Mentalität und Lebensweise gewinnen und sie dadurch verstehen zu können, selbst wenn sie fremden, gänzlich unbekannten Kulturen entstammen. Dieser Annahme, die das Selbstverständnis des aufgeklärten Kosmopoliten prägt, verdankt sich die große Nachfrage nach Bildbänden mit Porträts von Menschen aus aller Welt. Was 28

Belting 2002.

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Wandlungen. Zur Krise der Repräsentation

China anbelangt, so ist ein gutes Beispiel hierfür der Band von Jerome Silbergeld und Richard K. Kent aus dem Jahr 2009 Humanism in China: A Contemporary Record of Photography. 29 Die gemeinsame Menschennatur, so wird landläufig argumentiert, biete eine anthropologische Grundlage für das Verstehen. Es wird gesagt: »Indem ich ein Mensch bin, ist mir nichts Menschliches fremd.« Als Spätfolge dieser Annahme wird die Grundüberzeugung vertreten, dass das Zeigen des Gesichts eine unabdingbare Voraussetzung, eine conditio sine qua non, für politische und gesellschaftliche Partizipation und Repräsentation ist. Es wird die Forderung nach einem Verbot der Vollverschleierung erhoben und der »freie Zugang« zum Gesicht als Ausdrucksträger und Zeichenträger der Person eingeklagt. * * * Der Ausdruck von Angst, Freude und Trauer scheint vielen weitestgehend unabhängig von kulturgeografischen und -geschichtlichen Umständen zu sein. Das geistige Erbe des Evolutionsbiologen Charles Darwin (1809–1882) wirkt nach. Dieser beobachtete auf seinen Reisen, dass überall auf der Welt, wenn Menschen lachen, sie damit Freude ausdrücken wollen. Dadurch sah er die Kommunikation mit dem Fremden erleichtert. Er beschrieb Mitte des 19. Jahrhunderts sechs Grund-Emotionen, die seiner Meinung nach in allen Kulturen jeweils die gleiche Mimik hervorrufen: Freude, Wut, Ekel, Angst, Traurigkeit und Überraschung. Darwin vermutete, dass deren Ausdruck angeboren sei. Denn auch von Geburt an blinde Menschen zeigten diese spezifischen Mimiken. Daraus folgerte er, dass diese immer die gleichen körperlichen Vorgänge darstellten, auch wenn es gewisse kulturelle Unterschiede gäbe. Seiner Meinung nach beruhten sie auf evolutionär ererbten Reiz-Reaktions-Schemata, kurz gesagt, sie lassen sich aufs Körperliche, aufs Feuer der Neuronen und Hormonausschüttungen reduzieren. Tatsächlich aber schwankt die Art und Weise, wie Menschen mit Gefühlen umgehen, von Kultur zu Kultur erheblich. Die 29

Silbergeld, Kent 2009.

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Gefühle

Menschen auf Tahiti lachen beim Besuch eines Sterbenden, die Bewohner des Ifaluk-Atolls scheinen Zorn als individuelles Wutgefühl nicht zu kennen. Manch ein Ethnologe kam zu dem Schluss, dass Gefühle kulturell produziert seien und keineswegs anthropologische Konstanten darstellten. Anfang des 20. Jahrhunderts war es in der Abkehr von Darwin populär, den kulturellen Einfluss höher zu gewichten als den erblichen. Das Verhalten und so auch die Mimik galten als durch die Umwelt geprägt. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde jedoch Darwins Theorie rehabilitiert. Der Psychologe Paul Ekman (geb. 1934) stellte fest, dass in westlichen und östlichen Kulturen und auch bei einer Volksgruppe auf Papua-Neuguinea, die kaum Kontakt mit anderen Kulturen hatte, die gleichen sechs Grund-Emotionen am Wirken seien. Seither ist man wieder der Überzeugung, dass der Ausdruck dieser Emotionen universell sei. Ganz gleich, ob beim Blick auf das Gesicht im Ganzen, in dem sich zum Beispiel ein freudiger Ausdruck zeigt, oder beim Blick in die Augen, aus denen beispielsweise Furcht spricht, man meint wie Charles Darwin in der Begegnung mit Menschen aus fremden Kulturkreisen alle Verständigungsbarrieren nehmen zu können. Allerdings wird derzeit, unter anderem durch Rachael Elizabeth Jack, University of Glasgow, Darwins These von der Universalität der sechs Grund-Emotionen erneut in Frage gestellt. Ausgehend von einer Studie, in der 15 Europäer und 15 Chinesen Gesichtsausdrücke von Emotionen beurteilen mussten, kommt Jack zu der Schlussfolgerung, dass Chinesen andere Grund-Emotionen haben als Europäer. Zu den chinesischen zählen Freude und Trauer, nicht aber Wut, Ekel, Angst und Überraschung. Hinzu kämen, wie sie in der am 17. März 2012 online publizierten Studie weiterhin darlegt, die Gefühle von Scham und Schuld. * * * Rachael Elizabeth Jack stellt Unterschiede beim Bestand an Grund-Emotionen, aber auch bei der Intensität von deren Ausdruck fest: Bei Chinesen würden sie viel stärker als bei Europäern über die Augen zum Ausdruck gebracht. Sie erklärt dies mit der Kontrolle der Emotionen in der chinesischen Kultur und verweist 63 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Wandlungen. Zur Krise der Repräsentation

auf den Konfuzianismus, der hohe Anforderungen an die Ideale der Menschlichkeit und das Zusammenleben der Menschen stelle. Der Einzelne solle sich zurücknehmen, seine Gefühle unter Kontrolle halten, ja sie überwinden, was auch, wie angemerkt sei, das Ziel des Buddhismus ist. Dieser ermahnt seine Anhänger, von anklammernder Selbstbezogenheit abzusehen und das Selbst zu transzendieren, um den Weg der Erlösung beschreiten zu können. Da die Augenmuskeln im Gegensatz zum Gesichtsausdruck weniger kontrollierbar seien, so Jack weiter, werde bei Chinesen unter diesen Vorgaben, die der Konfuzianismus und andere Geistestraditionen in der chinesischen Kultur setzten, die Intensität der jeweiligen Emotion eher an den Augen ersichtlich. Die von ihr vorgelegte Studie schließt nicht explizit aus, dass sich Chinesen und Europäer beim Ausdruck ihrer Grund-Emotionen zumindest dann nicht sonderlich stark voneinander unterscheiden, wenn er spontan erfolgt. Nur Gefühle, die dem Menschen dabei helfen, sein wahres Selbst in der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen zu verwirklichen, finden in der chinesischen (Hoch-)Kultur Berücksichtigung. Scham und Schuld gehören dazu, Wut, Ekel, Angst und Überraschung aber wie schon gesagt nicht. Diese gefährden nicht nur das Ziel der Selbstverwirklichung, sondern darüber hinaus die gesellschaftliche Ordnung in ihrem Bestand. Kommen sie zum Tragen, dann drohen Aufruhr und Umsturz. Da es sich bei ihnen um »negative« Gefühle handelt, sind Wut, Ekel, Angst und Überraschung aus dem Herrschaftsbereich der chinesischen Hochkultur verbannt, treiben aber trotzdem ihr Unwesen, wie wir bei unserer Auseinandersetzung mit den drei Porträts noch feststellen werden. Ein Beispiel aus der Alltagswirklichkeit Chinas im Jahr 2018: Alle dreißig Sekunden erfassen Kameras, die im Gymnasium Hangzhou Nr. 11 installiert sind, die Gesichtsausdrücke der Schüler. Eine Analyse ihres Verhaltens im Klassenzimmer solle auf diese Weise ermöglicht werden. Die Gesichtserkennungssoftware unterscheidet zwischen sieben Gemütszuständen: Glück, Trauer, Ärger, Angst, Abneigung, Überraschung, Neutral. Trotz aller Kritik an ihrem Konzept von »smarter Bildung«, das allein auf 64 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Ich. Verlust der Kontrolle

Disziplin und Inputs von Informationen setzt, sieht sich die Schule im Einklang mit den Vorgaben des Bildungsministeriums, das im April 2018 einen »Aktionsplan Bildung 2.0« veröffentlicht hat. Darin ruft das Ministerium alle Beteiligten dazu auf, »auf der Basis von Künstlicher Intelligenz, Big Data, dem Internet der Dinge und anderen neuen Technologien Innovation, Forschung und die Anwendung smarter Bildung aktiv voranzutreiben«. 30

2. Ich. Verlust der Kontrolle Lachen als Performance mündet in ein schwer kontrollierbares kollektives Delirium. Das ekstatische Außer-sich-sein im explosiven Lachen ist eine Form der »Politics of Ecstasy«, wie sie zum Beispiel 2009 in einem einwöchigen Parcours durch zeitgenössische Formen und Auslegungen der Ekstase in Tanz, Musik und Theorie im Berliner Theater Hebbel am Ufer präsentiert wurde. Dass die »Politics of Ecstasy«, die das Ganze der Kultur einer Neubestimmung unterziehen, nur als Prozess aufgefasst werden können, versteht sich von selbst. In ihrem Kontext wird Kunst zu einer Lebensweise erhoben, in deren Verlauf der Körper zum Dispositiv und zu einem Medium wird, das für Transformationen zur Verfügung steht. Performativität als Akt einer Hervorbringung tritt so an die Stelle von Substanz und Ontologie. Vor dem Horizont der anvisierten Unendlichkeit verflüssigen sich die festen Fronten von Subjekt und Objekt. Die Aktivitäten der jeweiligen Subjekte sind jeweils nur ein passageres Moment einer viel größeren Interaktion: Womit wir ganz plötzlich, ohne dass wir es gemerkt haben, in der Post-Postmoderne, nach der Krise des Bildes und der Krise der Repräsentation, und bei einem haltlos lachenden Gesicht angelangt sind. Der Mensch, der lacht, kann selbst verlacht oder auch, wenn er mit Hintersinn lacht, getötet werden. Zwischen den Möglichkei-

»Dem weisen Auge bleibt nichts verborgen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 14. Juli 2018.

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Wandlungen. Zur Krise der Repräsentation

ten des Verlacht-werdens und des Getötet-werdens stellt sich ein Spannungsbogen ein, dessen begriffliche Dimension ich mit Ausführungen zu den »Aspekten des Lachens« erschließen möchte. Neben der chinesischen Volkskunst und dem chinesischen Buddhismus komme ich in diesem Zusammenhang auf Sigmund Freud (1856–1939), Albert Camus (1913–1960) und die Erkenntnisfunktion des komischen Lachens zu sprechen. Dies alles im Hinblick auf Geng Jianyis (geb. 1962) Gemälde »Der zweite Zustand« (di er zhuangtai), in dem das Reale in die Wirklichkeit einbricht. Aus Gelächter kann unerbittlicher Ernst werden. Im Lachen öffnet sich der Mensch zur Welt. Das unterscheidet das Lachen vom Weinen, in dem er sich vor ihr verschließt.

2.1 Aspekte des Lachens Aus der Fassung bringt, was nicht dem jeweiligen Erwartungsmuster entspricht und den üblichen Vorgang der Gesichtserkennung unterbricht. Weil es die Gesichtszüge verzerrt, kann deswegen das Lachen verunsichern – weswegen es auch die Schicklichkeit gebietet, nur hinter vorgehaltenem Tüchlein oder zumindest vorgehaltener Hand zu lachen. Vor lauter Verunsicherung wird dabei aber vergessen, dass der homo sapiens schon lange lacht: Er lachte bereits vor der Zeit, als ihm die ersten Worte über seine Lippen kamen. Während die Sprachzentren in der entwicklungsgeschichtlich jüngeren Hirnrinde liegen, entspringt das Lachen einem älteren Teil des Gehirns, das auch für die Steuerung von so mächtigen Emotionen wie Angst oder Freude zuständig ist. Deshalb entzieht es sich der bewussten Kontrolle. Die phylogenetischen Wurzeln des stimmlos schnaubenden, knarrenden männlichen Lachens sind das geräuschlose Blecken der Zähne, eine Unterwerfungsgeste, und der »relaxed open-mouth display«, mit dem das Tier signalisiert, dass es nur spielen will. Verunsichernd wirkt aber auch der sprachliche Aspekt des Lachens, der entwicklungsgeschichtlich später hinzukam. Es geht um den Witz, der ebenso wie das vorsprachliche Lachen in der 66 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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chinesischen Kulturgeschichte vielfach observiert und reglementiert wurde. Verhindert sollte werden, dass die traditionellen konfuzianischen Ordnungsvorstellungen zu einem Grenzfall werden, in dem die Haltung des Menschen zusammenbricht (Lachen) oder in Frage gestellt wird (Witz). Im Konfuzianismus geht es um die Verhältnisbestimmung des Menschen zur Welt: Es geht um ein eindeutiges Verhältnis, das der Mensch nicht einfach mit einem Lachen beantworten oder mit einem Witz untergraben kann. Auszuschließen ist, dass der Mensch, wenn er sich zu dem, was geschieht, nicht verhalten kann, die Fassung verliert und dann, freigesetzt aus jeder Ordnung, lacht. * * * In einer Kultur, in der unter allen Umständen das »Gesicht« zu bewahren ist, darf das Lachen als höchst prekär gelten. Die Bedeutung der kulturellen Konstruktion des »Gesichts«, auf Chinesisch »mianzi«, kann in China nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie steht sinnbildhaft für die Doppelfunktion des Menschen in der Gesellschaft: Er gehört nicht nur sich selbst allein, sondern genauso seiner Umgebung, und zwar umso mehr, je näher er ihr steht. So bedeutete im traditionellen China der Verlust des Gesichts nicht nur einen peinlichen Vorgang für den, der es verlor, sondern auch für jeden, mit dem er beziehungsmäßig verbunden war. Ein freiwilliges Ablegen des »Gesichts«, wie es in der chinesischen Kunst der Gegenwart praktiziert wird, wäre als ebenso anstößig und beleidigend empfunden worden wie das Ablegen der Kleider in der Öffentlichkeit. Der Konfuzianismus, der stets nicht nur das Individuum, sondern die Gesellschaft als Ganzes im Auge hat, misst gerade dem Schamgefühl eine tragende Rolle bei und formt auf diese Weise das Bild vom chinesischen Menschen und seiner Kultur. Scham. Die chinesischen beziehungsweise die ostasiatischen Kulturtraditionen werden häufig als »Schamkulturen«, die europäischen oder westlichen als »Schuldkulturen« bezeichnet. Erstere, die Schamkulturen, zeichneten sich, so die Erklärung des Unterschieds, durch externe Sanktionen aus, mit denen Fehlverhalten bestraft wird, letztere, die Schuldkulturen, durch innere 67 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Sanktionen. 31 Im chinesischen Kontext weist uns Menzius (Mencius, Meng-tzu, Meister Meng, ca. 370–ca. 290 v. Chr.) auf die Bedeutung der Scham für die menschliche Natur hin. Seiner Darstellung nach handelt es sich bei ihr um eine ursprüngliche menschliche Anlage. Wer sie zur Fülle entwickelt, der vermag die ganze Welt zu beschützen. Das Herz (xin), das der Sitz der Scham ist, ist nicht einfach nur ein muskuläres Hohlorgan, das mit rhythmischen Kontraktionen Blut oder Hämolymphe durch den Körper pumpt und so die Versorgung aller Organe sicherstellt, sondern eine sich dynamisch erfüllende ethische Wesenseinheit. Im Gegensatz zum sogenannten Naturalismus und Biologismus lässt sich die menschliche Natur allein kulturell bestimmen, sie ist eine Leistung der Kultur. 32 Verglichen mit dem Lachen ist in einer Kultur der Scham das Lächeln die adäquatere Form, Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Das Lachen gilt als unzivilisiert. Die Gründe hierfür hat Helmuth Plessner höchst anschaulich in Worte gefasst: Wie immer es sich damit verhalten mag, so ist es gewiss im Wesen des Eindrucks, den das Lächeln auf den Lächelnden und seine Umwelt macht, und seiner leichten Hervorrufbarkeit begründet, dass die Zivilisierung des Umgangs sich gerade dieser vieldeutigen Gebärde bedient. Sie liegt in der gemäßigten Zone zwischenmenschlicher Temperatur. Verbindlichunverbindlich hält sie höflichen Abstand zur eigenen Regung und zum Anderen, durch den sie geweckt ist und an den sie sich wendet. Die Auflichtung teilt sich dem Anderen mit und wird ihm mitgeteilt, ohne ihn direkt auf eine Reaktion festzulegen. Ob stilisierte Geste oder unwillkürlicher Ausdruck, meidet das Lächeln die Extreme der affektgeladenen Grimasse und der explosiven Katastrophenreaktion des Lachens und Weinens. 33

* * * Hinein in die gesellschaftliche Wirklichkeit Chinas. Man braucht den Humor zum Atmen, wenn man am Realen erstickt. Dabei ist Humor nicht nur Ulk. Er formuliert unbewusst 31 32 33

Benedict 1967: 223 folgende. Ames 1991. Plessner 1950: 194.

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über sich hinaus, er typisiert und analysiert die sozialen Verhältnisse; er ist eine unkomplizierte und angenehme Art, etwas einzuordnen; er ist die natürliche, direkteste Art, zu durchschauen und zu begreifen; er ist intimer Umgang, ohne auch nur ein einziges Wort über sich selber sagen zu müssen. Deshalb haben unfreie Systeme so Angst vor seinen Abgründen. Im Lachanfall vergrößert sich der Schrecken. Und, nach dem Lachanfall dann diese schockierend klare Stille. Die Situation, die sich im Lachen aufzeigt, ist ein der Welt zugewandter Zustand, wie wir ihm in der Welt der chinesischen Volkskunst und des chinesischen Buddhismus begegnen. An dieser Stelle ist zu erinnern, dass Gefühle, die keinen Sachbezug aufweisen, nach Helmuth Plessner unecht sind. Hier aber geht es um echte Gefühle. Chinesische Volkskunst und chinesischer Buddhismus Im Bereich der chinesischen Volkskunst wird viel gelacht. Hier tut sich ein wahres Pantheon des Lachens auf, das sämtliche psychischen Schattierungen dieser Form des Gefühlsausdrucks aufweist. So begegnen wir auf volkstümlichen Drucken immer wieder einem selig lachendem Li Tieguai, einem der Acht Unsterblichen des Daoismus, oder auch dem Gott des langen Lebens Shoulao, der angesichts seiner Aufgabe, das Sterbedatum der Menschen festzusetzen, geradezu transzendent lacht. Die fröhlich lachenden Zwillingsgötter Hehe, von denen unter anderem die Eintracht zwischen Eheleuten symbolisiert wird, machen allen Verliebten Mut, während die übel lachenden Dämonen selbst dem tugendhaftesten Gelehrten den Schauer über den Rücken treiben würden, wenn da nicht noch das entrückte Lächeln der barmherzigen Göttin Guanyin wäre, das ihn der göttlichen Gnade versichert. In einer mit religiösen Praktiken durchdrungenen und symbolisch erfassten Welt, das wird in diesem Zusammenhang deutlich, existieren die verschiedensten Formen des Lachens. Diese Vielfalt korrespondiert mit der Komplexität der existentiellen Bezüge des Menschen, ganz gleich ob es das Lachen des Shoulao, der 69 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Hehe oder eines der Dämonen ist. Es ist ein Lachen, das nicht vom Humor loszulösen ist. Marie Collins Swabey (1880–1966) attestiert dem Komischen in ihrer Schrift »Comic Laughter: A Philosophical Essay« aus dem Jahr 1961 einen kognitiven Charakter. Ausgehend von dieser Definition möchte ich das Lachen, dem wir in der chinesischen Volkskunst begegnen, als »komisches Lachen« bezeichnen, das, folgt man Swabey, mehr ist als ein rein subjektiver Ausdruck von Gefühlen oder unbewussten Trieben. 34 * * * Die bekannteste lachende Figur Chinas ist aber der »Lachende Buddha« (chinesisch Miluofo), dessen Lachen im Sinne des »komischen Lachens« jenseits der »Subjektivität des Erlebnisses selbst« 35 liegt, »quasi der philosophische Instinkt in schwächerer Form« ist und »seinen Sinn nur vor dem Hintergrund einer allgemeinen Wirklichkeitssicht« hat, 36 in der gegen die Einschränkung der Vernunft der unendliche Sinn des Daseins ausgespielt wird. Beim Miluofo handelt es sich um die chinesische Darstellungsform des Maitreya, der nach der schon im Hinayana-Buddhismus vorhandenen, aber erst im Mahayana-Buddhismus voll entwickelten Lehre von den fünf irdischen Buddhas die Verkörperung der allumfassenden Liebe darstellt. Als fünfter und letzter irdischer Buddha wird Maitreya, dessen Name übersetzt »der Webende« (jap. Miroku) lautet, in der Zukunft erwartet, wie uns die Ikonographie lehrt. Die auf dem Boden ruhenden Füße deuten seine Bereitschaft an, sich zu gegebener Zeit von seinem Sitz zu erheben und in die Welt zu kommen. Im chinesischen Buddhismus verkörpert der Miluofo einige chinesische Lebensideale: Der dicke Bauch symbolisiert Reichtum, sein Lachen und die lockere Sitzhaltung weisen auf seine Gelassenheit und Zufriedenheit mit sich und der Welt hin. Die Kinder, die ihn umgeben, zeigen seine große Kinderliebe, eine der chinesischen Haupttugenden. 34 35 36

Berger 1998: 41,42. Swabey, nach Berger 1998: 41. Berger 1998: 41.

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In seiner chinesischen Darstellungsform geht der Buddha Maitreya auf das 10. Jahrhundert zurück. Zu dieser Zeit konnte der Buddhismus in China bereits auf die Entwicklung zahlreicher einheimischer Schulen zurückblicken, unter denen sich neben der Tiantai-, der Huayan- und der Jingtu-Schule (»Reines Land«) der Zen-Buddhismus (im Chinesischen Chan, für Sanskrit dhyana, Meditation) befand. Obwohl seine Ursprünge bis ins 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückverfolgt werden können, wurde er erst im Laufe der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts von der kaiserlichen Kommission zur orthodoxen Schule erklärt, als die er in den folgenden Jahrhunderten, insbesondere während der Song-Zeit (960–1279), die chinesische Malerei und Dichtkunst prägte. Wie es Alan Watts (1915–1973) ausdrückt, war das Ergebnis ein eminent fruchtbarer gegenseitiger Ansporn in philosophischen, wissenschaftlichen, dichterischen und künstlerischen Bereichen, innerhalb deren das Gefühl für ›Natürlichkeit‹, das Zen und Taoismus eignet, tonangebend wurde. 37 Unter der Ming-Dynastie (1368–1644) kam es durch Zhu Hong (1535–1615) zu einer Synthese des Chan-Buddhismus und der Jingtu-Schule (»Reines Land«), die das Ende dieser Glanzperiode des vom Chan inspirierten und getragenen künstlerischen Schaffens bedeutete. * * * Die Gestalt des Budai (japan. Hotei), der als Inkarnation des zukünftigen Buddha Maitreya gilt und im 10. Jahrhundert gelebt haben soll, repräsentiert in der Darstellung des chinesischen Malers Liang Kai (13. Jahrhundert) den Geist des chinesischen Chan zur Zeit seines Höhepunktes. Um Budai ranken sich unzählige Geschichten, die ihn als wundertätigen Sonderling beschreiben. »Eine Figur«, so Hugo Munsterberg (1863–1916), »die geradezu die Inkarnation des Zen-menschen ist, der ein unbeschwertes und einfaches Leben zu führen vermag, weil er sich von den Belangen der Gesellschaft gelöst hat.« 38 37 38

Watts 1961: 217. Munsterberg 1978: 44.

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»Budai«, wörtlich »Hanfsack«, verkörpert das im zehnten der »Zehn Ochsenbilder« dargestellte Ideal des Chan-Buddhismus. Zusammen mit dem neunten soll dieses Bild, so der chinesische Chan-Meister Guo’an Shiyuan (japanisch Kakuan Shien, 12. Jahrhundert), klarmachen, »dass der Zen-Mensch von höchster geistiger Entwicklung in der irdischen Welt der Formen und Vielfalt lebt und sich mit völliger Freiheit unter die gewöhnlichen Menschen mischt, die er durch sein Erbarmen und seine Strahlkraft dazu inspiriert, den Weg des Buddha zu gehen.« 39 Wenn nun dieser »Hanfsack«-Budai auf dem Bild Liang Kais so bar aller Konventionalität lacht, dann kommt etwas von der Exzentrizität und der Extravaganz zum Ausdruck, die auch die romantische Einbildungskraft in Europa auszeichnet. Ganz im Gegensatz zur europäischen Romantik, in der die Subjektivität der Weltaneignung dominiert, wird aber im Chan-Buddhismus über den Menschen und seinen subjektiv begründeten Anspruch gelacht, die Welt zu verstehen, zu beschreiben und zu beherrschen. Seine Kritik an der schriftlichen Überlieferung resultiert daraus. Von den Lachenden aus dem Geiste des Chan-Buddhismus wird über das eigene Selbst gelacht, ohne dass dieses Lachen – im Unterschied zur romantischen Selbstironie – den Menschen über sich selbst erheben würde. Der Humor verwandelt die Begrenztheit des Subjekts nicht in einen Sieg, sondern konstatiert diese einfach in Form des Lachens. Somit zeigt sich uns der lachende Budai im Rahmen der Vorstellungswelt des Chan als der wahre Mensch, der die Erfahrung des Augenblicks lebt und – gerade dadurch – die höchste Wahrheit erfasst. Abgründiger Witz – Lachen als Distanzierungsleistung Sigmund Freud (1856–1939) erklärt in seiner Studie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten aus dem Jahr 1905, dass der Witz die Ersparung einer Hemmung ist. Und was macht man mit der Energie, die durch diese Ersparnis frei wird? Die frei gewordene psychische Energie wird, so Freud, »erledigt«, »abge39

Kapleau 1974: 407.

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führt«, »abgelacht«. 40 Dies erklärt er in Übereinstimmung mit der Lachphysiologie Herbert Spencers (1820–1903), für die »das Lachen eine Abfuhr seelischer Erregung« 41 ist, und auch in Übereinstimmung mit dem von ihm hochgeschätzten Theodor Lipps (1851–1914), der beobachtet, dass beim Witz »die Entladung umso stärker ausfällt, je höher die vorherige Spannung war«. 42 In seiner kleinen Schrift über den Humor kehrt Sigmund Freud 1927 wieder zu dem Thema der Witz-Studie zurück und dabei auch zu dem schon dort erzählten, buchstäblich galgenhumoristischen Witz von dem Hinrichtungskandidaten, der am Montagmorgen zur Exekution geführt wird und sich freut: »Na, die Woche fängt gut an«. 43 Indem der Delinquent, der weiß, dass er in Kürze etwas wahrhaft Erhebendes, nämlich die Erhebung durch den Galgen, erleben wird, den guten Anfang einer Woche preist, feiert er nach Freud einen großartigen »Triumph des Narzissmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs« 44 durch die reale Welt. Das Ich »verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, dass ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahe gehen können, ja es zeigt, dass sie ihm nur Anlässe zum Lustgewinn sind.« 45 * * * Humor ist eine grandiose Distanzierungsleistung, mit der sich der späte Freud voll identifiziert. Dass sich mit Humor dem todbestimmten Leben ein Heiterkeitsaspekt abgewinnen lässt, dieser Gedanke durchzieht auch die chinesische Geistesgeschichte. Außerhalb der vom Konfuzianismus dominierten Hochkultur stellt das Lachen in China eine sehr natürliche und direkte Reaktion auf die Tatsache dar, dass die Psychopathologie des Alltagslebens plötzlich durchschaut wird. Im Lachen rückt der Mensch 40 41 42 43 44 45

Freud 1999 a: Kapitel »Die Technik des Witzes«, 14–96. Freud 1999 a: 163. Freud 1999 a: 173. Freud 1999 b: 383. Freud 1999 b: 385. Freud 1999 b: 385.

