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German Pages 279 [280] Year 1947
Charles-Augustin Sainte-Beuve Kritiker und Humanist
Von
HEINRICH DEITERS
B E R L I N 1947 W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, VerlagsBuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp.
Archiv Nr. 346947 Gedruckt im Druckhaus Tempelhof, Berlin
Vorwort Der Kritiker ist der Repräsentant des Publikums in seinen Beziehungen zur Kunst und, wie hier, im besonderen zur Literatur. Wenn seine Arbeiten durch ihren Gehalt und ihre künstlerische Form über den Tag hinaus Dauer bewahren, so kann er auch Nachgekommenen helfen, den Zugang zu einer Literatur zu finden. Das ist bei Sainte-Beuve in vollem Maße der Fall. Er vermag uns auch heute noch eine vertraute Bekanntschaft mit der gesamten Entwicklung der französischen Literatur zu vermitteln, von der Renaissance bis auf seine eigene Zeit. Wir erfahren aus seinen Porträts und Kritiken zugleich die Art der Beziehungen, die zwischen dem französischen Volke und seiner Literatur bestehen. Sie sind sehr eng, gewissermaßen freundschaftlich. Die Literatur ist in Frankreich eine zugleich persönliche und öffentliche Angelegenheit. Der Kritiker schaut bei seiner Arbeit zurück und, indem er die Beurteilung durch die Folgenden zu bestimmen sucht, in die Zukunft. So bringt Sainte-Beuve die Kraft des inneren Zusammenhanges, die Kontinuität in der Geschichte der französischen Literatur zum Ausdruck. Und wie er selber auch als Person unter den Schaffenden steht, so deckt, er den Folgenden die zahlreichen persönlichen Beziehungen auf, die von Generation zu Generation unter den französischen Schriftstellern bestehen. Sie bilden, in Verhältnissen der Anziehung und Abstoßung, eine große Kameradschaft,' fast eine Familie. Auf diese Weise stellt sich uns in dem Werk Sainte-Beuves die französische Literatur in ihren menschlichen Ursprüngen und Wirkungen dar. Sie zeigt sich uns aber auch in einem höheren Sinne des Wortes als Ausdruck und Werk der Menschlichkeit. Immer wird die Idee der Humanität in ihr festgehalten, als selbstverständliche Voraussetzung alles sprachlichen Gestaltens. Von ihr ausgehend nimmt die Literatur Stellung zu den sozialen Zuständen und Veränderungen, denen sie Ausdruck verleiht und die sie zu gestalten hilft. Wir spüren und erfassen in Sainte-Beuves Schriften die Wirkung, die von der schönen Literatur auf die Beziehungen der Menschen, ihr Zusammenleben ausgeht, und zwar nicht nur soweit sie Schriftsteller sind. Der Schriftsteller und der Staatsmann gehen in Frankreich besonders häufig eine Verbindung III
ein. Deshalb vermag die Literatur dort auch auf das öffentliche Leben einen humanisierenden Einfluß auszuüben. Dies alles erleben wir bei den Studien Sainte-Beuves in ständigem Vergleich mit unseren deutschen Zuständen. Unsere nationale Literatur zeigt sich regional zersplittert und ohne geographischen Mittelpunkt, die persönlichen Beziehungen zwischen den Schaffenden sind selten und vorübergehend, und die Literatur im ganzen hat immer nur sporadisch auf das öffentliche Leben in Deutschland gewirkt. Es fehlt bei uns auf allen Gebieten an dem engen sozialen Kontakt, dem eigentlichen Element auch des geis'tigen Produzierens. Dieser organische Mangel wirkte sich besonders grauenhaft in den Jahren aus, als das Manuskript der vorliegenden Arbeit entstand, aber er ist so alt wie unsere Geschichte und auch noch keineswegs überwunden. Aus dem Erleben jener Zeit stammt auch die Sympathie mit dem leidenden Sainte-Beuve, der sein literarisches Werk in einer Epoche gescheiterter und betrogener Revolutionen zu leisten hatte, in den Nebeln eines mystifikatorischen Diktatursystems, als Abkömmling und Angehöriger des Mittelstandes zwischen den kämpfenden Klassen hin- und hergezogen. Heute sind wir glücklicher dran und sehen mit Zuversicht auf den sozialen Prozeß, in dem wir stehen. Jeder, der es will, vermag sich Klarheit über die Prinzipien zu verschaffen, die künftig für unser öffentliches Leben gelten, jeder geistig Schaffende kann die Verbindung mit den werktätigen Massen aufnehmen und festhalten. Sainte-Beuves Leben stellt eine Stufe in dem Kampf des großen Kritikers, als eines sozialen Typus, um seine Stellung in den sozialen Auseinandersetzungen dar. Nach ihm sind andere dem Siege nähergekommen, wie Zola, Anatole France, Rolland, Gorki, Heinrich und Thomas Mann. Die Geschichte der literarischen Kritik und ihrer Vertreter in den letzten Jahrhunderten und bis zur Gegenwart hin bleibt noch zu schreiben. Die reiche Literatur über Sainte-Beuve ist stark von Kontroversen durchzogen. In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch gemacht, die Grundgedanken seiner Ästhetik und seiner Sozialphilosophie weiter aufzuhellen und eingehend nach ihren Zusammenhängen darzustellen. Sie ist in den Jahren 1938 bis 1942 in Berlin entstanden und wird nun, abgesehen von unbedeutenden stilistischen Änderungen, so veröffentlicht, wie sie damals abgeschlossen wurde. Welche inneren und äußeren Hindernisse von dem Beginn bis hierher zu überwinden waren, mag sich jeder selbst vergegenwärtigen. Ich darf das Werk deshalb nicht hinausgehen lassen ohne ein Wort des Dankes an alle, die mir mit ihrem Glauben an die Zukunft und mit tatkräftiger Hilfe beigestanden haben. Berlin, im Dezember 1946 IV
Inhalt Erster Teil: Das kritische Werk Einleitung 1. Das Jugendwerk. — Die Bildnisse Die literarischen Bildnisse: Boileau — Corneille — Racine — Molière — La Bruyère — Bayle — Diderot — La Fayette — De Maistre . . . Die Frauenbildnisse: Frau von Sévigné — La Rochefoucauld Frau von La Fayette •— Frau von Longueville — Frau Roland — Frau von Staël Die zeitgenössischen Bildnisse: Chateaubriand — Lamennais — Lamartine — Victor Hugo — George Sand — Marcelline Desbordes-Valmore — Vigny — Miusset — Thiers — Fauriel —• Daunou 2. Chateaubriand3. Plaudereien am Montag Saint-Marc — Girardin — Villemain — Cousin — Commynes — Fézensac —• Napoleon I. — Saint-Simon — Rousseau — Goethe — Balzac — Condorcet — Mirabeau •— Bonald — Sieyès — Montesquieu — Franklin — Richelieu — Sully — Heinrich IV. — Franz von Sales — Fénelon — Bossuet — Stendhal — Flaubert — Taine •— Tocqueville 4. Die neue Reihe der Plaudereien Lamennais — Veuillot — Guizot — Renan — Goethe — Flaubert — Taine -— Tocqueville — Talleyrand — Jomini 5. Pxoudhon 6. Port-Roy al 7. Das kritische Werk als Ganzes
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Zweiter Teil: Lebensgang und Persönlichkeit 1. Kindheit und Jugend Herkunft der Familie — Eltern — Kindheitseindrücke — Schulzeit 2. Romantik und Julirevolution Medizinstudium — Übergang zur Literatur — Globe — Romantik — Victor und Adele Hugo — Saint-Simonismus — Lamennais — Ergebnis
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3. D i e s p ä t e r e n J a h r e d e s B ü r g e r k ö n i g t u m s L a u s a n n e u n d P o r t - R o y a l — S k e p s i s — A r t d e r i n n e r e n Entwicklung — Äußere Lage — Verhältnis zur Julimonarchie 4. D i e F e b r u a r r e v o l u t i o n u n d i h r e A u s w i r k u n g e n . . Stellung zur F e b r u a r r e v o l u t i o n — Zwischenfall — Lüttich u n d C h a t e a u b r i a n d — M i t a r b e i t a n T a g e s z e i t u n g e n —• Polit i s c h e E i n s t e l l u n g —- K r i t i k a n f r ü h e r e n F r e u n d e n — A n schluß an das zweite Kaiserreich 5. Die Zeit d e s z w e i t e n K a i s e r r e i c h s L e b e n s g e w o h n h e i t e n —• E r o t i s c h e B e z i e h u n g e n —• G r o ß s t a d t u n d V o l k — H i l f s b e r e i t s c h a f t —• r e l i g i o d e r L i t e r a t u r — L e h r ä m t e r —• R e n a n , T a i n e , V o l t a i r e — M i t g l i e d e r d e r F a m i l i e B o n a p a r t e — Die L i n k e d e s K a i s e r r e i c h s — S e n a t o r — Soz i a l i s m u s — U r t e i l ü b e r N a p o l e o n III. —• S e n a t s r e d e n — U b e r g a n g z u m T e m p s — S e n a t s b e s c h l u ß v o n 1869 — T o d und Bestattung — Eindruck in der Öffentlichkeit — Karl Hillebrands Urteil — Schluß
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Dritter Teil: Das Weltbild Einleitung
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Erster Abschnitt: Der M e n s c h 1. D a s a l l g e m e i n e Bild v o m M e n s c h e n Das achtzehnte J a h r h u n d e r t — Das Christentum — Die Moralisten — Der Fortschrittsgedanke — Die Unveränderlichkeit der N a t u r des M e n s c h e n — Stellung der M e n s c h e n z u r N a t u r — D e r e i n z e l n e u n d die U m w e l t — D«>r einz e l n e u n d d i e G e s c h i c h t e — Die F r a g e d e r W i l l e n s f r e i h e i t — A l l g e m e i n e s Bild d e r G e s c h i c h t e 2. E i n z e l n e Z ü g e Jugend und Alter — Frauenliebe — Talent und Genie — Nachruhm 3. G r u n d l i n i e n d e r E t h i k Positive Methode — Ursprung des Guten — Seine Bedeutung für die Gesamtheit — G r u n d f o r m e n der sittlichen E r f a h r u n g — Gesamtbild
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Zweiter Abschnitt: Die Gesellschaft 1. H e r k u n f t u n d E r f a h r u n g e n Soziale Stellung der Familie — Grundhaltung — Form seiner Ä u ß e r u n g e n •— E r f a h r u n g e n 2. M a c h t u n d H e r r s c h a f t N a t i o n a l g e f ü h l — Der Staatsmann — Die französische Monarchie — Napoleon — Cäsarismus 3 Revolution . . Die g r o ß e R e v o l u t i o n , P a r t e i e n , E r g e b n i s s e — J u l i - u n d F e bruarrevolution — Allgemeines Urteil über Revolutionen
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4. Recht und Gerechtigkeit Die Juristen in der französischen Geschichte — RoyerCollard — Die Restaurationszeit — Zeitlose Gültigkeit des Rechts — Positive Rechtstheorie — Das Recht der gesitteten Völker 5. Bürgertum und Proletariat Bedeutung des Bürgertums — Familie — Die Frau in der Gesellschaft — Kritik des Liberalismus — Die Julimonarchie — Verhältnis zum Volk — Gedanken zur Sozialreform — Verhältnis zu den politischen Richtungen — Gesamtbild Dritter Abschnitt: Das geistige Leben (. Die literaiische Kritik Die klassische Kritik — Umwälzungen — Freiheit vom Dogma — Richteramt — Material — Wissenschaftliche Hilfen — Beispiel 2. Die Dichtung Allgemeines Verhältnis zur Dichtung •— Kunst und Zeit — Schönheit — Wahrheit — Verhältnis zur Romantik —• Sprachstil — Klassizismus und Tradition Die Stellung der Literatur im öffentlichen Leben Moralisch-ästhetische Aufgabe -— Verhältnis des Staates zur Literatur — Verfall des literarischen Lebens — Gegenmittel — 1848 — Abendvorlesungesn — Hilfe für die Schriftsteller, Gegenakademie — Volksbüchereien, Unterrichtsfreiheit, Pressegesetz, Pressefreiheit Schlußwort Wirkung — Vergleich mit Dilthey — Urteil Nietzsches — Zurückweisung einer irrigen Kritik •—• Schwierigkeiten, ihn zu verstehen — Verdienst der französischen Forschung — Mittlertum •— Vergleich mit Goethe — Humanität — Vergleich mit Burckhardt — Schluß Bibliographische Angaben Personenverzeichnis
ERSTER
TEIL
Das kritische Werk
Einleitung Charles-Augustin Sainte-Beuve, geboren am 23. Dezember 1804 in Boulogne an der See, gestorben am 13. Oktober 1869 in Paris, ist der bedeutendste Kritiker, den die französische Literatur seiner Zeit hervorgebracht hat. 'Zahlreiche Namen, die einst neben dem seinigen Klang hatten, sind verschollen, dieser aber ist lebendig geblieben. Die liierarische Forschung in Frankreich beschäftigt sich fleißig mit ihm. Davon zeugen die zahlreichen Gesamtdarstellungen, die ihm bis in die letzten J a h r e gewidmet worden sind, die vielen Einzeluntersuchungen, Aufsätze und Vorträge und vor allem die große Gesamtausgabe seines Briefwechsels, die zur Zeit im Erscheinen begriffen ist. W e n n sie so weitergeführt wird wie bisher, so wird sie bei ihrem Abschluß zahlreiche Bände umfassen und mit ihrem gewaltigen Apparat von Anmerkungen eines der wichtigsten W e r k e für die literarische Forschung des 19. Jahrhunderts überhaupt bilden. Noch aber fehlt'eine wissenschaftliche Ausgabe seiner Schriften selbst, die uns als Grundlage eines Studiums dienen könnte. Sie aber verbürgen die Fortdauer seines Ruhmes. Fast ohne Ausnahme sind sie Schöpfungen der Gelegenheit, wie es sich für den echten Kritiker gehört. Unter den Werken, die er bespricht, sind viele vergessen, von den Menschen, deren Bild er entwirft, viele, sehr viele, zweiten und dritten Ranges. Dennoch vermögen wir seinen Bildnissen, seinen Plaudereien durch viele Bände hindurch zu folgen, ohne daß unsre Aufmerksamkeit erlahmt, ohne daß wir auf längere Zeit das Gefühl verlieren, von einem starken Strom geistigen Lebens getragen zu werden. Und wenn wir die einzelnen Gedanken und Bilder vergessen haben, dieses fesselnde Spiel eines reichen Geistes, der eine reiche Wirklichkeit spiegelt, so vertieft sich in uns immer mehr der Eindruck von dem Schriftsteller im ganzen. Daß ein Kritiker einen Bestand eigener Gedanken und persönlicher Überzeugungen braucht, um an ihnen die Gegenstände zu messen, versteht sich von selbst. Aber dabei sind sehr große Abstufungen möglich. Und im allgemeinen ist der Geist des Kritikers mehr empfangend als schaffend. W i e weit diese Beobachtung auch für Sainte-Beuve gilt, ist eine Frage, die nicht nur an die geistige, sondern mehr noch an die moralische Existenz SainteBeuves rührt, und die wir hier noch nicht beantworten können. Gewiß 3
ist aber, daß wir es in ihm im ganzen mit einem Geist von unerschöpflicher Eigenkraft zu tun haben, der sich im wesentlichen in kritischen W e r k e n ausgibt. Unter den Großen der deutschen Literatur erscheint Lessing als der eigentliche Kritiker. Er wirft sich, ohne Absichten anderer Art, in den literarischen Kampf, entscheidet über Fragen des Geschmacks und strebt nach praktischer Einwirkung auf das literarische Urteil der Nation. Als Kritiker gehört er noch der humanistischen Überlieferung an, indem er wie selbstverständlich an dem Gedanken festhält, daß die künstlerische Erzeugung sich nach klassischen Vorbildern zu richten hat, nur daß er diese besser verstehen lehrt oder ein ungeeignetes durch ein besseres ersetzt. Aber ebenso stark ist in ihm der Dichter und der theologische Kämpfer, und damit bleibt er uns lebendiger als mit seinen ästhetischen Schriften. Sainte-Beuve selbst nennt Goethe wiederholt den größten aller Kritiker. Dabei müssen wir uns erinnern, daß- seine J u g e n d in Goethes Alter fiel und daß die klassisch-romantische J u g e n d aller Länder damals in diesem den obersten literarischen Gesetzgeber und Richter verehrte. Betrachtet m a n Goethes Schaffen im ganzen, so sieht man, daß seine Kritik dem eigenen dichterischen -Werk diente, dem Durchbruch zu n e u e n künstlerischen Positionen und später ihrer Sicherung im Urteil der Welt. Dichtung und Kritik bleiben auch in der folgenden Periode in Deutschland eng verbunden, Dichter wie Otto Ludwig, Hebbel, Fontane sind auch als Kritiker auf einzelnen Gebieten vorzüglich. Aber an dem Vergleich mit ihnen wird uns deutlicher, in welchem Maße bei Sainte-Beuve die kritische Leistung alles andere überwiegt. Seine dichterische Kraft versagt, als seine erste J u g e n d vorbei, mit dreiunddreißig J a h r e n gibt er seine letzte Gedichtsammlung heraus, und auch diese ist schon schwächer als die vorhergehenden. Von seinen übrigen W e r k e n nimmt Port-Royal eine besondere Stellung ein, das aus einer Gastvorlesung an der Universität Lausanne hervorgegangen und zu einer umfassenden Darstellung der mit diesem Kloster v e r k n ü p f t e n religiösen Bewegung erweitert worden ist. Und doch w e r d e n wir bei näherer Beschäftigung sehen, daß Sainte-Beuve auch in diesem großen historischen W e r k einen kritischen Spruch fällt, zugleich über sich selbst und den Gegenstand. Auch die beiden Bände über Chateaubriand und seine literarische Gruppe unter dem Kaiserreich sind aus einer Gastvorlesung entstanden, Sainte-Beuve hielt sie an der Universität Lüttich. Aber sie beschäftigen sich mit einer Persönlichkeit, die damals erst kurze Zeit aus dem Leben geschieden war, und nirgendwo macht Sainte-Beuve von dem Recht seines literarischen Genies, zu richten, entschlossener Gebrauch als hier. Aus der Vorarbeit für Vorlesungen ist auch eine kleinere Schrift
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über Virgil hervorgegangen. A l l e übrigen Veröffentlichungen SainteBeuves sind zuerst in Monatsschriften oder Tageszeitungen erschienen und zeigen schon dadurch an, daß sie nicht nur der sachlichen Darstellung, sondern auch der Urteilsbildung dienen wollen. Die Beurteilung des literarischen Schaffens geht mit diesem von Anfang an Hand in Hand, und in diesem Sinne ist die Kritik so alt wie die Poesie selbst. A l s literarische Gattung aber setzt sie eine voll entwickelte Dichtung voraus, aus der sie ihre Maßstäbe gewinnt. V o n der Untersuchung der Poesie ausgehend zieht sie bald alle Formen der Literatur in ihren Bereich. Der erste innerhalb der abendländischen Literatur, von dem uns ein umfassendes kritisches System in besonderen W e r k e n überliefert wurde, ist Aristoteles. Er verfährt im allgemeinen so, daß er die reiche, namentlich epische und dramatische Literatur seines V o l k e s kritisch betrachtet und aus ihr, indem er grundlegende Gedanken seiner Philosophie mit einfließen läßt, allgemeine ästhetische Erkenntnisse zu gewinnen sucht. Die Literatur der Römer ist eine Nachahmung der griechischen, die der Renaissance und des modernen Klassizismus wieder eine solche der antiken überhaupt, und so verstärkt sich auch in der Ästhetik immer mehr die Vorstellung, daß es eine Reihe von vorbildlichen W e r k e n gibt, aus denen sich bei richtiger Einsicht in die Zwecke der Kunst allgemeine und unveränderliche Regeln für das literarische Schaffen ableiten lassen. Im Zeitalter des Klassizismus wird die Kritik aller europäischen Länder von dieser Grundauffassung bestimmt. Sie kann nicht völlig falsch sein, w e i l ohne sie eine literarische Beurteilung überhaupt nicht möglich wäre und jede Vorstellung von dem geschichtlichen Zusammenhang der abendländischen Kultur verlorenginge. A b e r w o liegen ihre Grenzen? Das ist die Frage, mit der sich auch Sainte-Beuve immer wieder beschäftigt. W a s ist ein Klassiker? In welchem Sinne soll man die Tradition in der Literatur pflegen? Das sind im Kern nur andere Fassungen des gleichen Problems. Herrscht diese Vorstellung von der Kritik als Gesetzgeberin aber, so drängt sich das einzelne Werk, selbst die einzelne Stelle, in den Vordergrund, und alles, was sie erst begreiflich macht, die Reihe der W e r k e , die Person des Dichters, Zeit und Raum, in die er gestellt ist, bleiben im Dunkel. Schon der erste Blick in Sainte-Beuves Schriften zeigt uns jedoch das entgegengesetzte Bild. Zwanzig Jahre hindurch veröffentlicht er Bildnisse, und weitere zwanzig hindurch Plaudereien, die auch fast lauter Bildnisse sind. In seiner Geschichte der Kritik und des literarischen Geschmacks in Europa nennt George Saintsbury die englischen Kritiker Dryden und Johnson als Schöpfer dieser Form der biographischen Plauderei, Coleridge und sein Kreis habe sie verfeinert und Sainte-Beuve dann zur Vollendung gebracht. W a s er von 5
A n f a n g an zu dem alten Besitz der literarischen Kritik an Grundg e d a n k e n hinzubringt, ist eben der Sinn für das Individuelle, die Freude an den besonderen biographischen Zügen, der unermüdliche Drang, nach den Einzelumständen zu forschen. W i e häufig beginnt er einen Aufsatz mit der s c h e i n b a r ' trockenen Feststellung, w a n n und wo der Verfasser geboren ist! Ihm ist diese A n g a b e so wichtig, daß er mühsame Nachforschungen nicht verschmäht, um irrige Annahmen zu berichtigen, sei es auch nur, um dann genau zu wissen, wie alt sein Modell bei irgend einem wichtigen Ereignis seines Lebens war. In der ersten Hälfte seiner Schriftstellerei ist seine Liebe zum Individuellen sogar so groß und ohne Beschränkung, daß er die wichtigste Aufgabe des Kritikers, zu richten, fast darüber vergißt. Bittere Erlebnisse erst f ü h r e n ihn zu dieser zurück, und er eröffnet die zweite Hälfte seiner literarischen Wirksamkeit mit der entschiedenen Erklärung, daß er von nun an über die Autoren und ihre W e r k e einfach sagen werde, was er für die Wahr-heit halte. Trotzdem bleibt er auch jetzt der Zeichner von Bildnissen, deren großer Reiz grade in ihrer Lebensnähe liegt. Das Abstrakte veraltet rasch, während das Anschauliche immer wieder den Anstoß zu neuer Bewegung gibt. Wollen wir wissen, nach welchen allgemeineren Gedanken er urteilt, so müssen wir tiefer graben, und auch dann stoßen wir weniger auf Begriffe und Grundsätze, als auf einen lebendigen Geist mit seinen bindenden und auseinander strebenden Kräften. Bereichert er so die Kritik um den Sinn für das Individuelle, so bringt er ihr noch als weitere Gabe die geschichtliche Perspektive. Viele seiner Aufsätze behandeln Gestalten der Vergangenheit, und häufig erscheint dabei das W e r k , das er bespricht, nur als ein zufälliger Anlaß, über eine geschichtliche Persönlichkeit zu schreiben, die nach seiner Auffassung für das Bewußtsein der Nation von Bedeutung ist. Deutlicher als irgendwo sonst zeigt sich hierin der Einfluß der romantischen Bewegung auf ihn. A b e r sein Sinn für die Geschichte hat doch sehr bestimmte Grenzen. Die Historie ist eine der großen Lebensmächte des 19. Jahrhunderts. Diesen Geist aber, der an seiner Schwelle erwacht und seine ganze Mitte hindurch wirkt, überspült sie zwar, vermag ihn aber nicht zu verwandeln. W i e weit er der historischen Strömung seiner Zeit nachgibt, wie weit er die älteren Grundlagen seines Denkens gegen sie behauptet, dies zu untersuchen ist eine der wichtigsten A u f g a b e n f ü r die Beschäftigung mit den Grundlagen seiner Ästhetik und seiner Lebensauffassung überhaupt. Er selbst spricht sich in später Zeit über seine Stellung zur Geschichte aus, als ihn durch Vermittlung von Taine die Einflüsse der deutschen Geschichtsphilosophie erreichen. Seine Freude an der Geschichte ist bildhaft, sie ist zugleich ein Erzeugnis der konser6
vativen Gesinnung, die einen wesentlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit bildet, man möchte fast sagen: sie hat einen naiven Zug. Anders ist sein Verhältnis zu den Naturwissenschaften, zu ihrem Geist bekennt er sich bewußt und ausdrücklich. Aber die naturwissenschaftlichen Studien des jungen Mediziners liegen am Beginn seiner literarischen Laufbahn, und er verläßt sie, um Dichter und Kritiker zu werden. Lange Zeit hindurch bleibt ihr Einfluß auf seine Arbeiten gering. Erst in seiner späteren Zeit, unter dem Eindruck der positiv gesonnenen jungen Generation, stellt er naturwissenschaftliche Forderungen an die literarische Kritik und die Erforschung der schriftstellerischen Produktion. Doch bleiben sie für ihn selbst ein Programm, das er nicht mehr zu erfüllen vermag. Eine Krankheit, deren man mit den Mitteln der damaligen Medizin noch nicht Herr zu werden vermochte, nimmt ihn hinweg, lange ehe seine geistige Kraft aufgebraucht ist. Die Ausgaben seiner kritischen Werke, in der Gestalt, in der sie bald nach seinem Tode vorlagen und auf die wir heute noch im wesentlichen angewiesen sind, umfassen fünfzig Bände. Dazu kommen drei Bände Poesie. Genannt haben wir schon diejenigen seiner Veröffentlichungen, die sogleich in Buchform erschienen. Das Gemälde der französischen Poesie im 17. Jahrhundert, mit dem er zuerst auftrat, hat zwar ebenfalls die Gestalt eines zusammenhängenden Buches, ist aber auch zum Teil aus Zeitschriftenaufsätzen zusammengesetzt. Nach seinem Tode wurde der erste Teil eines Lebensbildes von Proudhon gesondert herausgegeben, das Sainte-Beuve vor Jahren in einer Zeitschrift veröffentlicht hatte. Alle übrigen Werke des Kritikers, mit Ausnahme der Bände über Port-Royal und Chateaubriand, also die großen Sammlungen seiner Bildnisse und Plaudereien, auf denen sein literarischer Ruhm vor allen Dingen beruht, bestehen aus einzelnen größeren oder kleineren Aufsätzen, die zuerst in Zeitschriften oder Tageszeitungen erschienen und unverändert, meist mit Angabe des Datums, hintereinander abgedruckt sind, zuweilen um Anmerkungen und Nachträge vermehrt. Verbunden sind sie untereinander durch die Persönlichkeit des Verfassers und seine Epoche, so wie er sie erlebt. Weder bieten sie die Einheit eines ästhetischen Systems, noch sind sie gegenständlich abgeschlossen, da sie sich nicht einmal auf literarische Gegenstände beschränken, sondern ins Politische, Historische, ja, selbst ins Wirtschaftliche hinübergreifen. Ein späterer Kritiker hat sie, in Erinnerung an Montaigne, die Essais des neunzehnten Jahrhunderts genannt. In dieser Form sind sie in das • Bewußtsein des literarisch gebildeten Franzosen übergegangen. Für ihn verbindet sich mit dem Namen Sainte-Beuves ein bestimmter Begriff. Sucht er nun genauere Belehrung über den Kritiker und seine 7
Persönlichkeit, so findet er sie in den zahlreichen biographischen Gesamtdarstellungen, die ihm gewidmet sind. Auch für sie bringt er einiges mit, nämlich eine allgemeine Kenntnis seiner nationalen Geschichte, mit mancherlei Einzelzügen ausgestattet, wie sie uns eine lebendige Tradition im Heimatbereich überliefert. Diese Voraussetzungen treffen aber für den deutschen Leser in sehr viel geringerem Grade zu. Von einem großen ausländischen Dichter kennen wir. wenn nicht sein Gesamtwerk, so doch seine bedeutendsten Einzelschöpfungen, die durch das Urteil der Zeiten schon seit langem herausgehoben worden sind. Sainte-Beuves Schriften sind nicht überall von gleichem Wert und gleicher Bedeutung, aber seine schöpferische Kraft sammelt sich nicht, wie es dem Dichter natürlich ist, in einzelnen geschlossenen Gestaltungen, sondern breitet sich über das Ganze aus. Deshalb muß man sein Werk kennen, wenn man überhaupt einen ersten allgemeinen Begriff von der Bedeutung Sainte-Beuves bekommen will. Wer diesen aber nicht besitzt, wird auch einer Beschreibung seines Lebens zunächst nur eine geringe Bereitschaft entgegenbringen, denn das Leben des Schriftstellers liegt eben in seinen Werken, und erst von ihnen aus gewinnen die äußeren Umstände seines Daseins Bedeutung, besonders für denjenigen Leser, der mit der französischen Geschichte nicht so überlieferungsmäßig verbunden ist, wie der Franzose selbst. Deshalb beginnen wir mit einer Einführung in die Werke selbst. Es ist der natürliche Weg, sich einem Schriftsteller zu nähern.
Erster Abschnitt
Das Jugendwerk — Die Bildnisse Als Dreiundzwanzigjähriger veröffentlichte Sainte-Beuve mit dem Gemälde der französischen Poesie im sechzehnten Jahrhundert sein erstes Buch. Den Anstoß dazu empfing er durch eine Preisaufgabe der französischen Akademie aus dem J a h r e 1826. W i r stehen damit im Zeitabschnitt der Restauration. Aber als Sainte-Beuve seine Arbeit zwei J a h r e später abschließt, ist die wiederhergestellte Herrschaft der Bourbonen schon stark erschüttert, der junge Verfasser greift die Dynastie in der Person Ludwigs XIV., ihres klassischen Vertreters, scharf an. Seine Regierung, zwischen den Bürgerkriegen der "vorhergehenden Zeit und der Revolution von 1789 erscheint ihm wie eine glänzende, aber gebrechliche Brücke über dem Abgrund. Aber er ist kein grundsätzlicher Gegner der Monarchie, man fühlt aus seinen Worten über die halb feudale, halb repräsentative Verfassung Englands heraus, daß er sich eine entsprechende Uberleitung aus der mittelalterlichen zur modernen Gesellschaft für sein Vaterland gewünscht hätte, und seine Liebe widmet er Heinrich IV., dem Begründer der bour-' bonischen Dynastie, weil sie unter ihm möglich gewesen wäre. W i e in der Politik, so beklagt er den Bruch mit der Tradition in der Literatur, seinem eigentlichen Feld. Zwei große soziale Ordnungen hat Europa im Lauf seiner Geschichte hervorgebracht, die Antike und das Mittelalter. Als diese zerfällt, greifen die Völker auf jene zurück. Aber dies geschieht in verschiedner Weise. Dort, wo die mittelalterliche Überlieferung in Kraft geblieben ist, wird sie zum Stoff für die erneuerte Poesie, so bei Ariost und Tasso, bei Spenser, Shakespeare und Milton. Frankreich aber hat den Schatz der nationalen Dichtung verlorengehn lassen. Die Renaissance bricht hier in einen leeren Raum ein, es entsteht ein Frühklassizismus, glänzend vertreten durch die Lyrik von Ronsard und Du Beilay, aber bevor er zur Reife gelangen kann, verschlingt ihn die Zeit der Bürgerkriege. Der strenge Klassizismus tritt die Herrschaft an und vollzieht ein W e r k der Reform an Sprache und dichterischer Form, das der Sainte-Beuve dieses Buches bewundert und dennoch nicht liebt. Die Revolution geht über diese letzte Blüte der monarchischen Gesellschaftsverfassung hinweg, und nun entsteht eine neue Poesie, die dag J o c h der beiden letzten Jahrhunderte, des siebzehnten und achtzehnten, abwirft und wieder an die Zeit 9
Ronsards und damit der nationalen Tradition anknüpft. Ihr Vorläufer ist André Chénier, den die Schreckenszeit dahingerafft hat, ihr lebendes Haupt aber Victor Hugo. Dies ist der Rahmen, in den zahlreiche Einzelbilder und kritische Untersuchungen eingespannt sind. Dieser junge Kritiker, hinter dem schon eine große Arbeit des Lesens und Abwägens liegt, sucht ein Ganzes zu geben und der französischen Literatur des sechzehnten Jahrhunderts ihren Platz in der Entwicklung der europäischen Literatur und unter den anderen nationalen Literaturen anzuweisen, er bemüht sich stets, das Leben von allen seinen Seiten zu sehen und die Dichtung nicht aus ihren Verbindungen mit Politik und Gesellschaft zu lösen, er versenkt sich in die Geschichte und behält doch den Blick auf seine Zeit gerichtet. Uber den großen Zusammenhängen versäumt er nicht die biographische Einzelheit und die stilistische oder formale Untersuchung besonderer Stellen, deren ästhetischen Wert er erkennen will. Mit fünfundzwanzig Jahren beginnt Sainte-Beuve die lange Reihe seiner Bildnisse; zwei Jahrzehnte hindurch, bis an die Schwelle der Revolution von 1848, führt er sie fort. In der endgültigen Sammlung trennt er die Bildnisse der Verstorbenen als portraits littéraires von denen der Lebenden, den portraits contemporains. Die portraits de femmes sind für sich gesammelt, bilden aber innerlich einen Teil der ganzen Reihe, die neun starke Bände umfaßt. Der erste Band der Literarischen Bildnisse beginnt mit Boileau. Ein rascher Überblick über die Geschichte seines literarischen Ruhmes führt uns in das Thema ein. Mit einer Bemerkung zur Methode seiner Geschichtschreibung hält Sainte-Beuve den Ablauf seiner Gedanken auf. Gegenüber dem philosophischen Verfahren der jungen literarhistorischen Richtung, das Individuum aus der allgemeinen Bewegung zu erklären, es zuletzt in diese aufzulösen, verteidigt er das Zufällige, Unberechenbare im Auftreten des literarischen Talents. Auf allen Gebieten des Lebens mögt ihr Gesetze aufstellen, aber daß Pindar eines Tages aus Boötien hervorging, André Chénier im 18. Jahrhundert sein Leben begann und vollendete, war ein Belieben Gottes. Aber dann sucht er dennoch unbefangen zu zeigen, daß eine Natur wie die Boileaus, bei einer solchen Jugend und Erziehung und unter den Verhältnissen seiner Zeit, sich nicht anders entfalten konnte, als sie es getan hat. Er reformiert den Vers wie Colbert die Finanzen, Vauban den Festungsbau. Muß man ihn also nicht in seiner Art gelten lassen? Sainte-Beuve tut es, mit Einschränkungen, und da er einer kämpfenden literarischen Gruppe angehört, so weist er Boileaus Autorität dort zurück, wo die Gegensätze am tiefsten gefühlt werden, in den Fragen des Stils. Wie viele Spannungen grundsätzlicher Natur enthält dieser kurze Aufsatz! ü b e r Pierre Corneille 10
schreibt Sainte-Beuve bei Gelegenheit einer neu erschienenen Biographie. Der einleitende Gedanke-ist hier allgemeiner Art. Im Leben jedes großen Menschen gibt es einen Augenblick, w o er aus dem Dunklen ins Helle tritt. Im Zusammenwirken seines Geistes mit den Einwirkungen der Erziehung und der Epoche ist er gereift, jetzt kann er mit Archimede.s ausrufen: Ich habe gefunden! Folge ihm bis dahin durch die Finsternisse seines Anfangs, w i e Vergil dem Dante, löse die geheimnisvolle Verkettung dieses kritischen Augenblicks, und du darfst sagen, daß du den Dichter nun besitzest, daß du ihn kennst. Dieser Anfang ist mehr Poesie als Kritik, Darstellung eines typischen Vorgangs im Sinne antiker Kunst, aber so werden wir bereit gemacht, den Menschen Corneille zu verstehen. Und diesen stellt Sainte-Beuve jetzt ganz individuell vor uns hin, mit den großen Erlebnissen seiner Werdezeit, bis zum entscheidenden Erfolg des Cid. Es folgen die Hemmungen, die Ablenkungen von dem mit unbewußter Sicherheit gewählten Wege, ein schweres Alter. Das W e r k wird in wenigen Abschnitten beschrieben, nach dramatischer Form, Sprache und Personen, als das einer hohen, aber unvollständigen Begabung. — Lesen wir nun den Aufsatz über Racine. Die großen Dichter aller Gattungen gehören zwei verschiedenen Familien an. Den ursprünglichen aus sich selbst geborenen Dichtern, die nur die Söhne ihrer W e r k e sind, stehen gegenüber die geglätteten, gepflegten, immer nach Vervollkommnung strebenden, die aus den Zeiten zwischen Blüte und Verfall aufwachsen, den~ Homer, Dante, Shakespeare, die Horaz, Vergil, Tasso. Zu diesen gehört Racine. Seine große Originalität besteht darin, daß er die heldischen Gestalten der Tragödie auf menschlichere Maße zurückführt, daß er die geheimsten Regungen der Leidenschaft mit zarter Hand bloßzulegen weiß. In diesen Schwingungen der Gefühle lebte der Hof Ludwigs XIV., die Chronik der Liebe beginnt bei ihm mit der La Valliére und endet mit der Mäintenon. So entsprach Racines Drama den Wünschen der Gesellschaft, aus der es hervorging, und hatte den Erfolg für sich. A b e r Sainte-Beuve bestreitet ihm die dramatische Kraft, er glättet und dämpft zu sehr. W i e leicht und resigniert verzichtet er in der Fülle der Kraft auf die fernere Laufbahn des tragischen Dichters und zieht sich in die Enge des Familienlebens zurück! Seiner ursprünglichen Begabung nach ist er mehr Elegiker als Dramatiker, das intime Leben unmittelbar, als Lyriker auszusprechen wäre ihm gemäßer gewesen. Sainte-Beuve schreibt diese Kritik hin, um die Bahn für das romantische Drama freizumachen. Dieses erscheint zwar, aber; es enttäuscht die Hoffnungen, das klassische Drama kehrt mit neuer Kraft zurück. So läßt SainteBeuve diesem frühen Aufsatz unmittelbar einen vierzehn Jahre jüngeren folgen, über die Wiederaufnahme der Bérénice im Théatre-
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Français. Hat er selbst sein Urteil über Racine wesentlich geändert? Indem er die engen Beziehungen zwischen den Vorgängen im Drama und denen am Hofe Ludwigs ins Gedächtnis zurückruft, stellt er etwas von der Atmosphäre der ersten A u f f ü h r u n g wieder her. Und w a s sollte der Kampf gleichberechtigter Mächte, was also die w a h r e Tragödie in dieser Welt der künstlichen Ordnung und Harmonie? In dem Gesamtweik Racines trägt Bérénice in besonders deutlicher W e i s e den Charakter der Elegie. Darin also hält Sainte-Beuve an seinem ursprünglichen Urteil fest. Völlig gewandelt aber haben sich seine Gedanken über den allgemeinen künstlerischen W e r t der Tragödie Racines. Suchte er damals zu zeigen, daß sie der Vergangenheit angehöre und den berechtigten Forderungen an ihre Gattung nicht entspreche, so begrüßt er es nun mit Zustimmung, daß sie für die lebende Bühne zurückerobert wird. — Anders das Verhältnis Molières zu seinem Jahrhundert. Er paßt sich ihm an, aber läßt sich nicht in seine Schranken einschließen. W i r nehmen Sainte-Beuves schönen Aufsatz über Molière, mit dem er den zweiten Band der literarischen Bildnisse einleitet, hier voraus. W e n i g e Dichter im Laufe d^r Jahrhunderte, nur fünf oder sechs, ragen aus der Reihe durch den Charakter der Universalität hervor; und so eng ihr W e r k auch mit c^en besonderen Bedingungen ihrer Zeit v e r b u n d e n ist, so bleibt doch das ewige W e s e n der Menschheit mit Freiheit darin ausgesprochen. Zu ihnen gehört von den Alten Homer und Plautus, von den N e u e r e n Shakespeare, Cervantes, Rabelais und endlich Molière. Sainte-Beuve ist ein feiner Kenner der verschiedenen Zeiten, das zeigt dieser Aufsatz mit derselben Deutlichkeit wie viele andere, und dennoch, mit welcher Selbstverständlichkeit und Klarheit zugleich spricht er seine Überzeugung von der unveränderlichen Grundlage des menschlichen Charakters aus! Das 46. J a h r h u n d e r t w a r ein solches der Auflösung gewesen, das 17. stellt die Organisation der Gesellschaft wieder her, und zwar auf dem Boden der Monarchie und des Christentums. Sainte-Beuve urteilt hier über die Leistung des klassischen Jahrhunderts ganz anders, als er es sieben J a h r e v o r h e r getan. W i r w e r d e n später sehn, was er in den J a h r e n nach der Julirevolution erlebt hat. Molière aber hat an dieser Rückkehr der Gesellschaft zum dogmatischen Christentum keinen Anteil, er sieht die menschliche Natur in sich selbst, unabhängig von den besonderen Begriffen des christlichen Weltsystems, frei aber auch von den Formeln irgendeines anderen Glaubens, so daß Rousseau ihn später ebenso scharf kritisierte, wie es Bossuet getan hatte. Als unermüdlichen, selbstvergessenen Beobachter zeichnet ihn die zeitgenössische Anekdote. Aber seine dramatischen Gestalten sind keine Nachahmung der Wirklichkeit, sie entstehen auch nicht aus einer sorgfältigen Zusainmen-
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Stellung einzelner Beobachtungen, sondern sind das W e r k einer wahrhaft schöpferischen Kraft, w i e diejenigen Shakespeares. Das Drama in seiner vollkommenen Gestalt darf von allen Dichtungsarten am meisten den Anspruch auf allgemeine Verständlichkeit und Geltung erheben. Deshalb müssen die großen dramatischen Begabungen alle Elemente der menschlichen Seele in sich tragen, in viel höherem Maße, aber in denselben Verhältnissen, w i e die Allgemeinheit der Menschen. Der Bühnendichter, der diese Übereinstimmung zwischen dem Individuellen und Allgemeinen nicht in sich trägt, täuscht sich über die Verhältnisse der Charaktere und schafft verzerrte Gestalten. Molière besaß dieses Menschliche auch in seiner äußeren Erscheinung, und um seinen Gedanken noch deutlicher zu machen, erinnert Sainte-Beuve an Tiecks Verfahren, uns das Antlitz Shakespeares zu beschreiben. V i e l e Menschen sehen Tieren ähnlich, edlen oder unedlen, sein Gesicht aber. gleicht keinem anderen als dem eines Menschen! — Das Jahrhundert Ludwigs X I V . umfaßt drei Perioden, die erste vertreten durch Molière, die zweite durch Racine, die dritte endlich durch La Bruyère. Sainte j Beuve zeichnet in zarten Linien den Menschen und Schriftsteller. Er liebte die Alten und beschloß eines Tages, Theophrasts Charaktere zu übersetzen und seine eigenen Gedanken über den Menschen seiner Zeit und seine Charakterzüge der Übertragung anzuhängen, weil er wirklich der Meinung war, daß in der langen Geschichte der Menschheit alles schon einmal gesagt sei und man die Alten zu übertreffen nur hoffen könne, wenn man sie zunächst nachahme. A b e r seine Epoche verlangt auch das Vollkommene! Ihre Sterne strahlen Beständigkeit aus, so v i e l e edle W e r k e verbreiten eine sanfte Wärme, und die Atmosphäre der Geister ist so klar und lauter, daß kein Gedanke im Schatten bleiben, jede Einzelheit dagegen in das rechte Licht treten wird, wenn nun ein neues, durchgebildetes W e r k erscheint. In einem sollten die heutigen Schriftsteller La Bruyère ehren und beneiden, wenn sie ihn unter dem Druck der Verhältnisse nicht nachahmen können. Sie überfüllen ihre W T erke mit Einzelheiten, um Bogen zu füllen, er jedoch, mit einem sehr großen Talent begabt, hat nur geschrieben, um auszudrücken, was er gedacht. Für jeden Gedanken aber gibt es nur eine Form, die wahrhaft gut ist, und sie ist vorhanden, auch wenn man sie redend oder schreibend nicht erreicht. Den Moralisten La Bruyère streift Sainte-Beuve hier nur. Ausführlicher spricht er über die modernen Züge in ihm, das Gefühl für die Landschaft und ihren Einfluß auf die Seele, Andeutungen des Weltschmerzes, den die Romantiker empfinden und analysieren. — W i e denkt Sainte-Beuve in dieser Zeit über den Kritiker und seine Persönlichkeit? Im Jahre 1835, nach den Enttäuschungen, die der Julirevolution gefolgt sind,
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schreibt er über den Geist des Kritikers und über Bayle. Das Biographische darin ist spärlich, aber es bietet doch den Ausgangspunkt. Bayle stammt aus einer Familie von calvinistischen 'Pastoren, tritt mit zweiundzwanzig Jahren zum Katholizismus über und kehrt kurze Zeit darauf zu seinem alten Bekenntnis zurück. V o n diesem Augenblick an ist das Feuer des Glaubenfe in ihm erloschen, er hat den Zustand der Duldsamkeit, ja, der Gleichgültigkeit erreicht, der sich bei dem kritischen Talent in die Bereitschaft verwandelt, jeden neuen Eindruck aufzunehmen. W i e bald erreicht dagegen Voltaire seine Grenzen, w e i l ihn der Gedanke an seine eigene Kunst von der freien Bewegung zurückhält, w i e stark wirkt sein philosophischer Fanatismus auf sein Urteil ein! Der Kritiker darf nichts für sich haben, er muß, w i e der Apostel, allen alles sein. Bayle lebt in dieser V e r fassung, er berichtet über ein Buch aus keinem anderen Grunde, als weil es neu ist, oder weil er es grade gelesen hat, oder weil er gehört hat, w i e andere davon sprachen. So verwirklicht er in seiner Republik der Bücher den Zustand der Harmonie und friedlichen Anarchie, der in einem Staat mit zehn verschiedenen Glaubensbekenntnissen ebenso herrschen sollte w i e in einer Stadt mit verschiedenen Zünften und Innungen. Im Anfang seiner Studie erklärt Sainte-Beuve, daß er den Philosophen und den Moralisten in Bayle unbeachtet lassen wolle, um die wesentlichen Züge seiner kritischen Begabung rein herauszuarbeiten, die außerdem alle anderen Kräfte seines Geistes beherrsche. A b e r trennt man damit nicht die Kritik von ihren wahren Motiven, der Sehnsucht nach dem Guten und der Feindschaft gegen' das Schlechte? A n dem Bilde Bayles zeigt uns Sainte-Beuve wesentliche Eigenschaften des kritischen Geistes und bekennt sich selbst zu ihnen, aber es scheint, daß er sie zu Unrecht von anderen, ebenso notwendigen, entfernt. Er selbst steht bis zum letzten Tage seines Lebens im Kampf der politischen und religiösen Meinungen. A b e r wir fühlen hier die Sehnsucht eines betrachtenden and sinnenden Geistes, der von den Bedingungen des Augenblicks frei werden will. Denn Toleranz, ja, Gleichgültigkeit in den Fragen des Glaubens und der Philosophie ist ja- nur die eine Seite an der Existenz Bayles, die andere ist seine Unabhängigkeit, seine Gleichgültigkeit gegen Besitz und Ehren. — W i r schließen die Auswahl aus diesem Band mit dem Bildnis Diderots; es erschien Juni 1831. Revolutionen gehen über die V ö l k e r hin, die Häupter der Könige fallen w i e Mohnblumen, aber das kleinste Kunstwerk, das einmal aus dem Haupte des Menschen entsprungen ist, glänzt weiter w i e am T a g e seiner Geburt. Darum sind wir im Recht, wenn wir an unseren Bildnissen großer Schriftsteller weiterarbeiten. Jeder Mensch von großen Fähigkeiten ist seiner Zeit und der Menschheit ein W e r k
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schuldig, das den Bedürfnissen der Epoche entspricht und dem Fortschritt dient. Diderot erfüllte diese Verpflichtung mit der Enzyklopädie. Sie ist kein friedliches Gebäude, in dessen Zellen Denker und Gelehrte hausen, sondern ein Belagerungsturm, der gegen die noch bestehende alte Ordnung vorgeschoben wird. Ihn zeichnet dies unter den großen M ä n n e r n des 18. J a h r h u n d e r t s aus, daß er eine Familie hat, ganz im bürgerlichen Sinne, und sie zärtlich liebt, daß Vater, Bruder, Schwester, Enkelin immer zu ihm gehören. Er heiratet eine arme Arbeiterin von großer Schönheit, und auch als die innere Bindung an seine Frau aufhört, bleibt er seiner Tochter, dem einzigen überlebenden seiner Kinder, ein hingebender Vater. Voller Liebe für seinen V a t e r und zugleich ein scharfer Kritiker der Ehe, Feind der Kirche und ihrer Glaubenssätze, und dennoch im Gefühl an das Bild eines väterlichen Gottes gebunden, in seiner Naturphilosophie Vitalist, so sieht Sainte-Beuve diesen Führer der Philosophenpartei als einen Revolutionär mit konservativen Gefühlen. Die Studie über Molière aus dem zweiten Band haben wir schon vorweggenommen. W ä h l e n wir nach der allgemeinen Bedeutung der Persönlichkeiten, so stoßen wir auf zwei weitere Bildnisse, die diesen Band beherrschen, die von La Fayette und Joseph de Maistre. Den Aufsatz über La Fayette und seine Erinnerungen beginnt Sainte-Beuve mit einer Betrachtung über die französische Revolution. Er hält sie für völlig abgeschlossen. Ihre Ziele sind zum Teil erreicht, zum anderen Teil endgültig vèrfehlt. Die bürgerlichen Rechte, in der Gesellschaft sind ungefähr in dem Umfange begründet, wie die Revolution es erstrebte, aber die politische Assoziation ist nicht erreicht worden. Unter den Politikern der Revolutionszeit, die nach dem Untergang der alten eine n e u e politische O r d n u n g erstrebten, sind drei Richtungen zu unterscheiden: die amerikanische, die englische und die einer Diktatur von mehr oder weniger demokratischem Charakter zustrebende. Zur dritten gehören die M ä n n e r des Konvents und des Empire. Die Julimonarchie ist eine Mischung dieser drei Systeme: der König von den V e r t r e t e r n des Volkes gewählt, vergleichbar dem amerikanischen Staatspräsidenten, andererseits eine erbliche Monarchie mit einem Oberhaus, wie in England, und endlich als Erbe des Empire eine zentralistische Verwaltung, die sich immer mehr vervollkommnet und die dem Volkscharakter entspricht. Der Geist der Revolution aber, so wie er von 1789—1830 wehte, ist jetzt, 1838, erloschen. Eine n e u e politische Richtung ist im Aufstieg, sie k n ü p f t zwar an die Revolution von 1789 an, aber sie will etwas N e u e s errichten. Sainte-Beuve nennt den Saint-Simonismus nicht, er ist auch damals schon im Niedergang, aber seine Gedanken w e r d e n weiter verfochten, und diese meint er. Und es ist auch klar, daß er mit ihnen 15
sympathisiert, w ä h r e n d er für die Gesellschaft unter dem Bürgerkönigtum eine kaum verhehlte Verachtung empfindet. Aus dem SaintSimonismus stammt auch die politische Assoziation, ein Ausdruck, der sich wegen seiner besonderen Färbung nicht übersetzen läßt. La Fayettes Charakter zeichnet sich dadurch vor anderen Staatsmännern der Revolution aus, daß er zu allen Zeiten an seine Sache glaubt, das Äußere und Innere sind bei ihm stets in Übereinstimmung. Talleyrand hat nie an etwas geglaubt. Mirabeau w u r d e schon nach einem J a h r e Revolution konservativ, und Sieyès trat in ein ironisches Schweigen ein. Zwar spricht diese Enttäuschung für ihre Intelligenz. Und hier spricht Sainte-Beuve ausdrücklich im eigenen Namen: Trotz der Ungunst, die man sich dadurch in einer Zeit der humanitären Schwärmerei zuzieht, muß man zugeben, daß der Charakter des Menschen immer so bleibt, wie die großen Moralisten aller Zeiten ihn gesehen haben, mit seinen Leidenschaften, Schwächen, Fehlern und Torheiten. Aber La Fayettes Haltung zeugt nicht nur von der Überlegenheit seines Charakters, sie wird auch durch die Ereignisse in höherem Maße bestätigt, als die besonders Klugen es zu prophezeien gewagt hätten. Wach diesen allgemeinen einleitenden Bemerkungen zeichnet Sainte-Beuve an der Hand des Briefwechsels und der Memoiren das Bild dieser Persönlichkeit. La Fayette ist wohl der früheste, mutigste und anständigste Gegner des ancien régime. Dabei bleibt er immer Ritter und Edelmann. Nur sieht er nicht, wie seine Vorfahren, auf die Meinung seiner Standesgenossen, sondern auf die des Volkes, der Allgemeinheit. Bei aller politischen Leidenschaft bleibt in ihm das Bestreben herrschend, sich Ehre und Ansehen zu erhalten, die einheitliche Linie* in seiner persönlichen Haltung zu bewahren. Schon deshalb ist er kein wirklicher Staatsmann. Auch sein idealistischer Glaube an das Volk ist ein Irrtum, denn er verkannt nicht nur die allgemeine Natur des Menschen, sondern überdies noch den besonderen Nationalcharakter des Franzosen. Der Charakter eines Volkes aber ändert sich noch weniger als der des Individuums, und dieser ist schon fast unwandelbar. So denkt SainteBeuve alles in allem über La Fayette als Politiker gering, aber er liebt den Menschen in ihm. Fouché hat ihn getadelt, daß er nach dem 10. August 1792 nicht auf Paris marschiert sei, um die gesetzgebende Versammlung zu stürzen, die königliche Gewalt wiederherzustellen und selbst die Regierung zu übernehmen. Aber dann hätte er seinen politischen Glauben preisgegeben und w ä r e unter die Männer des Staatsstrelches geraten. Er will nicht zur Gewalt greifen, auch nicht zugunsten der irregeleiteten und gefesselten Freiheit, er will durch seinen Rücktritt von der politischen Bühne zeigen, daß jene nicht von allen und ohne W i e d e r k e h r preisgegeben ist. Und in 16
dieser Haltung verharrt er auch unter der Herrschaft Napoleons. In allen Fragen, so verallgemeinert Sainte-Beuve, gibt es den Mann von 1789, den Girondisten und den Jakobiner. Locke und Descartes sind Männer von 1789 in der Philosophie, André Chénier ist es in der Poesie. Sainte-Beuve preist den, der sich in der schlichten literarischen Revolution an das Jahr 1789 hält; Girondist, das mag noch hingehen, aber Jakobiner, niemals! Das Gute und das Böse in der Revolution, so sagte La Fayette von .sich selbst, als ef aus der Haft von Olmütz freigelassen wurde, erschien im allgemeinen geschieden durch die Linie, die ich innegehalten hatte. Und Sainte-Beuve ist geneigt, ihm beizustimmen. Aber er selbst hat vorher gezeigt, daß La Fayettes Politik in der Zeit, als er sich an der Macht befand, falsch war, weil er verkannte, daß es sich um ganz andere Dinge handelte, als um die von ihm verteidigte Verfassung! Was für einen Sinn hat es, sich wie Sainte-Beuve grundsätzlich für eine Politik auszusprechen, dieselbe Politik aber praktisch zu verurteilen? In derZeit, als er diesen Aufsatz schreibt, herrscht wenigstens äußerlich Ruhe. Wie wird er sich aber entscheiden, wenn ein Jahrzehnt später die Revolution von neuem ausbricht und das zweite Empire beginnt, wie nochmals zwanzig Jahre später, als es sich selbst preisgibt und seinem Ende zugeht? Grade in diesem unausgetragenen Kampf mit der Persönlichkeit La Fayettes und seinen politischen Ideen ergreift uns diese Studie aber besonders stark. — Sainte-Beuve hat zuerst über Joseph de Maistres jüngeren Bruder Xavier, den Novellendichter, geschrieben. Jetzt, 1843, löst er das Versprechen ein, auch dem Älteren und Berühmteren der beiden eine Studie zu widmen. Er tut es mit Höflichkeit, denn er hat zahlreiche gesellschaftliche Beziehungen zur französischen, und französisch sprechenden Aristokratie, aber ohne Wärme. Auch La Fayette war nicht sein Mann, er glaubt ihn geistig zu übersehen, dennoch steht er ihm so nahe, daß er sich mit ihm auseinandersetzen muß. De Maistres hohe Intelligenz ist unanfechtbar, der Kritiker hat Respekt vor ihm, aber sie stehen sich so fern, daß sie sich nichts zu sagen haben. Deshalb hat dieser Aufsatz im ganzen etwas Kühles. Aber er gibt uns Gelegenheit, Sainte-Beuves Technik zu studieren. Er skizziert zunächst de Maistres Jugendgeschichte, mit einigen Ausblicken auf die ein wenig altertümlichen Verhältnisse im Königreich Sardinien, und berichtet über jugendliche Redeübungen, die den künftigen Legitimisten als Anhänger des aufgeklärten Absolutismus zeigen. Was er mit der französischen Revolution in dem abgelegenen Savoyen erlebt. De Maistres Grundgedanke, daß sich grade in diesen Ereignissen die Absichten Gottes mit der Menschheit offenbaren. Sein zurückgezogenes Leben in der Fremde, vor allem in Petersburg, und inwiefern sich daraus
2 Daiters, Sainte-Beuve
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zum Teil die starre Art seines Denkens und Schreibens erklärt. Anekdotische Einzelzüge machen uns den Menschen in dem Denker und Schriftsteller anschaulich. Briefe an eine Freundin: der Moralist, der scharfe Kritiker der menschlichen Komödie, das düstre Endurteil über die Welt. Bei seinem Sterben aber zeigt sich noch einmal die beinahe heitere Freiheit des überlegenen Geistes. Die Eigenart dieses energischen Denkers arbeitet Sainte-Beuve völlig klar heraus: Der Mensch ist nur so viel wert, wie er glaubt; wer nichts glaubt, ist nichts wert. Seine Kritik ist im allgemeinen behutsam, energisch aber in der Verurteilung der Inquisition und der nüchternen Ablehnung seiner konservativen Verfassungstheorien. Und doch gibt es einzelne Punkte, in denen er mit de Maistre übereinstimmt. Die Revolution ist, in der Tiefe, ein Kampf um Fortbestand, Untergang oder Umbildung des Christentums. Es ist überhaupt nach den Abenden von Petersburg für Sainte-Beuve fraglich, ob er de Maistre als reinen Katholiken im Sinne der Vergangenheit ansehen soll. Nicht umsonst hat die neueste unter den religiösen Sekten unserer Zeit, er denkt an den Saint-Simonismus, so viele prophetische Worte von ihm entlehnt. Nachdem die Revolution einmal triumphiert hatte, war es allein das Verdienst des Jakobinismus, Frankreich unversehrt für den künftigen Monarchen erhalten zu haben. Die Aufgabe dieses Landes aber, sein Richteramt unter allen Nationen Europas, ist nirgends prachtvoller erkannt worden, als in einer seiner Schriften. Der dritte Band der literarischen Bildnisse, in der Anordnung letzter Hand, ist schon beim ersten Erscheinen später als die anderen und als ihre Ergänzung herausgekommen. Er enthält große, für das Gesamtwerk Sainte-Beuves wichtige Arbeiten, aber keine, die eine Persönlichkeit von großer geschichtlicher Bedeutung geschlossen darstellte. Um das Bild zu vervollständigen, nehme ich die drei Bände nochmal im ganzen und nenne einige weitere Aufsätze. La Fontaine, der einzige große Dichter des inneren Lebens und der träumerischen Klage vor André Chénier. Georges Farcy, Dichter und Schriftsteller, mit noch nicht dreißig Jahren in der Julirevolution gefallen. Théodore Jouffroy, geboren acht Jahre vor Sainte-Beuve, Lehrer an der Ecole normale, von der Restauration abgesetzt, einer der Begründer des Globe, der Zeitung, in der Sainte-Beuves schriftstellerische Laufbahn begann, sein wichtigster Aufsatz: Wie die Dogmen enden. André-Marie Ampère, Mathematiker und Physiker, seine Lebensgeschichte, wissenschaftliche Leistung, philosophische Stellung. Charles Nodier, romantischer Dichter und Bibliophile, der vollendete Literat, der die Literatur in allen ihren Formen um ihrer selbst willen liebt, auf seinem letzten Krankenlager von der Liebe und Verehrung der Öffentlichkeit umgeben: Wer könnte denken, wenn er dies alles sieht, 18
daß ich immei n u r ein armer Teufel gewesen bin! Bernardin de SaintPierre, mit einer Skizze der Geschichte und Art des modernen Naturgefühls. Louis de Fontanes, elegischer und idyllischer Dichter im Stil der Alten, unter der Revolution als A n h ä n g e r der monarchischen Staatsform verfolgt, mit Napoleons Diktatur ausgesöhnt, in seinem Auftrag hält er die öffentliche Gedächtnisrede auf Washington, erster Großmeister der von Napoleon gegründeten, zentralistischen Organisation des höheren Unterrichtswesens, der Universität, Verfechter der geistigen Tradition Frankreichs. Aloisius Bertrand, der romantische Dichter, der jung in Armut stirbt. Gabriel Naudé, Begründer der Bibliothek Mazarin, der amtlichen Stätte Sainte-Beuves von 1840 bis 1848. Charles de Rémusat, liberaler Politiker unter der Restauration und der Julimonarchie, Mitarbeiter von Guizot und Thiers. Charles Labitte, jung schon ein reifer Kritiker und Forscher, Mitarbeiter u n d Freund Sainte-Beuves, der seine umfassende Belesenheit und die Feinheit seines Urteils rühmt und von ihm sagt, mit einer theologischen W e n d u n g , daß er den Geist der Tradition besaß, gestorben mit achtundzwanzig Jahren. Die Reihe der Frauenbildnisse erstreckt sich von der Zeit Ludwigs XIV. bis zur Restauration. Sie umfaßt Frauen von gesellschaftlichem Rang, alle auch mit der Feder tätig, wenn auch nur für ihr persönliches Leben, viele in die politischen Ereignisse ihrer Zeit verflochten. Die erste: Frau von Sévigné. Von den ersten Seiten an zeigen uns ihre Briefe an die in der Provinz lebende Tochter, daß endlich die Leidenschaften der Bürgerkriege, die Übertreibungen des Preziosentums vorüber sind, die französische Gesellschaft aber in ihrer klassischen Form gegründet ist. Sainte-Beuve vergleicht mit seiner eigenen Zeit — er hat diesen Aufsatz noch w ä h r e n d der Restauration geschrieben —, aber was an Überbleibseln der alten Gesellschaft noch besteht, hat keine Beziehung mehr zur Gegenwart. An Beschäftigungen mit bestimmten Zielen gewöhnt, ständig von neuen Streitfragen bedrängt, können wir uns jenes Leben der Muße und der Plauderei kaum mehr vorstellen. — Doch Sainte-Beuve wird selbst eines Tages beginnen, Plaudereien zu schreiben, und wird dieses W e r k zwei J a h r z e h n t e hindurch fortsetzen! — Er fühlt so tief wie irgend jemand, daß die Zeiten sich geändert haben, und er ist nicht rückwärts gewandt. Mit großer Schärfe wirft er Frau von Sévigné vor, daß sie kein W o r t des Mitgefühls für die Bauern der Bretagne hat, die nach einem Aufstand summarisch mit g r a u e n h a f t e r Härte bestraft werden. Grade damals ist sein Verhältnis zum Klassizismus gegnerisch. W a r u m verteidigt er also Frau von Sévigné, zusammen mit La Fontaine und Molière, gegen die V e r w e r f u n g des Klassizismus durch die Romantiker? Er rühmt ihre umfassende 2*
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Bildung, den Ernst ihrer Studien, die stilistische Feinheit ihrer Briefe. Noch entschiedener aber hebt er hervor, daß sie aufrichtig ist, offen, Gegnerin des Scheins, wahr. Wir verdeutlichen unsN vielleicht am besten, was er meint, wenn wir Begriffe des deutschen Klassizismus verwenden: Frau von Sévigné vereinigt in vollendeter Weise Kunst und Natur. So ist sie auch, ohne es zu wollen oder sich darum zu bemühen, zum höchsten Rang unter den Schriftstellern der französischen Sprache gelangt. — Die Studien 'über Frau von La Fayette und Frau von Longueville, die Freundinnen von La Rochefoucauld, umrahmen das Bildnis des Moralisten und fügen es in die Reihe der Frauenbildnisse ein. Sainte-Beuve ist eben fünfunddreißig Jahre alt geworden, als er es veröffentlicht. Er beginnt mit einer persönlichen Bemerkung: es kommt ein Augenblick im Leben, wo man Gefallen an La Rochefoucauld findet und ihm vielleicht mehr Wahrheit zuspricht, als richtig ist. Trotz seines Glanzes hat das Zeitalter Ludwigs XIV. eine pessimistische Auffassung vom Menschen. Pascal, Molière, die Jansenisten stimmen darin überein, und La Rochefoucaulds Mensch ist der des Christentums nach dem Sündenfall, nur daß bei ihm die Erlösung fehlt. Erst die Philosophie des 18. Jahrhunderts erhebt den Menschen aus der Ungnade, und Rousseau preist seine Tugenden schon wieder über das rechte Maß hinaus. Auf dieser Überschätzung des Menschen ist das politische System aufgebaut, unter dem Sainte-Beuve lebt. Von der Tribüne aus preist man das Gute und Schöne, um es mit einem Federzug am grünen Tisch preiszugeben. Aber auch La Rochefoucaulds Reflexionen erscheinen nur dem Enttäuschten und Verbitterten ohne Einschränkung richtig. Sainte-Beuve stellt ihnen das Bild einer einigen, ehrenhaften Familie entgegen, er nimmt seine Zuflucht zum Idyllischen. Der alternde Moralist La Rochefoucauld berät seine Freundin, Frau von La Fayette, bei der Abfassung ihres Romans, Die Prinzessin von Cleve, und kehrt in Gedanken mit ihr zusammen zur ersten Blüte ihres Jugendalters zurück. So wendet sich der grade und gesunde Sinn zum Schluß wieder dem Einfachen zu, der jugendlich reinen Liebe, wenn auch nur, um sie zu betrachten. Selbst vor diesem Aufsatz können wir nicht daran zweifeln, daß Sainte-Beuve den Menschen so beurteilt wie La Rochefoucauld, und nicht wie Rousseau, aber er bleibt auch seiner Überzeugung treu, daß Güte und Reinheit sich in der Stille behaupten, und spricht sie im Alter wieder aus. Das Bildnis der Freundin des Moralisten, Frau von La Fayette, das Sainte-Beuve dem seinen vorausgehen läßt, zeugt von dem selben Bemühen, zwischen der pessimistischen Grundansicht über den Menschen und dem Wunsch nach einer Herrschaft der Sitte einen Ausgleich zu schaffen. Frau von La Fayette, so zeichnet Sainte-Beuve gleich zu Beginn seiner Studie 20
ihren Charakter, verband mit der Zärtlichkeit des Herzens und der romantischen Phantasie die Klarheit des Urteils, die Fähigkeit, Maß zu halten, die Wahrheit und Aufrichtigkeit, die Frau von Maintenon nicht besaß. Diese schadete der gebildeten Gesellschaft durch die Art ihres Einflusses, indem sie die Reaktion während der Regentschaft hervorrief. Besser wäre es gewesen, wenn der Geist der Frau von S e v i g n e u n d der Frau von La Fayette sich durchgesetzt hätte. Diese hat ein zweifaches Verdienst um das geistige und gesellschaftliche Leben in Frankreich. Sie reformierte den Roman, indem sie bis zu einem gewissen Punkte Lebenswahrheit und Idealismus versöhnte, und sie gab durch ihre Freundschaft mit La Rochefoucauld das erste Beispiel jener Verbindungen, die außerhalb der Ehe zwischen Mann und Frau geschlossen werden, aber durch ihre Innigkeit und Unverbrüchlichkeit bis zum Tode Anerkennung und W e i h e erwerben. Sie gewinnt Einfluß auf den alternden Moralisten und kann später von ihrer Verbindung sagen: La Rochefoucauld hat mir von seinem Geist gegeben, ich aber habe sein Gefühl erneuert. Frau von Sevigne schreibt über sie kurz nach ihrem Tode, daß sie niemals v o n jener göttlichen Vernunft verlassen wurde, die ihre Haupteigenschaft war. In der Zeit der Fronde war Frau von Longueville die Freundin La Rochefoucaulds. Sie ist von Geburt eine Conde. Die Tradition ihrer Familie, Liebe zu dem Herzog von La Rochefoucauld und vor allem ihre eigene leidenschaftliche Natur führen sie zur Beteiligung an den Kämpfen der Fronde. A l s das Unternehmen endgültig scheitert, wird sie von tiefster Enttäuschung ergriffen. Religiöse Gefühle ihrer frühen Jugend werden in ihr wieder lebendig, sie schließt sich immer enger an die Gemeinschaft von Port-Royal an und wird eine Büßende. Ihre Stellung in der W e l t bleibt trotzdem groß und einflußreich, sie wirkte an dem „Frieden der Kirche" mit, der dem Kloster und seinen Anhängern noch einmal eine kurze Zeit der Ruhe sicherte, und stand schützend mit ihrer Person davor, einen Monat nach ihrem Tode sperrte der Erzbischof von Paris, auf Befehl des Königs, in eigener Person die Pforte des Klosters. Sainte-Beuve zitiert am Schluß die Charakteristik eines Jansenisten: Ihre Eigenschaften entsprachen in gleicher W e i s e Gott und der Welt. Sie sprach niemals schlecht über einen anderen, niemals zu ihrem eigenen Ruhm. Sie demütigte sich im Gespräch, so oft es ungezwungen möglich war. Alles, w a s sie sagte, drückte sie so gut aus, daß es schwierig gewesen Wäre, es besser zu sagen. Ihr Äußeres endlich, Stimme, Antlitz, Bewegungen, waren von vollendeter Harmonie, sie konnte durch Wort und Körperhaltung alles ausdrücken, was .sie wollte, wie die beste Schauspielerin der Welt. Der Grundzug ihrer Natur aber, darin stimmen ihre Gewissensleiter und sie selbst überein, war ein ungeheurer Stolz, erst der Untergang ihrer 21
Partei bricht ihn, und noch ihre Verbindung mit Port-Royal ist eine Handlung der Opposition. Sainte-Beuve schildert uns dies glänzende Zeitalter mehr an seinen Katastrophen, als an seinen Siegen. Seine Grundauffassung von der Kultur ist pessimistisch. Bildung ist Ergebnis des Sieges über die eigene Natur. — 1835 veröffentlicht SainteBeuve eine Studie über Frau Roland, als Einleitung zu einer Ausgabe ihrer Briefe an Bancal aus den Jahren 1789 bis 1792. Er beginnt mit einer kurzen Mitteilung über seine Stellung zur Revolution. Große Ergebnisse sind erreicht worden, Gleichheit der Sitten, bürgerliche Rechte, Geschicklichkeiten und Talente lassen sich leichter verwenden, trotzdem würden die Helden der Revolution mitleidig lächeln, wenn sie einen Augenblick unter uns träten und sähen, was sie mit ihrem Blut erkämpft haben; wo findet sich Hingabe an die Allgemeinheit, politischer Charakter, Größe in den Handlungen? Aber aus dem Schmelzofen der Revolution sind bewunderungswürdige Statuen hervorgegangen, sie bleiben unserem Gedächtnis, wie die heroischen Charaktere des Plutarch. Sainte-Beuves allgemeines Bild von der Geschichte tritt hier schon deutlich hervor. Ungeheure Anstrengungen helfen der Menschheit doch nur wenig vorwärts, weil ihre durchschnittliche Beschaffenheit kaum zu verbessern ist. Dennoch tritt das Große immer wieder aus ihrer Mitte hervor und zeugt von dem geheimen Adel der menschlichen Natur. Diese Geschichtsauffassung Sainte-Beuves, mit ihren Folgen für seine Stellung in den Kämpfen seiner Zeit, wird uns immer wieder beschäftigen. In der Reihe der revolutionären Gruppen, die einander folgen, hält Sainte-Beuve bei den Girondisten an, weil sie selbst, aus einem heiligen Instinkt und mit einem Schrei des Mitleids, am Ufer des Blutstroms anhalten. Sie kennen die Grenze der menschlichen Moral. Unter den Gestalten dieser Gruppe ist Frau Roland die vorderste und schönste. Ihr Vergleich mit Frau von Staël drängt sich auf. Eine geistige Tochter Rousseaus, wie diese, hat Frau Roland doch vor ihr die ausgesprochen "bürgerliche Erziehung voraus, die sie vor der Scheinwelt der Salons bewahrt. Ihr Auftreten vor den Schranken des Parlaments zeugt von der Klarheit ihres Geistes und der Geübtheit ihres Denkens, sie hat die Haltung einer römischen Bürgerin. Dennoch bleibt sie auch in der Hingabe an politische Ziele Frau. Sie. liebt das Leben auf dem Lande, erfüllt gern ihre häuslichen Pflichten und verzichtet nicht auf die Herrschaft durch Anmut. In ihrem häuslichen und öffentlichen Leben ist sie dieselbe, hier wie dort in gleicher Weise an ihrem Platze. Darin gleicht sie Washington. Sainte-Beuve liebt diese Naturen, die stark genug sind, den Sturm zu entfesseln, aber auch, ihn, vor allem in sich selbst, zu beherrschen. — Unter den berühmten Frauen der Revolution ist eine, deren Name sich mit allen ihren Abschnitten verbindet, 22
Frau von Staël. Sainte-Beuve führt zwei ausländische Zeugen für die Art ihres Talents an, den Deutschen Zacharias W e r n e r und den Dänen ö h l e n s c h l ä g e r : Durch ihre Fähigkeit, Gegensätze unter den versammelten Personen auszugleichen, und die Gabe der Unterhaltung herrscht sie wie eine Königin im geselligen Kreise. Aber ihre Schriften sind nicht weniger Ausdruck ihres Geistes. Sie tritt noch vor der Revolution mit Briefen über Rousseau in die Öffentlichkeit und gibt damit für alle späteren W e r k e den Ton an. Ihre erste politische Schrift, nach der Schreckenszeit herausgegeben, ist ein Aufruf zum inneren und äußeren Frieden. Auch unter dem Direktorium hält sie sich von den extremen Parteien fern, von den Legitimisten ebenso wie von den Jakobinern. Ihren Rückhalt findet sie damals in der kleinen Gruppe der gemäßigten Republikaner und Philosophen. Ihre großen Romane, Delphine und Corinne, und das Buch über Deutschland bezeichnen den H ö h e p u n k t ihrer schriftstellerischen Leistung. Corinne, ein Bild der Unabhängigkeit des Genius, auch in Zeiten der Unterdrückung: ganz Europa k r ö n t e sie unter diesem Namen. Das plötzliche Aufblühen des deutschen Geistes in jenem Zeitalter, das man das J a h r h u n d e r t Goethes n e n n e n möchte, denn gleichzeitig'mit ihm scheint die deutsche Poesie zu entstehen und zu sterben. Im Alter nimmt ihr Liberalismus die Formen des Konstitutionalismus nach englischem Vorbild an. Ihre nachgelassenen Betrachtungen über die französische Revolution haben einen unmittelbaren Einfluß auf die junge liberale Partei der Doktrinäre und auf den Globe. Für die Tochter Neckers ist diese Politik des Ausgleichs und der Mäßigung gleichsam eine häusliche Angelegenheit, sie hatte für ihren Vater immer eine leidenschaftliche V e r e h r u n g gehegt. Im Globe begann Sainte-Beuve selbst seine schriftstellerische Tätigkeit. Er beklagt es, daß sie durch ihren Tod verhindert wurde, einen persönlichen Einfluß auf die politische Partei auszuüben, die von ihr ausstrahlte und die ihrige geblieben wäre. Die Persönlichkeit der Frau von Staël verbindet ihn nach rückwärts mit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, der Zeit Rousseaus, Diderots und der Reformversuche, mit deren Hilfe ein aufgeklärtes Geschlecht von Ministern die Monarchie ohne Bruch in ein neues Zeitalter hinüberzuleiten suchte, der Zeit, der Sainte-Beuves Vater angehörte und der er sich in vieler Hinsicht zeitlebens verbunden fühlte. Die Sammlung der zeitgenössischen Bildnisse wird mit einer Vorb e m e r k u n g vom 15. August 1845 eröffnet. Sainte-Beuve hat die Dichter ausgelegt und verkündet, seine Kritik ist vorsichtig und zurückhaltend gewesen. Aber wie wenig von den großen Hoffnungen hat sich erfüllt! Alle Aristokratien, alle Talente sind dem Verfall preisgegeben, w e n n nicht unermüdliche W a c h s a m k e i t und Arbeit sie 23