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den Tatsachen des Lebens zu Leibe – der Zustand der eigenen Existenz wird in diesem Moment reflexartig präzisiert. Aber ebenso ist in China das Lachen Teil eines Belohnungssystems. Es gehört zu den anthropologischen Universalien, dass das Ausdrucksverhalten des Menschen in der Gemeinschaft mit anderen seine Wirkung entfaltet. Das Lach-Koordinationszentrum im menschlichen Gehirn ist Teil eines Humorschaltkreises. Beim Witz funktioniert dieser folgendermaßen: Nachdem im linken Stirnhirn die Worte verstanden oder sprachliche Unstimmigkeiten gelöst wurden, wird im rechten Stirnlappen entschieden, ob etwas komisch ist oder nicht. Dort wird erstaunlicherweise nicht das Lachen angeschaltet, sondern dessen Unterdrückung ausgeschaltet. Jetzt wird im limbischen Gefühlszentrum des Mittelhirns das Belohnungssystem aktiv, besonders der nucleus accumbens, der Mandelkern und das ventrale Tegmentum, die quasi den Gefühlspunkt im Gehirn bilden und an allen guten Gefühlen beteiligt sind. Dopamin wird freigesetzt und sorgt für die Ausschüttung von Endorphinen, körpereigenen Opiaten. Ein Gefühl von Erheiterung wird ausgelöst. Das macht Spaß. Wer den anderen zum Lachen bringt, belohnt sich selbst und schafft Gemeinschaft, auch wenn diese gegen die bestehende staatliche Ordnung oder Repräsentanten des Staates gerichtet ist. * * * Der aus allen Seelenregistern gespeiste Humor ist bei Freud eine Methode, sich dem Zwang des Leidens zu entziehen. Mit den Mitteln des Humors gewinnt er dem todbestimmten Leben den Aspekt der Heiterkeit ab. In einem Brief an Marie Bonaparte vom 13. August 1937 berichtet Sigmund Freud von einer Idee für eine Reklame, die folgendermaßen lautet: »Warum leben, wenn Du für 10 Dollars begraben werden kannst?« (»Why live, if you can be buried for ten dollars?«) Wer zuletzt lacht, lacht wahrhaftig am besten. Die Frage ist höchstens: Wer lacht denn zuletzt?

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Das Lachen wird sein Leben verändern Das Lachen kann wie der Schrei für eine Form der Wirklichkeitserfahrung stehen, die den Menschen im ersten Moment verstört und ihn später aus seiner bisherigen Bahn wirft. Dazu eine Geschichte: Ein Mann geht an einem Herbstabend in Paris über den Pont des Arts. Die Seine fließt ruhig, die Brücke ist menschenleer, der Mann ist mit seinem Tagwerk zufrieden und will sich gerade eine Zigarette anzünden. Da hört er hinter sich ein Lachen. Er beugt sich über das Geländer – niemand zu entdecken. Er geht ein paar Schritte weiter, und wieder hört er das Lachen, als stiege es aus dem Wasser herauf. Doch weiter nichts zu sehen. Er geht nach Hause, fühlt sich beunruhigt, ruft einen Freund an, der das Telefon nicht abnimmt, geht ins Badezimmer, erblickt sich im Spiegel: »Aber mir schien, mein Lächeln sei doppelt …« Das Lachen auf der Brücke wird sein Leben verändern. Unser Mann, der Jean Baptiste Clamence heißt, beginnt über sich, seinen Beruf, seine Beziehung zu Menschen neu nachzudenken. Es ist, als habe er bisher nur die Oberfläche der Wirklichkeit erlebt. Er beginnt, das moralische Doppelspiel zu durchschauen, das er mit sich und der Welt getrieben hat. Dabei stößt er in seiner Erinnerungsarbeit auf einen anderen Abend. Auch da ging er über eine Brücke, diesmal war es der Pont Royal, in einer Novembernacht. Auf der Brücke erblickte er die Gestalt einer Frau, die sich über das Geländer neigt. Er geht an ihr vorbei. Kaum am Ufer angelangt, hört er das Aufklatschen eines Körpers auf dem Wasser. Er bleibt stehen, vernimmt einen mehrfach wiederholten Schrei, der flussabwärts zu treiben scheint und plötzlich verstummt. Der Mann denkt: »Zu spät, zu weit weg …«. Er geht weiter in Richtung Place Saint-Michel. Er benachrichtigt niemanden. * * * Das Lachen und der Schrei: Das sind die zwei Erfahrungsweisen des Absurden in der Erzählung »La chute« (Der Fall) von Albert Camus (1913–1960), publiziert im Jahr 1956. Aus der Erzählung 75 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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geht hervor, dass das Absurde mit akustischen Wahrnehmungen – dem Lachen und dem Schrei – zu tun hat. Von der Wortgeschichte her ist das Absurde das Misstönende, das hässlich Klingende, Grelle und Schrille. Da »surdus« taub heißt, wäre »absurdus« etwas, das zuerst das Ohr, dann den Geist dumpf macht und beleidigt. Bereits im Spätlateinischen bezeichnete man mit »absurditas« die gedankliche Ungereimtheit und den logischen Widersinn. So wurde das Wort zum philosophischen Begriff, der freilich seine große Karriere erst im 20. Jahrhundert machte. Den Theologen ist das »credo quia absurdum« bekannt: eine stolze Gewissheit der Gläubigen gegen die Unzulänglichkeiten des Denkens in göttlichen Angelegenheiten. Gerade weil die Sache widersprüchlich ist und konträr zu allen Erwartungen und Berechnungen steht, ist sie ein Beweis für das Wirken Gottes. Kenner des Werks des dänischen Schriftstellers und Theologen Sören Kierkegaard (1813–1855) sind vertraut mit dem Paradox, dass nur das Absurde, das in strengem Gegensatz zu logischem Denken und historischer Plausibilität steht, ein des Glaubens würdiger Gegenstand sein kann. Leser von Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) und Franz Kafka (1883–1924) haben ebenfalls keine Mühe, in den Geschichten dieser Autoren absurde Konstellationen und Verwirrungen als schlimme Herausforderungen des Lebenssinns zu sehen. Nichts scheint auch bei JeanPaul Sartre (1905–1980) und Albert Camus so gewiss, als dass der Nachdenkende sein Leben als Absurdität erfahren wird. Trotzig und frei hat er sich dem Absurden zu stellen und sich dabei in eine Situation zu begeben, in der er lacht und gleichzeitig belacht wird. Lachen und belacht werden, das ist das Grundgesetz des Absurden, das eine Erkenntnisfunktion hat. Komisches Lachen – Erkenntnis Dem komischen Lachen spreche ich einen kognitiven Charakter zu. Ich möchte es als Ausdruck einer Erkenntnis definiert wissen, die vor den Fragen nach der Identität des Menschen und nach dem eigenen Selbst nicht Halt macht. Im komischen Lachen gerät das Lachen zu einem Signalbegriff. Es signalisiert, dass der Lachende 76 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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zu einer plötzlichen Einsicht beziehungsweise Erkenntnis gelangt ist. Dies mit weitreichenden Folgen. Ich führe nur die an, die sich auf den Menschen als gesellschaftliches Wesen beziehen: • Innerhalb eines einheitlichen Systems von Normen und Wahrnehmungen, die zur Rechtfertigung und Bewertung eigener und fremder Handlungen dienen, enthüllen sich alternative Sichtweisen; die Grundannahmen der bestehenden symbolischen Ordnung werden in Frage gestellt. • Neue Handlungsmöglichkeiten tun sich auf, da sich die Beteiligten ihres Verhältnisses zur Gesellschaft auf eine veränderte Weise bewusst werden.

2.2 Geng Jianyi, »Der zweite Zustand« Als ich zum ersten Mal die lachenden Gesichter aus der Serie riesiger Porträts »Der zweite Zustand« des 1962 in Zhengzhou, Provinz Henan geborenen Malers Geng Jianyi sah, fühlte ich mich zutiefst irritiert. »Der zweite Zustand« ist die eine der beiden Serien mit hysterisch lachenden Köpfen in fast fotorealistischer Manier, die Geng im Jahr 1987 malte. Der Titel der zweiten Serie lautet: »Doppelte Glückseligkeit«. Ich zeige zwei Bilder aus der ersten Serie, von der sich unter anderem Abbildungen in dem vom Berliner Haus der Kulturen 1993 herausgegebenen Ausstellungskatalog China Avantgarde (zwei Köpfe) und in dem von Michael Sullivan (1916–2013) verfassten Buch Arts and Artists of Twentieth-Century China, 1996 (drei Köpfe) befinden. Die frontale und bildfüllende Ansicht lauthals lachender Gesichter auf den Ölbildern mit dem Format 145 � 200 cm schien mir im soziokulturellen Kontext Chinas der 1980er Jahre einige Tabus zu verletzen. Gleichzeitig wurde mir im Rückblick bewusst, dass die Darstellungen lachender Menschen in der Kunst des sozialistischen Realismus, der in der Volksrepublik China bis in die 1980er Jahre hinein im Bereich von Kunst und Kultur maßgebend war, bei mir niemals derlei Gedanken und Gefühle ausgelöst hatten. Diese Bilder hatten ihren festen Platz in einem überschaubaren und klar definierten Weltbild, das zwar be77 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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unruhigend war wegen der Totalität seines Anspruches, nicht aber, weil es subversiv gewesen wäre oder unser Verständnis von Kunst und Kultur mit übermäßig dissonanten Klängen aufgeschreckt hätte. Dazu war das Ganze zu offensichtlich: man konnte es leicht einordnen und, je nach politischer Couleur, gut finden oder verdammen. Der Einbruch des Realen Geng Jianyi malte die zwei Serien riesiger Porträts mit lachenden Köpfen, nachdem zwei Ölgemälde, die er 1985 als Abschlussarbeiten an der Chinesischen Hochschule der Künste (zhongguo meishu xueyuan) in Hangzhou, Provinz Zhejiang eingereicht hatte, bei der Prüfungskommission auf heftigen Widerstand gestoßen waren. Sie wurden kritisiert, weil sie auf Grund ihres Darstellungsgegenstandes – sie zeigten jeweils ein ernst dreinblickendes Paar – keine »positiven« Inhalte vermittelten. Der Vorgeschichte der beiden Porträtserien können wir entnehmen, dass sie auf einer bestimmten Erfahrung basieren, die mit einer ganz bestimmten Reaktion – in diesem Fall mit der Darstellung lachender Köpfe – abzufedern versucht wurde. Es war die Erfahrung mit der Realität in der Volksrepublik China, auf die der Maler mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln reagierte. Im Vergleich mit anderen Darstellungen lachender Menschen oder Köpfe in der chinesischen Gegenwartskunst wird für mich deutlich, dass die beiden Porträtserien Geng Jianyis ihre Aussagekraft – man könnte auch von Sprengkraft sprechen – aus der Erfahrung des Scheiterns der Theorie an dem Realen bezieht. Hatte nicht die Prüfungskommission aus politisch-ideologischen Gründen seine Abschlussarbeiten kritisiert? Wirklichkeit verfängt sich nicht in den Fallstricken des Theoretisierens oder im Netz der Signifikanten, aber sie kann jederzeit über uns hereinbrechen: dies scheinen mir diese beiden Serien mit riesigen Porträts deutlich zu sagen. In der Auseinandersetzung mit ihnen ist bei mir ein Reflexionsprozess in Gang gekommen, der über die chinesische Gegenwartskunst hinausführt. Ich habe mich zusätzlich zu den Werken der Volkskunst und ganz all78 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Geng Jianyi, »Der zweite Zustand« 1987, Öl auf Leinwand, 145 � 200 cm

gemeinen Betrachtungen zur Erkenntnisfunktion des Lachens (siehe 2.1 Aspekte des Lachens) mit weiteren Beispielen des Lachens in der Literatur- und Kunstgeschichte Chinas beschäftigt. Durch Lachen sich bessern In seiner auf das Überlegenheitsgefühl gründenden Lachtheorie sieht Thomas Hobbes (1588–1679) das Lachen neben dem Ausdruck des Schadlos-Überraschenden und des Harmlos-Unzulänglichen durch das Gefühl der Superiorität einer Gruppe oder Nation angesichts der Inferiorität anderer bestimmt. In Human Nature heißt es: »A sudden glory arising from some sudden conception of some eminency in ourselves, by comparision with the infirmity of others, or with our own formerly.« 46 Man lacht also nach dieser Definition im Wesentlichen über etwas, das man erstens angesichts der Fortschrittlichkeit der eigenen Kultur als längst passé erachtet und das man zweitens, gemes46

Hobbes 1848: 46.

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sen an sich selbst, als unvernünftig, dumm oder, wie im chinesischen Falle, barbarisch einstuft und somit als lachhaft empfindet. * * * Im sui-, tang-zeitlichen (581–907) Qi yan lu, Abschnitt Lunnan kommt das Spannungsfeld, das sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit fremdländischem Denken bei gleichzeitigem Anspruch der Superiorität des eigenen ergibt, deutlich zum Ausdruck. Worüber zur Zeit Kaiser Wenxuans (550–560) gelacht wurde und gelacht werden durfte, darüber geben die in diesem Abschnitt des Qi yan lu aufgeführten Witze Auskunft. »Lunnan« kann man entweder mit »Disput« oder mit »durch Disput Probleme erzeugen« übersetzen. Das geistige Klima der Beiqi-Dynastie (550–577), von dem die in diesem Abschnitt angeführten Witze handeln, ist durch Kaiser Wenxuan geprägt. Unter seiner Regentschaft fand ein reger Austausch zwischen Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus statt, allerdings unter klaren Vorgaben: die Priorität des Chinesischen musste gewahrt bleiben. Die Begegnung mit dem fremdländischen Gedankengut begünstigte seine eigene Lust am Spektakel, wie auch aus den im Qi yan lu aufgeführten Witzen hervorgeht. Am Fremden wurde so manch komische Seite entdeckt. In der Biographie Wenxuans gehen Toleranz und Grausamkeit in einer merkwürdigen Mischung miteinander einher. Bald nach seinem Regierungsantritt machte er die freie, offene Rede zu einem Bestandteil seiner Politik. »Wenn jemand eine offene Rede zu führen und einen ehrlichen Tadel auszusprechen vermag«, so heißt es in einem von ihm erlassenen Edikt, »so braucht er nicht aus Angst vor der Strafe zu flüchten. Reden so aufrichtig wie die von Zhu Yu (1. Jh. n. Chr., wegen seiner Offenherzigkeit gegenüber dem Han-Kaiser Yuan Di bekannt) oder so geradeheraus wie die von Zhou She (Anfang des 6. Jh. v. Chr., er diente dem Zhao Jianze, einem hohen Würdenträger von Jin und war aus demselben Grunde berühmt) werden meine Sinne öffnen und meinen Geist befruchten.« 47 47

Franke 1930–1952, Bd. 2: 237, 238.

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Ganz im Gegensatz zu dem Eindruck der geistigen Offenheit, der durch diese Aussage vermittelt wird, erfahren wir im Zizhi Tongjian des Si Maguang (1019–1068), dass Wenxuan vier Daoisten hinrichten ließ, da sie sich weigerten, ihre Haare abschneiden zu lassen und Sramanas, das heißt Asketen, Bettelmönche zu werden. Den im Abschnitt Lunnan des Qi yan lu enthaltenen Witzen lässt sich entnehmen, dass es zulässig war, alle orthodoxe Büchergelehrsamkeit lächerlich zu machen, ganz gleich, ob es sich um Beispiele aus der Welt des Buddhismus oder des Konfuzianismus handelte. Es waren Witze höchst beliebt, die dem fremdländisch »Barbarischen« am Buddhismus galten. So macht sich in einem der Witze ein Knabe die Gleichlautigkeit von »Fuchs« und »Barbar« (beide lauten »hu«) zunutze, um Spitzen gegen einen buddhistischen Mönch abschießen zu können. * * * Dem qing-zeitlichen Xiaodao, das man als »durch Lachen ins Gegenteil verkehren« übersetzen könnte, lässt sich wie dem Qi yan lu entnehmen, dass das Lachen als Gefühlsausdruck auch etwas mit der Interpretation von sozialem Wandel und kultureller Eigenart zu tun haben kann. Es kann den Ausdruck einer kollektiven Emotion bedeuten und wird auch in dieser Funktion häufig zum Einsatz gebracht. Nach dem Xiaodao – das ist der Titel einer Ausgabe des dritten Bandes des revidierten Zengding yixi xinji aus dem Jahr 1728 – hat das Lachen gleichsam eine reinigende und richtigstellende Funktion, indem anhand verschiedener Negativtypen dies verlacht wird, was den eigenen ethisch-moralischen Idealvorstellungen zuwiderläuft. Als Anlass des Lachens lässt sich dabei durchgehend die ungenügende Anpassung des Belachten an die normativen Erwartungen der Gruppe ausmachen. »Durch Lachen sich bessern« (xiaodehao) – so der Titel einer weiteren qing-zeitlichen (1644–1911) Witzesammlung – fasst die Funktion des Lachens als moralischer Institution programmatisch zusammen. Die im Xiaodao enthaltenen Ausführungen zum Lachen vermitteln uns ein interessantes Bild der Kultur des Lachens im qing81 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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zeitlichen China. Wir erfahren, zu welcher Zeit und über wen man lachte. Aber nicht nur das! Man schien sich auch darüber Gedanken zu machen, in welcher Gesellschaft man bevorzugt lachte und was die Grenzen waren, an die man sich auch im Akt des Lachens zu halten hatte: Zeit zum Lachen: Für Menschen, die im strömenden Regen ärgerlich sind; bei sengender Sommerhitze; bei einer Bootsreise; wenn man nachts ohne Herberge zum Übernachten dasitzt; wenn man unterm Mond nach einer langen Reise gerade im Begriffe ist, zurückzukehren. Über was man lacht: Wenn Menschen, die gerade essen, einander beschimpfen; wenn Leute vom Land mit neuer Kleidung in die Stadt gehen, um zum Neuen Jahr zu gratulieren; wenn man Gespräche Betrunkener hört; wenn Stumme miteinander streiten; wenn Narren weinen, wenn sie über das Gesetz von Ursache und Wirkung hören; wenn jemand einem Gast gegenüber launisch ist; wenn ein hochgewachsener Mensch kurze Kleidung trägt; wenn ein Mann vom Lande Briefe schreibt; wenn ein Bezirksschulrat spricht; wenn ein Mönch zornig wird; wenn man einem Müßiggänger dabei hilft, eine genügend respektvolle Haltung einzunehmen; wenn ein Bärtiger beim Trinken und Essen Schwierigkeiten hat. Freunde beim Lachen: Berühmte Singmädchen; Freunde mit tiefen freundschaftlichen Gefühlen; charmante Menschen in niederer Position; um Fleisch und Wein bettelnde buddhistische Mönche; aufmerksame Personen; exzentrische Neokonfuzianer; berühmte Schauspieler; taoistische Priester. Was beim Lachen zu vermeiden ist: Perverse Menschen und zwielichtige Angelegenheiten; immerfort zu lachen und ein Schurke zu sein; rücksichtslos zu sein; die Gesetze zu überschreiten; sich lustig zu machen über Heilige und Weise; einen neutralen Standpunkt zu verlassen; Menschen zu Intoleranz zu verleiten; Übertreibung; im Voraus endlos zu lachen; Metaphern für Snobismen. 48

Lachen: Underdogs und Unterhaltungskünstler, Leib-Bilder und Physiognomie Außer in der buddhistischen Kunst und der Volkskunst wartet die chinesische Kunstgeschichte mit Beispielen des Lachens nur sehr zurückhaltend auf. Das Lachen, so mag es fast scheinen, 48

Lidai xiaohua ji 1982: 451, 452.

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war den Bildenden Künsten suspekt, da es a) kein »höheres« geistiges Bedürfnis befriedigt und b) seine euphorisierende Wirkung zentralen Lehrsätzen der wahren Menschlichkeit widerspricht. Diese besteht in der Pflege rationaler Tugenden wie Loyalität und Kindespietät, die die Selbstverwirklichung in sozialer Eingebundenheit und Orientierung hin auf den anderen ermöglichen. Wie befremdlich oder geradezu abstoßend ein lachender Mensch unter Umständen nach traditionellen chinesischen Vorstellungen ist, wird im Vergleich mit chinesischen Leib-Bildern und der chinesischen Physiognomik deutlich. Ich werde beide noch ausführlich vorstellen. Chinesischen Künstlern der Gegenwart dagegen sind lachende Menschen ein willkommener Darstellungsgegenstand, um nicht nur das Wesen – das Symptomatische im medizinischen Sinne – chinesischer Kultur, sondern die Lücken zwischen Subjektivem und Gesellschaftlichem, Individuellem und Kollektivem, Öffentlichem und Privatem darstellen zu können. Dazu beziehen chinesische Künstler oftmals am Rande der Gesellschaft Position. Auf der Suche nach dem Gesicht des »wahren Menschen« (zhen ren) kalkulieren sie den »Verlust des Gesichts«, sprich von sozialem Ansehen und Stellung, ganz bewusst in ihre künstlerische Strategie ein. Wie die Gelehrten und Künstler der Vergangenheit, die durch den Daoismus die Vision von der Wandlungsfähigkeit aller Gestalten und durch den Buddhismus die Botschaft von der Leerheit allen Lebens kennenlernten, sind sie sich der Doppelbödigkeit alles Äußerlichen bewusst, gerade wenn es, wie das Gesicht, das Innere gleichzeitig offenbart und verhüllt. * * *

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Was sind Leib-Bilder und wie ist die Kunst der Physiognomik zu verstehen? Leib-Bilder. Auf einer Stele, die sich im daoistischen Tempel Baiyunguan, Beijing befindet, wurde im Jahre 1886 ein als Landschaft gestaltetes Leib-Bild eingraviert. Es zeigt den Embryo der Unsterblichkeit. Auf einer Abreibung dieses inneren Diagramms (neijingtu) lässt sich erkennen, dass die Augen als Sonne und Mond gestaltet wurden. Sie leuchten das Innere des Kopfes aus. In der Schädelgegend befindet sich ein Gebirge, das der kundige Betrachter sofort als den heiligen Berg Kunlun erkennt. Seine Ausläufer setzen sich entlang der Wirbelsäule als Bergkette nach unten fort. Am Fuße des Gebirges ruht ein See. Links vor dem See thront die Gestalt des Laozi (Lao-tzu, Lao Tzu, »Alter Meister«, ca. 604–ca. 531 v. Chr.). Am unteren Rande des Sees öffnet sich ein Tal, das der Nasengegend entspricht und dessen Eingang zwei hohe Türme, die Ohren, markieren. Im Tal fließt ein Strom, der den großen oberen See mit einem kleineren verbindet. Dieser steht für Mund und Speichelfluss. Eine Brücke, die Zunge, führt zur zwölfstöckigen Pagode, letztere eine Allegorie der Luftröhre. Dieses ins Mystische verklärte Leib-Bild hebt auf Selbsterweiterung und Selbsterhöhung ab: auf die Verschmelzung mit dem Göttlich-Numinosen. Klar durchstrukturiert, eröffnet es dem Adepten die Möglichkeit, nicht nur das Innere seiner selbst zu durchwandern, sondern zugleich den Leib des Laozi. Die Vorstellung, dass das Dao wandernd erfahren werden kann, nahm mit der Vergöttlichung des Laozi in der Gründungszeit des Kaiserreichs Gestalt an. Die Leib-Kosmos-Analogie war in der Frühen Kaiserzeit allgegenwärtig. 49 Physiognomik heißt im Chinesischen xiang ren, was, wörtlich übersetzt, »den Menschen prüfen« bedeutet. In der Volksrepublik China gilt sie zumindest offiziell als »abergläubische« Praktik. Lange Zeit konnte sie in der Öffentlichkeit nicht mehr ausgeübt werden. In Taiwan oder in anderen südostasiatischen Ländern mit chinesischen Gemeinschaften war sie immer präsent.

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Linck 2011: 265–268.

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Die Praxis der Physiognomik ist nicht nur auf Fachkreise beschränkt. Ganz allgemein gehört die Kunst, den Menschen ausgehend von seinen äußeren körperlichen Merkmalen zu prüfen, zu den Kulturtechniken, über die jeder Chinese verfügt. Bei dieser Prüfung kommen alle körperlichen Merkmale des tast- und sichtbaren Körpers in Betracht. Bei seinem Versuch, mit Hilfe der äußeren Erscheinung auf das Innere eines Menschen zu schließen, wird der Fachmann sicherlich systematischer als der Laie vorgehen und ein wohldurchdachtes Gedankengebäude zur Anwendung bringen. Er wird, je nach Bedarf, die Fünf Sinnesorgane, das Gesicht beziehungsweise die sechs Gesichtsbereiche und die dazugehörigen Knochen, Haare, Stirn, Augenbrauen, Zunge, Wange, Hinterkopf und Kopfscheitel, die zu einer Kopfpartie zusammengefasst sind, betrachten. Stirnlinien beziehungsweise Stirnfalten, Handinnenlinien, Gesichtsfarbe und Beschaffenheit der Gesichtshaut, Rücken und Brust, Rippen und Magenbereich, Beine und Fesseln, Gang, Arme und Hände, Köperbehaarung wird er unter Umständen auch in Augenschein nehmen. Basierend auf den Ergebnissen seiner Prüfung wird er nicht nur Rückschlüsse auf Gesundheit und Temperament, sondern auch auf Schicksal, Persönlichkeit und Moral eines Menschen ziehen. 50 * * * Die Menschendarstellungen und Porträts der Gegenwart reichen von Bildnissen mit traditionellen künstlerischen Techniken bis hin zu Twitter-, Blog- und Sina Weibo-Einträgen. Charakteristisch für sie ist, dass sie auf eine bildmächtige Weise mit dem Paradigma der diskursiv produzierten Körperlichkeit spielen und sich damit weit von der Leib-Kosmos-Analogie entfernen, die in den Leib-Bildern angelegt ist. Und auch die Gesetze der Physiognomik spielen für sie kaum eine Rolle. Mit dem schrillen Gestus des Lachens bringt der Maler Geng Jianyi die gesellschaftlichen Brüche zum Ausdruck, die sich selbst in einem so stark reglementierten Gesellschaftsgebilde wie dem-

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Linck 2011: 56–61.