lebendig erhält. — Der früheste Beitrag in dieser Sammlung, ein Lobgesang auf Victor Hugo, stammt aus dem Jahre 1831, die letzten, eine ausführliche und anerkennende Darstellung des Historikers Fauriel und eine zweifelnde, im Grunde ablehnende des Revolutionshistorikers Mignet, gehören dem Jahre 1846 an. So fällt dies Werk als Ganzes in die Zeit Julimonarchie. Sainte-Beuve hat sie von Anfang an gehaßt; daß er zuletzt unter ihr ein bescheidenes Amt in der Gelehrtenrepublik bekleidet und Mitglied der Akademie wird, stempelt ihn nicht zu ihrem Anhänger. Tiefer wirkt auf ihn die Rückkehr zur literarischen Tradition, die sich mit Notwendigkeit unter der Herrschaft des Bürgertums vollzieht. Aber den Kern dieser Sammlung bilden doch die Aufsätze über die Gegner der „richtigen Mitte" aus den verschiedenen Lagern. Zuerst Chateaubriand. Im Salon der Frau von Récamier läßt er Teile seiner Memoiren vorlesen, in seiner Gegenwart. Hier weht noch die Luft des Liberalismus aus der Restaurationszeit. Auch der Schatten der Frau von Staël ist anwesend: „Das große Gemälde, das die ganze Wand des Hintergrundes bedeckt und erhellt, ist Corinna aip Kap Miseno." Auf dem Marmorkamin ein Zweig der Esche oder Eiche, als Zeichen der Beständigkeit. Daneben, auf Tischen aus duftendem Holz, ausgewählte Bücher, darunter einige Prachtexemplare mit freundschaftlichen Widmungen von den drei oder vier Großen des Zeitalters. Sainte-Beuve, noch ein junger Dichter und Schriftsteller, befriedigt von seiner^Zulassung in diesen Kreis, beschreibt diese Welt so, wie sie gesehen werden will. In dieser Umgebung lauscht Chateaubriand den Erzählungen seiner eigenen Irrfahrten, wie einst Odysseus bei den Phäaken. Aber er ist für Sainte-Beuve in dieser Zeit der wirkliche Schöpfer der modernen Poesie, der die große Form des französischen Klassizismus erneuert und sie mit den Schätzen einer neuen Welt des Gefühls erfüllt hat. Auch seine politische Linie wird nun ganz verstanden, so meint Sainte-Beuve. Der Kritiker rückt von den letzten legitimistischen Streitschriften Chateaubriands, nach 1830, ab und möchte in ihnen ritterliche Kundgebungen für eine Sache sehen, an die der Kämpfer selbst nicht mehr glaubt. Aber eben in dieser Ritterlichkeit des Mannes aus altem bretonischem Adel will er den unveränderlichen Grundzug seines Charakters sehen. Er bringt ihn in Gegensatz zu dem herrschenden Regiment der Furcht, Begierde und Verschlagenheit. Chateaubriand hat im Lauf seines Lebens immer wieder die Fähigkeit der sittlichen Entrüstung bewährt, und diese Eigenschaft stellt ihn neben la Mennais und den Führer der jungen republikanischen Partei, Armand Carrel. In dieser Einreihung steckt ein Teil Propaganda. Sainte-Beuve spricht in diesem Aufsatz von seinen demokratischen Überzeugungen und bekennt seine Hinneigung 24
zur Republik der Zukunft. So möchte er Chateaubriand in die Koalition der Kräfte gegen das Bürgerkönigtum aufnehmen. Und Chateaubriand betrachtete seine politische Rolle selbst noch nicht als beendet. Aber die Julimonarchie zeigt eine viel zähere Lebenskraft, als die Gegner ihr zutrauen. Die christliche Demokratie, geführt von Adligen, scheitert in ihrem ersten Stadium an dem Widerstand der Kirche selbst. Und Sainte-Beuve wendet sich enttäuscht von der Politik ab, so wie er später auch ganz anders über Chateaubriands Charakter und seine Triebkräfte urteilen wird. Dennoch hat er den Chateaubriand nach der Julirevolution und seine Stellung nicht unrichtig gesehen. Es gab innere Beziehungen zwischen den aristokratischen und den demokratischen Feinden der Bourgeoisie. Und Sainte-Beuve wird den Knoten aus Tradition und Revolution immer wieder zu schürzen suchen, politisch und mehr noch literarisch. Das macht seine eigentliche Größe aus und rückt ihn in die Reihe derjenigen Schriftsteller, die über den Streit der Richtungen hinauswachsen und dadurch zu klassischer Geltung gelangen. Auch an Chateaubriand bewundert er vor allem den langen Atem, die Ausdauer und die immer neue Kraft über ein langes Leben hin. Er hat das Epos seiner Zeit gelebt und hat ein Recht darauf, es in seinen Memoiren wiederzuerzählen. Auch offenbart er die eigentliche Ursache des Weltschmerzes, der so viele seiner und der folgenden Generation heimsucht. Er hat zu viele Gesellschaften sich bilden und vergehen sehen, um irgendwo noch das selbstverständliche Gefühl der Dauer zu haben. Sie alle sind durch die Revolution entwurzelt. Die Gemeinsamkeit dieses Schicksals und der Aufgabe, es zu überwinden, verbindet auch Sainte-Beuve mit Chateaubriand. Aber jener ist ein Sohn des mittleren Bürgertums, kritisch, zäh, positiv, und so wird er andere Wege gehen als der Adlige mit dem Weltschmerz und der ewigen Sehnsucht des Kreuzfahrers und sich schroff von dem Toten trennen. Der Priester Felix de la Mennais war eine Schicksalsgestalt für Sainte-Beuve. Er schreibt drei Aufsätze über ihn, den ersten 1832. Diesen beginnt er mit einer Stelle aus einem Brief Lamennais' an den Kritiker selbst: „Was sich am ersten in uns abnutzt, das ist der Wille. Bemühen Sie sich deshalb, einmal zu wollen, kräftig zu wollen, geben Sie Ihrem schwankenden Leben eine bestimmte Richtung und lassen Sie sich nicht mehr von jedem Windhauch forttragen wie getrocknetes Gras." Dieser Rat könnte beinahe an jeden gerichtet sein, denn nichts ist in jener Epoche so selten geworden, so meint' Sainte-Beuve, als ein bestimmter, unverrückbarer Glaube. Es ist, als ob der gewaltige Wille Napoleons am Anfang des Jahrhunderts seine Fähigkeit zu wollen erschöpft hätte. Gegen diese Indifferenz seines Zeitalters tritt Lamennais mit der Forderung 25
auf, sich zu entschiedenem Christentum zu bekennen. Sainte-Beuve bewundert ihn als das erhabenste Beispiel der wesenhaften und geheiligten Verbindung des Willens mit der Einsicht, unter Besiegelung durch den Glauben. Aber er selbst bekennt sich nicht zu Lamennais' Standpunkt, mit der künstlichen Begründung, daß die gefährliche Neigung vieler junger Geister, sich vorzeitig zu einem Glauben zu bekennen, gegen den man in einzelnen Punkten noch Zweifel hege, grade zur Gleichgültigkeit führe. Lamennais' Auffassung vom Christentum ist aber weniger individuell als politisch und sozial. Die Revolution soll überwunden, die Gesellschaft unter das Gesetz der Kirche gebracht werden. Lamennais bekämpft anfangs den Absolutismus in jeder Form, den monarchischen so gut wie den demokratischen. Die oberste Herrschaft gehört der Kirche! Aber nach der Julirevolution sucht er das Bündnis zwischen der Kirche und der demokratischen Bewegung herzustellen. Der Kritiker bewundert die literarische Leistung der Worte . eines Gläubigen, billigt ihre soziale Prophetie, aber er warnt vor dem Übermaß der Polemik. Dann folgt die Katastrophe Lamennais'. Der Päpstliche Stuhl erklärt sich gegen seine Koalition mit der Demokratie, und Lamennais bricht mit der Kirche. Sainte-Beuve ist schwer getroffen und geht mit Schärfe vor. Wir sind- in der besonderen Lage, so beginnt er die Besprechung über Lamennais' römischen Reisebericht, daß wir alle seine Bücher gelesen haben und uns daran erinnern. Seit seinem Versuch über die Gleichgültigkeit hat sich Lamennais, unter so vielen wandlungsfähigen Schauspielern, durch seine Unbeugsamkeit und Folgerichtigkeit ausgezeichnet. Sein Ziel war, die gleichgültig oder materialistisch gewordene Gesellschaft zum Glauben an den Geist zurückzuführen, d. h. wie er es verstand, zum römischen Katholizismus. Mit den Mitteln hatte er gewechselt, der Monarchist war nach der Julirevolution zum Liberalen geworden, aber der Zweck war derselbe geblieben. Jetzt hat die Atmosphäre des Jahrhunderts ihn besiegt, in diesem eisernen Willen ist irgendwo etwas zerbrochen, und die eherne Kette bedeckt mit ihren Gliedern den Boden. Was ist aus seinen unbedingten Behauptungen über den Sieg und die ewige Dauer der Kirche geworden? Sainte-Beuve hält sie ihm in langen Ausführungen entgegen. Und was glaubt er jetzt? Worin besteht das „wahre" Christentum, das er jetzt bekennt? „Nichts ist schlimmer, als die Seelen zum Glauben zu rufen und sie dann unvorhergesehen zu verlassen, indem man weiterzieht . . . Wieviele hoffende Seelen habe ich gekannt, die Du festhieltest und in Deinem Pilgersack mit Dir trugst und die nun, da Du den Sack weggeworfen hast, im Straßengraben liegen!" Sainte-Beuve will anklagen, wenn auch sein Ruf wie eine Klage um eigenes Leid erscheinen sollte. 26
W e n n er sich dem Einfluß Lamennais' auch nicht völlig überlassen hat, so hat er doch in ihm einen Seelenführer verloren, an dessen scheinbar unbeugsamen Willen er seinen anlehnte. Und noch bitterer ist eine andere Erfahrung, die er an Lamennais gemacht hat und die ihn als Kritiker erschüttert: W i e schwach ist der menschliche Geist in den großen Schriftstellern! Dieselbe Enttäuschung erlebt er an Lamartine. 1832 schreibt er über ihn im ganzen, 1836 bespricht er das Epos Jocelyn, 1839 Lamartines letzte lyrische Sammlung, Receuillements poétiques. Sainte-Beuve holt weit aus, um Lamartines Stellung zu bestimmen. Piaton hat die W e l t der Ideen, des W a h r e n , der Schönheit und der Liebe, für das Abendland entdeckt, Christus sie ins Leben übergeführt und allen zugänglich gemacht. Diese Verschmelzung von Religion, Dichtung und Philosophie findet ihre höchste V e r k ö r p e r u n g in Dante. Aber diese Einheit zerfällt in der Folgezeit, die Theologie verliert den Zusammenhang mit dem Leben, die Philosophie w e n d e t sich gegen den Glauben. Aber auch in diesen Zeiten der V e r w i r r u n g und Verdüsterung halten einzelne Geister für sich und andere den Zugang zum Reich der Ideen offen. Zu ihnen zählt Sainte-Beuve auch Diderot und Rousseau, soweit sie in ihren Schriften n e u e Blicke in das innere Leben der N a t u r und der Seele eröffnen. An Rousseau knüpfen Bernardin de Saint-Pierre, Frau von Staël und Chateaubriand an. Sainte-Beuve erzählt aus seiner Jugend, daß er auf seinen Gängen im Freien Bernardins A n r u f u n g der W ä l d e r und ihrer tönenden Lichtungen mit Tränen wiederholt habe, ü b e r Bernardin und Chateaubriand wirkt Rousseau auf Lamartine. Er ist der Dichter der Liebe, der Natur und des Glaubens. Seine Volkstümlichkeit aber beruht auf seiner engen Beziehung zu den überlieferten Gefühlen, er spricht aus, was alle wissen und empfinden. So deutet er uns die Tageszeiten, die Farbe der Wolken, das Rauschen der Bäume, Schönheit, Liebe und Tod. Selbst dort, wo er sich hoch über die Menge erhebt, bleibt er ihr vertraut. Auch in seinem politischen Programm bricht er nicht mit der geistigen Tradition, die höchste Vernunft ist ihm nichts anderes als der Logos des Johannesevangeliums, das kommende Reich des Evangeliums zugleich das der w a h r e n Freiheit. Ein glücklicher Traum, auch wenn es nur ein Traum ist! N u r aus diesem einen Satz spricht Sainte-Beuves Zweifel, seine tiefere Einsicht in den Gegensatz zwischen den alten und den neuen Gedanken. Sonst folgt er Lamartines W e g ohne kritische Bemerkungen, denn seine eigenen W u n s c h t r ä u m e haben manche Verwandtschaft mit denen seines Modells. Bemerkenswert ist die Klarheit, mit der er Lamartines Volkstümlichkeit hervorhebt. Der Dichter ist ihm der w a h r e Prophet. W e n n dieser aber eines 27
Tages auf sein künstlerisches Amt verzichtet, wie wird sich der Kritiker dann zu ihm stellen? Lamartines Epos Jocelyn zeigt den Lyriker im Übergang zur Weltdichtung, in seinem Gefühl ist die Menschheit an die Stelle der Geliebten getreten, der Wille zur Wirkung auf die Gesellschaft und ihre Moral beginnt den Dichter zu beherrschen, aber noch hat sich der Prophet nicht von diesem getrennt. Sainte-Beuve nimmt diese Geschichte von der Versuchung und Resignation des jungen Priesters so, wie der Dichter sie bietet, und erwähnt nur in einer Anmerkung die Kritik des Schweizers Alexander Vinet, ohne auf ihren Hauptpunkt einzugehen. Vinet, der protestantische Theologe, sieht, daß Lamartine eine schiefe Stellung zum Katholizismus hat. Jocelyn opfert sich und die Geliebte, indem er sich von seinem Bischof zum Priester weihen läßt; und tut dies, nicht weil er eine innere Berufung in sich fühlt, sondern damit er dem zürn Tode Verurteilten in der letzten Nacht Absolution erteilen kann. In der allgemeinen humanitären Gefühlswelt des Epos ist dies Opfer unnötig und schuldhaft. Die Dichtung, so faßt Vinet sein Urteil zusammen, hat keine moralische Wahrheit, sie ist nicht folgerichtig in sich, und deshalb wird sie nicht bleiben. Diese Schärfe der Analyse vermeidet Sainte-Beuve also,- aber er räumt ein, daß die fernere Entwicklung Lamartines auch auf die Christlichkeit dieses Epos nach rückwärts ein bedenkliches Licht wirft. In der Besprechung der Receuillements poétiques geht er dann ohne Rückhalt auf die innere Revolution ein, die sich in Lamartine seit der Julirevolution vollzogen hat. Er und Lamennais, sie haben, wie jene Kunstreiter des Altertums, mitten im Rennen die Pferde gewechselt und sind auf der neuen Strecke schon munter vorangeritten! Aber Sainte-Beuve muß zugeben, daß auch der Kritiker nicht mehr derselbe ist. Er ist älter geworden, und wo er in den Jahren der grenzenlosen Hoffnungen einen Fortschritt gesehen hätte, möchte er heute von einer Entgleisung sprechen. Wo ist die innere Grenze, an der die Wandlungsfähigkeit halt machen müßte? Man sollte sich selbst treu bleiben, ohne zu erstarren. Goethe, so meint Sainte-Beuve hier, erneuert sich ständig, aber er zerbricht sich selbst, Manzoni bleibt treu, aber er schweigt. In seiner Vorrede zu den Receuillements hat Lamartine über sein Verhältnis zur Poesie und zur Politik gesprochen. Er hat gegen ein Vorurteil zu kämpfen. Man will ihn hier nicht ernst nehmen, weil er dort geglänzt hat. Aber er habe der Poesie nicht, wie das brave Publikum meint, dreißig Jahre gewidmet, sondern nicht einmal dreißig Monate, und in einer Epoche wie dieser könnte nur der Skeptiker oder der Egoist sich von der Politik zurückhalten. Sainte-Beuve antwortet ihm mit Nachdruck im Namen derer, die nichts anderes sein wollen als Männer 28
der Literatur und der Dichtung. Lamartine hat einmal selbst in einer Sitzung der Kammer verlangt, man solle ihn nicht nötigen, zu den Streitigkeiten des Tages Stellung zu nehmen, und die W ü r d e des Schweigens für sich in Anspruch genommen. Diese W ü r d e fordert Sainte-Beuve auch für sich. Es gibt verschiedene Ämter, und auch derjenige, dem Gott das des Dichters und Schriftstellers verliehen hat, dient dem Ganzen, wenn er es treu verwaltet. A n dieser Hingabe aber läßt Lamartine es in seiner letzten Sammlung fehlen, er macht es sich zu leicht. Der Schluß aus all dem ist trübe. Die Begriffe des Schönen und Wahren verwirren sich. Gibt es so etwas w i e eine Kunst? Ist es nicht ein Wahn, daran zu glauben? Vielleicht hat der große Dichter Lamartine, den Sainte-Beuve auch ferner für einen solchen hält, v o r der Nachwelt recht, wenn er sich dem Strom der Zeit überläßt, auch in der Behandlung der sprachlichen Form. Die Generation, die über uns urteilen wird, ist ja nicht die unsere, die sich vielmehr schon dem Ende zuneigt. „ A b e r das heißt zu v i e l bezweifeln; das Gewissen, auch in einem solchen Falle, sagt nein und empört sich; ich komme auf das gewisse, bereits bewährte Gesetz zurück: die Kunst, w i e die Moral, w i e alle Arten von Wahrheiten, hat ihr Dasein unabhängig von dem Erfolg." Sainte-Beuve denkt in Fragen des Geschmacks w i e ein Humanist, das Schöne unterliegt nach seiner Meinung nicht dem Wandel der Zeiten, Lamartine dagegen ist Humanitarier, er glaubt an eine künftige Vollkommenheit der Menschheit. Jener ist skeptisch und erwartet von der Natur des Menschen wenig oder nichts, dieser dagegen alles, denn ihn beherrscht ein Wunschbild. Dem Charakter Lamartines wird Sainteßeuve nicht gerecht. Er sieht in ihm den Ehrgeizigen, der sich die revolutionäre Situation schafft, um in ihr emporzusteigen. Die Februarrevolution hebt ihn für einen Augenblick auf den höchsten Gipfel, drei Monate lang übt er eine Diktatur der Rede aus. A m 16. April 1848 trifft Sainte-Beuve ihn, das Mitglied der vorläufigen Regierung und zugleich deren Außenminister, w i e er mit nur einem Begleiter v o m Stadthaus zum Sitz seines Ministeriums geht. Soeben hat er, gemeinsam mit seinem demokratischen Kollegen Ledru-Rollin, eine Demonstration der radikalen Klubs zum. Scheitern gebracht, indem er die Nationalgarde gegen sie aufgerufen hat. Sainte-Beuve rät ihm, seine Kraft zu gebrauchen, er sei stärker, als er selbst denke, warnt ihn aber v o r der Politik von Ledru-Rollin. Der Rat zeugt von politischer Einsicht. Lamartine ist der Vertrauensmann des gemäßigten Bürgertums, er kann seine Stellung an der Spitze der Staatsgewalt für lange Zeit befestigen, nur muß er sich von der republikanischen Linken trennen, die dem Bürgertum verdächtig ist. A b e r das hieße die Revolution nach rückwärts wenden, und dazu vermag 29
er nicht die Hand zu reichen. Ein bloßer Ehrgeizling hätte es getan. Lamartine aber will der Mann der ganzen Nation sein, er scheitert an dem unüberwindlichen Gegensatz zwischen seiner politischen Idee und der Wirklichkeit. Drei große Dichter haben im 19. Jahrhundert in die französische Politik eingegriffen, Chateaubriand, Lamartine und Victor Hugo. Chateaubriand leitet ein paar kurze Jahre hindurch als Minister des Äußeren die Geschicke seines Landes, aber er scheitert an dem unversöhnlichen Gegensatz zwischen den Bourbonen und der Revolution. Als er stirbt, von seiner Zeit überholt, ist Lamartine bereits wieder gestürzt. Er hat wenige Monate hindurch die zweite Republik geleitet und erliegt in dem Zusammenstoß von Bürgertum und Proletariat. Victor Hugo hat vom Exil aus einen erbitterten Kampf gegen Louis Napoleon geführt, und wenn er auch nach dem Sturz des zweiten Kaiserreiches in der Politik seines Landes nur eine kurze, wenig glückliche Rolle gespielt hat, so ist er doch einer der Propheten der dritten Republik. Alle drei sind für die Poesie geboren, nicht für die Politik. Sie leben mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit, und was sie vorwärts treibt, ist mehr die Sehnsucht des Romantikers, das eigene Ich auszukosten, als das Bedürfnis, andere zu lenken, das den wirklichen Staatsmann macht. Von ihnen ist Hugo derjenige, dem Sainte-Beuve am nächsten gestanden hat. Er hat ihm in den Zeitgenössischen Bildnissen drei Aufsätze gewidmet und in einer Anmerkung zur letzten erklärt, warum er über das umfassende Werk des großen Dichters nicht mehr geschrieben hat. ü b e r die persönlichen Ursachen seines Bruchs mit dem ehemaligen Freund kann er nicht sprechen, und da er in ihm den Verbannten und den Gatten seiner ehemaligen Freundin schont, so bleiben seine Erklärungen unzureichend. Aber er druckt aus seinen Papieren einen alten Brief Hugos ab. Revolutionäre Unruhen bei der Bestattung des oppositionellen Abgeordneten und einstigen napoleonischen Generals Lamarque 1832 haben die Regierung veranlaßt, über Paris den Belagerungszustand zu verhängen, damit sie die verhafteten Revolutionäre vor die Kriegsgerichte bringen kann. Die Republikaner um Armand Carrel, zu denen auch Sainte-Beuve damals gehört, wollen öffentlich Einspruch erheben, und Hugo wird aufgefordert, mit zu unterzeichnen. Er ist bereit dazu. Wenn die Verfechter der „Ordnung" politische Hinrichtungen wollten und nur vier mutige Männer sich erheben würden, um die Opfer zu retten, so würde er der fünfte sein. Aber man soll die Idee der Republik nicht mit Erinnerungen an die Guillotine und die Schreckenszeit beflecken. ,,Laßt uns etwas weniger von Robespierre sprechen und etwas mehr von Washington!" Sainte-Beuve blieb es unbekannt, 30
daß Hugo sich ein Jahr vorher zur Unterstützung der Kandidatur des Herzogs von Reichstadt verpflichtet hatte, die Grenzen zwischen der republikanischen und der bonapartistischen Bewegung waren damals noch flüssig. Er führt den Brief an, um zu zeigen, daß schon in dem Dreißigjährigen der Keim zu der Kampfstellung des Verbannten v o n Jersey und Guernesey steckte, daß der Volkstribun bereits damals die Decke des Dichters und Phantasiemenschen durchstieß. Victor Hugos Brief ist ebenso entschlossen w i e besonnen, und es sieht nicht so aus, als ob Sainte-Beuve dem Gegner des zweiten Kaiserreiches Schaden zufügen wollte. A b e r er erinnert im Vorbeigehen an die gleichlaufende Entwicklung Lamartines. W a s er Hugo vorwirft, ist der A b f a l l von der rein literarischen Wirksamkeit. Daß er sich schon so frühzeitig von der Literatur zur Politik wandte, so dürfen wir Sainte-Beuves Gedanken vervollständigen, ist ein starker Einwand gegen sein Dichtertum überhaupt. Der erste Aufsatz der Bildnisse über Hugo ist im wesentlichen eine idealisierende Biographie. Der Knabe erwächst unter den einander kreuzenden • Einflüssen von Vater und Mutter. Jener, ein General Napoleons, vertritt dabei den Ruhm und Glanz des Kaiserreichs, diese den Royalismus und die Aufklärung, eine Verbindung, die, aus dem achtzehnten Jahrhundert stammend, in einzelnen Persönlichkeiten noch fortbestand. Der junge Victor tritt zuerst als begeisterter Anhänger der wiederhergestellten Bourbonenherrschaft in die Öffentlichkeit, Erinnerung an den Druck des Napoleonschen Systems hat dabei mitgewirkt, aber die Grundlagen seiner politischen Uberzeugung, Unabhängigkeitssinn und freies Denken, bleiben auch unter der monarchischen und kirchlichen Decke erhalten. In den letzten Jahren erwacht die Verehrung für den Glanz des Kaiserreichs in ihm von neuem, zugleich verstärkt sich sein gefühlsmäßiger Liberalismus. Mit Hernani geht er zum Drama über, und damit zum handelnden Leben, von nun an steht er der M e n g e von Antlitz zu Antlitz gegenüber. Diejenigen seiner Freunde aber, die mit ihrer Liebe an der Dichtung des persönlichen, inneren Erlebnisses hängen, beklagen es, daß er in den Staub der Theater geraten ist. Bedenkt man, w i e wenig in diesem Jahre 1831 noch von Victor Hugos vorbestimmtem Lebensgang erfüllt war, so ist man um so mehr geneigt, diese Charakteristik zu bewundern, in der bereits alle Züge dieser Persönlichkeit enthalten sind, teils schon voll entfaltet, teils nur vorgedeutet. — Sainte-Beuve bespricht in dem nächsten Aufsatz Victor Hugos neue Gedichtsammlung, die Herbstblätter. Sie erscheint ihm als ein getreuer Spiegel der zerrissenen Zeit. Die Gesellschaft ist vorläufig in den elementaren Zustand des familienhaften Lebens zurückgesunken, weil es für den Menschen dieser Epoche kein Vaterland und keinen Gott mehr gibt. 31
Er bringt den Geist dieser Sammlung in einem großartigen Bild zum Ausdruck. Von seinem Ruhm umgeben sitzt der Dichter am häuslichen Herd, er glaubt an die Familie, an die Vaterschaft, seine letzte und einzige Religion, und nimmt die Zweifel und Ängste hin, die einer glühenden Seele nie erspart bleiben, wie einen atmosphärischen Zustand, er bleibt der Glückliche und Weise, mit den tödlichen Befürchtungen an den Grenzen seines Geistes, sein Zustand ist Fülle, umgeben von Leere. Sainte-Beuve kleidet seine Bedenken gegen den Geist dieser Poesie in christliche Form, das entspricht einer Etappe seiner eigenen persönlichen Entwicklung, tief und echt aber ist sein innerer Schauder vor diesem stolzen König' und 'Patriarchen, der einsam mit den Seinen lebt und hochmütig in dem Bewußtsein seiner Größe wohnt. Diese Entfremdung wächst. Es folgt eine Besprechung der Romane Hugos, die wiederabgedruckt worden sind, bis zu NotreDame von Paris. Romane, so beginnt Sainte-Beuve seine Ausführungen, sind Streifzüge durch die Welt, die einen langen Atem erfordern. Die Jugend aber kennt das Leben noch nicht, sie stößt pathetisch dagegen vor und fällt leidend wieder auf sich selbst zurück, die ihr gemäßen Gattungen sind Drama und Lyrik. Deshalb ist der Roman erst Sache der zweiten Jugend, einer Lebenszeit, in der sich mit der Frische und Empfänglichkeit der ersten Jugend schon der Reichtum der Erinnerungen und die Fähigkeit der Ironie und des Mitleids verbinden. So muß auch Hugo in diese Kunstform erst langsam hineinwachsen. Es gelingt ihm von einem Roman zum anderen immer mehr. Aber auch in dem dritten und letzten der hier behandelten vermißt Sainte-Beuve, was man in seinem Sinne die Mitte des Lebens nennen könnte. Die äußersten Punkte der menschlichen Natur werden gezeigt, aber die mildernden Übergänge zwischen ihnen fehlen, ü b e r diesen Menschen von Notre-Dame waltet ein gewaltsames Schicksal ohne Erbarmen. Ich aber, so ruft Sainte-Beuve, flehe um Mitleid, wenn nicht unter den Menschen, dann wenigstens im Himmel. An vielen Stellen des Romans vermissen wir das Mitgefühl, bei dem entsetzlichen Ende aber den Glauben an das Göttliche überhaupt. Vier Jahre später, 1835, erscheinen die Dämmerungsgesänge. Sainte-Beuve beginnt seine Besprechung zwar mit einem allgemeinen Lob für den Reichtum der Produktion bei diesem Dichter, der Sammlung nach Sammlung herausbringt, aber nur um es einzuschränken, ja, eigentlich aufzuheben. Die großen Oden politischen und sozialen Inhalts erscheinen ihm künstlich, übersteigert, gewollt, eine Anpassung an die Zeitströmung, in der sich monarchische Erinnerungen, christlicher Wortgebrauch und saint-simonistische Gefühle mischen. Nun hat Victor Hugo selbst in seinem Vorwort den verworrenen Zustand der Zeit beschrieben und es für sich abgelehnt, zu ihren Zielen ein partei32
mäßiges J a oder Nein zu sagen. Er will nur zu denen gehören, die hoffen, das bedeutet aber, daß er sich den Gedanken seiner Umwelt nicht verschließt. Ohne Zweifel hat er als Dichter ein Recht zu diesem Standpunkt, und es fragt sich dann nur noch, ob das einzelne Dichtwerk einen erlebten politischen oder sozialen Gehalt ausdrückt. An einer Reihe von stilistischen Einzelheiten sucht Sainte-Beuve weiter zu zeigen, daß Hugo allgemein dazu neigt, durch Heftigkeit des Ausdrucks die Gesetze einer maßvollen Harmonie zu verletzen. Aber gerade diese Wendungen erseheinen uns heute als eindrucksvolle Metaphern, die mit Notwendigkeit aus dem Geist dieses Dichters entspringen. Aus demselben Mangel an literarischem Takt erklärt SainteBeuve dann das Nebeneinander einer Reihe von leidenschaftlichen Liebesgedichten und einiger Gedichte auf die Gattin und die Mutter seiner Kinder. Aber der Kritiker hat damit seine Grenzen überschritten und persönliche Verhältnisse angedeutet, deren Kenntnis aus anderen Quellen stammte als aus dem Werk Hugos selbst. Dies enthält schöne Liebesgedichte, denen auch Sainte-Beuve ihren Wert nicht bestreitet, und Worte des Dankes und der Verehrung von großer Innigkeit an die Gattin, von einem Gegensatz zwischen diesen Gefühlen sagt das Werk uns nichts. Es steht mit dieser kritischen Verirrung im Grunde genau so, wie mit der Bemerkung, daß die politischsozialen Oden nicht auf einen Generalnenner zu bringen seien. SainteBeuve löst die Gedichte auf, um aus ihnen gleichsam nach rückwärts den Stoff des Erlebens wieder zu gewinnen, aus dem sie geformt sind. Damit aber zerstört er sie als Kunstwerke, ja, er hebt die eigentliche Leistung des Dichters geradezu auf. Victor Hugo hat sich selbst in seiner Einleitung schon dagegen verwahrt, daß man seine persönlichen Schicksale und Gefühle aus den Gedichten erschließen wolle. Es komme ihm nur auf eine Widerspiegelung des Allgemeinen an. Er hat das persönlich Erlebte in seinen Gedichten zu allgemeiner Bedeutung erhoben. Sie stehen nebeneinander, jedes in seiner besonderen Wesenheit, gemeinsam ist ihnen die Art ihres Schöpfers zu fühlen und zu denken und seine Ausdrucksweise, und trotz ihrer Verschiedenheit bilden sie eine höhere künstlerische Einheit, dargestellt durch die Gedichtsammlung als Ganzes. Und auch die Persönlichkeit des Dichters, die aus ihnen und durch sie zu uns spricht, ist für den Hörer und Leser eben die geläuterte und gehobene des Dichters, und nicht der empirische Mensch mit dem und dem Namen. In dieser Besprechung, die zugleich ein Stück Bildnis sein will, hat die künstlerische Kritik unter der biographischen Absicht schwer gelitten, sie ist ein unglückliches Erzeugnis. Es kommt noch hinzu, daß Victor Hugo als Mensch einseitig beurteilt ist. Von der angeborenen Genialität seines Wesens dringt durch alle diese Einwendungen und Vorbehalte 3 Deiters, Sainte-Beuve
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kaum etwas hindurch. Noch einmal beschäftigt sich Sainte-Beuve in seinen Kritiken mit der Persönlichkeit Hugos, als dieser zu den neu herausgegebenen Memoiren Mirabeaus eine Studie über diesen geschrieben hat. Die Erinnerungen großer Männer machen sie uns vertraut, wir erkennen ihre tiefen Wurzeln in der Erde, die unsere gemeinsame Mutter ist. Sie erscheinen uns wie unsere Brüder, nur reicher gesegnet oder härter geprüft. So wirken sie gegen die abgöttische Verehrung der großen Männer, die seit einiger Zeit Mode geworden ist. Unter Ludwig XIV. finden wir einen maßlosen Kult des Herrschers, sonst aber beurteilte man damals die Genies und ihre Aufgaben richtig. Im 18. Jahrhundert strebt ein Geist der Menschlichkeit empor, der christlichen Brüderlichkeit und der Gleichheit der Menschen vor Gott. Dann aber tritt ein Rückschlag ein. Die sittlichen Ideen sind durch den Fanatismus und die Lüge abgenutzt, und Bonaparte demoralisiert die Menschen, indem er sie lehrt, das Recht den Tatsachen, die Pflicht dem Wohlsein, die Überzeugung dem Nutzen zu unterwerfen. Das Christentum ist eine menschliche Lehre, er aber, weniger und mehr als Mensch, ist der Ausdruck seiner halb sklavischen, halb barbarischen Zeit. Sein Bild bleibt maßgebend, auch als seine Person gestürzt ist. Die Restauration verkündet die Lehre, daß Sieg und Erfolg den Willen der Vorsehung verkündeten, und der Saint-Simonismus treibt den Kultus des providentiellen Menschen noch weiter. Michelet, den Sainte-Beuve zitiert, klagt über die Herrschaft des Fatalismus in der Philosophie, bei Vivo, Herder, Schelling, Hegel, sie alle sind einig gegen die Ideen des persönlichen Gewissens, der Verantwortlichkeit und der Freiheit. Gegen diese Denkweise empört sich.in Sainte-Beuve der christliche Humanist, der Sohn der Mittelklasse, die sich zwischen die geblendete Masse und deren Götzen eingepreßt findet. Er verlangt nach den großen Männern, die es in Harmonie und Reinheit sind, nach Vergil, Terenz, Racine, Fenelon. Victor Hugo aber wirft er gerade dies vor, daß er in seiner Studie über Mirabeau dieser Vergötzung der großen Männer verfällt. So wird er ungerecht gegen eine Reihe von Männern zweiten Ranges, zu denen solche von großem Namen in der Revolution gehören, wie Necker, Roland, Sieyes. Auch beurteilt er Mirabeau falsch, wenn er ihn hauptsächlich als den Zerstörer des alten Gebäudes nimmt, während er in Wirklichkeit tiefer sah und die Bedeutung des geschichtlich Gewordenen und Organischen in der Gesellschaft erkannte. Es ist nicht zweifelhaft, daß der Gegensatz Sainte-Beuves zu Hugo peinliche Züge literarischer und männlicher Eifersucht hat, aber in diesen grundsätzlichen Bemerkungen Sainte-Beuves zeigt sich doch, daß sich dahinter ein wesentlicher Unterschied der Charaktere verbirgt. Beide sehen die Welt unter grundverschiedenen Voraussetzungen an. 34
Von Grund aus anders ist das persönliche Verhältnis Sainte-Beuveszu einer anderen großen Gestalt der Epoche, zu George Sand. Er bespricht 1832 und 1833 ihre ersten selbständigen Romane, Indiana, Valentine und Lelia. In die erste Ausgabe seiner zeitgenössischen Bildnisse hat er diese Artikel jedoch nicht aufgenommen. Seine Beziehungen zu George Sand waren damals kühler geworden, auch mögen äußere Rücksichten mitgesprochen haben, denn er war unterdessen Mitglied der Akademie geworden, während sie in ihre radikale Periode eingetreten war. Vielleicht hat er aber auch empfunden, daß seine Besprechungen, im ganzen genommen, der Persönlichkeit der Verfasserin nicht völlig gerecht wurden. An Indiana rühmt er uns, daß sie keine Bilder aus der Geschichte gibt, wie sie seit Scott die große Mode der Zeit geworden waren, sondern ein lebendiges Stück Gegenwart, einen Ausschnitt aus unserer eigenen Welt. Die Leidenschaft gelangt darin zu freier Entfaltung, ohne Rücksicht auf die Übereinkünfte und Eitelkeiten unseres täglichen banalen Lebens.- Die Liebe der Frau wird über alle Scheinwerte hinausgehoben und auf den Thron der Welt gesetzt, die Stelle, die ihr zukommt. W i r hören in diesen Worten Sainte-Beuves die Stimme der Saint-Simonisten, aber sie treffen auch das, was an diesem Roman noch heute unveraltet ist, den rührenden Eindruck einer liebenden Frau, die inmitten einer rohen oder verdorbenen W e l t ein Leben der Leidenschaft und Hingabe beginnt und zu Ende führt. Das zweite Werk, Valentine, entspricht am meisten dem Bilde, das Sainte-Beuve sich von dem häuslichen und idyllischen Roman gemacht hat, er lobt es daher in seiner ersten Hälfte fast ohne Einschränkung. Aber eine andere Seite der Dichtung läßt er zu sehr im dunkeln. George Sands zweiter Roman ist so gut wie der erste sozialkritisch gedacht, der Liebende ist der entwurzelte Sohn armer Bauern, den wohlmeinende Verwandte haben studieren lassen, und so, seiner eigenen Sphäre entrissen, verfällt er der unglücklichen Leidenschaft zu einer Frau aus der Aristokratie. Der Roman Lelia ist dichterisch schwächer als die beiden früheren, aber nach Inhalt und Tendenz das bedeutendste W e r k aus dieser Periode seiner Verfasserin. Bei einem flüchtigen Rückblick auf seine Besprechung der Indiana räumt Sainte-Beuve ein, daß er den weltanschaulichen und sozialen Charakter jener Dichtung zu wenig betont habe. Hier, in Lelia, tritt der philosophische und lyrische Roman ins volle Licht. In einer allgemeinen Einleitung über die Frauendichtung in Frankreich bringt er Lelia in Beziehung zum Saint-Simonismus und seinen Gedanken über die Befreiung der Frau, und dort, wo er George Sands Dichtung mit Nachdruck gegen böswillige oder törichte Kritiker in Schutz nimmt, bezeichnet er ihre ursprüngliche Idee völlig treffend als halb Saint-Simonistisch, halb Byronisch, so3»
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wie er der Verfasserin schon vorher geschrieben hat: „Das wird Ihr philosophisches Werk werden, Ihr allgemeines Bild von der Welt und dem Leben." Aber in seiner Analyse hebt er dennoch die psychologische Seite der Dichtung stärker hervor. Die enttäuschte Frau von dreißig Jahren, noch jugendlich, aber doch schon an der Schwelle desAlters, steht zwischen dem schwärmerischen, aber unzulänglichen Liebhaber und dem reifen, überlegenen Freund. Diese Grundsituation, so meint der Kritiker, hätte George Sand vertiefen müssen, um an ihr einen Rückhalt für die metaphysischen und sozial-kritischen Unterhaltungen ihrer Personen zu gewinnen. Diese Bemerkung, obwohl an sich nicht falsch, geht dennoch an dem eigentlichen Charakter des Romans vorbei. Er ist eben das nicht, was Sainte-Beuve in ihm sehen möchte, die psychologische Darstellung eines typischen Frauenschicksals, sondern die episch-lyrische Vergegenwärtigung einer bestimmten geschichtlichen Situation. Das Zeitalter des in kirchlichen Formen lebendig erhaltenen Glaubens ist zu Ende, damit aber auch die innere Kraft der von der Kirche geheiligten Ehe. Das kühne Experiment der Heldin, an einem einzelnen Menschen zu erproben, ob er eine vollkommene Liebe ertragen könne, scheitert an der Unzulänglichkeit seines Charakters. Dieser Liebende aber ist ein Dichter, ein Künstler, wie er in der romantischen Bewegung als der eigentliche Vertreter der Idee der Menschheit erscheint. Wenn er der Atlas nicht zu sein vermag, auf dessen Schultern die neue Zeit ruht, wo ist dann noch eine Hoffnung für die Zukunft? So spiegelt sich in diesem formlosen Roman, dem die Dichterin später einen anderen, aber gewiß nicht besseren Schluß gegeben hat, der Untergang jener Romantik wider, die im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Europa herrschte. Man kann unmöglich voraussetzen, daß SainteBeuve die philosophische, weltanschauliche Grundlage der Dichtung nicht deutlich genug gesehen habe, um sie zum Gegenstand einer eingehenden kritischen Analyse zu machen. Aber hätte er der Wirkung ihrer Gedanken genützt, wenn er diese abstrakt ausgesprochen hätte? Diente er der befreundeten Schriftstellerin nicht besser, wenn er sie so nahm, wie sie sich gab, als Dichterin? Dostojewski hat nach ihrem Tode zwei schöne Aufsätze über sie geschrieben, die Wladimir Karénine in seiner großen Biographie der George Sand ausführlich zitiert, und dabei ihren großen Einfluß zu erklären versucht. Er verweist dabei vor allem ^uf die außerordentliche Schönheit ihrer dichterischen Gestalten. Das „Nein", das sie dem Schlechten eritgegenwirft, hat die Gestalt eines „Ja" zu dem Guten. Eine ähnliche Vorstellung von dem eigentümlichen Genie dieser Frau mag SainteBeuve geleitet haben, als er darauf verzichtete, den kritischen Gehalt ihrer Romane, den er wohl erkannte, dem Leser abgetrennt von der 36
dichterischen Form zu erläutern. Im Anhang zu seinem letzten Aufsatz druckt er einige freundschaftliche Briefe der George Sand aus ihrer frühen Zeit ab und fügt zuletzt den Brief hinzu, mit dem er" ihr im Jahre 1855 für die kluge und liebevolle Darstellung seiner Person in ihren Lebenserinnerungen dankt. Darin zeichnet er nun seinerseits ihr Bild wie in einer unpersönlich gehaltenen Kritik: ,,Ihr Talent, ihre Seele, ihr ganzes Wesen sind in den großen Augenblicken ein Ganzes. Sie ist weiblich, sehr weiblich sogar, aber sie hat nichts von den kleinen Eigenschaften ihres Geschlechts, weder Listen, noch Hintergedanken. Sie liebt die großen und weiten Horizonte, dorthin wendet sie sich zuerst. Sie bemüht sich um das Wohl alter, um die Verbesserung der Welt, und das ist zum mindesten die edelste unter den Krankheiten der Seele und die großherzigste Art von Besessenheit. Mit einem Wort, sie hat beides, die Gewalt und die Güte . . ." Dostojewski nennt sie mit ähnlichen Worten „eine Frau, fast einzig durch die Kraft ihres Geistes und ihres Talentes". In Nachbarschaft zu diesen Aufsätzen stehen drei über Marcelline Desbordes-Valmore. Von ihnen ist der letzte ein abgerundetes Bildnis, geschrieben als Einleitung zu einer Auswahl ihrer Gedichte im Jahre 1842. Sainte-Beuve ist der Dichterin und ihrer Familie durch eine herzliche Freundschaft bis zu ihrem Lebensende verbunden geblieben. Er zeichnet in biographischer Form ihre Ursprünge. Sie ist die Tochter eines Wappenmalers in Douai in Flandern, der infolge der Revolution verarmt. Ihr Vaterhaus grenzte an den Kirchhof von Notre-Dame. Uber der Haustür stand in einer Nische ein kleines Bild der Mutter Gottes. Ihre Mutter war eine blonde Flämin, eine ihrer Großmütter spanischen Ursprungs, wir befinden uns in Douai in den ehemals spanischen Niederlanden. Der Vater ihres Vaters, so ergänzen spätere Biographen, war ein Landsmann Rousseaus, ein aus Genf zugewanderter Uhrmacher, der erst als Mann vom reformierten zum katholischen Bekenntnis übertrat. Nach ihrer äußeren Erscheinung und der Art ihrer dichterischen Begabung nennt Sainte-Beuve sie eine sanftere, blonde Spanierin, mehr eine Portugiesin, die religiöse Innigkeit und Unbedingtheit ihrer Liebe erinnert ihn an die „portugiesische Nonne", ü b e r ihre dichterischen Anfänge, die er in seinem ersten Aufsatz über sie eingehender behandelt hat, geht er hier kurz hinweg. Die reine Form ihrer Kunst tritt zuerst in einer Sammlung ihrer Gedichte von 1820 hervor. Sie hat Lamartines erste Sammlung, die Meditationen, noch nicht lesen können, aber ihre Poesie ist der seinigen verwandt, ebenso wie derjenigen André Chéniers, dem sie freilich an Kunst unvergleichlich nachsteht. André C-héniers Gedichte sind eben damals, lange nach seinem, Tode, zum ersten Male veröffentlicht worden. Sainte-Beuve legt hier großen 37
Nachdruck auf die Ursprünglichkeit ihrer Begabung, sie h a b e gesungen, wie der Vogel singt, ohne anderes W i s s e n als das Fühlen ihres Herzens, ohne andere Mittel als die der Natur. Tatsächlich w a r sie durch ihre lange Wirksamkeit auf der Bühne, vor allem im zeitgenössischen Singspiel, mit dem gesungenen Lied jener J a h r e zwischen 1810 und 1820 wohl vertraut. Die Kraft ihres Gefühls, namentlich im Lei : den, denn dazu scheint sie geboren, und die Größe ihres Talents hebt sie aber über diese Anfänge hinaus. Dennoch bleibt sie in ihrer Poesie schlicht und allgemeingültig. Lucien Descaves, der ihr eine weltliche Heiligenbiographie gewidmet hat, findet einen ausgezeichneten Vergleich für ihr Verhältnis zur Kunst: „Es w ä r e schön gewesen, wenn sie ihre Bücher ebensowenig mit ihrem N a m e n gezeichnet hätte wie die Steinmetzen des Mittelalters ihre H y m n e n in Stein. Sie hat geschrieben, wie sie bildeten, geliebt, wie sie beteten, gelebt, wie sie lebten." Sainte-Beuve liebt ihre Poesie, weil sie mit ihrer starken, wenn auch sich selbst begrenzenden Persönlichkeit einen Teil der Welt darstellt, aus der er selbst kommt und der er sich immer v e r b u n d e n fühlt. In der Buchausgabe der Bildnisse fügt er seinem dritten Aufsatz über sie eine Reihe von Briefen an, die Marcelline an ihren v e r a r m t e n Bruder geschrieben hat. Er rühmt ihre Frömmigkeit und ihre angeborene Nächstenliebe. Ihr Glaube ist in allen wesentlichen Zügen derjenige der katholischen Kirche, aber sie sucht den W e g zu Gott unmittelbar und ohne U n t e r w e r f u n g unter den Priester, Sainte-Beuve nennt ihre Religion einen individuellen Katholizismus. Sie stammt aus dem Volk und fühlt sich immer zu ihm gehörig. Für sich und die Ihrigen kämpft sie ohne Unterbrechung mit der Armut. W e n n man sieht, wie diese ausgezeichnete und ehrenh a f t e Familie trotz vieler Freunde und Gönner nie aus dem Elend herauskommt, so errötet man über unsere gerühmte Zivilisation. Einer so bedeutenden Gestalt wie Alfred de Vigny widmet SainteBeuve in den zeitgenössischen Bildnissen nur einen Aufsatz. Er geht von einer allgemeinen Betrachtung über die Lage des Dichters in dei Gesellschaft aus. In der alten Zeit ist die Gabe der Poesie ein allgemeines Gut, die Dichtung selbst volkstümlich und unpersönlich. Es ist die alte romantische Lehre von der Urzeit der Poesie, die SainteBeuve hier noch einmal entwickelt. Es folgt eine Epoche, in der sich das schöpferische Talent zwar aus der Gesamtheit zurückzieht, dafür aber in einzelnen bevorzugten Menschen zur höchsten Blüte kommt. Im Verlauf der kulturellen Entwicklung, so haben wir Sainte-Beuves Gesamtansicht an dieser Stelle zu interpretieren, löst sich die Dichtkunst immer mehr aus der allgemeinen Betätigung der Menschheit heraus, genau so wie andere Formen des menschlichen Gestaltungstriebes, und dieser Vorgang der Absonderung und Individualisierung 38
führt auf einem bestimmten Punkt zu höchsten Leistungen, wie wir sie bei Homer und Sophokles, bei Dante, Shakespeare, Molière und Racine vor uns haben, bis er durch Übersteigerung zum Nachteil füi die Dichtung selbst und zum Unglück für die Dichter ausschlägt. In der modernen Gesellschaft tritt ein Doppeltes ein. Das allgemeine Interesse zieht sich von der Poesie zurück, u n d gleichzeitig wächst unter dem Einfluß der Erziehung, der Tradition und der seelischen Verfeinerung die Zahl der jungen Menschen, die sich der Dichtkunst widmen. Auf diesen lastet außerdem noch das große Vorbild der Alten, die noch heute die ersten Plätze im Reiche des Geistes innehaben, und so treibt sie die Notwendigkeit, n e u e Räume für die Kunst zu erschließen, in Unternehmungen, die ohne feste Grundlage in einem allgemeinen Bedürfnis der Zeitgenossen sind und sich in raschem W e c h s e l unter Erfolg oder Mißerfolg ablösen. Dieses unheilbare Leiden des modernen Künstlers hat Vigny am ergreifendsten dargestellt. Seine dichterischen Anfänge sind denen Lamartines und Hugos benachbart, unterscheiden sich aber völlig von ihnen. Gedichte wie Moses, Eloa und Dolorida sind ohne V e r w a n d t e in der französischen Literatur. Große Vorbilder des Auslandes haben seine Poesie genährt, die Bibel, Homer durch die Vermittlung von André Chénier, Milton, Byron. Sein Streben geht dahin, inmitten seiner Zeit der reine Dichter zu sein, wie es in der Vorstellung der Späteren der antike Poet, der biblische Sänger und der Troubadour waren. Aber persönliche Enttäuschungen, die Beobachtung der Zeitverhältnisse und die enge Berührung mit der Saint-Simonistischen Bewegung belehren ihn schmerzlich über die gefährdete Lage der Dichtung in seiner Gegenwart. Die Regierungen u n t e r d r ü c k e n und verfolgen den Dichter, das Publikum begegnet ihm mit Gleichgültigkeit, die Erfinder der philosophischen Systeme möchten ihn für ihre Zwecke gebrauchen. So wird er zum V o r k ä m p f e r für die Rechte des reinen Dichters, auch gegenüber den Philosophen und Schriftstellern, in seinen W e r k e n , Stello und Chatterton, und durch das Beispiel seiner Person im geistigen Leben. Mit wenigen W o r t e n berührt Sainte-Beuve zum Schluß das Werk, das der nächste Anlaß seiner Beschäftigung mit Vigny war, Größe und Knechtschaft des Soldaten. Der Dichter hat sich von dem Dichter zu einem anderen Paria der Gesellschaft gewandt, dem Soldaten. De Vigny hat zehn J a h r e als Offizier unter der wiederhergestellten Herrschaft der Bourbonen gedient und viel mit den alten Truppenoffizieren gesprochen, die aus der Zeit des Kaiserreiches übriggeblieben waren. Er kennt die Gewissenskonflikte einer Armee, die von der Hand des einen Gewalthabers in die des anderen gegangen und im Kampf um die Macht oft genug zu arideren als kriegerischen Zwecken gebraucht worden ist. Als einziger Fels in 39
einem Meer von Zweifeln bleibt die Ehre übrig, die einzige Religion, ohne Symbol oder Gleichnis, inmitten so vieler Glaubenstrümmer. Aber, so fragt Sainte-Beuve, kann dieser nackte und unfruchtbare Felsen als Zuflucht in der allgemeinen Überschwemmung genügen? Er begnügt sich, die Frage zu stellen, und schließt mit einer höflichen Verneigung vor Vigny, die wenig zu der kühlen Zurückhaltung des Vorhergehenden stimmen will, über Lamartine beklagt er sich, weil er von der Poesie zur Politik übergeht, über Hugo, weil er in seinen Bekenntnissen der Zeitströmung nachgibt, hier hat er es mit einem Dichter zu tun, der als Edelmann und Dichter in stolzer Unabhängigkeit sich fern von den Mächten der Zeit hält, und findet nicht das rechte Wort der Zustimmung und Sympathie. Diese Zurückhaltung ist um so weniger zu verstehen, als Sainte-Beuve selbst durch seine ganze schriftstellerische Tätigkeit hindurch einen zähen Kampf um die Freiheit und Selbständigkeit seines Urteils führt. Die Sammlung der zeitgenössischen Bildnisse enthält endlich noch drei Aufsätze über Alfred de Musset, von denen die Kritik der Confession d'un Enfant du Siècle am meisten über Sainte-Beuves eigene Kunstanschauung aussagt, so wie er sie in diesem Augenblick zur Grundlage seines Urteils über Mussets Roman macht. Er betont die moralisierende Absicht der Dichtung und möchte sie mit dem Augenblick enden sehen, wo Octave die Liebe Brigittes gewinnt und sich damit von seiner Vergangenheit befreit. Daß auch diese Liebe von ihrem Gipfel herabsinkt, sei allgemeines Schicksal auch der hochgespannten Leidenschaft und nicht in der Seelengeschichte des Liebenden begründet. Und so habe der Ausgang etwas Zufälliges. Ebensogut wie Octave die Geliebte verschont, hätte er sie töten können. Wir geraten so, das ist der allgemeine Einwand des Kritikers, in das Reich der Naturphänomene, in dem die Kunst nicht verweilen soll, denn sie ist die Feindin jedes Chaos! Die Größe des Romans liegt aber eher in dem, was Sainte-Beuve bemängelt. Die moralisierenden Absichten sind durchaus vorhanden, ja, sie scheinen zum Schluß zu überwiegen, und dennoch verblassen sie im ganzen vor der Energie der psychischen Vorgänge und dem Zwang des Schicksals, das sich an den Liebenden vollzieht. Der Determinismus der Tragödien Shakespeares macht sich fühlbar. Auch die große zeitgeschichtliche Einleitung, die Musset dem individuellen Schicksal seines Helden voranstellt, hätte eine größere Aufmerksamkeit verdient, als der Kritiker ihr widmet. Findet sich diese Verbindung des einzelnen Lebens mit der Epoche doch sogar in dem Titel! Die große Leidenschaft, eines der wichtigsten Leitbilder der Romantik, scheitert hier an sich selbst, nicht an den Umständen oder der Schwäche der weiblichen Natur. Und der begütigende Schluß gibt wohl Anlaß zu 40
Einwänden, nicht weil es ebenso gut hätte anders kommen können, sondern weil ein innerer Zwang zu einem tragischen Ende bestand. — Von den großen Dichtern, die Sainte-Beuve in diesen Bänden außerdem noch behandelt, stehen Balzac und Mérimée noch am Beginn ihrer Laufbahn, als er über sie schreibt, es mag deshalb gestattet sein, diese Aufsätze hier zu übergehen. Dagegen gehören zum Gesamtbild dieser Sammlung wesentlich die drei großen Charakteristiken von Thiers, Fauriel und Daunou. Erst im Jahre 1845 schreibt Sainte-Beuve über Thiers. Er schildert kurz, wie Thiers den National gründet und welche Taktik er anwendet, um die Boürbonen zu stürzen und die repräsentative Monarchie zu errichten. Wenn einer, so ist dieser Provençale von zwergenhaft kleiner Gestalt der Schöpfer des Königstums der Orléans. Dieses hat sich dem Anschein nach gefestigt, aber Louis Philipp trägt das seine dazu bei, das Haus zu zerstören, in das er hineingesetzt ist, indem er die persönliche Gewalt des Königs wiederherzustellen sucht, Thiers sieht das und kann es nicht hindern. Sainte-Beuve bekennt sich, trotz aller Enttäuschungen, ausdrücklich zur Julirevolution. „Wenn wir noch einmal zu beginnen hätten, auch in voller Kenntnis der Zukunft, wir würden es wieder so machen." Aber da er kein Politiker von innerster Anlage ist, so schwankt er zwischen den äußersten Möglichkeiten der Demokratie und der Diktatur, bis er gegen Ende seines Daseins zu seiner eigentlichen Linie findet. Thiers dagegen bleibt auf den einmal erworbenen, und seiner Natur gemäßen, Uberzeugungen stehen, und als ihm der Zusammenbruch des zweiten Kaiserreiches die Möglichkeit dazu bietet, macht er es wirklich noch einmal so, wie vierzig Jahre vorher, und begründet nun die bürgerliche Republik, da die bürgerliche Monarchie nicht mehr möglich ist. In einem Alter, das nur die wenigsten Menschen erreichen, schafft er den Staat, so wie er ihn sich in den Grundzügen für sein Vaterland immer gedacht hat, und tritt selbst an seine Spitze. Die Ursachen eines so außerordentlichen Erfolges müssen in seiner Natur gelegen haben. Sainte-Beuve beschränkt sich ausdrücklich auf den Schriftsteller Thiers in dem Zeitabschnitt bis zum Ausbruch der Julirevolution. Seine erste Schrift ist eine Lobrede auf Vauvenargues für die Akademie in Aix. Sainte-Beuve zitiert daraus einen Satz, der eine ganze Philosophie des Handelns enthält: „Das Leben ist eine Handlung, und die Betätigung unserer Energie, um welchen Preis es auch sei, genügt, um uns zu befriedigen, weil sie die Vollendung unseres Wesens ist." Im Herbst 1822 bereist Thiers von Paris aus den Süden und das Pyrenäengebiet. Er will sich von dort aus über die Verhältnisse in Spanien unterrichten. Frankreich rüstet zur Einmischung in den dortigen Bürgerkrieg. An seinem Bericht erläutert 41
der Kritiker den Stil Thiers'. Er gibt eine landschaftliche Schilderung aus den Pyrenäen wieder, die voller Anschauung und Bewegung ist. Thiers, so erklärt Sainte-Beuve an einer anderen Stelle, will den künstlerischen Ausdruck nicht nur groß und kraftvoll, sondern auch einfach. Er bewundert Corneille, zieht ihm aber Racine vor, diesem: Raffael, diesem aber vielleicht das Parthenon. Thiers' Ansehen als Schriftsteller beruht aber vor allem auf seiner Geschichte der Revolution. Das Erscheinen der Geschichte des Konsulats und Kaiserreichs steht eben erst bevor. Der Kritiker gibt uns einen Eindruck von den gründlichen, namentlich finanzwissenschaftlichen und militärischen Studien, die der Historiker sich auferlegt. Er schreibt Geschichte, um das Wesen der Politik zu studieren, nicht um ein Epos zu schaffen, und auch als Historiker dient er seinem Willen zur Aktion. Welchen Begriff hat er aber von der Wahrheit? Sainte-Beuve sucht ihn aus einer frühen Gelegenheitsschrift Thiers' zu entwickeln. Seine Wahrheit ist gesellschaftlich begründet, sie entspricht den Leitgedanken, von denen eine Zeitspanne beherrscht wird. Hier aber scheidet sich der Kritiker von dem Historiker. Sainte-Beuve wendet sich von jeder Konstruktion des geschichtlichen Ablaufs ab. So wie wir die Geschichte zu erkennen vermögen, wird sie zuweilen an entscheidenden Stellen vom Zufall bestimmt. Sie hat für uns keine eindeutige Richtung, deshalb sagt sie uns auch nicht, was Wahrheit ist, weder im einfachen tatsächlichen, noch in einem höheren sittlichen Sinne. Vergessen wir diese Schranken unserer geschichtlichen Erkenntnis, so vereinfachen wir den Ablauf der Ereignisse und schwächen in uns die Kraft der sittlichen Verurteilung auch dort, wo Menschen und Ereignisse eine solche erfordern. Und das ist es, was Sainte-Beuve dem Historiker Thiers vorwirft. Diese Einschränkung vermag aber seine Bewunderung für Thiers nicht zu vermindern. Die Unermüdlichkeit dieses Geistes, die Klarheit seines Blickes, seine Fruchtbarkeit an immer neuen Gesichtspunkten, dies alles tritt uns aus Sainte-Beuves Charakteristik mit voller Deutlichkeit entgegen. Zwar neigt sie ein wenig zu sehr dem Stil der Lobrede zu, ist aber im ganzen eine der besten, die er uns gegeben hat. Claude Fauriel starb 1844, und ein Jahr darauf veröffentlichte Sainte-Beuve eine große Studie über ihn, zu der ihm eine Freundin des Verstorbenen das Material gegeben hatte. Fauriel war, als Sohn eines Tischlers, in Saint-Etienne geboren, seine Vorfahren stammten aber aus den Cevennen, er war also ein Südfranzose von Herkunft. Als die Revolution ausbrach, stand er im 17. Lebensjahr. Er bekleidete verschiedene Stellungen bei neu gebildeten Behörden, entscheidend für seine Zukunft wurde es aber, daß seine Mitbürger ihn 1793 nach Paris schickten, wo er, als einer unter fünfhundert Bürgern aus dem 42
ganzen Gebiet der Republik, an einem Lehrgang über die neu zu errichtenden Volksschulen teilnahm. Bei dieser Gelegenheit scheint er zum erstenmal in Beziehungen zu der Gruppe der Ideologen getreten zu sein. W e n i g e Monate vor dem 18. Brumaire siedelte ei endgültig nach Paris über und w u r d e unter Fouché im Polizeiministerium angestellt. Im J a h r e 1886 w u r d e n aus Fauriels Nachlaß einige Fragmente über die letzten Tage des Konsulats veröffentlicht, die er nach der Errichtung des Kaiserreiches niedergeschrieben hatte. Er spricht sich darin völlig klar über das Schicksal seiner Freunde aus. Sie hatten an dem Staatsstreich mitgewirkt, oder ihn wenigstens gebilligt, fast alle aber wurden gleich hinterher von Reue ergriffen, als Napoleon zur Autokratie überging. Ob Fauriel diesen Irrtum des ersten Tages geteilt hatte, wissen wir nicht. Doch schied er schon 1802 ohne Aufsehen aus dem Staatsdienst aus. Er lebte von dann völlig seinen historischen Studien und gelegentlichen, spärlichen Veröffentlichungen. Zwei J a h r z e h n t e hindurch v e r b a n d ihn eine enge Lebensgemeinschaft mit der W i t w e des Philosophen Condorcet, bis die Freundin starb. Er h a t t e bereits einen bedeutenden Namen, als ihn seine Freunde gleich nach der Julirevolution auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für ausländische Literatur in Paris erhoben. Das Studium des Sanskrit brachte ihn in n a h e Beziehungen zu August Wilhelm Schlegel, es w a r auch die Rede davon gewesen, ihn nach Bonn zu ziehen. Eine enge Freundschaft und literarische Zusammenarbeit v e r k n ü p f t e ihn viele J a h r e hindurch mit Manzoni, der als Enkel des italienischen Philosophen Beccaria durch seine Mutter in den Kreis der französischen Philosophen eingeführt war. Manzoni selbst beschritt aber entschieden romantische Wege, und die Verbindung mit ihm und Schlegel zeigt, welche Entwicklung Fauriel selbst seit seinen Anfängen zurückgelegt hatte. Und von diesem Punkt aus beleuchtet ihn Sainte-Beuve. Zwischen dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. J a h r h u n d e r t vollzieht sich ein Bruch, die geistige Haltung der Romantiker weicht völlig von d e r j e n i g e n der Rationalisten ab. Fauriel aber führt den Übergang in sich selbst durch, das 18. wird in ihm das 19. Jahrhundert, ohne daß die Einheit seiner Persönlichkeit dabei zerstört wird. Der Ideologe wird zum Historiker. Seine sprachlichen und literarischen Studien sind sehr weitgespannt, er ist einer der ersten Vertreter der indo-europäischen Sprachwissenschaft, beherrscht die wichtigsten romanischen Sprachen und liest Sanskrittexte ebenso wie solche in neugriechischer oder arabischer Zunge. Auch in die germanischen Sprachen ist er so weit eingedrungen, daß er sich ein unmittelbares Urteil über -die ältere deutsche u n d nordische Dichtung zu bilden vermag. So weit ausholende Studien finden ihren organisierenden Mittelpunkt in der 43
Geschichte seiner Heimat Südfrankreich. Dort sieht er durch alle Katastrophen den Zusammenhang der europäischen Kultur gewahrt. Von den Griechen bei der Gründung Marsilias dorthin gebracht, von den Römern weitergeführt, überdauert sie in Resten selbst die Zeit der germanischen Eroberer, das Lateinische verändert sich unter dem Einfluß der einheimischen Mundarten hier wie anderswo zu einer neuen Sprache, und in der proven^alischen Dichtung ersteht zuerst die antike Bildung von neuem, um sich von diesem Zentrum aus über ganz Europa zu verbreiten. Seine Darstellung hat die nämlichen Vorzüge der Sachtreue und Eindringlichkeit, die Sainte-Beuve • an Thiers rühmt. Versuchen wir nun, von Sainte-Beuves Bildnis ausgehend, die Linien zu zeigen, die den Philosophen in Fauriel mit dem Historiker verbinden, so begegnen wir zuerst eben jener Vorstellung, daß die menschliche Gesittung in den Grundlagen überall und zu allen Zeiten die gleiche und mit der menschlichen Natur selbst bereits gegeben ist. Darum muß sie auch schon auf primitiver Stufe zu finden sein, ja, vielleicht reiner als später, weil noch nicht durch historische Katastrophen entstellt. In diesen Vorstellungen erscheint uns Fauriel freilich als Schüler Rousseaus, und nicht der Ideologen. Aber er begnügt sich nun nicht mit dieser allgemeinen, phantasievollen Anschauung von dem menschlichen Geschlecht, sondern sucht sie wissenschaftlich zu begründen und im einzelnen auszuführen, und dabei wird eine angeborene Anlage zu einer genauen Analyse des Gegebenen in Fauriel durch das Beispiel seiner philosophischen Freunde verstärkt worden sein. Das Studium der indo-europäischen Sprachfamilie dient nun dazu, die wirklichen Ursprünge der menschlichen Gesittung, wenigstens für eine Völkergruppe, zu entschleiern, die vergleichende Beschäftigung mit auswärtigen Literaturen aber, die Einheit der Kultur unter ihren verschiedenen sprachlichen Gewändern zu erkennen. Bei diesen Forschungen begegnet sich Fauriel dann mit den Romantikern in der Vorliebe für die Poesie des Altertums und Mittelalters der Völker und in der Erweiterung der Literatur zur Weltliteratur. Sainte-Beuve, auch darin undogmatisch, leugnet nicht die Größe des Unterschiedes zwischen dem vergangenen und dem neuen Jahrhundert, zeigt aber gleichzeitig an dem Bilde Fauriels, wie trotzdem die Zeiten fließend ineinander übergehen. Im Gegensatz zu ihm blieb Pierre-Claude-Francois Daunou bis zu seinem Tode, tief im 19. Jahrhundert, ein Mann des achtzehnten. Als Mitglied des Ordens der Oratorianer schließt er sich der Revolution an, wird durch die Aufhebung der Klöster, mehr aber noch durch seine eigene innereEntwicklung, seiner geistlichen Gelübde ledig und gehört im Konvent zur Gruppe der Girondisten. Der Sturz Robespierres befreit ihn aus dem Gefängnis. Mit Sieyes befindet er sich unter den 44
geistigen Vätern der Direktorialverfassung von 1795, mit Benjamin Constant unter den zwanzig Oppositionellen, die Napoleon aus dem Tribünat ausschließen läßt. Doch leiht er dem Kaiser seine Feder im Kampf gegen den Papst. Unter der Restauration gehört er zur liberalen Opposition. Er stirbt 1840, im neunundsiebzigsten Lebensjahre. Seinem letzten Willen gemäß wird er ohne Mitwirkung eines Geistlichen bestattet. Er war ein Landsmann Sainte-Beuves. Dieser zeichnet ihn als einen reinen Vertreter des 18. Jahrhunderts, einen Mann, den man kennen muß, um von ihm die Überlieferung einer vergangenen Epoche zu empfangen. Daunou war von Anlage und Beruf Lehrer, Schriftsteller und, in gewissen Grenzen, Gelehrter, bemüht, wie Sainte-Beuve spruchartig sagt, die Menschen aufzuklären, nicht aber, sie "zu leiten oder sich ihrer zu bedienen. In die Politik, in der er weder Erfolg noch Glück fand, kam er auf dem Wege über die Kirchenpolitik, und er beschäftigte sich in ihr vor allem mit Fragen der öffentlichen Erziehung. Im Anschluß an die Gedanken Talleyrands legte er der verfassunggebenden Versammlung und später dem Konvent einen Erziehungsplan vor, er entwarf die Organisationsformen für das Institut de France, das als Krönung des gesamten Bildungswesens dienen sollte. In ihm gehörte er zuerst der Abteilung für Moral und Politik an, dann, als Napoleon diese auflöste, der für Geschichte und alte Literatur. Sein bedeutendstes Werk ist der Geschichtskursus, den er elf Jahre lang unter der Restauration hielt und der in zwanzig Bänden gedruckt vorliegt. Aber er hat den Weg Fauriels von der Philosophie zur Geschichte nicht gefunden, die Historie ist ihm in der Hauptsache Hilfswissenschaft der Moral und Gegenstand der sittlichen Beurteilung. Sainte-Beuves Kritik richtet sich jedoch nicht auf diesen Punkt, sondern auf Daunous Begriff von der Methode, die deutlichste Ausprägung seiner Individualität. Daunou fordert von einem Elementarbuch, daß es nicht von allgemeinen Begriffen ausgeht, sondern von unvermischten Empfindungen, wir würden sagen von der unmittelbaren Anschauung. Die Begründung, die er wiederholt dafür gibt, ist politischer Art. Allgemeinbegriffe sind ihm Werkzeuge der Tyrannei. So verteidigt er sich und seine girondistischen Freunde auch gegen den Vorwurf des Föderalismus. Das sei ein leeres Wort, einer von den magischen Ausdrücken, die, immer wiederholt und niemals erklärt, zu Parolen des Mordes würden. Die Analyse dagegen verlangt von dem Schüler nur, daß er aufmerkt, nicht daß er gehorcht, und sollte deshalb die Grundlage aller Erziehung sein. Das heiße, so Sainte-Beuve, die Macht der Methode überschätzen, die Freiheit und Ursprünglichkeit des natürlichen Urteils aber verkennen. Er hat mit diesen Einwänden recht, aber wir dürfen nicht vergessen, wie viele entleerte Begriffe der ehemalige 45
Oratorianer zu überwinden, wie viele fanatische Schlagworte der gemäßigte Abgeordnete des Konvents zu bekämpfen hatte. Der leicht vorgebeugte Kopf, das hagere Gesicht mit den großen, tiefliegenden Augen auf der Lithographie, die Taillandier der Biographie Daunous vorausgestellt hat, zeigen einen grüblerischen, von seinen Gedanken leidenschaftlich bewegten Menschen. Die Besprechung einzelner Bildnisse mag damit beendet sein, die wichtigsten sind an uns vorbeigezogen. Indem wir einige der übrigen kurz erwähnen, gewinnen wir eine Anschauung von der Sammlung im ganzen. In den ersten Abhandlungen ist der Kritiker noch Romantiker und Demokrat. Béranger erscheint ihm als der moderne Volksdichter, der die gelehrte Dichtung aus der Tradition der volkstümlichen erneuert, wie es vor ihm Rabelais, Molière, La Fontaine getan haben. Zur zweiten Auflage des Oberman von Sénancour schreibt er die Vorrede, mit einer glänzenden Gesamtcharakteristik des romantischen Weltschmerzes. Der Aufsatz über Pierre-Simon Ballanche bleibt stehen als ein Zeugnis der Zeit, in der sich Sainte-Beuve selbst mit Gedanken einer mystischen Erneuerung des christlichen Glaubens beschäftigte. Dann aber entfernt er sich rasch und entschieden von den verschiedenen Formen des Enthusiasmus und der Begriffsverwirrung; die scharfe Kritik an Balzac 1834 ist eine der frühesten Zeichen dieser Wandlung. Sainte-Beuve nähert sich wieder dem klassischen Ideal von Wahrheit und Natur. An den Novellen von Xavier de Maistre hebt er die Wahrheit der Motive und die Einfachheit des Stils hervor, die Verwandtschaft überhaupt mit der alten italienischen Novelle. Er lobt die idyllische Poesie des Genfers Rudolf Töpffer, sie könne sich in Bescheidenheit neben die großen Dichtungen dieser Gattung, von Nausikaa bis zu Hermann und Dorothea, stellen. In einer Abhandlung über Mérimée, 1841, zieht er klare Linien zwischen den literarischen Richtungen. Der Dichter der Colomba habe von der Romantik nur die Energie der Beobachtung, das neue Verhältnis zu bestimmten Provinzen der Wirklichkeit übernommen, klassisch jedoch sei er nicht durch die Nachahmung antiker Muster, sondern durch den Blick unmittelbar auf die Natur. Am entschiedensten aber äußert sich sein neuer Klassizismus in der Besprechung einer neuen Übersetzung der Ilias. Das wahre Schöne, so sagt er, hat in sich etwas Festes und Ruhiges. Die Gegenwart hat eine Fülle von Talenten, aber ihnen fehlt Sammlung und Einheit, auch die großen unter ihnen schwanken nach allen Seiten. Es ist notwendig, den Blick wieder auf den Parthenon und das Grab des Achilles zu lenken. Die lange Reihe der Abhandlungen über literarische Individualitäten, die wir durch die drei Sammlungen der Bildnisse verfolgt haben, ist damit abgeschlossen und wird nur gelegentlich wiederauf46
genommen. Die montäglichen Plaudereien stellen sich später begrenztere Themen. Zeitlich reichen die Bildnisse von der Epoche Ludwigs XIV. bis zu Sainte-Beuves eigener Gegenwart. Von den beherrschenden Gestalten des 18. Jahrhunderts begegnet uns nur Diderots eigenwillige Gestalt. Er ist der Generation Sainte-Beuves vertrauter als der prophetische Rousseau oder gar der kritische Voltaire. Das größte Gewicht innerhalb der ganzen Reihe liegt auf den Persönlichkeiten, die zwar aus der Revolution hervorgehen, ihr aber nicht eigentlich angehören, sondern sie zu überwinden suchen, wie Chateaubriand und Frau von Staël, den Kleineren um sie herum und denen, die ihre Linie unter veränderten Zeitverhältnissen doch fortsetzen. Heimatberechtigt in ihr sind alle die Richtungen, die unter einer konstitutionellen Monarchie Platz gefunden hätten, wenn es möglich gewesen wäre, diese zu erhalten, die in einer Gesellschaft von christlicher Tradition und modernem Geist zu bestehen vermocht hätten, wenn es gelungen wäre, zwischen ihnen ein gewisses Gleichgewicht zu bewahren. Zwar ist Sainte-Beuve nicht engherzig und zieht auch die Männer auf den Flügeln in seinen Gesichtskreis, den Legitimisten Joseph de Maistre und den Republikaner Daunou. Auch öffnet die Julirevolution den Weg für den christlichen Revolutionär Lamennais und die junge George Sand, die Verfasserin emanzipatorischer Frauenromane. Fremdartig in diesem Kreise erscheint dann auch der kluge Thiers, der eigentliche Begründer der Monarchie der Orléans. Aber eine ausgesprochen revolutionäre oder gegenrevolutionäre Persönlichkeit befindet sich doch unter allen diesen nicht, da Lamennais erst nachträglich die Linie nach links hin überschreitet, vielleicht mit einziger Ausnahme von de Maistre, der ja als Minister des Königs von Sardinien überhaupt etwas abseits steht. In diesem weiten Umkreis läßt der Kritiker die verschiedenen Charaktere sich frei bewegen, sie haben jeder gleichsam ihren freien Raum um sich, und nirgend begegnen wir dem Versuch, sie etwa in Reihen zu ordnen oder die Gegensätze zwischen ihnen zu verwischen. In jede Individualität weiß Sainte-Beuve sich einzufühlen, jede läßt er lebendig vor uns wandeln. Sein erstes Anliegen ist überall zu verstehen, erst dann folgt ein Urteil und sehr selten nur eine Verurteilung. Nicht umsonst waltet über diesem Zeitalter noch der Geist Goethes. Auch vereinigt Sainte-Beuve diese so verschiedenen Gestalten nicht in dem Licht kalter Sachlichkeit, sondern in dem Feuer seines Gefühls. So verbindet sie, trotz der scharfen Gegensätze zwischen ihnen, dennoch eine höhere Harmonie. Allmählich aber wandelt sich die Atmosphäre. Der Glaube an die eigene Generation entschwindet nach und nach, die sozialen Voraussetzungen des geistigen Lebens werden fraglich, das Vertrauen des jungen Menschen in die Zukunft weicht der Enttäuschung Mehr und 47
mehr wird Sainte-Beuve zum Kritiker. Zu diesem Werk aber braucht er einen sicheren Maßstab, und so wendet sich sein Auge wieder zu den Bildern einer großen Uberlieferung. Ünterdessen naht unaufhaltsam eine neue Revolution, viel gewaltiger als jene rasch aufgefangene der Julitage. Ein neues Spiel hebt an.
Zweiter Abschnitt
Chateaubriand Zwischen den beiden Reihen der Bildnisse und der Plaudereien liegt das Werk über Chateaubriand und seine literarische Gruppe unter dem Kaiserreich, aus jenem Lehrgang erwachsen, den Sainte-Beuve 1848—1849 an der Universität Lüttich hielt, aber erst 1860 veröffentlichte. Entsinnen wir uns des zustimmenden Aufsatzes über denselben Schriftsteller ein halbes Menschenalter vorher! Jetzt setzt er seiner Darstellung das Motto voraus: „Denn es läßt sich nun nicht mehr verhehlen, die Schriftsteller unseres Zeitalters sind im allgemeinen überschätzt worden", gewählt aus den Schriften von Chateaubriand selbst. Er will diesmal, abweichend von seiner bisherigen Art, eine richterliche Kritik geben. Eine Periode der Literatur ist abgeschlossen, die von Chateaubriand und Frau von Staël eröffnete Bewegung völlig erschöpft. Die Sprache, und mit ihr die künstlerische Form überhaupt, war schon im 18. Jahrhundert in Verfall geraten. Nach zehn Jahren der Unterbrechung durch die Revolution hatte sich die Literatur der Restaurationszeit dieser Verderbnis entgegengeworfen, der Verfall war von neuem verschleiert worden, und der Herbst der sprachlichen Kunst hatte zwar fortgedauert, aber mit einem Schein des neuen Frühlings. Der dies schrieb, hatte der Romantik selbst zugehört, als Dichter und zum Teil auch als Kritiker, aber diese Lösung von seinem früheren Standpunkt war schon seit Jahren in den Bildnissen deutlich in Erscheinung getreten, sie ist ein allgemeiner Vorgang in seinem Denken. Es hat deshalb nur geringen Wert, für die scharfe Kritik an Chateaubriand Ursachen in dem persönlichen Verhältnis SainteBeuves zu diesem zu erspähen, sie ist grundsätzlicher Art. Die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts genossen den großen Vorteil der Beständigkeit aller Verhältnisse um sie herum. Zwar war an die Stelle des Hofes als Reglerin des literarischen Schaffens die öffentliche Meinung getreten, aber auch diese wurde noch nicht von tieferen Schwankungen zerrüttet. Die Geister durften sich in dem Glauben an einen langsamen, aber stetigen Fortschritt der Gesittung wiegen. 48
Diese Illusion wurde durch die Revolution jäh zerstört. Die Jahre der Revolution, bis zum Sturz Robespierres, brachten eine völlige Unterbrechung des literarischen Schaffens, dann aber, bis zum Staatsstreich vom 18. Brumaire, folgte eine Zeitspanne, in der die Literatur ohne Mittelpunkt und ohne Richter war. Der Schriftsteller bedarf aber eines Balkons, von dem herab er Anerkennung und Belohnung empfängt. In einem sozialen Zustand ohne bestimmte Gestalt, so ist SainteBeuves Auffassung hier, kann auch die sprachliche Gestaltung nicht gedeihen. Die Restauration der Gesellschaft beginnt mit dem Konsulat, die der Poesie mit den Werken Chateaubriands. Diese aber sind nicht aus lauterem Metall, sondern aus einer Legierung. Die Poesie der Antike, alt vertraut, ist gemischt mit der ganz neuen des Mittelalters und einer ins Grenzenlose verliebten Naturauffassung. Hier schien das Signal zu einer Renaissance gegeben. Sie ähnelte zugleich einer Wiedereroberung der Vergangenheit und einem pomphaften Marsch in die Zukunft. Mit diesem allgemeinen und vernichtenden Urteil tritt Sainte-Beuve in die Betrachtung der einzelnen Werke ein. Sie ist mit einer Analyse der Individualität des Dichters verflochten. Deren erstes Element ist die Träumerei oder der Weltschmerz, ihr zweites der Kult der Jugend und der romantischen Illusion, ihr drittes die Ehre im Sinne des Ansehens in der Welt. In dem zweiten dieser Bestandteile sucht der Kritiker den eigentlichen Grund für den Verfall der Poesie. Diese Dekadenz ist nicht in einzelnen stilistischen Neuerungen zu suchen, sondern in dem Widerspruch zwischen den wirklichen Triebkräften des dichterischen Schaffens und dem, was das Werk vorstellen will. Was Sainte-Beuve als die Individualität Chateaubriands zu erfassen sucht, ist im Grunde nicht etwas Dreifaches, vielmehr in allen Äußerungen ein und dasselbe, die übermächtige Subjektivität, die mit ihrem ganzen Zeitalter den alten Bindungen entronnen ist und jetzt nur noch sich selbst kennt. Will sie aber unter Menschen wirken, so muß sie sich einer allgemeinen Sache anschließen, die unter diesen gilt, und die Sprache reden, die sie verstehen. Chateaubriand ist nichts anderes als ein großer Schauspieler, immer auf der Suche nach der Rolle, in der er sein Talent entfalten kann. Daher fehlt es auch seinen glänzendsten Werken an Wahrheit. Maßlose Ichsucht bleibt das Kennzeichen eines solchen Poeten, auch, wenn er sich in die Politik begibt. Sie unterscheidet ihn von den wirklichen Staatsmännern, einem Augustus, Richelieu, Cromwell, Wilhelm von Oranien, Pitt und, um einen fleckenlosen Namen zu nennen, einem Washington. Er verzehrt die Jahrhunderte in einem Tage und kommt bei dem geringsten Widerstand in die Versuchung, sich selbst mit dem ganzen Schiff in die Luft zu sprengen. Im Frühling 1791 schiffte sich Chateaubriand nach Amerika ein. 4 Deiters, Sainte-Beuve
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Der Bericht über diese Reise ist das erste Denkmal seines Naturgefühls. Mit seinen Vorgängern in der Naturbeschreibung, Rousseau und Bernardin de Saint-Pierre, teilt er die grundsätzliche Einstellung zur Natur. Sie alle bewahren vor ihr, trotz aller Hingabe, die eigene menschliche Persönlichkeit, sie sehen sie als Deisten, nicht als Pantheisten. Aber Chateaubriand übertrifft sie durch die Gabe, die einsame Natur zu verstehen, sie bei ihren leisesten Pulsschlägen zu belauschen. Die Nachrichten über den Fortgang der Revolution rufen ihn nach der Heimat zurück. Er kehrt kurz bei den Seinen in der Bretagne ein, schließt eine Vernunftehe und verläßt Frankreich, um sich der Armee der Emigranten anzuschließen. Der Feldzug mißlingt, und während des Rückzugs der Preußen, 1792, läßt man ihn in der Nähe v o n . Namur als tot am Straßenrande liegen. Sainte-Beuve wendet sich hier, wie so oft in seinen Schriften, gegen den Fatalismus in der Geschichtsauffassung. Nicht ein allgemeiner Geist der Zeit entscheidet über die Ereignisse, sondern einige wenige überlegene Menschen. Wie anders wäre Frankreichs politische Geschichte gelaufen, wenn Bonaparte auf der Rückfahrt von Ägypten ertrunken, wie anders seine geistige, wenn Chateaubriand damals gestorben wäre' Sainte-Beuve übersieht die allgemeinen Kräfte in der Geschichte nicht, aber ihre Richtung ist nicht eindeutig, und bei jeder Zeitenwende treten machtvolle Menschen auf, die dem Gang der Menschheit eine neue Richtung geben. Als Flüchtling in London schreibt Chateaubriand seine vergleichende Studie über die Revolutionen des Altertums und der Neuzeit. Die Fähigkeit zum echten Historiker spricht Sainte-Beuve ihm ab, immer wieder drängt sich sein Ich, mit seinen Ansprüchen und Begierden, zwischen den beobachtenden Blick und die Tatsachen. Jener „Versuch" ist von großem Wert für die Einsicht der Späteren in die inneren Gedanken Chateaubriands. Hier erkennen wir seine ursprüngliche Natur, die auf der Höhe seines Lebens hinter einer Maske verschwindet, um später wieder ans Licht zu treten. Sainte-Beuve hatte außerdem noch Einblick in ein Exemplar des Versuchs über die Revolutionen, das vertrauliche Randbemerkungen von der Hand des Verfassers ent.hielt. Dieser zeigt sich darin nicht nur als Gegner des Christentums, sondern auch als radikaler Philosoph. Aber das sind Meinungen, sie gehören nicht zum Kern der Persönlichkeit, und Sainte-Beuve selbst führt den Beweis, daß seine Bekehrung zum Christentum, wie er sie in der Vorrede zum Geist des Christentums beschreibt, echt gewesen ist, d. h. wahrhaftig erlebt, ohne daß wir über ihre Tiefe und Dauer auszusagen berechtigt wären. Hier, wie an mancher anderen Stelle, kommt eine Zwiespältigkeit in Sainte-Beuves Kritik zutage, die uns noch beschäftigen wird. 50
Neun J a h r e nach seiner Auswanderung, also im Frühling 1800, kehrt, Chateaubriand nach Frankreich zurück, die Revolution ist beendet, mit einer Rückkehr der Bourbonen nicht mehr zu rechnen. Bald darauf veröffentlicht er die Erzählung Atala, mit dem Untertitel: die Liebe zweier Wilden in der Wüste. Er gibt dem W e r k eine an antike Muster, namentlich an Homer, angelehnte Form, um dem Niedergang der Dichtung ins Gemeine und Prosaische zu begegnen. Sainte-Beuve billigt diese Absicht ganz, aber das Unglück will, daß die Zeit ihr entgegen steht. Die Alten gingen von einer vollständigen und deutlichen Anschauung der Gegenstände selbst aus, sie waren von der Natur nicht getrennt, die Modernen dagegen kommen vom Allgemeinbegriff und der sozialen Übereinkunft her, und so gelangen sie nur mit Hilfe einer gewaltsamen Anstrengung zum Anschaulichen zurück. Sainte-Beuve erläutert seihe Ansicht an den Bildern und Vergleichen Chateaubriands und gibt dabei ein glänzendes Beispiel seiner Kunst, geschichtliche Betrachtung und ästhetische Beurteilung zu verbinden, indem er drei Zeitalter und zugleich Arten des dichterischen Vergleichs unterscheidet. Die erste gehört Homer und den dichterischen Schriften des Alten Testamentes an. Die Vergleiche sind der Anschauung entnommen und verdeutlichen einen wesentlichen Zug des Gegenstandes, sie ergehen sich frei und ungezwungen. Die zweite findet sich bei Theokrit und Vergil und später bei Boileau und Pope. Bei ihnen sind die Vergleiche genau und bis ins einzelne durchgeführt, aber ihnen fehlt das unmittelbar überzeugende, sie wirken künstlich. Der dritten begegnen wir bei Chateaubriand selbst. Er fühlt, daß die zweite Art ihre Mängel hat, und strebt wieder nach einfachen, die Phantasie mit einem kraftvollen Zug ergreifenden Bildern, aber es gelingt ihm nicht, er wird häufig bizarr und gewaltsam. Seine Einbildungskraft ist zu stark, wie Saint-Pierre von Chateaubriand sagt. Sainte-Beuve, der Goethes Hermann und Dorothea zu den großen idyllischen Dichtungen der Weltliteratur zählt, wird auch hier nicht sagen wollen, daß es für den modernen Dichter unmöglich sei, aus der Naivität heraus zu gestalten, die auszeichnend für die Alten ist. Aber seine eigene Natur muß echt sein, und dies eben ist es, was Chateaubriand fehlt. Er sucht Natur und Leidenschaft, aber er besitzt sie nicht. Sainte-Beuve zitiert zu seiner Unterstützung auch hier den Schweizer Protestanten V i n e i und zieht sein Urteil über die Charaktere der beiden Liebenden heran. Sie gehören weder ganz der Natur, noch ganz der Zivilisation an, und doch sollen wir sie als Träger eines allgemein-menschlichen Schicksals nehmen. Vinet befaßt sich dabei auch mit dem Gelübde Atalas, dem sie ihr Glück opfert, und so gelangt er dicht an die letzte Ursache der künstlerischen Mängel heran, die Sainte-Beuve der Dichtung Chateau4*
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briands vorrückt. Dieser möchte, wie nach ihm Lamartine in seinem Jocelyn, Christentum und Rousseauismus verschmelzen, aber es gelingt nicht. Mit der Darstellung, die Chateaubriand von dem Begräbnis Atalas gibt, vergleicht Sainte-Beuve die Behandlung des gleichen Motivs in Manon Lescaut. Hier ist keinerlei Kunst, statt dessen aber Leidenschaft und Natur. Prevost, so dürfen wir hinzufügen, gibt eine einfache Erzählung, Chateaubriand verfolgt einen Zweck. Auch als Schriftsteller ist er Politiker. Als Napoleon zwischen dem revolutionären Frankreich und der katholischen Kirche Frieden schloß, kam ihm Chateaubriand mit seinem Hauptwerk, dem Geist des Christentums, zu Hilfe. Die erste Auflage enthielt gelobende Worte an den Mann des Tages, die zweite war ihm ausdrücklich gewidmet. In der Flugschrift Bonaparte und die Bourbonen, mit der er 1814 für die Restauration eintrat, suchte er dann seine Größe als eine Fälschung zu erweisen. Sainte-Beuve unterläßt es nicht, ihm diesen Widerspruch mit Kälte vorzuhalten. Er geht in seiner Kritik davon aus, daß man dies Werk nicht von den Verhältnissen lösen dürfe, unter denen es entstand. Es ist weder groß, noch wahrhaftig, und nicht Pascals unsterblicher Apologie zu vergleichen. Hier spricht aus Sainte-Beuve der genaue Kenner des Jansenismus, spricht vor allem der Moralist. Pascal beschreibt die Stellung des Menschen in der Welt. Er gehört zwei Reichen an, depi des Geistes und dem der irdischen Begierde, und aus diesem qualvollen Widerspruch seiner Natur, diesem haltlosen Taumeln zwischen Größe und Verworfenheit zeigt ihm nur die Religion der Erlösung durch Christus einen Weg der Rettung. Sainte-Beuves große Monographie über Port Royal wird uns noch auf diese Lehre zurückführen. Wenn Chateaubriand glaube, mit seiner Empfehlung des Christentums Pascals Weg zu folgen, so sei das eine Täuschung. Betrachten wir Pascal von der Lutherischen Reformation aus, so scheint es, daß er ohne Luther nicht denkbar ist. Gott erlöst den Menschen aus Gnade, das ist auch ihm der Kern des christlichen Glaubens. Aber Pascal baut diesen Vorgang, der sich in der Seele des einzelnen vollzieht, in eine objektive Weltordnung ein, viel stärker, als es im Sinne Luthers liegt, und so ist es auch völlig verständlich, daß er trotz aller Gegensätze ein Mann der Kirche bleibt. Chateaubriand nun nimmt die Kirche ganz als Institution, als Trägerin der Zivilisation und Darstellerin der schönen Form, und das ist es, was Sainte-Beuve ihm vorwirft. Nicht auf die Schönheit eines Glaubens komme es an, sondern auf seine Wahrheit! Er bestreitet überhaupt, daß es einen Sinn habe, von christlicher Kunst zu sprechen. Das Christentum an sich hat mit Kunst nichts zu tun, Chateaubriand aber ästhetisiert es. Sainte-Beuve zitiert dafür zwei Stellen über die Sakramente. Was könne man gegen 52
ein Sakrament wie die Kommunion einwenden, das uns durch einen solchen Umkreis von poetischen Vorstellungen führe, das mit Blumen, Jugend und Anmut beginne und zuletzt Gott auf die Erde hinabsteigen lasse? Alles, antwortet der Kritiker, könne man dagegen einwenden, es sei denn, daß es sich um ein wirkliches und echtes Sakrament handle! Und über das letzte Sakrament heißt es: „Kommt, das schönste Schauspiel zu betrachten, das die Erde zu bieten vermag, kommt, um den Frommen sterben zu sehen". Man merke, so Sainte-Beuve, die Hand des Malers, fast des Dekorateurs, und um diesen Preis besitze das Bild Schönheit und sogar Wahrheit. Chateaubriand ist in Wirklichkeit kein Prediger, der von seinem Glauben innerlich ergriffen ist, sondern ein Orator, ein Sprecher des Christentums. Im Jahre 1800 war eine große Rolle frei, die des'Anwalts der christlichen Religion, und Chateaubriand stürzte sich hinein. So wird er 1814 den Ritter des Thrones spielen, 1824 aber brüsk die Rolle wechseln und sich zum Ritter der Freiheit aufwerfen. Trotzdem verlangt er von uns. daß wir an die Einheit seines Handelns glauben, es ist aber eine künstliche, gemacht aus Teilen und Stücken. Am Ende seiner Vorlesungen kommt Sainte-Beuve noch einmal auf Chateaubriands politische Laufbahn zurück. Nach der Erschießung des Herzogs von Enghien schied er aus dem Dienst Napoleons aus und trat in Gegensatz zu dem Kaiserreich. Er suchte die Freiheit der Kritik zurückzugewinnen, wenn auch mit geringem Erfolg. Der Restauration, die er nach dem Sturz des Kaisers mit anderen propagandistisch vorbereitete, gab er das Programm der Versöhnung zwischen Monarchie und Freiheit. Er glaubte die Erfüllung seines politischen Traumes nahe, als die Monarchie stürzte, die er von allen am heftigsten vorwärtsgetrieben und erschüttert hatte. Auch Sainte-Beuve muß also einräumen, daß Chateaubriand ein politisches Programm hatte, wenn es ihm auch wirklichkeitsfremd erscheint. Er teilte es aber mit vielen hervorragenden Männern seiner Zeit, und niemand konnte ihm voraussagen, daß die Geschichte seines Landes darüber hinwegschreiten würde. Auch war er nicht der einzige, der sich über Napoleon täuschte und von ihm eine dauerhafte Versöhnung der neuen Einrichtungen mit den alten Uberlieferungen erhoffte. Zum großen Staatsmann fehlte ihm die Kraft, warten zu können, und der eigentliche Sinn für die Macht, er war seiner Natur nach ein Künstler, wie Sainte-Beuve dies ja immer wieder zeigt, und antwortete auf die gewaltigen Eindrücke einer revolutionären und kriegerischen Zeit mit rascher Hingabe. Abei diese Antworten waren echt, sie kamen aus dem Inneren seiner Seele, und so kann man ihm wohl kaum vorwerfen, daß er wechselnde Rollen spielte, so viel Eitelkeit und Ehrgeiz auch im einzelnen bei 53
seinem Verhalten mitgewirkt haben. In allem Wechsel der Ereignisse blieb er dennoch immer er selbst. Nur ließ er sich nicht ein für allemal in einer bestimmten Haltung festbannen. Sainte-Beuve steht seinem Gegenstand nicht mit dem Blick des Geschichtsschreibers gegenüber, sondern, wie er selbst ausdrücklich sagt, mit dem des Kritikers, und zwar, wie wir hinzusetzen dürfen, des moralisierenden Beurteilers. Einer seiner literarischen Freunde, so erzählt er uns, sagte ihm einmal in den frühen dreißiger Jahren, er glaube, daß nun das Reich der Phrase vorbei sei. Er sah nicht, fügt Sainte-Beuve bitter hinzu, daß zwar die Herrschaft einer Phrase aufhören mag, dann aber sofort die einer anderen beginnt. Mit dieser Erkenntnis blickte er auf die Epochen zurück, die er entweder selbst miterlebt oder deren Überlieferungen er aus dem Munde der Älteren empfangen hatte, und was er von der Februarrevolution gesehen und erfahren, hatte sein Urteil nur noch verschärft. So wird ihm Chateaubriand zum Vertreter einer Zeit, die ihm das Wesen des Menschen und der Gesellschaft enthüllt hat, und so unterwirft er ihn einer allgemeinen Kritik, die dem einzelnen zu viel aufbürdet. Daraus entsteht der zwiespältige Eindruck dieser Charakterdarstellung. Oft genug scheint es, als müßte das Individuum Chateaubriand unter der Wucht dieser sittlichen Anklage zusammenbrechen und ins Nichts verschwinden. Dann aber fließen wieder Sätze voller Anerkennung für sein starkes Talent ein, und zwar gerade dort, wo Sainte-Beuve selbst zu Hause ist und wo er auch Chateaubriands eigentliche Kraft erkennt, in der Kritik und der Dichtung. Er selbst sucht diesen Widerspj-uch zwar zu überbrücken, indem er das ganze Zeitalter als ein solches der literarischen Dekadenz bezeichnet, aber auch das ist ein allgemeines Urteil, das uns nicht zu einer Beurteilung Chateaubriands aus seinen eigenen Bedingungen verhilft. Aber hier stoßen wir auf einen weiteren Grund für die ätzende Schärfe seiner Kritik. Chateaubriand, so schreibt er bei der,Besprechung des René, ist der erste ursprüngliche Schriftsteller unseres Zeitalters. Der Wert dieser Erzählung, seiner besten Schöpfung, erscheint ihm dauernd und unveränderlich. Dort wo er im Geist des Christentums über die typischen Gestalten der antiken und neueren Dichtung urteilt, die Gatten, den Vater, die Mutter, die Tochter, zeigt er sich als Kritiker großen Stils. Sein Hauptverdienst auf diesem Gebiet aber sieht SainteBeuve in der Überprüfung des Urteils, das vor seinem Auftreten über die literarischen Leistungen des 17. und 18. Jahrhunderts herrschte. In seinen Würdigungen, die von Bossuet und Pascal bis zu Montesquieu und Buffon reichen, hat er selbst das 17. Jahrhundert wieder auf den ihm zukommenden Platz gesetzt. Darin ist er, trotz einiger Vorbehalte, Chateaubriands Schüler. Aber dieser ist von seiner natürlichen 54
Aufgabe abgefallen, als er sich mit Leib und Seele den politischen Kämpfen verschrieb. Und das ist es, was Sainte-Beuve aufs Bitterste schmerzt, denn den Dichter in Chateaubriand, dieses Urbild, diesen Vater, „von dem wir alle ausströmen", wie in der Lehre des Neuplatonismus die niederen Ideen von der höheren, soll man nicht nur bewundern, sondern auch weiterhin lieben. Er versucht nun, sich einen Augenblick vorzustellen, wie Chateaubriands Wirkung und Schicksal gewesen wäre, wenn er seiner ursprünglichen Bestimmung treu geblieben wäre. Nach der Herausgabe der Märtyrer, des Reisetagebuches, der letzten Abeceragen hätte er sich auf seinen Landsitz zurückgezogen und an seinen Erinnerungen gearbeitet. Royalist von Uberzeugung und keineswegs gleichgültig gegen die Geschicke seines Landes hätte er doch nicht gemeinsame Sache mit jenen Rasenden und Narren gemacht, die nach der Wiederherstellung des Königtums so viel Unheil anrichteten. So wäre ihm die Möglichkeit geblieben, seinen politischen Freunden ins Gewissen zu reden, er, der Frankreich kannte und nicht erst gestern, sondern schon vor vierzehn Jahren aus der Verbannung zurückgekehrt war. Sobald die literarische Bewegung der Restauration begann, wäre er als ihr natürliches Haupt erschienen, auf ihn hätte sich die Tradition dieser neuen Epoche stützen können, durch ihn hätte sie zugleich den Anschluß an die Antike gefunden. Er hätte auch als erster von der Erweiterung des literarischen Horizonts Vorteil gezogen und die Gleichstrebenden in England und Deutschland unbefangen gewürdigt. Als lPair von Frankreich hätte er von Zeit zu Zeit eine formvollendete Rede gehalten, wäre aber sonst dem öffentlichen Leben fern geblieben, um seine Kraft einem großen historischen oder literarischen Werk zu widmen. Gerade dieser Abstand von der Politik aber hätte ihm das moralische Recht gegeben, mit Männern aus allen Lagern zu verkehren und einen stillen Einfluß auf sie zu üben. Seine glänzenden politischen Voraussagen wären nach Gebühr beachtet worden, weil sie frei von persönlichen Leidenschaften gewesen wären, und mit Gelassenheit hätte er noch die kommende demokratische Zeit aufgenommen, im Vertrauen auf den guten Genius Frankreichs. Er wäre, in seiner Patriarchenmajestät, ein Goethe in französischer Art gewesen, etwas bewegter und gefühlvoller als jener, ein Goethe-René, der sich seines Werther erinnert. Wenn Chateaubriand sein Leben so geführt hätte, das will Sainte-Beuve mit diesem Phantasiespiel verdeutlichen, so wäre er nicht nur sich selbst treu geblieben, sondern stände auch als eine höhere Gestalt vor uns, denn als Wohnstatt des Geistes ist der literarische und poetische Bezirk dem politischen überlegen! In diesem allgemeinen Satz spricht sich die innerste Überzeugung Sainte-Beuves aus, ihr ist er immer treu geblieben. Seine scharfe Kritik an Chateau55
briand ist, ebenso wie die an Lamartine, von dem Groll darüber getrieben, daß beide nicht an dieser Wertordnung festgehalten haben. Sainte-Beuve dagegen hat immer wieder darum gekämpft, seiner Kritik die Unabhängigkeit gegenüber den politischen und sozialen Richtungen seiner Zeit zu bewahren und damit die Überlegenheit des Geistes über jene Bezirke aufrechtzuerhalten. Man muß dabei in Betracht ziehen, daß die Verbindung von Literatur und Politik damals sehr eng war. Die Revolution war von einer philosophischen Bewegung vorbereitet worden, Schriftsteller wie Voltaire und Rousseau gehörten zu ihren Vätern, und die gesamte Reaktion gegen sie, in allen ihren Schattierungen, wurde von schriftstellerischen Erzeugnissen begleitet. So hat auch Sainte-Beuve in seinem Bemühen um die Unabhängigkeit des kritischen Urteils schwere persönliche Niederlagen erlitten, ist aber doch immer wieder auf seine ursprüngliche Linie zurückgekommen.
Dritter Abschnitt
Plaudereien am Montag Dem Zwischenspiel der Vorlesungsreihe in Lüttich folgen die kritischen Plaudereien, die vom 1. Oktober 1849 an jeden Montag im Constitutionnel, vom 6. Dezember 1852 an aber im Moniteur erscheinen. Jener ist in seiner Gesamtrichtung ursprünglich liberal, dieser das offizielle Organ des zweiten Kaiserreiches. Wie es zu diesem Wechsel kam, werden wir noch hören, wenn wir uns mit Sainte-Beuves Biographie beschäftigen. Die Reihe schließt im Jahre 1861. Auch diese Aufsätze sind zum größten Teil Bildnisse. Der Anlaß zu den meisten besteht in dem Erscheinen eines neuen Buches. Im allgemeinen erschöpft Sainte-Beuve seinen Gegenstand in einer dieser Plaudereien, Fortsetzungen durch zwei oder gar drei Nummern sind selten. Er veröffentlicht sie in Buchform ohne Änderungen und in derselben Reihenfolge, wie sie vorher in der Tageszeitung erschienen sind. Sainte-Beuve wirft in der Vorrede zum ersten Band einen Blick auf seine bisherige kritische Tätigkeit. Unter der Restauration begann er mit einer polemischen Kritik, angreifend und in das Gebiet des Geschmacks einbrechend, unter der Julimonarchie schrieb er neutraler, mit der Absicht, zu analysieren und beschreiben. Jetzt sind die Zeiten rauher geworden. Das Geschrei d6r Straße zwingt jeden, seine Stimme zu erheben, und unsere jüngsten Erlebnisse haben unser Gefühl für Gut und Böse, Recht und Unrecht geschärft. So will auch er jetzt einfach als Kritiker auftreten und über die Verfasser und ihre 56
V^erke rund heraus sagen, was er für die Wahrheit hält. Das klingt sehr einfach und als verstände es sich von selbst. Aber man vergegenwärtige sich, daß Sainte-Beuve hier als einzelner, ohne Anlehnung an irgend eine Weltanschauung oder literarische Richtung, ohne Stütze durch ein Amt oder einen wissenschaftlichen Auftrag, dem Strom der schriftstellerischen Erzeugnisse gegenübertritt. Welch ein kühnes Vertrauen in das persönliche Urteil, welch eine Sicherheit beim Einsetzen der eigenen Person drückt sich darin aus! Die redaktionelle Vorbemerkung datiert vom September 1849. Prinz Louis Napoleon ist seit einem Jahre Präsident, die Zeitung spricht, ohne Zweifel durch Sainte-Beuves eigene Feder, von einer Unterbrechung der politischen Stürme. Sofort wendet sich die Gesellschaft, dies Wort im Sinne der richtunggebenden Kreise verstanden, wieder der Literatur zu. In Frankreich kann die Literatur nicht sterben. Ablehnend gegen jedes System, daher auch gegen jeden Spiritualismus, sucht der Kritiker dennoch eine von der Politik unabhängige Grundlage für seine Arbeit und findet sie in der traditionellen Liebe der Gebildeten seines Volkes für die Werke der Sprache Im übrigen ist er in der Wahl seiner Gegenstände frei und in seinem Urteil nur an den bons sens gebunden. Dieses Wort, unübersetzbar für uns, bedeutet, daß er sich von allem Äußersten fernhalten wird. Er wird eine Kritik für die Gemäßigten unter den Literaturfreunden schreiben, für die Mitte des Publikums, aber er verspricht, sich mit allen neu auftauchenden Gedanken zu befassen. Er will die Öffentlichkeit hören, um dann von ihr gehört zu werden. Die Plaudereien, auch noch in der Buchausgabe mit dem Datum versehen, folgen einander nun in zufälliger Reihenfolge. Wollen wir uns ein Bild von dem Werk als Ganzem machen, so wie es der Verfasser selbst gegeben hat, indem er seine Kritiken sammelte und sie ohne Systematisierung so aufeinander folgen ließ, wie sie die Zeitungsleser ihrer Zeit empfangen hatten, so müssen wir, mit Freiheit, dem Weg des Kritikers folgen, dabei auswählen, Akzente setzen, die Linien dieses geistigen Antlitzes, das den Namen Sainte-Beuve trägt, anzudeuten suchen. Saint-Marc Girardin veröffentlichte, neben Aufsätzen über Literatur und Moral, den Lehrgang über die dramatische Literatur, den er seit Jahren an der Pariser Universität hielt. Mit ihm befaßt sich die erste Plauderei. Die Julimonarchie hatte ihn zum Stellvertreter Guizots auf dem Lehrstuhl der Geschichte ernannt und ihm später die Professur für französische Literatur übertragen. Imi Auftrag der Unterrichtsverwaltung hatte er sich über den Zustand der deutschen Gymnasien unterrichtet, um Material für die geplante Reform des höheren Schulwesens in Frankreich zu gewinnen. Er war kein Gegner 57
einer vorsichtigen Anpassung der klassischen Erziehung an den Charakter der Zeit. Girardin bleibt während des zweiten Empire in der Opposition. A l s Siebziger sitzt er noch in der Nationalversammlung und stimmt dort gegen Thiers und die Republik. Sein Lehrgang über die dramatische Literatur, seinerzeit viel gelesen und wiederholt aufgelegt, gehört zu einer Gattung der literarischen Kritik, die uns seit langem abhanden gekommen ist, um eines guten Tages wiederzukehren. Er nimmt sich vor, zu zeigen, w i e die alten Autoren, v o r allem die griechischen und französischen Tragiker, die menschlichen Grundgefühle dargestellt haben, elterliche Zärtlichkeit, Liebe, Eifersucht, Ehre, und w i e es die modernen romantischen Dramatiker tun. Dieser Vergleich fällt zuungunsten der Zeitgenossen aus, Girardin ist ein entschiedener Gegner der romantischen Bewegung. Und da er von der Einheit des guten Geschmacks und der richtigen moralischen Haltung überzeugt ist, so fällt er damit zugleich ein sittliches Urteil. Seine Kritik ruht also auf einem festen ästhetischen und moralischen Grund. Sainte-Beuve behandelt ihn sehr achtungsvoll, und wenn er auch die Lyrik der Romantiker gegen ihn verteidigt, so gibt er doch ihr Drama seiner Abneigung preis. A b e r er führt ihn, in sehr zierlicher Weise, auf seine Grenzen zurück. So w i e Girardin die antiken Autoren gegen die modernen benutzt, so zeichnet Sainte-Beuve jetzt in einigen raschen Strichen die Geschichte der Kritik von Aristoteles bis zu Girardin selbst, um zu erweisen, daß auch dieser auf seinem Gebiet ein Moderner ist! So entspricht z. B. seine Art, das Gesichtsfeld rasch zu wechseln, ganz dem romantischen Theater. Man steht auch dann noch in Verbindung mit seiner Zeit, sogar erst recht, wenn man sie v o n sich stößt. Mit , dieser allgemeinen Feststellung beschließt Sainte-Beuve den entscheidenden Teil seiner Kritik. Girardins Einfluß auf die Jugend ist deutlich zu erkennen. Er hat viel dazu getan, um den romantischen Weltschmerz bei ihr zu bekämpfen, die Krankheit Renés, und er ist dabei nur allzu erfolgreich* gewesen. Die Jugend ist positiv geworden. Der junge Romantiker träumte davon, ein großer Dichter zu werden oder zu sterben, die klugen Jungen von heute denken daran, zu leben und mit fünfundzwanzig Jahren Präfekt oder Minister zu sein. A b e r sieht man genau zu, so hat das Übel nur den Sitz gewechselt. So ist es mit fast allen Krankheiten des menschlichen Geistes, die man sich schmeichelt geheilt zu haben. Aber, so schließt der Kritiker, das weiß Girardin besser als wir. Diese erste Plauderei, obgleich ihr Thema literarisch nicht ersten Ranges ist, zeigt doch schon wesentliche Züge des Kritikers selbst. Er überragt Girardin, was kaum gesagt zu werden braucht, "ist ihm aber doch verwandt. Auch er steht in der literarischen Überlieferung, die ihm 58
lückenlos von den Alten bis zu seiner eigenen Epoche reicht, nur handhabt er sie freier. Und auch er dringt über das ästhetische Urteil zuip moralischen vor, doch urteilt er nicht mit der naiven dogmatischen Sicherheit Girardins, sondern mit einer tiefen Skepsis. Diese steigt aus Sainte-Beuves Charakter und aus seinen Erfahrungen auf. Sie befruchtet seine Kritik und bedroht sie zugleich, da der vollkommene Zweifel jedes Urteil aufheben würde. Der immer neue Kampf mit ihr gibt seinem Werk ein gutes Teil der Größe, die wir an ihm empfinden. Das Recht der Kritik zu urteilen, ihre Pflicht, es zu tun, betont er in dein Aufsatz über die literarischen Werke, die Villemain und Cousin veröffentlichen. Beide sind durch die Februarrevolution von der Höhe ihres sehr bedeutenden kulturpolitischen Einflusses herabgestürzt worden und kämpfen nun um ihre Stellung vor der Öffentlichkeit als Schriftsteller und Forscher. Sie haben ihre älteren Schriften durchgesehen, mit Sorgfalt verbessert und geben sie nun von neuem heraus. Sainte-Beuve verzichtet ausdrücklich auf jeden anderen Gesichtspunkt und betrachtet sie nur als Kritiker - und Historiker der Literatur. Er rühmt an ihnen, daß sie ihren Werken jenen Grad der stilistischen Vollendung gegeben haben, der nur dem aufmerksamen und kenntnisreichen Leser auffällt. Sie haben, so sagt er, trotz ihres Ruhmes die Religion des Schriftstellers bewährt, den Glauben an die Dauer ihres Werkes über den Tag hinaus, eine Form der Religion, die sich jetzt genau so abgeschwächt hat wie andere. Aber von jeher haben die Kritiker ihre Hauptaufgabe darin gesehen, zu runden und klaren Beurteilungen zu kommen, so Malherbe, Boileau, in England Johnson, und so auch noch die Späteren, während Villemain es daran fehlen läßt. Die Kritik hat sich seitdem gewandelt, sie hat vieles erläutert, das Verständnis erweitert, aber sie gelangt nicht mehr zu bündigen Schlüssen. Diesen Übergang der normativen Kritik zur literarischen Geschichtsschreibung, den SainteBeuve meint, will er nicht mitmachen. Er beschäftigt ihn auch bei Cousin. Dieser hat als erster das Zeitalter Ludwigs XIV. historisch behandelt. Er hatte in seiner Jugend Deutschland bereist, war zweimal bei Hegel gewesen und stand unter dem Einfluß seiner Philosophie. Sainte-Beuve verdeutlicht sich und seinen Lesern die neue Betrachtungsweise, die Cousin anwendet, aber mit anderen Begriffen. Cousin, so sagt er, hat die klassischen Schriftsteller seines Landes, z. B. Pascal und Racine, wie solche des griechisch-römischen Altertums behandelt, ihre Denkmäler untersucht und wenn nötig wiederhergestellt, wie man es in der Archäologie tut. Er hat die französische Philologie geschaffen. Es wäre aber bedenklich, wenn darüber das ästhetische Urteil, die literarische Bewertung, verloren 59
ginge, eine Gefahr, die bei dem Meister selbst nicht besteht, wohl aber bei seinen Schülern. Man erkennt hier deutlich, wie weit Sainte-Beuve dieser Umstellung folgt und an welcher Stelle er sich ihr versagt. Er ist bereit, sich auch in der modernen Literatur alle Ergebnisse der historischen Forschung zunutze zu machen, aber nicht anders, wie es auf ihrem Gebiet die klassische Philologie mit ihren Hilfswissenschaften tat. Hegel stand seinerzeit an der Bruchstelle zwischen theologischer und historischer Denkweise. Er hatte noch nicht daran gezweifelt, daß der Sinn der menschlichen Geschichte ein göttlicher sei und hinter dem Schleier der menschlichen Schicksale ruhe, zwar noch verborgen, aber doch vorhanden. Aber indem die Geschichte sich ihm schrittweise näherte, wurde sie in ihren einzelnen Abschnitten, mit dieser Beschränkung, wertvoll und selbständig. Von da an gab es keine Wertunterschiede mehr zwischen den großen Epochen. Sainte-Beuve war durch die Romantik mitlebend und -handelnd hindurchgegangen, er hatte seinen Gesichtskreis ihrer Weite völlig angepaßt, aber die deutsche Auffassung von Geschichte hatte er sich nicht angeeignet. Für ihn blieb der Begriff des Klassischen in seinem alten Kern lebendig, wenn auch durch neue literarische Einsichten umgebildet. Diese seine Grundhaltung wird uns noch zu beschäftigen haben. Sollten wir in Frankreich, so faßt er seine Sorgen zusammen, schon beim Alexandrismus angekommen sein, beschäftigt, unser Inventar zu machen? Die Ereignisse der Zeit lenken aber die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Politische und Militärische, mit ihm hat sich auch der Kritiker zu befassen. Die Erinnerungen Philipps von Commynes werden neu herausgegeben. Sainte-Beuve nennt ihn den ersten wirklich modernen Schriftsteller und stellt ihn neben Montaigne. Die Vorstellungen dieser Männer sind die unseren, und wir wären glücklich, wenn wir die Triebkräfte der Menschen um uns herum, das Gewebe der gesellschaftlichen Interessen, in dem wir stecken, so wohl verständen wie sie. Nur beschränken sich Gommynes' Wahrnehmungen im wesentlichen auf die- politische Sphäre. Er diente zuerst Karl dem Kühnen und wechselte dann zu Karls Gegner, Ludwig XI. von Frankreich, hinüber. Man hat diesen Schritt verschieden beurteilt. Aber vergessen wir nicht, daß der Gedanke des Vaterlandes in unserem Sinne damals noch nicht lebendig war. Karl war gewaltsam, verlor immer mehr das rechte Maß, Ludwig dagegen war fein, überlegen in der Behandlung der Menschen, zäh in der Verfolgung seiner Zwecke, kurz, der moderne Staatsmann neben dem anderen, dem noch viele Züge der ritterlichen Zeit anhafteten, und so sah sich Commynes von Karl ebenso abgestoßen, wie von Ludwig angezogen. Er lobt den König wegen seiner Maß60
nahmen, die V e r w a l t u n g des Königreichs zu vereinheitlichen, doch ist er kein A n h ä n g e r des heraufsteigenden Absolutismus. Frankreichs Unglück, so sagt Sainte-Beuve in W i e d e r h o l u n g eines alten Gedankens, liegt darin, daß es nicht gelang, eine parlamentarische Monarchie einzurichten, solange der Geist der Selbstverwaltung und der Gesetzlichkeit in den Gemeinden und den öffentlichen Körperschaften noch lebendig war. N a c h L u d w i g X I V . und L u d w i g X V . w a r es zu spät dafür. Commynes w a r ein A n h ä n g e r der englischen Staatsform, w i e nach ihm Montesquieu, w e i l sie das V o l k am w e n i g sten mit G e w a l t beherrscht. A u c h an der Person Ludwig X I . rühmt er, daß er ein offenes Ohr für alle hatte. „Er w a r der geborene Freund der Menschen aus dem Mittelstand und der Feind aller Großen, die ohne ihn fertig .werden konnten." In seinem Urteil über die Mächtigen darf man Commynes mit Tacitus zu v e r g l e i c h e n wagen. Er durchschaut und beklagt sie. Das sind die Züge, die Sainte-Beuve, selbst ein Freund der mittleren und kleinen Leute, an dem Staatsmann und Chronisten des 15. Jahrhunderts hervorhebt. Für das M o d e r n e seines Geistes findet er die einprägsame V o r stellung, daß w i r ihn uns als Glied unserer g e g e n w ä r t i g e n Gesellschaft denken und den Platz bezeichnen könnten, den er unter den verschiedenen Staatsformen seit 1789 eingenommen haben würde. In seiner Jugend nahm Commynes auf burgundischer Seite an der Schlacht bei M o n t l h e r y g e g e n den K ö n i g v o n Frankreich teil. SainteBeuve v e r g l e i c h t seine Schilderung mit d e r j e n i g e n Froissarts v o n der Schlacht bei Potiers, etwa hundert Jahre vorher. Froissart, der letzte Geschichtsschreiber des Mittelalters, beschreibt sie in glänzenden Farben w i e eine heroische Szene. Commynes dagegen, im N i e d e r g a n g der ritterlichen Kriegsführung stehend, gibt beinahe so etwas w i e eine Parodie jener Darstellung. Die burgundischen Ritter w e r f e n den Schlachtplan über den Haufen, indem sie ihre eigenen Bogenschützen überreiten, gewinnen aber grade durch diese Torheit den Sieg. Der Mensch soll nicht wähnen, daß er solche Massen lenken könne, der Sieg liegt in der Hand Gottes, und dieser gibt ihn, w e m er will. W i r erinnern uns der Auffassung v o n Feldherrnkunst, die uns Tolstoi bei der Beschreibung der Schlacht v o n Borodino in K r i e g und Frieden gibt. A u s dem Feldzug v o n 1812 stammen nun auch die Erinnerungen, die Sainte-Beuve w i e d e r u m Anlaß geben, sich mit dem W e s e n des K r i e g e s und seiner W i r k u n g auf die Natur des Menschen zu befassen. Denn unterdessen steigt das Gedächtnis des Kaiserreiches im französischen V o l k e immer mächtiger empor. 1849 erscheint eine kleine Schrift, das Tagebuch des russischen Feldzuges i. J. 1812 v o n dem Generalleutnant de Fezensac. Der Verfasser, damals sechsundzwanzig Jahre alt, kommandierte beim Rückzug 61
von Moskau ein Infanterieregiment, das zum Korps des Marschalls Ney gehörte und mit diesem die Nachhut bildete. Fézensac berichtet von außerordentlichen Leistungen der Truppe, klar, sachlich, mit einem starken Unterton von menschlichem Mitgefühl. Das Regiment, das Fézensac später befehligte, war beim Übergang über den Rhein 2800 Mann stark gewesen, beim Rückzug kamen am Njemen noch etwa 40 kranke Offiziere und Soldaten an, davon die Hälfte ohne Waffen. Sainte-Beuve folgt in seiner Besprechung dem Bericht mit schlichter Treue und mit vollkommenem Verständnis für das stille Pathos, von dem die Erzählung erfüllt ist. Am meisten aber fesseln ihn die moralischen Reflexionen, die sich ihm dabei aufdrängen. In solchen großen Prüfungen, die über Menschenkraft hinausgehen, fällt alles ab, was der Mensch sich in Generationen erworben hat und nun schon als Erbe besitzt, Liebe zum Vaterland, Hingabe an die Seinen, Ruhm, Ehre, alles dies schwindet nach und nach dahin, und die nackte Natur tritt wieder zutage. Und wenig zahlreich sind jene, bei denen ein höheres Gefühl, der Ehre und des Mitleids, wie eine Art von Religion untrennbar mit dem einfachen Bedürfnis zu leben verbunden ist und erst mit dem letzten Hauch erlischt. Diese aber sind um so tiefer zu bewundern. In einer verzweifelten Lage auf dem Rückzug wird ein Unteroffizier getroffen und stürzt, im Fallen aber sagt er zu seinen Kameraden: „Ich bin verloren, nehmt meinen Ranzen, ihr werdet ihn brauchen können!" Und Fézensac berichtet, daß ihn inmitten so furchtbaren Unglücks nicht die körperlichen Leiden schmerzten, sondern der Kummer um den Untergang so vieler Freunde und Waffengefährten. Sainte-Beuves Begriff von der Natur des Menschen im allgemeinen, ihrem Elend und ihrer Größe, tritt uns hier an einfachen Beispielen entgegen. Sie ist derjenigen Rousseaus und seiner Nachfolger durchaus entgegengesetzt, mit der Pascals aber nahe verwandt. Von Napoleon selbst ist in' dieser Besprechung wenig die Rede, aber Sainte-Beuve ergreift zweimal die Gelegenheit, sich mit ihm zu beschäftigen. Thiers veröffentlicht den neunten Band seiner Geschichte des Konsulats und Kaiserreichs. In seiner Plauderei sagt Sainte-Beuve diesmal wenig über den Verfasser, er beschränkt sich im wesentlichen darauf, nochmals den Sinn für das Tatsächliche an ihm zu rühmen, aber er gibt eine glänzende Charakteristik des Kaisers. Thiers hatte in seinem achten Band die Anfänge des spanischen Unternehmens beschrieben, dieses Attentats gegen das dortige Königtum, er schildert jetzt die furchtbaren Folgen, vor allem die Kapitulation von Baylen. Dazwischen führt er uns auf den Kongreß von Erfurt. Sainte-Beuve verwirft den Angriff auf Spanien aus Gründen einer höheren moralisch-politischen Beurteilung und sieht in der Fürstenzusammenkunft von Erfurt 62
eine Komödie, mit der die Welt geblendet werden soll. Kein Zweifel ist also möglich, daß er Napoleons politisches .System in Europa verurteilt. Anders lautet sein Spruch über die innere Politik. Napoleon tritt in einer großen Krise der Kultur als ihr Retter auf, sammelt die entnervten und demoralisierten Klassen der Gesellschaft von neuem zu einem Bündel — Sainte-Beuve gebraucht dafür die französische Form des Wortes fascis — und bedeckt ihre Basis, sie dadurch verhüllend, mit einem Altar. Es ist nicht erstaunlich, daß ihn, den Gesetzgeber und Schöpfer neuer Einrichtungen, die Phantasie der Völker in die Nähe der Götter rückt! Damals stieg der Stern des Prinzen Louis Napoleon empor, ein zweites Kaiserreich dämmerte in der Vorstellung großer Teile des französischen Volkes, und der Tag ist nicht mehr weit, wo Sainte-Beuve sich auf den Boden des neuen Empire stellt. Trotzdem unterliegt es keinem Zweifel, daß die Bewunderung, die er für Napoleon als den Begründer einer neuen politischen und sozialen Ordnung zum Ausdruck bringt, echt ist und einer wesentlichen Seite seiner eigenen Natur entspricht. In seinem zweiten Aufsatz über Napoleon aus dieser Zeit, Feldzüge in Ägypten und Syrien, vergleicht er dessen Stil mit dem Pascals. Beide hätten in ihren Sätzen zuweilen denselben mathematischen und absoluten Charakter. Diese gelegentliche Bemerkung gibt uns Licht über Sainte-Beuves Auffassung von der Gesellschaft. Wie Pascal den Menschen überhaupt als eine elende Kreatur sieht, so er die gesellschaftliche Ordnung als ein gebrechliches, stets vom Untergang bedrohtes Gebilde. So kann auch der Gedanke über ihn zuzeiten Kraft gewinnen, daß die Kultur in großen Krisen einen Retter braucht, so wie die Menschheit in Pascals christlichem Weltbild einen Erlöser. Aber der Gesetzgeber ist in Napoleon mit dem großen Feldherrn, ja, dem Eroberer, verkoppelt, und als solcher liebt er das Abenteuer, das Spiel mit dem Schicksal. Das Glück ist ihm günstig, und er versucht es immer wieder. Zuletzt aber verläßt es ihn. , Er war vielleicht der größte Feldherr aller Zeiten, aber stärker als das Genie des einzelnen ist am Ende das Ganze, die Natur der Dinge, zu der auch das Gewissen der Völker gehört. So besiegen ihn zuletzt Männer geringeren Ranges als er, hartnäckige Zauderer wie Pitt und Wellington. Den Feldzug nach Ägypten nennt Sainte-Beuve hier ausdrücklich ein Abenteuer, er kommt aber vierzehn Tage später ausdrücklich auf diesen Gegenstand zurück, indem er ein bereits 1847 erschienenes Werk hervorzieht, die von dem Sohn des Generals Bertrand veröffentlichten Erinnerungen Napoleons über die Feldzüge in Ägypten und Syrien. Er rühmt darin Napoleons kolonisatorisches Werk im Nilland, und erst zum Schluß findet sich eine scheinbar nebensächliche Kritik, noch dazu eingewickelt in die 63
Form der Bewunderung, und dennoch so, daß sie für den mit SainteBeuves Gedanken Vertrauten alles vorheigehende Lob aufhebt. Als Bonaparte das eroberte Land verließ, diktierte er seinem Nachfolger Kléber drei Denkschriften über die fernere Verwaltung und Verteidigung des Gebietes, aber er allein wäre fähig gewesen, seine Anordnungen auszuführen. Doch sein Traum eines Vormarsches nach dem inneren Asien war vor Saint-Jean d'Are gescheitert, und die Nachrichten aus Frankreich riefen seinen Geist auf jenen Schauplatz zjurück. Das Genie, das Ungeheures leistet und dann doch der Natur der Dinge und dem Gesetz seiner eigenen Phantasie erliegt, so daß er nichts Bleibendes hinterläßt! Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Kritiker in dieser Besprechung der Tagesströmung weicht, die eine Bewunderung Napoleons ohne Einschränkungen verlangt, und seine eigene Meinung nur in versteckter Form auszudrücken vermag. Er ist von der Zeitung abhängig, für die er schreibt! Aber selbst in dieser Besprechung eines politisch-militärischen Erinnerungswerkes beschäftigt sich Sainte-Beuve ausführlich mit dem Stil des Verfassers. Er will mit seinen Aufsätzen der Literatur als solcher dienen, der Kunst des sprachlichen Ausdrucks, wie sie sich, unabhängig von den Inhalten, in einer bewußten Arbeit von Generationen schreibender und redender Menschen herausgebildet hat. Zu diesem Zweck behandelt er von Anfang an häufig Gegenstände des 17. und 18. Jahrhunderts, er will die sprachliche Tradition erneuern, die zum Unglück von den jungen Generationen verlassen worden ist. Das 17. Jahrhundert ist gleich zu Anfang der Reihe mit einer lose gefügten, liebenswürdigen Plauderei über Frau von Sévigné vertreten, den Übergang vom Zeitalter Ludwigs XIV. zur Regentschaft bildet dann, im zweiten Jahre der Reihe, eine tief dringende Charakteristik der Erinnerungen des Herzogs von SaintSimon. Es gibt zwei Arten der Geschichtsschreibung, namentlich über einen Gegenstand wie das Zeitalter Ludwigs XIV., die konventionelle und die wahrhaftige, die erbarmungslos enthüllt. Ihre Vertreter gehören zur Reihe der großen Dichter und Historiker, die die wirkliche Natur des Menschen beschreiben, wie Tacitus, Molière, Shakespeare und Saint-Simon selbst. Dieser, von einem leidenschaftlichen Haß erfüllt, ist keineswegs unparteiisch, aber dennoch wahrhaftig und ehrenhaft. Denn sein Gefühl gegen die Niedrigkeit und Selbstsucht der Gesellschaft, in der er lebt, ist im Recht, und seine Beobachtungen sind richtig. Er hat weder sein Zeitalter verleumdet, noch die Menschheit im ganzen. Zwar ist das Bild, das er sich von dieser macht, nicht vollständig, ihm fehlt der Blick für ihre höheren Augenblicke, aber in seinen Grenzen ist es zutreffend. Man denke sich 64
einen neuen Saint-Simon, diesmal nicht am Hof von Versailles, sondern innerhalb einer verfassunggebenden Versammlung, das Ergebnis seiner Beobachtungen über die menschliche Natur wäre das gleiche. Im allgemeinen liegt es im W e s e n dieser Plaudereien im Rahmen einer Tageszeitung, daß er sich auch den großen Gestalten von einer bestimmten Ecke ihrer Biographie aus nähert. So verfährt er mit Voltaire, so zunächst auch mit Rousseau. Doch faßt er sein Urteil über diesen schon in dem Aufsatz über seine Beziehungen zu Frau de la Tour-Franqueville zusammen. Rousseaus Charakter, besonders im Alter, erscheint ihm in sehr ungünstigem Licht: Seine politischen Gedanken berührt er nur flüchtig, aber mit entschiedener A b w e i sung. W e n n ei seine Schriften zweideutig und sophistisch nennt, am meisten den Gesellschaftsvertrag, so meint er vor allem den Gegensatz zwischen der verführerischen Form der Darstellung und der Schrankenlosigkeit des Inhalts. A n diesem Urteil über Rousseau als sittliche Persönlichkeit hält er auch in einem besonderen Aufsatz über die Bekenntnisse fest, aber er hebt sich doch darüber hinaus, indem er ihn als Schriftsteller beschreibt, und gelangt auf diesem W e g e zuletzt zu einer veränderten Gesamtauffassung. Er hat die französische Sprache erneuert, indem er sie aus der Stadt und dem Salon in die freie Natur geführt hat. Er gibt ihr neue Stoffe, indem er die W e l t der Kindheit, der einfachen und starken Gefühle, des Wanderns entdeckt. Dies alles konnte nur ein Mensch aus bürgerlicher Familie und aus der Provinz leisten, ein neuer Mensch, und hierin sind wir alle Enkel des Bürgers Rousseau. Menschen von solcher Bedeutung für die Nachwelt darf man nicht nach Tagesströmungen beurteilen. Indem er ihn mit dem Dichter des René vergleicht, gibt er jenem den Vorzug. Chateaubriand besitzt die Härte und den Hochmut des Abkömmlings der Feudalzeit, Rousseau aber jene Zartheit des Gefühls, die sich in der ehrenhaften Enge des bürgerlichen Familienlebens herausbildet. So gewinnt er als Vertreter seiner Klasse zurück, was er als einzelner verliert. Und SainteBeuve, der den Politiker geringschätzig ablehnt, bekennt sich zu Rousseau, dem Bürger. Dem achtzehnten Jahrhundert gehört auch noch Goethe mit dem ersten Teil seines langen Daseins an. Sainte-Beuve sieht in ihm die •ollendete Verkörperung des deutschen Geistes, w i e in Voltaire die des französischen. Die Gelegenheit, sich mit ihm zu beschäftigen, gibt ihm eine französische Übersetzung des Buches von Bettina Brentano, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Bettinas Schwärmerei für den Dichter, der als junger Mann ihre Mutter geliebt hat, ist auch in der deutschen Literatur eine schwer zu begreifende Erscheinung, dem französischen Kritiker ist sie wesensfremd, und er 5 Deiters, Sainte-Beuve
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sagt dies, nach vielen Versuchen, sie seinen Lesern verständlich zu machen, auch ohne Abschwächung selbst. Anders sieht er sein Ver-" hältnis zu Goethe an, ihn glaubt er zu begreifen und möchte er in seinen Grundzügen erklären, soweit es der enge Raum zuläßt. Er ist ihm der letzte große Mann, den die Zeit hat dahinscheiden sehen, ein universaler Geist, unermüdlich in der Aufnahme der Erscheinungen des Lebens, ohne Eifersucht, liebevoll und duldsam. Als Sainte-Beuve selbst in die Literatur eintrat, waltete Goethe als der gelassene Beobachter der Weltliteratur, als Kritiker von europäischer Geltung in -Weimar. Dies Bild hat sich ihm unauslöschlich eingeprägt. Er rühmt den Takt und die Güte, mit denen Goethe, anders als Rousseau, seiner Verehrerin begegnet, und nimmt ihn auch gegen den Vorwurf in Schutz, er habe seine Mutter vernachlässigt, der übrigens auch Sainte-Beuve später gemacht worden ist. Ein Sohn der Götter, so nennt ihn die Mutter, als spräche eine Römerin, so das deutsche Vaterland, und so fühlt es ganz Deutschland. Wir schreiben 1850, Goethes Ruhm befindet sich in jenem natürlichen Zwischenraum, der entsteht, wenn die Zeitgenossen eines Großen dahingegangen sind, die Sonne der Unsterblichkeit für ihn aber erst langsam emporsteigt. Sainte-Beuve spricht davon anderswo im allgemeinen, Hermann Grimm bemerkt diese Erscheinung gerade an Goethes Nachruhm. Die Schätze seiner geistigen Hinterlassenschaft liegen noch unzugänglich in dem Hause am Frauenplan. Daß der französische Kritiker so von ihm spricht, wie er es tut, bedeutet also viel. Die großen Einschränkungen aber, die er seiner Bewunderung für Goethe als Persönlichkeit hinzufügt, hat er von der jungen Generation übernommen, die in Deutschland selbst nach dem Tode des Großen von Weimar auftrat. Er habe alles im Universum verstanden, nur vielleicht zweierlei nicht, den Christen und den Helden. So verbindet Sainte-Beuve in einer knappen Formel die Vorwürfe der Orthodoxen und der Radikalen. Er habe die Qual und das Opfer gescheut. Beides trifft nicht zu, weder für die Dichtung, noch für das Leben Goethes. Auch die politische Sphäre ist ihm keineswegs fremd. Dort, wo Sainte-Beuve tadelt, folgt er überkommenen Meinungen. Wie kann er Goethe zum Vorwurf machen, daß er während der Tage von Wagram „seinen kalten Roman", die Wahlverwandtschaften, geschrieben habe! Sieht er doch selbst seine Aufgabe darin, literarische Kritiken zu schreiben, während in Frankreich um die Grundlagen des politischen Lebens gerungen wird. Sainte-Beuve besitzt nicht die ausgedehnte Kenntnis der deutschen Literatur, die notwendig wäre, um diese Irrtümer des mittleren Goethebildes aus dem Vormärz zu verbessern. Doch kommt er auf Goethe noch wiederholt zurück. 66
Von den Dichtern der Restaurationszeit veröffentlicht Lamartine Stücke seiner Selbstbiographie, nach dem Tode des Verfassers erscheinen die Erinnerungen Chateaubriands, über beide urteilt SainteBeuve auch hier mit großer Härte. Als neue Gedichte von Musset angekündigt werden, stellt er sich die Frage, warum von den Dichtern jener Generation so wenig bleiben wird, und beantwortet sie mit einem moralischen Urteil, das man genau durch Goethes bekanntes Wort über Johann Christian Günther wiedergeben kann: ,;Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten." Von Musset aber werden die Gedichte bleiben, in denen ein leidenschaftliches Gefühl rein zum Ausdruck kommt, darunter die Nächte des Mai und des Oktober. Eine neue Seite ihrer Begabung zeigt ihm George Sand mit ihren Dorfgeschichten. Er rühmt vor allem das Teufelsmoor als ein Meisterwerk, und rät ihr, wie diesmal auch weiterhin ihrem Talent neue Bahnen zu eröffnen, niemals aber sich einer Partei zu verpflichten. Er liebt mehr und mehr die idyllische Dichtung, die sich an den Hirtengedichten des Altertums geschult hat, und sucht die Poesie aus dem Strudel der Politik zu retten. Aber sein Amt als Kritiker nötigt ihn, noch vor dem Ende des ersten Jahres zu dem Werk eines Dichters Stellung zu nehmen, der seine Aufgabe gerade darin sah, in einem großen Romanzyklus seine eigene Zeit darzustellen. Balzac starb 1850- auf der Höhe seines Schaffens. Zwischen ihm und Sainte-Beuve hatte eine literarische Feindschaft bestanden, erwachsen aus einem ablehnenden Urteil des Kritikers über Ualzacs Roman, Die Suche nach dem Absoluten, und vertieft durch eine scharfe Kritik des Dichters an Sainte-Beuves Hauptwerk Port Reyal. Sainte-Beuve verspricht in seingm Nachruf eine Würdigung frei von jedem persönlichen Gefühl. Balzac, so beginnt er, ist der Maler des neunzehnten Jahrhunderts, er hat die drei Abschnitte, die es bisher zurückgelegt hat, selbst durchlebt. Die alten Kämpfer der Kaiserzeit, die großen Damen der Restauration, die Bürger der Julimonarchie, diese und viele andere Gestalten der Menschlichen Komödie stellt er in voller Rundheit vor uns hin. Aber in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ist er mehr als ein genauer Beobachter, obwohl er dies am meisten zu sein erstrebt, er sieht nicht nur, sondern er schaut an und gestaltet frei aus dem Stoff der Welt. Die Schöpfungen seiner Phantasie sind so lebensvoll, daß sie sich ihrerseits der Wirklichkeit aufprägen und die Menschen sich und ihre Umgebung nach seinen Romanen modeln. Sein Ruhm, von ihm geliebt und genossen, durchflog ganz Europa. Er besaß den Körper eines Athleten, leistete eine ungeheure Arbeit und wußte, daß darin eine Grundbedingung des Erfolges auch für den Schriftsteller liegt. Am stärksten ist er in der Zeichnung seiner Charaktere, die Handlung 5*
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seiner Romane irrt zuweilen ab oder gerät ins Unwahre, sein Stil, ohne Verbindung mit irgendeiner Überlieferung, hat alle Vorzüge der Lebhaftigkeit, freilich nicht das Endgültige und Vollendete der bewußten Sprachkunst. Er besitzt eine ungeheure Macht des Talents, aber er beherrscht sie nicht, sondern wird von ihr dahingerissen, eine Beute seines eigenen Werkes. Sainte-Beuve ist, trotz allem, was in seinem Lebensgang und seinen Äußerungen dem zu widersprechen scheint, im Grunde Moralist und Spiritualist. Für die natürliche Fülle Balzacs, die Betonung des Physiologischen auch in seiner Theorie hat er kein Verständnis. Es verdrießt ihn bitter, daß jener für das Verhältnis des Künstlers zur Muse einen erotischen Vergleich gebraucht. Das Schöne, so hält er ihm mit einem Wort von Bonald entgegen, sei immer streng. Das mag sein, doch strebt Balzac gar nicht nach Schönheit in diesem Sinne der klassischen Ästhetik. Sainte-Beuve ist wohl bereit, das Physiologische und Sinnliche sich näherbringen zu lassen, aber doch nur im Sinne eines klugen Abbé, um es zu studieren. Das ist aber Balzacs Auffassung nicht. Ihm ist die Wirklichkeit Leben, jenem aber Geist. Darum vermag er Balzac auch nicht gerecht zu werden, trotz allen guten Willens. Er gibt uns von der Welt seiner Gestalten, ihren Leidenschaften, den Kämpfen, die zwischen ihnen ausgetragen werden, nur einen schwachen Widerschein. Auch vermissen wir eine Auseinandersetzung mit Balzacs Weltanschauung, seiner Stellung zu den Grundfragen der Lebensführung, des Staates und der Gesellschaft. So irrt er auch in seinem Schlußurteil, wenn er, Eugène Sue und Dumas in seine Nähe rückend, annimmt, die Zeit dieser Art von Literatur gehe zu Ende. In Wirklichkeit ist Balzacs W e r k von dauerndem Einfluß auf die Folgezeit. Diese urteilt deshalb auch aniders über ihn, als Sainte-Beuve tat. Einen Stil, im Sinne der bewußt gepflegten, bestimmten Regeln unterworfenen, dennoch individuellen Sprachform, spricht ihm André Bellessort, in seinem vortrefflichen Buch von 1924, zwar ab, aber er schiebt die vielerörterte Frage, ob er gut oder schlecht geschrieben habe, überhaupt beiseite. Genug, daß er mich mit jeder Wendung in eine neue Beziehung zur Welt setzt und dadurch das Bild der Welt in mir erweitert und vertieft. Die allgemeine Lage führt den Kritiker aber immer wieder auf das politische Gebiet zurück. So greift er auf die Schriften des Girondisten Barnave zurück, die 1843 erschienen sind, und wählt aus einer Sammlung von Berichten der Akademie den über Malesherbes, den Minister und späteren Verteidiger Ludwigs XVI., um seine Bewunderung für den treuen Diener des Königs und seinen Abscheu gegen die Henker entschieden auszusprechen. Dasselbe Urteil über die Schreckensherrschaft fällt er in einer Besprechung der Schriften 68