85 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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jenigen der Volksrepublik China unter der Oberfläche aufgetan haben. Durch die Bruchlinien bricht die Wirklichkeit ein. Wir werden daran erinnert, dass im alten China, dem China der Kaiserzeit, das Lachen in Malerei und Bildhauerei zum einen der Schicht der sozial niedrig gestellten Gaukler und Komödianten und zum anderen den im buddhistischen Sinne erleuchteten Personen vorbehalten war. Beiden Gruppen war gemeinsam, dass sie sich »alternativen« Wirklichkeiten stellen mussten oder auch wollten. Werke der Bildenden Kunst zeigen uns, dass im Lachen der Underdog und der geistig, spirituell Entrückte zusammenfinden – was allerdings nicht gleichermaßen für die Literatur gilt. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Medialität ist die Darstellung lachender Menschen in Malerei, Bildhauerei auf der einen und schriftlichen Zeugnissen auf der anderen Seite unterschiedlich ausgefallen. Der Underdog lacht Die Ausgrabung eines Grabes der Östlichen Han-Zeit (25–220 n. Chr.) brachte die Figur eines Unterhaltungskünstlers aus Tonerde mit Bemalung ans Tageslicht. Es handelt sich um eine auf dem Boden sitzende Figur, die mit weit ausholender Geste kraftvoll eine Trommel schlägt, wobei sie ihr rechtes Bein, scheinbar im Takt, hochwirft. Zwischen den hochgezogenen Schultern blickt dem Betrachter ein rundlich gestaltetes Gesicht, das eine besonders lebendige Mimik aufweist, entgegen. Eine Knollennase, dicke Lippen und nach oben gezogene, wulstige Augenbrauen weisen den Trommler als eine Person aus, die ganz ihrem Vergnügen hingegeben ist. Gemäß dem Hanshu stellen die »erzählenden singenden Grabfiguren« (shuochangyong), zu denen diese Figur zählt, Schauspieler dar, die mit einer Trommel auftreten und auch Tiere gut imitieren können. Mit ihren Darbietungen, die zur HanZeit zu den »einhundert Spielen« (bai xi) gerechnet wurden, erfreuten sie nicht nur den Kaiserhof und den Adel, sondern auch breite Schichten des Volkes. Dem Yantielun (Diskussion über Salz und Eisen) lässt sich entnehmen, dass die »einhundert Spiele« zu 86 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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freudigen Anlässen, aber auch anlässlich von Bestattungszeremonien aufgeführt wurden. Interessanterweise sind die »erzählenden singenden Grabfiguren«, die als Grabbeigaben den Verstorbenen auch im Jenseits unterhalten sollten, bislang nur als Einzelfiguren aufgetaucht. Bemerkenswert ist auch, dass sie nur in Südwest-China, der Provinz Sichuan, gefunden worden sind. Der einem imaginären Publikum zugewandte Blick der Figur macht deutlich, dass es die Aufgabe des dargestellten Unterhaltungskünstlers war, jemand anderen zu erfreuen, zum Lachen zu bringen, wobei, wie nicht zu übersehen ist, auch sein deformierter Körperbau dem allgemeinen Amusement diente. In alten Quellen findet sich die Bezeichnung Gnom, Zwerg (zhuru) oder auch kurzer Mensch (duanren) für die shuochangyong. Was ihren sozialen Status anbelangt, so gehörten sie zur niedrigsten sozialen Klasse der Handwerker (qiaozhang); sie stammten angeblich aus Gebieten nördlich der äußeren Mauer des Han-Reiches. In ihrer Funktion als Spaßmacher waren sie beim Kaiser wie auch beim Volk sehr populär. Es wird sogar berichtet, dass eine reiche Person in einer den berühmten Heiligen Bergen gewidmeten Ritualzeremonie diese mit den Künsten eines Spaßmachers zu erfreuen suchte. Der Master of Ceremonies lächelt In einem Grab der Westlichen Han-Zeit (206 v. Chr.–9 n. Chr.), lokalisiert in Jinan, Provinz Shandong, wurde ein ganzes Tablett mit 21 Figuren aus bemaltem Ton gefunden, die, wie es uns Michael Sullivan in dem Band Chinese Art: Recent Discoveries mitteilt, »ein entzückendes Bild der Art von Unterhaltung gibt, die in Shandong zur Han-Dynastie verbreitet war«. 51 Auf einer Fläche von 67,5 cm � 47,5 cm wird uns die ganze Welt der Unterhaltung präsentiert: Akrobaten, Tänzer, Trommler und Musikanten mit einer lachenden Figur im Vordergrund, die der »Master of CereSullivan 1973: 50; Abbildungen in: Sullivan 1973: 30,31 und Sullivan 1977: 91.

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monies« ist. Im Unterschied zur oben besprochenen Einzelfigur sticht hier der geordnete, gleichsam offizielle Charakter der Szene ins Auge. Die Gediegenheit der Veranstaltung wird durch die ordentliche, höfische Kleidung der Vorführenden und deren Kopfschmuck unterstrichen. Während der Trommler aus der Provinz Sichuan vor lauter Freude ungezügelt lacht, da er in der Musik aufgeht, ist das Lachen des Zeremonienmeisters aus Jinan von einer zum musikalischen Geschehen distanzierten Haltung gekennzeichnet. Er lacht, kann aber nicht voll lachen, da dies der Rahmen nicht zulässt. Wie uns neben der Kleidung das Gestell mit Klangsteinen im Hintergrund nahelegt, findet die Vorführung an einem fürstlichen Hofe statt. Die Beobachtung, dass nur der ungebildete Artist ungezügelt lacht, der Angehörige der höfischen, gebildeten Schicht dagegen seine Freude mit einem kontrollierten Lächeln zum Ausdruck bringt, wird durch ein weiteres Beispiel aus der Han-Zeit bestätigt. Es handelt sich hier um die bemalte Tonfigur eines Musikhörers aus der Östlichen Han-Zeit (25–220 n. Chr.), die sich im Shanghai Museum befindet. In Treasures from the Shanghai Museum lesen wir: »This figurine is one of a pair with the zither player. … With his head slightly tilted, his eyes almost closed, his left hand behind his ear and his right one resting gently on his knee, the figurine expresses restrained happiness and seems preoccupied with the music.« 52 Lachen – Lächeln Mit meinen Ausführungen zum Lachen habe ich nicht nur die Bereiche der chinesischen Literatur und der Bildenden Künste durchstreift. Ich habe auch die chinesische Kulturgeschichte seit dem Beginn der Westlichen Han-Zeit (206 v. Chr.–6 n. Chr.) durchschritten. Für die Zeit nach dem Ende der Song-Zeit (960– 1279) lässt sich ein radikaler Bruch feststellen, den allein die »zivilisierte«, sprich konfuzianisch gezähmte Form des Lachens überlebte. Diese begegnet uns unter anderem im qing-zeitlichen 52

Treasures from the Shanghai Museum 1990: 118.

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(1644–1911) Xiaodao, auf das ich bereits unter der Überschrift »Durch Lachen sich bessern« eingegangen bin. Die chan-buddhistische Malerei hatte ihre hohe Zeit in der zweiten Hälfte des 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Ende der Südlichen Song-Zeit, Beginn der Yuan-Zeit). Danach wurden all die Bilder, die närrisch lachende Gestalten wie Budai oder Hanshan (japan. Kanzan) und Shide (japan. Jittoku) darstellen, zusammen mit vielen anderen Bildern im Chan-Geist nach Japan verkauft. Angesichts dieses Vorgangs möchte ich von einer »Veräußerung« des ausgelassen und laut lachenden Menschen sprechen. Das Reich, dessen Ordnung es zu bewahren gilt, hat sich seiner entledigt. Man hielt das Lachen für eine ansteckende Körperreaktion und sah es deswegen als eine Quelle unkontrollierbaren Verhaltens an. Es widersprach jeder Sitte, wenn spöttisch, verblüfft oder ungläubig gelacht wurde. Entsprechend sollte möglichst gar nicht oder nur maßvoll gelacht werden. Es lässt sich eine Kultur des Lachens bemerken, die unübersehbar die Handschrift des Neokonfuzianismus der Song (960–1279) trägt. Im Verlaufe dieser Dynastie und, dann später, der Ming-Dynastie (1368–1644) wurden Konfuzianismus und Staatsideologie einander weitestgehend angenähert. Die »Konfuzianisierung« des Beamtenprüfungswesens wurde vollendet. Es blieben aber immer noch Freiräume, in denen das konfuzianische Projekt der Verwirklichung von Menschlichkeit vor dem Schicksal der totalen Vereinnahmung bewahrt werden konnte. * * * Diesseits und Jenseits, Endlichkeit und Unendlichkeit, Leben und ewiges Leben – das sind die Reibeflächen, an denen sich sowohl der Glaube als auch der Humor entzünden. Beide leben aus der Spannung zwischen letztlich Unvereinbarem und dennoch untrennbar aufeinander Bezogenem. Diese Potenzialdifferenz müsste doch eigentlich auch in der chinesischen Kulturgeschichte ihren Ausdruck gefunden haben? »Denn wo der Glaube ist, da ist auch das Lachen«: Gilt etwa diese Feststellung, die uns aus dem Christentum bekannt ist, im »Land der Mitte« nicht? 89 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Beim Blättern durch chinesische und westliche Bildbände zur chinesischen Kunstgeschichte möchte man fast meinen, dass im chinesischen Altertum und in der Neuzeit nicht gelacht wurde. Es sind ein oftmals stark gekünstelt wirkender erhabener Ernst und eine Entrücktheit vorherrschend, die einen auch nicht im entferntesten daran denken lassen, dass ein Chinese in der Qing-Zeit über einen Bärtigen beim Essen und Trinken oder einen hochgewachsenen Menschen mit zu kurzer Kleidung lachte, wie dem Xiaodao zu entnehmen ist, oder aufgrund der erfahrenen Spannung zwischen dem Unvereinbaren nicht mehr an sich halten konnte und sich im Lachen verlor, wie uns die lachenden buddhistischen Mönchsfiguren zeigen. Aus dieser Beobachtung möchte ich, um die Serie riesiger Porträts Geng Jianyis besser einordnen zu können, folgende Schlussfolgerung ziehen: Beim Lachen handelt es sich um eine in der chinesischen Kultur stark reglementierte Form des Gefühlsausdrucks. Durch genaue, strenge Vorgaben wird all das, was wir im Deutschen als »Anfall«, »Anwandlung«, »Erregung«, »Gemütsbewegung«, »Wallung« bezeichnen, zu neutralisieren versucht. Die lange Tradition des Witzes in China ist allerdings ein Indiz dafür, dass das Lachen als Ausdruck einer verstandesmäßigen und nicht einer gefühlsmäßigen Tätigkeit kulturell akzeptiert wird. Es wird geschätzt als Ausdruck von Denkkraft, Klugheit und gesundem Menschenverstand, wobei aber mehr an durch Bildung erworbene als an angeborene Eigenschaften gedacht wird. So konnte Hanfeizi (Han Fei-tzu, Meister Han Fei, ca. 280–233 v. Chr.) sich des Witzes bedienen, um die Lacher bei der Anprangerung von Missständen auf seiner Seite zu haben. Und auch der bereits mehrmals erwähnte Menzius kitzelte den Lachnerv seiner Zeitgenossen, um ihnen parabelhaft philosophische Grundwahrheiten nahebringen zu können. In China musste und muss nach wie vor unter ganz bestimmten Bedingungen gelacht werden. Denn wer nicht lacht, der kennt entweder nicht die Orientierungsfunktion von Tradition oder ist ganz einfach dumm. Beides ist sowohl unter den Vorzeichen des Konfuzianismus wie auch denjenigen des Kommunismus schlecht. Das Ziel einer Traditionsstruktur wie der chinesischen ist es, aus ihr 90 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Normen und Handlungsorientierungen für das gegenwärtige Leben zu gewinnen. Dem kommt der Witz entgegen, der in zweifacher Hinsicht eine verstandesmäßige Tätigkeit ist. Er arbeitet mit der menschlichen Fähigkeit, erstens zwischen entfernten Dingen ein Band auf unerwartete, überraschende Weise herzustellen und zweitens etwas Verstecktes, Verborgenes in einer komischen Wirkung deutlich zu machen. Im Bewusstsein um die Unzulänglichkeiten menschlichen Lebens wurde und wird der Witz im chinesischen Kulturraum als ein Instrument zur moralischen Unterweisung verwendet. Es kann gelacht werden, so lange es um Personen wie Geizige, Geile, Dumme und Gierige geht. Wird der chinesische Staatspräsident aber mit Winnie Puuh (englisch Winnie-the-Pooh) verglichen, was eigentlich ganz harmlos ist, dann hört der Spaß auf. Weshalb darf das Lachhafte in der Literatur, aber nicht in den Bildenden Künsten vorkommen? * * * Die unterschiedliche Präsenz des Lachens in den Bildenden Künsten und in der Literatur lässt sich mit wirkungsästhetischen Aspekten begründen. Denn in der Literatur wird das Lachen gleichsam unweigerlich all seiner »niederen« physiologischen, psychischen und physischen Antriebsmomente entkleidet und in einem Akt der hohen Kultur gereinigt. Zu erinnern: Der Begriff für Literatur im klassischen Chinesisch, wen, ist identisch mit dem Begriff für kulturelle Muster. Dagegen ist das Lachen in der Darstellung durch die Bildenden Künste – wie sich an der Porträtserie »Der zweiten Zustand« Geng Jianyis überdeutlich zeigt – einfach nur das, was es seinem äußeren Anschein nach ist: nämlich ein Gefühlsausdruck, in dem sich die Mimik, die nach den Vorstellungen des Konfuzianismus gesittet und kontrolliert zu sein hat, ganz einfach verzerrt. Während das Lächeln die Extreme der affektgeladenen Grimasse zu Gunsten einer Haltung des zivilisierten Umgangs vermeidet, zeigt sich der Mensch im Akt des Lachens als Opfer einer Explosion, in der sich der Bruch zwischen Leib und Person im Verlust ihrer Selbstbeherrschung malt. 91 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Provokation Im Geist des Chan-Buddhismus befreit sich der Mensch lachend von den Fesseln doktrinärer oder konfessioneller Festlegungen. Wie den in Japan erhalten gebliebenen Tuschmalereien mit Darstellungen der »Drei Essigkoster« oder der »Drei Lacher vom Tigertal« zu entnehmen ist, zeichnet aber die lachende Haltung nicht nur den historischen Sakyamuni Buddha, sondern auch Konfuzius und Laozi aus. Sie alle werden sich gerade im Moment des Lachens ihrer eigenen Begrenztheit bewusst. Die Darstellungen der »Drei Essigkoster« und der »Drei Lacher vom Tigertal« gehen auf ältere chinesische Geistestraditionen zurück. Zum Beispiel spielt das Thema der Essigkoster auf ein altes daoistisches Thema an, das die Relativität der drei Lehren des Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus zum Inhalt hat. Die Geschichte basiert auf folgender Begebenheit: Im Rahmen eines fröhlichen Zusammenseins von Sakyamuni, Laozi und Konfuzius war der Wein plötzlich zu Essig geworden – in ihm schwammen sogar Käfer. Dies versinnbildlicht den Vorgang des Erwachens aus einer genießerischen Atmosphäre in die bittere Realität. Ebenso realisierten die »Drei Lacher vom Tigertal« mit herzlichem Lachen die plötzliche Erkenntnis, dass starre Regeln und auch persönliche Verhaltensvorgaben der »Macht geistiger Freiheit und Reinheit nicht standzuhalten vermögen«. 53 * * * Der Humor präzisiert im schallenden Lachen den Zustand der Existenz. Um sich ja nicht zu belügen, betreibt er den Erdrutsch, rückt den Tatsachen mit Gefühlsausbrüchen zu Leibe. Und darin liegt seine Zweischneidigkeit: genauso rasch, wie er befreiend wirkt, wird er gnadenlos. Indem die Mimik der lachenden Gesichter obsessiv ist, weisen die Porträtserien Geng Jianyis den Betrachter in eine Richtung, die nur mehr sehr wenig mit dem überlieferten chinesischen Menschenbild zu tun hat, nach dem sich der Mensch selbst zu kultivieren hat. Es hat nichts mehr 53

Brinker, Kanazawa 1993: 20 ff.

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mit »der Person, deren Körper durch Ritual, Musik, Bogenschießen, Wagenfahren, Kalligrafie und die Arithmetik transformiert wird«, 54 zu tun. Mit seinen theatralisch inszenierten Bildern will Geng Jianyi den Betrachter provozieren. Symptomatisch zeigen die beiden Porträtserien mit hysterisch lachenden Köpfen, darunter die Serie »Der zweite Zustand«, dass die Funktion von Inszenierungen in der Herstellung von Gegenwart besteht. Theatralisch inszenierte Bilder organisieren eine spezifische Haltung zur Welt, eine auffällige Gegenwart, in der uns die Dinge der Welt etwas angehen. Während bei den »Drei Essigkostern« und den »Drei Lachern vom Tigertal« mit der Darstellung des Lachens der drei Religionsgründer ein Bild der Harmonie zwischen den Religionen und Weltanschauungen gelingt, tut sich in den Bildern Geng Jianyis ein Experimentierfeld auf, auf dem sich der Mensch mit der Unzulänglichkeit seiner Existenz auseinandersetzt. Den Betrachter seiner Bilder zwingt Geng zur Konfrontation mit etwas, dessen Widersprüchlichkeit weder Kunst noch Philosophie, noch Religion auflösen können. Gefühle sind kaum kontrollierbare Widerfahrnisse. Werden sie aber dargestellt, dann werden aus ihnen »Tat«-Sachen, die nach Handlungen und Handlungsperspektiven verlangen. Ganz im Gegensatz zu der Kulturtradition, in der Geng Jianyi steht, und ihren Bedeutungsansprüchen definiert sich hier Kultur nicht durch den Sinn, den sie produziert, sondern durch die Reaktionen, die beim Einzelnen die unkontrollierbaren, unabwendbaren lebensweltlichen Hindernisse und Widerfahrnisse hervorrufen. Lebend im Sozialismus chinesischer Prägung stellt Geng ganz einfach fest, dass der Mensch das Wesen ist, das vorherrschende kulturelle Interpretationen wiederum interpretieren kann und auch stets von neuem interpretieren muss, da es diese auch nur so verstehen kann. Er blendet kulturelle Überbauphänomene aus, verdreht Hierarchien, indem er das Bildsujet auf Gestalten, die ganz in dem Affekt des Lachens aufgehen, beschränkt und die Welt auf ein menschliches, allzu menschliches Maß reduziert. 54

Tu 1983: 62, 63.

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Geng Jianyi präsentiert ein Subjekt in einer überreizten Situation. Er verdeutlicht damit, dass kulturelles Wissen sozial situativ ist. * * * Aus den Geschichten des Chan-Buddhismus wissen wir, dass das Lachen nicht nur dem Ausdruck der eigenen Gefühle dient. Im Frage- und Antwortspiel zwischen Meister und Schüler richtig eingesetzt, hat es eine wichtige, die plötzliche Erkenntnis hervorrufende Funktion. Dem Lachen in den Bildern Geng Jianyis, aber auch in denen Fang Lijuns (geb. 1963), Liu Weis (geb. 1963) und Yue Minjuns (geb. 1962) habe ich die plötzliche Erkenntnis zu verdanken, dass das »Chinesische« an der chinesischen Kunst, aber auch am chinesischen Denken, der Philosophie, mehr ist als die Summe dessen, was in der chinesischen und westlichen Literatur jemals über sie geschrieben wurde. Dabei kommt mir der auf seinem Bettelsack ruhende Budai, der närrisch lacht, in den Sinn. Und ich muss auch an den Satz des evangelischen Theologen Helmut Thielicke (1908–1986) denken, dass sich das Unbedingte am Rande der Lächerlichkeit befindet. 55

3. Nicht-Ich 3.1 Chinesische Porträts im Allgemeinen, buddhistische Porträts im Besonderen In der chinesischen Porträtmalerei können wir ganz grob zwischen formellen und informellen Porträts unterscheiden. In ihnen entdecken wir auf ganz unterschiedliche Weise die Spuren des Konfuzianismus, des Buddhismus und des Daoismus. Auf chinesischen Porträts der informellen Tradition wird das »Ungehobelte / Unbehauene« (pu), das Nicht-Kunstvolle präferiert. Mit ihm wird der Glanz des Selbst und des Individualisie55

Thielicke 1988.

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Nicht-Ich

rungsprozesses hintertrieben. Das Selbst wird nicht zum Thema gemacht. Die Gesichter, die dabei entstehen, sind weder schön noch hässlich. Sie entziehen sich ganz einfach dem vorherrschenden Geschmack, dessen Moden und den massenmedialen Diskursen, die sie begleiten. Mit den »ungehobelten«, »unbehauenen« Porträts wird das Rad der Zivilisationsgeschichte zurückgedreht, in deren Verlauf, durch fortwährende Selektion, das menschliche Gesicht glatt und blank gescheuert und für Wunschträume hergerichtet wurde. Denn glatte und haarlose Gesichter ermöglichen ein Maximum an mimischer Botschaft. Wichtig ist, dass sie nicht verschleiert werden. Für das Gesicht, das immerzu angeschaut werden möchte und soll, hat die Evolution sinnige Bildschirme aller Art entwickelt. Deren schönen Schein verneinen die Porträtbilder in der informellen Tradition. Beim Blick auf die informellen Porträts könnte der Eindruck entstehen, dass in der Porträtkunst die Unterschiede zwischen den Kulturen nicht so groß wie in der Landschaftsmalerei sind. Dies widerlegen die formellen chinesischen Porträts, also die Ahnenporträts und Porträts von Herrscherpersönlichkeiten im Geiste des Konfuzianismus. Sie bleiben dem westlichen Betrachter aufgrund ihrer gesellschaftlich kodierten Sichtbarkeit fremd. Ganz bewusst lassen sie den Eindruck von Nähe nicht zu. Auf den bildlichen Darstellungen, die formeller Natur sind, blicken die Dargestellten häufig frontal ins Leere hinein oder schauen im Halbprofil aus dem Bild heraus. Der Blick trifft den Betrachter in kalter Frontalität oder geht schräg an ihm vorbei. Die besondere, aber verständnislose Faszination dieser Gesichter geht von der Einladung aus, sich mit den unterschiedlichen Strukturmodellen der menschlichen Psyche auseinanderzusetzen: Was ist bewusst, was ist vorbewusst und was ist unbewusst? Welche Rolle spielt das Über-Ich als Kontrollinstanz gegenüber dem ungehemmt nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung strebenden Es? Die formellen Porträts beleuchten den Doppelaspekt der Identität: den der Selbstdarstellung und den der Fremdwahrnehmung. Ihr Betrachter wird zum kritischen Voyeur. * * * 95 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Trotz aller Irritation in Bezug auf die Individualität der dargestellten Personen meinen wir aber auch ausgehend von den formellen chinesischen Porträts Rückschlüsse auf die chinesische Kultur des Gesichts und der Gesichtswahrung ziehen zu können. Mit ihnen verwirklichte das seit der Song-Zeit (960–1279) immer besser organisierte Großfamiliensystem sein Anliegen, prominentere Familienangehörige im Bild festzuhalten. Um das Ansehen der Familie sichtbar zu erhöhen, legten sich reiche Familien einen Schatz an Ahnen-Porträts zu, die sie bei besonderen Gelegenheiten zur Schau stellten. Diese sind rein sachlich gehalten: Sie sind als Projektionsfläche gedacht, weniger für die persönlichen Vorstellungen ihrer Nachfahren, als, wie es scheint, für überpersönliche Gesetze und Riten, die das menschliche Miteinander und auch das zwischen den Lebenden und Toten regeln. Es handelt sich um Urszenen, auf denen die Anatomie eine untergeordnete Rolle spielt. Verehrung, Ehrfurcht und all das andere, was am Anfang der Sprache und des Bildes steht, sind in das bildnerische Konzept eingeschlossen. * * * Das Irritierende an chinesischen Porträts sowohl in der formellen wie in der informellen Tradition besteht darin, dass ihnen aufgrund ihrer sachlichen Gestaltung genau das fehlt, was moderne Porträts anziehend macht: Sie leben nicht aus der Mimik. Am besten lässt sich ihr Wesen mit dem griechischen Begriff des »prósopon« auf den Punkt bringen. Prósopon bedeutet sowohl Maske als auch Gesicht. Im Falle der chinesischen Porträts handelt es sich nicht um ein Entweder-oder zwischen einer Maske, die ein Geheimnis verbirgt, und dem Gesicht, das der Spiegel der Seele ist, sondern um ein Sowohl-als-auch. Chinesische Porträts verunsichern, weil sie Maske und Gesicht zugleich sind. Von welcher Seite aus man sich auch immer einem Gesicht mit maskenhaften, schematisierten Zügen annähert, so hängt an ihm der fundamentale Verdacht, dass es das Wesentliche, ein Geheimnis oder vielleicht sogar eine Hinterlist verbirgt. Bei einer Maske meinen wir immer ein Dahinter vermuten zu können, was aber für chinesische Porträts nicht zutrifft. Sie verbergen nichts, viel96 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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mehr verdankt sich das Porträt in China einer Abstraktionsleistung, die den Blick auf das Allgemeine und nicht auf das Singuläre lenkt. Obwohl es eine Person darzustellen vorgibt, handelt es nicht von dessen persönlichen, individuellen Eigenschaften. * * * Die chinesische Porträtkunst verdankt dem Buddhismus wichtige Impulse. Aus dessen Sichtweise bedeutet die Darstellung des Äußeren an der menschlichen Erscheinung, so technisch perfekt sie auch sein mag, keinen Gewinn, sondern vielmehr einen Verlust. Denn in der Erfassung des bloß Sichtbaren ist etwas ganz Wichtiges verlorengegangen: das höhere, unwandelbare Selbst des Menschen. Die Buddhisten bezeichnen dieses als den leeren Ursprungsleib, dem eine viel größere Bedeutung zukommt als jeglicher Form von individueller Körperlichkeit. Das höhere, unwandelbare Selbst des Menschen ist nicht abbildbar. Von dem buddhistischen Mönch Ke Qin (1063–1135) ist folgende Aussage überliefert: »Von dem, was das Selbst durchflutet, gibt es kein Abbild.« 56 Aber dennoch kam Porträts eine wichtige Funktion in der religiösen Praxis zu, weil viele Gläubige im Gebet auch dann noch ein Bild ihres Lehrmeisters vor Augen haben wollten, wenn dieser bereits verstorben war. Ebenso wurden von chinesischen Mönchen bildliche Darstellungen buddhistischer Autoritäten auf ihre Reisen in ferne Länder mitgenommen. Auf den Porträts finden sich Bildaufschriften, die spätestens seit dem 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung sehr beliebt waren. * * * Die Verbindung zwischen Porträt und einer Aufschrift in Form einer Lobrede (Eulogie) ist alt. In einer Anthologie aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts wird ganz lapidar festgestellt: »Wenn man ein Porträt malt, so versieht man es mit einer Eulogie.« 57 Seit dem 11. Jahrhundert ist in buddhistischen Schriften eine 56 57

Bauer 1990: 345. Bauer 1990: 338.