und der Persönlichkeit von Camille Desmoulins. Zu einer allgemeinen Betrachtung der moralischen Wirkungen, die von Revolutionen ausgehen, erhebt er sich dann in einem größeren Aufsatz über Condorcet, dessen W e r k e Dominique-François Arago, selbst Wissenschaftler und entschiedener Liberaler wie Condorcet, 1847—1849 herausgegeben hat. Das Urteil Sainte-Belives ist demjenigen Aragos völlig entgegengesetzt. Die persönlichen Freunde Condorcets h a b e n immer wieder seine Güte gerühmt. W e n n sie darin recht haben, so muß man um so mehr die moralischen W i r k u n g e n revolutionärer Umstände beklagen, die solche Naturen zum Fanatismus und zur Beteiligung an Handlungen des politischen Hasses treiben. Er selbst sieht aber den Urgrund seines Charakters nicht in der Güte, sondern in dem persönlichen Geltungsbedürfnis, das sich in dem starren Glauben an die Richtigkeit seines politischen Systems äußert. In der Biographie, mit der Arago seine Ausgabe der W e r k e Condorcets einleitet, gibt auch dieser Bewunderer zu, daß sich in der Art seiner Kritik an Necker, lange vor dem Ausbruch der Revolution, eine übermäßige Schärfe kundtut. Und die Polemik, die er gegen den Entwurf der Verfassung von 1793 führt und die ihm zum V e r d e r b e n wird, zeigt nicht nur demagogische Züge, sondern scheint auch g e k r ä n k t e Eigenliebe zu verraten. Ein merkwürdiges Dokument sind die Ratschläge, die er in der Verborgenheit, als Geächteter, f ü r seine kleine Tochter niederschreibt, moralische Anweisungen zum inneren Glück. Sein Kopf ist verfallen, und daß er für dieses moralische Testament keine andere Form findet als die einer populär-philosophischen Abhandlung, zeugt freilich von einer Befangenheit im Systematischen. Aber wirkliche Liebe zu seiner Tochter und echte Güte möchte man dem Verfasser dieses Schriftstückes doch nicht absprechen. Condorcets politische Grundbegriffe, namentlich seine Überzeugung, daß der Mensch einer unbegrenzten Vervollkommnung fähig sei, stimmen mit denen Turgots überein und sind im Umgang mit diesem geklärt. Seine W e r k e enthalten eine v e r e h r e n d e Biographie des älteren Staatsmannes. SainteBeuve betont die Unterschiede, die trotz der Übereinstimmung im Grundlegenden zwischen den Gedanken Turgots und Condorcets bestehen. M a n k a n n sie dahin zusammenfassen, daß Turgot A n h ä n g e r des aufgeklärten Absolutismus ist, der sechzehn J a h r e j ü n g e r e Condorcet dagegen seiner ganzen Denkweise nach Republikaner, wenn er sich auch erst nach der Flucht des Königs 1791 ausdrücklich zu dieser Staatsform bekennt. Man k a n n also Sainte-Beuve, nicht folgen, wenn er in Condorcets politischer Philosophie eine Verschlechterung derjenigen Turgots sehen will, es ist aber für seine eigene Denkweise aufschlußreich, daß sich ihm die Dinge so darstellen. Es ist klar, daß auch die Moralphilosophie des J ü n g e r e n eine andere Grundlage hat 69
als die des Älteren. Sainte-Beuve zieht dafür den Briefwechsel beider heran. Turgot, der Jurist und Beamte, orientiert sich in sittlichen Fragen an dem Begriff der Gerechtigkeit, seine Denkweise ist derjenigen Kants verwandt, Condorcet begründet seine Ethik auf das Mitgefühl und die gegenseitige Abhängigkeit der menschlichen Wesen. Indem der Kritiker diesen Unterschied scharf- herausarbeitet, entscheidet er sich für Turgot. Das schärfste Verdikt aber fällt er über Condorcets Haltung im Königsprozeß. Er erklärte Ludwig XVI. für schuldig und stimmte f ü r die schwerste Strafe, jedoch ausdrücklich nicht für den Tod. Er trat wiederholt, auch nach der Verurteilung, dafür ein, daß die letzte Entscheidung über die Vollstreckung des Urteils der Nation in einer Volksabstimmung überlassen würde. Sein Biograph Robinet wirft ihm deshalb ausdrücklich vor, daß er sich in das Lager der Appellanten habe ziehen lassen, obwohl er nicht zur Gruppe der Girondisten gehörte. Arago meint, er h ä t t e besser getan, sein Mandat niederzulegen, da er in einer Art von Denkschrift sich zu der Auffassung b e k a n n t hatte, daß der Konvent nicht das Recht habe, in dem Streit zwischen ihm und dem König selbst zu richten. SainteBeuve nennt sein Urteil über die Strafe im Konvent einfach heuchlerisch. Das ist es aber, wie aus seinen sonstigen Bemühungen hervorgeht, gewiß nicht. Condorcet hielt den König für schuldig, er hatte als Republikaner auch nicht den Wunsch, die Monarchie in der Person des Königs zu retten, aber er wollte als Philanthrop das Leben des Königs geschont wissen. Frau von Staël wirft ihm vor, daß er sich im höchsten Maße dem Parteigeist überlassen habe, und Sainte-Beuve macht sich dies Urteil zu eigen. Er wird ihm damit nicht vorwerfen wollen, daß er überhaupt Partei ergriffen hat, sondern daß er sich über das W e s e n des Parteikampfes im ganzen hat verblenden lassen. Aber alle diese V o r w ü r f e treffen nur die Person Condorcets, obwohl auch in ihnen schon Einwände gegen seine Denkweise vorbereitet sind. Das Urteil über diese selbst aber gibt uns erst Sainte-Beuves eigene Grundanschauung. Condorcet glaubt an die Möglichkeit einer unbegrenzten Verbesserung des Menschengeschlechtes und seiner Lebensbedingungen, eines Fortschritts ins Unendliche. Ihm steht nichts entgegen als die schlechten Einrichtungen, unter denen wir leben. W e n n wir dem Menschen nur deutlich zeigen, wie er sie vernunftgemäß zu verbessern hat, so wird er sogleich ans W e r k gehen und nichts seinen Aufstieg hemmen. Die v e r n u n f t g e m ä ß e Methode zu denken, und dann auch zu leben, wird alle Schäden aufdecken und beseitigen. Sainte-Beuve bestreitet nun nicht, daß Turgot und Condorcet gewisse Vorgänge in der modernen Gesellschaft richtig erkennen, die Verbesserung der sozialen Einrichtungen, die Herstellung einer gewissen Gleichheit in der Bildung und den wirtschaftlichen 70
Lebensbedingungen, die Zurückdrängung des Krieges durch Wissenschaft und Industrie, aber er wendet sich gegen die Systematisierung dieser begrenzten Erscheinungen, gegen das also, was Comte als Denkungsweise der metaphysischen Zeit bezeichnet. Ihr steht entgegen die Verschiedenheit der menschlichen Rassen und Nationen, der Unterschied der Begabungen, das Falsche, das so oft mit dem menschlichen Geiste geboren wird. Der Fehler Condorcets besteht, wissenschaftlich betrachtet, darin, daß er die Methoden der Mathematik und der Naturwissenschaften auf die Ethik und die Gesellschaftslehre anwendet, die es mit ganz andersartigen Tatsachen zu tun haben. Und es ist nicht zu verwundern, daß auf diese Ausschreitungen des Rationalismus die entsprechenden Reaktionen von Denkern wie Bonald und de Maistre antworten. Bevor Sainte-Beuve aber zu einer Beschäftigung mit Bonald gelangt, schieben sich ihm Anlässe dazwischen, sich über Mirabeau zu äußern. Die Familie -des Staatsmannes stellt ihm unveröffentlichtes Material über seine Liebe zu Sophie zur Verfügung, und es erscheint der Briefwechsel des Tribunen mit dem V e r t r a u e n s m a n n des Hofes, dem Grafen de la Marek. In diesen Abhandlungen nähert sich der Kritiker ausdrücklich der Politik. W i r stehen im Frühling des Jahres 1851, der Kampf zwischen dem Präsidenten und dem Parlament ist in vollem Gang, die Frage der Machtverteilung in Frankreich von neuem gestellt. Sainte-Beuve bringt ein reiches Material zu dem Bilde Mirabeaus bei, von seiner Herkunft bis zu den geheimsten Äußerungen über seine politischen Pläne. Er faßt ihn als echten Abkömmling jenes unabhängigen Landadels auf, der nach SainteBeuves oft ausgesprochener Ansicht Frankreich vielleicht vor der Revolution hätte retten können, wenn der Absolutismus ihn nicht zerbrochen hätte. Aber zugleich zeigt er ihn als den Staatsmann, der die Notwendigkeit einer politischen und sozialen Umwälzung versteht und bejaht. Er ist der Mann zwischen den Klassen und den Zeiten, vielleicht als einziger befähigt, den Abgrund zu schließen. Sainte-Beuve zitiert ausführlich aus den Briefen Mirabeaus an Lafayette, mit dem er ein politisches Bündnis zustande bringen möchte, um die Monarchie zu retten. Dieser, in dem Augenblick ebenso angesehen bei Hofe wie beim Volke, soll die volle Regierungsgewalt übernehmen, er selbst will ihn, ohne seine Stellung in der Versammlung aufzugeben, beraten, als Diktator des Diktators. Mirabeau will verhindern, daß Frankreich seiner Monarchie beraubt wird, er warnt zugleich entschieden vor jedem Versuch der Gegenrevolution, die Monarchie soll sich auf der Grundlage der Revolution erneuern. Wiederholt wendet sich Sainte-Beuve in diesen Aufsätzen unmittelbar an den Leser mit der Mahnung, sich etwas von der politischen 71
Weisheit zueigen zu machen, die ihm die Äußerungen Mirabeaus darbieten, und es ist kein Zweifel, daß er selbst eine autoritäre Regierung auf dem Boden der bürgerlichen Revolution wünscht. Darin bereitet sich sein Übergang zum zweiten Kaiserreich vor. Aber er ist an die Bedingung geknüpft, daß großen Persönlichkeiten wie Mirabeau darin Raum zur Entfaltung bleibt und die Freiheit des Geistes nicht unterdrückt wird. Nun erscheint in diesem selben Jahre 1851 eine Sammlung von Aufsätzen von Jules Barbey d'Aurevilly, unter dem antithetisch zugespitzten Titel Die Propheten der Vergangenheit, die auch eine Abhandlung über den Vicomte von Bonald enthält. Dieser verließ Frankreich schon 1791, um seine monarchischen und namentlich seine kirchlichen Überzeugungen rein zu erhalten, und veröffentlichte in der Emigration sein erstes, für seine Auffassung grundlegendes Werk, die Theorie der politischen und religiösen Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft. Unter dem Direktorium nach Frankreich zurückgekehrt, wirkte er literarisch in dem gleichen reaktionären Sinne weiter und trat unter der Restauration auch politisch als einer der entschiedensten Vorkämpfer seiner Partei auf. In den letzten Jahren der Restauration verwaltete er das für kurze Zeit wiederhergestellte Amt des Zensors. Sainte-Beuve will über seine Philosophie nur berichten, aber seine eigene Stellungnahme tritt doch deutlich hervor. Bonald ist Traditionalist strengster Haltung. Die Grundfrage aller Philosophie ist für ihn, das erkennt Sainte-Beuve völlig richtig, die nach dem Ursprung des Denkens. Dieses läßt sich von der Sprache nicht trennen, und so fällt jene Frage mit der nach dem Anfang der Sprache zusammen. Bonald beantwortet sie gemäß dem christlichen Dogma von der Erschaffung des Menschen durch einen Akt Gottes. Auch die Sprache ist dem Menschen von Gott verliehen, sein Denken also dem Ursprung nach Offenbarung. Wer diese Sätze nicht anerkennt, ist kein Christ, sondern ein Atheist. Wenn Sainte-Beuve nun auch aus Höflichkeit zu diesen Ausführungen schweigt, da er sie nicht angreifen will, ihnen aber auch nicht zustimmen kann/ so gesteht er Bonald doch zu, daß er in seinen Untersuchungen über die ersten Gegenstände der moralischen Erkenntnisse die spiritualistische Erkenntnislehre mit großem Scharfsinn gegen die sensualistische verteidigt hat. Sein eigener Standpunkt ist hier,- wie immer, der einer unbefangenen Prüfung der Tatsachen. So lehnt er auch die halb scholastische Methode der Beweisführung Bonaids ab, aber er stimmt einigen Grundgedanken seiner Gesellschaftslehre ausdrücklich zu. Im alten Frankreich gab es keine Ehescheidung, das revolutionäre Gesetz von 1792 gestattete sie sogar auf Grund gegenseitigen Einverständnisses. Bonald griff mit einer Abhandlung über die Ehe in 72
die Beratungen über das bürgerliche Gesetzbuch ein und forderte, daß sie wieder für unlösbar erklärt würde. Er stellte sie als eine soziale Einrichtung dar, die nicht nur der Erhaltung des Kindes, sondern auch der in ihr lebenden Erwachsenen diene. Sainte-Beuve nennt diese Abhandlung eine würdige und nützliche Tat. Erschreckt durch die Revolution von 1848, stimmt er diesen wie anderen Bemühungen unter dem Konsulat zu, nach einer großen Erschütterung die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung wiederherzustellen. Aber er macht eine Einschränkung, die für ihn charakteristisch und um so gewichtiger ist, als sie das Gebiet seiner eigenen Wirksamkeil betrifft. Bonald wollte die Freiheit der literarischen Äußerung durch eine Art von Grundgesetz einschränken und bestimmten religiösen und sittlichen Regeln unterwerfen. Diesen Bemühungen setzt nun der Kritiker nicht etwa ein allgemeines Bekenntnis zur Freiheit der Meinungsäußerung entgegen, sondern die einfache Feststellung, daß ein solches spartanisches oder römisches Gesetz in dem gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft nicht mehr möglich sei. Bonald träume! Während Sainte-Beuve diesen Aufsatz schrieb, hatte er schon Gelegenheit, in den hinterlassenen Papieren von Sieyes zu blättern, und fand dabei einen Zettel, mit dem Bonald diesen aus der Emigration für sein Erstlingswerk zu erwärmen versuchte. Den Gründen für diesen merkwürdigen Schritt des strengen Monarchisten bei einem der Königsmörder widmet er nur eine kurze Bemerkung, sie könnten aber tiefer liegen, als er sie sucht, und in der Abhandlung über Sieyes, die er unmittelbar nach dem Staatsstreich vom Dezember veröffentlicht, ohne diesen zu berühren, gibt er uns selbst einige Fingerzeige. Er sieht klar, daß Sieyes weder Aristokrat noch Demokrat ist. Jenes nicht, weil er die Herrschaft des Dritten Standes vertritt und in diesem die ganze Nation erblickt, dieses nicht, weil er im Gegensatz zu Rousseau die Masse nicht für fähig hält, die Souveränität unmittelbar auszuüben. Er ist ein entschiedener Anhänger des Systems der Volksvertretung, und die vollkommene Staatsverfassung, an der er arbeitet, hat den Zweck, den Allgemeinwillen der Nation in vernunftgemäße politische Formen einzufangen und so zum Träger der Staatsgewalt zu machen. Herrschen soll eine Auslese der politischen Begabung und des Gemeinsinnes. Dieser Zug seiner Verfassungslehre,, den Sainte-Beuve nur flüchtig berührt, wird erst von Paul Bastide in einer eingehenden Untersuchung über Sieyes und seine Gedanken genau herausgearbeitet. Sainte-Beuve beurteilt Sieyes nicht viel anders als vorher Condorcet und wirft ihm vor, daß er keinen Sinn für das geschichtlich Gewordene gehabt und an die Möglichkeit einer allgemeingültigen besten Verfassung geglaubt habe. Aber er stand als Denker und Politiker wirklich vor 73
einer ganz neuen Lage, zum erstenmal in der ganzen Geschichte ergab sich aus den politischen Verhältnissen die Nötigung, einen großen Staat auf der Grundlage der Volkssouveränität aufzubauen, die individuellen und die kollektiven Kräfte prallten mit der höchsten Energie aufeinander, n e u e Schichten drängten zum Gipfel der Macht. Diese mächtigen Tatsachen erkannt und richtig eingeschätzt zu haben, wiegt doch vielleicht schwerer als die Mängel eines Denkens, die sich zum Teil aus der philosophischen Zeitströmung und der Absperrung von politischer Tätigkeit w ä h r e n d der J u g e n d erklären. Auch versagt Sainte-Beuve seiner Persönlichkeit nicht die Achtung und seinem Schicksal nicht die Teilnahme. Sieyès w a r von dem Verlauf der Revolution aufs tiefste enttäuscht. Er suchte nach Mitteln, um in der Verfassung das Element der Autorität und Stetigkeit zu verstärken. Aus diesem Grunde mag Bonald die Hoffnung gehabt haben, ihn für eine monarchische Restauration zu gewinnen. Dann hätte er sich aber völlig in ihm getäuscht, die Gleichheit innerhalb der Gesellschaft ist für ihn ein Grundgesetz, und Träger der Souveränität ist ihm die Nation. Diese überträgt zwar die Ausübung der politischen Gewalt an ihre Vertreter, aber sie tritt sie nicht ab. Insoweit hält Sieyès an der Staatslehre Rousseaus fest. Aber obwohl er sich durch seine rationalistische Methode völlig von der historischen Montesquieus unterscheidet, übernimmt er doch von ihm die Teilung der Gewalten und verfeinert sie noch. Man hat von ihm gesagt, daß er Gedanken Montesquieus und Rousseaus miteinander verbinde. J e n e r hat den nachfolgenden Geschlechtern in seinem Vaterlande 'das Programm der konstitutionellen Monarchie hinterlassen, geformt nach dem Vorbilde Englands, aber genährt aus dem ständischen Bewußtsein des Adels und der Gerichtshöfe, das der Absolutismus auszulöschen nicht vermocht hatte. Sainte-Beuve, ohne sich auf diese Staatsform festzulegen, hatte doch wiederholt ausgesprochen, daß er in dem Sieg des unbeschränkten Königtums über das Recht der alten Stände, an der Regierung des Reiches mitzuwirken, ein Unglück für Frankreich sah. Schon deshalb müßte.er, so vermutet man, der Lehre Montesquieus vom Staate zustimmen. In dem Aufsatz, den er ihm 1852 widmet, ohne besonderen Anlaß,-nur um seine mächtige Gestalt nicht zu übergehen, ist davon aber nichts zu spüren. Auch dieses Bildnis ist voll von lebendigen Zügen. Mit einem einzigen Zitat aus eiirem Brief an d'Alembert macht er uns die Denkform Montesquieus anschaulich, seine Fähigkeit zu endgültigen, klassischen Prägungen, über die auch Albert Sorel ausführlich spricht. Er sieht in ihm einen jener Bürger im antiken Sinne, vom Schlage des Kanzlers L'Hôpital und der Gehilfen Ludwigs XIV., die aufrichtig und ohne Ermüdung f ü r das W o h l 74
ihres Vaterlandes und der Menschheit arbeiten/Aber ihm fehlt eine Erfahrung, und wir sehen immer genauer, wie stark sie Sainte-Beuves Denken bestimmt, er hat keine Revolution erlebt und im vollen Gefühl seiner Sicherheit an Leben und Gütern nicht die Zeit geahnt, in der Adel und Geistlichkeit enteignet wurden und die Häupter des Parlaments von Paris der Reihe nach das Schafott bestiegen. Er lebt in einem geordneten Staatswesen, in dem der Streit der Parteien verstummt und der Despotismus entspannt ist, und hat vergessen, was Richelieu und Ludwig haben auf sich nehmen müssen, um diesen Zustand der inneren Befriedung zu erreichen. So kommt es, daß er den mittleren Menschen überschätzt und ihm mehr sittliche Kraft zutraut, als er aufzubringen vermag. Gewiß soll der Gesetzgeber den Menschen zur Entfaltung aller seiner Tugenden und Fähigkeiten bewegen, aber er selbst muß wissen, mit welchen Mitteln dies Ziel zu erreichen ist. An wirklicher Kenntnis des Menschen und seiner Leidenschaften ist ihln Machiavelli überlegen. Und auch den Charakter geschichtlicher Vorgänge beurteilt der Mensch der Renaissance richtiger als der des achtzehnten Jahrhunderts. Montesquieu will die Gesetze aus der Geschichte, aber auch umgekehrt diese aus jenen erhellen. Aufstieg, Blüte und Untergang der Staaten hängen nicht vom Glück ab, nicht vom Ausgang einer einzelnen Schlacht, sondern vollziehen sich nach allgemeinen Ursachen, physischen oder moralischen. Er verkennt die Rolle, die der Zufall, das Unbekannte und Unberechenbare im Schicksal der Staaten spielen. Radikale Denkfehler, wenn auch höchst ehrenhaft! Zu den großen politischen Gestalten der französischen Revolution, mit denen sich Sainte-Beuve hier befaßt, gehört zuletzt noch Benjamin Franklin, obwohl er kein Franzose war und auf französischem Boden nur den Lebensbedürfnissen seiner amerikanischen Heimat diente. Er sei ein Franzose gleichsam durch Adoption und ohne ihn die Geschichte der Gedanken und Absichten, die zur Revolution geführt haben, unvollständig. Sainte-Beuve beschreibt sein Leben an der Hand autobiographischer Zeugnisse, namentlich der Erinnerungen Franklins. Er charakterisiert ihn als den Utilitarier und Rationalisten. Er habe mit am meisten dazu beigetragen, das Christentum und namentlich seine Ethik zu säkularisieren. Sainte-Beuves ausführliche Darstellung erwärmt sich im Fortschreiten ein wenig, die sprachbildnerische Kraft des Schriftstellers, sein Humor, einzelne poetische Züge seines Stils entgehen ihm nicht, aber im Kern hat er doch kein Verständnis für ihn. Trotz gelegentlicher Hinweise unter-, läßt er es doch, Franklins Gedankenwelt aus derjenigen des freien Protestantismus und seine Gestalt im ganzen aus den besonderen Verhältnissen eines jungen werdenden Staatswesens zu erklären. Er 75
betrachtet ihn wie einen französischen Aufklärer und spricht ihm die Fähigkeit zum Enthusiasmus und den tieferen Weltverstand ab. Gegen dies Urteil spräche, wenn nichts anderes, die Tatsache, daß Franklin zu den führenden Männern der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gehörte und durch sein Verhalten in Frankreich zu ihrem Erfolg entscheidend beitrug. Und wenn es am Schluß den Anschein gewinnt, als ob Sainte-Beuve Franklins Einfluß in der französischen Gesellschaft für die Entstehung des revolutionären Geistes in Frankreich und dadurch auch für die Greuel der Revolution mit verantwortlich machen wollte, so hätte ihm jener mit Recht erwidern können, daß diese Ausschreitungen nicht ihm zuzurechnen seien, sondern dem französischen Despotismus, der es versäumt habe, das Volk zu erziehen, daß er im übrigen die Menschennatur sehr wohl kenne! Indem Franklin für die Rechte der amerikanischen Kolonien kämpfte, blieb er auf dem Rechtsboden der englischen Selbstverwaltungseinrichtungen, und wenn er seine Mitbürger zu besseren Formen des Zusammenlebens zu erziehen suchte, so setzte er das Werk fort, das die protestantischen Freikirchen in ihren Kreisen begonnen hatten. Er war zugleich ein Konservativer und ein Revolutionär, und um dies richtig zu verstehen, hätte Sainte-Beuve genauer auf die besonderen Verhältnisse der angelsächsischen und protestantischen Welt achten müssen. Die drei Plaudereien über Franklin waren die letzten, die der Kritiker im Constitutionnel veröffentlichte, die folgende erschien bereits im Regierungsblatt des Kaiserreiches, dem Moniteur. Dem Waffenstillstand, von dem die Vorrede zu der ganzen Reihe sprach, ist der Beginn des inneren Friedens gefolgt, auf den Ruf des einen, Napoleons, haben alle ihre geregelte Tätigkeit wieder aufgenommen. In diesem Augenblick darf sich die Literatur dem allgemeinen Aufschwung nicht entziehen. Als ein einfacher Arbeiter an einem so allgemeinen Werk wird Sainte-Beuve diese Art von öffentlichem literarischen Lehrgang weiterführen, mit dem er nun schon mehr als drei Jahre beschäftigt ist. An Form und Inhalt dieser zwanglosen Unterhaltungen wird er nichts ändern, jedoch in einzelnen Punkten sie in Übereinstimmung mit der Staatsform bringen, die der Literatur wieder die Bahn geöffnet hat. Denn sie liebt die Ordnung, den Fleiß und den gesellschaftlichen Frieden. Seine Gegenstände wird er mit Vorliebe, wie bisher, aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wählen, ohne sich in diese Grenzen einschließen zu lassen. Sainte-Beuve fühlt sich als Vertreter einer geistigen Macht, die mit dem französischen Staate groß geworden ist, seinen Schutz genießt und ihm dafür einige höfische Rücksichten zollt, ohne jedoch ihre Freiheit und Würde preiszugeben. In diesem Sinne ist er bereit, 76
anders als die grollende Mehrzahl seiner Kollegen, mit den anderen Werktätigen unter den Adlern des erneuerten Kaiserreiches zu marschieren. Dieser stillschweigende Pakt enthält aber die Voraussetzung, daß die Staatsgewalt, ihrerseits getreu den Überlieferungen der französischen Monarchie, die Literatur fördert und in ihrer Eigenart ehrt. Die anderthalb Jahrzehnte, die Sainte-Beuve noch zu leben hat, werden ihm zeigen, ob er sich darin geirrt hat oder nicht. Man warf ihm sogleich vor, und hat es seitdem immer wieder getan, daß er die Partei des zweiten Kaiserreiches ergriff. Seine Hoffnung war aber, daß die Aufrichtung einer autoritären Staatsgewalt die Literatur gerade von der Macht der Parteien befreien werde. Hatte der Kritiker sich bisher häufig mit den geistigen Vätern der Revolution oder ihren legitimistischen Gegenspielern befaßt, so wandte er sich nun den Schöpfern und Vertretern der absoluten Monarchie zu. Vierzehn Tage nach seinem Übergang zum Moniteur begann er mit einer Untersuchung über Richelieu. Den Anlaß dazu bot die Veröffentlichung seiner Briefe und Staatspapiere, die mit einem ersten Band begann. Die Einleitung des Herausgebers enthält ein Gesamturteil über Richelieu. Er rühmt seine außenpolitische Leistung für Frankreich, verurteilt aber seine Regierungsweise im Inneren. Er habe kein Herz für das V o l k gehabt und die öffentliche Wohlfahrt dem nationalen Ruhm aufgeopfert. Seine Herrschaft habe den Charakter eines persönlichen Despotismus getragen, ohne in allgemeinen Einrichtungen die Gewähr der Dauer zu schaffen. Sainte-Beuve nimmt sich ausdrücklich vor, weder zu verdammen, noch zu verherrlichen, sondern einfach der Wahrheit zu folgen. A b e r der Grundton seines Urteils ist anders, als es diese kühle Vorbemerkung erwarten läßt. Im Gegensatz zu einer Bemerkung von Montesquieu sieht er in Richelieu den großen Bürger des französischen Staates, einen der ruhmvollsten Meister der Politik, die je gelebt haben. Sieht der Herausgeber det Briefe in ihm einen Despoten aus Überzeugung und Überlegung, so glaubt Sainte-Beuve bei ihm eine maßvolle Auffassung von der Handhabung der Staatsgewalt nachweisen zu können. Möglich allerdings, so räumt er ein, daß sein Handeln darin nicht immer mit seiner Theorie übereinstimmte, entscheidend für das Urteil über ihn ist aber die Tatsache, daß er der französischen Nation Einheit und Festigkeit gegeben hat, zu denen sie aus eigener Kraft nicht zu gelangen vermochte. Dies alles müssen wir auf dem Hintergrund der damaligen erbitterten Diskussionen über den Staatsstreich Louis Napoleons und seine Folgen betrachten. Der Kardinal schlief wenig, und so gewährte es ihm eine strenge Befriedigung, wie er selbst es ausdrückte, zu sehen, wie so viele redlichen Männer im Schatten seiner Nachtwachen furchtlos schlummerten. In diesem Bilde faßt Sainte-Beuve, 77
obwohl es nur gelegentlich erscheint, die Rolle des großen Staatsmannes inmitten seines Volkes zusammen. Nur einen grundsätzlichen Einwand erhebt er gegen die Denkweise des Kardinals, dieser aber ist von höchster Bedeutung. In seinem politischen Testament verlangt Richelieu, daß die literarische Bildung auf die geringe Zahl der dafür besonders Begabten eingeschränkt würde. Sonst würde man mehr Leute bekommen, die Zweifel erheben, als solche, die .sie zu lösen vermöchten. Statt dessen sollten sich die jungen Leute in der Mehrzahl der Technik, dem Handel und dem Heerwesen zuwenden. Auch diese Frage nach dem richtigen Verhältnis der humanistischen zu den realistischen .Schulen war wieder brennend geworden, als Sainte-Beuve diese Plauderei schrieb, und es lag in der allgemeinen Richtung des zweiten Kaiserreichs, sie so zu behandeln, wie Richelieu es getan. Der Kritiker verneigt sich sehr höflich vor dem Tiefblick des Staatsmannes. Es sei, als ob er die Sündflut des achtzehnten Jahrhunderts und etwas vom neunzehnten vorausgesehen habe. Auch ist es nicht zweifelhaft, daß er den Bedenken Richelieus eine gewisse Berechtigung zuerkennt. Wenn die Literatur zu mächtig anschwillt und sich in die Politik hinüber ergießt, so verliert jene, ohne daß diese gewinnt. Das hat Sainte-Beuve an seinen literarischen Zeitgenossen mehrmals, schmerzlich erlebt. Aber ebenso, wie keine Grenzüberschreitungen sein sollen, so soll auch die Freiheit des geistigen Lebens gewahrt bleiben. Die Rolle des Staatsmannes, obwohl in jedem Augenblick die wichtigste, ist doch nicht die einzige. Vielmehr stehen^zwei Kräfte im Kampf um die Welt, und während Richelieu alle Kräfte der Gesellschaft überwachte und regelte, bereitete Descartes den freien Zugang aller zu den Wissenschaften vor und lehrte den methodischen Zweifel. Auch hier spricht Sainte-Beuve im Hinblick auf das Kaiserreich. Im folgenden Jahre schreibt er über Sully, einen der bedeutendsten Helfer Heinrichs IV. Er stützt sich auf die Erinnerungen des Staatsmannes, unterläßt es aber merkwürdigerweise, die Ausgabe zu nennen, die er benutzt. Sie waren 1837 neu herausgegeben worden, mit einleitenden Notizen von Bazin, aus denen Sainte-Beuve auch am Schluß seines dritten und letzten Artikels zitiert. Einen besonderen literarischen Anlaß zur Beschäftigung mit Sully vermögen wir seinen Ausführungen nicht zu entnehmen. Doch hat er Richelieu als das Verbindungsglied zwischen Heinrich IV. und Ludwig XIV. bezeichnet, und indem er jetzt eine Äußerung des Kardinals "über Sully erwähnt und berichtigt, bezeichnet er diesen als einen.verdienten Vorgänger Richelieus. So setzt er mit ihm die Reihe der Bildnisse großer französischer Staatsmänner fort, die er zu Ehren des erneuerten Kaiserreiches begonnen hat, und führt seine Leser in die Welt des 78
ersten Bourbonen zurück. Viele Einzelheiten in den Erinnerungen Sullys sind strittig, und die Herausgeber von 1837 haben ihnen gleich eine zeitgenössische Gegenschrift beigefügt. Das große Verdienst um die Geschicke Frankreichs, das ihn über die anderen Mitarbeiter des Königs hinaus in die erste Reihe erhebt, besteht in der Tatkraft und Sachkunde, mit der er die völlig zerrütteten Finanzen des Reiches zur Gesundung führt. Aber auch die Darstellung, die er von seiner Finanzverwaltung gibt, wird von der französischen Geschichtsschreibung noch neuerdings als undurchsichtig und wenig zuverlässig bezeichnet. Sainte-Beuve setzt sich darüber hinweg, er will die allgemeine Form dieses Geistes geben, und dazu genügt es, ihn aufmerksam anzuhören, wenn er selbst spricht. Sully ist Protestant und lehnt, obwohl sonst unersättlich im Empfang von Ehren und Reichtümern, auf der Höhe seiner Laufbahn die Ernennung zum Connétable von Frankreich ab, weil er nicht zum Katholizismus übertreten will. Aus dieser Sonderstellung wächst er, im treuen Dienst seines fürstlichen Herrn, zum französischen Staatsmann empor. Der König und Frankreich sind für ihn ein und dasselbe. Als Finatizverwalter ist er kein Erfinder neuer Maßnahmen, nicht einmal ein Freund der Formen des modernen Geldverkehrs, die schon zii seiner Zeit längst eingebürgert waren. Dem Großherzog von Florenz läßt er sagen, er sei kein Bankier, das vertrüge sich nicht mit dem Geist seiner Familie! Er verwaltet das Vermögen des Staates, wie man einen großen Landbesitz verwaltete, sparsam, unzugänglich und immer bedacht, .für den Krieg vorzusorgen. Mit Richelieu darf man ihn freilich nicht vergleichen. Dieser hat selbst ebensoviel vom König wie vom Minister, Sully aber ist ein Mann zweiten Ranges und gebunden an seinen Herrn und Lenker. Dies sind die Grundzüge einer Darstellung, die Sainte-Beuve durch Zusammenfassung von drei Plaudereien zu einem Bildnis in seiner älteren Art erweitert. Er fügt hier, wie er es auch sonst tut, eine Fülle anschaulicher Züge hinzu. Aber die innere Bewegung, die das Ganze durchwaltet, stammt nicht aus dem Reiz des Stofflichen, der hier weniger bedeutet, sondern aus dem kritischen Bemühen, das Sainte-Beuve an diesen rauhen und spröden Gegenstand wendet. Die Form der Plauderei ist hier, wie auch sonst in dieser Reihe, zugunsten derjenigen des historischen Versuchs verlassen, der aus einer bestimmten geistigen und politischen Lage entstanden ist. Eine Untersuchung über Heinrich IV. als Schriftsteller gibt SainteBeuve dann die Gelegenheit, über den König selbst zu schreiben. Im Gegensatz etwa zu Alexander und Augustus erscheint er ihm als ein Mensch wie viele andere auch, groß nur durch die Gesamtheit seiner Eigenschaften. Aber er findet in seinem besonderen Thema 79
nicht den Anlaß, uns ein umfassendes Bild des Königs zu geben. An einzelnen Handlungen und W o r t e n zeigt er, daß Heinrich sich jederzeit natürlich beträgt, nicht wie ein Herrscher und ein Mann in verwickelter Lage und v e r w o r r e n e n Zeiten, sondern wie ein unbefangener, kraftvoller Mensch. W i e für das sechzehnte J a h r h u n d e r t im allgemeinen, so hat Sainte-Beuve auch für diesen König, der es abschließt, eine besondere Vorliebe. Er ist in W a h r h e i t ein König aller, der, über seine Zeit hinaussteigend, alle Parteien zwingt, sich wechselseitig zu ertragen und miteinander in einem wohlgeschützten Frieden zu leben. Diese Auffassung v o n Heinrichs Leistung in der französischen Geschichte ist freilich keineswegs Sainte-Beuves Eigentum, sondern seit der Restauration die herrschende. Aber der Kritiker spricht sie nicht nur als ein historisches Urteil aus, sondern er trägt sie mit der W ä r m e vor, die wir für eine uns gemäße politische Idee empfinden. Hand in Hand mit der Erhebung des Königtums aus den W i r r e n der Bürgerkriege ging die Erneuerung des Katholizismus in Frankreich. Dieser Vorgang wiederholte sich in ähnlicher Form bei der Errichtung des ersten Kaiserreichs, Napoleon Bonaparte schloß sogleich nach seinem Aufstieg zur Macht Frieden mit der Kirche. Auch Louis Napoleon h a t t e sich mit Hilfe des Klerus emporgeschwungen u n d regierte in der ersten Periode seiner Herrschaft im Sinne der kirchlichen Forderungen. Es war daher im Geist der Zeit, daß SainteBeuve seinen Lesern bei Gélegenheit die Bilder großer Kirchenfürsten aus der Glanzzeit der französischen Monarchie zeichnete. Den ersten Anlaß dazu gab das W e r k von André Sayous über die französische Literatur im Ausland w ä h r e n d des 17. Jahrhunderts, aus dem sich der Kritiker nicht den großen Skeptiker Bayle auswählte, der nach seiner A u s w a n d e r u n g in Holland lebte, sondern de^ Savoyer Franz von Sales, einen der hervorragendsten Vertreter der Gegenreformation. Das Bistum Genf bestand 'weiter, auch nachdem die Stadt protestantisch geworden war, der Bischof h a t t e seinen Sitz in Savoyen. • Franz von Sales, zuerst sein Gehilfe, später selbst Bischof von Genf, begann seine Laufbahn damit, daß er gewisse Gebiete am Genfer See, die eine Zeitlang unter der Herrschaft des protestantischen Bern gestanden hatten, n u n aber wieder zu Savoyen gehörten, zum Katholizismus zurückführte. Trotzdem standen ihm die Reformierten in der Schweiz später nicht unfreundlich .gegenüber. Sayous erzählt seinen Lesern, daß Alexander Vinet ihn zu einer genaueren Beschäftigung mit Franz von Sales angeregt habe. So bedeuteten auch für Sainte-Beuve die Erinnerungen an seine engen Beziehungen zu Schweizer Protestanten und an seine Lehrtätigkeit in Lausanne keine Hemmungen bei einer W ü r d i g u n g des Mannes, der jenen in 80
zurückliegenden Zeiten schweren Abbruch getan hatte. Doch geht er nicht auf die geistige Verwandtschaft zwischen Franz und der Reformation ein, mit der sich Fortunat Strowski eingehend beschäftigt. Franz von Sales weicht keinen Augenblick von der Linie des strengen Katholizismus ab, auch nicht in der strittigen Lehre von der Gnade. Aber ihn beschäftigt die Dogmatik überhaupt nicht besonders, seine Neigung und hohe Begabung liegt auf dem Gebiet der Seelsorge. Dabei nähert er sich nun praktisch dem Protestantismus, indem er, so drückt es Strowski in knapper Formel aus, die Gnadenlehre Calvins ins Psychologische übersetzt. Das Wesen der Frömmigkeit, als eines dauernden Zustandes der Seele, liegt für ihn vor allem in der Liebe. Sie ist, so darf man es ausdrücken, um das Verhältnis zum Calvinismus verständlich zu machen, die Erscheinungsform der Gnade, sie ist die Kraft, mit deren Hilfe wir die Begierden in uns überwinden. Indem nun Franz von Sales alles daran setzt, mit den kirchlichen Mitteln der Predigt ujid der Gewissensberatung die einzelne Seele auf den Weg der christlichen Liebe zu leiten, erneuert er das Verhältnis des Menschen zum kirchlichen Glauben von innen her, und in dieser Verinnerlichung eines äußerlich gewordenen Verhältnisses hatte ja eben die praktische Überlegenheit des Protestantismus bestanden. Der Bischof von Genf berührte sich darin mit der späteren Bewegung von Port Royal, aber obwohl er zusammen mit seiner Freundin Frau von Chantal einen neuen Orden gründete, war sein Streben in der Hauptsache doch nicht darauf gerichtet, den Menschen dem allgemeinen Leben zu entziehen, sondern ihn gerade zu einem christlichen Leben innerhalb der Welt anzuleiten. Auch darin lag eine Verwandtschaft seines Wollens mit dem Protestantismus. Ins Weite wirkte er mit seinem Buch der Einführung in ein Leben der Frömmigkeit. Es hatte einen großen und dauernden Erfolg, vor allem unter den Frauen der vornehmen Kreise, den SainteBeuve mit demjenigen der Meditationen von Lamartine vergleicht. Schon Bossuet hat von ihm gesagt, daß er die Frömmigkeit in die große Welt zurückgeführt habe, und damit genau den Punkt bezeichnet, an dem Franz von Sales seine bedeutendste Wirkung entfaltet hat. Sayous und Sainte-Beuve wiederholen dies Urteil. Das ist zunächst nur eine historische Feststellung, wenn auch getragen von Zustimmung zu dem Wirken des Bischofs. Sainte-Beuve weicht aber auch der Frage nicht aus, wie er als Moderner über Franz von Sales' Lehre denkt. Zu diesem Zweck sondert er die Morallehre von der religiösen und vergleicht sie mit derjenigen Franklins. Gemeinsam ist beiden, dem Bischof der Gegenreformation und dem Volkserzieher der Aufklärung, der praktische Zug. Sie suchen eine Technik, um den Menschen zu bessern. Auch im Inhalt ihrer Moral stimmen sie 6 Deiters, Sainte-Beuve
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vielfach überein, denn auch Franz von Sales strebt nach dem Richtigen und Nützlichen im Tun des Menschen, auch er ist bereits, neben anderem, ein Schüler der Alten. Darüber hinaus aber besitzt er etwas, was Franklin fehlt, die Liebe. Franz von Sales war ein Heiliger, und Heiligkeit, so Sainte-Beuve, ist etwas Wirkliches und wird unter den Menschen immer Verehrung genießen. Mit diesem Gedanken löst er sie von allen bestimmten religiösen Formen, die wechseln und untergehen können, und spricht ihr unbegrenzte Dauer zu. Mit seiner Auffassung von dem Wesen der Frömmigkeit, seiner Art der Seelenlenkung steht Fenelon in demselben geistigen Strom wie Franz von Sales. Aber indem er sich für eine Form der Hingabe an Gott einsetzt, die den einzelnen von der Dogmatik der Kirche und den Einwirkungen ihrer Disziplin innerlich befreit, gerät er in Gegensatz zu dem König selbst und zu Bossuet, dem mächtigsten Vertreter seiner staatskirchlichen Politik, so daß seine Laufbahn in der Abgeschiedenheit seines Bischofsitzes endet. Sainte-Beuve lehnt es von vornherein ab, sich mit dieser Streitfrage des Quietismus zu beschäftigen, es stehe ihm nicht zu und passe nicht zu der Stelle, an der seine beiden Plaudereien über den Bischof von Cambrai erscheinen. Man wird darin eine Rücksichtnahme des Mitarbeiters am Moniteur auf die Kirchenpolitik des Kaiserreichs in jener Epoche zu sehen haben. Aber da Fenelons Haltung in dieser Auseinandersetzung mit Bossuet doch nur der entschiedenste Ausdruck seines ganzen Wesens ist, so beraubt sich Sainte-Beuve dadurch der Möglichkeit, diese große, von vielen Kräften bewegte Individualität zu ihrer vollen Wirkung zu bringen. Freier äußert er sich über Fenelons politische Gedanken. Auch hier steht dieser im Gegensatz zu den herrschenden Mächten. Fenelon erzog den Enkel Ludwigs XIV., den Herzog von Bourgogne, im Sinne des Satzes, daß die Könige für ihre Untertanen da seien, nicht umgekehrt. Als sein Zögling, nach dem Tode des Vaters, Thronfolger wurde, schien es einen Augenblick, als ob Fenelon, bei dem Alter des Königs selbst, demnächst die Stelle des obersten Staatsmannes im Reiche zufallen würde. Welche Reformen er plante, wissen wir nicht mit Sicherheit, wie er sie eingeleitet hätte, bleibt völlig im Dunkeln, da der neue Dauphin schon nach kurzer Zeit starb und Fenelons letzte großen Hoffnungen mit ins Grab nahm. Sainte-Beuve urteilt, daß seine politischen Gedanken mehr theokratisch, im Geiste Ludwigs des Heiligen, als philosophisch im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts waren. Nehmen wir Fenelons Persönlichkeit im ganzen und in ihren tragenden Eigenschaften, so scheint es, daß Sainte-Beuve recht hat. Jeder Schritt, die absolute Monarchie zugunsten irgendeiner anderen Macht im Staate zu schwächen, hätte aber den Weg zu 82
tiefgreifenden Reformen im Geiste des bürgerlichen Zeitalters eröffnet. Auch diese Fragen werden jedoch von Sainte-Beuve nur gestreift. Dagegen schildert er uns ausführlich Geist und Methode seiner Gewissenslenkung, so wie er es bei Franz von Sales getan hatte, und erzählt uns von Ratschlägen an eine Dame, sich zu sammeln: „Vor allem bewahren Sie Ihren Vormittag und verteidigen Sie ihn, wie man einen belagerten Platz verteidigt!", und an einen großen Herrn, den er von übermäßigem Reflektieren zu einer einfachen und tätigen Lebensführung bringen will. Die geistige Haltung, die Fenelon empfiehlt, scheint der des Stoizismus verwandt, doch grenzt er sie klar von diesem ab. Die Stoa rät dem Menschen, sich auf das eigene Ich zurückzuziehen und gegen die Welt zu verschließen, Fenelon dagegen will, daß der Mensch aus sich heraustritt und sich völlig dem Gefühl der Einheit mit dem Unendlichen überläßt. Diese Lehre, so schließt Sainte-Beuve an dieser Stelle, ist nichts anderes als die christliche in ihrer höchsten geistigen Form. Die katholische Kirche hat jedoch Fenelons Lehre letzten Endes verurteilt. Dagegen war die protestantische Welt für seine Auffassungen eher zugänglich. Wenn Sainte-Beuve sie als christlich bezeichnet, so zeigt dies, was er selbst unter dem Wesen der christlichen Frömmigkeit verstanden wissen wollte, und auch, wo seine eigenen Sympathien waren. Ihn beschäftigt an der überlieferten, zwei Jahrtausende alten Religion die Wirkung auf die einzelne Seele und die Gestalt, die diese unter dem Druck des Lebens annimmt, wenn sie ihm mit christlichen Vorstellungen begegnet, und ihn ergreift das Bemühen einzelner, auf dem Wege mystischer Gedanken dag Verhältnis des Menschen zu Gott noch weiter zu vergeistigen. Neue Veröffentlichungen über Bossuet, darunter jene von Lamartine, geben Sainte-Beuve endlich die Gelegenheit, über ihn, den größten Vertreter des gallikanischen Staatskirchentums, zu sprechen. Ein Gott, ein Christus, ein Bischof, ein König, das ist die Weltordnung, in der Bossuet sich bewegt und für die er streitet. Sainte-Beuve billigt weder sein Verhalten gegen Fenelon, noch seinen unablässigen Kampf gegen den Protestantismus, noch endlich seine theokratischen Gedanken vom Staat. Aber obwohl diese Vorbehalte von vielen geteilt werden, wächst Bossuets Ruhm ständig. Worin sieht der Kritiker des neunzehnten Jahrhunderts die fortwirkende Macht dieser Persönlichkeit aus einer vergangenen, anders gearteten Zeit? Die beiden Aufsätze von 1854 beschäftigen sich vorwiegend mit den Predigten Bossuets.' Sie finden ihre Ergänzung zwei Jahre später, als zeitgenössische Erinnerungen über ihn zum erstenmal veröffentlicht Werden und Sainte-Beuve zu zwei weiteren Aufsätzen anregen. Diese erst vervollständigen das Bild, das er sich von Bossuet gemacht hat. 6*
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Ferdinand Brunetiere erläutert, in einer erheblich späteren Zeit, den Stil seiner Predigten, indem er ihn mit Lamartine und Victor Hugo vergleicht, deren Gedichte freilich ebenso stark rhetorisch sind, wie Bossuets Reden in ihrer Art lyrisch! Der volle Ruhm seiner Predigten beginnt auch erst mit dem Auftreten der romantischen Ästhetik. Diesem Zusammenhang entspricht Sainte-Beuves Darstellung. Er rühmt an Bossuets Kanzelberedsamkeit die Fülle des Gefühls. Der Prediger öffnet den Hörern sein Herz und rührt dadurch an das ihre. Im Gegensatz zu anderen großen Kanzelrednern der Zeit spricht Bossuet zwar nach sorgfältiger Vorbereitung des Materials, auch nicht ohne Möglichkeiten des Ausdrucks niedergeschrieben zu haben, aber er bewahrt sich für die Predigt selbst die Freiheit, zwischen verschiedenen Ausdrücken zu wählen, und läßt ihr, dies erscheint entscheidend, eine Stunde der gedanklichen Sammlung und Versenkung vorausgehen, aus der seine Rede zuletzt doch frei wie ein Werk der Eingebung emporsteigt. Diese Gabe der künstlerischen Sprachgestaltung gehört nun einer durchaus geschlossenen, in sich ruhenden Persönlichkeit an, und dies ist das zweite, was SainteBeuve an ihm rühmt. Von Jugend an geht er mit Sicherheit den Weg, der ihm bestimmt ist. Die Zeit kommt ihm dabei entgegen. Man erzählt, daß er bei seinem ersten Besuch von Metz aus in Paris noch Richelieu gesehen habe, der als Sterbender aus dem Süden zurückkehrte. Groß war der allgemeine Einfluß Ludwigs XIV. auf ihn. Als er vor dem Hof zu predigen begann, verzichtete er in seiner Ausdrucksweise auf die Übertreibungen und Überladungen, denen er bis dahin zuzeiten verfallen war. Er genoß überhaupt die Vorteile einer in sich gefestigten Ordnung, sie bot seiner Beredsamkeit den bestimmten Rahmen. Vom Schriftsteller im allgemeinen Sinne des Wortes hatte er nichts. Er schrieb nicht um des Schreibens willen, sondern nur, um seiner Pflicht als Bischof und Lehrer in Glaubenssachen zu genügen. Wir, so sagtSainte-Beuve, haben an Chateaubriand und Lamennais erlebt, wohin der überreizte Wille zu literarischem Wirken in fieberhafter Zeit selbst den Schriftsteller führt, der über Gegenstände der Religion schreibt. Bei aller Gelehrsamkeit besitzt Bossuet im Grunde seines Herzens den schlichten, fast naiven Glauben des einfachen Mannes aus dem Volke. Aber nichts an ihm trägt einen privaten Charakter. Er ist der Mann der großen Institutionen, wie seine Zeit sie in Kirche und Staat besaß, und der gefestigten Ordnung. Seine Forderungen nach Gerechtigkeit im Leben, Gleichheit in den Sitten und Maß in den Leidenschaften spiegeln denselben Geist wie die Ästhetik Boileaus. Sainte-Beuve entwirft uns dies Bild mit einer Wärme, die bei ihm nicht eben sehr häufig ist. Er begegnet diesem Menschen mit Bewunderung, ja sogar mit Liebe, so wie 84
wir große Eigenschaften lieben, deren vollen Besitz wir ersehnen, ohne ihn nach den beschränkten Kräften unserer Natur erringen zu können. Die Reihe der Gegenstände aus den großen Zeiten der französischen Monarchie hört auch in den letzten Bänden der Plaudereien am Montag nicht auf, aber daneben erscheint nun, nach einigen Jahren der Unterbrechung, auch die zeitgenössische Literatur wieder. Zu ihr zählt in gewissem Sinne auch Stendhal, dessen W e r k e erst jetzt volle Beachtung fanden. Aufsätze über ihn und Flaubert, über Taine und Tocqueville geben dem letzten Teil dieser großen Sammlung von Essais ihr besonderes Gepräge. Henri Beyle, mit dem ein wenig „teutonischen" Decknamen Stendhal, gehörte zeitlich zur Generation der Romantiker, seine W e r k e aber fanden erst zehn Jahre nach seinem Tode Beachtung, um dann zu immer höherem Ruhme zu gelangen. Sainte-Beuve lagen weder die viel später herausgegebenen autobiographischen W e r k e Beyles vor, noch sein unvollendeter dritter Roman, Lucien Leuwen. Seine literarische Kritik bezog sich deshalb in der Hauptsache nur auf Rot und Schwarz und die Kartause von Parma. A n ganz anderer Stelle, in einem Aufsatz über Taine, nennt er diese Romane abscheulich, mit einer Schärfe des Ausdrucks, die er selten anwendet. Beyles Helden haben kein Ehrgefühl und keine sittlichen Begriffe, er selbst, obwohl für seine Person ein durchaus redlicher Mann, hat sich von den allgemeinen Anschauungen seines Volkes^ so weit entfernt, daß er sie nicht mehr begreift und Heuchelei erblickt, w o nur eine wohlberechtigte gesellschaftliche Übereinkunft und ein vernünftiger Naturbegriff vorliegen. Seinem aus dem Italien der Renaissance genommenen Begriff der Liebe als einer schicksalhaften, sich selbst zerstörenden Leidenschaft setzt Sainte-Beuve die französische Frauenverehrung als höhere Idee entgegen. Auch die politischen Zustände in seiner Heimat versteht Beyle nicht mehr richtig, das Bild, das er davon gibt, scheint seinem Kritiker wie eine Karikatur, ¡-¡eine Gestalten haben kein wahres Leben, trotz aller Wirklichkeitstreue im einzelnen, sie sind Masken und Puppen. Dem Stil fehlt das Maß von rhetorischer Formung, das auch Sainte-Beuve unerläßlich erscheint. Es ist bekannt, daß die folgende Zeit diese Urteile keineswegs bestätigt hat. Sainte-Beuve erkennt wohl die engen Beziehungen, die Beyle mit der ideologischen Philosophie der Cabanis und Tracy verbinden, und da er selbst diesen Einfluß in seiner Jugend erfahren hat, so hätte er v o n hier den Zugang zu dem vollen Verständnis Beyles finden können. A b e r daran hindert ihn sein starkes Gefühl für die geistige Überlieferung. Er wirft Beyle den Kultus der Jugend vor. Die großen Meister der europäischen Kultur, die ein hohes Alter erreichten, er nennt Dante, Milton, 85
Beethoven, Michel-Angelo, verstanden die Verpflichtung, der Vollendung ihres Wesens immer näher zu kommen. Sainte-Beuve erkennt, ohne das Umwälzende daran völlig zu erfassen, daß Beyle, unbeeinflußt von den Strömungen seiner Zeit, die Grundbegriffe des bisherigen, christlich-antiken Weltbildes einfach beiseite schiebt und sie durch andere Erkenntnisse ersetzt, mit denen erdemDenkenNietzsches und seiner Zeit vorarbeitet, und macht ihm dasselbe zum Vorwurf, was ihm der jüngere Denker zum höchsten Lob anrechnen wird. Anders klingt die Kritik, die Sainte-Beuve drei Jahre später an Flauberts Roman „Madame Bovary" übt. Beyles Dichtungen zeigen sich, obwohl im Kern von ganz anderer Art, doch in vielen äußeren Zügen als Geschöpfe der romantischen Zeit. Die illusionslose Wahrhaftigkeit, mit der sie den Menschen darstellen, wird an entscheidenden Stellen von romanhaften Motiven alter Art verhüllt. Flauberts W e r k befindet sich in klarem und bewußtem Widerspruch zur romantischen Darstellung der Leidenschaft. Sainte-Beuve erkennt es als die Schöpfung einer neuen Generation, und was er Beyle noch als einen individuellen Mangel angerechnet hat, die harte Sachlichkeit des Stils, das bezeichnet er hier als Kennzeichen einer neuen Richtung. Der Strom der Lyrik ist vertrocknet, eine strenge und mitleidlose Wahrheit ist herrschend geworden. Mehr noch, der romantische Liebesdialog wird mit höchster Kunst demaskiert. Flaubert, so schließt Sainte-Beuve, hält die Feder, wie andere das Seziermesser, er tritt uns als Anatom und Physiologe entgegen. Dennoch enthält der Roman eine Moral, und zwar eine sehr strenge, auch das entgeht ihm nicht. Er wünschte nur, daß in dieser mitleidlosen und zutreffenden Darstellung des ländlichen und provinzialen Lebens auch das Gute seinen Ort fände, wie es ihn in der Wirklichkeit auch besitzt. Dies Bedenken, obwohl ohne übertriebene Betonung ausgesprochen, ist dennoch von beträchtlicher Bedeutung. Es ist, als ob die moralischen und ästhetischen Grundüberzeugungen Sainte-Beuves ein Netz von sehr feinen, aber ebenso festen Fäden bildeten. Er fängt auch das gewaltsam anstürmende Neue damit auf, fast scheint es, als müßte das Gewebe nun zerreißen und ins Gestaltlose zerflattern, aber es hält zuletzt dennoch. So erkennt er dem Weltbild Flauberts seine volle Berechtigung zu, verzichtet auch dem großen Kunstwerk gegenüber auf jeden wesensfremden Maßstab, um doch zuletzt ruhig und behutsam auf die Grenzen dieser Gestaltung hinzudeuten. W i e er es tut, mit einem kleinen Rat an den Künstler, das mag uns etwas altfränkisch erscheinen. Der Gedanke selbst aber ist Zeugnis eines umfassenden Literaturverständnisses, das aus der großen Überlieferung der abendländischen Kunst und aus ihren Kosmosvorstellungen genährt ist. 86
Von Hippolyte Taine waren nur die frühen Essais erschienen, als Sainte-Beuve zum erstenmal über ihn sprach, doch finden wir in diesen Plaudereien des Jahres 1857 die Grundzüge seines Wesens bereits nachgezeichnet, die Sicherheit seines Auftretens in der Öffentlichkeit, die Kraft und Klarheit seines Denkens, dies alles Eigenschaften, die sich in dem gesammelten und angespannten Leben innerhalb der Ecole normale völlig entwickelt haben. Sainte-Beuve spricht von dem jungen Kritiker mit Hochachtung und deutlicher Sympathie. Aber er findet sich in ständigem Widerspruch zu ihm und seinen Theorien. Taine eröffnet seinen Versuch über Titus Livius mit einem Bekenntnis zu Spinoza, das in wenigen Worten bereits seine gesamte Philosophie enthält. Der Mensch ist innerhalb der Natur kein selbständiges Ganzes, sondern ein Teil, und die Bewegungen seines Geistes unterliegen denselben strengen Regeln wie die der materiellen Natur. Sainte-Beuve streitet gegen diese Auffassung nicht mit Gegenbehauptungen, sondern mit immer wiederholtem Hinweis auf die Wirklichkeit. Boden und Klima sind so allgemeine Bestimmungskräfte, daß wir aus ihnen nicht zu erklären vermögen, wie die Gattungen und Individuen in ihren einzelnen Eigenschaften entstanden sind, und gerade auf diese Er-^ fassung des einzelnen, Bestimmten kommt es an. Ebensowenig läßt sich aus der allgemeinen Beschaffenheit eines Zeitalters, aus seinem geistigen Klima, die einzelne Persönlichkeit ableiten, mit der es der Kritiker und Historiker zu tun hat. Immer räumt Sainte-Beuve ein, daß Taines allgemeine Sätze richtige Erkenntnisse enthalten, stets aber wendet er gegen sie ein, daß sich der Einzelfall ihnen entzieht. Gewiß scheint es so, als ob es für jedes Individuum eine Grundformel gäbe, als Ausdruck seines Verfahrens der Welt gegenüber, aber sie auszusprechen ist kaum Sache eines anderen Menschen, sondern sollte einem höheren, göttlichen Verstände vorbehalten bleiben. In diesem Dialog zwischen dem Kritiker und seinem Gegenstand tritt Sainte-Beuves eigene Geistesart am deutlichsten dort hervor, wo er ausdrücklich von dem Verhältnis des Kritikers zu den Großen der Vergangenheit spricht. Gewiß unterstehen auch sie dem Gesetz der fortschreitenden Zeit. Wir verstehen ihre Absichten vielleicht besser, als sie selbst es taten, kennen die Wirkung ihrer Werke auf die folgenden Geschlechter und haben das Recht zu sagen, ob sie uns segensvoll oder verderblich erscheint. Aber wenn wir sie analysieren, so sollten wir dies in einer Art von Geistesdialog tun, immer in aller Ehrfurcht bemüht, jene zu begreifen und sie in unsere Denkweise einzuführen. Man müßte Racine dahin führen, daß er unsere Bewunderung für Shakespeare verstände, und Bossuet, daß er den Gedanken der Toleranz begriffe. Der Kritiker 87
befände sich dabei in einer Vereinigung mit seinem Gegenstand, die man als mystisch bezeichnen kann, auch wenn Sainte-Beuve selbst diesen Ausdruck nicht braucht. An wenigen Stellen seines kritischen Werkes enthüllt er uns so viel über die Art seines Umganges mit den großen Toten der Literatur. So bewahren wir, damit schließt er dies Traumgesicht, die Überlieferung und folgen doch dem Fortschreiten der Zeit. Der so oft beschworene Begriff der geistigen Unsterblichkeit erfüllt sich mit Leben. Aus der Welt Spinozas, für den alles Individuelle in der einen, allgemeinen Gott-Natur versinkt, sind wir hier in die der alten Humanisten getreten, denen die Persönlichkeit alles bedeutet. Alexis de Tocqueville starb 1859, gleich danach veröffentlichte sein eingeweihtester Freund Teile seines Nachlasses, namentlich seines Briefwechsels. Er hatte seine Laufbahn als richterlicher Beamter unter der Restauration begonnen, als Abgeordneter unter der Julimonarchie zur gemäßigten Opposition gehört und unter der Präsidentschaft des Prinzen Napoleon kurze Zeit das Ministerium des Auswärtigen innegehabt. Nach der Aufrichtung des zweiten Kaiserreiches hatte er sich völlig auf seine wissenschaftlichen Studien zurückgezogen. Diese politische Laufbahn eines maßvollen, gewissenhaften Mannes, der so lange seinem Vaterlande unter wechselnden Regierungen zur Seite gestanden hatte, als noch ein Schatten von Hoffnung für die Verwirklichung seiner liberalen Anschauungen bestand, wird von Sainte-Beuve, dem Mitarbeiter des Moniteur. nur kurz, jedoch nicht ohne Achtung, berührt. Dagegen beschreibt er den allgemeinen Standpunkt Tocquevilles eingehend. Er ist, wie Faguet sich ausdrückt, ein liberaler Patrizier, aber von stärkerem Gefühl für die Lage der Massen, als es die Staatsmänner der konstitutionellen Zeit sonst besaßen. Die radikale Umformung der Gesellschaft erscheint ihm unvermeidlich, aber er sieht ihre Gefahren für die Freiheit der Persönlichkeit, die ihm über alles wertvoll ist, und so ist seine Stellung zu ihr zwiespältig, weder völlig bejahend, noch entschieden verneinend. Sainte-Beuve vergleicht ihn spöttisch mit Äneas, der auszieht, Rom zu gründen, zugleich aber die zurückgelassene Dido bejammert. Den Menschen im allgemeinen sieht Tocqueville falsch. Er kann sich, so hält ihm Sainte-Beuve entgegen, auch hier mit seinem Kampf gegen Rousseau und Condorcet beschäftigt, durch unendliche Arbeit wohl zur Kultur erheben, aber seine .Ursprünge sind niedrig und grob, und das Er* rungene bleibt stets gefährdet. Tocqueville unterscheidet sich jedoch von der Generation seines Standesgenossen Lafayette durch seinen entschiedenen Sinn für die Wirklichkeit, und diesen bedeutendsten Zug des Mannes gebührend hervorzuheben, versäumt sein. Kritiker. 88
Jener brachte von Amerika die allgemeinen Menschenrechte mit, dieser aber, als Grundstoff für sein Hauptwerk, ein sorgfältig gesammeltes und geprüftes Wissen von dem tatsächlichen Zustand der amerikanischen Demokratie, die er eben deshalb aufgesucht hatte, um aus der Erfahrung zu lernen, wie sich die allgemeinen Gedanken der Freiheit und Gleichheit in der Verwirklichung ausnehmen. Dieser Unterschied zwischen der Amerikareise Lafayettes und derjenigen Tocquevilles zeigt den ganzen Abstand der Generationen und das Besondere in der Persönlichkeit und Lage des Jüngeren. Dieser gehört mit starken Kräften seines Denkens bereits der positivistischen Zeit an, die dann in Taine einen ihrer klarsten Vertreter findet. Auch der Liberalismus Tocquevilles hat tiefere Wurzeln, als Sainte-Beuve uns aufdeckt. Merkwürdigerweise teilt er seinen Lesern nicht mit, daß Tocquevilles Mutter die Enkelin jenes Malesherbes ist, der Ludwig XVI. bei seinen Reformversuchen unterstützte und später, als Verteidiger seines Monarchen, auf der Guillotine starb. Was Tocqueville gegen die demokratische Diktatur aufrechtzuerhalten wünschte, war eben jene Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Stände und Landschaften, die sich unter der alten Monarchie noch in Resten gegenüber dem zentralisierenden Absolutismus behauptet hatte. Als er seine Studien über das ancien régime begann, hoffte er, diese Welt der alten Freiheit vor der Revolution wiederzuentdecken, sah sich dann freilich enttäuscht und kam zu dem Ergebnis, daß die Zentralisierung schon unter der Monarchie durchgeführt war und die Revolution nur zu einem Wechsel in der Herrschaft, nicht in der Regierungsweise führte. Wenn Sainte-Beuve gegen Tocqueville die Vorzüge dieser Umwälzung verteidigt, so spricht er als Vertreter des dritten Standes und Anhänger der cäsarischen Demokratie. Der Persönlichkeit Tocquevilles wird er aber nicht gerecht. Während der letzten Jahre hatte Sainte-Beuve den Feldzug der Plaudereien, wie er selbst diese Reihe von Arbeiten bezeichnet, langsamer fortgesetzt. Die Pflichten seines Lehramtes an der Ecole normale hatten ihn von seinem Werk des literarischen Chronisten abgezogen. 1861 trat er von jenem zurück. Im August desselben Jahres beschloß er die Plaudereien am Montag mit einer Besprechung des neunten Bandes von Thiers' Geschichte des Konsulats und des Kaiserreiches. Aber schon nach wenigen Wochen nahm er diese Arbeit wieder auf, diesmal unter Befreiung von professoralen Verpflichtungen.