97 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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große Zahl von Selbst-Eulogien berühmter Mönche überliefert, die offenbar meist als Begleittexte zu längst verlorengegangen Porträts dienten. Die Texte, die kaum länger als 50 Zeichen sind, ergehen sich oft in allgemein gehaltenen, frommen oder philosophischen Überlegungen. Sie schildern keine historischen oder innerseelischen Vorgänge, von denen Autobiographie und Selbstdarstellung leben. Das Wesen dieser Art von Ausführungen veränderte sich aber, als am Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung der Buddhismus an Einfluss zu verlieren begann und mit dem Konfuzianismus verschiedenste Verbindungen einging. Die SelbstEulogien, die danach entstanden, spielen nicht selten direkt auf das Bildnis an und setzen dieses in Beziehung zu dem Verständnis, das der Porträtierte von seinem eigenen Ich hat. Dass diese Tradition nach wie vor lebendig ist, wird uns gleich noch das Selbstporträt des Zeng Mi (geb. 1935) mit seinen zahlreichen Bildaufschriften zeigen. * * * Um das Porträt nicht zuvorderst oder gar ausschließlich auf Äußerlichkeiten basieren zu lassen, tendieren die buddhistischen Porträtaufschriften dazu, die Aussagekraft des Bilds in Zweifel zu ziehen. Im Wechselspiel zwischen Bild und Wort soll das »wahre« Wesen eines Menschen aufscheinen. Mit den Bildaufschriften soll nicht die Kunstfertigkeit des Malers diskreditiert, sondern lediglich die prinzipielle Möglichkeit, das wahre Wesen eines Menschen in einem Bild zu erfassen, hinterfragt werden. In den Aufschriften schwingt das vom Buddhismus inspirierte und später ebenso von anderen chinesischen Denkrichtungen getragene Bewusstsein mit, dass allein schon die Vorstellung von einem Ich irreal ist. Die Buddhisten waren und sind überzeugt, dass diese Vorstellung den Zugang zu Erleuchtung und Erlösung versperrt. Im Bereich der Porträtkunst unterscheiden sie zwischen • essenziellen Eigenschaften, die es unter Bezugnahme auf die philosophischen und literarischen Traditionen festzuhalten gilt, und • akzidentellen, die als unwesentlich zu vernachlässigen sind. 98 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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* * * In der chinesischen Gegenwartskunst hat diese Einsicht, die unsere traditionelle Vorstellung von einem Porträt untergräbt, an Aktualität gewonnen. Autoritative Repräsentationsbilder werden in Bewegung gebracht, seelischen Erschütterungen ausgesetzt, in abstrakte Formwelten oder in die Niederungen des Alltags überführt. Es dominiert ein ironisch-kritischer Ansatz. Häufig ist der Körper lädiert oder aber zur Serienware verkommen. Hyperrealistische Bilder stehen Bildnissen gegenüber, in denen das Ausformulieren vermieden wird. Sie bewegen sich deswegen an der Grenze zum Amorphen. Im Rückbezug auf die traditionelle, buddhistisch geprägte Porträtmalerei hintertreibt die chinesische Gegenwartskunst die Inhalte, die sich mit den modernen chinesischen Begriffen für das »Porträt« verbinden. Diese setzen auf Repräsentation. Sie lauten: »renxiang« und »xiaoxiang«. Ersteres, renxiang, bedeutet ganz einfach das »Bild eines Menschen«; letzteres, xiaoxiang, »ein Bild, das ähnlich ist«. Die heutige Vorstellung von dem, was ein Porträt ist, verdankt sich dem Kontakt Chinas mit dem Westen. Durch diesen wurde der Realismus in den Bildenden Künsten befördert, wie zum Beispiel die Porträtbilder verdeutlichen, die im 17. Jahrhundert am chinesischen Hofe gemalt wurden. Die Prägung durch westliche Formen des Sehens und Darstellens finden wir auch in den Porträts, die am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Geiste des Im- und Expressionismus und dann, ab den 1940er Jahren, unter dem Einfluss des sozialistischen Realismus sowjetrussischer Prägung entstanden. Diese Bilder sind Porträts im Sinne von xiaoxiang, »einem Bild, das ähnlich ist«, und renxiang, »dem Bild eines Menschen«, aber nicht im Sinne der buddhistischen Porträtkunst. * * * In dem Selbstportrait des Malers Zeng Mi geht es um essenzielle Eigenschaften. Die Elemente von Dichtung, Kalligraphie und Malerei haben in ihm beispielhaft zusammengefunden. Dabei illus99 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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triert das Bild genauso wenig die Texte, wie die Texte das Bild erläutern. Vielmehr bringen die Textelemente in ihrem Spannungsverhältnis zur bildlichen Darstellung die Ebene der Sprache in die Begegnung mit dem Bild ein: als poetische Entsprechung oder als Anstoß zur Reflexion. Es handelt sich bei ihnen oftmals um Zitate, die den gebildeten Betrachter an ergänzende Sinnzusammenhänge denken lassen – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Im Falle des Selbstbildnisses von Zeng Mi beruht das Dreieck Mensch – Körper – Bild auf einem offenen, unbestimmten Verhältnis, das zu seiner Bestimmung noch des Wortes, der literarischen Bezüge bedarf. Der Bildkomposition lässt sich die widersprüchliche Botschaft entnehmen, dass • der Mensch nicht auf ein Bild reduziert werden kann, aber • ohne ein Bild auch nicht greifbar, vorstellbar und in seiner Lebensleistung erinnerbar wird. Sein Denken, Fühlen und Sein, seine beispielhafte Menschlichkeit erschließen sich erst im Wechselspiel von Wort und Bild. Grundsätzlich gilt, dass Funktion und Wert eines Porträts nicht allein in der bildlichen, möglichst realistischen Darstellung einer Persönlichkeit bestehen. * * * Zur Person des Künstlers: Zeng Mi stammt aus der Provinz Fujian im Süden Chinas, er wurde dort 1935 geboren. 1962 absolvierte er die in Hangzhou gelegene Chinesische Hochschule der Künste (zhongguo meishu xueyuan). Während der Kulturrevolution (1966–1976) verfolgt, wurde Zeng 1978 rehabilitiert und kehrte 1980 als Professor an seinen Studienort zurück.

3.2 Zeng Mi, »Selbstporträt« In der chinesischen Kunst sprengen die Künstler- und Literatenporträts und vor allem die Selbstbildnisse, auf denen sich die Künstler und Literaten selbst wirkungsvoll in Szene setzen, alle 100 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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konventionellen gesellschaftlichen Grenzen. Dies insbesondere im Rahmen der Tuschmalerei, mit deren Mitteln eine »Idee niedergeschrieben« (xieyi) wird. Xieyi bezeichnet einen Schaffensprozess, bei dem der Pinselstrich des Malers das Wesen der anschaubaren Dinge im Einklang mit seinem eigenen Wesen zur Erscheinung bringt. Der Maler ist im Vorgang des Xieyi grundsätzlich frei. Er hat die Freiheit, Gegenstände aus ganz verschiedenen Zeiten oder auch verschiedene Teile unterschiedlicher Gegenstände zusammenzufügen. Da die Xieyi-Malerei weder unter dem Zwang des europäischen chiaroscuro (Hell-Dunkel) noch unter demjenigen der uns heute so selbstverständlich erscheinenden Zentralperspektive steht, ist das Auge des Betrachters der bewegliche Brennpunkt, in dem sich die unterschiedlichen Bildelemente zu einem Ganzen vereinigen. Das bedeutet: Kunst besteht in dem Akt der Hervorbringung von Kunst und das Kunstwerk ist ein kreativer Prozess, der sowohl vom Künstler wie vom Rezipienten geleistet wird. * * * In den Porträts und Selbstporträts der Chan-Schule wird die Freiheit von allen gesellschaftlichen Zwängen nochmals auf eine ganz eigene Weise betont. Mit dem Begriff der »Lehrelosigkeit«, der sich in einer der nachfolgend zitierten Bildaufschriften seines Selbstporträts findet, verweist Zeng Mi auf diese buddhistische Schule. Chan basiert auf einer »Lehre ohne Lehre«, so wie im Falle des Daoismus die Kunst eine »Kunst ohne Kunst« ist. In einer Aufschrift auf einem Bild Zeng Mis mit dem Titel »Kleines Haus am Flussufer« aus dem Jahr 1998 findet sich folgendes Zitat aus der Song-Zeit (960–1279 n. Chr.), das das Chan-Element in der Malerei allerdings mit dem konfuzianischen Vernunftbegriff verbindet, um der reinen Willkür (»Laune«) und damit auch der Darstellung des Nicht-Wesentlichen (»Äußerlichkeiten«) den Riegel vorzuschieben: Wer im Geiste des Chan malt, kann die Natur der Dinge erfassen. Man erforscht das schwer zu Ergründende, bringt das innere Wesen zum Ausdruck. Ein Pinselstrich vermittelt die Vielfalt der Naturerscheinungen.

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Wer der Vernunft fernbleibt, überlässt das Herz der Laune. Der Charakter wird dann von Äußerlichkeiten beeinflusst. Die Außenwelt und die eigenen Interessen harmonieren nicht, wodurch man zum Sklaven von Pinsel und Tusche wird. Wie kann man die Wahrhaftigkeit von Himmel und Erde erkennen? 58

* * * Zeng Mi ist mit seinem Wirkungsort Hangzhou, der traditionell zu den wichtigsten Kunstzentren Chinas zählt, zutiefst verbunden. Die an diesem Ort in Vergangenheit und Gegenwart tätigen Künstler haben, mittelbar oder unmittelbar, seine künstlerische Haltung geprägt. Gu Kunbo (1905–1970), ein eher traditioneller Maler und Professor an der in Hangzhou gelegenen Chinesischen Hochschule der Künste, führte ihn in die klassische Gelehrsamkeit und Malmethodik ein. Formal wie auch geistig sind bei Zeng Mi deutliche Bezüge zu Huang Binhong (1865–1955), der von vielen als der letzte große Landschaftsmaler Chinas bezeichnet wird, nachzuweisen. Aber auch Einflüsse Pan Tianshous (1897–1971) sind nicht zu übersehen. Wie dieser steigert Zeng Mi den Ausdruck eines Bildes ins Extreme – siehe sein Selbstporträt. Es fällt auf, dass sich Zeng Mi daoistischem wie chan-buddhistischem Gedankengut und damit auch den Exzentrikern des 17. und 18. Jahrhunderts nahe fühlt, zu denen Jin Nong (1687–1763) und Zheng Xie (1693–1765) zählen. Auf dem Feld der chinesischen Kalligrafie hat er sich insbesondere mit dem Werk Zhu Suiliangs (596–658), Yan Zhenqings (709–785), Yi Bingshous (1754–1815) und Yu Yourens (1869–1965) auseinandergesetzt. Der Einfluss des großen Bada Shanren (1625–1705) ist unübersehbar. Sein erklärtes künstlerisches Vorbild ist aber der Maler Shi Tao, der an der Wende von der Ming- (1368–1644) zur Qing-Dynastie (1644–1911) lebte. Lebensdaten: 1636 bis ca. 1718. In einer der Bildaufschriften seines Selbstbildnisses nennt Zeng Mi sein Vorbild »Herr Shi«. Der auch unter seinen buddhistischen Mönchsnamen Daoji und Yuanji bekannte Maler zählt zu den be58

Sommer 2003: Bild 60.

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deutendsten Literaten-Maler in der chinesischen Kunstgeschichte überhaupt. Er reagierte auf die Kopiermanie seiner Zeitgenossen mit dem Diktum: »Die Nicht-Regel als Regel, das ist die höchste Regel.« 59 Das klingt nach einem individualistischen Standpunkt. In einer Bildaufschrift aus dem Jahr 1691 führt »Herr Shi« aus, wie man selbst diesen transzendieren kann: Aber heute bin ich umgefallen und habe erfasst, dass dies doch auch wieder nicht so ist, denn unter dem unermesslich weiten Himmelszelt gibt es nur eine Regel. Wer diese erfasst hat, für den wird, wo er auch gehen mag, alles zur Regel. Warum da so unbedingt von Eigenem sprechen. 60

Shi Tao lässt • aus bestimmten Gesetzmäßigkeiten abgeleitete und für den Bereich der Malerei als verbindlich festgelegte Richtlinien, kurz »Regeln«, und • die Erste-Person-Perspektive, kurz »das Ich«, als künstlerische Leitinstanzen weit hinter sich zurück. Wie auch später dem Maler Zeng Mi, der »die Methodik ohne Methode« zur »besten Methodik« erklärt, wird ihm, »wo er auch gehen mag, alles zur Regel«. Die »höchste Regel«, von der er spricht, ist nichts anderes als das Dao; aus der Einheit mit dem Dao heraus will er künstlerisch tätig sein. Er strebt die Einheit von Regelhaftigkeit und Regellosigkeit an. Das Streben nach einer Einheit, die nur über eine geistige Vereinigung mit den alten Meistern erreicht werden kann, darf als sein künstlerisches Credo gelten. * * * Wenn nun Shi Taos Bewunderer Zeng Mi auf einer seiner Bildinschriften sagt: »Das helle Dao ist wie verdunkelt«, dann deutet er an, dass ihm, im Gegensatz zu seinem Vorbild, die Einheit mit dem Einen, dem Dao, unter den gegenwärtigen Bedingungen versperrt ist.

59 60

Pohl 2007: 378. Pohl 2007: 378.

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Beim Blick auf das Selbstporträt sehen wir im Bewusstsein um diesen Satz Folgendes: ein Gesicht, auf ein paar Linien des Jammers reduziert, umschwebt von altchinesischen Weisheiten: »Das Ich ist ein Ich, weil das eigene Ich existiert« – »Sei ein aufrechter Mensch und male nach Herzenslust« – »Alle Schönheit folgt der unbegrenzten Leichtigkeit« – »Geradlinigkeit wird von Stille gefolgt, Klarheit kommt nach der Stille; Klarheit wird von der Leere gefolgt, das Nichts kommt nach der Leere«. Ein Leben mit dem Dao und nicht gegen das Dao ist hier eine Frage der Bewusstseinserweiterung, der Befreiung des menschlichen Geistes von den Grenzen des nur scheinbar rationalen Denkens und seiner sprachlichen Kategorien. Der Begrenzung des Ichs durch die Gesetze der Rationalität wird eine mystische Sicht der Einheit im Dao entgegengesetzt, welche dem Individuum Gleichmut, Glück und Spontaneität ermöglicht. Durch die Verbindung von Bild und Wort, Porträt und traditionellen Weisheiten lösen sich bei Zeng Mi schmerzliche Verhärtungen, die im Hier und Jetzt entstanden sind. Es gibt ihm Orientierung, wenn im künstlerischen Werk die alten, verlorengegangenen Ordnungszusammenhänge wieder hergestellt sind. Aber, zunächst gilt: Der jämmerlich dreinblickende Mensch auf dem Selbstbildnis von Zeng Mi ist herausgefallen aus der Ordnung des Kosmos, die, insofern sie harmonischer Natur ist, dem Menschen Gleichmut, Glück und Spontaneität verspricht. * * * Das kleine Tuschbild auf Papier wird im Museum für Ostasiatische Kunst, Köln aufbewahrt. Es trägt folgende Signatur: Am zweiten Tag des elften Monats im Jahr dingmao (1987) nach dem Mondkalender malte Sanshi Louzhu sich selbst vor dem Spiegel und schrieb die alten Lehren nieder, um sich selbst zu ermutigen.

Sanshi Louzhu ist einer der Künstlernamen Zeng Mis. Wörtlich übersetzt bedeutet dieses Pseudonym, das er am häufigsten gebraucht: »Herr des Studios der Drei Steine«. Es ließe aber auch andere Deutungen zu. »Drei« heißt ebenso »Viele«. Der Stein ist in China Symbol für Stärke, langes Leben, Schutz gegen Dämo104 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Zeng Mi, »Selbstporträt« 1987, Tusche auf Papier, 70 � 34 cm, Museum für Ostasiatische Kunst, Köln, Inventarnummer A 2002, 4

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nen. Die Gleichstellung von Stein, Edelstein, Kostbarkeit, Schatz lässt die Übersetzung »Herr eines Hauses mit vielen Kostbarkeiten« zu, womit die Kunstsammlung des Zeng Mi angesprochen sein könnte. Sicherlich spielt er mit seinem Künstlernamen aber auch auf große Maler der Vergangenheit an, die das Wort »Shi« in ihrem Künstlernamen tragen, wie eben »Herr Shi«. * * * Das Selbstporträt des Zeng Mi ist kein Porträt im üblichen Sinne, obgleich der Künstler in seiner Signatur davon spricht, dass er es vor dem Spiegel gemalt habe. Das Gesicht ist mit wenigen Linien gezeichnet und zielt nicht auf Ähnlichkeit ab. Über das ganze Bild verteilt finden sich zahlreiche Bildaufschriften, die der lebensphilosophischen Positionierung des Künstlers dienen, der ansonsten sein Ich mit den künstlerischen Mitteln des Selbstporträts weitestgehend undefiniert lässt. Es sei hervorgehoben, dass Zeng Mis Bildaufschriften im wahrsten Sinne des Wortes synkretistischer Natur sind. Sie vereinen Einflüsse aus dem Konfuzianismus, dem Buddhismus und dem Daoismus. Am stärksten wirkt jedoch, wie bereits angemerkt wurde, der Einfluss des Buddhismus, der, zusammen mit Lehrsätzen aus der unkonventionellen Gedankenwelt des Daoismus, den Grundton für die einzelnen Aufschriften vorgibt. Die Bildaufschriften dienen der Präzisierung einer Haltung, die mit dem Begriff der absoluten Absichtslosigkeit am besten auf den Punkt gebracht ist. Zeng Mi verweist mit dem Begriff des Nicht-handelns (im Chinesischen wu wei) auf ihn. Wu wei ließe sich mit »ohne Tun« übersetzen. Es zeichnet den echten und erfolgreichen Herrscher aus, der sich nach der Auffassung einiger chinesischer Denkschulen von all seinem Wissen und Können lossagen muss, um des ewigen Prinzips seiner Regierung nicht verlustig zu gehen. In diesem Punkt stimmen die legalistische und die daoistische Schule überein. Im Daoismus ist das Nichts-Bestimmtes-Wissen höchstes Wissen und das Nichts-Bestimmtes-Tun die höchste Form des Handelns, eben wu wei. Auf diese Weise wird der Herrscher zu einer Verkörperung des Dao:

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die Dinge, die das Geschehen bilden, werden von ihm als einem unbestimmt bleibenden Herrscher beherrscht. Zutreffend ist wu wei mit dem Begriff des »Reinen Geschehens« beschrieben, der höchsten Weise des Handelns. Diese Form des Handelns bringt einen ganzen Strukturzusammenhang in Bewegung: Jedes Einzelne gelangt durch wu wei in ein gelingendes Zusammenspiel. Auf diese Bedeutungsebene hebt Zeng Mi mit einigen seiner Bildaufschriften, die nachfolgend aufgeführt sind, und nicht nur mit der dritten: »Nicht handeln« ab. Bevor ich die Bildaufschriften in ihrer deutschen Übersetzung aufführe, möchte ich noch zwei Begriffe, die dem deutschen, chinawissenschaftlich nicht vorgebildeten Leser unbekannt sein dürften, erklären. Das sind: die »Drei Fahrzeuge« und die »wahren Worte«. * * * »Drei Fahrzeuge«: Bei diesen handelt es sich um drei unterschiedliche Richtungen des Buddhismus. 1. Hinayana-Buddhismus (»Kleines Fahrzeug«). Dieser sieht den Arhat – den Heiligen, der um sein eigenes Heil bemüht ist – als Ideal an. 2. MahayanaBuddhismus (»Großes Fahrzeug«): Hier wird dem Arhat-Ideal das Ideal des Bodhisattva an die Seite gestellt, der sich um das Heil aller Menschen sorgt. 3. Vajrayana-Buddhismus (»Diamant-Fahrzeug«). Dieser knüpft an die Formen der indisch-tantrischen Religiosität an. Das Heil, das in der Verwirklichung der eigenen »Buddha-Natur« gesehen wird, wird unter der Anleitung eines Gurus (Meisters) vermittelt. Hierbei spielen die Polarität von »männlich« und »weiblich« und deren Vereinigung eine spezifische Rolle. »Glaubwürdig zu reden ist unschön. Schön zu reden ist unglaubwürdig«: Zitat aus dem Daodejing (Tao Te King. Das Buch vom Sinn und Leben), Kap. 31. In der Übersetzung Richard Wilhelms (1873–1930) heißt es: »Wahre Worte sind nicht schön, schöne Worte sind nicht wahr.« 61 Diesen Zeilen ist die daoistische

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Wilhelm 1957: 124.

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Auffassung zu entnehmen, dass der heilige Herrscher nicht schönrednerisch ist. Er pflegt vielmehr die Tugenden der Einfachheit und der Schlichtheit, die auch Zeng Mi in seinen Aufschriften anführt. * * * Bildaufschriften • Das Ich ist ein Ich, weil das eigene Ich existiert. • Mehr anhäufen und entsprechend anwenden. • Nicht handeln. • Das helle Dao ist wie verdunkelt. • Sei ein aufrechter Mensch und male nach Herzenslust. • Nicht ähnlich und doch ebenbildlich. • Es ist die Erzählung des Abenteuers und ebenso das Abenteuer der Erzählung. • Das Schöne zu komponieren bedeutet Relationen herzustellen. • Nichts kann es unter dem Himmel mit der Schönheit aufnehmen. • Alle Schönheit folgt der unbegrenzten Leichtigkeit. • Ein großes Reich zu regieren ist wie kleine Krabben zu kochen. • Willst du wirklich lernen, Gedichte zu schreiben, gib dir Mühe außerhalb des Gedichts. • Die große Gestalt ist ohne Form. • Schnitzen und Schleifen kehren zur Schlichtheit zurück. • Es ist eine Lust, vom Gewöhnlichen abzuweichen und in Übereinstimmung mit dem Dao zu sein. • Eine dem Gefühl und der Vernunft entsprechende Unmöglichkeit ist immer besser als eine nicht dem Gefühl und der Vernunft entsprechende Möglichkeit. • Willst du, dass die Gedichte in ihren Formulierungen neuartig sind, dann gib dich nicht zufrieden mit der Leere und der Bewegungslosigkeit. Denn die Bewegungslosigkeit gibt es, weil alles sich bewegt, und die Leere, weil sie die zehntausend Orte aufnimmt. • Berge und Täler sind die Maserungen der Natur, Pinsel und Tusche sind die Berührungspunkte mit der Landschaft und ihrem Grün; bewegt man absichtsvoll die Pinselspitze, dann 108 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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erfährt man grenzenloses Vergnügen. Ob heilig oder gewöhnlich, allein das himmlische Geheimnis wirkt. Dies erkennt man erst kraft seiner Belesenheit und Persönlichkeit. Das Leben hat seine Zeit und sein Ende, mit dem Ruhm und Freude ihre körperliche Präsenz verlieren. Alle beide haben ihre begrenzte Zeit, nur die Schriften erschöpfen sich nicht in ihrer Wirkung. Während der Zeit des Herumirrens braucht man »die Lehre von den Drei Fahrzeugen«, erst nach der Erleuchtung weiß man, was Lehrelosigkeit bedeutet. Die Methodik ohne Methode ist die beste Methodik. Das Außergewöhnliche sollte der Vernunft nicht zuwiderlaufen, Unkonventionelles sollte die Regeln nicht verleugnen. Zur Winzigkeit verkleinert, aber nicht klein, zum großen Unterfangen vergrößert, aber doch nicht groß genug. Es ist wirklich eine große Freude, den Himmel zu erschrecken; ein Mensch wäre mittelmäßig, wenn er von anderen Menschen nicht gescholten würde. Der Kosmos lässt mich Ruhe finden, nach Ruhm und Nutzen mögen andere jagen. Das Ungesellige liegt in meiner ursprünglichen Natur, gefällig zu sein entspricht von Anfang an nicht meiner Veranlagung. Ruhm und Reichtum sind nicht bewundernswert, einen großen Charakter hat allein Herr Shi. Bei allen Schwierigkeiten muss man mit dem Einfachen anfangen, bei allen großen Angelegenheiten mit dem Kleinen. Ein Stein kann zerbrochen werden, nicht aber seine Stärke; Zinnober kann zerrieben werden, nicht aber seine Röte. Ist das Wasser tief, dann kann es Schweres tragen; ist die Erde dick, dann gedeihen die Pflanzen üppig. Mit einer durch Studium erlangten Belesenheit kann der Einseitigkeit des Charakters nicht abgeholfen werden. Alles hat seinen Anfang, selten kommt es vor, dass etwas einen Abschluss hat. Um Genügen und Nicht-Genügen wissen und so handeln durch Nicht-Handeln.

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• Ein edles Pferd kann mit einem Sprung nicht weiter als zehn Schritte kommen, ein schlechtes Pferd kann durch Ausdauer längere Strecken zurücklegen. • Schnitzt man morsches Holz und gibt dann auf, bricht man es nicht; schnitzt man aber ohne aufzuhören, dann kann man selbst Metall und Stein gravieren. • Je tiefer man bohrt, umso schwieriger, aber auch umso faszinierender wird es. • Glaubwürdig zu reden ist unschön. Schön zu reden ist unglaubwürdig. • Geradlinigkeit wird von Stille gefolgt, Klarheit kommt nach der Stille; Klarheit wird von der Leere gefolgt, das Nichts kommt nach der Leere. * * * Zeng Mi positioniert die Gestalt auf seinem Selbstporträt in einem Kosmos von Lehr- und Merksätzen, die in verschiedene Richtungen weisen – nicht mit festem Zugriff, sondern eher spielerisch und den Leser zu eigenen Assoziationen einladend. Die Bildaufschriften verfügen über keinen systematischen Zusammenhang. Zunächst ist Zeng Mis Satz: »Das Ich ist ein Ich, weil das eigene Ich existiert« zu entnehmen, dass es ihm keine Schwierigkeiten bereitet zu verstehen, was Menschen meinen, wenn sie »Ich« sagen. Heikler dürfte es aber sein, wenn sie von ihrem eigenen »Ich« sprechen und damit gerade zwangsläufig die Frage nach dessen »harten Kern« aufwerfen. Die breite Palette an Bildaufschriften, die wir auf dem Selbstbildnis Zeng Mis finden, vermittelt den Eindruck, dass der Maler das »Ich« als ein »work in progress« ansieht. Der Mensch muss an seinem eigenen Ich arbeiten. Im Wechselspiel zwischen Schrift und Bild wird es auf dem Selbstbildnis Zeng Mis als autonome Institution zum einen bestätigt, zum anderen aber auch so lange an vielfältigen Geistestraditionen orientiert und ausgerichtet, bis es mit dem Personalpronomen »Ich« nicht mehr auf sich selbst als die aussagende Person, sondern auf die chinesische Kultur und ihre Geschichte verweist. Vermittelt und rückgebunden durch die Bildinschriften lebt das Ich in einem symbolischen Univer110 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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sum, dessen Bestandteile Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind. Kultur zeigt sich hier als ein symbolisch ausgedeuteter Zusammenhang, als historisch gewachsene und sich weiterhin fortentwickelnde Welt, die der einzelne Mensch von seinen Vorgängern übernimmt. Sie wird von ihm erfahren als etwas, in das er hineinwachsen kann. Kultur ist ihm nicht Gegenständlichkeit und Objektivität, sondern menschliche Aktivität. Das heißt, er begegnet ihr als einem Resultat der inneren und äußeren Arbeit von Generationen, in deren Verlauf sie zur zweiten, vom Menschen kultivierten Natur wurde. Hinzu kommt: Der Mensch hat ihr in einer zweckfreien ästhetischen Haltung gegenüberzutreten. Der Bereich der Kultur unterliegt nicht den normativen Vorgaben einer Ethik. Denn deren enge Verklammerung mit sozialer Funktionalität und praktischer Orientierungsleistung verweist in einen Zusammenhang, der nicht das Ziel eines Menschen sein kann, der nach der Schönheit des »ursprünglichen Gesichts« jenseits von »Körper und Gebein« strebt. * * * Der ming-zeitliche Gelehrte Zhan Ruoshui (1466–1560) stellte einmal beim Blick auf sein Porträt fest: Wie kommt es bloß, dass einem die Augen klar sind, wenn man andere ansieht, aber so verhüllt, wenn man sich selbst betrachten will? … So lasst uns denn lieber einander vergessen in einem Reich jenseits von Körper und Gebein und einander betrachten in der Schönheit unseres ursprünglichen Gesichts. 62

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Bauer 1990: 768.

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4. Ich. Entfremdung 4.1 Prägende Erfahrungen Nach der Proklamation der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 wurde eine neue Ordnung im Staat etabliert. Um das Interesse der Gebildeten für den nationalen Aufbau zu gewinnen, wurde in den Jahren 1956 und 1957 die Bewegung »Lasst hundert Blumen blühen und hundert Schulen miteinander wetteifern« (bai hua qifang, bai jia zhengming) lanciert. Das Motto der Bewegung sollte an die Blütezeit der chinesischen Philosophie in der Zhou-Dynastie (ca. 1100–ca. 256 v. Chr.) erinnern und eine freizügigere geistige Atmosphäre in der neu gegründeten Volksrepublik China befördern. Da die ausgelöste Kritik die Systemgrenzen tangierte, wurde sie schon sehr bald von der Parteiführung als eine unmittelbare Bedrohung angesehen. Das Ende kam im Februar 1957 abrupt. Es wurde die Anti-Rechts-Bewegung (fan you yundong) ausgerufen. Der gewaltsam herbeigeführte Stopp der Hundert-Blumen-Bewegung hatte schwerwiegende Folgen für die Personen, die an ihr aktiv beteiligt waren. Die »rechten Elemente in Bürgertum und Intelligenz« wurden in einer Größenordnung von wohl über 500.000 verhaftet und in Arbeitslager gebracht; viele von ihnen wurden erst in den späten 1970er Jahren wieder rehabilitiert. Die chinesische Geisteswelt machte hier Erfahrungen, die ihr Denken und Handeln prägen. Die spezifische Art und Weise, wie sie heute mit Staat und Gesellschaft interagiert, wurde nach 1949 weiterhin durch die Erfahrungen der Kulturrevolution (1966– 1976) und durch die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Sommer 1989 (liu si) konditioniert. Es ist in das Bewusstsein der chinesischen Geisteswelt eingeschrieben, dass sie gleich in den ersten Jahren der neu gegründeten Volksrepublik entmachtet wurde. Das Gefühl der Machtlosigkeit leitet ihr Denken und Handeln. Es steuert ihre mehr oder minder erfolgreiche Interaktion mit der Welt. An dieser Stelle würde ein Kognitionspsychologe aufmerken. Er würde sich in seiner Annahme bestätigt fühlen, dass Denken 112 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Ich. Entfremdung

die Simulation gemachter Erfahrungen ist, die auch unbewusst ablaufen kann. Er weiß, dass dem Denken nicht nur ein abstrakter Gedankenakt zugrunde liegt. Es bleibt an Erfahrungen gebunden, ganz gleich, ob diese nun selbst gemacht oder von anderen übermittelt wurden. Bezugnahmen auf Primär- oder Sekundärerfahrungen sind ein konstitutiver Bestandteil des Zusammenlebens, sie sind ein allgegenwärtiges Moment aktueller sozialer Praxis, auch wenn die Auseinandersetzung mit ihnen, wie im gegenwärtigen China, eingeschränkt ist.