Vierter
Abschnitt
Die neue Reihe der Plaudereien am Montag Seit 1859 hatte sich die Atmosphäre des öffentlichen Lebens in Frankreich geändert. Gegenüber dem Königtum der Bourbonen hatte der Bonapartismus-sogleich nach dem ersten Sturz Napoleons liberale Züge angenommen. Liberalismus und Nationalbewegung standen nach 1815 überall im Bunde. Eine Verbindung zwischen den italienischen Liberalen und dem zweiten Kaiserreich lag deshalb nicht außer dem Bereich der natürlichen politischen Verknüpfungen. Der Kaiser w a r als Prinz Louis Napoleon tätiges Mitglied der italienischen Geheimgesellschaften gewesen und hatte an dem Aufstand in der Romagna 1831 teilgenommen. Aber er h ä t t e sich der politischen Verpflichtung, die ihm daraus auferlegt w e r d e n konnte, wohl zu entziehen gewußt, wenn sich nicht die europäische Gesamtlage nach und nach gewandelt hätte. Frankreich h a t t e gemeinsam mit England in der Krim gegen Rußland Krieg geführt, und der Tod des Zaren Nikolaus vor dem Ende dieses Ringens bedeutete, ebenso wie die Niederlage der autokratischen Großmacht, eine fühlbare Schwächung jener Reaktion, die nach der N i e d e r w e r f u n g der Revolutionen von 1848 endgültig siegreich zu sein glaubte. Cavour, der leitende Staatsmann von Savoyen, hatte der Sache seines Staates und zugleich der italienischen Unabhängigkeitsbewegung gut gedient, als er seinen kleinen Staat an der Seite der W e s t m ä c h t e in den Krimkrieg eintreten ließ. Die Träger der Einheitsbewegung in Deutschland und Italien begannen sich von der Niederlage nach 1848 zu erholen. Die Legierung, aus der die politische Ordnung in Europa bestand, w u r d e wieder flüssig. Frankreich, soweit es dem zweiten Kaiserreich günstig gesinnt war, erwartete aber von diesem vor allem, daß es. die Folgen der Niederlage Napoleons I. wieder ausglich und die W i e n e r Verträge zugunsten Frankreichs revidierte. W a s konnte also Napoleon III. anders tun, als daß er versuchte, sich leitend in die n e u e revolutionäre Bewegung im mittleren Europa einzuschalten, dabei seinem Lande die schmerzlich vermißte Hegemoniestellung auf dem Festlande zurückzuerringen und seine Grenzen nach Osten zu erweitern? Ein starrer Anschluß an die konservativen Mächte hätte auch ihn selbst gefesselt! Er schloß also mit Cavour jenen Pakt, durch den Italien frei bis zur Adria w e r d e n sollte, er selbst aber Vorteile für Frankreich und für seine Dynastie auf italienischem Boden erringen wollte. Damit ging er aber auch in seinem eigenen Lande ein zunächst geistiges Bündnis mit " dem Liberalismus ein. Und da die Einheit Italiens gegen den Fortbestand des Kirchenstaates gerichtet war, so entfremdete er sich gleichzeitig 90
die klerikale Partei. Ob die alten Feinde dabei zu Freunden würden, war sehr unsicher, unzweifelhaft aber, daß die bisherigen Freunde zu Feinden wurden. Trotzdem blieb Napoleon in der allgemeinen Richtung seiner Politik keine Wahl. Sainte-Beuve kehrte für die nächsten Jahre zum Constitutionnel zurück, w o er sich sowieso etwas freier bewegen konnte. In seiner Ankündigung der neuen Reihe knüpft er an die alte an. Die allgemeine Form der Plaudereien bleibt die gleiche. Der Verfasser will aber immer mehr Wahrheit in sie hineinlegen, mit immer größerem Freimut sprechen. Wahrheit in welchem Sinne? Sainte-Beuve, der hier sein Programm in wenigen Sätzen leicht andeutet, meint auch jetzt den literarischen Begriff des Wortes. W i r sprechen im Deutschen in einem ähnlichen Sinne von Lebenswahrheit. Er nimmt sich vor, möglichst v i e l Wirklichkeit in seine Kritiken hineinzubringen. Natur und Wahrheit sind aber seit Boileau auch Grundbegriffe der literarischen Beurteilung. Sainte-Beuve will auch in dieser neuen Reihe nicht nur berichten, sondern bewerten. Seine literarische Tagesschriftstellerei soll praktische Kritik sein, ausgeübt nicht in Form von ästhetischen Systemen, sondern an den einzelnen Erzeugnissen, so w i e der Tag sie heranbringt, und mit dem Ziel, unmittelbar wieder auf das Schaffen des Schriftstellers und den Geschmack der Leserschaft zu wirken. Die Bezirke, aus denen seine Themen stammen, sind die gleichen w i e bisher, selbst die Personen, die als Autoren Gegenstand seiner porträtierenden Kunst werden, sind uns meistens schon begegnet. Er selbst sagt aber einmal in einer autobiographischen Skizze, daß er diesen neuen Feldzug in einem etwas anderen Sinne beginne, als der alte hatte. Darauf werden wir also bei der Beschäftigung mit den neuen Montagen zu achten haben. Die Veröffentlichung von Briefen Lamennais' führt den alternden Kritiker nochmals zu diesem Manne zurück, der in seiner Jugend zeitweise beinahe sein geistiger Führer gewesen war und über den er später so scharf geurteilt hatte. Diesmal sucht er ihn von innen her zu begreifen. Lamennais ist von A n l a g e ein Glaubender, es gibt für ihn keine Vermittlungen und keine Halbheiten. W i r d sein leidenschaftliches Gefühl von einer neuen Erfahrung getroffen, so ergreift er das, was ihm jetzt als die Wahrheit erscheint, mit dem gleichen Fanatismus. Immer aber ist er ehrlich. Sein Bruder hatte von ihm gesagt: .„Gott hat ihn zum Soldaten gemacht." In seiner letzten Gestalt wird er in die Zukunft eingehen, als der Soldat der Zukunft, der gläubige, feurige Kämpfer des Volkes, der nur den einen Schrei kennt: „Vorwärts!" Sainte-Beuves Z w e i f e l an der Einsicht Lamennais' in die Natur gesellschaftlicher Veränderungen bleiben, äber dem Manne im ganzen versagt er nicht den Ausdruck seiner 91
Bewunderung und Sympathie. — Dem Aufsatz über den abtrünnigen Katholiken läßt Sainte-Beuve unmittelbar einen anderen über einen der entschiedensten Vorkämpfer der Kirche in dieser Zeit folgen, den Schriftsteller Louis Veuillot. Es ist eine jener Kritiken in dem Gesamtwerk, die weniger durch den Gegenstand fesseln, als durch die Auseinandersetzung Sainte-Beuves mit ihm, die in sehr lebendiger Form verläuft. Er erklärt von vornherein, daß er kein Anhänger Veuillots sei, in keiner Weise, aber er nähert sich ihm als Literat, der das Talent achtet, wo immer er es findet. Veuillot ist ein Kind des Volkes, seine Schulbildung bleibt- gering, jung in den Journalismus geworfen lernt er, während er schreibt. Seine Bekehrung zum Kirchenglauben vollzieht sich in Rom, und Sainte-Beuve beschreibt nach eigenen Reiseeindrücken die Atmosphäre des Glaubens in der päpstlichen Stadt, die einen solchen Durchbruch begünstigt. Sainte-Beuve nennt ihn einen Journalisten von größter Begabung, aber er tadelt die Heftigkeit seines Tones in der Polemik und wirft die Frage auf, ob eine katholische Journalistik überhaupt möglich sei, ob nicht vielmehr der innere Widerspruch zwischen den Methoden einer kämpferischen Tageszeitung und dem Geist der Religion einem solchen Unternehmen entgegenstehe. Indem er zuletzt in dem politischen Kämpfer Veuillot den Menschen zeigt, den Gatten und Vater, der Frau und Kinder durch den Tod verliert, wünscht er an seinem Teil die Polemik zu vermenschlichen und zu entgiften. Veuillot hat dem Zusammenbruch seines Familienglücks Verse gewidmet, die der Kritiker zitiert, und tritt damit in den Friedensbereich der Sprachgestaltung, der jedem offensteht. Und wieder unmittelbar danach findet Sainte-Beuve einen Anlaß, sich mit Guizot zu beschäftigen, dem leitenden Staatsmann und bedeutendsten literarischen Verteidiger der Julimonarchie, von dessen Erinnerungen der vierte Band eben erschienen ist. Auch füi diesen Aufsatz ist es charakteristisch, daß der Kritiker sich zwar, wie selbstverständlich, eingehend mit seinem Gegenstand befaßt, die Person Guizots aber außerdem benutzt, um sich allgemein über jene achtzehn Jahre und die Person des Bürgerkönigs auszusprechen. Dabei kann er die Darstellung Guizots aus eigenen Erinnerungen ergänzen und beurteilen. Nach der Julirevolution, so beginnt er seine Analyse dieses Zeitabschnitts, bestanden zwei Möglichkeiten der Politik. Die neue v Monarchie konnte den Schwung der Revolution, das neu erwachte nationale Gefühl, benutzen und Frankreichs Stellung in der Welt wieder erhöhen. Und Sainte-Beuve, viel zu verständig, um den damaligen Trägern der Verantwortung nachträglich eine andere Politik vorzuschreiben, neigt doch zu der Ansicht, daß diese Politik die richtige gewesen wäre. Die Monarchie 92
konnte aber auch ihre Aufgabe darin sehen, sich dem Fortgang der Revolution, aus der sie selbst entstanden war, entgegenzuwerfen und eine Politik des konservativen Widerstandes zu treiben, und diesen Weg hat sie gewählt. Sainte-Beuve macht kein Hehl daraus, daß er die Regierung der achtzehn Jahre nach dem, was sie Gutes brachte, zu schätzen verstanden hat, die friedliche Atmosphäre, die dem geistigen Leben günstig war, den rhetorischen Glanz der Verhandlungen in den Parlamenten. Aber ihr fehlte, was ihm doch zuletzt für die Beurteilung einer Staatslenkung entscheidend ist, die Größe, der Schwung des Handelns nach außen oder innen. Und der König selbst, obwohl er die Herrschaft des Bürgertums vertrat, war dennoch selbst zu sehr ein Bürger, um seiner Nation Achtung abzunötigen. Kurz, er mißt die Julimonarchie an dem Kaiserreich, im allgemeinen ohne dies zu nennen, in einem Punkte, der Politik gegen Rußland, auch ausdrücklich. Guizot selbst macht er denselben Vorwurf, den er einst gegen Lamartine und Hugo erhoben hatte. Er war ein ausgezeichneter Unterrichtsminister und hätte besser getan, in diesem Amt zu verbleiben und die tieferen, dauernden Wirkungen der Bildung den unsicheren Unternehmungen in der Politik vorzuziehen. Die einfache Frage, wie Guizot Unterrichtsminister hätte bleibeji können, wenn die Julimonarchie selbst ihren zahlreichen Gegnern schon frühzeitig erlegen wäre, stellt Sainte-Beuve sich nicht. Den Hauptmangel Guizots und seiner Freunde sieht er aber in ihrem Hochmut. Sie stützten sich auf die Öffentlichkeit und hatten doch keine Fühlung mit ihr. Es ist derselbe Vorwurf, der in dem Aufsatz über Tocqueville gegen diesen erhoben wird. Als Redner vor dem Parlament vervollkommnet sich Guizot immer mehr, er schreitet zuletzt von Erfolg zu Erfolg. Aber gerade seine oratorischen Siege führen zu seinem Untergang. Er ist sich nicht bewußt, daß ihre Wirkung an der Tür des Sitzungssaales endet. Aus seinen Reden erwachsen keine Handlungen. Guizot selbst weiß, daß in den großen Fragen der Politik das Wort zugleich sehr mächtig und machtlos ist. Es bereitet vor, aber führt nicht zu Ende. Trotz dieser Einsicht hat er ihm zu sehr vertraut. Eine der bedeutendsten Gestalten in dieser Sammlung, zugleich eine solche, die neu in den Gesichtskreis des Kritikers gelangt, ist Einest Renan. Als Sainte-Beuve sich zuerst mit ihm befaßte, hatte zwar sein größtes Werk, die Geschichte der Ursprünge des Christentums, noch nicht zu erscheinen begonnen, aber sein persönliches Schicksal und eine Reihe von kritischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen hatten ihn doch schon bekannt gemacht. Unter dem Eindruck der modernen Naturwissenschaften und der deutschen Bibelkritik hatte er seine theologischen Studien abgebrochen und 93
auf den Beruf des Priesters verzichtet. Der Übergang zu religionswissenschaftlichen Forschungen, der in Deutschland im Bereich der theologischen Fakultät möglich gewesen wäre, bedeutete für Frankreich einen Bruch mit der Kirche überhaupt. Was im Protestantismus zulässig war, vermochte der Katholizismus nicht zu dulden. Die Regierung hatte gezögert, ihm den Lehrstuhl für hebräische Sprachwissenschaft am Collège de France zu übertragen, der ihm nach seinen Leistungen zustand, doch hatte ihn Napoleon zu archäologischen Forschungen in das Gebiet des alten Phönizien entsandt. Endlich, 1862, entschloß man sich, ihn zum Professor der semitischen Sprachen am Collège de France zu ernennen. In seiner Antrittsvorlesung, über die Bedeutung der semitischen Völker für die Geschichte der Zivilisation, ging er der Frage nach der Göttlichkeit Christi und dem Offenbarungscharakter des Christentums nicht aus dem Wege. Da seine Auffassungen im Gegensartz zu dem kirchlichen Dogma standen, brachten ihm seine studentischen Hörer laute Kundgebungen dar, die zugleich von der Opposition der Jugend gegen das Kaiserreich zeugten. Die Regierung untersagte die Fortsetzung des Lehrganges, da er eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung bedeute. Bald danach schrieb Sainte-Beuve seine Kritik über die bis dahin erschienenen Schriften Renans. Er erzählt zunächst die Geschichte seiner inneren Lösung vom kirchlichen Dogma. Diese Befreiung vollzieht sich allmählich. Sainte-Beuve versagt sich nicht den Vergleich mit Lamennais. Das Verfahren Renans erscheint ihm würdiger. Während er in seinem Geiste das alte Gebäude Stein für Stein abträgt, errichtet er zugleich das neue. Aber, so könnte man hier zugunsten Lamennais' einwerfen, das tut auch dieser, wenn er an die Stelle der Kirche die Demokratie setzt, nur ist er wesentlich Politiker, Renan aber Gelehrter. Wie sieht nun das Weltbild aus, das er an die Stelle des alten setzt? Sainte-Beuve täuscht sich nicht über die Unklarheiten und Widersprüche, die darin nicht fehlen. Renan ist mehr Künstler als Denker, mehr Liebhaber der Philosophie als strenger Meister in ihr. Er ist geneigt, an die Stelle der Gottheit die Menschheit, an diejenige der Offenbarung die Geschichte zu setzen. Aber zugleich nennt er nicht nur den Menschen von Natur religiös, dem Jenseits zustrebend, sondern er scheint auch dem Göttlichen eine, freilich sehr allgemein gehaltene, Existenz zuzusprechen. Renans Stellung wäre klarer geworden, wenn Sainte-Beuve sie mit derjenigen Kants verglichen hätte. Die deutsche Philosophie im allgemeinen, und im besonderen die Kants, hat auf ihn großen Einfluß gehabt. Aber auch ohne diese geistige Berührung wäre er zu ähnlichen Lösungen der religiösen Schwierigkeiten geführt worden, weil seine allgemeine Lage die nämliche ist. 94
Wie vor ihm Kant durch den Gang der Philosophie, so wird er durch denjenigen des wissenschaftlichen Denkens seiner Zeit genötigt, die alten metaphysischen Stellungen zu räumen. Das allgemeine Weltgefühl und die sittlichen Grundgedanken des Christentums aber wünscht er festzuhalten, ebenso wie es Kants Bestreben gewesen war, in der Form des transzendentalen Idealismus den Kern des Protestantismus zu erhalten. Und so sucht der französische Denker, so wie es v o r h e r der deutsche getan, die subjektive Notwendigkeit eines allgemeinen idealistischen Glaubens an das Göttliche und das Ewige zu zeigen. N u r bedient er sich dabei, ijn Unterschied von Kant, nicht begrifflicher, sondern künstlerischer Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, weil das europäische Denken unterdessen von der Romantik durchtränkt worden ist. Auch v e r w e n d e t er die Ergebnisse der Geschichtsphilosophie, die sich erst nach Kant, von seinen Ideen getrieben, völlig entfaltet hat. Aber gerade darin vermag Sainte-Beuve ihm nicht zu folgen. Renan sieht die Menschheit durch die Zeiten hindurch an einem gemeinsamen W e r k arbeiten. Alle Leistungen der einzelnen gehen darin auf. Im Gedächtnis der Menschheit bleibt aufbewahrt, w a s im Lauf der Geschichte Großes und Vollendetes vollbracht worden ist. Diesem Mystizismus setzt Sainte-Beuve eine pessimistische Auffassung der Geschichte entgegen. W i e vieles, was in den Schatzhäusern des Geistes a u f b e w a h r t ist, v e r d a n k t seine Erhaltung nur dem Zufall, wie vieles ist unwiederbringlich verlorengegangen! Im Sommer 1863 erschien dann, lange erwartet, Renans Leben Jesu. Der Eindruck auf die Öffentlichkeit w a r sehr groß. Sainte-Beuve, der seine Kritik etwa drei Monate nach dem Erscheinen des W e r k e s gibt, bemüht sich vor allem, die verschiedenen Auffassungen in der Leserschaft verständlich zu machen und zu klären. Daraus ergibt sich dann, welcher Platz dem W e r k anzuweisen ist. Dies Leben Jesu, das dem Gläubigen nicht gefallen kann, sollte ihm wenigstens durch die Schärfe seiner Beweisführung A c h t u n g und Besorgnis einflößen. Aber auch das vermag es nicht. Die Grundlagen dieses Christusbildes erscheinen ihm so unsicher, daß vor dieser Schöpfung eines einzelnen Gehirns das W e r k der allgemeinen Tradition jedenfalls den V o r r a n g verdient. Dem ungläubigen Leser aber mißfällt das W e r k ebenfalls. Es erscheint ihm als ein unzulässiges Kompromiß. Jesus ist hier zwar Mensch, aber er wird so erhöht, daß an die Stelle des kirchlichen ein historischer Mythos tritt. Daß Sainte-Beuve diesen Einwänden der beiden entgegengesetzten Parteien zustimmt, ist nach dem Ton seiner Darstellung nicht zweifelhaft. So ist Renans Christusbild also für jene breite Schicht mittlerer Leser bestimmt, in denen sich die allgemeine Stellung des Zeitalters zur Religion 95
am deutlichsten spiegelt. Sie ist weder entschieden gläubig, noch entschieden freigeistig, sie hat vielmehr eine allgemeine, unbestimmte Neigung, sich mit religiösen Fragen zu befassen und solchen Vorstellungen hinzugeben. Für diese Leser hat Renan geschrieben, ihnen hat er, an Stelle des für sie zerstörten alten, ein neues Jesusbild geschenkt, für das sie ihm dankbar sind. Jedes Zeitalter, so faßt Sainte-Beuve sein Urteil zusammen, hat die Art von philosophischem Schriftsteller, die es verdient. Für diese zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Renan der richtige philosophische Vorkämpfer, der Triumph seiner Grundsätze nur noch eine Frage der Zeit. In seinem Kampf mit dem Klerus stellt der Kritiker sich Renan zur Seite, aber abgesehen von der tagespolitischen Lage behandelt er ihn mit einer kaum versteckten Ironie. Der Erfolg dieses Werkes hat schon den der berühmtesten Romane übertroffen, und bei der mittleren Schicht der Geister hat es denselben Platz errungen, wie das Petit Journal beim Volke. Es handelt sich ja auch für SainteBeuve nicht darum, Renan im ganzen zu würdigen, sondern um eine Beurteilung des einzelnen Werkes. Ubersetzungen aus dem Umkreis Goethes und seines Lebens gaben Sainte-Beuve wiederholt Anlaß, von ihm zu sprechen. Jener Bericht über Goethes Briefwechsel mit Bettina Brentano hatte noch einen wesentlichen Vorbehalt gegen seine Persönlichkeit enthalten. Sainte-Beuve hatte dann in der Zeit der ersten Montage, aber abseits von diesen in einer Zeitschrift, den Briefwechsel zwischen Goethe und Kestner besprochen. Die Persönlichkeit Goethes, das Übergewicht, das die heilenden Kräfte in ihm gegenüber der Leidenschaft besaßen, war von ihm richtig erkannt, die Dichtung des Werther jedoch, in ihrer Geschlossenheit bis zur Katastrophe, durchaus nicht verstanden worden. Aber diese zweite Besprechung li.eß doch erkennen, daß der französische Kritiker, der Entfaltung der Goetheforschung in Deutschland folgend, sich von den Mißverständnissen freigemacht hatte, die noch zu Lebzeiten des Weimaraners bei der jungen Generation über ihn geherrscht hatten. 1862 erschien, wenn auch nicht vollständig und in willkürlicher Anordnung, die erste französische Übersetzung der Gespräche mit Eckermann, mit der sich Sainte-Beuve nun sehr eingehend befaßte. Goethe ist ihm der größte Kritiker, nicht nur der Neuzeit, sondern aller Zeiten, da er sich die Errungenschaften aller vorhergehenden Epochen zu eigen machen konnte. Sainte-Beuve bedauert, daß Goethe nie in Paris war. Hätte er es besucht, etwa in den letzten Jahren der alten Monarchie und dann nochmals während des Kaiserreichs, so wäre es den Franzosen leichter gewesen, ihn zu verstehen, man hätte ihn in Frankreich heimisch machen, ihn, wie Sainte-Beuve sich ausdrückt, natu96
ralisieren können. Der Kritiker beklagt es, daß man die Gespräche hier in kleine Happen für den französischen Geschmack zugerichtet habe, und will ausführlich über sie berichten, unter Benutzung auch des deutschen Textes. Von Eckermann spricht er mit Sympathie. Er hat sich Goethe aus echter Bewunderung genähert, berichtet über ihn mit Treue und verdient nicht den billigen Spott, der ihm zuteil geworden ist. Sainte-Beuves eigene Liebe zum Idyllischen verrät sich in der Auswahl der Stellen, die er aus Eckermanns Berichten über Goethes Erscheinung zitiert. Goethe behält Eckermann zunächst als einen Vertreter der jungen Generation bei sich, um von ihm zu erfahren, was diese denkt und wie ihr Geschmack beschaffen ist. Denn Weimar bietet dem Schriftsteller nicht, wie 'Paris es tut, die vielfältige Berührung mit allen geistigen Strömungen von selbst, und Goethe muß sich gleichsam ein privates Ministerium von Mitarbeitern bilden, um die Verbindung mit der Welt zu erhalten. Er spricht mit dem jungen Eckermann eingehend über, seine Theorie von der Dichtkunst. Dichtung soll gelebt sein, ihrem Motiv nach aus der Wirklichkeit stammen. Aufgabe des Dichters ist .es, die Gelegenheit ins allgemeine zu erheben. Zu unrecht hat man in Goethe einen Talleyrand der Kunst sehen wollen, Sainte-Beuve widerruft hier ausdrücklich diesen seinen eigenen Vergleich aus früherer Zeit, einen Mephistopheles, der mit den Leidenschaften sein Spiel treibt. Sein Gefühl ist echt, auch geht er der Erschütterung nicht aus dem Wege, nur meidet er das Gewaltsame und Grauenerregende. Sekten und Klüngel haben ihm Kälte und Egoismus vorgeworfen. Sainte-Beuve hat unter ähnlichen Angriffen zu leiden und tröstet sich mit dem Schicksal Goethes, des Meisters. Nur hatte dieser das Glück, in einem besseren Augenblick zu kommen, da seine Zeit mit ihm jung war. Wir, so sagt Sainte-Beuve von sich, stehen in einer überfüllten Zeit und finden alle Wege versperrt. Aber wir werden unseren Weg weiter verfolgen, ständig an uns arbeiten und uns häuten wie die Schlange, unseren Feinden zum Ärger und zur Verwirrung! Den Streit über Klassisch oder Romantisch lehnt Goethe ab. Schaffen wir gute und tüchtige Werke, und sie werden klassisch sein, über die junge romantische Schule in Frankreich hat er sich genau unterrichtet, und er spricht sich auch zu Eckermann wiederholt darüber aus. Sie wird das Gebiet des Poetischen erweitern und dadurch der Poesie nützen, aber da sie die äußere Wirkung sucht, so wird sie der einzelnen Begabung schaden. Man hat ihm Neid und Unverständnis jungen Talenten gegenüber vorgeworfen, so in seinem Urteil über Byron. Aber gerade diesen hat er geliebt und bewundert. Nur das ständig Verneinende in seiner Poesie lehnt er ab. Es gelte nicht umzustürzen, sondern zu bauen. Zu den jungen 7 Deiters, Sainte-Beuve
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romantisierenden Talenten in Frankreich, mit denen sich der alte Meister in Deutschland beschäftigte, gehörte Sainte-Beuve einst selbst. Er hat sich von dieser Zeit ebenso weit entfernt, w i e Goethe von seinen genialischen Anfängen. Jetzt stimmt er mit diesem in seiner Welt- und Kunstauffassung überein. So mag es ihm auch eine Genugtuung gewesen sein, daß er in diesem Zeitpunkt Goethes Bewunderung über den Schöpfer des Kaiserreichs mit langen Gesprächstellen belegen konnte. Drei von den Autoren, die den Kritiker in den letzten Jahren seiner ersten Reihe beschäftigt hatten, erschienen jetzt mit neuen Veröffentlichungen, Flaubert, Taine und Tocqueville. In seiner eingehenden Kritik über Flauberts Salammbô geht Sainte-Beuve von der Frage des Realismus aus. Er faßt sie als eine solche nach der stofflichen Auswahl. Da der Dichter die Wirklichkeit nicht in ihrer ganzen Ausdehnung darstellen kann, so ist darüber zu streiten, w o er sich seine Grenze ziehen soll. Solche theoretischen Erörterungen seien endlos. Nur die dichterischen Leistungen vermögen zu zeigen, was statthaft ist und die Voraussetzungen des Gelingens mit sich bringen. Flauberts Versuch ist, nach Sainte-Beuves Meinung, gescheitert. Die schriftlichen Denkmäler des Altertums sagen uns zu wenig über Karthago und seine Kultur, auch die Ergebnisse der Archäologie vermögen diese Lücke nicht zu füllen. Das historische Bild, das Flaubert uns entwirft, ist zum großen Teil eine Schöpfung seiner Phantasie. Es ist nicht dokumentarisch nachprüfbar und kann in diesem Sinne keinen Anspruch auf Wahrheit erheben. Der historische Roman sollte überhaupt nicht hinter das Mittelalter zurückgreifen. Walter Scott konnte die Geschichte seiner Heimat dichterisch lebendig machen, weil er mit ihr noch durch eine lebendige Uberlieferung verbunden war, zwischen uns und dem Altertum aber liegt eine historische Lücke. W a s Flaubert uns bietet, ist ein Erzeugnis der Studierstube und läßt uns schon darum kühl. W i r haben keine innere Beziehung zu dieser Welt. Man möchte SainteBeuve jedoch entgegenhalten, daß er hier eine richtige Bemerkung zu stark verallgemeinert. Der historische Roman ist ein Erzeugnis der Romantik und dadurch mit dem Mittelalter durch seine Entstehung enger verbunden. Familienüberlieferungen und örtliche Denkmäler helfen ihm den W e g in die Vergangenheit bahnen. A b e r in der Hauptsache ist die Wiedererweckung des Mittelalters doch ein W e r k der historischen Forschung, und wenn es möglich ist, eine Geschichte des Altertums zu schreiben, so ist es auch nicht ausgeschlossen, den historischen Roman in dieser Epoche anzusiedeln. Auf den Bericht des Polybios über den Söldneraufstand pfropft Flaubert nun den Roman zwischen Salammbô undMatho. Sainte-Beuve 98
zeigt mit allem Nachdruck, und nicht ohne Ironie, daß der realistische Dichter der Frau Bovary hierin unter dem Einfluß des Romantikers Chateaubriand steht. Salammbö ist bald Velleda, bald Atala. Nimmt man Flauberts Roman aber nicht als Dichtung und fragt sich nun, ob dieser Ausschnitt aus der Wirklichkeit sie in ihrem W e s e n richtig wiedergibt, also in diesem Sinne wahr ist, so muß man auch diese Frage verneinen, denn das Grausige überwiegt darin und wird nicht einmal durch eine menschliche Gestalt zurechtgerückt und in seine Grenzen verwiesen. Sainte-Beuve war mit Flaubert befreundet, er begleitet seine Kritik mit zahlreichen Sätzen der Anerkennung für die Person und das Talent des Dichters, und dieser hat ihm auf seine Kritik in einem respektvollen Brief erwidert, den uns Sainte-Beuve selbst mitteilt. Er verteidigt darin die dokumentarisch bezeugte Wahrheit seiner Darstellung, soweit es sich um historische Züge handelt. Die Beziehung zu Chateaubriand weist er ab. Ihm sei es auf die Wirklichkeit angekommen, nicht wie jenem auf die Typisierung im idealistischen Sinne. A b e r die Schärfe des Gegensatzes zwischen beiden Männern tritt vor allem an zwei Stellen seines Briefes zutage. Sainte-Beuve hatte dem Dichter vorgeworfen, daß sein archäologischer Dilettantismus ihn irregeführt habe. Nie und nirgends hätten sich Menschen so verhalten und wären Vorgänge zwischen ihnen so verlaufen, w i e er sie beschreibe. Dieser Kritik liegt die Annahme zugrunde, daß der Mensch zu allen Zeiten und unter allen Zonen wesentlich der gleiche sei. Nein, ruft Flaubert aus, die menschliche Natur ist keineswegs überall die nämliche! Die grundsätzliche Einstellung des Kritikers war aber noch deutlicher in einem anderen Gedanken zutage getreten. Die Dichtung, so hatte er geschrieben, ist keine abstrakte Angelegenheit, sie beruht auf dem menschlichen Mitempfinden. Dieser Söldneraufstand ist mir gleichgültig. Anders wäre es mit einer Darstellung des Kampfes zwischen Rom und Karthago, in dem die Zukunft unserer Kultur auf dem Spiele stand! Der Dichter erwidert ihm, daß sein Urteil über die Menschheit in seinem zweiten Roman weniger hart sei als in seinem ersten, und w a s ihn zu verschwundenen Völkern und ihren Religionen getrieben habe, sei gerade das Gefühl der Sympathie für sie! Flaubert sieht auch ganz richtig, daß dem Kritiker diese W e l t der orientalischen Kultur an sich mißfällt. Sainte-Beuve spricht in seiner Kritik mit dem Ausdruck tiefster Abneigung von dem Molochdienst, als einer jener entsetzlichen Religionen, die das menschliche Leben verachteten und von denen Christus die W e l t befreit habe. Im tiefsten Grunde urteilt er über Flauberts W e r k nicht als literarischer Kritiker, sondern als Moralist. Er sieht mit ihm in die W e l t abendländischer Gesittung die Hinneigung zur Barbarei einbrechen, und 7*
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das veranlaßt ihn, unbeschadet seiner persönlichen Sympathie für den Dichter, zu entschiedener Ablehnung. Nicht ohne Grund bezieht er sich in dieser Kritik auf Goethe, den universellen und weitherzigen Meister der Kritik, der vor einer breiten Darstellung des Häßlichen und Scheußlichen zurückgewichen sei. Er urteilt über Salammbô als Sprecher der klassischen Humanität. Von Taine erschienen 1864 die ersten drei Bände der Geschichte der englischen Literatur. In seiner ausführlichen Besprechung gibt Sainte-Beuve einleitend ein Bildnis des Verfassers in seiner alten Art. Auch unter dem Einfluß Taines hat er an seiner Methode nichts geändert. Hatte er schon in seinem ersten Aufsatz die Bedeutung der École normale für Taines Werdegang hervorgehoben, so beschreibt er uns jetzt ausführlich den Zustand ihres Unterrichts während der Revolution. Er vollzog sich in völlig freier Form, die Studenten berichteten in eigenen Vorträgen über die einzelnen Teile des Lehrstoffes, die Gegensätze der Auffassungen auch in religiösen und politischen Fragen wurden in Diskussionen behandelt. Von der pädagogischen Reaktion, die 1851 über die Schule hereinbrach, sagt SainteBeuve, daß sie unvermeidlich, aber wie gewöhnlich in solchen Fällen zu weitgehend gewesen sei. Taine und seine Altersgenossen, davon hatte Sainte-Beuve schon in seiner ersten Kritik gesprochen, haben sich in der Abgeschlossenheit der Studierstube für ihren Eintritt in die Welt vorbereitet, so fehlt ihnen die wirkliche Kenntnis des Lebens, auch des literarischen, sie treten als Dogmatiker auf. Aber ihre Vorbereitung ist dafür gründlich. Taine erwirbt sich in fleißigen mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien jene notwendigen Grundlagen philosophischer Arbeit, die den Eklektikern immer gefehlt haben. In der Auseinandersetzung um Taines positivistische Methode erkennt der ältere Kritiker nochmals an, daß seine Grundgedanken im allgemeinen richtig sind. Auch sind sie nicht neu, denn schon im Altertum tritt die Theorie auf, daß man den Menschen aus seiner Umgebung erklären müsse. Es ist viel, so hält Sainte-Beuve den Gegnern Taines vor, wenn man so tief in die innere Beschaffenheit der Individuen und Nationen eindringt, wie Taine es tut, und man soll diese Bemühungen fortsetzen und das Verfahren immer mehr verfeinern. Die Bewunderung des älteren Kritikers für die Leistung des Jüngeren, seine freundschaftliche Zuneigung für ihn sind gewachsen. Trotzdem macht er denselben Vorbehalt wie das erste Mal. In das Innerste,der Individualität kann man mit der Zergliederung der äußeren Einwirkungen nicht gelangen, dies bleibt geheimnisvoll und läßt sich auf allgemeine Gesetze nicht zurückführen. Und auch das literarische Schaffen hängt gerade in seinen bedeutendsten Leistungen von dem unerklärlichen Auftreten des Genies ab. Man 100
sieht, daß Sainte-Beuve sich hier gegenüber einer Theorie, die er im Grunde bejaht, in die Burg des Unbekannten und Unerkennbaren zurückzieht. Aber obwohl er seine Stellung kaum zu verteidigen weiß, hält er doch unerschütterlich an ihr fest. In ihm lebt noch die tiefere Einsicht in das Wesen des Menschen, die er aus einer älteren Kultur bewahrt hat, deshalb kann er den Jüngeren nicht unbedingt zustimmen. Aber auch sie wecken ein Echo seiner eigenen Jugend, als er selbst unter dem Einfluß des damaligen naturwissenschaftlichen Denkens stand. Und so gerät der Sechzigjährige in eine tiefe Erschütterung, die von den äußerlich gelassenen Folgerungen und Grenzziehungen des Kritikers kaum verdeckt wird. Von TocqueviHe endlich gab sein Freund, Gustave de Beaumont, 1865 einen weiteren Band mit Briefen heraus. Beaumont verurteilte, ebenso wie Tocqueville selbst, das, was er in einem Brief an den Kritiker die Revolution von 1852 nannte, die Aufrichtung also des zweiten Kaiserreichs, bat aber trotzdem Sainte-Beuve, auch diesmal die Besprechung zu schreiben. Dieser ^ erfüllt den Wunsch, würdigt eingehend den klassischen Stil der Briefe und die Feinheit ihres Inhalts, beharrt aber dennoch bei seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Persönlichkeit Tocquevilles. Sein Traum sei gewesen, die moderne Gesellschaft mit dem Klerus, die Demokratie mit der Monarchie zu versöhnen, aber es habe ihm an Klarheit des Denkens und an politischer Leidenschaft gemangelt. Aristokrat von Geburt habe er sich, ähnlich wie vor ihm Mirabeau und Lafayette, zur Demokratie bekehrt, aber ohne Freude und ohne Glauben. Sainte-Beuves Urteil ist richtig, aber er formuliert es auffallend scharf und verschmäht auch nicht, in seiner Besprechung einen unbedeutenden persönlichen Zusammenstoß zu erwähnen, den er vor dreißig Jahren mit Tocqueville gehabt habe, als sie sich über die Grundsätze von 1789 unterhielten.' Jener glaube an die Religion der Freiheit, und mit Gläubigen könne man nicht diskutieren. Zur Verteidigung des zweiten Kaiserreiches hält er ihm vor, daß unter der Republik die Monarchisten aller Schattieruilgen nach und nach die demokratischen Elemente ausgeschaltet hätten und alles, was an demokratischen Einrichtungen in Frankreich etwa noch bestände, seine Fortdauer dem Schutz des einen verdanke, der keiner Klasse angehöre und deshalb frei von Mißtrauen sei. Hier enthüllt sich ein wenig der tiefere Gegensatz zwischen den beiden Persönlichkeiten. Tocqueville schreibt während des Frühlings 1848 an einen Freund, die Revolution von 1789 sei aus Geist und Herzen der Nation hervorgegangen, die jetzige aber habe ihren Ursprung teilweise im Magen und in der Begierde nach materiellen Genüssen. Aber, so Sainte-Beuve, es gibt nichts, was mehr Respekt verdient als der Magen, keinen Schrei, der lauter 101
ertönte als der des Elends. Und er stellt Tocqueville einen anderen bedeutenden Denker entgegen, Proudhon, der den Kampf des Proletariers mit der Not geführt hat. Wie anders stellen sich dann alle Dinge dar! Tocqueville fehlt zum großen Denker, und nicht minder zum bedeutenden Politiker, der Sinn für die äußersten Möglichkeiten der menschlichen Natur, für die Untergründe der Gesellschaft. Man kann bezweifeln, ob dies Urteil Sainte-Beuves richtig ist. Tocqueville ist weder flach, noch einem billigen Optimismus zugeneigt. Er sieht die Abgründe der Gesellschaft wohl, aber er hält es für möglich, sie mit dem Einsatz des guten Willens zu überwinden. Aus dem Urteil Sainte-Beuves über , ihn aber spricht der entschiedenere Denker und der Mann von kleinbürgerlicher Herkunft, der ebensowenig wie Proudhon von den Vätern ein Schloß ererbt hat, um sich nach Enttäuschungen darin auszuruhen. Der Moniteur, zu dem SainterBeuve zwei Jahre vorher zurückgekehrt war, verlor 1868 den amtlichen Charakter. Die Regierung gründete ein neues Blatt, das ihr als Sprachrohr dienen sollte. SainteBeuve lehnte zwar die Aufforderung, an dem neuen Journal offiziell mitzuwirken, mit dem Hinweis auf seine Verpflichtungen gegenüber dem Moniteur ab, aber sein Verhältnis zu dieser Zeitung war doch gelockert. Schon der erste Beitrag, den er für sie nach ihrer Umgestaltung schrieb, führte zum Zusammenstoß mit einem Teil der Schriftleitung, so daß Sainte-Beuve seine Mitarbeit niederlegte. Er verlangte weltanschauliche Freiheit für seine Arbeiten und fand sie in dem liberalen Temps. Dieser stand in Opposition zur Regierung, und so entstand der Anschein, als ob Sainte-Beuve seinen politischen Standpunkt wechselte und, obwohl Senator des Kaiserreiches, sich zu dessen Gegnern gesellte. Dieser Vorwurf ist seitdem immer wieder gegen ihn erhoben worden. So einfach liegt der Fall aber nicht. Das Kaiserreich befand sich selbst in Umwandlung, und der Übergang zu einem Blatt gemäßigter liberaler Opposition, wie der Temps es war, bedeutete unter diesen Verhältnissen für Sainte-Beuve weder einen Bruch mit der Staatsform, noch mit seiner eigenen bisherigen Linie, so wie er sie schon seit Jahren zum Ausdruck gebracht hatte. Aber er gewann durch die Befreiung von jeder Beziehung zu dem halbamtlichen Zeitungswesen Raum für die volle Betätigung seines kritischen Sinnes, und davon hat er in seinem ersten Beitrag für den Temps, dem Bildnis Talleyrands, ohne Rücksicht Gebrauch gemacht. Den Anlaß dazu gab eine französische Übersetzung des Essai, den Henry Lytton Bulwer einige Zeit vorher dem französischen Staatsmann gewidmet hatte. Er enthielt eine ausführliche, sorgfältig abwägende Darstellung seiner politischen Laufbahn. Bulwer kommt zu dem Schluß, daß Talleyrand bei seinen wiederholten Übergängen 102
von einer Regierung zur anderen tat, was die politischen Umstände verlangten und die allgemeine Meinung mit unwiderstehlicher Kraft forderte. So waren nach Bulwers Auffassung seine Verdienste um Frankreich in mehreren kritischen Augenblicken bedeutend. Aber obwohl er ihn von einer persönlichen Schuld an der Ermordung des Herzogs von Enghien freispricht, sagt er doch, daß er für Talleyrands Charakter keine Sympathie aufbringen könne. Alles in allem gibt Bulwer ein Beispiel sehr zu achtender akademischer Geschichtsschreibung. Sainte-Beuve dagegen, der ihm inhaltlich Schritt für Schritt folgt, kümmert sich wenig um den Politiker, sehr genau aber um die Persönlichkeit und verzichtet, gegenüber den Einwänden, die ihm nach seinem ersten Artikel gemacht werden, trotzig auf jede Rücksicht, die der gute Ton und die Schicklichkeit von ihm verlangen. Er zeichnet, mit dem vollen Einsatz seines Strebens nach Wahrheit, ein Charakterbild und unterwirft es einem moralischen Urteil, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Talleyrand war, in der abscheulichsten Weise, käuflich, und Chateaubriand, ein Mann von schärfstem Gefühl für die persönliche Ehre, sagte von ihm mit Recht: „Wenn er nic)it konspiriert, so macht er Geschäfte." Mit größter Wahrscheinlichkeit läßt sich behaupten, daß er an der Aufhebung und Erschießung des Herzogs von Enghien als Anstifter beteiligt war. ü b e r den Grad der Gewißheit, den Sainte-Beuve in seinem Aufsatz zu erkennen gibt, geht er in einem Brief an den Herausgeber des Temps noch hinaus. Talleyrand war an dem Mord beteiligt; zwinge man ihn, so werde er es beweisen. Lacour-Gayet, der Biograph Talleyrands aus der jüngsten Zeit, ist derselben Auffassung. Er wollte Napoleon durch eine Blutschuld unlösbar mit der Revolution verketten und ihn dann zum Begründer einer neuen Dynastie machen. Seit dem Kongreß von Erfurt wartete er auf Napoleons Sturz, die Restauration von 1814 war wesentlich sein Werk. Er trennte sich von dem Kaiserreich mit eisiger Kälte. Nach einem solchen Leben brachte er es fertig, sich in seinem höchsten Alter von den Vertretern der Wissenschaft, ehrenhaften Männern, in öffentlicher Akademiesitzung feiern zu lassen, ein Reineke Fuchs des neunzehnten Jahrhunderts. Ehre und Tugend werden nach einer solche^ Szene zum Ekel. In derselben berechnenden Weise, wie hier mit der öffentlichen Meinung, söhnte er sich auf dem Sterbebett mit der Religion aus. Seine Familie wünschte es, und die Kirche machte es ihm leicht, sie verlangte nicht einmal, wie es die gewissenhaften Männer von Port-Royal in ähnlichen Fällen getan hatten, die Rückgabe des zu Unrecht erworbenen Gutes. — Mit dieser Härte des moralischen Urteils zeichnet Sainte-Beuve den Tod Talleyrands. Lesen wir aber die Darstellung nach, die Lacour-Gayet uns gibt, so schwächt sich der 103
Eindruck des Berechnenden in Talleyrands letzten Handlungen ab. — Die letzte Plauderei im Temps, . zugleich Sainte-Beuves letzte größere Arbeit überhaupt, ist der Essai über den General Jomini, der vor kurzem als ein Neunzigjähriger gestorben war. Jomini war Schweizer und zunächst Kaufmann. Von den kriegerischen Ereignissen des Zeitalters ergriffen, wurde er Offizier, zuerst in seinem Heimatlande, dann im Heere Napoleons. Dort bildete er sich zu dem bedeutendsten Theoretiker der Feldzüge der Revolution und des Empire heraus. Enttäuschter Ehrgeiz und beleidigte Eigenliebe trieben ihn während des Waffenstillstandes im Frühjahr 1813 zu Kaiser Alexander von Rußland hinüber, der ihm schon in einem früheren kritischen Zeitpunkt seiner Laufbahn eine Stelle in seiner Armee übertragen hatte. Sainte-Beuve .zeichnet ihn als den Typus des Soldaten, der nur sich und sein militärisches Handwerk sieht und an kein Land innerlich gebunden ist, es sei denn seine Schweizer Heimat, der er wertvolle Dienste leistete. Er bemüht sich, seinen Frontwechsel zu erklären und zu entschuldigen, aber es gelingt ihm nicht. Jominis Gestalt bleibt uns fremd, und von seinen militärwissenschaftlichen Leistungen erhalten wir keine genauere Vorstellung. Seinen besonderen Charakter erhält dieser große Essai durch die Eindringlichkeit, mit der sich Sainte-Beuve in die Psychologie des Krieges versenkt, so wie sie bei den leitenden Offizieren erscheint. So steht dies Bild dennoch eindrucksvoll am Ende einer Reihe, die der-Tod nun unterbrach.
Fünfter Abschnitt
Pierre-Joseph Proudhon In der Zeit der Neuen Montage, aber abseits von ihnen in einer Monatsschrift, erschien eine größere Studie über Pierre-Joseph Proudhon. Der große französische Sozialist war im Januar 1865 gestorben, Sainte-Beuves Bildnis wurde noch im gleichen Jahre veröffentlicht. Als Republikaner und Sozialist gehörte Proudhon zu den Besiegten von 1848. Die sozialistische Bewegung in der französischen Arbeiterschaft aber hatte sich in Proudhons letzten Lebensjahren von ihrer Niederlage erholt und die geistige Unterstützung ihres alten Vorkämpfers gesucht und empfangen. 1864 wurde in London die erste Arbeiterinternational'e gegründet. Napoleon, der sich selbst in seiner Prätendentenzeit mit sozialistischen Gedankengängen auch literarisch befaßt hatte und nun in der Arbeiterschaft ein Gegengewicht 104
gegen die liberale Opposition zu finden hoffte, hatte die Bewegung begünstigt. Daß Sainte-Beuve, seit kurzem kaiserlicher Senator, dem sozialistischen Führer einen Nekrolog schrieb, war also in diesem Zeitpunkt des Regimes nicht allzu überraschend. Aber zwischen ihnen bestand noch eine engere politische Beziehung. Proudhon hatte sich auch während der Februarrevolution als entschiedener Gegner der bürgerlichen Demokratie gezeigt. Er erwartete von ihr kein Verständnis für seine sozialistischen Pläne und stand überhaupt dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht kritisch gegenüber. So suchte er sich, trotz seiner tiefen Erbitterung über den Staatsstreich des 2. Dezember, mit dem zweiten Kaiserreich abzufinden, um es seinen Ideen für eine gesellschaftliche Reform dienstbar zu machen. In diesem Sinne bemühte er sich auch, auf den Vetter des Kaisers einzuwirken, den Prinzen Napoleon, der überhaupt innerhalb der bonapartistischen Kreise als Vertrauensmann der Linken galt. Auch Sainte-Beuve stand mit ihm in vertrauter persönlicher Beziehung. Er gab dem Kritiker die Briefe, die er von Proudhon erhalten hatte, zur Einsicht, damit er sie für das Bildnis des Verstorbenen verwenden könne. Aber Sainte-Beuve brach seine Studie ab, als er Proudhon auf seinem Lebensgange bis an die Schwelle der Revolution von 1848 geführt hatte. Für einen Publizisten, der zu den Anhängern des zweiten Kaiserreichs gehörte, war es schlechterdings unmöglich, die Rolle eines Mannes wie Proudhon während der Jahre 1848 und 1849 objektiv, ja, mit weitgehendem Verständnis für seine Motive, zu schildern, solange Napoleon III. lebte. Auch war der Augenblick, in welchem sich der erneuerten sozialistischen Bewegung die kaiserliche Gunst zugewandt hatte, bald genug vorübergegangen. Wir finden deshalb die Briefe 'Proudhons an den Prinzen Napoleon nur in dem Anhang, den der Herausgeber der Studie aus dem Nachlaß des verstorbenen Kritikers geschöpft hat. Proudhon hatte dem Vetter des Kaisers klar zu machen versucht, daß zwischen dem ersten und dem zweiten Kaiserreich ein grundsätzlicher Unterschied bestände. Napoleon I. habe die Aufgabe gehabt, eine Revolution zugleich zu retten und zu schließen, während sein Neffe eine eben begonnene durchzuführen und zu vollenden berufen sei. Aber Napoleon III. habe sich von diesem vorgezeichneten Wege abdrängen lassen, die wirkliche Macht sei schon wieder in der Hand der Monarchisten und zur Enthüllung und Bestätigung dieses Zustandes fehle nur noch die Rückkehr Heinrichs V., des legitimen Königs. Der Sinn des Schreibens lag in einer Mahnung an den Prinzen, das zweite Kaiserreich zu retten, indem er es zu seiner revolutionären Aufgabe zurückführe. In seinen letzten Jahren sah Proudhon das Vergebliche seiner Hoffnungen völlig ein und wandte sich von dem Kaiserreich ab. Als Sainte-Beuve 105
dem Prinzen die Briefe Proudhons zurückgab, äußerte er sich auch zu seinen Gedanken über das zweite Kaiserreich. Vieles in seiner Darstellung der Ereignisse sei falsch, seine Folgerungen seien oft gewaltsam und überspitzt, richtig aber sei seine Kritik an dem Verhalten., des zweiten Kaisers gegenüber den Revolutionären und Sozialisten. Napoleon I., so bestätigt Sainte-Beuve, wählte seine Mitarbeiter aus den Kreisen aller ehemaligen Parteien, während unter der Regierung sieines Neffen die politische Linke ohne einen gesicherten Einfluß bleibt. Proudhon hoffte eine Zeitlang, daß Loui6 Napoleon die historische Mission des Sozialismus übernehmen würde, Sainte-Beuve erkannte es als notwendig, daß das Kaiserreich seinen überlieferungsmäßigen Anteil an der Revolution nicht preisgab, und darin berührten sich beide Männer. Proudhon war ein heiß umstrittener Politiker und in seiner Theorie und Praxis, dies soweit es die Machtverhältnisse ermöglichten, ein radikaler Revolutionär. Unter dem Eindruck seiner Jugendschriften hielten ihn die Gegner außerdem noch für radikaler, als er es im Endergebnis war. Sainte-Beuve fühlte deshalb die Notwendigkeit, einleitend die Wahl seines Gegenstandes zu erklären und seine Absichten zu erläutern. Indem er sich in seinen ersten Sätzen entschuldigt, daß er an dem Begräbnis Proudhons nicht habe teilnehmen können, beginnt er mit einem vollen Ausdruck seiner persönlichen Sympathie für ihn. Er erzählt von seinen Unterhaltungen mit ihm. Sie seien philosophischen Inhalts gewesen, mehr sozialistisch als politisch. Sainte-Beuve bringt damit zum Ausdruck, daß ihn an Proudhons Gedanken mehr ihre moralische, als ihre politische Seite berührt. Vergeblich sucht er ihn milder für George Sand zu stimmen. Proudhon, in seinen Gedanken über die Frau und ihre Aufgabe in der Gesellschaft ein strenger Konservativer, hält an seiner Ablehnung gegenüber der romantischen Literatur überhaupt fest. Seine Lehren will der Kritiker weder ausführlich darstellen, noch genau erörtern. Seine Aufgabe ist es, in dem großen Revolutionär den Menschen zu erfassen und zur Anschauung zu bringen. Denn es ist gut und heilsam, wenn die Schranken zwischen den Geistern fallen, soweit es möglich ist, und der Haß verschwindet, der so oft aus Vereinsamung und wechselseitiger Unkenntnis hervorgeht. Was SainteBeuve leisten will, ist ihm in diesem Sinne ein Werk der Literatur. Er stellt sich vor, daß es eine Akademie von internationaler Geltung gäbe, in die Proudhon, hätte er noch einige Jahre gelebt, aufgenommen worden wäre, treu seinem Ideal, aber gereinigt von seiner alten Bitterkeit. Das wäre eine Handlung der Versöhnung und der Gerechtigkeit gewesen. In diesem Sinne schreibt er seine Studie. Proudhon ist einer der ersten Denker, die nicht nur aus dem 106
eigentlichen Volk, der Masse der handarbeitenden Schichten der Gesellschaft stammen, sondern diese Tatsache zur Grundlage ihres Weltbildes machen. Schon hier setzt Sainte-Beuves Kritik ein, der sich trotz aller freiwilligen Beschränkung ein eigenes Urteil nicht versagt. Bedeutsamer und mächtiger als die Unterschiede der sozialen Lage erscheinen ihm die Gemeinsamkeiten der menschlichen Gesittung, die auch für die Elenden schon viel getan hat, indem sie ihnen den Weg aus völliger Sklaverei und Unterdrückung bahnte. Der vollkommene soziale Denker wäre erst derjenige, der sich über alle natürlichen Bindungen, über alle Gegebenheiten des Schicksals zu völliger Unparteilichkeit erhebt, von einem Geist des universellen Mitfühlens erfüllt.' Sainte-Beuve könnte sich für seine Kritik auf eine briefliche Äußerung Proudhons selbst berufen, die er an anderer Stelle zitiert. Trotz der Leidenschaft, mit der er seine Schlüsse zieht, und der Unbedingtheit, mit der er sie vertritt, denkt dieser bewußt in Satz und Gegensatz, um erst aus der Bewegung des Denkens, ähnlich wie Hegel, die Lösung des Problems entstehen zu lassen. Treu seinen proletarischen Ursprüngen, erkennt er doch auf der anderen Seite, daß er sich, um zur Gewißheit zu gelangen, von dem befreien muß, was er als geistiges und berufliches Eigentum bezeichnet und als Fessel betrachtet. Aber diese Absicht, so urteilt Sainte-Beuve, gelingt ihm nicht. Der Kritiker kommt später nochmals auf diesen Punkt zurück. Proudhon strebt, seiner Anlage entsprechend, danach, ein einfacher Schriftsteller zu bleiben, halb Denker, halb Kämpfer, niemandem verpflichtet, aber die Verhältnisse um ihn bieten ihm keinen Stützpunkt. Ein überlegener Staatsmann, im dauernden Besitz der Macht, hätte vielleicht in ihm den Mann von Talent erkannt, ihn gefördert und gleichzeitig gemäßigt, aber ein solcher war nicht da. Doch hätte sich Proudhon schwerlich eine solche Schirmherrschaft in der Art Richelieus und Ludwigs XIV. gefallen lassen. Dennoch hat Sainte-Beuve die Gefahr und Schwierigkeit dieses Lebens richtig verstanden. Proudhon ist ein selbständiger Denker und Kritiker in einer nach Parteien zerrissenen Zeit. Keine kann ihn ganz für sich in Anspruch nehmen. Er selbst ist von Hause aus arm, auch paßt er, nach seinem autodidaktischen Bildungsgang, nicht in die Körperschaft dei Gelehrten. So kommt er, von allen Seiten angegriffen und von seinem eigenen kämpferischen Temperament vorwärts gepeitscht, niemals zur Ruhe und zur vollen Entwicklung seiner Lehre. Glücklicher ist das Los solcher freien Geister in einer Gesellschaft, die von der Revolution noch nicht völlig durchpflügt ist und in der sich ältere Institutionen noch eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt haben, wie es damals im deutschen Sprachgebiet der Fall ist. In voller Freiheit und unangegriffen kann Jakob Burckhardt an der Universität Basel 107
wirken, obwohl seine Geschichtsauffasung keiner der herrschenden Mächte seiner Zeit entspricht. Und auch Nietzsches Unabhängigkeit ist noch in dieser Sphäre begründet. Obwohl Sainte-Beuve dem Lebensgang Proudhons nur bis zum Ausbruch der Februarrevolution folgt, vermag er uns doch ein rundes Bild seiner Persönlichkeit zu geben, weil diese, wie stets, schon in der Jugend klar hervortritt und sich gleichbleibt. Anders mit seiner Lehre. Proudhon hält zwar an gewissen Grundgedanken, wie sie aus Charakter und Erfahrung entstanden sind, unerschütterlich fest, aber er entwickelt sie bruchstückweise, in ständigem Ringen mit einer wechselnden politischen Wirklichkeit, die er unmittelbar beeinflussen möchte, also auch nicht ohne Schwankungen im einzelnen, so daß es nicht leicht ist, sein Weltbild richtig zu zeichnen. ScfinteBeuve aber, der ursprünglich die Absicht hatte, seine Studie fortzusetzen, kommt nicht dazu, uns sein letztes Wort zu sagen. So sind wir genötigt, uns an einzelne Punkte zu halten. Proudhon beginnt seine eigentliche Laufbahn als Schriftsteller mit einem Angriff gegen das Eigentum: Eigentum ist Diebstahl. Diese Lehre in ihrer radikalen Zuspitzung zu erörtern unterläßt Sainte-Beuve, sei es, daß er sich eine Stellungnahme zu ihr für später vorbehielt, sei es, daß er eine Widerlegung nicht für nötig hielt. Seine eigene Auffassung findet sich in dem ungedruckten Material zu seiner Studie, Danach erscheint ihm das Eigentum als ein Privileg, das in jeder Generation erneuert und durch Arbeit gerechtfertigt werden sollte. Kann es überhaupt gerechtfertigt werden, wie er meint, so müssen wir seine Meinung dahin verstehen, daß es kein Diebstahl ist. Aber es beruht auch nicht, und darin gibt er Proudhon ausdrücklich recht, auf dem Naturrecht, sondern ist eine menschliche Einrichtung, gegründet auf das bürgerliche Recht und die allgemeine Übereinkunft. Als solche ist sie wandelbar und beweglich, und Sainte-Beuve erkennt vollständig an, daß der Begriff des Eigentums im römischen oder feudalen Sinne in der neueren Zeit sich mehr und mehr auflöst. Doch gibt er es darum der moralisierenden Kritik Proudhons nicht preis. Das Eigentum ist ihm eine unvollkommene Einrichtung, wie alle anderen menschlichen Werke auch, aber es *kann, und soll, verbessert werden. Das. vornehmste Mittel, es im heutigen Geiste neu zu begründen, ist für ihn die Arbeit. Auch Proudhon hat sich ja im Lauf der Zeit mehr und mehr von seiner ersten Formel entfernt, die als radikale Verneinung des Eigentums aufgefaßt werden mußte, und danach gestrebt, das Eigentum auf dem Wege der Assoziation und der gegenseitigen Hilfe allgemein zu machen. In den Vereinigungen der Arbeiter verwirklichen sich die Gedanken Proudhons, das sieht Sainte-Beuve und findet es gut. Die politische Gleichheit und die108
jenige vor dem Gesetz besteht, der wirtschaftlichen wird man sich mehr und mehr nähern, wenn sie auch nie ganz erreicht werden sollte. So zeigt sich, daß Sainte-Beuve, trotz vieler Einschränkungen, in seiner Grundauffassung vom Eigentum und seiner sozialen Berechtigung Proudhon sehr nahesteht, und er kann von sich sagen, daß ihn eine natürliche Neigung und der Wunsch zu denselben sozialreformerischen Gedanken führen, wie jenen seine Uberzeugung. Sechster Abschnitt
Port-Royal Wenige Jahre nach diesem unvollendeten Bildnis des entschiedenen Gegners der Kirche erschien die letzte und endgültige Auflage des großen Werkes über die Bewegung von Port-Royal, mit dem sich Sainte-Beuve für alle Zeiten einen ehrenvollen Platz unter den Darstellern christlicher Frömmigkeit gesichert hat. Die Gedanken an diesen Gegenstand können wir im Geiste des Verfassers bis ins Jahr 1834 zurückverfolgen. Der erste Band der ersten Auflage erschien 1840, der fünfte und letzte 1859. Im folgenden Jahre und dann wieder 1867 gab Sainte-Beuve eine neue Auflage mit Verbesserungen und Erweiterungen heraus. Neben der fast unübersehbaren Fülle von einzelnen Arbeiten über 'weit auseinanderliegende Gegenstände geht also dies eine große Werk über dreißig Jahre einher. Es verdient deshalb seinen Platz am Ende dieser Darstellung seiner schriftstellerischen Leistung. Port-Royal war ein Nonnenkloster in der Nähe von Paris, das jahrhundertelang im Verborgenen nach der Regel der Cistercienser lebte, dann aber zur Zeit Richelieus von einer jener Reformbewegungen ergriffen wurde, mit denen die alte Kirche dem Protestantismus entgegentrat. An die Stelle der alten Klosterdisziplin, die lässig gehandhabt wurde, trat möglichst eine völlige Trennung von der Welt, verbunden mit einer leidenschaftlichen, in mystische Vorstellungen hinüberführenden Askese. Um die Frauen des Klosters scharten sich hervorragende Männer, einige als priesterliche Gewissensberater, andere auch- als Einsiedler im Schatten der Klostermauern. Die Frauen und Männer von Port-Royal dachten nicht an eine Trennung von der alten Kirche, an der sie vielmehr mit Leidenschaft hingen. Aber die Umstände, wie überhaupt die ganze kirchliche Lage, brachten sie bald in Verbindung mit dem Jansenismus, einer theologischen Richtung, die entgegen dem herrschenden Thomismus die Lehre 109
Augustins von der Gnade erneuern wollte und dadurch in bedenkliche Nähe zu den kalvinistischen Gegnern des Katholizismus geriet. In ihrer Bekämpfung ging Hand in Hand mit dem Papsttum das Königtum, das noch mit Schaudern in den Abgrund der eben überwundenen Religionskriege zurückblickte. Anders gruppierten sich die kirchlichen Streitkräfte, als aus der Mitte der Männer von Port-Royal Pascal auftrat und mit den Briefen eines Provinzialen in ihrem Auftrag seinen Stoß gegen den Jesuitenorden führte. In diesem Kampf hatte Port-Royal die Sympathien derjenigen Kreise für sich, die nationalkirchlich dachten und im Sinne des Gallikanismus dem französischen Königtum und seinem Episkopat eine unabhängige Stellung gegenüber den Ansprüchen des Papsttums wahren wollten. Am Ende der Regierung Ludwigs XIV. schritt aber doch die Staatsgewalt gegen Port-Royal ein, das Kloster wurde aufgehoben, die Gebäude ließ man zerstören und sogar die Gräber vernichten. Der Jansenismus überlebte aber den Untergang von Port-Royal und dauerte als eine Unterströmung innerhalb des Kirchenwesens während des ganzen 19. Jahrhunderts fort. Seine Anhänger zeichneten sich durch die Strenge ihrer religiösen Begriffe und die Betonung des gallikanischen Standpunktes in den Streitigkeiten mit dem Jesuitenorden aus. Durch den Versuch der Revolution, eine französische Nationalkirche zu gründen, wurde auch die Erinnerung an Port-Royal wieder belebt. Dann freilich stellte Napoleon durch das Konkordat jenen Zustand des Bündnisses zwischen dem französischen Staat und der päpstlichen Kurie wieder her, an dem die Bewegung von 'PortRoyal einst gescheitert war. Erst durch die Julirevolution entstand eine Lage, in der einzelne Geister für die Erinnerungen von PortRoyal wieder empfänglich wurden. Der Katholizismus, so schien es ihnen, würde in Zukunft den Schutz des Staates entbehren müssen, dafür aber auch frei von seiner Bevormundung werden. Er mußte, und durfte, sich Hilfskräfte von anderen Stellen holen. Vor diese Aufgabe gestellt, suchte Lamennais für seine Kirche das Bündnis mit der Demokratie. In seinen Kreisen tauchte aber auch der Gedanke auf, PortRoyal neu zu gründen oder etwas ihm Ähnliches zu schaffen. Das charakteristische Merkmal jener historischen Klosterreform bestand ja in der engen Verbindung des priesterlichen und des Laienelements, und gerade darauf kam es jetzt an. Vielleicht war es Lamennais, der seinen jüngeren Freund Sainte-Beuve in jenen Jahren zuerst auf das Schrifttum des J§nsenismus hinwies. Gewiß ist, daß der Gedanke, ein Werk über Port-Royal zu schreiben, in dem Kreise um ihn gereift ist. Sainte-Beuve plante jedoch wohl von Anfang an eine Darstellung nicht nur der religiösen, sondern auch der literarischen Geschichte. Diese Verbindung war durch die Gestalt Racines gegeben, der als 110
Knabe in der Schule von Port-Royal erzogen wurde und am Ende seiner Laufbahn als Dramatiker wieder in die geistige Welt dieser Bewegung zurückkehrte. Sainte-Beuve ging aber weit über diesen Ansatzpunkt hinaus. Er gewährte der Literatur in seinem Werk einen so breiten Raum, daß die literarischen Abschnitte den religiösen fast die Waage halten. Dabei leitete ihn der Gedanke, daß die Kunst zu allen Zeiten der Religion Großes zu verdanken hat, auf diesem aber beruht zum großen Teil die Apologie des Christentums, mit der Chateaubriand die Epoche der Romantik und der religiösen Restauration in Frankreich eingeleitet hatte. Sainte-Beuve verkehrte damals viel in dem Kreise Chateaubriands bei Frau von Recamier, und man darf annehmen, daß er auch von diesem bei den ersten Gedanken zu seinem Hauptwerk gefördert worden ist. Aus Plänen und Skizzen zur Wirklichkeit gelangte es aber erst in Vorlesungen, die er 1837 an der damaligen Akademie, späteren Universität zu Lausanne hielt. Seinen Zuhörern dort ist die erste Auflage des ersten Bandes gewidmet, und Sainte-Beuve gibt in seinem Vorwort eine ausführliche Erzählung über diese Art der Entstehung seines Werkes. Die inneren Verhältnisse an der Lausanner Hochschule berührt er jedoch nur mit wenigen Worten. Seine Berufung an diese zu einer Gastvorlesung erscheint als das zufällige Ergebnis einer persönlichen Beziehung. Aber man nahm in der kleinen Republik des Kantons Waadt und in seiner Hauptstadt Lausanne Fragen der Erziehung und vor allem der Kirche sehr ernst, und die maßgebenden Männer hätten sich nicht entschlossen, den romantischen Dichter und Schriftsteller Sainte-Beuve zu einer Vorlesung über das katholische Port-Royal einzuladen, wenn sie darin nicht eine Förderung ihrer eigenen Bestrebungen gesehen hätten. Der Calvinismus bildete im Kanton Waadt -die Staatsreligion, die Akademie von Lausanne war schon in den Anfangszeiten der Schweizer Reformation. 1537, als Seminar für protestantische Theologen gegründet worden, sie hatte ihren alten weltanschaulichen Charakter bewahrt, und so ist nicht zu übersehen, daß an der Wiege von Sainte-Beuves Port-Royal auch der Protestantismus stand. In welchem Sinne, zeigt am besten ein Blick auf Alexander Vinet, der gleichzeitig mit jenem als Professor für praktische Theologie an der Akademie von Lausanne eingeführt wurde. Vinet ist eine der bedeutendsten Persönlichkeiten, nicht nur des französischen, sondern des Protestantismus während des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt. Er begann seine Laufbahn als Lehrer der französischen Sprache und Literatur am Gymnasium in Basel und bewahrte sich ständig eine lebendige Teilnahme an der französischen Dichtung, die er auch als Kritiker betätigte. Dadurch kam er zuerst in briefliche Verbindung mit Sainte-Beuve. Am stärksten beschäftigten 111
ihn aber zeitlebens Fragen des Glaubens und der Kirche. Der Öffentlichkeit wurde er zuerst durch seine Denkschrift über die Freiheit der Religionsübung bekannt. Vinet forderte vom Staat, daß er dem einzelnen volle Freiheit lasse, seine Beziehungen zum Göttlichen so zu regeln, wie es ihm gefiele, oder auch ganz darauf zu verzichten. Für seine Person bekannte er sich zu einem christlichen Glauben, der von der pietistischen Erweckungsbewegung seiner Epoche geformt war. Lange nachdem Sainte-Beuve Lausanne wieder verlassen hatte, nahm er in einem Kampf um die Freiheit der Glaubensübung seinen Abschied als 'Professor und errichtete mit anderen in seinem Heimatlande eine freie protestantische Kirche. Vinet hat sich viel mit Pascal beschäftigt. W i e dieser war er zugleich ein Mann der Wissenschaft und des Glaubens, und zwar eines praktischen Glaubens, der den Bedürfnissen seiner Natur entsprach und sich in seiner Lebensgestaltung ausdrückte. Dieser Art war auch die Religiosität von PortRoyal, zu dem ja Pascal nicht ganz zu rechnen ist. Nicht Vinet war es, der Sainte-Beuve auf den W e g von Port-Royal gewiesen hat, auch wissen wir nichts davon, daß er für seine Berufung nach Lausanne eingetreten wäre. Aber seine Persönlichkeit bedeutete für Lausanne zweifellos mehr als diejenige Sainte-Beuves, und die maßgebenden Männer hätten diesen nicht zu einer Gastvorlesung über Port-Royal eingeladen, wenn sie sich dadurch in Widerspruch zu dem Geiste Vinets gesetzt hätten. Auch gehörte dieser zu Sainte-Beuves regelmäßigen Hörern, soweit es seine Gesundheit gestattete. So ist dies große religionsgeschichtliche Werk ein Erzeugnis jener auch kirchlich tief erregten Jahre nach der Julirevolution, aus einer bestimmten Phase in der Geschichte des Christentums entstanden, und wir haben uns immer wieder zu fragen, wie Sainte-Beuve dieses darstellt und wie er für seine Pérson dazu steht, damit wir sein Port-Royal selbst als das begreifen, was es ist: ein großes Denkmal auf dem Wege, den das religiöse Gefühl während des neunzehnten Jahfhunderts zurückgelegt hat. Der endgültigen Ausgabe seines Werkes schickt der Verfasser zwei Vorworte voraus, eins von 1840, eins von 1866. Sie unterscheiden sich deutlich im Ton voneinander. Das erste bekennt sich zu dem Versuch, eine Vereinigung zwischen dem Geist von Port-Royal und dem des Calvinismus herzustellen, stellt also ein religiöses Ziel auf, während das zweite dem Ganzen ausdrücklich einen literarischen Zweck gibt. Als Einleitung dient Sainte-Beuve dann die Eröffnungsvorlesung, die er in Lausanne gehalten hat. Sie ist von größter Bedeutung für seine Auffassung des Gegenstandes. Port-Royal, zwischen zwei Jahrhunderten des Unglaubens stehend, gehört selbst dem siebzehnten als dem einer großen Regeneration der Kirche an. Seine 112
geistigen Führer, Saint-Cyran, Jansenius und Pascal, sehen die Gefahr für den Glauben in dem Vordringen einer Denkweise, die im Geiste der Renaissance und des Humanismus, wenn auch zunächst noch an christliche Dogmen anknüpfend, dem Menschen die Kraft zuerkennt, aus sich selbst zu einer Uberwindung seiner Schwächen und Fehler zu gelangen. Dringt sie durch, so ist das Christentum überflüssig. Deshalb legen jene Männer allen Nachdruck auf die Dogmen vom Sündenfall und der Gnade. In diesen sieht auch SainteBeuve den Kern des Christentums. Er stellt sich dann weiter die Frage, worin die Ursachen für den raschen und überwältigenden Sieg der Philosophie im achtzehnten Jahrhundert bestehen. Sie bricht in die Lücke zwischen Jansenisten und Jesuiten ein. Diese sind schon in dem Kampf zwischen den beiden katholischen Parteien schwer getroffen worden, jene aber, die Jansenisten und die Männer von PortRoyal, haben es nicht vermocht, eine freie Form des Glaubens zu finden, die den Geist des achtzehnten Jahrhunderts hätte mäßigen können. Durch die Starrheit, mit der sie ihre Sache verfechten — das scheint Sainte-Beuves Auffassung zu sein —, verfehlen sie ihr Ziel. Danach wäre also ein freier, und doch seines Bekenntnisses gewisser Protestantismus, wie ihn Sainte-Beuves Gastgeber vertreten, besser geeignet, das Christentum gegen den Geist der Zeit zu verteidigen! Unvermindert bleibt aber das Verdienst der moralischen Haltung Port-Royals. Diese Männer besaßen in höchstem Maße die Fähigkeit, Autorität auszuüben. Sie fehlt unserer Zeit so sehr, so sagt SainteBeuve seinen Hörern, daß wir sie wie einen kostbaren Besitz bei ihren Meistern studieren müssen. Und er wiederholt nun das Wort eines Staatsmannes seiner Jugend, der selbst aus jansenistischer Familie stammte: „Wer Port-Royal nicht kennt, dér kennt die Menschheit nicht!" Royer-Collard, der dies Wort geprägt hat, wird uns noch beschäftigen, Sainte-Beuve-hat leider nie Anlaß gefunden, ihm eines seiner Bildnisse zu widmen, ihn aber oft erwähnt. Für seine persönliche Stellung zu seinem Gegenstand ist es bedeutsam, daß er von Anfang her die religiöse Betrachtung von der moralischen trennt. Port-Royal als religiöse Bewegung scheint ihm historisch bedingt zu sein, die Größe seiner sittlichen Haltung aber ein Beispiel von dauerndem Wert. Schon die Einleitung zeigt außerdem, wie Sainte-Beuve sein Thema zu behandeln denkt. Er sieht die Bewegung von Port-Royal nicht als ein Kapitel der Kirchengeschichte, sondern als ein Teilstück aus dem langen Kampf des dritten Standes um seine Befreiung von der Herrschaft der Monarchie und der Kirche. War der Calvinismus zum Teil von der Opposition des niederen Adels gegen das absolut werdende Königtum getragen worden, so ist der. Jansenismus die Religiosität 8 Deiters, Sainte-Beuve
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des höheren Bürgertums, eine nüchterne, strenge, von Äußerlichkeiten des Kultus freiere Form des Katholizismus, die zu einer gallikanischen Reform von Innen her hätte führen können, wenn jene mittlere Klasse selbst nicht schon zu tief in die Weltlichkeit verstrickt gewesen wäre. Da die Männer von Port-Royal ihre Sache mit der Feder in der Hand verfochten, so ist sie auch von Bedeutung für die Entwicklung der französischen Literatur geworden. Sainte-Beuve wird in weitestem Umfange von der Möglichkeit Gebrauch machen, die feineren Beziehungen zwischen Port-Royal und der Dichtung des klassischen Zeitalters in Übereinstimmung und Gegensatz aufzuweisen. Saint-Cyran, das geistige Haupt aller derer, die ganz zu PortRoyal gehören, stellte nicht lange vor seinem Tode eine Theorie der christlichen Literatur auf. Der christliche Schriftsteller fühlt sich als das Werkzeug Gottes, er will nur seinen Glauben zum Ausdruck bringen und kümmert sich nicht um die künstlerische Form. Die Literatur von Port-Royal, so sagt Sainte-Beuve, ist ganz von dieser Theorie beeinflußt, sie ist weitschweifig, unscharf und ohne Eleganz. Nur Pascal besaß die Kunst des Schreibens und übte sie scheinbar mühelos. Was Saint-Cyran an der Literatur antiker Art verwarf, war die Herrschaft der Form ohne den ernsten Gehalt. Was er von dem Schriftsteller aus Überzeugung forderte, war der unmittelbare, schmucklose Ausdruck seiner Gedanken, der Gehalt ohne Rücksicht auf die Form. Pascal nun besaß beides, die Aufrichtigkeit der Gesinnung und die Gabe der Darstellung. So gelangte er zu einer unverhüllten, strengen und großartigen Schönheit der literarischen Form. Dies war der größte Dienst, den ein aufrichtiger Glaube von seiner Seite her der nationalen Literatur leisten konnte. Wenn wir einen Augenblick an die Härte denken, mit der Sainte-Beuve ein paar Jahre später Kritik an Chateaubriand übte, an der Echtheit seines Glaubens ebenso wie an seinem Stil, so verstehen wir die volle Bedeutung einer solchen Äußerung für den Kritiker selbst und fühlen, wohin die geheime Sehnsucht dieses Menschen ging! ü b e r den Plan seiner umfangreichen und vielfältig verschlungenen Darstellung gibt uns Sainte-Beuve selbst zu Beginn Auskunft. Er verspricht uns eine Geschichte des Klosters von Port-Royal und seiner Reform, bis zu seinem Ende. Trägerin der Bewegung ist vor allem die Familie Arnauld, deren verschiedene Glieder, weibliche und männliche, zu ihrer Größe zusammenwirken. Anfangs folgt die Darstellung den Ereignissen Schritt für Schritt, auch das Kleinste kann wichtig sein, dann aber, als die Reform zur Reife gelangt und uns in ihren Hauptzügen bekannt geworden ist, bewegt sie sich freier um sie herum. Dichtung, Sittenlehre und Theologie der Epoche, soweit sie in den Lebensbereich von Port-Royal liegen, werden einbezogen. 114
Die Reform von Port-Royal und der Jansenismus, selbständige Erscheinungen, verknüpfen auf der Höhe ihres Daseins ihr Schicksal miteinander. Den theologischen Streitigkeiten will der Verfasser nur so weit folgen, w i e das Gesamtbild es verlangt. Diesen Plan hat SainteBeuve in über zwanzig Jahren, bis zum Abschluß der ersten Auflage, durchgeführt, und nur in den letzten Teilen spüren wir eine gewisse Ermattung, die aber auch in dem Niedergang von Port-Royal selbst ihren Grund hat. W i r ahnen, wenn wir sorgfältig folgen und die Zitate aus den Quellen beachten, welches unendliche W e r k der Nachschöpfung Sainte-Beuve vollbracht hat, um die Masse des höchst ungleichwertigen Stoffes in eine lebendige Form zu fassen. V o n den bedeutenden Kritikern, die er gefunden hat, wirft Renan ihm vor, daß er zu wenig den allgemeinen Gang der Geschichte, zu sehr aber die einzelnen Ereignisse beachtet habe. A b e r dieser Tadel berücksichtigt zu wenig die besonderen Eigenschaften dieser Darstellung. Sainte-Beuve sucht gerade die anschaulichen Einzelzüge, die Eigenheiten der Personen, die Zufälligkeiten der Ereignisse, das unmeßbare Leben selbst. A l l e Leser haben von jeher die poetische Kraft seiner Darstellung gerühmt. W i r werden in dies enge Leben, diese abseitigen oder überhöhten Seelenzustände langsam, unmerklich, aber unwiderstehlich hineingezogen, in eine W e l t , die ihre eigenen Gesetze hat, sich in ihnen aber mit voller Wirklichkeit bewegt. V i e l e seiner ersten protestantischen Hörer, obwohl in Abneigung gegen klösterliche Askese erzogen, haben sich diesem Zauber nicht entziehen können, andere ihn nur durch Spott von sich abzuwehren vermocht. Henri Bremond erhebt in seiner großen Geschichte des religiösen Gefühls in Frankreich seit dem Ende der Religionskriege gegen Sainte-Beuve den Vorwurf, daß er die Bewegung von Port-Royal nach ihrer religiösen Bedeutung überschätzt habe, weil er die zeitlich benachbarten Erscheinungen zu wenig gekannt habe. Einem so hervorragenden Kenner dieses Gebietes w i e Bremond werden wir gern zugeben, daß er in seiner vergleichenden Betrachtung recht hat. Die historische Größe von Port-Royal besteht aber weniger in dem, was es mit anderen religiösen Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche gemein hat, als in seiner abweichenden Haltung, in seinem Kampf gegen die allgemeine Strömung. Es mag aber mit dieser historischen Beurteilung stehen, w i e es will, die Kraft, mit der SainteBeuves Darstellung an sich auf uns wirkt, wird davon nicht berührt. Derjenige Kritiker, der ihr am meisten gerecht wird, weil er sie mit dem richtigen Maß mißt, ist Taine. In der Vorrede zur Geschichte der englischen Literatur rühmt er Port-Royal neben Carlyles Cromwell als Beispiel der psychologischen Geschichtschreibung. Unter der einförmigen Hülle der geistlichen Tracht, der strengen Herrschaft der 8*