4.2 Liu Fenghua, »Shout to Lu Xun« (huhuan Lu Xun) Auf dem Bild, das ich hier zeige, ist ein Künstler zu sehen, der im Rahmen einer Performance Lu Xun (1889–1936) mimt: einen großen Schriftsteller und Intellektuellen, der Teil der von der Peking Universität (beida) ausgehenden Bewegungen für neues Denken und neue Literatur war. Insgesamt zwei Fotos der Performance mit dem Titel »Shout to Lu Xun« (huhuan Lu Xun) finden sich in dem kleinen Ausstellungskatalog Out Of Control (shi kong) aus dem Jahr 2000. Wie dem Vorwort Wan Lings zu entnehmen ist, wollte der Künstler Liu Fenghua im Rahmen einer Ausstellung eine Begegnung zwischen dem Literaten Lu Xun, der nach offizieller Lesart einer der »mutigsten Soldaten« an der Kulturfront war und das Verständnis von Kunst und Literatur im modernen China maßgeblich prägte, und der zeitgenössischen Kunstszene herbeiführen. In den einschlägigen Darstellungen der linken Literatur gilt Lu Xun als »Bannerträger der chinesischen Kulturrevolution«, weil er, so lautet die Begründung, mit der bürgerlichen Weltanschauung seiner frühen Jahre gebrochen und sich dem Proletariat angeschlossen habe. Er diente Mao Zedong als Kronzeuge für seine Auffassung, dass Kunst und Literatur ihren Platz mitten in der Gesellschaft hätten und sich so einer Parteinahme nicht entziehen könnten. Mao stellte die Kunst wie die Literatur in seinem am 23. März 1942 in Yan’an gehaltenen Schlusswort bei der »Aussprache über Literatur und Kunst« in den Dienst der Revolution. 113 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Liu Fenghua, »Shout to Lu Xun« 1999, Foto aus einer Performance

* * * Liu Fenghua verkörperte in seiner Performance bis in die kleinsten Details, wie uns die Aufnahmen zeigen, Lu Xun. Dies allerdings mit einer Haltung, die merkwürdig verkrampft wirkt: An der Art und Weise, wie der Künstler seine linke Schulter nach oben gezogen, seinen Kopf nach hinten gedrückt hält und seine Lippen unter dem großen Schnurrbart genießerisch zu einer Art Schnute presst, meint man eine Attitude erkennen zu können. Mit ihr wendet er sich, wie ich zu verstehen meine, gegen die dominante Sichtweise auf das Werk Lu Xuns. Der Determinismus in der marxistischen Sichtweise auf die chinesische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts und damit auch auf das Werk Lu Xuns wird von ihm missbilligt. Liu Fenghua, dem Künstler, der Lu Xun mimt, steht der Geist nach alternativen Auslegungen. Aufgrund der schwarzen Leere, die ihn umgibt, wirkt Lu Xun in der Darstellung durch Liu Fenghua seltsam entrückt, obgleich er sich doch, wie es die Überlieferung will, den Massen an114 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Ich. Entfremdung

geschlossen habe. Hier scheint es fast so, als ob er sich der sozialen und kulturellen Bestimmung seines Denkens und Schreibens verweigert: Ihn umgibt ein undefinierter Raum und nicht eine Matrix aus Volk, Nation, revolutionärer Klasse, kultureller Identität, wie in der Literaturgeschichtsschreibung des modernen China. Erste Mutmaßung: Ist er in einer Haltung dargestellt, in der er, völlig entgegen und außerhalb des Zeitgeistes (China identifiziert sich mittlerweile wieder über Konfuzius), an den Gedanken festhält, die er in seinem Essay vom 29. April 1935 »Konfuzius im modernen China« formuliert hatte? Dort schreibt er über Konfuzius: In der Sprache von heute hätte man ihn einen ›Modeheiligen‹ genannt. Ein solcher Titel ist zwar nicht besonders gefährlich, aber auch nicht gerade schmeichelhaft. In Wirklichkeit hat Konfuzius ihn gar nicht verdient. Erst nach seinem Tode wurde er zu einem ›Modeheiligen‹, während er zu seinen Lebzeiten viele Widrigkeiten zu überstehen hatte. … Zum Glück war das Schicksal ihm nach seinem Tode günstiger gesonnen. Da sie nicht länger seine Zunge zu fürchten brauchten, überhäuften die Herrschenden ihn mit allen möglichen Ehrungen, bis sein Ansehen zu furchterregender Größe wuchs. 63

* * * Die Möglichkeit der Entfremdung in der Trias von Reich / Nation / Kultur – Kunst beziehungsweise Literatur klingt in China schon im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in den Elegien von Chu (chu ci) an, die ins Englische von David Hawkes, Ch’u Tz’u. The Songs of the South, London 1959, übersetzt wurden. Die erste, berühmteste und wahrscheinlich auch früheste Elegie unter den Elegien von Chu wird dem chinesischen Nationalhelden Qu Yuan, der als halblegendärer Minister dem König Huai von Chu diente und als Dichter in die Geschichte einging, zugeschrieben. Dieser soll, nachdem er durch Intrigen sein Amt verlor, einsam und verlassen durchs Land geirrt und zuletzt seinen Tod in den Wellen des Yangzi-Flusses gefunden haben:

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Zitiert nach Schickel 1976: 86,87.

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Genug! Es gibt keine wirklichen Menschen mehr im Staate, keinen, der mich gänzlich verstünde. / Warum also soll ich haften an der Stätte meiner Geburt? / Da niemand würdig ist meiner Hilfe bei der Führung einer gerechten Regierung, / will ich scheiden und mich dem Peng Xian zugesellen dort, wo er seine Behausung hat. 64

Das Gefühl der Verlassenheit hatte auch Lu Xun, auf den sich Liu Fenghua in seiner Performance bezieht, in einem Gedicht vom März 1933 zum Ausdruck gebracht. Dies auf eine lakonische, aber gerade deswegen so beeindruckende Weise. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Aussage Adornos: »Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne.« 65 In der Interlinearübersetzung von Egbert Baqué lautet das Gedicht Lu Xuns: Zaudernd umher (pang huang) Schweigen im Garten der neuen Sprache, Ruhe auch über den alten Schlachtfeldern. Dazwischen einer, so unverhofft wieder allein, Den Speer an der Schulter, streift er zaudernd umher. 66

In welcher kulturellen Landschaft bewegt sich der einsame Speerträger, den Lu Xun auftreten lässt? Dazu eine Skizze der kulturellen Befindlichkeit Chinas an der Grenze zwischen Tradition und Gegenwart. * * * Unter der letzten kaiserlichen Dynastie der Qing (1644–1911) hatte China zunächst im 17. und 18. Jahrhundert eine Phase der großen Prosperität und Blüte durchlaufen, geriet aber im 19. Jahrhundert in die Sackgasse einer intellektuellen und politischen Stagnation. Am Ende ihrer Regentschaft wurde die zahlenmäßig kleine und fremde Herrscherklasse der Mandschu in ihren Entscheidungen und ihrem Tun durch eine versteinerte kulturelle Tradition beherrscht. Diese kommunizierte primär mit sich selbst

64 65 66

Chu ci 14–20, zitiert nach Bauer 1974: 257. Adorno 1973: 41. Lu 1979: 11.

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Ich. Entfremdung

und war in der Polarität zwischen Innen und Außen auf das Innen fixiert, ohne noch den Herausforderungen des Außen Herr werden zu können. Sie scheiterte letztendlich daran, dass sie zu einer Zeit, als die kulturelle Vergangenheit hätte durchdacht und der ganze Bestand an Traditionen hätte überprüft werden müssen, defensiv argumentierte und sich verschloss. Die ungeheure Beschleunigung der Geschichte, die ein Grundcharakteristikum der Neuzeit darstellt, überforderte die Kapazität der im 19. Jahrhundert in China herrschenden Elite, Vergangenheit in geordneten Sedimenten abzulagern und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. So hieß es zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts Abschied von der alten Geschichte zu nehmen. Diese war zu einem stillen Sickerprozess geworden, der immer wieder von eruptiven Ausbrüchen wie dem Taiping-Aufstand (1851–1864), der circa 20 Millionen Menschenleben forderte, oder der Boxer-Rebellion (1898–1900) unterbrochen wurde. Kulturelle Identität, diese Einsicht legt sich hier nahe, kann nicht nur Bewahrung von Kultur bedeuten. Kultur ist kein statisches Bezugssystem von Normen und Werten, sondern ein historischer und damit immer zeitlich zu situierender Prozess unterschiedlicher Praktiken, Diskurse, Rituale und Repräsentationen. Der Niedergang der Qing-Dynastie verweist auf den Mangel an innerer Substanz, die nötig ist, um in einem offenen Kräftefeld widerruflich darüber zu entscheiden, was die überlieferten Weltbilder, Werte und Lebensformen für die Gegenwart bedeuten. Im Jahr 1924, 13 Jahre nach dem Sturz der Dynastie im Jahr 1911, vertrieb die nationalistische Regierung den letzten Kaiser und seine ganze Familie aus dem Kaiserpalast. 1925 wurde das Kaiserliche Palastmuseum in dessen Mauern eröffnet, um die Zeugnisse der Kultur und der Kunst des alten China einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als erstes zeigte das Museum dem Publikum jene Gebäude, in denen der Kaiser regiert und gelebt hatte, danach diejenigen der Kaiserin. Der Hof und seine historisch bedeutenden Objekte wurden quasi in situ ausgestellt, was, wie die Geschichte der kulturellen Identitätskonzeptionen im China des 20. Jahrhunderts verdeutlicht, eine hohe symbolische Bedeutung hatte. Ebenso wichtig ist aber die Tatsache, dass man 117 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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sich in der Folgezeit mit der Sammlung unter modernen kunstwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu befassen und sie nach und nach zu publizieren begann. Ein westliches Museumskonzept wurde adaptiert, unter dessen konzeptionellen Vorgaben plötzlich die ausgestellten Kunstwerke in einen völlig neuen Auslegungszusammenhang traten. In den Augen der einen, den Vertretern einer ideologiekritischen Hermeneutik, waren die Werke traditioneller chinesischer Kunst nichts als dunkle Spiegel, die das Denken verwirren und deswegen durch eine neue Form von Kunst ersetzt werden müssten. Sie wollten an ihnen allein den Ort der Gegenwart bestimmen und den fehlerhaften Mechanismus bloßlegen, der den bisherigen Geschichtslauf regierte. Für die anderen, die mit ihnen einen Anspruch in Bezug auf ihre eigene Geschichte und Tradition verbanden, wurden sie zu einem ontologischen Ort des Auftretens von Wahrheit. Sie wollten an ihnen Halt und Orientierung gewinnen in Zeiten des Umbruchs, in denen sie aufgehört hatten, ganz selbstverständlich sinnträchtige Gebilde in einer lebendigen Überlieferung zu sein. * * * In dieser kulturellen Landschaft bewegt sich der einsame Speerträger Lu Xuns. Er zaudert. Und auch Lu Xun selbst zauderte zu seinen Lebzeiten, obgleich er sich gemäß der Interpretation linker Ideologen als »Bannerträger der chinesischen Kulturrevolution« anders hätte verhalten müssen. Wir erinnern uns an das Interview mit Zhou Zuoren (1885–1967) vom 20. Oktober 1936, in dem dieser seinen Bruder Zhou Shuren, der den Literatennamen Lu Xun trug, als einen Wissenschaftler und Literaten beschrieb, der die Bewahrung der chinesischen Kultur und nicht deren Überwindung im Sinne gehabt habe. Folgt man der Darstellung Zhou Zuorens, dann war Lu Xun ein Melancholiker und Nihilist, ein einsamer Rufer in der Wüste, ein hoch sensibler Literat und nicht der Revolutionär, zu dem ihn die Geschichtsschreibung der Volksrepublik China machte. Er zaudert wie der einsame Speerträger, dem er in seinem Gedicht eine Bühne verleiht, obgleich er seinen Heldenstatus der Einschätzung 118 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Ich. Entfremdung

verdankt, dass er das Zaudern der Vergangenheit hinter sich gelassen, sich für die Seite der Revolution entschieden und damit auch aller Verzweiflung ein Ende bereitet habe. * * * Obwohl Liu Fenghua Lu Xun in seiner Performance täuschend ähnlich mimte, unterscheidet er sich doch in seinem Gesichtsausdruck von dem meist warmherzig blickenden Original. Er wirkt abweisend, »indigniert« würde man mit einem etwas altertümlichen Begriff sagen: Von dem revolutionären Geist Lu Xuns, den Mao Zedong in seiner »Rede bei der Gedenkveranstaltung zum 1. Todestag von Lu Xun« (Lu Xun shishi zhou nian jinian dahui shang de yanshuo) 1937 hervorgehoben hatte, ist nichts zu erahnen. Zweite Mutmaßung: Mimte etwa Liu Fenghua den »nachgemachten Altertumsmenschen«, von dem Lu Xun mit Blick auf die Vertreter des Neohumanismus verächtlich gesprochen hatte? Dritte Mutmaßung: Oder spielte er etwa den »Wahnsinnigen«, der in der 1918 erschienenen Kurzgeschichte Lu Xuns »Das Tagebuch eines Wahnsinnigen«, publiziert in der Zeitschrift Neue Jugend, auftritt? Stellte er nicht einen »Autor«, sondern einen »Wahnsinnigen« dar, der Sätze ausspricht wie: Erst heute wird mir klar, dass diese Welt, in der ich etwa die Hälfte einer Lebensspanne zugebracht habe, mehr als viertausend Jahre lang eine Menschenfresserwelt war. Zur Zeit des Todes meiner Schwester betreute mein Bruder die Angelegenheiten der Familie. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass er ihr Fleisch in die Speisen mengte und uns ohne unser Wissen zu essen gab. … Vielleicht gibt es Kinder, die noch kein Menschenfleisch gegessen haben. Rettet, rettet die Kinder. 67

Lu Xun und auch sein Mime, Liu Fenghua, verdeutlichen mit ihrem Werk auf ganz unterschiedliche Weise, dass die Fragmen-

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Zitiert nach Schickel 1976: 106,107.

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tierung und auch die Ratlosigkeit ihrer Gesellschaft zum leidenschaftlichsten Motiv der Künstler werden können. * * * Der eigene Körper wird bei Liu Fenghua zur Bühne. In immer neuen Anläufen formuliert er im Laufe der Performance eine Befragung des eigenen Ichs, oder wenigstens der Figur, die er – womöglich stellvertretend für andere – darstellt. Er unterwirft seinen Körper einem Identitäts-Spiel, in dem er zum einen als eine der Ikonen des revolutionären China auftritt, zum anderen aber gleichzeitig so distanziert, so leblos wirkt, dass er gleich wieder das Band zwischen Bezeichnetem (Lu Xun) und Zeichen (seine Pose) durchschneidet. Er siedelt die Krise der Repräsentation auf der Stufe der Frage nach dem Subjekt an. Die Mimik als Maske, ein Antlitz ohne Gesicht: Als ein Subjekt ohne Identität stellt Liu Fenghua die Euphorie in Frage, mit der die historische Figur des Lu Xun in der Revolutionsgeschichte Chinas ganz allgemein behandelt wird. Bei Liu Fenghua wird der Körper aber auch zu einem Dispositiv, zu einem Medium, das für Transformationen zur Verfügung steht. Seine Performance verweist auf seinen Körper nicht als Sein, Substanz, Ontologie, sondern als Performität, als Sozietät, als Akt einer Hervorbringung. Die Beziehung zwischen Subjekt und Identität als offener Gleichung scheint auf. Variable Identitäten, fluide Identitäten. Aufhebung der konstanten Identität. Von Liu wird die Unbegründbarkeit von Identität behauptet und deswegen als Spiel proklamiert. Er fordert die Freiheit als Spiel ein, womit er eine hochpolitische Aussage trifft, denn im Gegensatz zu der revolutionären Geschichtsschreibung der Volksrepublik China operiert er mit multiplen Identitäten und nicht der einen heroischen. Liu visualisiert das multiple Subjekt nicht nur als Abbild von Abbildern, wie der Vergleich mit historischen Aufnahmen Lu Xuns zeigt, sondern analysiert die Identitätspolitik und inszeniert sie auf diese Weise. Sein Fazit: Das Subjekt der Postmoderne ist positional, das heißt, es definiert sich durch seine Stellung in einem durch andere vorgegebenen Raum, der gesellschaftlicher 120 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Ich. Entfremdung

oder auch geschichtlicher Natur ist. Es eignet sich im Verlauf seines Lebens genau jene Optionen der Identität an, die ihm die Gesellschaft offeriert. Sein Status ist daher rein optional. Womit wir wieder bei der Interpretation von Leben und Werk Lu Xuns durch Mao Zedong, Ai Siqi (1910–1966) und andere Geschichtsschreiber der chinesischen Revolution wären, die in Lu Xun den »Bannerträger der chinesischen Kulturrevolution« gesehen hatten. * * * Liu Fenghua wurde 1956 in der Stadt Chengde, Provinz Hebei geboren. Er absolvierte ein Studium der Bühnenkunst an der Zentralen Hochschule für Theater. Als Bühnenkünstler wusste er in seiner Performance »Shout to Lu Xun« mit dem Bild der Maske bestens zu spielen. Er positionierte sich mit den Attributen und den wesentlichen persönlichen Merkmalen Lu Xuns – dem Schnurrbart, der Zigarette, die immerzu qualmt – und mimte auf diese Weise den verlorenen anderen. Aus seiner maskenhaften Mimik spricht die Wahrheit: Sie zeigt das Ich als eigene Erfindung und die Welt als Phantominszenierung in einem Schauspiel der Ideologien. Nebenbei hilft ihm die Maske dabei, den Schmerz über den Verlust des großen Literaten gleichermaßen zu bewahren und zu negieren. Zumindest theoretisch scheint heute der Mensch als Anordnung von Genen so veränderlich wie seine Fotografie: Wer einmal ein digitales Foto-Shooting samt anschließender Computerbearbeitung beobachten konnte, der hat endgültig den Glauben an jegliche Authentizität verloren. Doch da kommt die Kunst wieder zum Zug, und zwar in einer zur früheren Porträtmalerei fast ins Gegenteil verkehrten Rolle: Wenn der Mensch in seiner Individualität und Authentizität nicht mehr sicher ist, wird der Künstler zum Dokumentaristen unheimlicher Transformationen. Wir finden ihre Darstellungen in der gegenwärtigen chinesischen Kunst allenthalben. Das Veränderliche festhalten, das Fragwürdige abbilden – unter diesen Aspekten wenden sich Künstler dem Menschen heute zu. Ebenso Liu Fenghua, dessen Porträt von Lu Xun ich als letztes in einer Reihe von drei Porträts präsentierte.

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie: neue Vorzeichen und alte Wege

Mit der Parallelführung von allgemeinen Aussagen zur chinesischen Geisteswelt auf der einen und von Porträtdarstellungen auf der anderen Seite wollte ich eines verdeutlichen: Dass die Beschäftigung mit dem, was wir als chinesisches Denken oder auch als »chinesische Philosophie« bezeichnen, nicht ohne die Beschäftigung mit den lebensweltlichen Situationen möglich ist, in denen sich die Menschen in China befinden. Unsere Auseinandersetzung mit den drei Porträts hat uns gezeigt, dass die eigene Persönlichkeit des Menschen eine Situation darstellt: in ihr haben sich Erinnerungen, persönliche Erfahrungen und Standpunkte niedergeschlagen. Situationen können einsam und gemeinsam sein, wobei die Einsamkeit in der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft überwiegt – das ließ sich den drei Porträts entnehmen. In der Auseinandersetzung mit den drei Porträts wurde aber auch deutlich, dass die Situationen, die sich mit der Persönlichkeit eines Menschen verbinden, leiblich kommuniziert werden. Um die Sachverhalte, Programme und Probleme, die in der leiblichen Kommunikation zum Ausdruck kommen, verstehen zu können, muss die Herangehensweise umfassend, ganzheitlich sein. Kurz gesagt, sie müssen vergegenwärtigt werden. Synästhetik: »Bewegungsanmutungen« 68 kommen in den Blick. * * * Einsame und gemeinsame Situationen, chinesisches Denken, chinesische Philosophie: In diesem Zusammenhang spielen die Bewegung für Neue Kultur und die Bewegung des Vierten Mai, deren Beginn auf 1915 und 1919 datiert wird, eine zentrale, aber auch doppelbödige Rolle. Für ihre Vertreter hatte die Entwicklungsgeschichte westeuro68

Schmitz 1998: 190.

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

päischer Gesellschaften Modellcharakter. Sie bildete für sie eine Art normative Ordnungsvorstellung, der China entweder durch selektive oder durch totale Übernahme des Westlichen gerecht zu werden hat. Dies vor dem Hintergrund des Diktums, dass die Rückständigkeit der chinesischen Zivilisation auf den Konfuzianismus zurückzuführen sei, dessen Sittenlehre die Vernunft der Chinesen in einem kindlichen Zustand des Denkens gefangen gehalten und die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Chinas verhindert habe. Es wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Konfuzianismus und dem Ausbleiben der kapitalistischen Entwicklung in China (Max Weber, 1864–1920, lässt grüßen) sowie Konfuzianismus und orientalischer Despotie (siehe Karl Wittfogel, 1896–1988) hergestellt. Die Ikonoklasten der Bewegung für Neue Kultur und der Bewegung des Vierten Mai wollten das »Nebeneinander in der gleichen Zeit ohne Berührung« zwischen den Kulturen, von dem Karl Jaspers (1883–1969) in seiner Theorie der »Achsenzeit« später spricht, 69 nicht sehen. Die chinesische Intelligenz suchte nach Prinzipien und geistigen Haltungen für ein neues China und sprach dabei der Wissenschaft die Fähigkeit zu, die Irrtümer alter Denkweisen und so auch die der konfuzianischen Lehre zu entlarven. Die Feststellung Hu Shis (1891–1962) aus dem Jahr 1923 bringt die Wissenschaftsgläubigkeit der Zeit bestens zum Ausdruck: Ungefähr während der letzten dreißig Jahre hat sich in China ein bestimmter Begriff unvergleichlichen Respekt verschafft; niemand, sei er gebildet oder unwissend, konservativ oder fortschrittlich, würde es wagen, ihn öffentlich herabzusetzen oder zu verspotten. Dieser Begriff ist: Wissenschaft. 70

* * *

Jaspers 1949: 30. Kexue yu renssheng guan (Wissenschaft und Lebensphilosophie), Shanghai, 1923, Bd. 1, S. 2–3 des zweiten Vorworts.

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

Der Szientismus – die geradezu kultische Verehrung von Wissenschaftlichkeit, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Köpfen zu wirken begann – hat selbst nach 100 Jahren nichts von seiner ursprünglichen Bedeutung verloren. Utopismus. Stimuliert durch die Möglichkeiten, die Raumfahrt, Gentechnik, neue Formen der Mobilität und ein neu aufgelegtes Urbanisierungsmodell eröffnen, träumt heute ein chinesischer Staatspräsident den Traum von der Weltmachtstellung seiner Nation nicht nur klammheimlich, sondern in aller Öffentlichkeit. Er löst damit Entsetzen aus, da die Welt China nur als einen Riesen kennt, der im Schlafe träumt. Die psychische Aktivität, der die chinesische Führung bei vollem Bewusstsein nachgeht, handelt von einem harmonischen, sozialistischen, modernen China, das über seine Grenzen hinaus die Welt mit den Segnungen der chinesischen Zivilisation beglückt. Bei der Verwirklichung dieses Traums, der mit lebhaften Vorstellungen verbunden ist, kommt den Wissenschaften die Hauptaufgabe zu. Wir befinden uns im Zeitalter des wissenschaftlichen Sozialismus. Da es sich um einen Traum handelt, der chinesisch ist (zhongguo meng), haben die Wissenschaften, die ihn verwirklichen sollen, national zu sein. Sie müssen der Stärkung der Nation dienen. Die Gesamtheit des menschlichen Wissens, der Erkenntnisse und Erfahrungen weltweit, das Beste und Fortschrittlichste aus allen Nationen und Kulturen, muss, so der Auftrag der chinesischen Staatsführung, systematisch so gesammelt, aufbewahrt, gelehrt, tradiert und angewandt werden, dass es ihm dienlich ist. Da sie Tugenden wie Fleiß, Ausdauer, Loyalität nicht nur als Sekundär-, sondern als Primärtugenden favorisiert, wird dabei auch wieder die konfuzianische Ethik bemüht. Der akademische Slogan von 1919 »Nieder mit dem Laden des Konfuzius« ist vergessen. Vergessen ist auch, dass selbst noch 1973 und 1974 Menschen als Reaktionäre und Abweichler kritisiert und malträtiert wurden, wenn ihr Denken, Sprechen oder Handeln eine Nähe zum Konfuzianismus verriet. * * *

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

Ein Bericht aus dem Jahr 2015, in dem zahlreiche Jubiläumsfeierlichkeiten zu »100 Jahre Bewegung für Neue Kultur« stattfanden. Im Einladungsschreiben zu einer der Veranstaltungsreihen, die dem Jubiläum gewidmet waren, heißt es, dass »der 15. September 1915 (Anmerkung: Erscheinungsdatum der ersten Ausgabe der Neuen Jugend) nicht nur den Beginn der Bewegung für Neue Kultur markiert, sondern auch stellvertretend für eine unumkehrbare Richtungsänderung steht, mit der sich die chinesische Kultur zu konfrontieren hatte.« Organisatoren der Veranstaltungsreihe, auf die ich nachfolgend detaillierter eingehen werde, waren die Philosophischen Abteilungen der Peking Universität, der Fudan Universität in Shanghai und der Taiwan Universität in Taibei, Taiwan. Als einladende Institutionen zeichneten weiterhin das Institut für Geisteswissenschaften der Zhejiang Universität und das Institut für Literatur der Anhui Universität. Die Veranstaltungsreihe umfasste fünf Veranstaltungen, deren Themen der zitierten Feststellung Rechnung tragen, dass mit der Bewegung für Neue Kultur eine »unumkehrbare Richtungsänderung« einherging. Das Thema der ersten Veranstaltung lautete: »Literatur und Gesellschaft«, das der zweiten: »Probleme und Ismen«, das der dritten: »Wissenschaft und Demokratie«, das der vierten: »Das neue chinesische Denken: Geschichte und Methode«. Die fünfte und letzte Veranstaltung war dem Thema »Ideen und Freiheit« gewidmet, wobei laut Programm folgende Unterthemen in den Blick kommen sollten: »Die Peking Universität und die Bewegung für Neue Kultur: Der Beginn der modernen Wissenschaft und Pädagogik«, »Chinesische Konzeptionen des Selbst und die Freiheit«, »Transformation der chinesischen Philosophie: Ziel, Idee und Methode«, »Bewegung für Neue Kultur: Gegenwart und Zukunft«. Diese Unterpunkte lassen erkennen, dass mit der Jubiläumsfeierlichkeit nicht einfach nur der Blick zurückgerichtet werden sollte. Im Falle der chinesischen Philosophie sollte es immerhin um ihre »Transformation«, um einen Übergang / Wechsel gehen, dessen »Ziel, Idee und Methode« natürlich im Blick auf die Gegenwart und die Zukunft Chinas zu reflektieren waren. Die »un-

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

umkehrbare Richtungsänderung«, die mit der Bewegung für Neue Kultur eingeleitet worden war, beschäftigte die Gemüter. Wie die Diskussionsbeiträge zeigten, war allerdings das Gefühl vorherrschend, dass die Bewegung für Neue Kultur im hundertsten Jahr nach ihrem Beginn nicht mehr von den Intellektuellen, sondern von der Partei getragen und, was am schwersten wiegt, kontrolliert wird. Es bestand Einverständnis, dass sie ins Stocken geraten ist. Der Befund war ernüchternd: Seit dem kulturellen Aufbruch am Ende der 1980er Jahre, in der der ursprüngliche Geist der Bewegung nochmals aufgeflammt sei, hätten sich keine wesentlichen Fortschritte in Richtung einer »neuen Kultur« ergeben. * * * Die feierlichen Veranstaltungen zu »100 Jahre Bewegung für Neue Kultur« boten der Kommunistischen Partei Chinas einen willkommenen Anlass, an ihren Beitrag für die »Befreiung« (jiefang) Chinas zu erinnern. Ohne dies beabsichtigt zu haben, forderte sie damit die Philosophen, Kultur- und Literaturwissenschaftler dazu heraus, die andere Traditionslinie der Bewegung für Neue Kultur herauszuarbeiten, die aus dem Ruf nach Wissenschaftlichkeit und Demokratie lebt. Die erste Ausgabe der Neuen Jugend vom 15. September 1915 enthielt auf den Seiten 1 bis 2 »Eine ernste Bitte an die Jugend« des altgedienten Revolutionärs und Publizisten Chen Duxiu (1879–1942). Chen hatte über fünfzehn Jahre in Japan und Frankreich verbracht und war zu der Ansicht gelangt, dass die Ursachen für die Probleme Chinas tiefer lagen als seine Zeitgenossen vermuteten. Er vertrat die Konzeption einer umfassenden und tiefgreifenden Revolution. Seine »ernste Bitte an die Jugend« kleidete er in folgende Worte: Es gilt bei den Chinesen als Kompliment, wenn man von jemandem sagt: ›Er verhält sich wie ein Alter, obwohl er noch jung ist.‹ Unter Amerikanern und Engländern hingegen hört man häufig die Ermunterung: ›Bleibe im Alter jung!‹ Das ist nur ein Beispiel dafür, wie sich die Denkweise der östlichen und der westlichen Völker voneinander unterscheiden. Die Jugend gleicht dem Frühling, der aufgehenden Sonne, den knospenden

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Bäumen und Pflanzen, der frisch geschliffenen Schneide … Sie ist die kostbarste Zeit des Lebens. Für die Gesellschaft bedeutet die Jugend das Gleiche wie neue und vitale Zellen für einen Körper. In diesem Umwandlungsprozess wird das Alte und Dekadente ständig durch das Frische, Lebensvolle ersetzt … Ist die Gesellschaft unseres Landes nach dieser Logik eine gedeihende oder eine zugrunde gehende Gesellschaft?

Frühlingsgefühle oder Trübnis, Aufschwung- oder Untergangsstimmung im Jahr 2015? * * * Um es auf den Punkt zu bringen: Die Sichtweise der Philosophen, Kultur- und Literaturwissenschaftler, die im Rahmen der erwähnten Veranstaltungsreihe »100 Jahre Bewegung für Neue Kultur« zu Wort kamen, ist eine ganz andere als diejenige der Kommunistischen Partei Chinas, die ihre heutige Stellung der Oktober-Revolution in Russland und den Folgen der Neuen-Kultur-Bewegung in China verdankt. Die Bewegung des Vierten Mai im Jahr 1919 bescherte dem Marxismus-Leninismus die Aufmerksamkeit, die zuvor nur dem Sozialismus im Allgemeinen zugekommen war. Und auch der eben zitierte Chen Duxiu wandelte sich um 1919 von einem Verteidiger der Demokratie und des Republikanismus zu einem Exponenten des dialektischen Materialismus. 1920 setzte das ernsthafte und spezielle Studium des Marxismus-Leninismus in China ein. Der dialektische Materialismus wurde zu einer bleibenden Kraft, so dass sich während des zweiten Jahrzehnts der Bewegung für Neue Kultur das Verhältnis umkehrte. Nun hatten die positivistischen und materialistisch-sozialistischen Denkrichtungen den Vorrang vor den empirischen und liberalen, die noch im ersten Jahrzehnt im Vordergrund des Interesses gestanden hatten. Der Marxismus begann als die Gesellschaftswissenschaft par excellence zu gelten. Für die von Marx formulierten Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung wurde eine ebensolche Gültigkeit wie für naturwissenschaftliche Gesetze beansprucht. So betraten also im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts materialistische und monistische Anschauungen, sozialistische Überzeugungen und revolutionärer Eifer 127 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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die politische, philosophische und literarische Bühne Chinas und bestimmen sie bis heute. Sie haben sich festgesetzt. * * * Angesichts der langen Tradition, auf die die Verschmelzung von Gelehrsamkeit und Politik, von Literatur und Geschichte in China zurückblicken kann, überrascht es wohl kaum, dass es Philosophen, Kultur- und Literaturwissenschaftler waren, die parallel zu den offiziellen Veranstaltungen »100 Jahre Bewegung für Neue Kultur« auf die Ideen verwiesen, die deren Anfänge beseelt hatten. Sie beriefen sich auf das Andere der Moderne, wie sie in der Bewegung für Neue Kultur auf den Weg gebracht worden war. In erster Linie war es in den 1920er und 1930er Jahren darum gegangen, das traditionelle, alte China bloßzustellen und es vom Standpunkt der besseren, wissenschaftlicheren, individuelleren, fortschrittlicheren und mehr Gleichheit gewährenden Zivilisation der westlichen Moderne zu kritisieren. Da die Intellektuellen im heutigen China genau diese zivilisatorischen Werte durch den unbedingten Führungsanspruch der KPCh unterdrückt sehen, kritisierte so mancher von ihnen im Jubiläumsjahr die Bewegung für Neue Kultur als den Grund allen Übels: ohne sie, so lautete ihre These, auch keine KPCh. Mit ihrer Kritik gingen sie auf Distanz zu der »großen Tradition« des revolutionären China. Ihr Anliegen ist ganz einfach. Es ist völlig unpolitisch und sollte somit nicht dem Generalverdacht der Herrschenden unterliegen. Frei von Ideologie wollen sie ihrer wissenschaftlichen Forschung nachgehen und auf diese Weise eine »neue Kultur« jenseits der »Bewegung für Neue Kultur« etablieren. * * * Mit der Bewegung für Neue Kultur und der Bewegung des Vierten Mai ging die Praxiszentrierung aller wissenschaftlichen Erkenntnis auf Tätigkeits- anstatt auf Wissensfelder einher. Angesichts der Verfalls- und Auflösungserscheinungen des alten, konfuzianischen China und der Turbulenzen in der Übergangsphase vom Kaiserreich zur Republik wandten sich die zuvor sehr ideologiekritisch eingestellten Geister schon bald verschiedenen 128 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Ismen zu. Utilitarismus, Pragmatismus, Liberalismus, Individualismus und Darwinismus stießen auf größtes Interesse. Sie wurden jedoch schließlich von anderen Ideologien verdrängt, die sich flutartig ausbreiteten: Materialismus, Sozialismus und Marxismus-Leninismus. Um es mit den Worten der an der University of California Santa Cruz lehrenden Donna Haraway (geb. 1944) zu sagen, verschaffte sich hier das Ideal einer technisch-instrumentell gestützten universellen Beobachtbarkeit von Realität Platz. Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung steht der wissenschaftliche Sozialismus chinesischer Prägung, dem zunehmend die Bereitschaft abhandengekommen ist, die Welt aus einer anderen Perspektive als der eines wissenschaftlich-technischen Zukunftsprojektes zu sehen. Da die Einbettung von Verantwortung in körperliche Welterfahrung zugunsten einer unbegrenzten intellektuellen Distanzierung aufgekündigt wurde, sind nur mehr Situationen willkürlicher, erfahrungsarmer Intellektualität zurückgeblieben, deren Gemeinsamkeit auf politisch-ideologischem Wege hergestellt werden muss. * * * Die chinesischen Intellektuellen müssen, wie es Jürgen Habermas im Rahmen seiner Chinareise 2001 sehr zutreffend festgestellt hatte (siehe meine Einführung zu diesem Buch), produktiv sein, um sich zwischen politischen und gesellschaftlichen Erwartungen behaupten zu können. Ihr Schaffen hat sich unter den Bedingungen einer forcierten Modernisierung zu bewähren. Da im intellektuellen Diskurs die Frage nach der »Modernität« eine zentrale Rolle spielt, aber gleichzeitig sehr unterschiedliche Vorstellungen bestehen, welche Art von Moderne gemeint und wie sie zu erreichen ist, scheinen, ganz oberflächlich gesehen, die chinesischen Intellektuellen über große Freiräume zu verfügen. In Wirklichkeit verdanken sich diese aber nicht einer libertären Kulturpolitik, sondern dem Umstand, dass die chinesische Kultur hybrider Natur ist und schon seit dem Altertum mit dem Konzept von Kontaktzonen arbeitet. In der Biologie wird etwas als »hybrid« bezeichnet, wenn sich zwei Organismen mit unter129 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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schiedlichen Merkmalen gekreuzt haben und daraus keine Mischung, sondern eine Kombination einzelner Elemente, die in ihren ursprünglichen Eigenschaften erhalten bleiben, entstanden sind. Für die chinesische Kultur habe ich dieses Prinzip in meinem Buch Eine Reise in den anderen Westen 71 dargelegt. In der Biologie wie in der Kultur entsteht Neues, indem heterogene Elemente miteinander zusammengeführt werden. Dem Konzept der Kontaktzonen ist es zuzuschreiben, dass den Grenzverläufen zwischen »dem Westen« und China mit einer so großen Experimentierfreude nachgespürt wird. Im Laufe vielfältiger Prozesse des Durchprobierens und Vortastens sind mannigfaltige hybride Verbindungen entstanden. Dabei wurde und wird aber immer vorausgesetzt, dass trotz der Globalisierung der Kulturen das chinesische Denken ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Es wurde und wird nie in Frage gestellt, dass auch bei chinesischen Philosophen, die sich zum Beispiel mit Martin Heidegger (1889–1976) befassen, der Traum von einer Zeit am Wirken ist, in der, einem Naturgesetz gleich, auf Phasen der Schwäche des chinesischen Denkens, seines Niedergangs, immer wieder Phasen der Erneuerung und der Stärke folgen. Im Bewusstsein um die Geschichtlichkeit der eigenen Kultur wurde und wird so selbst in Zeiten der Euphorie für westliche Denker die Vergangenheit gegenwärtig gehalten. Damit wurde und wird nicht nur die Bedeutung Martin Heideggers, um bei diesem Beispiel zu bleiben, sondern auch die von Karl Marx (1818–1883) für China relativiert. Nach Schätzungen so mancher Analysten, darunter der Historiker Gerd Koenen (geb. 1944), besteht der chinesische Kommunismus zu siebzig Prozent aus chinesischem Gedankengut und nur zu etwa dreißig Prozent aus einer Mixtur von Lenin und Marx. * * * Besuche von westlichen Philosophen in China haben mittlerweile Tradition. Nach dem bereits erwähnten China-Besuch von Jürgen Habermas im Jahr 2001 haben das Land Philosophen wie Frederic Jameson (geb. 1934), Richard Bernstein (geb. 1932), Jacques 71

Geiger 2014: 172–177.

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Derrida (1930–2004), Charles Taylor (geb. 1931) oder Richard Rorty (1931–2007) bereist. In ihren Vorträgen haben sie offen über Demokratie, Freiheit, politische Kultur und zivile Gesellschaft gesprochen. Doch weder konnten sie damit die Chinesen schockieren noch die Entwicklung im Lande weiterbringen. In der großen Halle der Wissenschaft an der East China Normal University (huadong daxue) von Shanghai hielt Richard Rorty im Juli 2004 auf Einladung des Institute for Modern Chinese Thought and Culture einen Vortrag mit dem Titel »Gefangen zwischen Kant und Dewey – Die gegenwärtige Situation der Moralphilosophie«. Darin kritisierte er speziell Kants (1724–1804) Versuch, mittels der Vernunft allgemeingültige Moralprinzipien zu begründen. Überhaupt zeigte sich Rorty skeptisch gegen universale Prinzipien, ganz gleich, ob sie nun durch Platons (428/ 427–348/347 v. Chr.) Ideenlehre, durch Thomas von Aquins (1225–1274) Gottes- oder durch Kants Vernunftbegriff grundgelegt werden. Denn für Rorty gibt es keine metaphysisch sichere Wahrheit, schon die Suche nach ihr sei überhaupt ein Irrweg. Aufgabe der Philosophie sei es vielmehr, Menschen in ihrer Fähigkeit zur Phantasie zu bestärken, nicht ihnen vorzuschreiben, dass sie zwischen Wahrem und Falschem zu wählen haben. Man könne nur darauf hoffen, dass sich die Menschen, sei es durch Erziehung oder Erfahrung, für die bessere von zwei Möglichkeiten entscheiden. Mit diesen Sätzen wischte Rorty nicht nur Platon, Thomas von Aquin und Kant weg, sondern auch die geistigen Errungenschaften der Chinesen seit der Öffnung des Landes am Ende der 1970er Jahre. Denn mit Kant war es vielen chinesischen Philosophen darum gegangen, »den Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« zu befreien. Kant hatte in China zunächst ein unglückliches Schicksal. Die Kritik der reinen Vernunft wurde zwar schon 1931 übersetzt, aber wegen der schlechten Übersetzung kaum gelesen. Nach 1949 dominierte in China dann die Philosophie Hegels (1770–1831). Umso stärker fiel aber Kants Comeback Anfang der 1980er Jahre aus. Ironischerweise hing es ausgerechnet mit Deng Xiaopings (1904– 1997) Spruch zusammen: »Praxis ist das einzige Kriterium zur Überprüfung der Wahrheit«. Deng wollte mit diesem Wahrheits131 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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kriterium seinen neuen Reformkurs legitimieren. Und auch die Intellektuellen wichen auf Kants Vernunftbegriff aus, mit dem sie zu beweisen suchten, dass Demokratie und Wahrheit die wahren universal gültigen Werte sind. Damit konnten sowohl Partei als auch Intellektuelle leben, denn das Spiel stand fortan unentschieden: »Wahrheit« gegen »Wahrheit«. Die eine war durch die historische Vernunft bewiesen, die andere durch Kants reine Vernunft. Diese Koexistenz der Wahrheiten war die geistige Basis der politischen Stabilität für viele Jahre. Und nun zerstörte Rorty sie – weshalb er auf massiven Widerstand beim chinesischen Publikum stieß. Nach den gestellten Fragen zu urteilen, hatte er mit seiner Auslegung des Pragmatismus keinen der Zuhörer überzeugt. Rorty musste später feststellen, dass selbst einer seiner Schüler – der einzige unter den Teilnehmern, der alle seine Bücher und Aufsätze gelesen hatte – am Ende auch in der Tradition Kants steht. Und Chen Jiaying (geb. 1952), der Übersetzer von Heideggers Sein und Zeit, bemerkte, dass er nicht verstanden habe, warum er Rortys Pragmatismus seinen Studenten beibringen sollte. Wie um Chens Zurückhaltung noch zu verstärken, wehrte dieser alle Fragen nach etwaigen Beziehungen des Pragmatismus zur chinesischen Philosophie ab. Für deren Beantwortung fehlten ihm die Kenntnisse, so Rorty. Er wüsste nicht, wie in China versucht wird, die Welt und die menschliche Existenz zu ergründen, zu deuten und zu verstehen. Sehr weise, aber nicht ganz ehrlich geantwortet. Denn sicherlich war er so weit mit dem Werk des Konfuzius vertraut, um in ihm einen verwandten, pragmatischen Geist sehen zu können. Und sein dreiwöchiger Aufenthalt in China war für ihn sicherlich lange genug, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie pragmatisch das Verhalten von vielen Chinesen ist. * * * Der Blick zurück zeigt, dass nach dem Schock der Kulturrevolution (1966–1976) die zuvor erniedrigten und entehrten Philosophen wieder dazu eingeladen wurden, den Marxismus-Leninismus zu bereichern und weiterzuentwickeln. Die Explosion des philosophischen Schrifttums zu Beginn der 1980er Jahre lässt sich 132 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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mit der lange unterdrückten Freiheit des Geistes erklären, sie war aber auch das Ergebnis staatlicher Planung. Zum Beispiel wurde im April 1979 in Jinan, Provinz Shandong ein Entwurf für einen »Nationalplan für die Entwicklung der philosophischen Disziplinen 1979–1985« ausgearbeitet. In ihm wurde festgeschrieben, dass die Philosophie dem Prozess der Modernisierung zu dienen habe. Diese Forderung war zweischneidig, denn sie führte schon sehr bald dazu, dass Studien zur marxistischen Philosophie von 10 Prozent der »Gesamtproduktion« im Jahr 1983 auf 4,6 Prozent im Jahr 1988 zurückgingen. Den Angaben des Chinesischen Philosophischen Almanach (zhongguo zhexue nianjian) aus dem Jahr 1989 zufolge setzte regelrecht ein Fieber nach zeitgenössischen ausländischen Denkern ein. 72 Nachdem der Versuch der Kulturrevolutionäre gescheitert war, in einer gigantischen Umerziehungsaktion mit ebenso neuartigen wie gewaltsamen Methoden einen »neuen Menschen« zu erschaffen, nahm eine Kant-inspirierte Philosophie der Gegenwart seinen Lauf. Ihre Fährnisse sind auf die unterschiedlichen Diskurstraditionen, die sich in Anknüpfung an den Aufklärungsbegriff im Westen und in China je anders entfaltet haben, zurückzuführen. Zu Beginn der 1980er Jahre geriet aber auch das Gesamtspektrum westlicher Philosophie in den Blick. Angesichts der kruden Identitätspolitik, die derzeit (2018) vorherrscht, meint man es kaum für möglich halten zu können, dass in den Jahren nach der Öffnung Chinas zum Beispiel die Schriften Jacques Derridas, der den poststrukturalistischen Denkern zugerechnet wird und zusammen mit Michel Foucault (1926–1984) und Pierre Bourdieu (1930–2002) noch immer die drei ersten Plätze im Ranking der weltweit meistzitierten Intellektuellen einnimmt, einen großen Einfluss ausübten. Nichts ist mit sich selbst identisch; alles ist im Fluss: der Sinn, das Sein, das Subjekt – alle diese Gedanken scheinen sich in ihr Gegenteil verkehrt zu haben. Aus Befreiung wurde Einkerkerung, aus der Verflüssigung Verfestigung. Mittlerweile bestimmen ein Kult der Authentizität und die Rhetorik der großen Befreiung das Geschehen. 72

Wesolowski 1993: 20.

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Jacques Derrida ist mittlerweile tot, und dies schon eine Weile. Seit seiner großen Zeit haben sich die Dinge nicht nur in der intellektuellen Sphäre Frankreichs, sondern auch in derjenigen der VR China eklatant verändert. Am Ende des 20. Jahrhunderts zeichnete sich noch die Endzeit jener großen Gegensätze ab, mit denen viele französische und chinesische Denker, wenn auch mit anderen Schwerpunktlegungen, erfolgreich operiert hatten: für die Freiheit und gegen die Unterdrückung; für die Zivilisation, gegen die Barbarei; für das Individuum und gegen seine Entmündigung. Natürlich haben solche Themen weiterhin Bestand, wirken aber in einem Systemwettbewerb, in dem sich das Kräfteverhältnis zu Gunsten des chinesischen Staatskapitalismus zu verschieben begonnen hat, kaum noch überzeugend. Obgleich im Falle des in vielen Lebensbereichen an der amerikanischen Gesellschaft orientierten China die Abgrenzung vom »westlichen Denken« realitätsfremd ist, ist an ihre Stelle ein »wir«-und-»sie«-Raster getreten. Manche Historiker wollen den intellektuellen Verfall, der mit dem Denken in Rastern einhergeht, als übergreifendes Phänomen verstanden wissen. Denn schließlich fehlen große Lichtgestalten à la Bertrand Russell (1872–1970) oder Benedetto Croce (1866– 1952) heute auch in England oder Italien. Wir stünden so, mit anderen Worten, eher vor einer Krise des Denkens im Allgemeinen als vor einer Krise des chinesischen Denkens im Besonderen. * * * Wir haben soeben von der »Koexistenz der Wahrheiten« gehört, die der Geisteswelt Chinas für viele Jahre eine auskömmliche Existenz in einer gesellschaftspolitisch gesehen stabilen Großwetterlage beschert hat. Voraussetzung war allerdings Enthaltsamkeit in allen politischen Fragen – auch dann, wenn, wie im Juni 1989, Panzer über den Platz des Himmlischen Friedens in Peking rollten und unter ihren Gleisketten so manche Hoffnung und junges Leben zermalmten. Orientierungssicherheit gab, dass sich der Staat in den Jahren nach dem Beginn der Öffnungspolitik niemals aus seiner Verantwortung für eine kontinuierliche wirtschaftliche Entwicklung verabschiedete. Heute dagegen ist die Nervosität bei allen Beteiligten hoch. 134 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Mit dem Erreichten steigen in der Bevölkerung die Ansprüche an die Güter und Dienstleistungen, an Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen und eines Tages vielleicht auch an Mitsprache und politisches Engagement. Um den wachsenden Ansprüchen der Bevölkerung und auch ihrem Unmut über strukturelle Probleme begegnen zu können, legitimiert sich die Parteiführung durch wirtschaftlichen Erfolg und nationalen Prestigegewinn. Mit nicht mehr ganz ruhiger Hand, aber doch souveräner Planung schafft sie den perfekten Überwachungsstaat, dem man die Überwachung nicht ansieht, weil er sie in Leben und Köpfe der Bevölkerung selbst verpflanzt hat. Begünstigt durch die unerschöpflichen kommerziellen Möglichkeiten und das damit verbundene Vergnügen ergibt sich der Mensch der Überwachung von selbst. Dadurch ist es der chinesischen Führung gelungen, das eigentlich Unvereinbare miteinander zu vereinbaren und einen auf den chinesischen Kontext zugeschnittenen autoritären Entwicklungsstaat zu schaffen. Frohes Fest in China! Premiere hatte im Dezember 2014 eine Kooperation zwischen amerikanischen Kaufhäusern wie Macys und Saks und dem chinesischen Bezahlsystem Alipay von Alibaba-Milliardär Jack Ma (Ma Yun, geb. 1964), die zum ersten Mal chinesische Kunden mit speziell auf die Festtage zugeschnittenen Angeboten bombardierten. Die britische Supermarktkette Tesco baute ihr Weihnachtsgeschäft im offiziell gottlosen China ebenso aus wie der französische Wettbewerber Carrefour. Lokale boten teure Weihnachtsmenüs, aus Friseursalons erklang noch um neun Uhr abends »Rudolf, the Red-Nosed Reindeer«. Besonders den chinesischen Einkaufszentren kam das importierte Fest der Liebe und des Konsums auch im Jahr 2014 wie gerufen, gibt es von diesen dank oft hundertprozentiger Kreditfinanzierung durch Staatsbanken doch viel zu viele. * * * Chinas Aufstieg zur neuen Weltmacht vollzieht sich im Zeichen eines Kommunismus, der all seine historischen Gegner, ob Raubtierkapitalismus, ob Nepotismus, eingemeindet hat. Über allem thront, wie ein allmächtiger Gott, die Kommunistische Partei 135 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Chinas und wacht über eine Gesellschaft, der sie unter Zuhilfenahme der Lehre von Konfuzius Harmonie (hexie) verordnet hat. Sie thront und räumt hier starke »Tiger«, dort provinzielle »Fliegen« weg. Hunderte Wörter werden für die Internetkommunikation gesperrt. Unter ihrem jetzigen Vorsitzenden tritt sie erneut den Beweis an, dass eine Autokratie viel besser geeignet sei, ein Land wie China groß und mächtig zu machen; ja, dass es zur Verwirklichung des »chinesischen Traums« der starken Diktatur der Partei bedürfe. Sie setzt dabei auf künstliche Intelligenz und neue Technologien, um eine Gesellschaft der Metadaten, in der Individuen ausgeleuchtet und vermasst werden, erstellen zu können. Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit: In einer Welt, die durch algorithmische Regulierung gesteuert wird, hat das komische Lachen, über das wir im Abschnitt »Aspekte des Lachens« ausführlich gesprochen haben, seine Erkenntnisfunktion verloren. * * * Ende des Lachens, das Distanzierung schafft. Ende des Lachens, das das eigene Leben verändert. Und, einhergehend mit dem Ende des Lachens, das Ende der Scham. * * * Wer wird noch in einer Gesellschaft, in der die totale Überwachung und Kontrolle über Big Data auf breite Zustimmung stößt, laut und haltlos lachen? Laut einer Studie, die im Juli 2018 an der Freien Universität Berlin vorgestellt wurde, liegt die Zustimmungsrate zu einem zentralen Bewertungssystem, mit dem das Verhalten von Menschen gemessen und Abweichungen bestraft werden sollen, bei den Teilnehmern staatlicher Pilotprojekte immerhin bei 64 Prozent. Die Studienleiterin berichtet, dass die Befragten in dem Sozialkreditsystem, das 2020 landesweit eingeführt werden soll, ein Instrument zur Schließung institutioneller und regulatorischer Lücken sähen und deswegen seine Einführung befürworteten. 73 Es sind sogar Stimmen zu vernehmen, die 73 »Chinesen sind für Bewertungssysteme«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 24. 07. 2018.