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klösterlichen Ordnung erscheint die individuelle Verschiedenheit der Charaktere, das Aaf und Ab des religiösen Gefühls. Uns bleibt, fügen wir es hinzu, der Eindruck der Freiheit und des Heldenhaften. Suchen wir die Stelle, an der wir den Geist des ganzen Werkes am klarsten erkennen können, gleichsam das innere Heiligtum dieses weiten und verschlungenen Gebäudes, so gelangen wir zu dem Teil über Pascal und in diesem wieder zu den Abschnitten, in denen jener, Montaigne und Molière einander gegenübergestellt werden. Bevor Pascal endgültig in die Gemeinschaft von Port-Royal eintritt, hat er eine entscheidende Unterhaltung mit dem der Zeit nach zweiten großen Leiter der Bewegung, mit Saci, in der er die einfachen Grundzüge seines Weltbildes aufzeichnet. Seit der Renaissance steht das Christentum in einer gefährlichen Auseinandersetzung mit 'der Philosophie, die aus den Grenzen der Scholastik herausgetreten ist. Zwei gegensätzliche Denker, Epiktet und Montaigne, vertreten für Pascal die gesamte Philosophie in ihrem Verhältnis zum Glauben. Der Stoiker Epiktet denkt von dem Menschen so hoch, wie es nur möglich ist, er betrachtet ihn als ein Glied des göttlichen Weltganzen, aber er übersieht die Schwäche des Menschen und bürdet ihm Pflichten auf, die er nicht zu erfüllen vermag. Montaigne dagegen, der Skeptiker, sieht den Menschen als bloße Natur, ein Spiel seiner Gedanken u n d Empfindungen. Die christliche Lehre vom Wesen des Menschen hat allein die Mittel, diesen Streit der Philosophie zu schlichten. Der Mensch ist ein doppeltes Wesen, natürlich und göttlich zugleich, das Göttliche triumphiert in ihm durch die Gnade. Dies ist die Begründung, die Pascal für seine Bekehrung gibt. Und Sainte-Beuve scheint ihm in diesen Engpaß des Denkens zu folgen! Wir alle, so sagt er seinen Hörern, haben ein Stück Montaigne in uns. Alles, was in uns angeborene Natur ist oder aus ihrer Verfeinerung entsteht, Geschmapk an der" Kunst, Wissenstrieb, Sinn für die Landschaft und ihre Gewächse, das gesamte unsterbliche Heidentum, das bis zum Erscheinen des Christentums die Welt beherrschte und unter ihm weiterlebt, nur noch ausgebreiteter und vielfältiger, ist Montaigne. Denken wir uns seine Totenfeier im Reiche der Geister! Ihm würden alle Großen folgen, deren Denken um das Individuum und um die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens kreiste, Bayle, La Fontaine, Molière, Voltaire, Rousseau und viele andere. Sie alle würden von ihrem eigenen Ich sprechen und es an dem des Verstorbenen messen. Keiner aber wüßte Antwort auf die Frage, wo das Ich des Verstorbenen sich nun befindet, ob es ein Dasein hat, nachdem es aus der Welt der gegenseitigen Beziehungen verschwunden ist. Gibt es eine Wahrheit im strengen Sinne, ein unbedingtes Sittengesetz, so können 116
Montaigne und alle die Berühmten aus seinem Trauergefolge nicht bestehen, wenn sie an einem der schlichten Heiligen von Port-Royal gemessen werden. Als Sainte-Beuve in dem ersten Teil seines Werkes die Glaubenstreue der jungen Äbtissin Angelika schilderte, nahm er von dort aus den Weg zu Corneille und seinem Märtyrerdrama Polyeucte. Jetzt von Pascals Briefen eines Provinzialen wendet er sich zu Molière und seinem Tartuffe. Auch er stellt die menschliche Natur gleichsam in seiner Person dar, aber vollständiger und freier als Montaigne, fast so wie Shakespeare. Der Schöpfer großer Lustspiele übertrifft den philosophischen Skeptiker durch die Fähigkeit zur Hingabe, zur Liebe gegenüber dem Menschen. Die Moral der ehrenhaften Leute, die er in sich verkörpert, gemischt aus alten Bestandteilen des Christentums und Bruchstücken der Philosophie, bedeutet einen Fortschritt gegenüber der Barbarei, aber sie versagt in Zeiten der Krise. Sainte-Beuve erfindet ein Gespräch zwischen Molière und Pascal. Der Dichter klagt dem Denker das Leid, das ihm getäuschte Liebe und Undank der Welt bereitet haben, und beide sind sich in ihrem Urteil über die Gebrechlichkeit des Menschen einig. Pascal aber findet durch seinen Glauben einen Ausweg aus der Not, während Molière in bitterem Schweigen endet. Pascals Gedanken über das sittliche Elend des Menschen sind diejenigen seiner Zeitgenossen, und Sainte-Beuve weiß sie" nicht nur mit Nachdruck zu wiederholen, sondern es sind auch seine eigenen. Auch weiß er, daß sie der christlichen Vorstellung entsprechen, so daß schon unter seinen Hörern in Lausanne die Frage entstanden zu sein scheint, wann er Pascal auf seinem Wege folgen werde. Unter diesen war keiner besser befugt, sie zu beantworten, als Vinet. Sainte-Beuve stand mit ihm auch persönlich in enger Beziehung, während er sich in Lausanne aufhielt, und hat ihm noch in seinem Werk selbst bekundet, daß er ihn als einen wahren Christen verehrt. Vinet hat sein Urteil über Sainte-Beuves Verhältnis zum christlichen Glauben in einer Besprechung des ersten Bandes von Port-Royal, 1840, abgegeben. Er sieht in ihm einen Christen von Anlage und Temperament. Wer Port-Royal so darzustellen vermag wie er, ist entweder schon ein Christ oder im Begriff, es zu werden. Aber die weitere Entwicklung Sainte-Beuves hat ihm nicht recht gegeben. Dieser hat sich während der Arbeit mehr und mehr von dem Gegenstand seines Werkes entfernt. In seinem Schlußwort von 1857 sagt er, daß es ihm niemals gelungen sei, anders in das Christentum einzudringen, als um es zu verstehen und zu deuten. Was aber hat ihn dann zu diesem Versuch getrieben? Er selbst spricht von dem poetischen Zauber, der ihn eine Zeitlang beherrscht habe. Als später 117
Nachfahre Chateaubriands und vieler anderer ergibt er sich zuzeiten dem romantischen Reiz einer religiösen Vergangenheit. Weiter nennt er uns den Trieb des Forschers, die Menschheit in allen ihren wechselnden Formen zu erkennen, der ihn in dies Labyrinth von Glaubenslehren geführt habe. Dies ist sein letztes Wort, und in der Tat hat er in seinem Vaterlande das Zeitalter der religionswissenschaftlichen Untersuchungen, auf historischer oder psychologischer Grundlage, mit heraufgeführt und damit fördernd auf Renan gewirkt. Aber seine Antworten befriedigen uns nicht, wenn wir uns der Eindrücke, die dies große Werk auf uns ausgeübt hat, zusammenfassend erinnern, nach Möglichkeit gelöst von der Person des Verfassers. Wie alle, die sich seit jeher mit ihm beschäftigt haben, geraten wir dabei in Widersprüche. Wir haben es mit einer historischen Darstellung zu tun, die in zeitlichem Abstand an uns vorüberzieht, und zugleich mit einem Kunstwerk, das dem Bereich der Phantasie angehört und als solches gegenwärtig ist, unmittelbar auf uns bezogen. Wir haben keine Schöpfung des Glaubens vor uns, aber eine Erzählung, die den Glauben ernst nimmt, auch wenn sie ihn nicht teilt. Bald angezogen, bald abgestoßen folgen wir dem Erzähler in unruhiger Bewegung. Sainte-Beuve hat nichts getan, um uns durch eine systematische Entwicklung seines eigenen Standpunktes Klarheit zu verschaffen. Ein solches Verfahren hätte im Widerspruch zu der Art seines Talents gestanden. Aber einzelne Stellen zeigen uns doch den Ausweg aus den inneren Schwierigkeiten, die uns dies Werk bereitet. Schon die Einleitung gab uns einiges Licht. Am deutlichsten aber spricht jene große Betrachtung über die Heiligkeit, im dritten Bande, zu uns, die auch Victor Giraud mit Nachdruck zitiert. Die Heiligkeit ist ein dauernder Zustand des menschlichen Wesens. In ihm erhebt es sich zum Unendlichen und lebt in Harmonie mit der Weltordnung. Dieser Zustand ist unabhängig von bestimmten Glaubensartikeln. Konfuzius glaubte nicht an die Unsterblichkeit der Seele, wohl aber an Gott und an das Band, das den Menschen mit dem Himmel verbindet. Auch der Buddhismus hat Heilige, obwohl es dort nicht einmal mehr einen persönlichen Gott gibt. Im griechischen Volke, dessen Leben sonst von einer natürlichen Ethik getragen wurde, erblüht die Idee des Heiligen zuerst bei Piaton. Unter der Herrschaft der Römer befleckten unsägliche Ausschreitungen das Bild der Menschheit. Um sie davon zu lösen, nahm das Heilige im Christentum die Gestalt der Buße und Reue an. Am Ende einer langen Reihe stehen als letzte Heilige Pascal und die Männer und Frauen von Port-Royal. Wenn aber Heiligkeit als Zustand der Seele von äußeren Formen unabhängig ist, so erhebt sich die Frage, ob die christliche Gestalt die letzte sein muß, in der es auftritt. Gibt es eine 118
Möglichkeit für uns, es in seiner ursprünglichen Schlichtheit und Natürlichkeit zu erneuern, unabhängig von den Gewaltsamkeiten der mönchischen Praxis? W i r wissen es nicht, und solange wir die neue Form nicht kennen, wollen wir die alte mit Geduld studieren, auch wenn unser heutiges Weltgefühl dabei zuweilen verletzt wird. Die moralische Größe von Port-Royal ruht in seinen Heiligen. Ohne sie wäre es nur ein Grab, durch sie bietet es uns einen Ausblick auf die ewige Wahrheit. W i r verstehen nun den geschichtlichen Standort des W e r k e s und seine dauernde Bedeutung. Der Plan dazu wurde gefaßt, kurz nachdem die Restauration in Frankreich zusammengebrochen war. Eine neue Religion der Diesseitigkeit schien heraufzusteigen. W e n n das Christentum sich behaupten wollte, so mußte es sich aus seinen inneren Kräften erneuern. W o aber sind diese zu finden? Es liegt im W e s e n dieser Religion, daß sich' der Blick dabei auf die Vergangenheit richtet. Port-Royal ist für Frankreich das letzte große Beispiel unbedingten Christentums, bevor die neue Zeit mit ihren ganz anderen Auffassungen sich siegreich ausbreitet Dieses Kloster, mit den Priestern und Laien, die sich darum sammeln, steht nun für das Christentum selbst stellvertretend da. W a s der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach gleichzeitig mit den Mitteln der Hegeischen Geschichtsphilosophie unternahm, versuchte der französische Kritiker mit denen des Geschichtsschreibers und des Künstlers. Sainte-Beuves Port-Royal ist auch ein „ W e s e n des Christentums". Vinet meinte zwar in seiner Besprechung, daß dies hier nur von seiner rauhen und düsteren, nicht aber von seiner milden Seite her gezeigt werde. Diese Bemerkung ist an sich richtig, und Renan wird später die Zeichnung Sainte-Beuves in diesem Sinne ergänzen. A b e r da es sich um die Bewährung im Kampf mit einer feindlichen W e l t handelt, so ist die radikale heroische Betrachtung doch die richtige. W i r werden zur Prüfung des Christentums aufgerufen, nicht durch eine dogmatische oder philosophische Erörterung, sondern durch ein Nacherleben. Dies aber hat nicht den Sinn einer unbeteiligten Schau, sondern einer ernsthaften Erfahrung, aus der sich Folgerungen ergeben müssen. Freilich sagt der Verfasser an einer wichtigen Stelle, daß wir nur begreifen, was wir lieben, woran wir glauben, was wir betätigen. Demnach kann uns auch diese Darstellung nur an die Schwelle des Verstehens führen. Das aber tut sie, und sie verwehrt es keinem, die Türe zu durchschreiten und als ein Bekennender einzutreten. A b e r wir werden auch nicht hereingenötigt, und der Verfasser sagt uns zum Schluß für seine Person, daß ihn das Studium von Port-Royal nicht zum Christen gemacht hat. Mit diesem Ergebnis steht er nicht allein. In ihren herrschenden Kräften hat sich die Zeit immer weiter 119
vom Christentum entfernt. Port-Royal, in diesem Zusammenhange gesehen, ist ein Denkmal des Abschieds. Insofern hat es seinen Platz in der großen Bibliothek kirchengeschichtlicher Darstellungen, die das neunzehnte Jahrhundert als Ergebnis der Rückschau geschaffen hat. Aber es unterscheidet sich von ihnen, die meistens Werke der protestantischen Theologie sind, doch durch seinen katholischen Charakter. Die Energie des religiösen Gefühls ist größer, als der liberale und kritische Protestantismus sie besaß. Auch haben wir es hier mit einer völlig anderen Geschichtsauffassung zu tun als der, die Hegel seinem Jahrhundert aufgeprägt hat. Renan in seiner Kritik hat dies richtig empfunden, wenn auch unzureichend erklärt. PortRoyal wird uns nicht als ein Glied in der Kette der Ideen vorgeführt, die durch die Geschichte läuft und auch uns nicht freigibt, sondern als ein Stück Leben, das zwar vergangen ist, aber durch die Kraft der Phantasie unmittelbar auf uns wirken kann, um neues Leben zu erwecken. In den zeitlich bedingten Erscheinungen lebt ein unvergängliches Gefühl. Dadurch wird auch das Christentum in dieser Darstellung zu einem großen Beispiel der Religion im allgemeinen und gewinnt so einen geistigen Bestand und eine fortdauernde Wirksamkeit, auch dort, wo es als lebendiger Glaube aus der Wirklichkeit verschwindet. Man könnte dies Werk mit einer Gedenkhalle vergleichen. Wir gehen mit Ergriffenheit und Ehrfurcht hindurch und betrachten die Bilder der Vergangenheit. Und wenn wir wieder in das Licht des gegenwärtigen Tages zurückgekehrt sind, so bewahren wir ihnen nicht nur ein treues Andenken, sondern wir wissen auch, daß sie in unserer Seele weiterleben und unser künftiges Tun mitbestimmen werden. Schluß
Das kritische Werk als Ganzes Man hat oft gesagt, Sainte-Beuve sei in seinen Kritiken ein Dichter, der sich eine ihm eigentümliche Zwischenform geschaffen habe, weil seine Begabung zu Schöpfungen der reinen Phantasie nicht ausreichte. Seine Entwicklung bestätigt diese Behauptung nur zum Teil. Auch in der Epoche seiner Jugend, als er noch nach Anerkennung als Dichter strebte, schrieb er schon literarische Charakteristiken und fällte kritische Urteile. Darin wirkte sich die ihm eigentümliche schöpferische Kraft aus. Er war ein Kritiker, ehe er ein Dichter wurde. Aber als er, im Gefühl seines Unvermögens, die dichterischen Versuche aufgab, wandte er sogleich die ganze darstellerische Gabe, 120
die er besaß, den literarischen Bildnissen zu. Er selbst glaubte einen wesentlichen Unterschied zwischen seinen früheren und seinen späteren Bildnissen in dem Maß von Kritik zu erkennen, das sie enthielten. Er besteht, zeigt sich aber nicht entscheidend, wenn wir nun, zum Abschluß unserer im Wandern gewonnenen Schau, einen Gesamteindruck zu gewinnen versuchen. Im wesentlichen bleibt die Grundform dieser zahllosen Vergegenwärtigungen die gleiche. Das achtzehnte Jahrhundert war eine reflektierende Epoche gewesen, bis mit Montesquieu die Geschichte, mit Rousseau die Persönlichkeit in die geistige Welt einbrach. Beide aber suchten, bei aller Hingabe an das Individuelle, ja gerade durch dies hin, das Allgemeine! Die Revolution trieb dann beide Strömungen zur höchsten Stärke empor und wurde zu einem tödlichen Kampf zwischen den regelnden und den rebellierenden Kräften, zwischen rationaler Ordnung und sentimentaler Freiheit. Die germanische Welt, geführt von dem mächtigen Geiste des Engländers Burke, stand dabei mit überwiegender Kraft auf der Seite der individuellen Freiheit, in der romanischen aber, die doch die Revolution geboren hatte, erhoben sich auch die ordnenden Gegenkräfte zu voller Gewalt. Schon Rousseau zeigte diesen doppelten Charakter. In seinen Bekenntnissen schuf er das Vorbild für alle folgenden Darstellungen des Ich und seiner besonderen Züge, im Gesellschaftsvertrag aber den Entwurf aller kommenden kollektiven Zwangsformen. In Napoleon fand er seinen größten Nachfolger auf dem Gebiet der Tat, zugleich Revolutionär und Bändiger der aufständischen Gewalten. Als SainteBeuves Geist sich zu bilden begann, hatten sich die Leidenschaften zunächst ausgerast. Eine neue Zeit versuchte, in maßvoller Weise Autorität und Freiheit miteinander zu vereinigen. Aber die widerstrebenden Kräfte blieben doch lebendig und in aller ihrer Gegensätzlichkeit wirksam. In den Kreisen, in die der junge Schriftsteller eintrat, wirkte das Andenken der zehn Jahre vorher verstorbenen Frau von Staël noch lebendig fort. Sie, eine Schweizerin und Protestantin, verkörperte im französischen Geistesleben am deutlichsten jenen Ausgleich, der sich zwischen Freiheit und Gebundenheit in den germanischen Ländern herausgebildet hatte. Chateaubriand dagegen, dessen Wirkung auf den jungen Sainte-Beuve wohl kaum zu überschätzen ist, der Katholik und französische Edelmann, gelangte nie zu einer dauerhaften Versöhnung zwischen seinem Gefühl für Tradition und Autorität und seinem persönlichen Bedürfnis nach Entfaltung und Macht. Was ist nun das Nebeneinander von phantasievoller Gestaltung und richtendem Verstand, von Poesie und Kritik in Sainte-Beuves Schriften anders als eine neue Form dieses Gegensatzes zwischen Freiheit und Ordnung? Sainte-Beuve ist als Kritiker 121
zugleich der Fortsetzer der alten regelgebenden, im letzten Grunde klassischen Kritik und der Zögling der Romantik in der Erfassung des Individuellen und der Geschichte. In fast allen seinen Aufsätzen gibt er uns das lebendige Bild einer Persönlichkeit. Wir sehen den Menschen mit allen seinen bestimmten Zügen hinter den Schriften, die der Kritiker bespricht, und diese glänzende, höchst mannigfaltige Reihe von Charakterbildern an sich vorbeiziehen zu lassen, bedeutet schon für sich allein einen hohen Genuß. Aber Sainte-Beuve begnügt sich auf der anderen Seite nie mit einem Bericht, sondern strebt stets nach einer Bewertung, sei sie rein ästhetischer oder aber, wie in den meisten Fällen, moralischer Art. Wir sehen immer den urteilenden Menschen, der sich mit seinem Gegenstand beschäftigt, ihn nach seiner Bedeutung prüft, und sehen uns selbst zum Urteil aufgefordert und zugleich in den Stand gesetzt. Unser eigenes Denken über den Gegenstand, mitsamt seinen zahlreichen Bezügen zu benachbarten, gerät in Bewegung, wir werden von Zweifeln angerührt, oder in unseren eigenen Meinungen bestätigt oder zu neuen Einsichten geleitet. Das nie ermüdende Streben, aus der Fülle der Erscheinungen zu allgemeinen Urteilen zu gelangen, zu ästhetischen über das Werk, zu moralischen über den Verfasser, das ist es, was dem deutschen Leser der Schriften Sainte-Beuves immer wieder auffällt. Es wird bei dem französischen Schriftsteller im allgemeinen aus drei Quellen genährt, auf literarischem Gebiet aus der klassischen Tradition, auf philosophischem aus dem Rationalismus, auf religiösem aus dem Katholizismus. Als junger Schriftsteller trat Säinte-Beuve in den Bannkreis der romantischen 'Poesie, und dies Erlebnis gab ihm auf immer einen Abstand gegenüber der klassischen Tradition, wenn er sich ihr auch später in freier Weise wieder näherte. Von allen großen Strömungen im Geistesleben seines Volkes ist ihm die Philosophie der Vernunft am fremdesten. Descartes bedeutet ihm kaum etwas, Voltaire ist ihm zuwider. Mit dem Katholizismus, so wie ihn die romantische Zeitströmung auffaßte und zu erneuern glaubte, rang er lange Jahre hindurch, um sich zuletzt entschlossen von ihm abzukehren. Was stand nun noch der Folge entgegen, daß er als Kritiker mit dem großen Strom der Zeit abwärts trieb und sich völlig der Fülle des Stoffes überließ, den historische Forschung und ein reiches gegenwärtiges Literaturleben ihm zubrachten? Vor ihm lag das Zeitalter der Literaturgeschichte und der impressionistischen Kritik, in das er mit seinem Schaffen eingemündet wäre. Aber seine Schriften sind im Gegenteil, bei allem Reichtum an geschichtlichen Elementen, bei der größten Empfänglichkeit für die feinen Unterschiede des individuellen Lebens, doch unberührt von jenem Geist, der relativi122
stisch auf jedes bestimmte Werturteil verzichtet. Sie sind von der Gewißheit getragen, daß es gute und schlechte Literatur gibt, und nicht rtur in dem Sinne formaler Eigenschaften, sondern auch nach ihrem allgemein menschlichen Wert, und indem sie diese Uberzeugung auf uns überströmen lassen, erfüllen sie uns mit dem Gefühl einer ernsthaften Beglückung. W i r haben es mit einem Mann zu tun, der an seine Sache glaubt! Der hohe Reiz dieser Aufsätze beruht also zum großen Teil auf der Verschmelzung zweier verschiedenartiger, ja, einander widerstrebender Elemente, der Freiheit des unmittelbaren, individuellen Lebens und der Gebundenheit des richtenden Urteils. Sie überhaupt miteinander zu verbinden ist nur möglich in künstlerischer Form. Diese entstammt zunächst den äußeren Bedingungen, unter denen die Kritiken entstanden sind. Sainte-Beuve schreibt, v o r allem in seinen Plaudereien, für einen begrenzten Raum, unter dem Druck einer abgemessenen Zeit, und will doch ein Ganzes geben. Die Gewichte in diesem kleinen W e r k müssen richtig verteilt sein, ein lebendiger A t e m das Ganze durchwehen, die Phantasie zugleich gereizt und befriedigt werden. Es entstehen Charakterbilder, Novellen, Biographien. Die hohe künstlerische Wirkung seiner Kritiken entspringt f e m e r ihrem durchaus persönlichen Charakter. Sainte-Beuve, so sehr er auch den Gegenstand achtet, tritt doch in entscheidenden Augenblicken mit seinem Ich hervor. V i e l e dieser Aufsätze haben einen Zug des Bekenntnismäßigen, und in diesem Sinne des Lyrischen. Andere sind dramatisch gehalten, die möglichen Auffassungen werden gesprächsmäßig aufgeteilt. Das Persönliche der Form gibt Sainte-Beuve auch die v o l l e Freiheit in der Behandlung des Stoffes, in der Art, w i e er seine Urteile anbringen will. Und er versteht abzuwägen. Der Bericht über das literarische Werk, die biographischen Mitteilungen über den Verfasser, allgemeine ästhetische Betrachtungen, die Meinung des Kritikers, alles dies ist frei miteinander verknüpft, ohne Übergewicht des einen oder anderen Teils, so daß fast stets der Eindruck des richtigen Maßes und der Harmonie entsteht. So wird das Element romantischer Bewegung immer von der klassischen Formgebung bezwungen, ohne in ihm erstickt zu werden. Sainte-Beuves Kritiken enthalten aber noch einen weiteren, dritten Grundbestandteil, den man den realistischen nennen möchte. Er ist am stärksten in der Zeit seiner Mannesjahre, als die Romantik der Julirevolution längst verflogen ist und die Februarrevolution in dem erneuerten Kaiserreich ihr Grab gefunden hat. Die Ursprünge liegen jedoch in seiner Jugend. Dem Rationalismus ist mit der Romantik gemeinsam, daß sie beide aus der Wurzel des christlichen Idealismus stammen. Zwischen ihnen aber wächst eine Denkweise heran, die 123
auf die antike Skepsis zurückgeht und in der Renaissance einen weithin wirkenden Vertreter in Machiavell gefunden hat. Von Montaigne und Bayle weitergetragen, wird sie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der Aufklärung mächtiger und nimmt in der Philosophie die Züge eines dogmatischen Sensualismus an, wie bei Holbach und Lamettrie. Aus dieser Lehre entwickelt die Gruppe der Ideologen eine Psychologie und Gesellschaftslehre, die das unbefangene Studium der Wirklichkeit wenigstens zum Grundsatz erhebt. Von ihnen zeigt sich der junge Sainte-Beuve tief beeinflußt, als er sich dem Studium der Medizin zuwendet, bis die große romantische Woge sein Denken zeitweise überspült. Mit dem Abschluß der Jugendzeit und der allgemeinen Lebensenttäuschung, die ihr folgt, nimmt die Macht dieser Gedanken in ihm wieder zu. Die Vorlesungen über Chateaubriand bedeuten den vollen Durchbruch einer geistigen Haltung, die über den Realismus hinaus bis zu einer tiefen Skepsis in allen allgemeinen Fragen geht. Hier haben wir es, verglichen mit dem unmittelbar vorhergehenden Zeitabschnitt, mit der modernen Schicht seines Denkens zu tun. Sind die Vorlesungen über Chateaubriand geradezu die Demaskierung eines einst von ihm vor der Öffentlichkeit gepriesenen Mannes, so wohnen wir in später Zeit dem großen Gericht über Talleyrand bei, zu dem er niemals in einem persönlichen Verhältnis stand. Worte eines tiefen Pessimismus ziehen sich durch seine späteren Sammlungen hindurch. Diese Einsicht in die Gebrechlichkeit des Menschen und seines Schicksals bewahrt ihn vor der Gefahr, sich von dem schönen Schein der Kunst, den geometrischen Linien der philosophischen Systeme, dem gelassenen Ton der Wissenschaft täuschen zu lassen. Er kennt die Unsicherheit des Grundes, auf dem sich alle höhere Bildung erhebt, und vermeidet es nicht, zu uns davon zu sprechen. Als er jung war, leuchtete noch die Sonne Goethes über der Welt der europäischen Gesittung. Mit Goethe, dem Kritiker, darf man ihn wohl zu vergleichen wagen. Wie dieser stand er auf dem breiten Grund der abendländischen Tradition, erlebte in seiner Zeit den revolutionären Durchbruch des Gefühls und kämpfte, ohne jenen zu verleugnen, um den ferneren Bestand der Kultur. Aber Goethe lebte in einer Zeit, als das geistige Leben seines Volkes nach langer Vorbereitung seiner höchsten Blüte entgegenging, und nahm selbst schaffend daran teil. Sainte-Beuve dagegen, an schöpferischer Kraft jenem nicht vergleichbar, durchlebte außerdem ein Zeitalter wiederholter Krisen, die sich auf allen Gebieten des französischen Lebens auswirkten, in der Literatur nicht minder als in der Politik. Als der Deutsche im Alter die Geschichte seines Lebens schrieb, stellte er auch die der deutschen Dichtung zu seiner Zeit dar. Er tat es mit 124
ruhiger Überlegenheit, das Allgemeine ebenso berücksichtigend wie das Persönliche, darstellend und richtend zugleich, in dem Glauben an Größe und Bedeutung der Poesie überhaupt. Es ist nicht zweifelhaft, daß von Goethes. Persönlichkeit schon früh eine Wirkung bis zu dem französischen Kritiker reichte, über die Schriften der Frau von Staël und die Erinnerungen an sie, über den Kreis der Mitarbeiter des Globe. So nimmt es nicht wunder, daß sein kritisches Werk in seiner Tonart und Melodie vielfach an jene Abschnitte aus Dichtung und Wahrheit erinnert. Aber den Ton der Gelassenheit und der Freude an dem Geschehen, der Goethe bis in das höchste Alter eigen bleibt, vermag Sainte-Beuve nicht zu halten. Enttäuschung und Trauer über den Lauf der Welt klingen in der Tiefe mit und dringen immer wieder an die Oberfläche. Das neunzehnte Jahrhundert war ebenso stark im Optimismus wie im Pessimismus und hatte zu beidem Grund. Was dies Zeitalter aber von dem vorhergehenden unterscheidet, ist der starke Einschlag von Weltverneinung und -trauer in seinem Gewebe, darin besteht sein eigentümliches Kennzeichen gegenüber der Vergangenheit, und gerade darin ist auch Sainte-Beuve ein Sohn seines Jahrhunderts.
ZWEITER
TEIL
Lebensgang und Persönlichkeit
Erster Abschnitt
Kindheit und Jugend Die heilige Bova war im 7. Jahrhundert Äbtissin in Reims. Nach ihr sind zwei örtlichkeiten in der Normandie genannt. Wahrscheinlich stammt also die Familie Sainte-Beuve von dort. Seit dem 16. Jahrhundert war sie in der Picardie ansässig. Unter den Verwandten des Kritikers finden wir den Doktor der Theologie an der Pariser Sorbonne, Jacques de Sainte-Beuve, der in der Geschichte von Port-Royal einen bescheidenen Platz einnimmt. Seine näheren Vorfahren waren Beamte der Finanzverwaltung. Sainte-Beuve sagt von sich in einer seiner autobiographischen Skizzen, daß er aus dem angesehenen Bürgertum stammte. Der Vater kam nach Boulogne. Die Revolution änderte an seiner äußeren Lage nicht sehr viel, er blieb nach wie vor in der Finanzverwaltung tätig, nachdem der kritische Augenblick der Reorganisation überwunden war. Neben den Steuern des Stadtbezirks verwaltete er auch die Verteilung der öffentlichen Unterstützungen. Er war ein belesener Mann, der es liebte, auf die Ränder seiner lateinischen Klassiker und der neu erschienenen Bücher seine Anmerkungen zu setzen. Sainte-Beuve beruft sich in seinen Augustgedanken auf das Vorbild des Vaters, um seine eigene Liebe zu den lateinischen Dichtern zu bekräftigen, und gibt dabei, in der Epistel an Patin, ein anschauliches Bild vom Leben des Vaters. Nach Monaten mühseliger und undankbarer Arbeit ging er mit seiner Vergilausgabe ins Freie, über den nächsten Hügel, an Holunder und Hagedorn vorbei. Die Gedanken an den eigenen Sohn, dessen Geburt bevorstand,. verbanden sich ihm mit den dichterischen Gestalten des Astyanax und des Ascanius. Wenn er aber ein Kind oder eine alte Frau vor der Tür ihrer Hütte fand, so unterbrach er seine Träume, trat bei ihr ein und fragte sie nach ihren Nöten, und die Tränen des Mitleids fielen auf die Seiten, die das Schicksal der Dido beschrieben, über seine politischen Gedanken wissen wir wenig Bestimmtes. Sein Sohn meinte, wenn der Vater Partei ergriffen hätte, so wäre es für die Girondisten gewesen. Jedenfalls haben wir kein Zeugnis dafür, daß er Royalist oder Jakobiner war, und so dürfen wir in ihm wohl einen Vertreter jenes mittleren Bürgertums sehen, das weder eine Fortdauer der überlebten Feudaleinrichtungen, noch einen radikalen Ura9 Deiters, Sainte-Beuve
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stürz wünschte. Der Sohn erbte von ihm die in Generationen befestigte Fähigkeit stetiger und gewissenhafter Arbeit, den Sinn für ein eingezogenes Leben, das Mitgefühl für das Leiden anderer, jene ganze seelische Haltung der bürgerlichen Mittelschicht, die aus der breiten Masse des Volkes herausgewachsen ist und die Verbindung mit diesem noch nicht verloren hat. Vielleicht besaß der Vater jene Stärke des Gefühls, die bei Sainte-Beuve in einzelnen Augenblicken so entscheidend hervortritt, denn er sagt in einer Charakteristik seiner Mutter, daß sie ein kritisches Unterscheidungsvermögen und eine Bestimmtheit besaß, w i e sie dem Vater in diesem Grade nicht zueigen waren. Sie stammte aus einer angesehenen bürgerlichen Familie Boulognes, ihr Vater war Seemann gewesen, die Mutter eine Engländerin. Sie ist dem Sohn später nach Paris gefolgt, hat mit ihm zusammengelebt und ist erst 1850 mit 86 Jahren gestorben. Charles-Augustin wurde nach dem Tode seines Vaters geboren und von der Mutter, die in bescheidenen Verhältnissen zurückblieb, erzogen. Vielleicht ist eine gewisse Weichheit in seinem Gefühlsleben durch die rein weibliche Erziehung im Hause vertieft. Boulogne war damals eine Napole.onische Stadt w i e nur eine, zweimal versammelte der Kaiser hier Streitkräfte zum Übergang nach England. Die Knaben waren militärisch begeistert, der junge Sainte-Beuve wurde in eine Husarenuniform gesteckt und stand einmal bei einer Parade ganz in der Nähe Napoleons. Diese Jugendeindrücke haben sein Verhältnis zum Empire, auch in seiner zweiten Gestalt, zweifellos mitbestimmt, wenn auch sein Urteil über die Persönlichkeit Napoleons nicht immer günstig war. W i e weit er in kirchlichem Sinne erzogen ist, läßt sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Er selbst hat in seiner letzten, antiklerikalen Lebenszeit W e r t darauf gelegt, daß seine Mutter ihn in eine Schule schickte, die von Laienlehrern geleitet wurde, obwohl es eine von Priestern geleitete gab. Auf der anderen Seite scheint sich aus seinen beiden Romanen, die deutliche autobiographische Züge tragen, zu ergeben, daß er zeitweise von Gefühlen einer glühenden Frömmigkeit ergriffen war. Daß es so war, wird aus seiner späteren Entwicklung wahrscheinlich, die kaum so verlaufen wäre, wenn er nicht aus seiner Kindheit einen Bestand an religiösen Erlebnissen besessen hätte. In der Schule empfing er den üblichen Lateinunterricht und las Cäsar, V e r g i l und Horaz. Diese literarischen Eindrücke sind stets in ihm lebendig geblieben. Mit dreizehneinhalb Jahren hatte er gelernt, was ihm die Kleinstadtschule zu bieten vermochte, und drängte seine Mutter, ihn nach Paris zu schicken. Dort hat er mit kurzen Unterbrechungen von 1818 bis zu seinem Tode gelebt. Der Übergang aus der Provinz in die Hauptstadt bedeutete für ihn, daß nun das geistige Leben der Zeit in 130
allen seinen Strömungen mit voller Kraft auf ihn eindrang. Der Schulunterricht setzte den in Boulogne empfangenen fort, aber auf einer höheren Stufe. Bald nach seiner Ankunft in Paris teilte er einem daheim gebliebenen Jugendfreund mit, was er jetzt in der Schule las. Zum Lateinischen war das Griechische hinzugetreten, Homer, Plutarch, die Evangelien. Er durchlief die Klassen mit großem Erfolg und erwarb neben anderen Preisen einen solchen in der Geschichte, die als Lehrfach neu eingeführt war. Wichtiger noch als der Unterricht war die geistige Beschäftigung, der er sich daneben widmete. Die Pension, in der er lebte und nach französischer Einrichtung einen wesentlichen Teil seiner Studien trieb, wurde in einem freien Geiste geleitet, und niemand wehrte dem begabten Knaben, die neu erschienenen Werke der Poesie zu lesen und nachzuholen, was ihm an Kenntnis der modernen Literatur fehlte. Als er mit fünfzehn Jahren den René las, erkannte er sich selbst in dieser Gestalt. Abends hörte er die literarischen und naturwissenschaftlichen Vorlesungen, die an mehreren Stellen von den namhaftesten Gelehrten öffentlich gehalten wurden. Unter all diesen Eindrücken schwand sein Kinderglaube dahin. Sein bewußtes geistiges Leben begann in dieser Zeit, zwischen dem vierzehnten und neunzehnten Lebensjahre, und insofern hat er völlig recht, wenn er später von sich schreibt, daß er bei dem vorgeschrittensten achtzehnten Jahrhundert seinen Anfang genommen habe, bei Tracy, Lamarck, Daunou und der Physiologie.
Zweiter Abschnitt
Romantik und Julirevolution Nach Beendigung der Schule wählte er das Studium der Medizin. Er hat später einmal gesagt, daß er eine entschiedene Neigung dafür besaß, und obwohl seine literarische Berufung schon in den Leistungen seiner Schulzeit hervortrat, so haben wir doch keinen zwingenden Grund, sein Wort zu bezweifeln. Auch stand ja die Neigung zur Naturwissenschaft keineswegs im Widerspruch zu den romantischen Strömungen der Zeit. Die medizinische Wissenschaft wurde jedoch in Paris, im Gegensatz zu allen romantischen Liebhabereien für die Nachtseiten der Natur, in völlig exakter Weise betrieben, und Sainte-Beuve dankte ihr noch im Alter für die Liebe zur Genauigkeit und die Vertrautheit mit den Gesichtspunkten der Physiologie, die er ihr schuldete. Aber obwohl er seine medizinischen Studien vier Jahre lang fortsetzte, so gewann seine Neigung zur 9*
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Poesie und Kritik doch schon während dieser Zeit das Übergewicht. Den Eintritt in seine eigentliche Laufbahn erschloß ihm einer seiner ehemaligen Lehrer, Dubois, der seiner liberalen Gesinnung wegen von der Regierung seines Lehramtes entsetzt war und danach den Globe als literarisch-politische Zeitschrift gegründet hatte. Dort erscheint 1824, ein Jahr, nachdem er die Schule verlassen hatte, sein erster Aufsatz. Der Globe war politisch liberal. Während aber sonst die Anhänger des Liberalismus auf literarischem Gebiet klassizistisch-reaktionär waren, bemühte sich der Globe, wenn auch mit Vorbehalten gegen die legitimistischen Überzeugungen des romantischen Dichterkreises, allen literarischen Strömungen gerecht zu werden. Sainte-Beuve empfing hier als Kritiker die Prägung, die seinen eigenen Anlagen und Neigungen entsprach und sich im Verlauf seines Lebens als endgültig erwiesen hat. Aber der Eintritt in die literarische Welt verstrickte ihn nun für eine Reihe von Jahren tief in die geistigen Bewegungen der Zeit. Man muß sich den allgemeinen Charakter des geschichtlichen Augenblicks vergegenwärtigen, um die Wirren; in die er geriet, richtig zu beurteilen und ihm selbst dabei gerecht zu werden. Der junge Mensch, der aus den konservativen Verhältnissen der Provinz gekommen war, hatte sich einen Augenblick von den radikalen Strömungen des Pariser Lebens ergreifen lassen. Seine eigenen sehr bescheidenen Lebensumstände, die Unsicherheit seiner Zukunft, der Anblick großstädtischen Elends hatten ihn in dieser Stimmung bestärkt. Nun brachte ihn eine günstige Kritik, die er im Globe über die Sammlung der Oden und Balladen schrieb, mit dem Dichter Victor Hugo persönlich zusammen. Die mächtige Persönlichkeit Hugos, dessen vertrauter Freund und literarischer Herold er für einige Zeit wurde, zog ihn in den Bann romantischer Gedanken und weckte die religiösen Gefühle seiner Kindheit und frühen Jugend wieder in ihm auf. Hugo war damals noch Royalist, und auch SainteBeuve schien geneigt, sich mit dem auf der Charte beruhenden Königtum abzufinden. Aber die Dichtung, mit der er nun als ein Schaffender und Ebenbürtiger in die Reihe seiner neuen Freunde eintrat, Leben, Gedichte und Gedanken von Joseph Delorme, hatte doch auch einen sozial-revolutionären Zug, namentlich in seinem biographischen Teil. Es mischten sich in diesem Zeitpunkt reaktionäre und revolutionäre Neigungen in vielen Geistern. Erst die zweite Gedichtsammlung, die Tröstungen, die Victor Hugo gewidmet sind, trägt durchaus den Charakter der christlich-religiösen Romantik. Der Einfluß, den Victor Hugo und seine Umgebung auf SainteBeuve ausübten, wurde durch seine Liebe zu Hugos Frau Adele verstärkt. Wir sind über die Geschichte dieser Beziehungen nur sehr 132
unvollständig unterrichtet, aber daß die Leidenschaft Sainte-Beuves von Adele erwidert wurde, darf man als gewiß annehmen. Auch über dieser Liebe liegt das besondere Licht jener Zeit Die Zeit der galanten Beziehungen war vorüber. In dem neuen, bürgerlichen Zeitalter hatte die Ehe ihre bindende Kraft zurückgewonnen. Aber der Kult des. Gefühls hatte auch die Leidenschaft mit neuem Glanz bekleidet. Und die Liebe zu der unerreichbaren Frau galt wieder, wie in der Dichtung Dantes und Petrarcas, als die höchste und edelste Form seelischer Beziehungen. Aber da die Natur auch gegen allen Idealismus ihren Anspruch erhob, so wurde das erotische Leben zerrissen, und es öffnete sich ein tiefer Gegensatz zwischen der himmlischen und der irdischen Liebe. Sainte-Beuve hat diesen Konflikt in dem Roman Lust dargestellt, den er in der Zeit seiner Liebe zu Adele geschrieben hat. Das Verhältnis zwischen Hugo und seinem Kritiker wurde durch diese Beziehung aber von Grund aus gestört. Hugo erkannte, romantischen Begriffen getreu, die Leidenschaft des Freundes für seine Frau an, solange sie unerwidert blieb, er suchte die Freundschaft mit ihm zu erhalten und ihm sogar den weiteren Verkehr in seinem Hause zu ermöglichen. Aber dieser großherzige und redlich gemeinte Versuch scheiterte doch. Die Kritik, die SainteBeuve an Hugos Schrift über Mirabeau übte und die an sich seiner Uberzeugung durchaus entsprach, bekam durch alle diese Umstände für Hugos Gefühl eine persönliche Schärfe, und Sainte-Beuve ließ sich zu einem öffentlichen Angriff auf Hugo hinreißen, als dieser in derselben Gedichtsammlung seine Gattin und seine Geliebte feierte. Er hatte immer seine Vorbehalte gegen Hugos Dichtung gehabt und sie auch angedeutet, und früher oder später hätte er sich gewiß von seinem Einfluß befreit. Daß es dabei aber zum Bruch kam, war im wesentlichen eine Folge seiner Beziehungen zu Hugos Frau. Äußerlich wurde das Verhältnis zwischen beiden Männern wieder eingerenkt, Hugo trat für Sainte-Beuves Aufnahme in die Akademie ein und hielt ihm die Aufnahmerede, aber innerlich blieb es zerstört, und Sainte-Beuve hat niemals wieder einen Artikel über h u g o , einen der größten französischen Dichter seiner Zeit, geschrieben. Auch in seiner Liebe zu Adele fand er kein dauerndes Glück. Obwohl ihr Gatte ihr wiederholt untreu war und sich schließlich von ihr dauernd zu Juliette Drouet wandte, entschloß sie sich doch nicht, sich von ihm zu trennen, und brach nach Jahren die vertrauten Beziehungen zu SainteBeuve unwiderruflich ab, zu seinem tiefsten Schmerz. Diese Leidenschaft hatte ihn etwa von seinem vierundzwanzigsten bis zum dreiunddreißigsten Jahre erfüllt und ihm nur Enttäuschung und Bitterkeit hinterlassen. Auch hat sie sicher dazu beigetragen, daß er niemals dazu gelangte, eine Familie zu gründen, obwohl viele seiner Äuße133
rungen zeigen, daß er das Verlangen und wohl auch die Eignung dazu besaß. Denn gerade weil er im Grunde eine bürgerliche Natur war, trug ihm der jugendliche Ausflug ins Reich der Romantik auch innerlich keine rechte Frucht. Dieser Zwiespalt erklärt auch einen Vorfall, der bei fast allen seinen Biographien sein Gedächtnis schwer belastet. Viele Dichter haben ihre Liebe in poetischer Form dargestellt, und zwar so, daß jeder Eingeweihte die Tatsachen erkennen konnte. In Florenz kannte man das Urbild der Beatrice, in Avignon das der Laura. Alle näheren Freunde Goethes, und durch sie auch das literarische Publikum, wußten, welchen Familiennamen Werthers Lotte trug. Auch Sainte-Beuve wünschte seiner Liebe eine dichterische Gestalt für die Nachwelt zu geben und faßte eine Anzahl von Gedichten, in denen er die Stationen seiner Beziehungen zu Adele darstellte, zu einem Buch der Liebe zusammen. Er ließ davon in einem viel späteren Zeitpunkt einen Privatdruck herstellen, den er in einem Testament ausdrücklich für eine Veröffentlichung nach dem Tode der drei Beteiligten bestimmte. Durch einen Vertrauensbruch gelangten Proben davon in die Pariser Öffentlichkeit, und er selbst gab nun einige Exemplare an literarisch interessierte und ihm vertraute Menschen. Hätte seine Liebe zu Adele, und die ihrige zu ihm, das Unbedingte und Hinreißende gehabt, seine Gedichte das Bezwingende und Rührende, alle jene Eigenschaften, die uns bei großen Dichtern entgegentreten, so hätte er die Bedenken der Mit- und Nachwelt besiegt. Aber jene Eigenschaften fehlen eben hier, obwohl an der Tiefe und Echtheit seiner Liebe zu Adele nicht gezweifelt werden darf. Diese Feststellung sollte aber keinen Einfluß auf die moralische Beurteilung haben, die hier nicht anders ausfallen darf wie bei größeren Dichtern. Wir wenden uns zurück zu dem Jahr der Julirevolution. Im Frühjahr war in der Presse davon die Rede, daß Sainte-Beuve als Legationssekretär mit Lamartine nach Griechenland gehen sollte. Aber trotz seiner Aussöhnung mit der Monarchie der Bourbonen und seiner katholischen Empfindungen blieb auf dem Grund seiner Seele eine Unruhe zurück. Schon der Schluß der Tröstungen hatte davon gezeugt. Das Jahrhundert, so hatte er dort geschrieben, ist krank. Es bewahrt der Vergangenheit ein treues Andenken, aber sobald man ihm einen neuen Tempel, eine neue Umfriedung zeigt, wird es dort niederfallen und anbeten. Und im April 1830 schrieb er an den SaintSimonisten Buchez, daß er sich an den Katholizismus doch nur bedingt angeschlossen habe und ein neues Gesetz erwarte, das aus dem Zusammenwirken der einzelnen Kräfte einmal hervorgehen werde. Als die Revolution ausbrach, befand er sich auf Reisen. Er kehrte beschleunigt zurück und traf die Redaktion des Globe schon in Auf134
lösung. Die Liberalen trennten sich von den Anhängern des SaintSimonismus, die im Besitz des Blattes blieben. Die Revolution war von Liberalen geleitet und von demokratischen Kräften durchgefochten worden. Die Wirkung des abermaligen Sturzes der alten Königsmacht auf die Gemüter der Zeitgenossen war gewaltig, an eine Rückkehr zu den Bourbonen dachte unter den Jüngeren niemand. Sainte-Beuve hätte sich den Liberalen anschließen können, zu denen er aus der Zeit seiner regelmäßigen Mitarbeit am Globe nahe Beziehungen hatte, aber sein allgemeines Gefühl für religiöse Zustände, die Liebe des Joseph Delorme zum niederen Volke, die glühende Sehnsucht nach einer schöneren Zukunft, die sich in ihm aus den Leidenschaften der Revolution erzeugte, drängten ihn über jene hinaus. Er entschied sich für die Saint-Simonisten und blieb beim Globe. Später hat er betont, daß sein Verhältnis zu dieser Bewegung immer nur ein freies gewesen sei und keinerlei förmliche Verpflichtung enthalten habe. Diese Einschränkung ist gewiß zutreffend, aber sein Anschluß an die Saint-Simonisten entsprach doch seinen Einsichten und seiner Natur. Er hat auch in späterer Zeit noch freundschaftlich an Enfantin geschrieben und dem Saint-Simonismus nachgerühmt, daß er im Gegensatz zu dem landläufigen Liberalismus die Bedeutung der Autorität richtig verstanden und im Unterschied von den Kirchen das religiöse Gefühl von veralteten und erstorbenen Formen befreit habe. Aber er war nicht dazu geeignet, sich in die engen und zum Teil komischen Formen einer sektenhaften Organisation einschließen zu lassen, und gab seine Beziehungen zu ihr sehr bald wieder auf. Tiefer ergriff ihn der Verlauf seiner Verbindung mit Lamennais. Die Bekanntschaft der beiden Männer war im Kreise Hugos zustande gekommen. Sainte-Beuve sehnte sich damals zu glauben, im Sinne der katholischen Kirche, gelangte aber niemals zu innerer Sicherheit. Auch Lamennais, ein Mann des Willens und von einem glühenden Glauben an die Kirche erfüllt, vermochte ihn nicht zu überzeugen, aber er übte doch einen starken persönlichen Zauber auf ihn aus. Nach der Julirevolution kam Lamennais zu der Ansicht, daß die Kirche ihre Sache mit der Demokratie verknüpfen müsse, und da auch Sainte-Beuve nach einer demokratischen Gesellschaft suchte, die von einem autoritären Glauben getragen wurde, so befestigte sich die Verbindung der beiden nur noch. Aber als der päpstliche Stuhl Lamennais' Programm verwarf, wurde sie auf eine Probe gestellt, bei der sie zerbrach. Sainte-Beuve übernahm für seinen Freund noch die Drucklegung der Worte eines Gläubigen und hielt seine Bedenken zurück, aber als Lamennais in seiner nächsten Schrift mit Rom brach, trennte sich Sainte-Beuve von ihm. Dies Ereignis ist eins 135
der wichtigsten in seinem inneren Leben. Lamennais' Gedanke, wenn auch im Augenblick vom Papst verworfen, hatte doch, wie die Folgezeit gezeigt hat, eine bedeutende Zukunft, und wie andere Anhänger, so hätte auch er der Fahne treu bleiben können, die der bisherige Führer aufgab. Er hätte auch dem vorwärts stürmenden Manne auf seinem Wege zur Demokratie folgen können. Aber er tat weder das eine noch das andere. Er hatte eine Zeitlang am National, unter Leitung von Carrel, mitgearbeitet, aber als man ihm dort seine Sympathien mit dem Katholizismus vorwarf, hatte er sich von diesem Kreise zurückgezogen. Derselbe Sinn für persönliche Unabhängigkeit, der zu seiner raschen Entfernung vom Saint-Simonismus geführt hatte, verwehrte es ihm auch, sich der geistigen Herrschaft einer radikalen politischen Gruppe zu unterwerfen. Dieser Weg also war ihm innerlich versperrt. Daß er aber die Sache aufgab, von der sich Lamennais selbst getrennt hatte, und ihm dennoch nicht folgte, zeigt, wie eng in seinem Gefühl Person und Programm miteinander verbunden waren. Die Enttäuschung an Lamennais, dem er vorwarf, daß er sein Priesteramt zu leicht preisgab, zerstörte in ihm auch den Glauben an die Sache. Unter dem Einfluß Lamennais' war er dem Katholizismus nähergekommen als je vorher, nun aber wandte er sich von ihm ab. Die Zeit der Jugend war für ihn zu Ende. Sie hinterließ ihm zunächst nur Enttäuschungen, deren Ursachen zum Teil außerhalb seiner Person lagen. Der Kreis der Romantiker hatte sich aufgelöst. Sainte-Beuves eigene letzte Gedichtsammlung, die er der Öffentlichkeit übergab, die Augustgedanken, hatte keinen Erfolg. Die Verbindung von Demokratie und Religion, die ihm unter verschiedenen Formen vorgeschwebt hatte, war nicht zur Wirklichkeit geworden. Staat und Gesellschaft, so wie sie sich nun unter dem Bürgerkönigtum herausbildeten, waren ihm tief und dauernd zuwider und bereiteten ihm, als Ergebnis einer Revolution, bitteren Kummer. Aber die Ursachen seiner trüben Erfahrungen lagen auch in ihm selbst. Er hatte •sich, im Innersten gelöst durch eine jugendliche Leidenschaft, unter dem Einfluß starker Persönlichkeiten und der aufgeregten Zeit von seinem eigenen Wege abdrängen lassen und mußte sich nun auf ihn wieder zurückfinden. Äußerlich war ihm dieser durch seine Erfolge als Kritiker vorgezeichnet. An der neu gegründeten Revue des deux mondes hatte er sich einen ständigen Platz für die Veröffentlichung seiner Aufsätze geschaffen. Innerlich war es schwerer für ihn, sich nach seinen romantischen Jahren zurechtzufinden. Von den herrschenden Meinungen war keine seinem Charakter und der Art seines Geistes gemäß. Er konnte weder mit den Konservativen, noch den Liberalen oder den Demo136
kraten bis zu Ende gehen. Literarisch war er kein Romantiker mehr, war es überhaupt nur in bedingtem Sinne gewesen, und war auch kein Klassizist. Die Aufgabe, sein Weltbild zu formen und es in Werken darzustellen, lag noch vor ihm. Dritter Abschnitt
Die späteren Jahre des Bürgerkönigtums Der Aufenthalt in Lausanne und die Vorlesungen über Port-Royal, die er dort hielt, stellen in seiner inneren Geschichte einen Ubergang dar. Die Beschäftigung mit dem Thema seines Kurses stammte noch aus der Zeit seiner nahen Verbindung mit Lamennais. Sein Leben stand in jenen Jahren stark, unter dem Einfluß persönlicher Beziehungen und Freundschaften, und eine Freundschaft war es' auch, die ihm den Weg nach Lausanne ebnete und ihn dorthin zog. Gemeinsame dichterische und religiöse Neigungen verknüpften ihn mit dem jungen Schweizer Schriftsteller Juste Olivier und seiner Frau. Diese schrieb ihm, als er noch schwankte, er möge zu ihnen in die Einsamkeit kommen, um fern von dem Leben der Hauptstadt mit seinen religiösen Zweifeln zu Ende zu gelangen. Der Kreis dieser Schweizer Protestanten, dessen Mittelpunkt Vinet war, hatte also wohl die Hoffnung, auf sein religiöses Leben in ihrem Sinne einzuwirken. Saint-Beuve fühlte und schwärmte mit ihnen, ohne Verbindlichkeiten einzugehen. Was der vertraute Umgang mit Lamennais nicht vermocht hatte, ihn zu bekehren, brachte auch der Kursus über Port-Royal und das Zusammenleben mit den Lausanner Freunden nicht zustande. Von seinem Leben in Lausanne gewinnen wir ein anschauliches Bild, es war zwischen der Arbeit in seinem Studierzimmer, in dem er niemand empfing, und den geselligen Stunden bei dem Ehepaar Olivier geteilt. Er liebte die französische Schweiz mit ihrer feinen, in sich geschlossenen und nach außen ein wenig abgeschlossenen Kultur, wie es besonders seine Artikel über den Genfer Dichter Töpffer zeigen, mit ihrer herrlichen Landschaft, so wie er den Aufenthalt auf dem Landgut Lamennais' in der Narmandie geliebt hatte. Aber er empfand die Natur so, wie es seine lateinischen Meister taten, als die Stätte, die dem Bewohner der Großstadt Gelegenheit zur inneren Sammlung und zur Erneuerung seiner Kräfte bot, und seine eigentliche Heimat war Paris. So kehrte er auch nach der Beendigung seines Kursus ohne Zögern dorthin zurück. Die Lausanner Zeit war der Ausklang seiner romantischen Epoche, aber zugleich hatte ihn die Arbeit an dem vielseitigen, 137
schwer zu durchdringenden und schwierig zu gestaltenden Gegenstand seiner Vorlesungen auf die Höhe seiner Meisterschaft gebracht, und das Werk, das daraus hervorging und dessen erste Bände bald danach erschienen, gab seinem Ansehen als Schriftsteller und Forscher eine unbestrittene Grundlage. Dieser mannigfaltigen Berührung mit enthusiastischen Glaubensbewegungen, denen er sich jugendlich hingab und die doch seiner eigentlichen Natur nicht entsprachen, folgte eine Zeit entschiedener Skepsis. Die Elemente zu dieser Haltung lagen in seiner Seele, und schon der Aufsatz über das kritische Genie von Bayle, den er 1835 veröffentlichte, enthielt ein Bekenntnis zur Freiheit von jedem Dogma. Diese Anlage seines Geistes war es auch im Grunde, die allen Bekehrungsversuchen widerstrebte, und auch ohne die jähe Schwenkung Lamennais' hätte ihn dieser Kämpfer gegen den Indifferentismus nicht zu unterwerfen vermocht. Die skeptische Haltung, der sich Sainte-Beuve jetzt überließ, hatte nun aber die Energie eines Rückschlages gegen eine überwundene Stufe der eigenen Entwicklung. 1840 veröffentlichte er einen Aufsatz über La Rochefoucauld, den er in einer Anmerkung aus seiner letzten Lebenszeit erläutert hat. Von dem Augenblick an, so sagt er darin, als er bewußt zu überlegen begann, war seine Denkweise völlig philosophisch gewesen. Eine Verwirrung des Gefühls war im Jahre 1829 dazwischen getreten und hatte eine entschiedene Ablenkung in dem Aufbau seiner Gedanken zustandegebracht. Mit dem Aufsatz über La Rochefoucauld kehrte er zu gesunderen Gedanken zurück, in denen ihn Erfahrung und Nachdenken seitdem nur noch bestärkt hatten. Er hat hier wohl die Zeit der Abweichung zu leicht beiseite geschoben. Wir haben uns. allgemein daran gewöhnt, in der Romantik eine umfassende geistige Bewegung zu sehen, die auf allen Gebieten des Lebens eine neue Art zu sehen hervorgebracht hat. So betrachtet ist die Wirkung jener Jugendepoche auf den Geist Sainte-Beuves viel tiefer und dauernder, als er es hier zu bemerken scheint. Aber die Herrschaft romantischer Gedanken, die in jenen Jahren bei ihm bestanden hatte, ist in der Tat nun zu Ende, und zwar endgültig. Und abgesehen von dieser Einschränkung ist die Anmerkung zu dem Aufsatz über La Rochefoucauld als autobiographische Feststellung durchaus zutreffend. Seinen klarsten Ausdruck findet aber der geistige Zustand, in dem er sich damals, zwischen der Rückkehr von Lausanne und dem Ausbruch der Februarrevolution, befand, in jenem Selbstporträt unter den Gedanken am Ende der Literarischen Bildnisse. „Ich bin im höchsten Maße Wandlungen unterworfen", so etwas sagt er dort von sich. „Meine wahre Grundlage ist bei den radikalen Philosophen und Wissenschaftlern des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Dann 138
bin ich durch die spiritualistische Schule des Globe gegangen, aber immer unter Vorbehalten. Dann bin ich durch die Romantik und die W e l t Victor Hugos hindurchgegangen, habe die W e l t Lamennais', des Saint-Simonismus, zuletzt in Lausanne die des Calvinismus und Methodismus gestreift. Bei all diesen Durchgängen habe ich aber niemals auf mein Urteil und meinen eigenen W i l l e n verzichtet, nur einmal für einen Augenblick in der W e l t Hugos, und zwar unter der Wirkung eines Zaubers." Er sucht diesen W e g durch so v i e l e geistige W e l t e n aus seinem Drang nach Anschauungen und Erfahrungen zu erklären, aus seiner Leidenschaft, die relative Wahrheit in jedem Gegenstand, in jeder Organisation zu erkennen. Er durchlief einen langen Kursus der Moralwissenschaft, und alle jene Erfahrungen mit der geistigen W e l t anderer waren darin gleichsam Experimente. Die Gläubigen aber erkannten das nicht und nahmen an, er sei im Begriff, sich zu bekehren. Dieses Selbstbekenntnis ist stets als Schlüssel zu seinem W e s e n aufgefaßt worden. Der künstlerisch-wissenschaftliche Drang des Mannes, alles nicht nur zu verstehen, sondern auch fühlend nachzuerleben, kommt darin zu überzeugendem Ausdruck. A b e r die diabolische Deutung, die er diesem Gang durch die W e l t des Glaubens gibt, mag man doch nicht gelten lassen. Nicht nur sein Gefühl für Victor Hugo und seine W e l t war ehrlich, auch die Auseinandersetzung mit Lamennais hat er sich sauer werden lassen, und ein W e r k w i e sein Port-Royal, das sei hier wiederholt, schreibt niemand, der dem Gegenstand nur mit einer A r t von verfeinerter Neugier zu Leibe gegangen ist. A b e r jetzt wollte er von jenen Gefühlen, die ihn so tief enttäuscht hatten, nichts mehr wissen, er gab ihnen die kühlste Deutung, die möglich war, und rückte dadurch auch v o r der W e l t von ihnen ab. Nimmt man sein Bekenntnis zu wörtlich, wie es vielfach geschehen ist, so erhält man von seinem Charakter ein falsches Bild. Während seine literarischen Freunde aus den letzten Jahren der Restauration in hohe Staatsstellungen einrückten, blieb er Schriftsteller und lebte von seiner Feder. Er wohnte von 1830—1840 in demselben Studentenzimmer im vierten Stockwerk. Mit Nachdruck konnte er später darauf hinweisen, daß er von seinen einflußreichen Freunden niemals etwas für sich verlangt hatte. In einem Staat, in dem das literarische Talent Artspruch auf ein A m t gab, bedeutete es wenig, daß ihm 1840 eine Stelle als Konservator an der Mazarin-Bibliothek übertragen wurde. Sie brachte ihm ein bescheidenes Gehalt und eine Amtswohnung. Seitdem, schrieb er später, fühlte er sich zum erstenmal in seinem Leben reich und behaglich. Sein Ansehen als Kritiker stieg immer mehr, und bei dem engen Verhältnis, das in Frankreich seit Jahrhunderten zwischen Literatur und Gesellschaft bestand, war 139
es selbstverständlich, daß er in den Häusern hochgestellter Persönlichkeiten verkehrte. Mit vierzig Jahren wurde er in die Akademie aufgenommen. Er hatte später während der Februarrevolution Anlaß, seine Unabhängigkeit gegenüber der Monarchie der Orléans zu betonen. Er hatte ein Recht dazu, denn die Stellung, die er sich während dieser Jahre geschaffen hatte, war ein Ergebnis seiner schriftstellerischen Leistung, eine persönliche Gunst hatte er von der Dynastie und ihren Beauftragten weder empfangen, noch begehrt. Aber seine revolutionären Jahre waren vorbei. Bei allem Widerwillen gegen den industriellen Charakter, den die Literatur in jener Epoche annahm, lenkte er mit seiner Kritik doch auf die Bahn ein, die der Staat politisch ging. Was er in der Literatur selbst und in der Kritik vorschlug und unterstützte, war eine Sammlung aller Talente um ein weitgefaßtes, ausgleichendes Programm. Die Julimonarchie war zwar aus einer Revolution hervorgegangen, aber ihre eigentliche Aufgabe bestand doch darin, jene zu beenden. Auch stand das wohlhabende Bürgertum, auf das sie sich vor allem stützte, in seinem Geschmack der klassizistischen Tradition nahe. So erklärt es sich leicht, daß auch Sainte-Beuves Kritik sich im Vergleich zu seiner romantischen Periode wieder stärker der klassischen Literatur zuneigte. Er kehrte damit im ganzen zu seinen Auffassungen aus der Zeit des Globe zurück, der eine Reform der ästhetischen Begriffe wollte, aber keinen Umsturz. Trotz dieser Ubereinstimmungen zwischen Sainte-Beuves kritischer Haltung und dem Geist jener Jahre fühlte er sich innerlich nicht im Einverständnis mit der Regierungsform. Nach allem, was vorhergegangen war, bedeutete es zwar viel, daß er sie in einem seiner Aufsätze als verständig, gemäßigt, durchaus erträglich bezeichnete. Sie verschaffe einer Anzahl von Generationen Glück und Ruhe. Aber er mache ihr hier, wie auch anderswo, zum Vorwurf, daß sie die Dinge zu sehr gehen ließ und die Kräfte der Nation weder lenkte noch zügelte. Vor allem sah er sehr deutlich, daß sie einen Übergangscharakter trug, und diese Einsicht war mit der skeptischen Bemerkung, daß schließlich alle politischen Systeme nur eine Zeitlang beständen, in ihrem Gewicht nicht abzutun. So muß man sagen, daß Sainte-Beuve der Julimonarchie nicht nur ohne äußere Verpflichtung, sondern auch ohne innere Bindung gegenüberstand.
Dritter Abschnitt
Die Februarrevolution und ihre Auswirkungen Aber sein Leben hatte einen Zustand der Ruhe und des Gleichgewichts erreicht, und er durfte sich sagen, daß er aus bescheidenen Anfängen zu großem Ansehen in der Pariser Welt emporgestiegen war. In diesen Zustand traf nun die Februarrevolution hinein und erschütterte die Grundlagen seines Daseins. Seine Haltung angesichts dieses Ereignisses ist durch die doppelte Tatsache charakterisiert, daß er keineri Augenblick den Trieb spürte, handelnd einzugreifen, aber die Vorgänge mit leidenschaftlicher Beteiligung betrachtete. Er entdeckte in seinem Herzen wieder das republikanische Grundgefühl, das durch Enttäuschungen gelähmt und durch den Kampf um seine Stellung und sein Dasein in einer anders gearteten Welt überdeckt war. Aber er fürchtete nicht nur für seine eigene geistige Tätigkeit, die an ruhige Verhältnisse gebunden War, sondern für den Bestand höherer Bildung überhaupt. Wie so manche andere in jenem Augenblick stand er unter dem Eindruck, daß eine soziale Katastrophe bevorstände. Das was er seinen republikanischen Instinkt nannte, war eine Liebe zu der Masse des Volkes, die damals noch scharf vom Bürgertum geschieden war, enthielt aber kein Vertrauen in ihre politischen Fähigkeiten. Im einzelnen war sein erstes Gefühl das der größten Verachtung für die regierenden Staatsmänner der Julimonarchie, namentlich für Guizot, die diese Katastrophe weder vorhergesehen, noch zu verhüten vermocht hatten. Er hatte ohne Zweifel immer Bitterkeit und Abneigung gegen diejenigen seiner literarischen Kollegen empfunden, die den schriftstellerischen Ruhm mit dem des Politikers vereinigen wollten, und wunderte sich nicht, daß sie nun auf politischem Gebiet als Dilettanten erwiesen waren. Aber er fühlte sich ihnen auch als kritischer Betrachter der Welt, als Denker und Moralist, überlegen und hatte sie schon lange für Utopisten gehalten. Jetzt sah er sein Urteil über sie bestätigt. So hatte er keinerlei Neigung, sich derjenigen Gruppe von Politikern anzuschließen, die sich jetzt, nach dem Sturz ihres Staates, als orleanistische Opposition zusammenfanden. Der mächtigste Mann in Frankreich wurde nun für einige Monate der Dichter Lamartine, der sich ja schon seit langer Zeit der Politik gewidmet hatte. SainteBeuve hat ihm, wie wir wissen, einmal geraten, sich für einige Zeit zum Diktator zu machen, aber dazu war Lamartine nicht der Mann, über den Sturz Lamartines und der übrigen Mitglieder der provisorischen Regierung zeichnete er sich auf: „Ihre Füße sind in Blut ausgeglitten, in Strömen von Blut!" Während der Junischlacht waren 141
seine Sympathien keineswegs auf Seiten der Kammer, die es zu dem Aufstand hatte kommen lassen und ihn nun blutig niederwarf. Er erinnerte später an das Wort Sullas, der dem Senat, als er durch einen großen Lärm von draußen beunruhigt wurde, zugerufen hatte: „Es ist nichts; auf dem Marsfeld werden zwanzigtausend Bürger umgebracht." Und viel später sprach er einmal von jener einzigartigen Republik von 1848, die es fertig gebracht hatte, alle wahren Republikaner niederzukanonieren, einzusperren oder zu deportieren, bis an ihrer Spitze nur noch Royalisten standen. Von den Männern, die damals eine politische Rolle spielten, hat nur einer in späteren Zeiten seine Sympathie gewonnen, das war der Sozialist Proudhon. In dieser großen Krise seines Vaterlandes war Sainte-Beuve politisch heimatlos. Die Revolution traf ihn auch in seiner persönlichen Existenz. In einer Veröffentlichung aus den Papieren der gestürzten Regierung erschien sein Name auf einer Liste derer, die aus Geheimfonds bezahlt worden waren. Es entstand der Eindruck, als ob er seine Feder an die Regierung Louis Philipps verkauft hätte. Die Summe betrug ganze hundert Frank, und es war leicht für ihn nachzuweisen, daß er niemals für die Regierung geschrieben hatte und daß ein Irrtum vorlag. Wahrscheinlich war der Betrag für die Ausbesserung eines Kamins in seiner Amtswohnung aus Gründen rechnerischer Bequemlichkeit auf den Geheimfond gesetzt worden. Aber er fühlte sich aufs tiefste verletzt, und um seine völlige Freiheit wiederzugewinnen, gab er der Regierung sein Amt an der Mazarin-Bibliothek zurück. Damit verzichtete er auch auf einen wesentlichen Teil seines Einkommens, und da die Aussichten auf literarischen Erwerb durch die politischen Wirren zusammenschmolzen, sah er sich nach einer Tätigkeit außerhalb Frankreichs um und nahm für den Winter 1848 auf 49 eine Gastprofessur an der Universität Lüttich an. Die Entfernung von Paris, in dem er sich durch persönliche Rücksichtnahme, namentlich auf Frau Recamier und ihren Kreis, vielfach gehemmt gesehen hatte, gab ihm die Möglichkeit, sich mit voller Freiheit über Chateaubriand, den einen Gegenstand seiner Vorlesungen, auszusprechen. Er setzte sich die Aufgabe, das Urteil über ihn auf das Maß zurückzuführen, das ihm zukam. Dabei verfuhr er mit einer unverkennbaren Leidenschaftlichkeit. Chateaubriand hatte die romantische Bewegung in Frankreich eröffnet und war auch ihr größter Vertreter gewesen. Mit seinem Tode endete sie selbst. Mit seiner scharfen, schonungslosen Kritik an ihm und seinen dichterischen Werken vollzog Sainte-Beuve nochmals einen Akt der Lösung von seinen eigenen romantischen Träumen. Aber die Leidenschaft, mit der er seiner kritischen Aufgabe oblag, hatte noch eine andere Quelle. In einer persönlichen Notiz, die aus den letzten Zeiten der 142
Regierung Louis Philipps zu stammen scheint, warf er den Staatsmännern der Julimonarchie vor, daß sie die wahre Natur des Menschen verkannten und durch philantropische Sophismen Frankreich in Gefahr brächten. Die Männer der Februarrevolution, vor allen Lamartine, waren radikaler, aber nach Sainte-Beuves Auffassung von denselben Grundirrtümern beseelt. Chateaubriand gehörte nicht zu denen, die sich selbst täuschten, aber Sainte-Beuve warf ihm vor, daß er andere getäuscht hatte und in seiner Kunst und seinem religiösen Fühlen nicht ehrlich gewesen war. Jetzt kam es darauf an, allen diesen Illusionen, Irrtümern und Vorspiegelungen ein Ende zu machen und zunächst und v o r allem die Wahrheit zu suchen. SainteBeuve erlebte die beiden Revolutionen auf ganz verschiedene Weise. Die von 1830 hatte ihn selbst mitgerissen, und eine Zeitlang war er ihrer Bewegung gefolgt. Die von 1848 aber fand ihn als Beobachter, und mit der Leidenschaft des Erkennens studierte er, w i e sich die Natur des Menschen und der Gesellschaft in diesen Ereignissen demaskierte. Das war die allgemeine Stimmung, die ihn beseelte, als er über Chateaubriand vortrug. Der Drang nach Wahrheit war in seiner skeptischen Periode ungebrochen geblieben und entfaltete sich jetzt wieder in seiner vollen Kraft. Nach der Beendigung seiner Kurse kehrte er im Sommer 1849 nach Paris zurück. Er hatte sich in Belgien nicht wohl gefühlt, die Zeit war zu kurz gewesen, um sich in den neuen Verhältnissen einzuleben, und er war viel zu fest mit dem Leben in Paris verbunden, um es ohne dringende Notwendigkeit dauernd zu verlassen. A b e r sein Leben nahm eine völlig andere Gestalt an. V o r der Revolution hatte er meistens in der Revue des deux mondes geschrieben, in jenem Abstand von den Tagesereignissen, der im Charakter dieser Zeitschrift lag. Jetzt nahm er das Angebot des Constitutionnel an, jeden Montag für das Blatt eine literarische Plauderei zu schreiben, und ging damit zur Tageszeitung über. Der Constitutionnel war zwar ein Blatt von durchaus bürgerlichem Charakter, aber in diesem Wechsel prägte sich doch etwas von der Demokratisierung des literarischen Lebens aus, die sich seit langem vollzog, durch ein Ereignis w i e die Februarrevolution aber beschleunigt wurde. In die aristokratischen Salons, in denen er vorher verkehrt hatte, kehrte er nicht zurück. Nicht ohne Grund wurde ihm vorgeworfen, daß er den Zutritt zu ihnen einst eifrig gesucht hatte. Seine Herkunft aus dem mittleren Bürgertum mag dazu beigetragen haben, daß er immer etwas zwischen den Klassen stand. Er besaß gesellschaftlichen Ehrgeiz und liebte den Umgang mit gebildeten und verfeinerten Frauen. Jahrelang hatte er zu den häufigen Gästen des Salons der Frau Recamier gehört. Auf der anderen Seite' zogen ihn die Erinnerung an eigene 143
notvolle Jahre und ein Stück von sozialem Trotz immer wieder zur Masse hin. Dieser Gegensatz zu seinen gesellschaftlich hochgestellten Freunden aus der Julimonarchie kam jetzt zur Wirkung. Sie waren gemäßigt liberal in der Politik, konservativ in ihren kulturellen Begriffen, während in ihm, trotz aller Kritik an der politischen Demokratie, ein Stück Sozialist steckte. In diesen Jahren zog Sainte-Beuve, nach dem Tode seiner Mutter, in das kleine Haus, das sie gekauft hatte und in dem er bis zu seinem Tode lebte. Dort begann er jenes völlig eingezogene Arbeitsleben, das in der Erinnerung an ihn fortlebte und den Späteren und Nachfolgenden als die ihm gemäße Daseinsform erschien. Da er den Hauptteil seines Lebensunterhalts mit seiner Feder erwarb, so mußte er bei seinen Ansprüchen an die Gründlichkeit und stilistische Vollendung seiner Aufsätze alle Kräfte anstrengen. In einer Zeit, in der sich die proletarischen und sozialistischen Begriffe erst allmählich außerhalb ihres Ursprungsbereichs durchsetzten, nannte er sich mit Betonung einen literarischen Arbeiter. Seine Stellungnahme in dem Machtkampf jener Jahre wurde jedoch noch von anderen Gedanken bestimmt. Er fühlte mit den Massen, aber er fürchtete, daß sie die Kultur, dies Werk von Jahrtausenden, zerstören würden, wenn man ihnen die' Herrschaft überließe, und daß sie auch nicht imstande sein würden, die Macht auszuüben. Er neigte nicht zur politischen Reaktion, und eben dies trennte ihn ja von den O^leanisten, denn er zog aus der Tatsache der Februarrevolution die Lehre, daß die maßgebenden Staatsmänner der Juliinonarchie die Gabe des Herrschens auch nicht besessen hatten. Aber er wünschte eine kulturelle Restauration. An ihr mitzuwirken, war das Ziel, das er sich als Kritiker stellte. In seiner romantischen Periode hatte er eine angreiferische Kritik geübt, um an der Durchführung einer Literaturrevolution mitzuwirken. Später war seine Kritik ausgleichend, sammelnd gewesen. Jetzt wollte er mit ihr dazu beitragen, die gesunden Grundlagen des geistigen Lebens wieder zu befestigen. Zu diesem Zweck bedurfte er keiner Theorie, sondern nur eines gesunden, durch Erfahrungen zur vollen Sicherheit gelangten Gefühls, das in ihm selbst lebte. Er war der Not dankbar, daß sie ihn gezwungen hatte, Mitarbeiter an einer Tageszeitung zu werden, denn nun mußte er auch seinen Stil von allen Künstlichkeiten befreien, ihn einfach und natürlich machen, damit er von den vielen verstanden wurde. Ein solcher Stil aber entsprach dem Inhalt, den er seinen Plaudereien zu geben suchte. Er entsprach auch dem Publikum des Constitutionnel, und diese bürgerliche Mittelklasse, in der das Blatt gelesen wurde, war nach Sainte-Beuves Auffassung, unbeschadet seiner Empfindungen für die Masse, seit der großen 144
Revolution der eigentliche Kern der Nation, die tragende Schicht der Gesellschaft. So war seine Mitarbeit am Constitutionnel, obwohl zunächst rein das Ergebnis äußerer Umstände, dennoch den Gedanken völlig gemäß, die in diesem Augenblick in ihm lebten und wirkten. Aber dies Werk der geistigen Restauration, das er sich vornahm, brauchte einen politischen Rückhalt, darüber war sich Sainte-Beuve im klaren. Er suchte sie bei einer starken Staatsgewalt mit monarchischem Charakter, so wie Augustus, Richelieu, Ludwig XV. sie der Literatur geboten hatten. In seiner Lütticher Zeit hatte er in seinen persönlichen Notizen niedergeschrieben, daß seine politische Überzeugung sich in dem Augenblick gewandelt hatte, wo er zu der Erkenntnis gelangt war, daß die Menschen in ihrer Gesamtheit eine ziemliche boshafte und platte Art von Lebewesen seien und es nur wenige Gute unter ihnen gebe, die man ohne Unterlaß heraussuchen und betreuen müsse, damit die Art sich nicht noch mehr verschlechtere. Er war im besonderen der Meinung, daß Regieren eine Kunst sei, die nur wenige verständen. Auf der anderen Seite schienen ihm aber die sozialen Ergebnisse der Revolution von 1789 als endgültig und die demokratisierte Gesellschaft als etwas Gegebenes, das sich in Zukunft nur noch schärfer herausgestalten würde. So blieb ihm als wünschenswerte Staatsform nur ein Absolutismus übrig, der zugunsten der Massen regierte. In dem Ringen zwischen dem PrinzPräsidenten und der Kammer, der persönlichen Herrschaft und derjenigen der Mehrheit, neigte er deshalb zu jenem. Diese Denkweise trennte ihn innerlich von fast allen seinen literarischen Kollegen, namentlich von denen, die unter der Julimonarchie politische Ämter bekleidet hatten, so daß er ihre Motive gar nicht begriff. Er riet ihnen, von der Politik zu ihrer Lehrtätigkeit zurückzukehren, und warf ihnen vor, daß ihre Opposition gegen Louis Napoleon aus persönlichen Motiven entspränge. Damit legte er für seine Person ein Bekenntnis zu der neuen Autokratie ab. Von einem Freund der Angegriffenen mußte er sich sagen lassen, daß die Gestürzten nicht um ihre persönliche Macht klagten, sondern um eine Staatsform, unter der Frankreich mit Würde und in Freiheit regiert worden war. Der amerikanische Biograph, Lewis Freeman Mott, der die Persönlichkeit Sainte-Beuves mit eindringendem Verständnis behandelt, nennt doch diese Kritik an den Gestürzten zum mindesten unedelmütig und hat darin ohne Zweifel recht. Unter allen wichtigen Schritten, die er im Lauf seines Lebens getan hat, ist der Anschluß an das zweite Kaiserreich von Gleichzeitigen und Späteren am heftigsten angegriffen worden. Er hat einem, Kritiker einmal erwidert: „Ich bin kein Bonapartist, ich habe mich ihnen nur aus Vernunft angeschlossen; er ist der Erwählte des 10 Deiters, Sainte-Beuve
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allgemeinen Stimmrechts, und wir brauchen eine starke und stabile Regierung." A b e r seine Verteidigung ist mangelhaft, denn wenn auch kein Bonapartist, so war er doch ein Cäsarist, d. h. der allgemeine Typ der neuen Staatsform entsprach seiner politischen Gedankenrichtung. Er folgte seiner Einsicht und handelte ehrlich, als er sich zu dem zweiten Kaiserreich bekannte. Der Unterrichtsminister des Kaisers, Fortoul, der ebenfalls ein Anhänger Saint-Simonistischer Gedanken und ähnlich wie Sainte-Beuve ein Schüler Lamennais' gewesen war, bot ihm den Lehrstuhl für französische Literatur an der Pariser Universität an. Er lehnte das Angebot ab, um, wie er schrieb, der Sache der Literatur als Freiwilliger zu dienen und sie bei Gelegenheit mit derjenigen des zweiten Kaiserreichs zu verbinden. Aber er nahm kurz darauf die Mitarbeiterschaft am Moniteur, dem amtlichen Organ der Regierung, an und gefährdete damit doch seine Freiheit ihr gegenüber. A u c h mußte es sich erst zeigen, ob das Kaiserreich seiner allgemeinen Vorstellung von einer fortschrittlichen, aufgeklärten und bildungsfreundlichen Diktatur entsprach und Napoleon III. der eines Cäsar nahekam.