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die Ausweitung des Systems auf Meinungsäußerungen im Internet begrüßen würden. In der Stadt Hangzhou ist die Integration der Datensätze schon weit fortgeschritten. Polizei, Gerichte, Finanzamt, Behindertenbehörde, Umwelt- und Gesundheitsamt, Stromversorger und Verkehrsbetrieb: sie alle tragen zusammen, welche Informationen sie über einen Bürger oder ein Unternehmen haben. Die »Unehrlichen«, wie sie in Hangzhou genannt werden, kommen auf die schwarze Liste, die im Internet einsehbar ist. Wer sich positiv hervortut, bekommt Vergünstigungen. 74 Wenn einer online ein paar Zeilen wagt über die »Gedankenkontrolle durch Künstliche Intelligenz«, wie vor kurzem der Essayist YouShanDaBu, dann löscht das die Zensur sofort. In dem Aufsatz heißt es: Die Durchleuchtung des gesamten Volkes ist Wirklichkeit geworden. Keiner hat mehr irgendeinen Winkel, in dem er sich noch verstecken könnte. Uns allen bleibt nur mehr, den einen selben Gedanken zu denken. Alles andere Denken gebt bitte auf. 75

176 Millionen Überwachungskameras gab es in China 2016, bis zum Jahr 2020 sollen es mehr als 600 Millionen sein. 76 Für die Beobachter wird die Kamera zu einem Schlüssel, der ihnen den Zugang zur Welt eröffnet. Ein Mitarbeiter von Megvii Face ++, gerade das heißeste Start-up einer heißen Branche in Peking, sagt Anfang 2018, dass der Algorithmus seiner Firma Netze von 50.000 bis 100.000 Überwachungskameras unterstützen könne: »Wir können dir sagen, welche Sorte Mensch sich zu welchem Zeitpunkt wo befindet. Wir können sagen: Wer ist das? Wo ist er? Wie lange hält er sich hier auf? Wohin geht er dann? Wir verfolgen die Spur eines Menschen von Kamera zu Kamera«. Angesichts der Lückenlosigkeit des Überwachungsapparates werden zukünftig in der Öffentlichkeit wieder der erhabene Ernst und die Entrücktheit vorherrschend sein, von denen wir bereits in meinen Ausführungen zu »Lachen – Lächeln« hörten. Und wenn »Wie China seine Bürger erzieht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 21. 02. 2018. 75 »Augen auf«, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 02. 02. 2018. 76 »Augen auf«, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 02. 02. 2018. 74

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die Gesichtserkennungssoftware im Gymnasium Hangzhou Nr. 11 just während des Politikunterrichts ein mokantes Lachen in den Gesichtszügen eines Schülers entdeckt? Nur für eine Sekunde. Und wenn ihm das als ungenügende Anpassung an die normativen Erwartungen der Gruppe ausgelegt wird? Ihm wird nichts anderes übrigbleiben, als für sich zu reklamieren, dass er die Funktion des Lachens als moralischer Institution durchaus verstanden habe und auf dem Weg sei, sich »durch Lachen zu bessern« (xiaodehao). Siehe meine Ausführungen zu einer qingzeitlichen (1644–1911) Witzesammlung gleichen Titels im Abschnitt 2.2: »Geng Jianyi, ›Der zweite Zustand‹«. Zum Kontrast: Im Geist des Chan-Buddhismus befreit sich der Mensch lachend von den Fesseln doktrinärer oder konfessioneller Festlegungen, wie wir bereits in »Provokation« festgestellt haben. Und in Geng Jianyis Serie riesiger Porträts »Der zweite Zustand« präzisiert das Lachen den Zustand der Existenz. Um sich selbst nicht zu belügen, rückt der Maler der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit der Darstellung eines Gefühlsausbruchs zu Leibe. * * * Die Selbstverständlichkeit, mit der chinesische Professoren noch bis vor kurzem die Freiheit von Forschung und Lehre einforderten, erklärt sich aus der Geschichte akademischer Einrichtungen wie der Peking Universität (beida) vor 1949. Von ihr waren die Bewegungen für neues Denken und neue Literatur ausgegangen. Der Name Cai Yuanpeis (1868–1940), der von 1916 bis 1926 das Rektorenamt innehatte, ist zu erwähnen. Während seiner Amtszeit wurde an der Beida das deutsche Hochschulverwaltungssystem im humboldtschen Geiste übernommen. Cai, der mit dem deutschen Bildungssystem am Ende der Kaiserzeit gut vertraut war, trat dafür ein, dass der Rektor und auch alle Dekane von den Professoren gewählt werden. Zudem beförderte er die Einrichtung eines unabhängigen Senats. Die Verwaltung der Lehrveranstaltungen und die allgemeine Verwaltung sollten von einem Bildungs- beziehungsweise Verwaltungsrat übernommen werden, dessen Mitglieder wiederum von der Professorenschaft zu wählen waren. Nach seinem Amtsantritt ließ Cai Yuanpei keine 138 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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Gelegenheit aus zu betonen, dass »die Universität Stätte für Forschung und hohe Wissenschaft« sei. Er hob immer wieder hervor, dass es sich bei ihr um eine »rein wissenschaftliche Forschungsstätte« handle, an der Forschung »gemeinsam« von Lehrern und Studenten betrieben werde. Gleich zu Beginn seines Rektorats brachte er seine Vorstellungen folgendermaßen auf den Punkt: Reine Gelehrte anstellen, die lehren und gleichzeitig mit den Studenten zusammen forschen, so dass die Universität zu einer reinen wissenschaftlichen Forschungsstätte wird … das ist nun ein typisch deutsches Hochschulideal. So sagte Humboldt, dass Lehrende und Lernende gemeinsam forschen und für die Wissenschaft da sind. 77

In seinem Referat über »Das gegenwärtige Hochschulideal in China« auf der dritten Jahreskonferenz der Europäischen Studentenhilfe im Juli 1924 in Elmau, Oberbayern berichtete Cai Yuanpei über die Forschungsfreiheit an der Peking Universität. Seine Ausführungen verdeutlichen, dass die heutige Situation weit hinter dem Stand der 1920er Jahre zurückbleibt. Er sagte: Die Forschenden haben absolute Freiheit, sich irgendeiner Lehre hinzugeben, ohne sich von politischen, religiösen, konventionellen oder von traditionellen Gedanken beeinflussen zu lassen. 78

* * * Ästhetik! 1917 veröffentlichte Cai Yuanpei in der Zeitschrift Neue Jugend 3:6 (1917.8) den Aufsatz »Über die Ersetzung der Religion durch die ästhetische Erziehung« (yi meiyu dai zongjiao shuo). Bemerkenswert ist, dass der Gedanke von der Ästhetik als Ersatzreligion in China eine so nachhaltige Beachtung fand. Cai Yuanpei griff ihn 1930 noch einmal in dem Aufsatz »Durch ästhetische Erziehung die Religion ersetzen« (yi meiyu dai zongjia shuo) auf. In seinen Schriften betont er immer die Notwendigkeit des Austausches zwischen westlicher und östlicher Kultur. 77 78

Zitiert nach Kaderas, Hong 2000: 163. Zitiert nach Kaderas, Hong 2000: 162.

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Religion – Ästhetik – universitäre Bildung – Kulturaustausch zwischen West und Ost: Was verbindet die vier genannten Bereiche miteinander? Sie werden durch die Theorien, die sich mit der neuen Kultur Chinas befassen, miteinander verbunden. Und so richteten sich auch die antireligiösen Stimmen nicht durchwegs gegen die Religiosität selbst. Es war sogar manchen Religionsgegnern klar, dass Glaube und Glaubensfragen zum modernen Menschen gehören. Sie waren der Auffassung, dass die religiösen Energien für andere Zwecke genutzt werden können. Deshalb wurden auf der Suche nach Sinn und Bedeutung der modernen Zivilisation die Fragen »Was ist Glaube« und »Woran glauben« angesprochen. Cai Yuanpei bot anstelle einer religiösen Lebensgestaltung die ästhetische Kultivierung an. Chen Duxiu war der Ansicht, dass das höchste Stadium der menschlichen Entwicklung mit dem wissenschaftlichen zusammenfalle. Und Hu Shi ersetzte die Unsterblichkeit der Seele durch eine gesellschaftliche Unsterblichkeit, wobei das Individuum für ihn nur Teil eines größeren Ganzen, der Gesellschaft oder der Menschheit, ist. Er berücksichtigte innerhalb der »Neuordnung des nationalen Erbes« (zhengli guogu), die er anstrebte, den Mohismus, den Daoismus, aber auch das Christentum. Bei letzterem wies er im Geiste der Zeit auf dessen sozialethische Bedeutung hin. Das Interesse Cai Yuanpeis an der Ästhetik leitete sich unter anderem von der Auffassung ab, dass der einzelne Mensch wie auch ganze Kulturen zu einem höheren Sein befähigt seien. Durch eine kulturelle Renaissance, die auch von außen Impulse aufnehmen müsse, könne China an das kulturelle Niveau Europas anschließen. Cai war davon überzeugt, dass die kulturellen Werte des Abendlandes und Chinas als gleichermaßen universal anerkannt und zu einer Synthese geführt werden müssten. Dabei bestärkte ihn gerade seine Begegnung mit dem deutschen Idealismus in der Auffassung, dass die Ästhetik eine erzieherische Funktion übernehmen könne. An der anhaltenden Wertschätzung, die der Theorie der »ästhetischen Erziehung des Menschen« über weite Strecken des 20. Jahrhunderts entgegengebracht wurde, lässt sich ersehen, wie nah Cai mit seiner Theorie von der »Erset140 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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zung der Religion durch die ästhetische Erziehung« am Puls der chinesischen Modernisierungsbestrebungen war – bis weit in die 1930er Jahre hinein. * * * Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts spielte die deutsche idealistische Ästhetik in der chinesischen Geisteswelt eine wichtige Rolle. In der idealistischen Ästhetik wird die Kunst als eine Mittlerin zwischen der »phänomenalen« und der »noumenalen« Welt angesehen – was auch bei Cai Yuanpei der Fall ist, wie wir bereits hörten. Die Kunst vermag den Menschen in der Anschauung über die kausale Bedingtheit der phänomenalen Welt zu erheben. Sie vermag aber auch der Entwicklung einer praktisch-ästhetischen Kultur in den Grenzen dieser Welt und der Nation dienlich zu sein. Die chinesische Ästhetik des 20. Jahrhunderts thematisierte im Laufe ihrer Entwicklung beide Kunstauffassungen, so dass sie auf ganz unterschiedliche Weise mit der deutschen idealistischen Ästhetik in Berührung kam. An dem schnellen Abnehmen eines metaphysischen Ansatzes, der von Wang Guowei (1877–1927) vertreten wurde, und der nachfolgenden, verstärkten Auseinandersetzung mit der Kunst unter dem Gesichtspunkt der praktisch-ästhetischen Kultur (unter anderem Cai Yuanpei) zeigte sich, dass das Anliegen der chinesischen Ästhetiker im Kontext der Modernisierungsbestrebungen ein soziokulturelles mit stark politisch-reformerischen Implikationen war. Mit ihren Überlegungen zur Ästhetik meinten die Reformer nicht das reine Subjekt des Erkennens, das zeitlos, überindividuell und willenlos Korrelat der Idee ist, sondern das historisch konkrete Subjekt, das als Individuum in den Grenzen dieser Welt tätig wird. Am Beispiel Cai Yuanpeis können wir dies sehr deutlich erkennen. * * * Chinesisches Denken, chinesische Philosophie! Ein dem europäischen Begriff analoges Wort zu »Philosophie« existierte im klassischen China nicht. Dennoch ist es sinnvoll, 141 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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auch im Blick zurück das chinesische Denken als Philosophie zu bezeichnen, insofern es von Welterklärungen und Lebensregeln handelt, die mit der europäischen Philosophie zu korrespondieren vermögen. Damit ist keine Bewertung der Formen und Wege chinesischen Denkens nach europäischen Maßstäben nahegelegt. Ganz im Gegenteil! Ich plädiere dafür, unsere Augen nicht vor der Zunahme von Dezentrierungsprogrammen in der westlichen Philosophie und der Vielfalt der Ansätze in der interkulturellen Philosophie zu verschließen. Die gegenwärtige chinesische Philosophie bezeichnet Peng Guoxiang (geb. 1969) von der Zhejiang Universität in Hangzhou ganz nüchtern als eine moderne Disziplin, die sich der Einführung westlicher Philosophie verdankt. Sie sei nur als komparative Philosophie zu denken. 79 Ich möchte dem Folgendes hinzufügen: Da die chinesische Philosophie ihre heutige Form den Entwicklungen in Gesellschaft und Wissenschaft seit dem Ende des chinesischen Kaiserreiches verdankt, stellt sie eine Form von sekundärer, in Gestalt von Reflexion sich vollziehender »Weltorientierung« und »Daseinserhellung« (Karl Jaspers) dar. Ihre Inanspruchnahme für Identitätskonzepte der chinesischen Kultur in der Gegenwart beraubt sie gerade dieser zentralen Funktionen. Heute nun wird unter dem Diktat der Identitätskonzepte der Philosophie die Aufgabe zugewiesen, den Prozess der Ausdifferenzierung der modernen Konsumgesellschaft zu steuern. Ihr fällt die Funktion zu, innerhalb eines von ihr initiierten Diskurses das Projekt der Moderne in bester kantischer Manier mit Wertideen in Verbindung zu bringen. Diese sollen jene Bestandteile der Wirklichkeit umfassen, die nach der Meinung der chinesischen Regierung für die Modernisierung des Landes von Bedeutsamkeit sind. Dabei wird die historische Tiefenlegitimation für die Politik des Landes mittels des »Konfuzianismus« hergestellt. Zweiflern wird eingeschärft, China habe seit Jahrtausenden das Ideal einer harmonischen Gesellschaft angestrebt und oft auch realisiert, mit besonderem Erfolg in der Gegenwart. Mit einem Selbstbewusstsein, das auch der überzeugteste Aristoteliker nicht 79

Peng 2018: 115.

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Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie

aufbringt, berufen sich nicht allzu wenige chinesische Philosophen auf Vorbilder aus der Antike, darunter vor allem den elastisch interpretierbaren Konfuzius und seine Schüler. Während die Gesellschaft gereizt und hypernervös ist, zeigt sich die geistige Führung souverän. Ist Herrschaftslegitimation tatsächlich das hervorstechendste Merkmal chinesischer Philosophie? Um nur über die Gegenwart zu sprechen: Die Voraussetzungen gegenwärtiger chinesischen Philosophierens kommen meiner Meinung nach erst dann in den Blick, wenn man sie nicht mit den primären Formen der Welt- und Selbstauslegung in Mythos, Glaube und Weltanschauung, sprich der gesamten chinesischen Kulturgeschichte, assoziiert. Die chinesische Philosophie der Gegenwart verdankt ihre Existenz dem Bruch und der Neubewertung von Tradition. In diesem Zusammenhang sind weniger die Fragen nach ihren überzeitlichen Sinn- und Deutungsschemata relevant, mit denen ja im heutigen China wieder Herrschaft legitimiert wird, sondern die nach ihren Einsatz- und Rückwirkungsformen im Zuge ihrer lebenspraktischen Vereinnahmung. Sie muss sich in der Spannung zwischen heiliger Tradition und fordernder Gegenwart bewähren. Wird sie dagegen nur mehr als Instrument der methodisch-rationalen Legitimation von staatlicher Autorität verstanden, geht sie ihrer eigenen Voraussetzungen verlustig. Sie ist nicht mehr Philosophie, sondern Ideologie.

1. Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie Versteht man Philosophie als eine praktische Tätigkeit und bezieht dabei all die sie begleitenden Machtauseinandersetzungen, Widersprüche, Sinnfragmentierungen und Bedeutungsverschiebungen in sein Verständnis mit ein, dann bringt man den Begriff von ihr kräftig in Bewegung. Den Anspruch, der sich aus der situativen Bedingtheit des Philosophierens ableitet, haben die Philosophen Mou Zongsan (1909–1995), Tang Junyi (1909–1978), Zhang Junmai (1887–1969) und Xu Fuguan (1904–1982) folgendermaßen formuliert: 143 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

Wenn wir chinesische Philosophie verstehen wollen, müssen wir von Anfang an die Persönlichkeit des Philosophen verfolgen sowie sein gesamtes Leben, Diskussionen mit seinen Lehrern und Freunden ebenso wie seine Lehren, die Angelegenheiten der ganzen jeweiligen Gesellschaft und die Quelle deren Kultur. 80

Die genannten Denker sind die Hauptrepräsentanten des bereits mehrfach erwähnten Neukonfuzianismus. In ihren Schriften stellten sie die moralische Autonomie des Individuums in den Mittelpunkt und erwiderten auf diese Weise zeitverzögert die kritischen Einlassungen der Akteure der Bewegung für Neue Kultur und der Bewegung des Vierten Mai, die insbesondere die konfuzianische Lehre betrafen. An ihrem Werk lässt sich beispielhaft das Philosophieverständnis von chinesischen Denkern darlegen, die sich dem Spannungsverhältnis zwischen westlicher und chinesischer Philosophie, westlich geprägten Modernisierungsbestrebungen und traditionellen chinesischen Weisen des Denkens aussetzen. Ihr Verständnis eines »Textes« ist in diesem Zusammenhang erhellend. Im nichtwissenschaftlichen Sprachgebrauch wird mit dem Begriff des Textes eine abgegrenzte, zusammenhängende und meist schriftliche sprachliche Äußerung bezeichnet. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist er die sprachliche Form einer kommunikativen Handlung. Bei den Neukonfuzianern steht in bester konfuzianischer Tradition der Handlungsaspekt im Vordergrund. Darauf beruht die lebensweltliche Dimension chinesischer Philosophie, von der Mou Zongsan, Tang Junyi, Zhang Junmai und Xu Fuguan sprechen. Nach Tang Junyis Meinung soll ein philosophischer Text dem Leser den Eindruck vermitteln, dass es ihn, den Text, eigentlich gar nicht gibt. Er sei nur eine Art Hilfestellung zur eigenen persönlichen Weiterentwicklung. Demgemäß wird Philosophie von Tang als das »Streben nach Wissen«, das ein »wirkliches Wissen« ist, bezeichnet. Vom »reinen Wissen« unterscheide es sich dadurch, dass es mit dem Handeln eine Einheit bilde. Wissen sei

80

Zitiert nach: Steinbauer 2005: 1.

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Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie

stets unvollkommen, solange es nicht vom Handeln begleitet werde. 81 * * * Nimmt man die einschlägigen Geschichtsschreibungen in chinesischer und westlichen Sprachen zum Maßstab, dann ist die Philosophie in China nur sehr schwer von Ordnungsspekulationen im politisch-moralischen Sinne und auch von Überlegungen zur Stellung des Menschen in einem »moralischen Universum« (Konfuzianismus) oder in einer natürlichen Welt (Daoismus) zu trennen. Sie wird an der Utopie einer befriedeten und harmonischen kosmischen Ordnung bemessen. Das spezifisch Chinesische an ihr wird gerade an dieser Ausrichtung definitorisch zu bestimmen versucht. Der Begriff der »Philosophie« ist in China allerdings eine verhältnismäßig junge Schöpfung. Er wurde auf Umwegen, nämlich über Japan vermittelt. Japan Nach seiner Rückkehr von der Universität Leiden, an die ihn die japanische Regierung am Ende des Tokugawa-Shogunats (1603– 1868) geschickt hatte, hielt Nishi Amane (1829–1897) 1862 im Forschungszentrum für die Bücher der Barbaren (bansho Shirabe-sho) erste Vorlesungen über abendländische Philosophie. Er begann mit der Übersetzung einer beträchtlichen Anzahl von juristischen, philosophischen und politologischen Werken, um seinen Landsleuten einen relativ systematischen Überblick des europäischen Denkens zu ermöglichen. Der von Nishi geprägte Begriff für »Philosophie« ist Kitetsugaku, wörtlich »Suche nach Wahrheit«, im Chinesischen xi zhexue. Kitetsugaku kürzte er bald in seinem Hyakuichi shinron (1874) zu Tetsugaku (im Chinesischen zhexue) ab. Nicht nur die neue Disziplin der Philosophie erhielt so einen japanischen Na-

81

Steinbauer 2005: 128,129.

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

men, sondern auch ein ganzer Komplex von Grundbegriffen, die heute zum Alltags- oder Fachwortschatz gehören. Dies ist vor allem dem Wörterbuch der philosophischen Begriffe (tetsugaku jii) Nishi Amanes zu verdanken, das Inoue Tetsujirô (1855–1944) ergänzte. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Vorgeschichte dieses Prozesses. Römisch-katholische Christen, die »Kirishitan«, brachten im 16. und 17. Jahrhundert Werke nach Japan, die in der aristotelischen Tradition stehen. Später – nach der Selbstisolierung des Shogunats – ermöglichten es die in Nagasaki zugelassenen »holländischen Studien« (rangaku), wissenschaftliche und technische Texte zu rezipieren, die eine westliche Terminologie enthielten. China Die in Japan in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geprägten Begriffe wurden allmählich nach China eingeführt. Die Botendienste übernahmen chinesische Auslandsstudenten, die um die Jahrhundertwende in Japan studierten. Bereits am Ende des Kaiserreichs stand die »Philosophie« (zhexue) auf dem Lehrplan der Kaiserlichen Universität (jingshi daxuetang). Abgesehen von ihrer Fremdartigkeit waren die Neologismen oder Neuinterpretationen aus dem Japanischen ausreichend exakt und logisch, um sich nach und auch bei den chinesischen Gelehrten durchzusetzen. Die Geburtsstunde der chinesischen Philosophie der Gegenwart war eine Situation, in der keine homogenen kulturellen Interpretations- und Auslegungssysteme mit trennscharfen Codes mehr zur Verfügung standen. Ausgehend von den Neologismen entfaltete sich ein Streben nach Erkenntnis und Wahrheit, das die Unterordnung des Denkens unter das Diktat des Konfuzianismus lockerte und es auch dem Daoismus entrückte. Die Landschaft kultureller Wissensbestände, die daraus hervorging, erweist sich als erheblich disparater und vielgliedriger, als es die konventionellen Darstellungen wahrhaben wollen. Weder der Konfuzianismus noch der Daoismus ermöglichen heute noch eine restlose Aufklärung der Frage, was das chinesi146 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie

sche Denken der Gegenwart ist. Auf jeden Fall ist es nicht das »mechanische Treibwerk der Sittenlehre«, von dem Johann Gottfried von Herder (1744–1803) in seinem vierbändigen Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) spricht.

2. Methodik und das Projekt der Selbstbestimmung chinesischer Philosophie In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden die Grundlagen für die akademische Disziplin der »chinesischen Philosophie« gelegt. Die Namen von Hu Shi (1891–1962) und Feng Youlan (Feng Yu-lan, 1895–1990) sind hier zu nennen. Ersterer, Hu Shi, war während seines Amerikaaufenthaltes mit John Dewey (1859–1952) in Kontakt gekommen. 1917 promovierte er bei dem Vertreter der pragmatischen Philosophie mit einer Arbeit zu der Entwicklung der logischen Methode im antiken China. Er verstand Wissenschaft als Chance und setzte sich für ihre Verbreitung ein. Sie symbolisierte für ihn gleichermaßen Moderne, Aufklärung, Rationalität und Freiheit. Feng Youlan studierte ebenso wie Hu Shi an der Columbia University in New York und u. a. bei John Dewey. Seine englischsprachigen Publikationen prägen das Verständnis von »chinesischer Philosophie« im Westen bis zum heutigen Tage. In der Dankesrede, die er anlässlich der Verleihung des Honorary Doctor of Humane Letters an seiner Alma Mater in New York am 10. September 1982 hielt, resümierte er sein Schaffen mit Worten, die keinen Zweifel lassen an der geschichtlichen Bedingtheit des Chinesischen an der »chinesischen Philosophie«, wie es in seinen Werken A History of Chinese Philosophy (2 Bände, 1931 und 1934) und A Short History of Chinese Philosophy (1948) aufscheint: I live in an era of contradiction and conflict between different cultures. The question I wanted to answer was how to deal with the nature of this contradiction and conflict, how to adequately deal with this conflict and

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

resolve this contradiction, and how I myself should adapt to this contradiction and conflict. 82

* * * Hu Shi und Feng Youlan gingen von universalen Gesetzmäßigkeiten des Philosophierens aus. Feng sah die Schwäche chinesischen Philosophierens darin begründet, dass es in seiner Zielrichtung praxisnah, aber in seiner Methodik praxisfern sei. Er verstand es als seine Aufgabe, »aus den verschiedenen Schulen der Geschichte der chinesischen Philosophie diejenigen auszuwählen und wiederzugeben, die dem westlichen Begriff der Philosophie zu entsprechen vermögen«. 83 Dies brachte ihm den Vorwurf ein, »die chinesische Philosophie ihrer Eigenständigkeit verlustig gehen zu lassen.« 84 Wei Zhengtong (geb. 1923), von dem diese Kritik stammt, vertrat dagegen die Auffassung, dass die Tätigkeit des Philosophierens durch die eigene Tradition bestimmt sein müsse. Er führte den Begriff des »Lernens durch eigene Erfahrung« (»Empirie«, tiyan) ein, mit dem er der von Feng Youlan an der traditionellen chinesischen Philosophie geäußerten Kritik meinte begegnen zu können. Mit dem Begriff der »Empirie« stellte er für die Methodik der chinesischen Philosophie klar, dass sie praxisnah und nicht praxisfern ist. Sie sei vorwiegend »menschenbezogen«. In diesem Punkt unterscheide sie sich von der westlichen Philosophie, die dem menschlichen Leben zu wenig Aufmerksamkeit schenke und deswegen menschenfern, wenn nicht sogar inhuman sei. Wei zitierte die Formulierung »im Inneren ein Weiser und im Äußeren ein König« (neisheng waiwang). Den Charakter chinesischen Philosophierens beschrieb er mit folgenden Worten: Im Westen kann man Denken (sibian) und Empirie (tiyan) getrennt voneinander praktizieren, im jetzigen China muss man aber danach streben, die beiden miteinander zu vereinen. Dies ist eine Schwierigkeit, die sich aus der Besonderheit des klassischen chinesischen Denkens herleitet; wie 82 83 84

Zitiert nach Qiao 2018: 28. Feng Youlan in Wei 1981: 75. Wei 1981: 4.

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Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie

man dieses Problem bewältigen kann, ist eine große Prüfung für die Intelligenz der chinesischen Philosophen. 85

* * * Chinesisches Denken – Chinesische Philosophie I: Folgt man dieser Zustandsbeschreibung des klassischen chinesischen Denkens durch Wei Zhengtong, dann handelt es sich bei dem chinesischen Philosophen um einen der Praxis zugewandten Denker; er ist halb moralischer Erzieher und halb gesellschaftlicher Reformer. Sein Bild ließe sich folgendermaßen skizzieren: • Charakteristisch für ihn ist vor allem seine literarische Bildung, die im Studium und in der praktischen Anwendung der klassischen Texte unter der Leitung eines oder mehrerer Lehrer besteht. Sein Reflexions- und Tätigkeitsbereich umfasst die Ausbildung der moralischen Persönlichkeit (neisheng oder innere »Weisheit«) und zugleich die Herstellung oder Erhaltung der guten sozialpolitischen Ordnung (waiwang, wörtlich: das äußere »Königtum«). • Wenn er schreibt, was nicht unbedingt nötig ist, so bestehen seine »philosophisch« inspirierten Texte traditionell in Kommentaren zu den Klassikern, in Briefen an Kollegen oder in Gesprächswiedergaben, die ein Schüler aufgezeichnet hat, selten in argumentierenden und zusammenhängenden Diskursen. • Sein Tätigkeitsfeld ist, eng gefasst, das Studium der Klassiker (jingxue), der konfuzianischen Texte, und, später, des neokonfuzianischen Denkens (lixue). Er verfasst Kommentare und Textuntersuchungen und erstellt darüber hinaus Lokalmonographien. • Daneben ist er oftmals ein Dichter, Kalligraph oder auch ein Tuschemaler. • Sein Ich-Ideal unterscheidet sich, um die oberen Punkte zusammenzufassen, von demjenigen des westlichen Philosophen. Daraus erklärt sich die nicht aufzuhebende Differenz zwischen der westlichen und der chinesischen Philosophie. 85

Wei 1981: 28.