Vierter Abschnitt
Die Zeit des zweiten Kaiserreichs Äußerlich verlief Sainte-Beuves Leben von nun an bis zu seinem Tode in den gleichen Bahnen. Die Montagsartikel beherrschten seine Arbeitseinteilung. A m Dienstag schloß er sich mit seiner Arbeit ein. Das Material, soweit er es nicht selbst besaß, schickten ihm die Bibliothekare der Nationalbibliothek. A m Freitag war der Artikel fertig, an diesem Abend pflegte er mit Freunden zu speisen. Sonnabend und Sonntag dienten der Durchsicht und Korrektur, und erst am Montag gönnte er sich Ruhe, um am nächsten Tage mit der Arbeit für den nächsten Artikel zu beginnen. In dieser Eingeschlossenheit mit seinen Büchern hat man ihn oft mit einem Benediktinermönch verglichen. Doch hatte er im Umgang die liebenswürdigen Formen eines Mannes, der sich lange in den Salons bewegt hatte. Er war ein ausgezeichneter Gastgeber. Derjenigen Person, die er als die wichtigste seines kleinen Diners betrachtete, unterbreitete er vorher die Liste der Einzuladenden. Bei Tisch selbst saß er am Ende der Tafel und überwachte den Verlauf. Taine beschreibt ihn als schüchtern: Er hat etwas vom Geistlichen und Weltmann, spricht leise und mit einschmeichelnder Modulation, bis der Freimut und die Kraft der Überzeugung plötzlich heftig ausbrechen. 146
Sein Haus w a r ohne Hausfrau. In Dichtungen und Schriften feierte er das Glück der Ehe und des Familienlebens, für sich selbst aber hat er es nie erreicht. Einige Zeit, nachdem die unglückliche Leidenschaft für Adele Hugo zu Ende war, hatte er um ein junges Mädchen aus angesehener bürgerlicher Familie, die Tochter eines Generals, geworben, w a r aber zu seinem großen Schmerz abgewiesen worden. Bis zur Schwelle seiner letzten großen Lebensperiode hatte er sich dann mit der Liebe für eine Dame der Aristokratie hingeschleppt, doch hatte auch dies Gefühl keine volle Erwiderung gefunden. Daß seine Sehnsucht nach einem Familienleben und nach eigenen Kindern echt war, und nicht nur dichterisch anempfunden, dürfen wir wohl annehmen. Aber er scheint doch seiner N a t u r nach nicht dafür geschaffen gewesen zu sein. M a n k a n n sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er in seinen erotischen Erlebnissen stark von literarischen Vorbildern beherrscht wurde. Der romantischen Passion für Victor Hugos Frau folgte bald die galante f ü r jene Aristokratin, Frau von Arbouville, ähnlich wie sein Geschmack sich zur klassischen Zeit zurückwandelte. Aber die Wirklichkeit entsprach diesen Vorstellungen nicht. Adele Hugo w a r eine glückliche Mutter, und gerade der Anblick einer wohlbeschaffenen Familie w a r es, der den jungen Sainte-Beuve anfangs so stark gefesselt hatte. Denn sein Begriff von Romantik h a t t e jenen bürgerlichen Zug, den er an den englischen Lyrikern liebte. Deshalb w a r e n weder er selbst noch Adele die geeigneten Mitspieler in einer Leidenschaft romantischen Stils und wurden in keiner Art glücklich dabei. Die Aristokratie aber war auch nicht mehr galant, wie im 17. und 18. Jahrhundert, Frau von Arbouville w a r bereit, ihm eine Schwester zu sein, nichts anderes, und er selbst wiederum w a r nicht unempfänglich für diese Gefühle einer vergeistigten Erotik, die der Zeit vor Rousseau nicht entsprachen. Auch in diesem Verhältnis eigneten sich also beide Mitspieler nicht zu dem Roman, der Sainte-Beuve vorschwebte. So lebte er in einem Zwischenbereich der literarischen Erinnerungen und der Wirklichkeit, in einer V e r w i r r u n g der Sinne und der Gedanken, aus der er sich nicht den Ausgang zu bahnen vermochte. Als er ein vorgeschrittenes Alter erreicht hatte, bot sein häusliches Leben den Eingeweihten einen doppelten Anblick. Empfing er seine Freunde aus der literarischen Sphäre oder die Prinzessin Mathilde und ihren Bruder oder auch irgendeinen seiner Schulfreunde, an denen er treulich festhielt, so zeigte sich ihnen ein wohlversorgtes Junggesellenheim mit der erforderlichen Bedienung. W a r er aber mit den Seinen allein, so saß nicht selten auch eine seiner Freundinnen und Geliebten am Tisch, die er sich als Bürger aus der Sphäre des Volkes gewählt hatte. Er verhehlte diese Beziehungen nicht, wenn er es
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auch vermied, sie mit seipen offiziellen Zirkeln zu vermischen, da er keinerlei Hang zu einer bohemehaften Lebensweise besaß. Griff man ihn an, so leugnete er nicht, daß sein privates Leben Schwächen habe, aber es liege offen zutage und habe den Charakter des Natürlichen. Gelegentlich berief er sich auch für diese späten Gefühle auf ein literarisches Beispiel oder er rühmte das naive, aber treffende Geschmacksurteil eines solchen jungen Mädchens aus dem Volke, das nicht einmal lesen konnte. Aber er machte nicht den Versuch, sich vor seinem eigenen Gefühl durch eine naturalistische Philosophie zu rechtfertigen. Am Ende der zeitgenössischen Bildnisse finden wir den Gedanken: „Wenn sich dein Haus nicht in einem bestimmten Alter mit Kindern bevölkert, so füllt es sich mit Torheften oder Lastern." So mag er sich die sexuellen" Beziehungen seines Alters aus seiner Familienlosigkeit erklärt haben, für die er sein Schicksal verantwortlich machte. Aber obwohl er sein Dasein, nachdem die1 Jugend vorbei war, wie ein Epikuräer zu genießen schien, blieb doch der Grundton seiner Seele düster. Und er erklärt seine Melancholie aus seiner Lebensführung. In den letzten Jahren schreibt er in seine Notizen: ,,Ich lebe in einer ständigen tödlichen Traurigkeit. Weil ich nicht mehr auf Liebe hoffen darf? Oder vielmehr weil ich die Tugend in mir entehrt habe?" Sainte-Beuve war ein ausgesprochener Großstädter von Neigung, und obwohl er seine Kindheit an der Kanalküste verlebt hatte, finden wir doch bei- ihm niemals die Sehnsucht, für immer oder wenigstens für eine Spanne des Lebens in eine Gegend mit großen Naturerscheinungen zurückzukehren. Er liebte die Natur, aber mehr als eine Ergänzung des städtischen Lebens. Seine seltenen Reisen dienten Zwecken der Bildung, so fuhr er an den Rhein, in das England der Kathedralen, nach Rom. Er liebte Paris nicht nur, wie es selbstverständlich ist, als Schriftsteller und geistiger Mensch, sondern hatte auch eine ausgesprochene Vorliebe für das einfache Volk. Einer seiner Sekretäre erzählt uns über ihn, wie er nach Tagen, die von Arbeit ausgefüllt oder durch ehrenvolle Besuche gekennzeichnet waren, abends einen Spaziergang durch die Straßen seines Stadtviertels machte, den Stock oder den Regenschirm in der Hand. Mitten im Gewühl der Menschen hielt er zuweilen an, um unter einer Laterne eine Aufzeichnung zu machen, und so kehrte er zurück, beladen mit Eindrücken und Gedanken. Er selbst beschreibt uns den Eindruck des Volkslebens in seinem Stadtviertel am Abend großer Festtage. Seine Gegend gehört nicht dem wohlhabenden Bürgertum, sondern dem Volk. Es bewegt sich auf den Straßen, heiter, gesellig, höflich. Wenn die Menge sich zu sehr drängt und er mühsam hindurchgeht, ruft wohl eine Stimme: „Achtung für das Alter! Macht 148
dem Alten Platz!" In Paris ist es süß zu leben, in Paris will er sterben! Die einfachen Menschen seines Viertels kennen ihn persönlich. Er erfährt ihre Sorgen, die Plackereien und Ungerechtigkeiten der Amtsstellen, .denen der kleine Mann so oft ausgesetzt ist, und da sie wissen, daß seine Beziehungen hoch hinaufreichen, so bitten sie ihn um Fürsprache und Hilfe. Seine humane Denkweise leuchtet uns aus vielen Dokumenten entgegen. In seinem Briefwechsel,'vor allem aus den späteren Jahren, als er Einfluß besaß, stoßen wir immer wieder auf Empfehlungsbriefe. Das schönste Zeugnis für seine Hilfsbereitschaft legte Marcelline Desbordes-Valmore in einem vertraulichen Brief an eine Freundin ab. Sie hat sie an sich selbst erfahren und für viele andere in Anspruch genommen. Von ihm gefördert zu werden, so schreibt sie, ist eine himmlische Freude. Er bittet und macht Gänge, um Verhafteten die Freiheit wiederzugeben, er gibt und gibt aus seinen begrenzten Mitteln, und in politisch erregten Zeiten hat er sich mit Erfolg für viele verwandt, deren bescheidene Einkünfte durch den Wechsel der Machtträger bedroht waren. Aber er ging auch in anderer Weise auf fremde Nöte ein. Seine Zeit war durch Arbeit völlig in Anspruch genommen, und trotzdem unterließ er es selten, die Anfrage eines jungen Dichters zu beantworten, der sich an den berühmten Kritiker wandte, oder das Schreiben eines Unbekannten, der ihm ohne rechte Kenntnis des Mannes- und seiner Leistungen seinen religiösen Unglauben vorwarf. In seiner Arbeitsweise war er von peinlichster Genauigkeit. Niemals begnügte er sich mit den Allgemeinheiten einer schöngeistigen Kritik. In seiner Art, den Stoff zu durchforschen, war er durchaus ein Sohn des positiven, philologischen Jahrhunderts. An Aufsätze in literarischen Zeitschriften, an literarische Feuilletons in Tageszeitungen verwandte er das höchste Maß von wissenschaftlicher Sorgfalt. Aber die seelische Kraft, aus der sich diese Mühe speiste, war nicht der Trieb zu erkennen, sondern eine allgemeine Liebe zur Literatur. Sie spricht vielleicht am stärksten aus den Worten des Lobes, die er gelegentlich für das Lesen findet. Sein Geist lebte noch in jener humanistischen Zeit, als Handschriften und Drucke das ganze Denken der Gebildeten erfüllten. Er besaß den Glauben an die Literatur, die verpflichtende Bindung ihr gegenüber, alles das, was einer seiner Nekrologisten dann die religio der Literatur genannt hat. Nachmittags um vier Uhr ging er zuweilen in den Garten hinab, nachdem er einen Gesang aus Homer gelesen hatte, um dort in der Erinnerung an das eben Gelesene Erholung zu suchen. Diese Gewohnheit pflegte er mitten in dem Paris des zweiten Kaiserreiches, in der Stadt der Weltausstellungen und der Operetten Offenbachs, von der er sich auch 149
keineswegs weltflüchtig zurückzog. Er besaß einen klassischen, d. h. im Sinne Goethes und seinem eigenen, einen gesunden Geist, der Vergangenheit und Gegenwart ruhig miteinander verband. Die Liebe zu dem gestalteten W o r t überwog bei ihm auch alle persönlichen und allgemeinen Gegensätze. Sein inneres Verhältnis zu Victor Hugo war durch all das verdunkelt, was zurückbleibt, wenn eine enge Freundschaft sich auflöst. Seitdem war Hugo der große Gegner des Kaiserreichs geworden, zu dem sich Sainte-Beuve bekannte. Die kritischen Einwendungen, die er frühzeitig gegen Hugos Stil erhoben hatte und die sich auch auf die Persönlichkeit des Dichters bezogen, bestanden weiter. A b e r eines Tages besuchte ihn ein liberal gesinnter Kamerad seines Sekretärs und zitierte begeistert aus den Strafgedichten Hugos-gegen Napoleon. Sainte-Beuve hörte zu, der Sekretär jedoch, etwas bedenklich geworden, hob die Sitzung nach einigei Zeit auf. A m folgenden Tage aber vernahm er, w i e der Kritiker, indem er von einem Zimmer zum anderen ging und die Treppen zu seiner Bibliothek hinaufkletterte, mit geschwungener Faust die leidenschaftlichen und herrlich klingenden Strophen eines Gedichtes von Victor Hugo gegen den Kaiser rezitierte. Sainte-Beuves schriftstellerische Tätigkeit wurde noch zweimal durch die Übernahme eines Lehramts unterbrochen. A n der Vorbereitung und Durchführung der großen Revolution hatten die Schriftsteller einen bedeutenden Anteil gehabt. Als der Staat dann ein eigenes, von der Kirche unabhängiges höheres Unterrichtswesen schuf, unter der ersten Republik und dem Kaiserreich, konnte das nur mit Hilfe angesehener Schriftsteller geschehen, die in die leitenden Stellen der Unterrichtsverwaltung und auf die Katheder berufen wurden. So waren die Berufe des Lehrers und des Schriftstellers im modernen Frankreich enger miteinander verbunden, als wir es aus deutschen Verhältnissen gewöhnt sind. Sainte-Beuve hatte die Berufung in ein Lehramt schon zur Zeit Guizots erstrebt, damals aber vergeblich. Es ergab sich nun aus seinem Verhältnis zum Empire ohne Schwierigkeiten, daß ihm jetzt ein Lehrstuhl übertragen wurde. Auf Grund eines Gutachtens der Fakultät und der Akademie der Inschriften ernannte ihn der Unterrichtsminister 1855 zum Professor für lateinische Dichtung an der Sorbonne. Ein solches A m t bedeutete für ihn als Schriftsteller zugleich eine öffentliche Anerkennung und eine wirtschaftliche Sicherung. A b e r als er seine Vorlesung begann, kam es zu Demonstrationen studentischer Hörer, die in ihm den Überläufer von republikanischen Überzeugungen zum Kaiserreich sahen, und als sich diese Störungen bei der zweiten Vorlesung wiederholten, gab Sainte-Beuve, der sich nicht auf die Unterstützung durch die Polizei einlassen wollte, seine Lehrtätigkeit auf. Den Inhalt der geplanten 150
Vorlesung legte er der Öffentlichkeit in Form einer Studie über Vergil vor. Warum er nicht versuchte, sich gegen diese jugendliche Opposition durchzusetzen, ist nicht recht zu verstehen. Zwei Jahre später wurde er zum Lehrer für französische Literatur an der Ecole normale supérieure ernannt. Trotz aller Vertrautheit mit der klassischen Literatur war ihm dieser Lehrauftrag doch gemäßer. Die Ecole normale war bei weitem die wichtigste Bildungsstätte für die künftigen Lehrer an den höheren Schulen und Hochschulen. Gegründet vom Konvent, unter der Restauration zeitweise aufgelöst, war sie zu allen Zeiten eine Stätte der vorwärtstreibenden Kräfte unter der Jugend gewesen. Die Unterrichtsverwaltung des Empire hatte ihr einen Leiter von ausgesprochen klassizistischer Richtung gegeben, um dem revolutionären Geist innerhalb der Schülerschaft entgegenzuwirken. Aber die Berufung Sainte-Beuves stellte eher ein Gegengewicht gegenüber einem starren Klassizismus dar und war vielleicht auch in diesem Sinne gedacht. In seiner Eröffnungsvorlesung betonte er zwar den Wert der literarischen Tradition, aber er warnte auch davor, sie zu starr zu fassen, und wies dem Lehrer die Aufgabe zu, auch das Künftige im Auge zu behalten. Er las dann über die Anfänge der französischen Sprache und Literatur und über das französische Theater im Mittelalter, und obwohl er der mittelalterlichen Poesie den Rang der antiken und der größten modernen Werke nicht zuerkannte, so waren seine Ausführungen doch von historischem Verständnis erfüllt und hinterließen bei vielen Schülern einen starken Eindruck. Es sollte sich bald zeigen, daß er der studierenden Jugend innerlich näher stand, als beide Teile wußten. Nach vier Jahren trat er zu journalistischer Tätigkeit zurück, die ihn mehr anzog. Das Scheitern der Revolution von 1848 und der Staatsstreich von 1852 hinterließen zunächst eine tiefe geistige Lähmung in Frankreich, die erst langsam wich. Vor der Wiederaufrichtung des Kaiserreichs und in dessen ersten Jahren befaßte sich Sainte-Beuve hauptsächlich mit historischen Werken, Memoiren, Dichtungen einer älteren Zeit. Er genügte damit dem Programm, das er sich selbst zu Beginn der Plaudereien gestellt hatte, nach der Unterbrechung durch die revolutionären Ereignisse das literarische Leben überhaupt erst einmal wieder aufzurichten. Es war auf geistigem Gebiet ein Ziel verwandt mit dem, das Napoleon auf politischem Gebiet anzustreben behauptete, mit einem deutlichen monarchischen, kirchlichen und allgemein-konservativen Charakter. Aber einige Jahre später begann die Lähmung langsam zu weichen. Eine junge Literatur entstand, teils wissenschaftlichen, teils dichterischen Charakters, unter verschiedenen Formen von einem starken realistischen, ja, naturalistischen Geist erfüllt. Zuerst näherte sich Renan dem Kritiker, ein 151
paar Jahre später Taine. Sie wußten, und sprachen es aus, daß sie von Sainte-Beuve entscheidende Anregungen für ihre eigene Art zu sehen empfangen hatten, vor allem von seinem gtoßen Hauptwerk. Flaubert und die Brüder Goncourt zogen gleichfalls die Aufmerksamkeit des Kritikers auf sich. War er einst der Herold der Romantiker gewesen, so war er hier em literarischer Führer, der mit selbständigem Urteil das Publikum zu dieser neuen Gruppe großer Schriftsteller und Dichter hinleitete. Er hatte durchaus seine Vorbehalte, besonders gegen Flaubert, aber gerade weil er nicht bedingungslos lobte, sondern gerecht abwog, hatte sein Urteil Gewicht, und es war so gehalten, daß es die Leser gewann. So hat schon Levallois, der bedeutendste unter Sainte-Beuves Sekretären, betont, daß der Kritiker den Dichtern und Schriftstellern des zweiten Kaiserreichs zum Sieg über die öffentliche Meinung verholfen hat. Damit erstieg er aber auch selbst die Höhe seines kritischen Ruhmes. Die Kaiser förderte hier und da -wissenschaftliche Untersuchungen, kümmerte sich aber nicht um die Literatur als solche. In diese Lücke traten die Kinder des ehemaligen Königs von Westfalen, Prinz Napoleon und Prinzessin Mathilde. Sainte-Beuve, der freundschaftlich mit ihnen verkehrte, führte ihnen Taine und Renan zu. Auch die Brüder Goncourt verkehrten in diesem Kreise. Der Prinz war aus politischen Gründen mit einer Tochter des Königs von Sardinien vermählt worden. Er hatte sich kurze Zeit Hoffnungen aüf einen neu zu schaffenden mittelitalienischen Thron machen dürfen, blieb aber auch nach dieser Enttäuschung ein leidenschaftlicher Freund der italienischen Einheitsbestrebungen und entsprechend ein Gegner der päpstlichen Politik. Innerhalb der Dynastie vertrat er die Linke, nicht immer zur Freude seines kaiserlichen Vetters, aber unzweifelhaft in einem echt bonapartistischen Sinne. Es entsprach seiner Sympathie für alles Fortschrittliche, daß ihm der Kaiser die oberste Leitung der Weltausstellung von 1867 übertrug. Auch führte er später den Vorsitz in dem Ausschuß zur Herausgabe der Korrespondenz Napoleons I., zu deren Mitgliedschaft er auch Sainte-Beuve berief. Das Verhältnis der beiden Mafiner zueinander war herzlich. Prinzessin Mathilde war ein häufiger Gast in dem Hause des Kritikers, der ihr eine galante Verehrung widmete. Sein Verhältnis zum Kaiserreich änderte sich mit der Zeit, so wie auch jenes selbst sich innerlich wandelte. Louis Napoleon war zuerst als Retter der Gesellschaft aufgetreten und auch von SainteBeuve als solcher aufgefaßt worden. In den ersten Jahrgängen seiner Plaudereien hatte er den Katholizismus im Sinne des Gallikanismus als eine der Grundlagen der französischen Politik betrachtet, die entscheidende Bedeutung großer Individuen für den Aufbau der 152
Staaten hervorgehoben, rationalistische oder radikale Staatslehren ausdrücklich bekämpft. Er befand sich damit in Übereinstimmung mit den Grundlinien der Politik Napoleons III. Abei; die italienische Politik des Kaisers, die den Papst mit dem völligen Verlust seiner weltlichen Stellung bedrohte, führte zu einer Entfremdung zwischen ihm und dem französischen Klerus. Dieser konnte sich zwar von dem Kaiserreich nicht völlig lossagen, weil er zunächst nicht wußte, wo er eine andere politische Stütze finden sollte, aber sein Vertrauen war erschüttert. Das Kaiserreich beruhte aber auf einem Akt der Volksabstimmung, und wenn es in dem. vom Klerus beeinflußten Teil der öffentlichen Meinung an Boden verlor, so mußte es sich an anderer Stelle einen neuen Rückhalt suchen. Dadurch gewannen innerhalb der kaiserlichen Familie und der Anhänger des Systems diejenigen Kräfte an Bedeutung, die sich als die Linke des Kaiserreichs betrachteten. An ihrer Spitze stand Prinz Napoleon. Seine politische Bedeutung war um so größer, als der Kaiser nur eiiieti einzigen Sohn hatte, der damals noch ein Knabe war. S.einer ganzen Persönlichkeit nach eignete er sich freilich wenig zum politischen Führer, aber die Veränderung der internationalen Lage verschaffte seiner antiklerikalen Grundtendenz doch einen gewissen Spielraum. SainteBeuves Freundschaft mit dem prinzlichen Geschwisterpaar schloß auch eine Persönlichkeit wie Renan mit ein, bei welcher der Gegensatz zum katholischen Dogma vom Beginn seiner öffentlichen Laufbahn an gegeben war. Renans Persönlichkeit und Geschichte zeigt auch deutlich, daß die Zeit des Kompromißfriedens zwischen der katholischen Kirche und der französischen Intelligenz, der durch eine Persönlichkeit wie Cousin verkörpert wurde, zu Ende ging. Die orientalischen Forschungen Renans, die naturwissenschaftliche Erklärung geistiger Vorgänge bei Taine, dies alles richtete sich unmittelbar gegen Grundbegriffe der christlichen Glaubenslehre. In diesem Konflikt, der sich immer mehr verschärfte, konnte es aber für Sainte-Beuve kein Schwanken geben. Sein Platz war auf der Seite von Männern wie Taine und Renan. Er war nach wie vor ein Anhänger des Kaiserreichs, aber seitdem sich aus dem Gegensatz zwischen den Interessen der Kirche und der Nationalitätenpolitik Napoleons eine kaiserliche Linke herausbildete, gehörte er zu dieser. Hier war die üb'erzeugungsmäßige Grundlage seiner Verbindung mit dem prinzlichen Geschwisterpaar. Seine Aufnahme in den Senat, die 1865 erfolgte, war deshalb nicht ganz ohne politische Bedeutung. Sainte-Beuve hatte den Gedanken, Senator zu werden, ursprünglich entschieden abgewiesen. Aber seine Ernennung war jetzt, nach einer Reihe von Jahren, nur eine natürliche Folge der Stellung, die er in seinen Artikeln gegenüber dem Kaiserreich einnahm. Nachdem der 153
Gedanke daran zuerst in der Öffentlichkeit aufgetaucht war, drängte er selbst entschiedener darauf, als es dem Verhältnis dieser Ehrung zu seiner persönlichen Bedeutung entsprach. Aber w e n n die Frage seiner Kandidatur einmal gestellt wurde, so durfte er sich mit Recht sagen, daß er der gegebene Vertreter der Literatur in diesem Oberhaus des Kaiserreiches sein würde. Die Fürsprecherin seiner W ü n s c h e bei Napoleon w a r Prinzessin Mathilde, die ihm persönlich die Ern e n n u n g überbrachte.. In dem gleichen J a h r e erschien der erste Teil seiner biographischen Studie über Proudhon, die dann keine Fortsetzui^g mehr fand. Sainte-Beuve besaß, trotz seiner Berührung mit dem Saint-Simonismus, keine tiefere Kenntnis der sozialistischen Bewegung, ihrer zahlreichen Formen und Systeme. Aber er lebte seit seinem vierzehnten J a h r e in der Großstadt, die äußeren Verhältnisse seiner Frühzeit waren denen der ärmeren Bevölkerung eng benachbart gewesen, und so hatte die Liebe der Romantiker zum Volk ihn von J u g e n d an zum städtischen Proletariat hingezogen. Obwohl er von einem sozialen Umsturz die größte Gefahr für die Kultur befürchtete und in seinen späteren J a h r e n die Staatsform der Demokratie entschieden ablehnte, waren ihm doch bürgerliche Klassengefühle gegenüber dem Proletariat zu allen Zeiten fremd. Er begegnete sich mit Beranger und George Sand in einem Sozialismus des Gefühls. Proudhon hatte sich zwar schon lange vor seinem Tode von politischer Betätigung zurückgezogen, und w e r sich genauer mit seinen Theorien befaßte, konnte wissen, daß sie einen konservativen, mittelständlerischen Zug trugen, aber es gehörte doch für einen Mann in der Lage SainteBeuves Mut dazu, um Verständnis und Sympathie für den Mann zu werben, der das Eigentum für Diebstahl erklärt hatte. Auch in diesem Verständnis für den Sozialismus, der sich damals in n e u e m Aufstieg befand und selbst von dem Kaiser gefördert wurde, begegnete er sich mit den Männern, die wie Prinz Napoleon dem Kaisertum neue Stützen an Stelle der alten, wankend gewordenen suchten. Ob diese Politik bei dem tatsächlichen Zustand der öffentlichen Meinung in Frankreich Aussicht auf Erfolg hatte, steht auf einem anderen Blatt. Sainte-Beuve hatte seine Zweifel, wie später deutlich wurde, aber er unterstützte sie aus Überzeugung. Zu dem Kaiser selbst hatte er keine persönlichen Beziehungen und suchte sie auch nicht. Er v e r k e h r t e nicht am Hofe und b e w a h r t e sich ungeachtet seiner Zustimmung zu der Staatsform die Freiheit des Urteils über ihren höchsten Träger. Als Napoleon seinen Vetter, den Prinzen Napoleon, wegen einer Rede bei der Einweihung eines Denkmals f ü r Napoleon I. in Ajaccio öffentlich tadelte, nahm SainteBeuve in einem Brief an Prinzessin" Mathilde die Partei des Prinzen, 154
der in seinen Augen die patriotische und demokratische Auffassung des Kaisertums, die von 1815, vertrat. Die Geschichte Casars, die unter Napoleons III. Namen erschien, zu besprechen, weigerte er sich. Er wolle sich nicht um die Ehre bringen.'Er diktierte dann zu Hause den Beginn eines Artikels, in dem er die echten Cäsaren von den künstlichen unterschied. Diese haben nur die hohe Maske, sie haben keine Erfindungsgabe und scheuen im Kriege vor den Festungsvierecken zurück (wie Napoleon III. es in Italien getan hatte), und wenn einer von den Cäsaren der zweiten Art die Geschichte eines echten schieiben will, so erscheint überall nur die leere Form. Der Geist würde seine Mühe verlieren, wenn er einem solchen dienen wolKe, denn er ist taub für alles, was nicht aus ihm selbst kommt oder das Echo seiner eigenen Gedanken ist. Diese Ausführungen, an deren Veröffentlichung nicht zu denken war, enthielten seine Gedanken über die Person des Herrschers und lassen sich an Schärfe kaum übertreffen. Sie zeigen aber andererseits, daß seine Kritik sich nicht gegen die Form des Staates, den Cäsarismus an sich, richtete. Zu Beginn des J a h r e s 1867 kündigte der Kaiser in aller Form die Umwandlung des autoritären Kaiserreichs in eine konstitutionelle Monarchie an. Damit kam die innere Politik Frankreichs in raschen Fluß. Die Gegensätze versteiften sich. Die klerikale Partei fühlte sich in ihrer Stellung bedroht. Unter den nächsten Gehilfen und Vertrauten Napoleons brachen schwere Gegensätze aus. Der Kaiser hielt aber trotz manchen Zögerns schließlich an seinem Plan fest. Er sah, daß der Liberalismus im Aufsteigen war, und wollte die Bewegung in den Dienst seiner Herrschaft stellen. Unter diesen allgemeinen Verhältnissen geriet Sainte-Beuve durch seine Stellung ?ils Senator in eine Reihe von Kämpfen, die sein letztes Bild in dei Geschichte bestimmen. In einer autobiographischen Skizze aus dem Sommer 1868 schreibt er, daß die Rolle, die aus ihm den erklärten Verteidiger der Gedankenfreiheit gemacht habe, weniger das Ergebnis eines überlegten Entschlusses, als das einer unwiderstehlichen Bewegung sei. Die Tatsachen bestätigen seine Behauptung durchaus. Der erste Zusammenstoß zwischen ihm und der Mehrheit des Senats war die Folge eines Angriffs auf die Person Renans, den Sainte-Beuve mit Heftigkeit abwehrte. Er benutzte dann die Gelegenheit der Aussprache über eine Interpellation, die den Ausschluß von Werken Voltaires, Rousseaus, Proudhons, Renans, der George Sand u. a. aus den Volksbüchereien herbeiführen sollte, um sich grundsätzlich über die Stellung des Staates zum geistigen Leben auszusprechen. Er wandte sich gegen die offizielle Mißbilligung bostimmter Autoren, durch die der Staat ein Gegenstück zum Index der katholischen 155
Kirche schaffen würde. Das Kaiserreich, so faßte er seine allgemeine Anschauung der politischen Lage zusammen, schützt die konservativen Interessen, aber auch die Errungenschaften der Revolution. Das Herz des Kaiserreichs schlägt links! In einer zweiten großen Senatsrede behandelte er das Pressegesetz, das die Regierung eingebracht hatte und das in der Kammer bereits angenommen war. Es befreite die Presse von der Entscheidungsbefugnis der Verwaltungsorgane und unterstellte sie ausschließlich dem Spruch der Gerichte. Sainte-Beuve verteidigte die Absicht des Gesetzes gegen die Opposition im Schoß der Regierung selbst und forderte für die Zukunft die Beseitigung der Bestimmungen, die der freien Entfaltung der Presse noch entgegenstanden. Der Senat hatte seit kurzem ein Mitbestimmungsrecht bei der Gesetzgebung, lind so war diese Rede die einzige, mit der Sainte-Beuve praktisch an der Gestaltung des politischen . L e b e n s teilnahm. Er verhielt sich dabei durchaus staatsmännisch. Er kannte die Gefahren der Pressefreiheit, w i e frühere Äußerungen zeigen, aber da er ein Anhänger des Kaiserreichs w a r und sich aus innerster Überzeugung zur Linken innerhalb dieses Regierungssystems hielt, so setzte er sich ohne Einschränkungen und mit vollem Nachdruck für das Gesetz ein. Das Kaiserreich konnte nur dann einen Gewinn von diesem Beginn einer neuen Politik haben, wenn es sie entschlossen betrieb, den Kräften der Presse, denen es Freiheit gab, volles Vertrauen entgegenbrachte und damit auch ihr Vertrauen gewann. Die dritte Senatsrede diente der Verteidigung der medizinischen Fakultät von Paris. Ihr wurde vorgeworfen, daß sie eine Doktordissertation zugelassen habe, in der die Willensfreiheit des Menschen geleugnet wurde. Der Erzbischof von Rouen las einen Artikel aus einem medizinischen Lexikon vor, in welchem der Mensch als Säugetier und am nächsten den A f f e n verwandt definiert wurde. Es w a r klar, daß es hier um entscheidende Punkte der kirchlichen Lehre ging. Sainte-Beuve sprach auch hier sehr abwägend. Er verteidigte das Recht der wissenschaftlichen Forschung. W e l c h e weltanschaulichen Folgerungen er daraus zog, mußte jedem einzelnen überlassen bleiben. Für die Freidenker forderte er die volle moralische Anerkennung, dem Staat riet er zu weltanschaulicher Neutralität. Im Gang der Verhandlungen waren dies aber mehr gelegentliche Bemerkungen, den Anlaß zu dieser Rede gab eine Interpellation, in der die Freiheit des Hochschulwesens gefordert wurde, mit dem Ziel, die gesetzliche Grundlage für die Einrichtung kirchlicher Fakultäten zu schaffen. Sainte-Beuve behandelte diese Forderung als einen Ausdruck kirchlichen Machtstrebens und bekämpfte sie mit stärkstem Nachdruck im Namen der Souveränität des Staates. In einem Brief an die Prinzessin Mathilde spricht er einmal von 156
dem Plan, eine Montagsplauderei über Cavour zu schreiben, der leider nie ausgeführt worden ist. Dem kirchenpolitischen Programm des italienischen Staatsmannes, das er in die Formel von der freien Kirche im freien Staate gefaßt hatte, entsprach Sainte-Beuves Rede jedoch nicht. Sie war eine ausgesprochene Kampfrede, entstanden aus der AtmospTiäre des Kulturkampfes. Den Studenten der medizinischen Fakultät, die an einem der folgenden Tage zu seinem Hause zogen, um ihm zu danken und ihn zu ehren, rief er zu: „Seit langem hege ich den Gedanken, daß die einzige Gewähr der Zukunft, einer Zukunft des Fortschritts, der Kraft und der Ehre für uhser Volk, im Studium besteht — und vor allem im Studium der Naturwissenschaften. Studieren Sie, arbeiten Sie, meine Herren, arbeiten Sie, um eines Tages unsere Krankheiten des Leibes und der Seele zu h e i l e n . . . ! " Etwa ein Jahr vorher hatte der Unterrichtsminister höhere Unterrichtskurse für junge Mädchen eingerichtet. Fast alle französischen Bischöfe hatten Einspruch dagegen erhoben. Da die Erziehung der weiblichen Jugend aus dem Adel und dem begüterten Bürgertum bisher fast ganz in der Hand kirchlich geleiteter Einrichtungen gelegen hatte, so handelte es sich für sie um eine sehr wichtige Frage. Aber die Lehrgänge waren weitergelaufen. Aus ihnen waren Vorlesungen über Dichtung und Dichtkunst hervorgegangen, die SainteBeuve zum Gegenstand eines Artikels machte. Die Regierung hatte dem Moniteur, in dem er schrieb, kurz vorher ihren besonderen Schutz entzogen, um eine eigene offizielle Zeitung zu gründen. SainteBeuve hatte die Aufforderung, an das neue Blatt als Mitarbeiter überzugehen, abgelehnt, aus dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Besitzer des Moniteur und um größere Freiheit zu haben. Aber diese Hoffnung täuschte ihn. Eine ironische Bemerkung über den Widerstand der Bischöfe gegen jene Lehrgänge, die er in seinen Artikel eingeflochten hatte, wurde von dem Besitzer des Blattes beanstandet. Darauf brach Sainte-Beuve kurzerhand mit ihm und sandte seinen Artikel an, den Temps, dessen leitende Männer schon seit Jahren zu seinen persönlichen Freunden gehörten. In den ersten Tagen des Jahres 1869 erschien mit diesem Artikel sein erster Beitrag in diesem Blatte. Am Nachmittag desselben Tages betrat Prinzessin Mathilde in höchster Aufregung das Haus Sainte-Beuves und machte ihm die heftigsten Vorwürfe, die zum Bruch ihrer Freundschaft führten. Sie betrachtete seinen Übergang zum Temps, dem führenden Blatt der liberalen Opposition, als einen Treubruch gegen das Kaiserreich. Es war in der Tat- ein Schritt, der Aufsehen hervorrief und einer Erklärung bedurfte. Aber Sainte-Beuve hatte ja vor allem die Absicht, in seinem Artikel eine fortschrittliche Maßnahme der Regierung gegenüber der bischöflichen Kritik zu verteidigen. Auch war das 157
Kaiserreich selbst in voller Umwandlung zu einer konstitutionellen Monarchie mit liberalen Grundsätzen. Und schließlich gehörte ja gerade die Prinzessin mit ihrem Bruder zu der Linken des Kaiserreichs. Wir haben also keinen Grund, an Sainte-Beuves Ehrlichkeit zu zweifeln, wenn er ihr in einem würdig gehaltenen Brief schrieb, daß er sich keiner persönlichen Kränkung ihr gegenüber bewußt sei. Er hatte in gutem Glauben gehandelt, seiner bisherigen Linie treu zu bleiben, und nicht an eine Trennung von seinen bonapartistischen Freunden gedacht. Die Prinzessin versuchte bald danach eine Versöhnung herbeizuführen, die der Kritiker aber abwehrte, und ihr Bruder blieb ihm verbunden. Dennoch war ihr politisches Gefühl im Grunde richtig. Die einfache Tatsache, daß Sainte-Beuve für seinen Artikel nur in einem Organ der liberalen Opposition Platz fand, zeigte einerseits, daß für die Linke des Kaiserreichs in diesem selbst eben kein Platz war, und andererseits, daß die eigentliche Linke außerhalb des Kaiserreichs stand. Ein liberaler Bonapartismus war ein Wunschtraum weniger, ohne Wurzeln in dem Gefühl größerer Kreise. Am 6. September desselben Jahres erfolgte ein Senatsbeschluß, der mit den Wünschen Napoleons übereinstimmte und in aller Form die Verfassungsänderung einleitete. Die Tage des autoritären Kaiserreichs waren zu Ende. Sainte-Beuve, der durch seine Krankheit verhindert war, an den Senatssitzungen teilzunehmen, gab seine Auffassung in einem offenen Brief an den Herausgeber des Temps kund, der am 7. September in diesem Blatt erschien und seine letzte Veröffentlichung bleiben sollte. Sie ist ein Manifest großen Stils. Er bekannte sich nochmals zur aufgeklärten und fortschrittlichen Diktatur. Aber das Kaiserreich hatte seinen Untergang als autoritärer Staat selbst verschuldet. Es hatte sich nicht um das geistige Leben gekümmert, die Opposition der studierenden Jugend vernachlässigt, die Akademie, die Schriftsteller, die Künstler sich entfremdet, und auf jede Warnung hatten die verantwortlichen Staatsmänner hochmütig geantwortet: „Was tut uns das?" Jetzt werden wir erleben, wie clie Folgen des Senatsbeschlusses sich vor uns abrollen. Aus den Erinnerungen des Kardinals Retz können wir lernen, so mahnt der Kritiker seine Leser, wie eine Revolution beginnt. Lernen wir daraus auch, wie man sie vermeidet! Genau so wie in seiner Rede über das Pressegesetz forderte er die Regierung auf, den neu gewählten Weg nun ohne Schwankungen weiterzugehen. Es • ist aber sehr deutlich herauszuhören, daß er persönlich nur geringes Vertrauen in die Zukunft dieser Politik setzt. Nicht er hat das Kaiserreich verlassen, sondern dieses ihn. Er starb wenige Wochen später, am 13. Oktober, an einem Stein158
leiden, in seinem Hause und umgeben von Freunden, im 65. Lebensjahr. Seine Beisetzung verlief, wie er es schon zwanzig J a h r e vorher gewünscht und noch zuletzt testamentarisch festgelegt hatte, in schlichtester Form und ohne irgendwelche Feierlichkeiten kirchlicher oder bürgerlicher Art. Eine zahlreiche Menge folgte dem Sarg, darunter viele Studenten, und von bedeutenden Persönlichkeiten George Sand, Flaubert, Taine und Renan. Die Ereignisse hatten es mit sich gebracht, daß er in den letzten J a h r e n seines Lebens fast wie eine politische Persönlichkeit erschienen war. Der Tod stellte in der Öffentlichkeit das richtige Bild wieder her. Alle Freunde der Literatur, und welcher gebildete Franzose war das nicht?, hatten sich an den kaum unterbrochenen Strom seiner Kritiken gewöhnt. Sein Urteil w a r ein stets sich erneuernder Bestandteil ihres geistigen Lebens geworden. Jetzt fühlten sie, schmerzlich überrascht, die Lücke, die er hinter sich ließ. Er galt schon damals für den größten Kritiker seiner Zeit. Taine schrieb von ihm in seinem Nachruf, daß er zu den fünf oder sechs Menschen gehörte, die w ä h r e n d seines J a h r h u n d e r t s in Frankreich dem Geist die größten Dienste geleistet hatten. Die Ereignisse der J a h r e 1870 und 71 unterbrachen die Beschäftigung mit seiner Person. Aber sogleich danach b e g a n n e n die Erinnerungen seiner Sekretäre zu erscheinen, nicht alle erfreulich in ihrer schriftstellerischen Haltung, und wichtige Teile seines Briefwechsels. Der erste Teil seiner Korrespondenz, der 1877 erschien, veranlaßte Karl Hillebrand zu" einer ausführlichen Darstellung seines Charakters. Hillebrand vereinigt in seiner Person zwei Vorzüge, die für einen Beurteiler wesentlich sind und sich sehr selten zusammenfinden: er kannte aus einem Aufenthalt von J a h r z e h n t e n das geistige Leben Frankreichs aufs g e n a u e s t e und stand ihm doch als Fremder mit einem gewissen Abstand gegenüber. Sein Urteil über SainteBeuves Charakter erscheint uns deshalb besonders wertvoll. Die geistige Bedeutung Sainte-Beuves ist niemals ernsthaft angefochten worden, sein Charakter dagegen häufig. Hillebrand sieht in der Wahrhaftigkeit und dem Unabhängigkeitssinn die Grundzüge seines Wesens. Jene führt ihn dazu, auszusprechen, was er denkt, auch w e n n sich seine Auffassung über einen Menschen oder eine allgemeine Frage gewandelt hat. Dabei zieht er sich den Vorwurf schwankender Gesinnung zu. Dieser macht ihn zu einem unparteiischen Denker. Nichts aber hassen alle Parteien mehr als einen solchen. So erklären gerade seine großen Eigenschaften die vielfältige Gegnerschaft, die er sich zugezogen hat. Er hat das ganze Leben seiner Zeit mitgelebt und sich immer wieder von der Strömung mit fortreißen lassen, und erst am Schluß seines Daseins gelingt es ihm, das Ufer zu erklimmen, 159
und erst jetzt erringt er auch die allgemeine Anerkennung. An diesem Gesamturteil Hillebrands ist nichts Wichtiges zu bemängeln. Man kann es aber vielleicht noch vervollständigen. Sainte-Beuve hatte nicht nur den Drang, auszusprechen, was er für richtig erkannt zu haben glaubte, sondern auch das Verlangen, damit zu wirken und die öffentliche Meinung zu überzeugen. Er war ,von eigenster Anlage ein Schriftsteller, kein reiner Denker oder Forscher. Es steckte in ihm ein Kämpfer. Er führte oft genug einen kritischen Krieg, in dem auch die Gegner einen berechtigten Anspruch vertraten. Aber er stritt nicht um des Streits willen, sondern bahnte immer wieder Friedensschlüsse an. Das Mitfühlen, das ihn stets von neuem dazu führte, mit J a oder Nein Stellung zu nehmen, sich zu beteiligen, war ebenfalls ein bleibender Grundzug seines Wesens. Betrachten wir sein Leben in seinem Gesamtverlauf, so sind wir des Eindrucks gewiß, daß seine Persönlichkeit immer mehr wuchs. Er war nicht nur ein großes Talent, was alle zugeben, sondern auch ein bedeutender Mensch. Und diese Parallelität sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Teilb.egabungen sind auch mit einem Charakter von geringerem Wert verträglich, umfassende Talente auf irgend einem Gebiet aber sind es nicht. Nur müssen wir, um die Richtigkeit dieser Behauptung zu erkennen, den Träger eines solchen geistigen Vermögens nicht in den kleineren Verstrickungen seines Daseins suchen, sondern ihn in den großen Linien seiner Lebensführung begreifen.
DRITTER
TEIL
Das Weltbild
11 D e i t e r s ,
Sainte-Beuvc
Einleitung Das W e r k Sainte-Beuves hat die Form der literarischen Kritik, das Amt, das er als Schriftsteller ausübte, war das des Kritikers. Niemals hat er den Versuch gemacht, die gedanklichen Voraussetzungen seiner Bewertungen geschlossen darzustellen, sei es in systematischer oder auch in aphoristischer Gestalt. Daß er eine ästhetische Theorie besitzt, ist selbstverständlich, und ebenso, daß diese in allgemeine Vorstellungen von Welt und Leben eingebettet ist, aber weder in der Ästhetik, noch in der Philosophie hat er uns selbständige Schriften hinterlassen. Dennoch erweckt jede Beschäftigung mit seinem W e r k in uns den Eindruck, daß wir es nicht nur mit einem Kritiker zu tun haben, sondern darüber hinaus mit einem Denker, der sich wie der Philosoph allgemeine Begriffe von der Welt und dem Schicksal des Menschen in ihr zu bilden bemüht, wenn auch nicht in abschließender, systematischer Gestalt. Immer wieder begründet er seine Kritik mit allgemeinen Betrachtungen philosophischer, ästhetischer, moralisierender Art oder läßt sie in solche auslaufen. Er begnügt sich nicht damit, das einzelne Werk, den einzelnen Schriftsteller zu erfassen, sondern er sucht seinen Gegenstand in allgemeine Zusammenhänge einzuordnen, mit sehr verschiedenen Mitteln. Dieser Eindruck, den wir von seinem Werk gewinnen, wird von seiner Persönlichkeit bekräftigt. Keiner seiner Biographen sieht ihn anders denn als einen Menschen, der unerschrocken und unermüdlich mit den Lebensfragen seiner Epoche ringt, ob sie ihm nun in politischer, religiöser oder philosophischer Gestalt begegnen. Seine großen, in sich geschlossenen Vortragsreihen über Port-Royal und Chateaubriand sind Auseinandersetzungen mit weltanschaulichen Bewegungen, j e n e mit dem Christentum, diese mit der Romantik. Obwohl also der literarische Betrieb seiner Zeit ihn zur fachmäßigen Beschränkung auf die literarische Kritik nötigt, bleibt er mit dem philosophischen Charakter seines Werkes doch in der Linie dei Überlieferung. Die moderne europäische Literatur entspringt aus dem Zeitalter der religiösen Kämpfe und gelangt unter dem Einfluß der Philosophie zur Blüte. Religiöse und weltanschauliche Vorstellungen sind in ihren Werken überall zu erkennen, und so verbindet sich 11
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auch die literarische Kritik und die ästhetische Forschung eng mit der philosophischen Bewegung. Am deutlichsten ist diese Verknüpfung in Deutschland, wo die Ästhetik unmittelbar aus der Aufklärungsphilosophie entspringt und bis zum Ende der idealistischen Epoche eng mit den großen philosophischen Systemen verbunden bleibt. Die großen Schriftsteller freilich, die in Deutschland die literarische Kritik praktisch gefördert haben, Lessmg, Herder, Goethe, Schiller, sind nicht von der Philosophie ausgegangen, sondern von der dichterischen Überlieferung und von ihrem eigenen produktiven Vermögen, aber sie stehen dennoch in dauernder Auseinandersetzung mit der philosophischen Bewegung ihrer Zeit. Von diesen allen hat nur Goethe eine allgemeine, im einzelnen noch nicht geklärte Wirkung auf Sainte-Beuve ausgeübt. Dagegen bildet die Romantik den Boden, von dem seine kritische Tätigkeit ihren Ausgang nimmt, und in ihr ist die Verbindung religiöser und philosophischer Begriffe mit solchen ästhetischer Natur von vornherein gegeben. Chateaubriand hatte das ästhetische Urteil geradezu in den Dienst der kirchlichen Restauration gestellt, in dem Werk der Frau von Staël über Deutschland hatten sich liberale Opposition gegen das Empire und das Verständnis für die deutsche Literatur miteinander verbunden, beide wurden so, in verschiedener Weise, zu Mittlern zwischen der Romantik und Frankreich, beide aber sind als Kritiker großen Stils die unmittelbaren Vorläufer Sainte-Beuves. Freilich unterschied er, als der Jüngere, sich von seinen beiden großen Vorgängern durch die andere Form seines Denkens. Im Einklang mit dem Geist des achtzehnten Jahrhunderts, aus dem sie stammten, hatten jene noch versucht, ihren Gedanken über Leben und Kunst die Gestalt eines Systems zu geben, doch waren auch sie schon zu tief in den Strudel der Zeit hineingeraten, um damit zum Ziel zu kommen. Sainte-Beuve hielt sich von einem solchen Bemühen fern. Als junger Mensch erlebte er jene literarische Revolution, bei der durch den Einbruch der germanischen Literaturen der Begriff der klassischen Überlieferung in seinem Vaterlande für immer erschüttert wurde. In nie ermüdendem Studium bemächtigte er sich der bereits vorhandenen Literatur seines Volkes und der Hauptwerke der fremden Völker, ohne sich an einen festen Begriff des Klassischen zu binden. Nach dem Ausgang der romantischen Periode in Frankreich, und nachdem der tote Augenblick überwunden war, irj dem das literarische Leben stillzustehen schien, erlebte er dann in seinen älteren Mannesjahren den Anfang einer neuen, realistischen Literatur, mit Zustimmung, wenn auch nicht ohne Vorbehalte. In der Periode seiner Reife erst, nachdem er vieles durchgeprüft hatte nachfühlend und mitwirkend, schuf er sich einen 164
Begriff des Gültigen und Dauernden in der Literatur, eine Idee des Klassischen auf Grund einer unendlich reichen Erfahrung, darin der großen Gestalt Goethes in seinen bescheideneren Maßen nicht unähnlich. Anders und in viel heftigeren Schwankungen verlief die Bahn seines Geistes zwischen den religiösen und weltanschaulichen Gestirnen, die ihn umstanden. Auf ihr kehrte er schließlich zu den sensualistischen Gedanken seiner frühen Jugend zurück. Unklar und verworren scheint sein Verhältnis zu den politischen Richtungen seiner Zeit. Sie alle haben ihre Spuren in seinen Schriften zurückgelassen. Er hätte den politisch-historischen Fragen bei seiner literarischen Kritik nicht aus dem Wege gehen können, auch wenn er es gewollt hätte, aber er neigte auch nicht zu einer solchen Abwendung. Doch fehlte ihm die Sicherheit der wesentlich politischen Naturen, die auch unter wechselnden Verhältnissen der einmal gewonnenen Einsicht treu bleiben, er erlag den Eindrücken der Umwelt, und nichts ist leichter, als ihm seine politischen Wandlungen vorzuwerfen. Aber an bestimmten Gedanken über die Natur des Menschen, an bestimmten Einsichten in die Daseinsbedingungen der modernen Gesellschaft hält er dabei doch fest, und diese bilden bei allem Wechsel an der Oberfläche die dauernden Grundzüge seines politisch-historischen Gesamtbildes. So verhält es sich auch mit seiner Persönlichkeit im ganzen betrachtet: Beim ersten Eindruck erscheint sie leicht bestimmbar, wechselnd in ihren Standpunkten, schwach im Kern, bei näherem Zusehen aber erkennen wir immer deutlicher die innere Einheit der verschiedenen Phasen, die einander folgen, bis zuletzt die Persönlichkeit reif und gefestigt vor uns steht, nach allen Seiten entwickelt. Mit ihr aber wächst und vollendet sich auch ihr Weltbild. Und dies zu erfassen, soll nun der Gegenstand unserer Bemühungen sein. In seiner Art, das Leben aufzufassen, ist Sainte-Beuve durchaus modern. Ohne vorgefaßte Meinungen nimmt er wahr, beobachtet und ordnet, seine Erfahrung beruht auf den Grundlagen der Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit. Aber er bleibt nicht bei der einzelnen Wahrnehmung stehen und läßt sich den Blick auf das Wesentliche nicht durch Nebensächlichkeiten rauben. Auch ohne nach der Form eines Systems zu streben, bemüht er sich in seinem Denken über die Welt um Klarheit und Vollständigkeit. Sainte-Beuve ist ganz und gar ein französischer Schriftsteller. Er kennt und schätzt, wie es sich damals für jeden Gebildeten von selbst verstand, die Großen der Weltliteratur und schreibt auch bei Gelegenheit über sie, aber heimisch ist er nur in der lateinischen Literatur und in der seines eigenen Volkes. Der hohe Rang, den er in dieser einnimmt, würde jedoch für sich allein schon genügen, um ihm Beachtung und Würdigung auch bei anderen Nationen zu 165
sichern, da Frankreich seit dem Beginn des Mittelalters ununterbrochen eine führende Stellung in der europäischen Geistesgeschichte innehat. Die abendländischen Völker stehen aber in so nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zueinander, so wichtig ist für die Geschichte ihres geistigen Lebens die ihnen gemeinsame Grundlage der Antike und in ihr des Christentums, daß sie trotz aller nationalen Unterschiede eine Einheit bilden. Ein so bedeutender Schriftsteller wie Sainte-Beuve gelangt deshalb zu literarischen Schöpfungen, die nicht nur als französische Werke Beachtung bei anderen Völkern verdienen, sondern an und für sich, durch Gehalt und Form, zum europäischen Gemeinbesitz gehören. Was aber für das Werk eines solchen Autors gilt, trifft auch für das Weltbild zu, das sich uns darin erschließt. Auch stand Frankreich in der Zeit Sainte-Beuves immer noch im Mittelpunkt der europäischen Geschichte. Der Kampf zwischen Revolution und Restauration, der die gesamte alte Welt bewegte, wurde auf seinem Boden maßgeblich ausgetragen. Der Bonapartismus, eine eigentümliche Mischform unter den Staatsverfassungen jener Epoche, wurde dort, wo er entstanden war, weiter ausprobiert. Auch der Sozialismus in seinen verschiedenen Ausgangsformen war ein Erzeugnis französischer Erfahrungen und jener großen Fähigkeit zu gedanklichen Verallgemeinerungen, die sich in diesem Volke herausgebildet hatte. Alle diese politisch-sozialen Bewegungen durchströmten auch die Literatur, so daß der Kritiker Anlaß fand, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Frankreich lebte das Schicksal des Erdteils damals den anderen Völkern voraus, und schon durch diese Tatsache gewann das Denken Sainte-Beuves Inhalte, die nicht nur der Geschichte Frankreichs, sondern der allgemeinen europäischen Geschichte jener Epoche angehören.