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

Der chinesische Gelehrte klassischer Prägung versteht sein Leben als einen Auftrag: Er lebt nicht, um zu philosophieren, sondern er philosophiert, um zu leben, das heißt um den ihm vom »Himmel« (tian) gegebenen Auftrag erfüllen zu können. Er ist ein Weiser (shengren). • Ein »Weiser« ist jener, der zunächst an sich selbst und dann an den anderen das zivilisatorische Ideal, das er aus dem Studium der klassischen Texte und durch seine Lehrer bezog, entwickelt. • Dieses Weisheitsideal soll den vollkommenen Menschen aber nicht von seiner eigenen Gemeinschaft isolieren. Vielmehr soll es ihn dazu befähigen, auf die Anforderungen der Welt spontan zu reagieren: Die gute und schöne Ordnung (li) ist durch sein Wirken in der Welt zu aktualisieren. Der Weise ist in der Lage, zur ethischen Wandlung des Universums beizutragen. • Dabei handelt es sich weniger um ein Wissen um konkrete Inhalte als um ein Wissen, das die richtige Methode, den angemessenen Weg zum Gegenstand hat. Die »Erforschung der Dinge« (ge wu), zu der bereits die Große Lehre (daxue), einer der konfuzianischen Klassiker, auffordert, hat die praktische Kompetenz zum Ziel. Diese ist zwar an den in den klassischen Werken verzeichneten Prinzipien und Präzedenzfällen orientiert, wird aber – und das ist wichtig – durch Selbst- und Weltbeobachtung weiterentwickelt. • Dieses ethische »Fachwissen« erwirbt der Mensch durch unaufhörliches Bemühen (gongfu) unter der Anleitung eines Lehrers. Das Wissen ist ein erlebtes und praktiziertes Wissen. »Menschlich zu sein muss von einem selbst ji ausgehen«, so heißt es in der Übersetzung der Textstelle 12.1 der Gespräche (lunyu) des Konfuzius durch Heiner Roetz (geb. 1950). Ihr ist zu entnehmen, dass es im Konfuzianismus nicht nur um ein »moralisches Leben«, sondern vielmehr um das Menschsein an sich geht. 86 Man könnte diese Stelle auch mit »ein moralisches Leben ist etwas, das aus dem Selbst kommt« übersetzen. Welcher Überset86

Roetz 1992: 258.

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Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie

zung wir auch immer folgen wollen – es geht deutlich aus der zitierten Textstelle hervor, dass nach konfuzianischer Sicht das Selbst seine Würde daraus bezieht, dass es dem rechten Weg folgt. In der Textstelle 15.21 der Gespräche ist zu lesen: »Der Meister sagte: Ein Edler sucht bei sich selbst, ein Gemeiner sucht bei anderen«. Von Roetz wurde hier »junzi« als »Edler« übersetzt und dem Gemeinen gegenübergestellt, der aus sich selbst heraus nicht dem Weg des Menschseins folgen kann. 87 »Junzi« mit dem Terminus »integre Persönlichkeit« ins Deutsche zu übertragen, wäre ebenso gerechtfertigt. * * * Zhang Dainian (1909–2004) postulierte als das Hauptmerkmal chinesischer Philosophie die »Einheit zwischen Wissen und Handeln« (he zhi xing), die er folgendermaßen definierte: Ausgehend von einer gründlichen Untersuchung der gesamten Erfahrungen an Körper und Geist zu einem umfassenden Verständnis gelangen; wenn man das umfassende Verständnis erlangt hat, wiederum die Erfahrung in die Praxis umsetzen. 88

Daraus erschließt sich ein Begriff von Wahrheit, der sich allein im Lebensvollzug bewährt. Philosophie ist Politiktheorie (zhengzhi lun), »Selbstkultivierungstheorie« (xiuyang lun), Welttheorie (yuzhou lun), »Menschenlebentheorie« (rensheng lun) und Erkenntnistheorie (zhizhi lun). Zhang Dainians Darstellung nach ist es das Ziel chinesischer Philosophen, durch das Streben nach Wahrheit • »im Leben Reformen zu bewirken und Gutes zu tun« (qian shan). Folgt man Zhang Dainian, dann streben chinesische Philosophen danach • »die Einheit zwischen Himmel / Natur und Mensch« (yi tian ren) und

87 88

Roetz 1992: 266. Zhang 1982: 5.

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

• »die Übereinstimmung von Wahrheit und Tugendhaftigkeit« (tong zhen shan) zu erreichen. Sie betonen dabei • »das menschliche Leben und nicht die Theorie« (zhong liaowu er bu zhong lunzheng), • »die Unabhängigkeit der Philosophie von Wissenschaft und auch von Religion« (fei yifu kexue yi bu yifu zongjiao). 89 Mit seiner Auffassung, dass die chinesische Philosophie weder Wissenschaft noch Religion, aber eine gelebte Lebenswissenschaft sei, bezieht Zhang Dainian eine ganz eigene Position zwischen der Wissenschaftsgläubigkeit Hu Shis und der Empirie Wei Zhengtongs. Um das von ihm angeführte Bild der »menschenbezogenen« chinesischen Philosophie abzurunden, sei nochmals Feng Youlan angeführt. Der letzte Satz aus der nachfolgend zitierten Textstelle seines Buchs The Spirit of Chinese Philosophy, erschienen in London 1947, entstammt der klassischen Schrift Maß und Mitte (zhongyong), die ihren eigentlichen Einfluss erst nach der neokonfuzianischen Renaissance in der Song-Zeit (960–1279) entfaltete. In der ältesten Überlieferung bildet sie eine abgeschlossene Einheit innerhalb des Buchs der Riten (liji). Der ältere Textbestand wird als das ursprüngliche Werk eines Enkels des Konfuzius betrachtet, der jüngere Teil wird auf die Frühzeit des chinesischen Kaiserreichs, also auf das 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung datiert. Die Textstelle lautet: Kennzeichnend für sie (die chinesische Philosophie, Anmerkung des Verfassers) ist das Streben nach einer bestimmten Art des höchsten Lebens. Doch dieses höchste Leben ist nicht vom alltäglichen Vollzug der zwischenmenschlichen Beziehungen loszulösen. Deshalb ist es zugleich von dieser Welt und von der anderen Welt, und wir behaupten, dass es »nach der höchsten Stufe des Erhabenen trachtet, während es zugleich den ›Rechten Weg‹ im Bewahren der Mitte und im Alltäglichen erblickt.«

* * * 89

Zhang 1982: 5–9.

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Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie

Chinesisches Denken – chinesische Philosophie II: Durch die Ausführungen Zhang Dainians kommt der Mensch als Lebe-Wesen, das zur Wahrheit befähigt ist, in den Blick. Allein im Lebensvollzug wird Wahrheit wahr. Indem der Mensch, der kein homo theoreticus, sondern ein Lebens-Praktiker ist, sich selbst kultiviert, überwindet er das biologische Substrat in ihm, das in Form von Instinkten und irrationalen Kräften das Gemeinschaftsleben an seiner freien Entfaltung hindert und einer umfassenden staatlichen Ordnung im Wege steht. In diesem Zusammenhang ließe sich von einer Form der Biopolitik sprechen, deren wesentliches Merkmal darin besteht, den Gegensatz von Kultur und Natur hinter sich gelassen zu haben. Unter ihren Bedingungen soll im heutigen China das gesamte physische Leben des Menschen reguliert werden. Es geht um die Existenz des Menschen, die nun, in einer Pervertierung der holistischen Sichtweise des traditionellen chinesischen Denkens, in die Fänge des totalen Überwachungsstaats überführt wird. In ihrer neuesten Ausprägung vereint die Biopolitik chinesischer Prägung totale Überwachung und totale Selbstorganisation miteinander. Das Sozialkreditsystem, von dem hier die Rede ist, wird interessanterweise gerade von der Schicht begrüßt, die nach einer bisher gültigen Politiktheorie die Stütze von Demokratisierung und Liberalisierung ist: der wohlhabenden Mittelschicht. Frage: Weshalb ist es trotz einer Grundhaltung, der zufolge die Praxis höher als die Erkenntnis, das Menschsein wichtiger als die Gelehrsamkeit und die Arbeit mit Begriffen als nicht zielführend einzustufen ist, dann doch für chinesische Denker wichtig, nach den Regeln einer bestimmten, aus dem Westen übernommenen akademischen Disziplin zu denken, das heißt zu philosophieren? Weshalb nicht einfach nur sinnen, meditieren, Essays, Gedichte verfassen, ohne dabei etwas hervorbringen zu wollen, das »chinesische Philosophie« ist und in einen Dialog mit Kant, Heidegger, Derrida usw. treten kann? Antwort: Weil seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die chinesische Geisteswelt der eine Gedanke bestimmt, wie die chinesische Kultur angesichts der Herausforderungen durch die westliche Moderne zu einer eigenen Identität finden kann. Es geht 153 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

um das eine China, das für die chinesischen Denker, die sich der Philosophie verschrieben haben, mehr als nur ein beliebiges Staatswesen ist. Gerade weil das »Land der Mitte« (zhongguo) ein Land mit einer leeren Mitte ist, versuchen sie die Idee dieses Landes, dessen ethnische, religiöse, sprachliche und kulturelle Vielfalt mit niemals wirklich aufgelösten Spannungen verbunden ist, in der Begegnung der Kulturen zu retten, zu verwerfen oder auch auf den Begriff zu bringen. Die Brisanz dieses Unterfangens lässt sich an der Person Wang Guoweis (1877–1927) ersehen. Nach einer Ausbildung, die ihn zu einem chinesischen Gelehrten im klassischen Sinne befähigte, befasste er sich intensiv mit Nietzsche, Kant und Schopenhauer, ließ dann aber schon bald wieder von der Philosophie ab. Nach 1907 wandte er sich dem Studium des chinesischen Theaters, insbesondere des Yuan-Dramas, und der Ci-Dichtung zu. Die Philosophie war für ihn damit erledigt. In den letzten Jahren der Qing-Dynastie (1644–1911) war Wang Guowei als ein leidenschaftlicher Reformer aufgetreten und akzeptierte, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung, die Abschaffung der Monarchie. Gleichzeitig konnte er sich aber nicht damit abfinden, dass mit dem Systemwechsel der Verfall der geistigen Bildung, der »Sitten« einherging. Als er 1927 in einem See des Sommerpalastes (yiheyuan), Peking, den Freitod suchte und auch fand, geschah das, wie er selbst überlieferte, aus Treue zu einer jahrtausendealten Epoche, in der er beheimatet war, und damit auch aus Treue zu sich selbst. Tragik. Ausgehend von dem Schicksal Wang Guoweis, einem der Pioniere der chinesischen Philosophie, lässt sich feststellen, dass ihr ein tragischer Grundzug innewohnt, obgleich von der chinesischen Kultur immer wieder behauptet wird, dass sie die Konzeption des Tragischen im griechischen Sinne nicht kenne. Die chinesische Philosophie befindet sich in ihrer heutigen Form in einer Zwischenposition. Tragisch an ihr ist, dass sie geschichtlich im Spannungsfeld zwischen der Treue zur eigenen Tradition auf der einen und dem Verrat an ihr auf der anderen Seite angesiedelt ist, dies aber aufgrund eines bestimmten Öffentlichkeitsbegriffs nicht thematisieren darf. Die drei Grundkategorien der 154 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie

Demokratie – die Repräsentanz der Wähler durch gewählte Vertreter, die Identität von Regierenden und Regierten und die Souveränität des Volkes – existieren allesamt nicht. Da mittlerweile wieder die Identität von Regierenden und Regierten zur Identifikation zwischen Parteiführer und Volk geworden ist, ist nur mehr das zulässig, was der Repräsentation eines allmächtigen Staatswesens und einer allmächtigen Partei in der Person eines allmächtigen Staats-/ Parteiführers dient. Dem Widerspruch, der sich zu der aktuellen Repräsentationspolitik auftun könnte, wird durch eine dauernde mediale Aufführung des ewig Chinesischen durch die staatlichen Rundfunk- und Fernsehstationen oder durch dessen Verfügbarmachung im Netz vorgebeugt. Für ein vertieftes Verständnis der Bedeutung des »Chinesischen« für das chinesische Denken im Allgemeinen und der Philosophie im Besonderen sei der Aufsatz des an der Akademie für Sozialwissenschaften in Beijing (beijing sheke xueyuan) lehrenden Zheng Jiadong aus dem Jahr 1995 zitiert. Er trägt den Titel: »Heraus aus dem Abgrund des Nihilismus. Zur Differenz zwischen traditioneller chinesischer Philosophie und der westlichen Postmoderne«. 90 Zheng merkt kritisch in Bezug auf die postmoderne westliche Philosophie an, dass in ihr »die sprachlichen Begriffe nicht mehr auf eine Vorstellung der Welt bezogen sind, sondern überhaupt keine Außenwelt mehr vorstellen, genauso wenig wie eine subjektive Welt«. Im Gegensatz dazu bestätigt er der chinesischen Philosophie, dass sie »eine mit beiden Beinen auf dem Boden stehende Alltags- und Lebensweisheit« verkörpere, »aus der heraus sich eine Art rationaler Idealismus« (lixing de lixiang zhuyi) entfalten konnte«. Am Ende seines Aufsatzes bringt er zum Ausdruck, dass es an der Zeit sei, die »Weisheit des mittleren Wegs« und den »Geist des rationalen Idealismus der chinesischen Philosophie« für die Entwicklung einer »künftigen Menschheitskultur« nutzbar zu machen. * * *

90

Zheng 1995: Nachfolgende Zitate: 118.

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

Von der pastoralen Macht chinesischen Denkens in der Vergangenheit zum Polizei-Wissen in der Gegenwart: Die Wende hat sich in einem politischen Kontext abgespielt, der komplexer geworden ist, sich ausgedehnt und zugleich verzerrt hat. Es scheint, dass das gesamte politische Vokabular, das die Politik des 20. Jahrhunderts formte, im 21. Jahrhundert seine Anziehungskraft verloren hat und zerbrochen ist. Welche Folgen in China die Erweiterung des politischen Horizonts um die Elemente der Biopolitik haben wird, zeigt sich immer klarer. Es deutet sich an, dass dem harten Kern aus Willen und Vernunft, der der juristischen Person zugeschrieben wird und der das Wesensmerkmal des politischen Subjekts darstellt, zunehmend seine Gültigkeit mit dem Verweis auf das Leben des chinesischen Volkes abgesprochen wird. Bereits jetzt ist zu bemerken, dass schubweise die Grenze zwischen Biologischem und Politischem verschwindet, darüber hinaus werden menschliches Leben und Technologie mehr und mehr miteinander verbunden. Gentechnische Manipulationen stoßen in China auf der politischen Ebene auf keinen Widerstand, sie sind Bestandteil des wissenschaftlichen Sozialismus. Dem geplanten flächendeckenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Überwachungstechnik im Alltag ist die biopolitische Tendenz eingeschrieben, die menschliche Natur zu regieren und sie schließlich zugunsten der staatlichen Ordnung zu überwinden. Die chinesische Biopolitik ist eine Identitätspolitik, indem sie Natur und Kultur miteinander vereint. Kurzum, die ethnische Differenz, die im Einzelfall der gentechnischen Verbesserung bedarf, und, mit ihr, das »Chinesische« hat an Bedeutung gewonnen. Die alten europäischen Kategorien, die die Diskussion im China des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts bestimmten, haben für sie das Feld geräumt. * * * Das größte Hindernis für die Beschäftigung mit »chinesischer Philosophie« stellen die unhistorischen Verallgemeinerungen dar, mit denen das »Chinesische« an der »Philosophie« erklärt wird. Das Denken in Rastern hat aus der chinesischen Kultur ein geschlossenes System werden lassen, das mittlerweile nicht mehr 156 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

Der Anspruch traditioneller chinesischer Philosophie

dem offenen Diskurs zugänglich ist. Unliebsamen Geisteswissenschaftlern, die sich nicht an die regierungsamtlich gesetzten Spielregeln handeln, wird ganz einfach die Einreise nach China verwehrt. Ende des Philosophierens. Der Kontakt ist aufgekündigt. Bücher und Aufsätze mit unliebsamen Inhalten werden aus dem Kreis des Lesbaren verbannt. Welche Vermessenheit! Denn die Wege des modernen Denkens, und ebenso der Philosophie, sind äußerst verschlungen und komplex. Sie eignen sich kaum für die Reduktion auf wenige Schlagworte, da sie sich in einem Mit-, Neben- und Gegeneinander von Traditionen und Sprachen vorfinden. Dennoch ist in China die Philosophie mittlerweile zu einem Spielfeld der feinen Unterschiede geworden, das mit Ansprüchen verschiedenster Art bepackt und auch überfrachtet wird. Mit Identitätsformeln wie der des »Chinesischen« werden auf ihm Glücksansprüche und Hoffnungen ausgetragen, die sich der menschlichen Kompetenz als »self-interpreting animals« verdanken, mit allem, was sie tun und machen, Sinndeutungen zu verbinden. China will seinen Intellektuellen Patriotismus einimpfen. Für die Machthaber ist klar: die Liebe für China bedeutet auch die Liebe für die Partei. Den lachenden Gesichtern in der Serie riesiger Porträts »Der zweite Zustand« Geng Jianyis und der Performance »Shout to Lu Xun« Liu Fenghuas ist anzusehen, dass der Protest gegen diese Vereinnahmung nicht mehr nur geistig stattfindet, sondern körperliche Reaktionen hervorruft. Das Lachen und die Performance wirken eine Spur zu überdreht. Es werden Grenzen überschritten, die eigentlich nicht überschritten werden dürfen: die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre und die Grenze zwischen Gesetz und persönlichsten Gefühlen. Verlust der Kontrolle. Die Werke Geng Jianyis und Liu Fenghuas verdeutlichen, wie selbst die stärksten Schutzdämme, die eine Kultur zieht, angesichts der Lebens-Wahrheit brechen können. Das Leben, das eigentlich gefügig gemacht werden soll, meldet sich ungebändigt zu Wort. * * *

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Chinesisches Denken, chinesische Philosophie

Die chinesische Philosophie wurde seit der Jahrtausendwende zunächst ganz langsam, dann aber mit zunehmendem Tempo zu einem Instrument der Identitätspolitik. Es ist bedauerlich, dass an diesem Prozess nicht allzu wenige westliche Philosophen und Sinologen mitgewirkt haben. Meine Meinung ist, dass der chinesischen Philosophie die ihr von allen Seiten auferlegte Pflicht, »chinesisch« zu sein, ab- und nicht zuträglich ist. Philosophie ist nichts Vorhandenes, wie es uns heute Vertreter der »chinesischen Philosophie« nahelegen wollen. Vielmehr ist sie ein Prozess, der geschieht, sich ausprägt, aber sich auch immer wieder entzieht. Siehe meine Ausführungen zu »Ich. Verlust der Kontrolle« und zu »Ich. Entfremdung«. Die Bestimmung des Allgemeinen, des Begriffs und des Wesens bestimmter Formen des Denkens im Sinne eines bleibenden Was ist weder möglich noch nötig, da sie zu einer plakativen und übertrieben kontrastiven Gegenüberstellung von Kulturen führt und den Blick auf deren innere Komplexität verstellt. Innerhalb der Kulturen finden sich fließende Übergänge unterschiedlicher Wertvorstelllungen, Sprachen und Religionen, sie sind keineswegs homogen.

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Schluss

Das Bild der Elfenbeinkugel, das ich gleich in der Einführung des vorliegenden Buches zitiere, habe ich dem Dichter Yang Lian zu verdanken. Die Elfenbeinkugel gibt mit ihrem beweglichen und, trotz der Geschlossenheit, auf Transparenz angelegten Innenleben immer wieder unterschiedliche Ansichten frei. Sie eröffnet bei jeder Drehung einer der Kugeln, die sich in ihrem Inneren befinden, neue Perspektiven, die sich wiederum mit denen der darunter oder darüber liegenden Kugeln brechen. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit, die sich in stetem Wandel befindet, dient mir die Elfenbeinkugel zur Vergegenständlichung meiner Einsicht, dass das chinesische Denken komplexer und deswegen auch schwerer fassbar ist, als es der Gedanke des »nationalen Lernens« (guoxue) vermuten lässt. Aus dem Spiel der Elfenbeinkugel erschließt sich eine andere Ordnung, die sich schlecht mit dem gegenwärtigen Ernst des politischen Utilitarismus und Reformismus, der Denkart des Manchestertums verträgt. Die Exemplare der Elfenbeinkugel, die ich für meine Reflexionen als Anschauungsmaterial herangezogen habe, entstammen dem Band Chinese Arts and Crafts, der in der Endphase der Kulturrevolution (1966–1976) gedruckt wurde. 91 Mir ging er auf dem Umweg über die ehemalige DDR zu. In dem leinengebundenen, großformatigen Band zum chinesischen Kunsthandwerk werden dem Betrachter Artefakte aus den Bereichen »Skulptur und Schnitzerei«, »Keramik und Porzellan«, »Textilien, Stickerei und Spitzen«, »Cloisonné und Metallarbeiten«, »Flechtwerk« und »Anderes« präsentiert. Die Elfenbeinkugeln sind auf den Abbildungen 1 und 5 zu sehen und werden von einer filigranen Landschaft aus geschnitztem Elfenbein mit dem Titel »Train from Peking« und einem »Pleasure boat«, das aus dem gleichen Material 91

Chinese Arts and Crafts 1973.

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Schluss

gefertigt ist, flankiert. Bei genauerem Hinsehen fällt die feine, höchst kunstvolle Arbeit der Elfenbeinkugeln auf. Als Wunderwerk der Handwerkskunst transzendieren sie die Materialität des Elfenbeins, bewahren diese aber auch in ihrem weichen Glanz. Im Tempel Guangxiao si, Guangzhou (Kanton) sah der Verfasser im März 2005 eine Elfenbeinkugel mit 36 Schichten. Kugeln mit einer Vielzahl von Schichten, die ineinander beweglich sind, lassen erstaunen, gerade weil es sich bei ihnen um Gegenstände handelt, die trotz ihrer Perfektion keinen anderen Zweck als den des reinen Spiels, des vergnüglichen Umgangs mit dem Zweckfrei-Schönen haben. An ihnen erschließt sich aufgrund des verschwenderischen Umgangs mit der technischen Fertigkeit des Menschen, die den höchst kunstvollen Gegenstand der Elfenbeinkugel hervorgebracht hat, eine andere Ordnung. Die Elfenbeinkugeln beeindrucken aufgrund ihres grandiosen Spielcharakters, der interessanterweise in den Jahren der Kulturrevolution noch einmal im Zentrum der Macht seine Blüten treiben konnte, aber in den Zeiten des politischen Utilitarismus, Reformismus und des Manchestertums in kulturelle Randbereiche abgedrängt worden ist. * * * Weil der Mensch in der Gegenwart sich so sehr für das direkte Verhältnis zur Welt, für das Habenwollen, für den Begriff, für den Gewinn und gegen den Verlust entschieden hat, wohnt dem anschauenden Sein-Lassen und der Fähigkeit zu sehen, was einfach geschieht, wie es für den spielerischen Umgang mit der Elfenbeinkugel charakteristisch ist, ein wahrer Affront inne. Denn ihr Spielcharakter lässt sich in Übereinstimmung mit dem traditionellen chinesischen Denken auch dahingehend auslegen, dass das menschliche Leben nur so lange wirklich sein kann, als es in einem begrifflich unverfügbaren Sein ruht, für das die Metapher des Spiels steht. Kommt das Spiel zum Erliegen, sei es durch Geringschätzung oder durch Missachtung der Regeln, dann verkommt das Leben zu einer wahnhaften Unwirklichkeit und zu einem Spiel, dem der Charakter des Vorgetäuschten und Unwahren anhaftet. Im Gegensatz dazu darf das Spiel im wahr160 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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haften Sinne als Garant für einen unverstellten Wirklichkeitsbezug gelten. Vielleicht schnitzt im Falle der Elfenbeinkugel, so ließe sich überlegen, der Elfenbeinschnitzer als wahrhaft Praktizierender des freien Spiels nur zu seiner eigenen Ehre und der seiner jahrhundertealten Zunft? Wie anzumerken ist, sind Elfenbeinschnitzereien bereits aus dem zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung bekannt. Denkt der Schnitzer nicht, wenn er Schicht für Schicht die ineinander drehbaren Kugeln aus der Materialität des Elfenbeins herausarbeitet, in bester daoistischer Manier an die schöpferische Mitte, die inmitten jedweden Geschehens und so auch der Kunst als paradigmatischer Vergegenwärtigung der Schöpferkraft des Dao gegenwärtig ist? Ist die Kunst nicht sich selbst genüge und mit ihr der Mensch, der schöpferisch tätig ist? * * * Die Aufmerksamkeit wird im Falle der Elfenbeinkugel nicht in eine bestimmte Richtung gedrängt. Sie wird nur in eine ungewöhnliche Haltung versetzt. Dem Gegenstand der Elfenbeinkugel kommt die Aufgabe zu, die Aufmerksamkeit zu konzentrieren, sie von allen Ablenkungen freizuhalten und auf diese Weise die Leere der Seele zu erreichen. Um die ganze übrige Welt auszuschalten, ist der Gegenstand reines Mittel. Der Grund dafür ist klar: Durch die Anschauung und das Versunkensein in ihn kommt ein Augenblick, da der Gegenstand aufhört, etwas der Seele Äußerliches darzustellen. Das heißt, er hört auf, objectum zu sein, und wird zum injectum, wodurch der Lebenskern in ein anderes Sein und eine andere Sphäre verlegt wird. Der Drang, außer sich und in einem anderen zu sein, äußert sich auf verschiedene Weise: in der Mystik, der Liebe, dem Gebet, der Meditation, dem Patriotismus, um nur einige wenige Formen zu nennen. Mit Hilfe der Elfenbeinkugel versinkt der Betrachter in einen magischen Ring der Reflexionen, die sich dem Geist nicht als objektive Aufgaben, sondern in dynamischer Übung stellen. Es geht um die Vernetzung aller Dinge in der Einheit des Seins. Elfenbeinkugel und chinesisches Denken spiegeln sich ineinander – nicht aber Elfenbeinkugel und chinesische Philosophie. Denn 161 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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letztere, die chinesische Philosophie, lebt nicht aus einem überzeitlichen Sinn- und Deutungsschema, wie das chinesische Denken. Sie muss sich, wie ihre Entwicklungsgeschichte im Rahmen der chinesischen Modernisierungsbewegung verdeutlicht, in der Spannung zwischen Tradition und fordernder Gegenwart bewähren. Sie stellt das Korrektiv einer unbefriedigten Aufklärung dar und findet nur als solches ihre Bestimmung. Für mich gilt: Die Wissenschaft einschließlich der Philosophie ist ihrer Wesensart nach auf den Wettstreit der Meinungen angelegt. In Epochen, in denen große neue Dinge aufkommen, tritt der agonale Faktor meistens stark in den Vordergrund. Man ist Cartesianer oder man ist gegen das System, man nimmt Partei für die »Anciens« oder für die »Modernes«, man ist, bis weit außerhalb der gelehrten Kreise sogar, für oder gegen Newton (1643–1727), für oder gegen das Spiel der Differenzen, den Ethnozentrismus, Phonozentrismus, Logozentrismus, Phallogozentrismus usw. Wie kann es da sein, dass sich chinesische Philosophie allein dadurch definiert, dass sie Staatsphilosophie im Geiste des Konfuzianismus, der Kommunistischen Partei Chinas ist und die Lehren des jeweils amtierenden Parteiführers und Staatspräsidenten vertritt? Auf den ersten Blick war das Verhältnis der Chinesen zu ihren Nachbarn stets geprägt von Abwehr und Verteidigung. Im Idealfall war China stark, und die Völker jenseits der Grenzen des eigenen Kulturraums waren tributpflichtig; im schlimmsten Fall wurde China vollständig unterworfen, rettete jedoch die eigene kulturelle Identität, indem es die Eroberer assimilierte. Das Weltbild, das sich aufgrund dieser Umstände entwickelte, fand seinen symbolischen Ausdruck in der Großen Mauer. Diesseits der Mauer befand sich das »Reich der Mitte«, außerhalb, an der Peripherie, lebten die Tributvölker; und jenseits von diesen lagen die übrigen Länder, mit denen man nicht unmittelbar zu tun hatte. Abschottung, nicht Annäherung war das Grundprinzip der Überlebensstrategie. Auf den zweiten Blick jedoch zeigt sich, dass sich die chinesische Kultur von jeher durch eine Beweglichkeit auszeichnet, mit der sie fremde Einflüsse in sich aufzunehmen vermag. Offensichtlich betrifft die Kultur im Falle Chinas gar keine Ansammlung essentialistischer, sich nach außen abgrenzender Posi162 https://doi.org/10.5771/9783495820636 .

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tionen, sondern eine gleichsam unorthodoxe Beweglichkeit, die potentiell alles einschließt, auch das, was außerhalb der Chinesischen Mauern liegt.

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