Erster Abschnitt: Der Mensch
1. Das allgemeine Bild vom Menschen Frühe .Aufzeichnungen Sainte-Beuves, die er sorgfältig aufbewahrt hat, führen uns in das Jahr 1823 zurück und reichen von dann bis zu dem Zeitpunkt, wo er als Schriftsteller in die Öffentlichkeit tritt. Er beschäftigt sich darin u. a. mit den literarischen Kritikern des achtzehnten Jahrhunderts und knüpft damit an die Tradition an. Jene Zeit vor dem Ausbruch der großen Revolution erscheint ihm später in einer rückblickenden Verklärung. Damals, so läßt er sich von seinem Landsmann und alten Lehrer Daunou, dem ehemaligen Ordensgeistlichen, erzählen, hätte man leben müssen. Es war das Zeitalter des friedlichen Studiums, des Glaubens an die stetige Kraft der Aufklärung und die natürliche Güte des Menschen. Aber dieses Vertrauen in den Menschen beruhte auf einer Täuschung; in diesem Gedanken hat sich Sainte-Beuve niemals erschüttern lassen. Wir Späteren müssen uns erinnern, daß die Ereignisse der Revolution damals noch unmittelbare Vergangenheit waren und daß noch viele ihrer hervorragenden Teilnehmer und unzählige schlichte Zeugen jener Ereignisse lebten, daß die Nachkommen der Vielen, die in der Schreckenszeit ihr Leben verloren hatten, noch ihrerseits mitten im Dasein standen und der gewaltsame Tod der Väter noch in den Familien betrauert wurde. Unzählige Male kommt das Grauen vor den Entsetzlichkeiten jener Epoche in Sainte-Beuves Schriften zu unverstelltem Ausdruck, und dies Gefühl wiegt um so schwerer, als er die Notwendigkeit einer Umwälzung im damaligen Zeitpunkt bejaht hat. Seine Stellung zur Revolution wird uns noch genauer zu beschäftigen haben. Sie ist das große Ereignis, auf das die Gedanken der Nachkommen in Liebe oder Haß, Bewunderung oder Kritik immer wieder zurückgehen, und für Sainte-Beuve ist sie die große, aus der menschlichen Natur entspringende, und insofern unvermeidliche, Katastrophe einer hohen Kultur. In ihr aber wirkt das Jahrhundert der Aufklärung fort, ja, es findet in ihr seine Vollendung und zugleich das Gericht, und so führt der Blick von ihr mit Notwendigkeit auf die Vorstellung hin, die sich jene Zeit von dem Wesen des Menschen gemacht hat. Mit ihm hat sich der Kritiker zu befassen, da'sie in der Öffentlichkeit ständig umstritten bleibt. Revolution und Kaiserreich werden ja auf der Bühne dieses Landes immer wieder tragiert, und 167
so geht auch die Auseinandersetzung mit jener Vorstellung vom Menschen immer weiter. Von ihr hebt sich dann Sainte-Beuves eigene Auffassung ab. Er unterscheidet in seinen Urteilen deutlich zwischen Voltaire und Condorcet. Auch jenen liebt er nicht, aber er rühmt an ihm, daß er eine feste Überzeugung in einigen wesentlichen Fragen der Menschheit besitzt und eine echte Leidenschaft, ihr zu dienen. Er habe Paris geistig geformt, und das sogar aus der Ferne, und die Entlassung des durchschnittlichen Franzosen aus der Bevormundung durch die Kirche könne erst dann als gesichert gelten, wenn Voltaire in Paris ein Denkmal unter freiem Himmel besäße. Voltaire arbeitet und kämpft, ohne zu ermüden, für die Verbesserung des menschlichen Daseins,- obwohl er sich über die Natur des Menschen und seine Fehler ebensowenig täuscht wie sein königlicher Gönner in Potsdam. Das ist es, was ihn mit Sainte-Beuve verbindet. Auch dem Charakter Friedrichs des Großen, bringt er Verständnis entgegen, wenn er auch mit seinem Urteil im einzelnen fehlgeht. Friedrich, in seiner Jugend von allgemeinen Gedanken der Menschenbeglückung erfüllt, läßt sich von seinem Ehrgeiz auf die Bahn der Eroberung treiben und muß nun sein Leben in Kriegen verbringen. Er bleibt dabei aber immer der Mann der Arbeit, der Pflicht und des Vaterlandes. Anders wie Napoleon, versucht er niemals, ein Halbgott zu sein. Nüchterne Bewertung der Erfahrung und Skepsis angesichts allgemeiner Ideen bilden die festen Grundlagen seines Handelns. So stellt der französische Kritiker ihn in die Reihe der großen realistischen Reformer, die den Höhepunkt des Jahrhunderts der Aufklärung bezeichnen. * Ganz anders aber urteilt er über Montesquieu. Indem er ihn mit Machiavell vergleicht, wirft er ihm vor, daß er den Menschen zu hoch stelle. Er ordnet, so charakterisiert Sainte-Beuve die Denkweise Montesquieus, die Tatsachen allgemeinen Begriffen unter und wendet auf die Erfahrung immer wieder dieselben Modellformen seines Geistes an. Historisch gesehen erscheint uns dies Urteil ungerecht. Ist doch Montesquieu in der Staatswissenschaft einer der Begründer des empiristischen 'Verfahrens. Auch entstammt es den Jahren dicht nach 1848, in denen Saint-Beuve allem ungünstig gesinnt war, was eine egalitäre Revolution vorzubereiten schien. Aber, angewandt auf einen im wesentlichen konservativen Geist, zeigt es die Kritik an, die er an dem Denken entschiedener Revolutionäre übte. Sie richtet sich gegen den Rationalismus als philosophisches System und gegen seine Anweridungen auf Fragen der Erkenntnis und der Politik. Schon dem Begründer Descartes wirft er vor, daß er zwar mit dem methodischen Zweifel beginne, aber schon beim zweiten Schritt unbewiesene und in sich nicht klare Behauptungen 168
aufstelle. Am schärfsten aber greift er Condorcet an, in dem er den typischen Vertreter des Grundirrtums der Revolution sieht. Condorcet wendet die Methoden der Mathematik übertrieben und voreilig auf die Gesellschaftswissenschaften und auf die allgemeine Psychologie an. Dadurch gelangt er auch in der Praxis zu irrigen Schlüssen und zu jener falschen Politik, die ihn und seine Gesinnungsgenossen ins Verderben stürzt und die Schreckensherrschaft vorbereitet. Unter den Gegnern der Revolution gibt es welche, die vor allem die Idee der Gleichheit angreifen und ihr die Einsicht in die geschichtlich gegebene Ungleichheit innerhalb der menschlichen Verhältnisse entgegensetzen, andere aber, die das Verderbliche ihrer Lehren vorzüglich in der Verneinung der Autorität sehen. Obwohl beide' Irrtümer sich berühren und der zweite aus dem ersten herzuleiten ist, stellen sie doch jedenfalls zwei verschiedene Seiten desselben Gegenstandes dar. An der Spitze aller, die sich vom Standpunkt der Geschichte gegen die Lehre von 1789 wenden, befindet sich der Engländer Edmund Burke, während die Reihe derer, die der Revolution vor allem die Vernichtung der Autorität vorwerfen, in der Gesellschaftsphilosophie von dem Franzosen Bonald eröffnet wird. Sainte-Beuve nun, obwohl, wie wir noch sehen werden, ein entschiedener Verfechter des individuellen Charakters als einer Grundtatsache, ist doch bereit, auf sozialem Gebiet anzuerkennen, daß die Beseitigung des Privilegienstaates und die Herstellung der bürgerlichen Gleichheit notwendig und eine historische Forderung war. Die Autorität andererseits gilt ihm als eine praktische Notwendigkeit, aber er ist viel zu wenig Politiker, und viel zu sehr ein Freund persönlicher Unabhängigkeit, um aus jener eine politische Religion zu machen. Seine Gründe gegen die Anschauungen der rationalistischen Revolutionäre stammen aus einer ganz anderen Art, die Dinge zu sehen. Sie ist mit seiner individuellen Anlage gegeben und tritt schon sehr früh hervor. In einem seiner ersten Aufsätze bespricht er die Werke von Rabaut-Saint-Etienne, eines reformierten Geistlichen, der wie andere Vertreter seines bisher verfolgten Glaubens mit Hingabe und großen Hoffnungen an der Revolution teilnimmt, um von ihr enttäuscht und zuletzt von der Schreckensherrschaft verschlungen zu werden. Als die Verfassunggebende Nationalversammlung ihr Werk beendet hatte, glaubte er, wie viele andere, die Revolution selbst abgeschlossen. Was für eine naive Illusion, ruft Sainte-Beuve aus, und doch eine solche aller Zeiten und aller Geschlechter, an eine ewige Zukunft eines Zustandes zu glauben, wenn wir selbst erwacht sind und die Vergangenheit verurteilt und abgetan haben! Der Kritiker, damals im zweiundzwanzigsten Lebensjahre, hat die Berührung mit der Romantik und die Enttäuschung durch sie noch vor sich, er 169
spricht also nicht auf Grund einer persönlichen Erfahrung, sondern aus einer, mit seiner angeborenen Anlage -gegebenen Art, das menschliche Tun zu betrachten. Nach J a h r z e h n t e n spricht er den gleichen "Gedanken nochmals, aber in größerer Klarheit aus. W e n n man jung ist und an die allgemeine W e l t v e r n u n f t glaubt, so denkt man, die menschliche Torheit habe nun ihre Zeit gehabt und es beginne jetzt das Zeitalter der Wahrheit. Aber die Torheit wechselt nur das Kostüm und bleibt immer unser Zeitgenosse. Als SainteBeuve diese W o r t e schrieb, stand die Revolution von 1848 dicht bevor. Sie riß den jungen Renan zu einem begeisterten Manifest über die Zukunft der Wissenschaft hin, das erst viel später ans Licht trat, und seine Enttäuschung an der Menschheit vollendete sich an den Ereignissen von 1870. Sainte-Beuve bedurfte solcher Erfahrungen im Grunde nicht, um sich von der menschlichen Torheit zu überzeugen. Er sagt einmal von der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, sie sei im Kern Materialismus, " Pantheismus, Naturalismus. Für Voltaire und seine Zeit trifft diese Charakteristik nicht zu, wohl aber für Rousseau und den ihm zugehörigen- zweiten Abschnitt des Jahrhunderts. Bei manchen Zugeständnissen, die er Rousseaus literarischen Leistungen und moralischen W i r k u n g e n später macht, zieht Sainte-Beuve diesen doch in seine Kritik der gesamten Epoche mit ein. Er hat, so urteilt er über ihn, den Zauber der Schönheit über die Leidenschaft geworfen, Taten und Gedanken voller Irrtum mit dem himmlischen Glanz seiner W o r t e umkleidet. Alle seine b e d a n k e n sind zweideutig und verdächtig, und im höchsten Maße sophistisch ist sein W e r k über den Gesellschaftsvertrag. Die Philosophie des achtzehnten J a h r h u n d e r t s in ihrer entschiedenen Ausbildung, die sie erst nach Voltaire erreicht, beruht, so Sainte-Beuves Gesamturteil, auf einem grundlegenden Irrtum über die w a h r e Beschaffenheit des Menschen. Es ist falsch anzunehmen, daß der Mensch von Natur gut sei, irrig auch, an jene Vollkommenheit des Universums zu glauben, die Leibniz zu beweisen versucht hat. Allen diesen Theorien gegenüber, die den Menschen und die Welt ihrem inneren W e r t nach überhöhen, steht Sainte-Beuve von A n f a n g an auf dem Boden der Erfahrung und Beobachtung. Darum k a n n er sich das Bild des Menschen, so wie das J a h r h u n d e r t der A u f k l ä r u n g ihn sah, nicht zu eigen machen. Die Revolution rief eine religiöse Reaktion hervor. Der Versuch, das Christentum aus der Wurzel heraus, gesinnungsmäßig und nicht nur politisch, zu erneuern, der sich in Frankreich vor allem an das A u f t r e t e n Lamennais' knüpfte, war von tiefem und dauerndem Einfluß auf das Denken Sainte-Beuves. Mitten in einer rastlosen Arbeit der Zergliederung menschlicher Gestalten blieb in seinem Geiste 170
eine angeborene, durch die katholische Tradition des tianzösischen Lebens genährte Neigung der Phantasie zu mystischen Vorstellungen lebendig, die an einzelnen Stellen in seinen Schriften mit großer Kraft hervorbricht. So setzt es nicht in Erstaunen, daß er in den Jahren der ersten Mannesreife eine Zeitlang theosophischen Strömungen folgte. Zu allen Zeiten, so führt er zu Beginn einer allgemeinen Charakteristik Lamartines aus, und selbst in denjenigen Epochen, die sich am wenigsten einer inneren Zucht und einem Glauben unterwerfen, haben einzelne zarte und glühende Seelen, erfüllt von der Begierde nach dem Unendlichen, einen Aufschwung zu den ewigen Regionen des Wahren, der Schönheit und der Liebe genommen. Hat Plato dies Reich der Ideen zuerst begrifflich geformt, so hat Christus es allen zugänglich gemacht und Dante es auf der Höhe des Mittelalters dichterisch gestaltet. Mit dem Zerbrechen des Katholizismus löst sich dies Bild von einer höheren Welt auf, einzelne tragen Teile davon weiter, wie Racine, Rousseau, Diderot, bis der Theosoph Saint-Martin zur Zeit der Revolution und unter ihren aufwühlenden Eindrücken es im vollen Umfang erneuert. Wir gewinnen aus Sainte-Beuves Schriften nur einen unbestimmten Eindruck von der symbolisierenden Betrachtungsweise, die Saint-Martin auf die Gegenstände anwendet und die bei einzelnen unserer Romantiker ein Gegenstück hat. Für seine Vorstellung vom Menschen in seiner tatsächlichen Beschaffenheit hätte er hier wenig gewinnen können, und er verläßt diesen Weg bald wieder. Aber diese geistige Episode ist doch nicht bedeutungslos für ihn. Sie zeigt uns, daß er wirklich den Willen und die Fähigkeit besitzt, sich in die religiöse Vorstellungswelt zu versetzen, und sich nicht bei Äußerlichkeiten festhalten läßt. Mehr als der Glaube des Christentums beschäftigt ihn aber die Frage, wie der christliche Mensch in seinen allgemeinen Zügen beschaffen ist, unter welchen Bedingungen er in die Geschichte eintritt und welche Schicksale er darin erleidet. Für die Energie, mit der er sich in das christliche Fühlen versenkt, ist es nun bezeichnend, daß er die Unterschiede von anderen Arten der Welterfassung nicht zu verwischen sucht, sondern sie im Gegenteil scharf herausarbeitet. Zunächst bedeutet das Christentum den Bruch mit der Antike. Die Göttin, der Hippolytos ausschließlich dient und der er sein Leben opfert, Artemis, weilt wohl bei dem Sterbenden, verläßt ihn aber doch in seiner letzten Not, weil es den Göttern des Orymps verboten ist, dem Tode beizuwohnen. Christus dagegen sucht nicht nur die Leidenden auf, sondern er stirbt auch selbst für sie. Und das Christentum ist Glaube an Christus, das haben wir, so sagt SainteBeuve, ausdrücklich, praktisch und theoretisch vergessen. In jenem Zustande des sinkenden Altertums reichte die Menschlichkeit der 17)
ehrenhaften Leute nicht mehr aus, um die Welt zu reformieren, es bedurfte des heiligen Wahnsinns der Liebe, und weil Plinius, der Gehilfe Trajans, das nicht verstand, begriff er auch die Bekenner der neuen Sekte nicht. Noch der späte Sainte-Beuve vertritt die gleiche Auffassung. Die moderne Geschichtsbetrachtung hatte seitdem auf vielen Wegen versucht, das Christentum als ein Erzeugnis des Altertums zu begreifen und die Persönlichkeit des Stifters in einer allgemeinen Ideenbewegung aufzulösen. Aber, so hält der Kritiker dieser Auffassung entgegen, Christus ist kein Mythos, sondern eine wirkliche Gestalt, und die Lehre vom Leiden des Gerechten, die sonst in der Antike nur bei einzelnen erlesenen Geistern auftritt, wird durch ihn Grundlage einer ganzen Gesellschaftsordnung. Der Gedanke der dauernden Selbstaufopferung ist eben nicht antik. Chateaubriand hatte jene glänzende ästhetische Verteidigung des Christentums unternommen, von der eine lange Bewegung der artistischen Hinneigung zum Katholizismus ausging. Dieser unzulässigen Verquickung von Kunst und Religion widersetzt sich Sainte-Beuve. Chateaubriand habe die düsteren Seiten des christlichen Weltbildes übersehen. Ja, bis in die Kunstbetrachtung hinein sucht SainteBeuve an dem besonderen Charakter des Christentums festzuhalten. Er sagt von Racine, daß seine Größe in der Vollkommenheit, Einheit und Harmonie des Ganzen liege. Es mag sein, daß die Modernen, wie Victor Hugo und Lamartine, ihn in Einzelheiten übertreffen, höher zu schätzen ist die innerliche, geistige Schönheit der Kunst Racines. Zwischen dem äußeren Glanz, den jene in ihren Dichtungen erreichen, und der inneren Vollkommenheit der Dichtung Racines besteht derselbe Unterschied wie zwischen dem Kosmos der Griechen und dem christlichen Weltall, das von Gott geschaffen ist und in dem der Mensch, abweichend von der Vorstellung des Pantheismus, König und Herrscher über alle anderen Wesen bleibt. An diesem Grundgedanken der christlichen Weltanschauung hält Sainte-Beuve auch später fest, als er sich von dem Christentum als Ganzem abgekehrt hat. An zahlreichen Stellen seiner Kritiken rühmt er es, wenn der Dichter die Schönheiten der Außenwelt als Offenbarungen eines höheren Wesens deutet, und tadelt es, wenn er sich ganz auf die Wiedergabe der sinnlichen Eindrücke beschränkt. Mit der eklektischen Philosophie des Spiritualismus, die ausgehend von Cousin in seiner Zeit das Unterrichtswesen des Staates fast beherrschte, hat Sainte-Beuve nichts zu tun. er neigt vielmehr, im ganzen gesehen, zum Sensualismus. Aber wie in allem anderen ist er auch darin Humanist, daß er den Menschen in den Mittelpunkt seines Weltbildes stellt. Wichtiger aber ist für sein Verhältnis zur Religion seiner Kindheit und seines Heimatlandes überhaupt seine Zustimmung zu der Vor172
Stellung, die sich diese von dem Menschen als moralischem Wesen macht. Er bedauerte es nicht, im Unterschied von manchen Stimmen, die damals unter dem Einfluß der deutschen Theologie und Philosophie laut wurden, daß Frankreich seinerzeit nicht protestantisch geworden war. Er zog ein katholisches oder philosophisches Frankreich vor. Jede Nation habe ihren eigenen Geist. "Aber seine Anschauung vom Christentum war in wesentlichen Punkten von derjenigen der Jansenisten bestimmt und dadurch der lutherischen verwandt. Es gab in seiner Familie jansenistische Überlieferungen. Aber er begegnete auch in" den Jahren, in denen er sich am entschiedensten dem Christentum zuwandte, jener weit verbreiteten Erneuerungsbewegung, die sich unter verschiedenen Formen und bei allen Bekenntnissen damals in der christlichen Welt vollzog. So konnte er die Ansichten der Methodisten und Pietisten seiner Zeit mit denen der Lutheraner, Calvinisten und Jansenisten zusammenfassen. Sie alle wenden sich gegen jene Auffassung vom Menschen, die in der Kirchengeschichte als Semipelagianismus bezeichnet wird, und stellen ihr gegenüber die Augustinische Lehre von der Erbsünde und dem radikal Bösen in der menschlichen Natur wieder her. Darin sieht auch Sainte-Beuve, gegenüber allen Versuchen der Abschwächung, die eigentliche Meinung der christlichen Religion vom Menschen, und sie entspricht der seinigen, wenn wir die dogmatische Begründung beiseite lassen und sie als eine rein tatsächliche Feststellung über die innerste Natur des Menschen betrachten. Die Stoa umhüllte den Menschen mit Tugenden, die nur Namen waren, das Christentum aber entblößt ihn und zeigt ihn, wie er wirklich ist. Freilich schränkt es diesen moralischen Pessimismus sogleich wieder durch das Dogma von der Erlösung ein. Diesen Weg vermag SainteBeuve nicht zu gehen. Er stellt zwar in seinem Roman Lust eine Bekehrung dar, aber er selbst erlebt sie nicht. Auch den stoischen Weg der strengen Pflichterfüllung zu gehen, versagt ihm seine Natur. So bleibt ihm das Gute eine moralische Tatsache, die nirgends ihren festen Platz zu haben scheint und stets gefährdet ist. Wenn die Natur des Menschen von Ursprung her böse ist ünd keine Gottheit über ihm waltet, um ihn zu sich zu erheben, woher stammt dann das Gute überhaupt? Eine grundsätzliche Antwort gibt uns Sainte-Beuve darauf nicht, auf seine einzelnen Gedanken darüber werden wir zurückzukommen haben. Mehr als die Bestätigung einer wohl mit seinem Temperament gegebenen, in eigenen inneren Erlebnissen erworbenen dunklen Auffassung von der moralischen Natur des Menschen vermag ihm die Lehre der christlichen Kirche nicht zu geben, weil er sich ihr zwar, von Sehnsucht getrieben, zeitweise nähert, aber nicht in ihr 173
heimisch wird, überdies steht er unter dem Eindruck, daß sie mehr und mehr aus seiner Welt verschwindet. Die eigentliche Heimat seiner Weise über den Menschen zu urteilen, liegt an anderer Stelle. 1840 schreibt er einen Aufsatz über La Rochefòucauld, von dem er später sagt, daß diese Arbeit ein wichtiges Datum in seiner inneren Entwicklung bedeutete. Er genas damit von der romantisch-christlichen Abweichung, in die er unter dem Einfluß von Lamennais und dem Ehepaar Victor Hugo hineingetrieben war, und kehrte zu seiner ursprünglichen positiven Grundanschauung zurück. In diesem Aufsatz nennt er Pascal, Molière, La Bruyère und La Rochefoucauld selbst als diejenigen, die gleicherweise gering über die moralische Beschaffenheit des Menschen gedacht haben. Es sind auch seine Gewährsmänner darin, der radikale Christ, der Komödiendichter und die Kritiker der menschlichen Motive, die Moralisten, sie alle der großen Periode der französischen Literatur angehörend. Sainte-Beuve bekennt sich hierin also völlig zu der klassischen Überlieferung seines Volkes. Die historische Reihe, an die er sich bewußt anschließt, führt aber noch weiter zurück, und zwar in die französische Renaissance, zu Montaigne. In ihm sieht er den natürlichen Menschen, d. h. den nicht von der Gnade berührten, der deshalb auch die Menschen so betrachtet, wie Molière und Pascal es tun, nur daß dieser ihn aus seiner Tiefe auch wieder erhebt. Montaignes Betrachtungsweise aber ist an dem Vorbild der Antike geschult, er denkt und urteilt über den Menschen wie die alten Historiker und Philosophen es dort tun, wo sie ihn so schildern, wie er ist, und sich nicht von den Wunschbildern der Stoa irreleiten lassen. Die Beziehung der Moralisten zum Altertum ist am greifbarsten bei La Bruyère, der zunächst die Charaktere des Theophrast übersetzt und dann sein Modell zu übertreffen sucht, indem er es nachahmt. Von den Charakteren La Bruyères aber urteilt Saint-Beuve, sie seien eins der ganz wenigen Bücher, die immer zeitgemäß blieben, weil sie unmittelbar nach der Natur gemacht seien. Sainte-Beuve nimmt einmal Gelegenheit, sich über seinen Zeitgenossen Auguste Comte auszusprechen. Er stellt ihn in eine Reihe mit Lessing, Turgot, Condorcet und Saint-Simon. Sie alle sind in ihrer Denkweise durch den Glauben an die Menschheit und ihren Fortschritt zu höherer Vollkommenheit verbunden. Der Lehre von dem gesellschaftlichen Fortschritt gesteht er zwar eine allgemeine' Richtigkeit zu, im einzelnen aber wird sie von der Wirklichkeit ständig widerlegt. Den Glauben an die Menschheit als solche lehnt er völlig ab, Molières Gelächter über die bedauernswerten Menschen ist ihm zu gegenwärtig. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, so kann man seine Auffassung genauer bestimmen, mögen sich ver174
bessern lassen, der Mensch selbst bleibt immer der gleiche. Mit dieser Anschauung aber setzt sich Sainte-Beuve auch in Gegensatz zu der allgemeinen Auffassung der Völkerkunde, die gerade in seiner Zeit ihr großes Gemälde von der Verschiedenheit der menschlichen Lebensformen entwirft. In der Kritik der Salammbö von Flaubert, in der ein von Griechen und Römern abweichendes Volkstum geschildert wird, kommt er auf diesen Punkt zu sprechen und vertritt gegenüber dem Dichter, der sich auf eingehende archäologische Studien berufen konnte, mit dem ganzen Nachdruck des gesunden Menschenverstandes die Ansicht, daß nie und nirgends Menschen sich so betragen haben und Ereignisse so verlaufen sind, wie der Dichter es beschreibt. Allen herrschenden Strömungen seines J a h r h u n d e r t s entgegen beharrt also Sainte-Beuve, ganz konservativ, auf der Meinung, daß die menschliche Natur, bei aller Verschiedenheit im einzelnen, im Grunde doch überall und zu allen Zeiten dieselbe bleibt. Die eigentliche Triebfeder aller menschlichen Handlungen, so sucht La Rochefoucauld zu zeigen, auch wenn sie scheinbar interesselos geschehen, ist die Eigenliebe. Er spricht darin nur die allgemeine Ansicht der tieferen Geister des siebzehnten J a h r h u n d e r t s aus, die den Menschen in den Kämpfen der Fronde und in den Intrigen des Hofes in seiner Nacktheit kennenlernen. Ist diese Ansicht richtig? fragt sich Sainte-Beuve. Das optimistische achtzehnte J a h r h u n d e r t stellte die Tugenden des Menschen wieder her, Rousseau predigte die Lehre von der ursprünglichen Güte der menschlichen Natur. Heute bläht sich der menschliche Hochmut ins Ungemessene, und ein so ironischer Geist wie Benjamin Constant gerät auf der Tribüne in Ekstase über die Vortrefflichkeit des Menschen. Niemand w ü r d e ihm heute noch die W a h r h e i t e n des siebzehnten J a h r h u n d e r t s zu sagen wagen. Und doch beruht der Optimismus der Aufklärungszeit auf Selbsttäuschung. Ein Nachkomme des Moralisten, ein späterer Herzog von La Rochefoucauld, suchte die Auffassung des Vorfahren zu widerlegen. Aber er erfuhr die w a h r e Natur des Menschen in furchtbarer W e i s e an sich selbst: im September 1792 w u r d e er von der Masse ermordet. Ohne Einschränkung läßt Sainte-Beuve das pessimistische Gesamturteil La Rochefoucaulds dennoch nicht gelten. Im Anblick einer rechtschaffenen Familie, mit wohlgearteten Söhnen und Töchtern, denkt er freundlicher über den Menschen. Der Verderbtheit der Großen, der Roheit der Masse setzt er die bürgerliche Tugend entgegen, ^o wie er es auch dem sonst bekämpften Rousseau zu danken weiß, daß er dem mittleren Teil der Gesellschaft ein neues Gefühl seines W e r t e s und n e u e Pflichtbegriffe gegeben hat. In den Aphorismen, die er dem dritten Band der literarischen Porträts angehängt hat, spricht Sainte-Beuve von seiner eigenen 175
inneren Entwicklung. Er habe von dem vorgeschrittensten achtzehnten Jahrhundert seinen Ausgang genommen, von den Ideologen und Physiologen wie Tracy, Lamarck und Daunou. Die Veröffentlichung seiner frühen Aufzeichnungen hat diese autobiographische Angabe völlig bestätigt. Die Eigentümlichkeit dieser Denkrichtung innerhalb der philosophischen Entwicklung überhaupt liegt in ihrer radikalen Auffassung von dem Verhältnis des Menschen zur Natur. Während alle anderen philosophischen Schulen, mögen sie auch sonst noch so stark voneinander abweichen, spiritualistisch sind, ist diese materialistisch oder sensualistisch. Die Vorstellung voji dem Gegensatz zwischen Geist und Materie beherrscht seit Plato das gesamte abendländische Denken. Das Problem, das daraus entsteht, wie dann ihr Verhältnis zueinander zu erklären und zu beurteilen sei, mit all den unabsehbaren Folgen für die Fragen der Lebensführung, löst die materialistische Philosophie des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, indem sie den Geist als abhängig von der Materie betrachtet, ihn auf diese zurückführt. Dieser Anstoß, weitergetragen und verfeinert oder umgewandelt von der naturwissenschaftlichen Forschung, wirkt gewaltig weiter. Die grobe Lösung ,der materialistischen Philosophen vermag feinere Geister nicht zu befriedigen. Eine Rückkehr zu dem dogmatischen Spiritualismus früherer Zeiten erweist sich aber auch nicht mehr als möglich. Das Ringen mit diesem Problem zieht sich durch Generationen hin, bis sich diese, zunächst metaphysisch-dogmatische, Auseinandersetzung in eine Reihe von psychologischen und sozialwissenschaftlichen Einzeluntersuchungen auflöst und damit an grundsätzlicher Bedeutung verliert. SainteBeuve sieht sich mitten in diesen Kampf hineingestellt, der in seinem Heimatlande auch auf politischem Gebiete zu grundsätzlicher Schärfe gesteigert wird. Die Revolution und alle Bewegungen, die sich von ihr herschreiben, wie der Liberalismus und der frühe Sozialismus, sind spiritualistisch und darin so wenig von dem Klerikalismus getrennt, - daß bedeutenden Trägern der liberalen Unterrichtspolitik, wie Guizot und Cousin, eine eklektische Versöhnung zwischen Religion und Philosophie möglich erscheint. Der neuen Denkrichtung, die praktisch von dem Aufschwutig der Naturwissenschaften und der Technik vorwärtsgetragen wird und für die sich allmählich der Name des Positivismus einbürgert, steht von Anfang an der Bonaparttsmus nahe. Politisch bedingte Rückwendungen zu einer Politik der kirchlichen Restauration können diese Tatsache nicht auf die Dauer verhüllen. Während aber Napoleon I., als reiner Empirist und Realpolitiker, die Ideologen bekämpfte und, mehr noch, verachtete, zeigte sich Napoleon III. aus weicherem Holz geschnitten. Er war selbst ein Stück Träumer und Utopist, und so konnten sich 176
die geistigen Grundlagen seiner Regierungsform unter ihm freier entwickeln. Der Positivismus wurde unter dem zweiten Kaiserreich zu einer Art von Staatsphilosophie. Es lag deshalb in der Richtung der Zeit, daß Sainte-Beuve zu den Gedanken seiner Anfangszeit zurückkehrte und sie, anders als in seiner mittleren Periode, nunmehr endgültig als Programm seiner literarischen Kritik formulierte. Progammatische Sätze dieses Inhalts, hier und da in seine Werke verstreut, haben die Vorstellung von ihm auch in der Literatur über ihn vielfach bestimmt. Wir haben aber Grund genug, von vornherein daran zu zweifeln, daß er sich die Grundgedanken des Materialismus völlig zu eigen gemacht hat. Zu stark sind in seiner Individualität die Kräfte, die einem solchen Ergebnis entgegenwirken. Er gibt uns gelegentlich einen Überblick der Geschichte des Naturgefühls bei den abendländischen Völkern. Unter den Systemen der Philosophie und der Religion erscheinen ihm Stoa, Calvinismus und Jansenismus als naturfremd, während die Lehre Epikurs, der Katholizismus des Franz von Assisi, des François ' von Sales und Fénélons, sowie der gemilderte Protestantismus späterer Zeiten ihr freundlich gegenüberstehen. Das Verhältnis zur Natur entscheidet sich nach der Antwort auf die Fragen, ob sie etwas Geschaffenes oder ein immerfort Werdendes ist, ob sie dem Menschen freundlich oder feindlich ist, wie sie sich überhaupt zu dem sittlichen Gegensatz des Guten und des Bösen verhält. Rousseau begründet das sentimentale Verhältnis des modernen Menschen zur Natur, für das es bis dahin pur Ansätze gab, Saint-Pierre zieht die tropische Natur in den Bereich seiner Darstellung, Chateaubriand diejenige der unberührten Wälder und Prärien Nordamerikas; von ihnen allen hebt Sainte-Beuve hervor, daß-sie sich auch in ihren Naturschilderungen als Deisten zeigen. Aber die Schranke zwischen Gott und der Natur schwindet immer mehr. Zu den Gestalten seiner Zeit, die Sainte-Beuve am meisten verehrt, gehört das romantische Geschwisterpaar Maurice und Eugénie de Guérin. Nach dem frühen Tode von Maurice veröffentlicht George Sand aus seinem Nachlaß den Centauren, ein Gedicht in Prosaform, das uns Deutschen durch eine Übersetzung Rilkes zum Mitbesitz geworden ist. Die Originalität Guérins, so sagt SainteBeuve, liegt in einem umfassenden Naturgefühl, das uns über die Einzelheiten hinweg in die Mitte der jugendfrischen, schöpferischen Welt führt, in der noch der Atem der Götter weht. Diese Götter aber sind von der Natur nicht mehr .getrennt, der Centaure ist pantheistisch empfunden. In einer langen Entwicklung ist Gott der Natur immer mehr angenähert, um zuletzt in ihr zu versinken. An der Vorstellung, daß in der Natur ein Göttliches waltete, hing aber von jeher alle Beseelung der Natur. Der Mensch verliert nun jede 12 Deiters, Sainte-Beuve
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Möglichkeit, sie nach seinem Bilde zu betrachten. Er kann sie nur noch von außen sehen und so beschreiben, und wenn er sein Verhältnis zu ihr bedenkt, so entdeckt er seine Kleinheit und sieht sich mit Grauen in ihr versinken. Diese Folgerungen sucht Saint-Beuve jedoch abzuwehren. Er beschäftigt sich gejiauer mit der Art, wie Eugène Fromentin die Landschaft der Sahara beschreibt. Fromentin ist Dichter und Maler zugleich. A l s Maler und Zeichner sieht er sie deutlicher als andere, weiß abgebrauchte Mittel der Darstellung zu vermeiden. Dennoch überläßt er sich nicht einem ausschließlich malerischen Verfahren, womit er die Natur nur von außen fassen würde, sondern er läßt auch seelische Erfahrungen in sie einströmen. Damit bleibt er der großen Tradition der europäischen Poesie treu. So wie Lucrez von dem harten Glanz der Gestirne und dem strengen Schweigen der Nacht spricht, Vergil von der freundlichen Stille des Mondlichtes, so Fromentin von dem friedvollen Glanz, der von den Gestirnen herabstieg. Mit solchen Beiworten, die zur Hälfte sinnlich, zur Hälfte dichterisch sind, treten wir in das Geheimnis der Dinge ein und werden mit ihnen im Fühlen eins. Hier wird aus den Zitaten klar, was sich auch ohne sie von innen her ersehen ließe, w i e stark in Sainte-Beuve die religiöse und humanistische Überlieferung ist. A u c h der Natur gegenüber wahrt er die Selbständigkeit und die höhere Würde des Menschen. Dieser soll sich nicht von der Natur trennen lassen, indem er sich mit ihrer äußeren Seite begnügt, sondern sich in sie hineinfühlen, in der Gewißheit, daß er das Maß aller Dinge und sie nach seinem Bilde gemacht ist. Dies ist das klassische Naturgefühl, wie wir es am reinsten bei Goethe finden. Erinnert doch jene Stelle aus Fromentins Reisebeschreibung an die letzten Zeilen von Wanderers Nachtlied. A l s Petrarca den Gipfel des Mont Ventoux erreicht hatte, öffnete er dort oben die Bekenntnisse des Augustin und verband sein Naturerlebnis mit religiösen Betrachtungen. Dem Schöpfer des Humanismus, der noch völlig in der W e l t der christlichen Vorstellungen lebt, sind Gott, Mensch und Natur zu einer Einheit der Erfahrung verbunden. Das religiöse Weltbild war für Sainte-Beuve, als er im Alter jene Stelle über Fromentin schrieb, dahingesunken, der mächtig aufsteigende Naturalismus drohte auch den Menschen hinwegzuspülen, an seiner Sonderstellung aber hielt er fest. Er begründete sie durch die Fähigkeit des menschlichen Geistes, sich die W e l t gegenständlich zu machen. Wenn wir den gestirnten Himmel betrachten, fühlen wir die Nichtigkeit unserer persönlichen Wünsche, Leidenschaften und Eitelkeiten, aber wir erfahren auch mit Stolz, daß wir in all unserer Kleinheit fähig sind, das unbegrenzte A l l und die schaffende Gewalt der Natur in unserem Geiste zu 178
spiegeln. Dieser Verwahrung des erkennenden Geistes, der sich nicht aus dem Bewußtsein seiner Autonomie verdrängen läßt, muß eine andere hinzugefügt werden. Von Pascal sprechend stellt SainteBeuve fest, daß die Welt auf Wegen schreitet, die jenem aufs stärkste widersprechen, geleitet von wirtschaftlichem Interesse und von dem Wunsch, die Natur zu unterwerfen und zu beherrschen. Damit vollzieht sich eine Revolution, die unaufhaltsam fortschreitet und nur die Kostüme wechselt. Der Uniform des revolutionären Soldaten folgt das schwarze Gewand des Abgeordneten, dem Bürger der Proletarier, und heute ist es der Ingenieur, der an der Spitze marschiert. Nichts liegt Sainte-Beuve femer, als diesen Fortgang zu verneinen. Aber wenn der Mensch sich darauf beschränken wollte, so würde er auf seine Ganzheit Verzicht tun, ja, auf den Teil seines Wesens, der lange Zeit hindurch seine höchste Ehre gewesen ist. Darum sollen einzelne Geister in einsamer Studierstube dies Erbe pflegen, ohne Groll gegen ihre Zeit, in sich gewiß und abgeklärt. Damals hatte vor kurzem in London im Kristallpalast die erste Weltausstellung stattgefunden, in der das Jahrhundert sich seines technischen Fortschrittes mit gerechtem Stolze bewußt wurde. Größere ihrer Art folgten, und SainteBeuve erlebte noch die glanzvolle des Jahres 1867 in Paris. Er war bereit zu bewundern, was im Kristallpalast zusammengestellt war, aber er schlug vor, am Giebel des Gebäudes folgenden Satz Pascals anzubringen, des Mannes, der ein großer Mathematiker und ein leidenschaftlicher Bekenner seines Glaubens gewesen war: „Alle Körper, das Himmelsgewölbe, die Sterne, die Erde und ihre Reiche wiegen nicht den geringsten unter den Geistern auf. . . Alle Körper zusammen und alle Geister zusammen, mit all ihren Erzeugnissen, wiegen nicht die geringste Bewegung der Liebe auf." Es wäre nun irrig, aus dieser Berufung auf Pascal zu schließen, daß Sainte-Beuve die besondere Stellung des Menschen in der Welt metaphysisch zu begründen suche. Er tut es vielmehr im Geiste ruhiger Prüfung der Tatsachen. Die erste Frage, mit der er sich dabei schon früh beschäftigt, ist die nach der Abhängigkeit des Menschen von der ihn umgebenden Natur. Sie war im achtzehnten Jahrhundert allgemein beantwortet worden. Bossuet hatte, auf der Höhe des monarchischen Zeitalters, die Geschichte noch einmal theologisch geschrieben, Montesquieu, im Zeitalter der Aufklärung, entwarf die Grundzüge eines philosophischen Geschichtsbildes, um die Geschichte zum Rang einer Wissenschaft zu erheben, ü b e r die allgemeinen Einflüsse des Klimas auf den Menschen und die Formen seines kulturellen Lebens war man sich, so schreibt Sainte-Beuve, seit Hippokrates einig. Offen blieb nur die Frage, wieweit sie gehen und in welchem Umfange es möglich ist, aus ihnen die 12*
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Geschichte im einzelnen zu erklären. Sie wird von neuem in aller Schärfe von Taine gestellt, und mit ihm setzt sich Sainte-Beuve auseinander. Taine geht an die Analyse literarischer Persönlichkeiten mit naturwissenschaftlichen Methoden heran. Die Berechtigung eines solchen Verfahrens bestreitet ihm Sainte-Beuve keineswegs, aber er wirft ihm vor, daß er zu stark abstrahiert und systematisiert. Wenn man eines Tages im naturwisenschaftlichen Sinne Familien innerhalb der literarischen Talente aufstellen will, so muß dies ohne Systemgeist geschehen, auf Grund von Einzelbeobachtungen, sorgfältig geprüften Analogien und genauen Beschreibungen des tatsächlich Gegebenen. Zwischen einer so allgemeinen Tatsache wie dem Klima und dem Boden, so hält er Taine entgegen, und der Mannigfaltigkeit der Arten und Individuen, die unter ihrer Einwirkung erwachsen, bleibt Raum für eine Fülle von Ursachen und Kräften, und ehe wir diese nicht erfaßt haben, haben wir nichts erklärt. Ebenso verhält es sich mit dem geistigen Klima des Jahrhunderts, in dem bestimmte Individuen leben. Wir sehen wohl die allgemeine Abhängigkeit des einzelnen von seiner geistigen Umwelt, aber das Geheimnis der Schöpfung und Ausbildung des einzelnen entschlüpft uns. Man muß in Betracht ziehen, daß jene Zeit noch unter der Herrschaft eines Begriffs von allgemeinen Naturgesetzen stand, der später in seiner Geltung eingeschränkt worden ist. Das naturwissenschaftliche Denken aber drang mit steigender Macht in jene Gebiete der Wissenschaft ein, für die der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey später den Begriff der Geisteswissenschaften einführte. Damit entstand zunächst die Gefahr, daß für die Freiheit des einzelnen, für die schöpferische Kraft des menschlichen Geistes, mithin für das, was bisher gerade den Inhalt der Geschichte gebildet hatte, kein Raum mehr blieb. Dies eben war der Fall Taines. Sein Kritiker, der die Voraussetzungen des jüngeren Schriftstellers im allgemeinen gelten ließ — wie hätte er als Schüler der ideologischen Denker auch anders gekonnt —, entging diesem Irrtum, nicht durch grundsätzliche Unterscheidungen, die seiner Begabung nicht lagen, sondern indem er sich einfach an die Wirklichkeit hielt und dabei feststellte, daß jene Behauptungen von dem Einfluß der natürlichen Lebensbedingungen und der Zeitverhältnisse auf den einzelnen im allgemeinen durchaus zutreffen, daß aber der einzelne Fall in seiner Besonderheit damit nicht erklärt wird. Dem Dilemma, zwischen dem spiritualistischen und dem materialistischen Dogma zu wählen, entwand er sich durch den Rückgang auf die Erfahrung. War dem Menschen auf diese Weise ein Bereich der persönlichen Freiheit gegenüber den allgemeinen Mächten der Natur gerettet, so blieb weiter die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis er zu 180
den geschichtlichen Kräften steht. Auch mit ihr hat Sainte-Beuve sich früh auseinandergesetzt, und zwar in einer Kritik über Thiers' Geschichte der Revolution. Man hatte ihm, wie auch Mignet, der den gleichen Gegenstand behandelte, den Vorwurf des historischen Fatalismus gemacht. Wir kennen den Vorgang, der sich damals in der Geschichtsschreibung abspielte, von dem Beispiel der deutschen Historiker. Ein Geschlecht, das noch voll ist von allgemeinen religiösen und philosophischen Ideen, entdeckt die Geschichte. Jene allgemeinen Begriffe, mit denen man sich die Welt verständlich gemacht hatte, geraten in den Strom der Zeit, bleiben aber die eigentlich bewegenden Kräfte des Geschehens. Was früheren Geschlechtern als Werk der Vorsehung erschien, wird von den Schöpfern der idealistischen Philosophie und ihren Schülern als Wirkung der Ideen angesehen, die sich in der Zeitlichkeit verkörpern und diese beherrschen. Die Frage, ob und in welchem Umfange deutsche Einflüsse in der Philosophie und Geschichtsschreibung der Restaurationszeit und der folgenden Jahrzehnte in Frankreich zu spüren sind, wird von Sainte-Beuve gelegentlich leise berührt, wenn auch nicht vertieft. Von dieser geistigen Entwicklung in Deutschland besaß er nur eine sehr allgemeine Kenntnis. Bei Thiers, dem realistischen, klug abwägenden Staatsmann, würde uns der Vorwurf des Fatalismus überraschen, wenn wir nicht aus seiner Biographie wüßten, daß auch er eine Zeit romantischer Naturbetrachtung gehabt hat. Aber SainteBeuve stellt doch ganz treffend fest, daß sich der Eindruck des Notwendigen, Unvermeidlichen in der Darstellung der revolutionären Ereignisse bei Thiers eben aus der Klarheit-ergibt, mit der sie vor unserem geistigen Auge abrollen. Eine einzige mächtige Leidenschaft hat die Gesellschaft ergriffen und reißt sie bis zu den letzten Folgerungen fort. Wie sollte dies nicht den Eindruck der Fatalität, des Schicksalhaften machen? Eine völlige Erklärung der Vorgänge erscheint Sainte-Beuve dennoch nicht möglich. Es gibt verborgene Ursachen, die sich nicht völlig aufhellen lassen. Sie liegen in der Natur des Menschen selbst und. in der Spontaneität, der Freiheit seines Handelns. In einer späteren Charakteristik Thiers', zwei Jahrzehnte nach diesem Aufsatz des Anfängers, arbeitet er seinen Gedanken nochmals schärfer heraus. Jetzt scheint es ihm, daß Thiers die Ereignisse klarer und einfacher erzählt hat, als sie in Wirklichkeit waren. Er betont ausdrücklich, daß die Revolution auch anders hätte verlaufen können, etwa wenn Ludwig XVI. etwas klüger und entschlossener oder Bonaparte am 13. Vendémiaire nicht zur Stelle gewesen wäre. Es sind zwei verschiedene Einwände, die damit gegen die Vorstellung von der Fatalität erhoben werden, einmal die Zufälligkeit der äußeren Konstellation, die fortuna Machiavells, zum anderen die 181
Unberechenbarkeit der Individualität. Es bleibt in der Geschichte ein Raum der Freiheit übrig. Auch hier hütet sich Sainte-Beuve, zu einem dogmatischen Schluß über den Gesamtcharakter der Geschichte zu kommen,etwa so, wie es späterTreitschke tat, sondern er stellt nur fest. Diese Wahrnehmung ist aber von höchster Bedeutung für die Stellung des Menschen in seinem Weltbild. Er bekräftigt sie durch seine Auffassung von einem der schwierigsten Probleme der Theologie und der Philosophie, dem der menschlichen Willensfreiheit. Er schließt sich darin ausdrücklich der Meinung von Hobbes, Hume und Tracy an und bestreitet sie, als eine unzulässige Durchbrechung der allgemeinen Kausalität, fügt aber hinzu, daß die Verantwortlichkeit im sozialen Sinne dadurch nicht ausgeschlossen wird. Darin scheint ein Widerspruch zu liegen,,den er selbst nicht auflöst. Tatsächlich deckt sich aber sein Kausalbegriff, so weit der Mensch in Frage kommt, nicht mit dem der damaligen Philosophie. Das Studium der Geschichte veranlaßt ihn, den einzelnen als einen kausalen Faktor von eigener Bedeutung in dem Verlauf der Ereignisse anzuerkennen. Unter dieser Annahme kann die Gesellschaft ihn für sein Handeln verantwortlich machen, das eben von seiner Person nicht zu trennen ist. Wäre diese, in ihrer besonderen Beschaffenheit, ein Erzeugnis der Natur, so gäbe es, streng genommen, keine Möglichkeit, sie zu richten, und ebensowenig gäbe es eine solche, wenn sie ein Erzeugnis gesellschaftlicher Einflüsse wäre. Nun ist sie zwar aus diesem Spiel der Kräfte entstanden, aber nach eigenen, in ihr liegenden Gesetzen, so daß sie ein bestimmt begrenztes Wesen für sich bildet. Deshalb kann ich auch ein moralisches Urteil über sie fällen, und das Recht dazu setzt Sainte-Beuve überall voraus, wo er sich mit Individualitäten beschäftigt. Die allgemeinen Regeln aber, nach denen es zustande kommt, stammen aus dem Dasein dieser menschlichen Wesen selbst, zu denen es gehört, daß sie eine Moral erzeugt haben und immer neu erzeugen, und gerade darum sind sie auf sie anwendbar. In einem Artikel über Marie Antoinette spricht sich Sainte-Beuve über die Grundsätze seiner Kritik an umstrittenen Persönlichkeiten aus. Im Namen einer menschlichen und echt historischen Haltung schiebt er sowohl die Schmähschriften wie die von Parteiinteressen geleiteten Verteidigungen beiseite. Das endgültige Urteil der Geschichte über sie muß auf der richtigen Erfassung ihres Charakters beruhen, mit seinen Schwächen und seinen bewundernswerten Zügen. Nicht umsonst ist Sainte-Beuve der Schöpfer unzähliger literarischer Bildnisse. Ohne einen Augenblick die Bedeutung der allgemeinen Kräfte zu verkennen, sieht er doch in den individuellen Charakteren und ihren Taten und Schicksalen den eigentlichen Inhalt der Geschichte und des Daseins der Menschheit überhaupt. 182
Sein Geist ist von historischen Vorstellungen erfüllt. Er weiß sich, um mit Goethe zu sprechen, mühelos von dreitausend Jahren Rechenschaft zu geben. Aber seine Gesamtvorstellung vom Wesen der Geschichte ist völlig anders als die in seinem eigenen Jahrhundert herrschende, wie sie am meisten in Deutschland ausgebildet war. An dem großen Historiker des achtzehnten Jahrhunderts Edward Gibbon rühmt er, mit Guizot, der dessen Hauptwerk übersetzt hat, daß er die Kunst besitze, durch alle Verschiedenheit der Sitten und Einrichtungen in allen Zeiten dieselbe Menschennatur wiederzuentdecken. Diese Überzeugung, daß der Mensch im Grunde immer der nämliche bleibe, teilt er also mit dem Jahrhundert der Aufklärung. Man kann die historischen Einflüsse, aus denen sie bei SainteBeuve zu entstehen scheint, auch noch weiter zurückverfolgen. Es ist die nämliche Vorstellung, die den antiken Historikern selbstverständlich ist und die dann bei den Humanisten wieder erscheint. Doch hätte sie bei Sainte-Beuve wohl kaum gegen so viele abweichende Anschauungen seiner Zeitgenossen diese Festigkeit bewahren können, wenn sie nicht seiner eigenen geistigen Veranlagung entsprochen hätte. Er betrachtet die Menschen als Psychologe und Moralist. Weil sie aber in den Grundbestandteilen ihres Daseins unveränderlich sind, so können sie auch aus der Geschichte nichts lernen, obwohl diese sich immer aufs neue wiederholt. Auch in einem anderen Sinne läßt Sich der Historie keine Lehre abgewinnen. In einer Kritik Guizots setzt sich Sainte-Beuve eingehend mit der Frage auseinander, ob es möglich ist, in der Geschichte einen Sinn zu erkennen. Für Guizot, den Protestanten und doktrinären Altliberalen, ist die Antwort selbstverständlich. Aber Sainte-Beuve hält ihm entgegen, daß in diesem sophistischen Zeitalter sich jede Schule ihre Geschichtsphilosophie zurecht mache und daraus dann auch ihre politischen Schlüsse ziehe. Nach seiner Auffassung ist es die schlimmste Illusion von allen, die Geschichte für vernünftig zu halten. Versuchen wir es, so setzen wir uns an die Stelle der Vorsehung und wollen dort Notwendigkeiten erkennen, wo einfach kausale Zusammenhänge bestehen. Wir können deshalb die Geschichte der Menschheit auch nicht zur Stützung einer Religion oder Philosophie machen, wie es das Christentum und die idealistische Humanitätsphilosophie getan haben. Sainte-Beuve sieht wohl, wie allgemeine Kräfte in ihr sich auswirken. Aber gerade darauf beruht zum Teil ihr irrationeller Charakter. Ein wohlmeinender Konstitutioneller wie Daunou versuchte z. B., die Zivilkonstitution und die Kirche miteinander zu versöhnen. Er übersah aber, daß sich hier zwei lebendige Kräfte gegenüberstanden, die miteinander bis zum letzten Atemzug um die Macht und das Dasein ringen würden, 183
nämlich die alte Institution der Kirche und die neu heraufsteigende Philosophie. Die menschlichen Leidenschaften beherrschen das Feld des Geschehens, und wo sich einmal ein leitender Gedanke der Gesellschaft bemächtigt hat, da ruht er nicht, bis er alle seine Kräfte entfaltet hat und bis zum Ende geschritten ist. Auch ein gewisser Wahnsinn ist dem Menschen nicht fremd. Darum dürfen wir nicht aus dem Sieg einer Idee auf ihr höheres Recht schließen, denn auch der Unsinn hat eine Möglichkeit zu triumphieren. Diesen düsteren Gedanken führt Sainte-Beuve an einem der wichtigsten Ereignisse der französischen Geschichte aus, dem Übergang zum Konsulat auf Lebenszeit und damit zum Kaiserreich, das alle menschlichen Gedanken der Revolution unter sich begrub. Damals erhob sich nur eine einzige Stimme für die Freiheit, die des konstitutionellen Monarchisten Camille Jordan. Aber wir dürfen die besiegte Idee nicht vergessen und sie nicht geringer achten, als sie es verdient, nur weil die Geschichte in anderer Richtung fortgegangen ist. W e r könnte behaupten, daß die Entscheidung nicht auch nach der anderen Seite • hätte fallen können? Das Mögliche, das, was hätte sein können, ist ein unendliches Meer ohne Horizont.
2. Einzelne Züge Dies allgemeine Bild vom Menschen hat Sainte-Beuve durch eine schwer zu überblickende Fülle von einzelnen Zügen vertieft. Seine Feststellungen darüber sind moralisch-psychologischer Art. Er folgt der allgemeinen Tradition der kirchlichen Moralpädagogik, dia in dem katholischen Frankreich ungebrochen weiterwirkt, während sie in Deutschland durch die Reformation unterbrochen wurde. Verstärkt wird sie durch die humanistische Literatur, die ja ihrerseits die von kirchlichen Schriftstellern geleistete Arbeit moralisch-psychologischer Zergliederung weiterbetreibt. Die gesamte Literatur, die er für sein Werk über Port-Royal durchgearbeitet hat, angefangen von den Schriften der Kirchenväter, wird von diesem zugleich moralisierenden und psychologisierenden Zug beherrscht. Aber auch die kirchliche Literatur der Gegenreformation ist ihm vertraut. Gelöst von dem religiösen Hintergrund wird die Untersuchung seelischer Vorgänge unter ethischen Gesichtspunkten von Montesquieu, La Rochefoucauld, La Bruyère und Molière fortgesetzt, die alle mit ihren Schriften zu Sainte-Beuves geistigem Grundbestand gehörten. Unter 184
den moralisierenden Schriftstellern des achtzehnten Jahrhunderts liebt er besonders Vauvenargues, der nach dem Pessimismus der klassischen Zeit das Bild des Menschen wieder aufhellte. An den revolutionären Geistern war ihm eben das verhaßt, daß sie den Menschen und seine Leidenschaften nicht richtig sahen. Seine Porträts haben, eben als solche, alle einen psychologischen Zug, da er hinter den Werken immer den Menschen sucht, der sie hervorgebracht hat. freilich dürfen wir in Sainte-Beuve keinen originalen Seelenkünder suchen. Er sieht den Menschen immer im Rahmen der Kultur, oder er betrachtet ihn als den Barbaren, der eben durch die Feindschaft gegen höhere Gesittung gekennzeichnet ist. In dies allgemeine Bild antik-christlich-humanistischer Herkunft fügt er zahlreiche feine Einzelzüge, die überall durch sein Werk zerstreut sind, sich zuweilen auch autobiographisch einkleiden, und die wir in einige größere Gruppen zusammenfassen wollen, um den Menschen, so wie er ihn sieht, noch deutlicher hinzustellen. Die Erkenntnis von der Verschiedenheit der Lebensalter ist in ihm sehr lebendig. Er erfährt sie an sich selbst. Seine Jugend ist auch in seinem eigenen Bewußtsein deutlich von dem Alter geschieden, früh, schon in der Mitte der dreißiger Jahre, spricht er das Gefühl des Alterns aus. Die Jugend ist ihm die Zeit des größten inneren Reichtums, sie besitzt Ritterlichkeit, Wärme der Uberzeugung, Größe der Gedanken, und er wirft es Benjamin Constant vor, daß er schon als Jüngling die Würde des Menschen ironisiert. Der Mensch soll den Geist seines Lebensalters haben, vor allem die Tugenden, und aus dem Vorrat der Jugend an sittlichen Kräften muß der Mann leben. Noch in seinem Alter merkt sich Sainte-Beuve für eine Diskussion im -Senat den Gedanken vor, daß Unsittlichkeit und Jugend sich gegenseitig abstoßen. Der junge Mensch, will er den Bischöfen zurufen, den ihr ungläubig nennt, ist in Wirklichkeit gläubiger als ihr! Das Bild des Jünglings, so wie Plato es sah, wirkt bis hierhin weiter. In der Literatur ist die Jugend das Lebensalter der eigentlichen Poesie, und das heißt bei Sainte-Beuve der Lyrik. Diese Vorstellung ist ihm aus seiner romantischen Jugendperiode selbstverständlich. Einem späteren Lebensalter gehört der Roman an. Auch diese Kunstform dient noch dazu, die allgemeine Auseinandersetzung des Ich mit der Welt darzustellen. Von dieser Vorstellung weicht Sainte-Beuve um so weniger ab, als damals der romantische Bildungsroman noch völlig das Feld beherrschte. Aber im Unterschied von der Lyrik gewinnt das Gegenständliche hier schon sein eigenes Gewicht zurück» Der allgemeine Gang der individuellen Entwicklung verläuft also von der Subjektivität zur Objektivität. Aber zugleich werden auch die schöpferischen Fähigkeiten durch die kritischen abgelöst. Die 185
Kritik, so meint Sainte-Beuve, beerbt zuletzt in uns allen die stolzen Kräfte unserer Jugend, sie nährt sich aus unseren Irrtümern ebenso wie aus unseren Erfolgen. Hier spricht der Kritiker aus eigener Erfahrung. Bei ihm selbst wurde das dichterische sehr bald durch das urteilende Lebensalter abgelöst. Doch war seine dichterische Begabung begrenzt, und wollte man seine Behauptung verallgemeinern, so geriete man in einen Gegensatz zu seiner allgemeinen Auffassung von der Kultur und der Literatur im besonderen. Nirgends finden wir in seinen Urteilen einen Kult der Jugend, wie revolutionäre Zeitalter ihn hervorbringen. Wir berühren hier wohl das Geheimnis des sexuellen Lebens bei ihm. Die erotische Erfüllung in einer glücklichen und dauernden Verbindung blieb ihm versagt. Er hatte das Gefühl, frühzeitig zu altern. So waren schon seine Mannesjahre von der Sehnsucht nach der verlorenen Jugend und von Altersmelancholie überschattet. Daraus erklärt sich gewiß zum Teil der starke Kontrast, unter dem ihm Jugend und Alter erschienen. Auch folgt er darin einer literarischen Tradition, das Alt.er und seine Entbehrungen sind ein altes Humanistenthema, das wiederum auf die Griechen und Römer zurückgeht. Seine biographischen -Studien — und die Mehrzahl seiner Charakteristiken ist ja biographisch angelegt — dienen ihm dann dazu, diese Einsicht in den Wechsel der Lebensalter zu vertiefen. Den Menschen kennt nur vollständig, wer seine beiden Antlitze kennt, das der Jugend und das des Alters. Er erläutert dies an den Bildnissen von Dante und Voltaire. Welcher Wert ist nun dem Alter beizumessen? Er hat sich einmal mit einem späten Versuch auseinanderzusetzen, im christlichen Sinne die letzte Zeit des Lebens als dessen Höhe, als den Übergang in die Ewigkeit zu betrachten. Dieser Auffassung setzt er die der Alten als die natürlichere und wahrere entgegen. Homer nennt es ein Zeichen der traurigen Menschlichkeit, daß sie kein Mittel gegen Alter und Tod gefunden hat. Wir verlieren im Alter die Illusionen und sehen die Dinge in ihrer Nacktheit, aber damit verschwindet auch schon vor dem leiblichen Tode ein wesentliches Stück unserer Individualität. Im Alter kommen alle Menschen, die überhaupt zu denken fähig sind, zu denselben Ergebnissen. Und diese sind nicht heiter. Die trüben Prophezeiungen von Joseph de Maistre nahmen zu, je mehr er sich dem Tode näherte. Er hatte die erhabene Traurigkeit des Moses und aller großen. Sterblichen, die zu viel gesehen haben. Sainte-Beuve persönlich ist der Trauer des Alters nicht erlegen. Er erlebt im letzten Jahrzehnt seines Daseins, das bis zum 65. Jahre reichte, einen neuen Aufschwung, und als er bestattet wird, folgt auch die Jugend seinem Sarg. Dennoch ist der Pessimismus, mit dem er den Gang des menschlichen Lebens betrachtet, keineswegs nur eine Stimmung, sondern ein 186
wesentlicher Teil seines Weltgefühls, der an den verschiedensten Stellen zutage kommt. Das Wesen der Liebe beschreibt Sainte-Beuve zusammenfassend in einem Aufsatz über das Argonautenepos des Apollonios von Rhodos. Sie ist häufiger bei den Alten als den Modernen, häufiger bei den Frauen als bei den Männern. Ihr wichtigstes Kennzeichen ist das Jähe und Elementare, womit sie den Menschen überfällt, sie gleicht einem Naturereignis, dem Blitzschlag oder einer heftigen Krankheit. Als Beispiele dieser großen Leidenschaft, die den Menschen völlig überwältigt und ihm zum Schicksal wird, nennt er aus dem griechischen Altertum u. a. Helena, Medea, Phädra, aus der lateinischen Poesie die Dido des Vergil, aus dem französischen Mittelalter Héloise, aus Leben oder Dichtung der neuen Zeit die portugiesische Nonne, die Prinzessin von Cleve, das Fräulein de Lespinasse, Virginie aus dem Roman von Saint-Pierre und, erstaunlicherweise, zwei Gestalten aus Chateaubriands Dichtung, Amélie aus der Erzählung René und Velleda aus dem Epos der Märtyrer. Dagegen schließt er Dantes Beatrice ausdrücklich von dieser Reihe aus. In ihr ist die Liebe in eine Religion, in christliche Barmherzigkeit verwandelt, ist nicht mehr eine Sache des Menschen, eine heilige Krankheit. Neben Héloise und die portugiesische Nonne stellt Sainte-Beuve ein andermal Frau von la Vallière die erste der anerkannten Geliebten Ludwigs XIV. Aber sie hat, anders als jene, nur die Zärtlichkeit, nicht die Raserei der Leidenschaft. Sie liebt, um zu lieben, ohne Hochmut, ohne Hintergedanken, ohne Eitelkeit, und als sie jßde. Hoffnung aufgeben muß, den König zu halten, opfert sie sich und ihre Ansprüche und wird als Nonne die lebendige Verkörperung einer anderen, höheren Liebe. Die Art, wie Sainte-Beuve von ihr spricht, zeigt, wie stark in ihm die katholische Tradition war. Er zeichnet sie fast mit den Farben der Heiligenlegende und nennt, in einer sonderbaren Verbindung von Galanterie und sittlicher Strenge, die Mätresse des Königs die vollkommene Liebende, überhaupt hält Sainte-Beuve nicht immer an jener großen Anschauung von der Liebe fest. Gegen Stendhals Liebe aus Leidenschaft, die zusammenschießt wie ein Kristall in einer Flüssigkeit, verteidigt er die französische Liebe, in der immer ein Rest von Überlegung bleibt, die Pflichten der Gesellschaft nicht ganz vergessen werden und sich mit der sinnlichen Anziehungskraft die persönliche Zuneigung mischt, so daß man sie auch als zärtliche Freundschaft bezeichnen kann. Als Beispiele für diese französische Form der Liebe nennt er aus der Dichtung die Gestalt der Pauline in Corneilles Polyeucte und aus dem Leben Frau von La Fayette, die Altersfreundin La Rochefoucaulds, neben den Freundinnen späterer Schriftsteller wie Rousseau und Chateaubriand. Wenn 187
irgendwo, so tritt in seinen Gedanken über die Frau zutage, daß Sainte-Beuve kein unmittelbares Verhältnis zur Natur hat, sondern völlig in dem Kreise der Zivilisation lebt. Er sieht die Frau fast stets in gesellschaftlichen Beziehungen, als Königin 'oder Geliebte von Königen, als Herrin eines Salons, als Freundin von geistreichen Männern oder auch selbst Schriftstellerin, dann und wann auch, aber selten, in die Politik eingreifend. Ihre persönlichen Gefühle sind so fest in ihre öffentliche Stellung hineingeflochten, daß sie davon kaum mehr zu trennen sind. Diejenigen Gestalten, bei denen im Gegenteil das Gefühl alles übrige beherrscht und das Schicksal bestimmt, wirken als Ausnahmeerscheinungen. Auf das Verhältnis der Frau zur Gesellschaft aber, so., wie Sainte-Beuve es sich vorstellt, müssen wir später nochmals zurückkommen. Zu den entscheidenden Fragen innerhalb einer Philosophie vom Menschen gehört die nach dem Maß von Gleichheit oder Ungleichheit, das zwischen der Begabung der einzelnen besteht. Die geistige Tradition, der Sainte-Beuve als Kritiker angehört, ist darin von einer durchaus aristokratischen Auffassung bestimmt. Die antike Kaiserzeit hatte den Kult großer Männer gefördert, und Plutarchs Biographien sind von unermeßlicher Wirkung auf die Nachwelt gewesen. Die Humanisten besaßen jenes gesteigerte Gefühl, von der Bedeutung der Persönlichkeit, das am Beginn der Neuzeit zum Durchbruch gelangt, und suchten es in ihrer eigenen Lebensführung und in ihren Beziehungen zu den Großen ihrer Zeit zum Ausdruck zu bringen. Die klassische Literatur der Franzosen gruppierte sich um die Person des Monarchen, und die demokratische Welle der Reformationszeit war eben das, was hier mit geistigen Mitteln bekämpft wurde. Der Stoß gegen einen erstarrten Klassizismus war dann von der Romantik wiederum im Namen des Genies geführt worden. So traf auf literarischem Gebiet alles zusammen, um Sainte-Beuves Stellung zu dieser Frage in einer Richtung zu bestimmen. Anders lag es auf dem der Politik. Der soziale Kampf des Bürgertums mit dem Adel führte zu einem geistigen Durchbruch egalitärer Ideen, der weit über die Gedanken und Interessen des Bürgertums selbst hinausging. Die Wirkungen zeigten sich auf dem gesamten Feld der politischen Wissenschaften und griffen auch auf die Psychologie hinüber. Sainte-Beuve, der zeitweise bei den Physiologen und Sensualisten in die Lehre gegangen war, konnte von dieser Zeitströmung nicht unberührt bleiben. Ein lyrisch gestimmter Pessimismus bestärkte ihn in dieser Richtung. So erklärt sich jener elegische Aphorismus, daß selbst die überlegenen Menschen sich nur wie fliegende Fische für kurze Zeit über das Meer der Mittelmäßigkeit erheben, um dann darin zu versinken. Auch sonst finden wir bei ihm Worte der Klage über die 188
Schwäche des einzelnen gegenüber der Welt. Das große Phänomen, an dem sich diese Frage für ihn und seine Zeitgenossen entscheiden muß, ist Napoleon. Sein Urteil über ihn bleibt sich nicht immer gleich, aber auch dort, wo er ihn verwirft, erkennt er die Macht dieses Menschen an. Nur die Natur der Dinge selbst, worin das Ge* wissen der Völker einbegriffen ist, ja, das Universum selbst, dem er sich entgegenwirft, vermag ihn zu überwinden. Und letzten Endes dient ihm Napoleon zur Bestätigung seiner Lehre von der Freiheit in dem Gang der Geschichte, die dem genialen.einzelnen in kritischen Augenblicken die Möglichkeit gewährt, zwischen verschiedenen geheimen Plänen der Geschichte zu wählen und den einen zu verwirklichen, die übrigen aber in die Wesenlosigkeit hinabzustoßen. Er hält an der Ausnahmestellung des Genies fest, das deutlich von dem Talent geschieden ist. Sein Kennzeichen ist die Fähigkeit, aus dem Nichts zu schaffen. Dort, wo sich am Vorabend nichts befand, erhebt sich unter der Hand des Genies am nächsten Morgen eine Welt, die der tägliche Fleiß der Mittelmäßigkeit in Jahren nicht zu erbauen vermocht hätte. Als Beispiele nennt er dazu die großen Dichter der Weltliteratur, Shakespeare, Homer, Molière, Aristophanes, Sophokles, Corneille, weiter Forscher und Denker wie Archimedes und Pascal, endlich allgemein die Heroen und Gesetzgeber. Von diesen hebt er hier keinen einzelnen hervor. Neben Napoleon betrachtet er unter den Staatsmännern seines Volkes wohl nur einen ohne wesentliche Einschränkung als Genie, den Kardinal Richelieu. Zu den bevorzugten Gedanken des Humanismus gehörte der Nachruhm. Die Dauer der großen Kunstwerke, die aus dem Altertum übriggeblieben waren und nun zu neuem Leben erweckt wurden, die Vertrautheit mit dem christlichen Gedanken der Ewigkeit, endlich und vor allem das frische Selbstgefühl des Menschen einer neuen Epoche, dies alles wirkte zusammen, um hier den Gedanken der literarischen Unsterblichkeit zu erzeugen. Eine Kultur mit so ausgeprägt traditionalistischen Zügen wie die französische mußte ihn lebendig erhalten. Sainte-Beuve trug selbst als Kritiker das Seine dazu bei, alten Ruhm lebendig zu erhalten, halb vergessenen zu erneuern. Er verteidigte ihn sogar hier und da mit leichten Vorbehalten gegen die historische Kritik, die alte Vorstellungen der literarischen Überlieferung nachprüfte und zum Teil beseitigte. Aber gerade die Geschichtsschreibung, das große Werk jener Epoche, verstärkte wiederum den Gedanken des Nachruhms, das war auch ihm bewußt. Dennoch stand er allen Vorstellungen von literarischer Unsterblichkeit mit Zweifel gegenüber. Es kamen mehrere Dinge zusammen, die ihn dazu führten. Er hatte keinen Glauben an die Vernunft der Geschichte und wußte, daß der größte Teil der antiken Literatur untergegangen, das Gerettete 189
aber durch eine Kette von Zufälligkeiten erhalten geblieben war. Das Altertum erschien ihm wie ein geplünderter Palast, den wir nun aus Trümmern wieder aufzubauen versuchen. Seine eigene Epoche erschien ihm zuweilen schon im Lichte des Alexandrinertums. Eine riesige literarische Überlieferung war zu bewahren, er kannte aus eigener ständiger Arbeit das gemeinsame Grab der Bibliotheken, den Schindanger, um Bayles drastisches Wort zu brauchen, auf dem zahllose Bücher vergessen verstaubten und vermoderten. Die geschichtliche Erinnerung an die große Revolution, der rasche Wechsel der Regierungsformen, die Unsicherheit der sozialen Ordnung, dies alles führte ihn dazu, die Zukunft der Kultur mit melancholischer Skepsis zu betrachten. Mit ihr aber würde auch der Ruhm so vieler großer Namen zugrunde gehen. Das Selbstbewußtsein der modernen Gesellschaft war ihm ein Gegenstand der Ironie, auch Ägypten und Rom hatten an die Ewigkeit ihres Fortbestandes geglaubt. Aber die Zweifel, mit denen er dem Begriff der literarischen Unsterblichkeit begegnete, hatten doch noch tiefere Wurzeln. Er stellt bei den Humanisten, wie schon das Wort andeutet, eine Säkularisierung des christlichen Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele dar, und diese metaphysische Wurzel war bei Sainte-Beuve verdorrt. Er dachte sehr hoch von der historischen Bedeutung großer Menschen, aber er prüfte auch hier mit unbestechlichem Blick und fand, daß auch über den Fortwirkungen gewaltiger Werke und der Dauer berühmter Namen das Gesetz der Vergänglichkeit waltete.
3. Grundlinien der Ethik Ist mit den Einzelzügen das Bild Sainte-Beuves vom Menschen verdeutlicht, so bleibt uns zuletzt noch die Aufgabe, die Grundlinien seiner Ethik zu zeichnen. Auch auf diesem Gebiet bemüht er sich nicht um ein System, wir finden seine grundsätzlichen Bemerkungen in seinen Schriften weit zerstreut. Aber erst seine Antwort auf die Frage: Was soll der Mensch tun? vervollständigt uns sein Bild vom Menschen. So wie er selbst nicht nach einem ethischen System strebt, so setzt er sich auch mit denen anderer nicht eigens auseinander. Die Richtungen der Moralphilosophie, die er vorfand, unterschieden sich weniger durch den Inhalt der sittlichen Forderungen, die sie alle der christlich-antiken Überlieferung entnahmen, als durch die Begründung des Sittengesetzes. Die traditionelle kirchliche Ethik verfuhr 190
autoritativ, sie gründete die sittlichen Gebote auf Offenbarung. Kant, der Schöpfer der größten originalen Moralphilosophie der neueren Zeit, begründete das Pflichtgebot auf die Stimme des Gewissens. Die Moralphilosophen der schottischen Schule beriefen sich für die Gültigkeit des Sittengesetzes auf das Gefühl des Menschen. Moralpädagogisch war diesen drei Richtungen gemeinsam, daß sie unmittelbar auf das Innenleben des Menschen zu wirken suchten, indem sie ihm die Größe und Heiligkeit des Sittengesetzes nahebrachten. Anders verfuhr die von Bentham gegründete utilitarische Schule. Sie suchte ein objektives Merkmal für das Gute und glaubte es in dem allgemeinen Nutzen zu finden. Sie unterschied sich also von den älteren moralphilosophischen Richtungen durch das Bemühen, die Inhalte der Moral aus der Wirklichkeit des Lebens und seinen Bedürfnissen zu entwickeln, aber sie band sich dann wieder an ein dogmatisches Prinzip. Aus allen diesen Systemen und ihren Anwendungen ergaben sich nun zahlreiche, rein tatsächliche Einsichten in die Entstehung der Moral, ihre verschiedenen Formen und das in ihnen wirksame Spiel der sittlichen Motive. Nur auf diesem Wege war weiterzukommen, nachdem sich die großen dogmatischen und aphoristischen Systeme der vorhergehenden Zeit erschöpft hatten. SainteBeuve schreitet nun, aus der Art seiner historisch-kritischen- Begabung heraus, unbefangen auf diesem Wege einer positiven und pragmatischen Ethik weiter. Er bemüht sich festzustellen, wie die Menschen unter den verschiedensten Schwierigkeiten Herren ihres Schicksals geworden sind, um daraus allgemeine Regeln für die Lebensführung zu gewinnen. In einem Aphorismus sagt er einmal mit aller Bestimmtheit, daß die Tugend dieser niedrigen Welt fast ganz in Entsagung, Verzicht und Nein-Sagen bestehe. Woher aber stammt die Kraft zu einer solchen Haltung, die sich gegen den natürlichen Strom des Lebens selbst kehrt? Darüber spricht sich Sainte-Beuve ausführlich in seinen Bemerkungen über das Tagebuch von Fezensac aus dem Jahre 1812 aus. Er schildert die demoralisierenden Wirkungen, die von den furchtbaren Entbehrungen des Rückzugs ausgehen. Alles, was der Mensch als Mitgift der Zivilisation besitzt, Erziehung, verfeinertes Empfinden, Anstand und Sitte, gehen unter, die menschliche Natur tritt in ihrer Nacktheit hervor, der Trieb nach Selbsterhaltung erweist sich stärker als alles andere. Es gibt nur wenige, in denen ein höheres Gefühl von Ehre und Hingabe, ein Glaube irgendwelcher Art, bis zuletzt lebendig bleibt. Sainte-Beuve erwähnt später das Beispiel einiger Soldaten, die das ihnen anvertraute Geld durch alle Schrecken des Rückzugs hindurch auf Heller und Pfennig in Sicherheit bringen. In den ungeheuren Schwankungen der politischen Ordnung wird die 191
persönliche Ehre des Mannes zu dem Felsen, an den sich der edle Charakter klammert, freilich, so fügt er einschränkend hinzu, zu einem allzu steilen und unfruchtbaren Standort. Wenn er die Lebensweise der Einsiedler von Port-Royal schildert, so erspart er uns keine Einzelheit ihrer Schauder erweckenden Kasteiungen. Er sieht in dieser Askese, so wenig er sie in ihrer Praxis billigt, doch die Voraussetzung für die rechte Behandlung und Beurteilung der Armut. Die Alten liebten den Reichtum und veredelten seinen Besitz durch die Gedanken der Größe und Schönheit. Das ist die Auffassung Pindars, und auch Goethe empfindet darin heidnisch. Montaigne, dem Vorgang der Stoiker folgend, rät dem Menschen, sich auf sich selbst zurückzuziehen, aber durch diesen allgemeinen Verzicht strebt er nur danach, den Menschen aus einem elenden Lebewesen zu einem glücklichen zu machen. Dagegen liebt Pascal die Armut mit Leidenschaft, und die Askese, die er sich auferlegt, erhebt den Menschen über seine elende Natur und erschließt Quellen der inneren Kraft, zu denen auf keinem anderen Wege zu gelangen wäre. Das Heroische, das in einzelnen erlesenen Naturen lebt, ist, so muß man Sainte-Beuves Ansicht zusammenfassen — die Quelle aller Sittlichkeit. Sie ist es mittelbar auch für die große Menge der Menschen, die sich in eine mittlere Lage schicken. Pascal hat mit seinen Provinzbriefen einen tiefen Einfluß auf die sittlichen Anschauungen des höheren Bürgertums seiner Zeit ausgeübt. Die Moral der ehrenhaften Leute, die sich im 16. und 17. Jahrhundert bildet, ist rationalisiertes, der Idee des allgemeinen Nutzens unterworfenes Christentum. Der Tempel ist zerstört, seine Stücke sind aber verwendet worden. Denkergebnisse der Philosophie und christliche Lebensgewohnheiten sind zu einem Kompromiß verschmolzen, das eben deshalb den Bedürfnissen des Tages genügt. Dem Protestanten Vinet entleiht SainteBeuve die allgemeine Vorschrift für die moralische Haltung des Menschen, der auf Größe verzichtet und sich in das große Ganze fügt: wir sollen zufrieden sein, content, contenu, wir sind in die Welt gesetzt, um uns in unseren Grenzen zu halten, nicht um uns nach unserem Belieben auszudehnen. Sainte-Beuve stimmt also in seiner Begründung des Guten allen denen zu, die es, wie die Stoa, das Christentum, Kant und seine Schüler, wesentlich als eine innere Beschaffenheit des Menschen betrachten, infolgedessen die Quelle des Sittlichen im Individuum suchen und die Tat selbst nicht nach ihrem äußeren Charakter, sondern nach ihren. Motiven beurteilen. Aber er bleibt nicht dabei stehen, sondern prüft weiter die Frage, welchen Platz das Gute in der Welt einzunehmen hat. Bei der Verteilung des jährlichen Tugend192
preises der Akademie hält er 1865 die öffentliche Rede. Die Trägerin des ersten Preises ist eine Lehrerin, die seit fünfzig Jahren in einem Dorfe wirkt und neben ihrem Amte zugleich die Aufgaben einer freiwilligen Pflegerin der Kranken erfüllt. Durch solche Leistungen erneuert sich ständig im Schöße der Gesellschaft jenes Maß an Gutem, das für das moralische Gleichgewicht der Welt unentbehrlich ist. Wir begegnen wieder den vertrauten Zügen seiner Ethik: das Gute in der Welt ist nicht Gabe der Natur, sondern Leistung des heroischen Einzelwillens, die Vorstellung der Gnade wirkt fort. Die Aufgabe der Tugend aber ist der Dienst an der Gesellschaft und ihrer fortschreitenden Vervollkommnung, ausgeübt in Demut und Hingabe an ihre Zwecke, unter Umständen aber auch im Kampf gegen die Gesellschaft selbst. Auch in dieser Zielsetzung erweist sich die moderne Ethik, so wie Sainte-Beuve sie auffaßt, als säkularisiertes Christentum. Sainte-Beuve ist sich dieses historischen, und inneren, Zusammenhanges völlig bewußt. Wenn aber das Gute nach seiner Auffassung nicht das .Erzeugnis der unverdorbenen Natur ist, wie für Rousseau, sondern das Ergebnis eines Kampfes, so bleibt dem Moralphilosophen noch die Aufgabe, zu sagen, welches die allgemeine Gestalt dieses Ringens ist und in welchem Sinne es durchgeführt werden muß. Hier greift Sainte-Beuve wiederholt auf einen Gedanken Pascals zurück. Das Leben verläuft für diesen in Gegensätzen, und wer das Gute ernsthaft will, sieht sich zwischen zwei äußerste Möglichkeiten gestellt. Die sittliche Größe besteht nun nach Pascal darin, sich nicht an eine von beiden hinzugeben, sondern beide zu berühren und so den Abgrund zwischen ihnen auszufüllen. Diesem Gedanken stimmt SainteBeuve zu, denn er ist seiner innersten Natur gemäß. Freilich sind die Formen, in denen dieser Kampf nach Pascals allgemeiner Beschreibung verläuft, bei ihm andere, weichere. Nicht wie jener sieht er sich zwischen Gott und die Welt gestellt, sondern in der Welt sglbst in ein Netz von Gegensätzlichkeiten der geistigen und politischen Grundanschauungen verstrickt. Er vermag deshalb auch nicht, wie der glaubensstarke Pascal, diesem Ringen durch einen Akt der inneren Entscheidung für sein ganzes Leben ein Ziel zu setzen, sondern er muß seiner ganzen Lebensaufgabe gemäß immer wieder mit der Wirklichkeit ringen. Gegenüber dem Sohn des Zeitalters der religiösen Kämpfe verkörpert er den modernen Menschen, den beweglichen, arbeitenden, im Innersten einsamen, auf sich allein gestellten. Aber die Grundform der sittlichen Erfahrung ist doch bei beiden eng verwandt. Seine allgemeine Stellung zum Problem des Menschen war SainteBeuve durch den Lebensberuf gegeben, den er ausübte und der seiner innersten Veranlagung entsprach. Er deutete und beurteilte die Deiters, Sainte-Beuve
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Werke schöpferischer Menschen, studierte diese selbst in ihrer persönlichen Eigenart, und dies alles auf dem Hintergrund einer literarischen Tradition, die vom Geiste der abendländischen Humanität erfüllt war. Welche Veränderungen sich auch im Laufe der Jahrtausende in diesem Kulturbereich vollzogen hatten, grundlegend für das gesamte Denken war doch immer die Vorstellung geblieben, daß der Mensch frei und verantwortlich dem Universum gegenüberstand. Sainte-Beuves eigene Zeit wird nun durch den mächtigen Vorstoß deterministischer Gedanken charakterisiert. Er selbst begann mit naturwissenschaftlichen Studien, und unter seinen Bildnissen befinden sich in größerer Zahl auch solche von Naturwissenschaftlern. Einer seiner letzten öffentlichen Kämpfe wurde für die Freiheit der medizinischen Forschung geführt. Das naturwissenschaftliche Denken der Neuzeit hatte sich, von dem Himmelsgewölbe herkommend, mehr und mehr dem Menschen genähert, psychologische und biologische Fragen traten in den Vordergrund der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die Bestimmung des Menschen durch Anlage und Umwelt, die lange nur in allgemeinen Umrissen gesehen war, nahm genauere Züge an. In derselben Zeit gewann die Geschichtswissenschaft Einsicht in die Massenbewegungen, romantisches und idealistisches Geschichtsdenken wirkten beide dahin, die Bewegungsfreiheit des einzelnen im Ablauf der Ereignisse einzuschränken. Sainte-Beuve entzog sich diesen gedanklichen Bewegungen nicht, aber eine lange humanistische und spiritualistische Tradition blieb in ihm lebendig, er fuhr fort, scharf und unabhängig die Tatsachen zu studieren, und gelangte so zu den Einschränkungen an dem herrschenden Determinismus, die ganz allgemein dem Irrationalen in den Ereignissen und in den Entschlüssen des Einzelnen wieder Raum schufen. Sein allgemeines Bild vom Menschen spiegelt sich in seinen Bildnissen wider. Wäre jenes an bestimmte Annahmen des zeitgenössischen Denkens gebunden, so wären mit ihnen auch diese' verblaßt. In Wirklichkeit aber sind sie frisch wie je. Sainte-Beuve sieht den Menschen, seinen wesentlichen Zügen nach, so, wie ihn die Historiker, Moralisten, Dichter unserer Kultur seit Jahrhunderten gesehen und gezeichnet haben. Das gibt seinen Bildnissen die innere Wahrheit, mit der sie die Zeit überdauern und sich den bleibenden klassischen Schöpfungen der literarischen Kritik und der Literaturwissenschaft überhaupt einreihen. Innerhalb dieser großen Einheit, die jedes neue Zeitalter an die vorhergehenden bindet, muß sich aber auch jedes sein Bild vom Menschen neu schaffen. In diesem Prozeß des steten Umformens stellt Sainte-Beuves Zeit einen tiefen Einschnitt dar. Die Psychologie verfeinert sich, auch der große Mensch tritt aus seiner statuenhaften Abgeschlossen194
heit heraus und wird uns in dem Spiel seiner Motive verständlicher. Die einzelnen ordnen sich zu Gruppen, auch Menschen von mittlerer Bedeutung behaupten dadurch ihren Wert. Die Verbindung des geistigen Lebens mit der Natur, mit der Gesamtheit aller Lebensregungen überhaupt, wird deutlicher. Die alten strengen Begriffe des Rationalismus wirken weiter, sie lehren uns auch heute noch, den Menschen als moralisches Wesen zu studieren und zu betrachten. Die Romantik hat den Menschen aufgewühlt, er hat der Allgemeinheit seine Leiden dargestellt, auch diejenigen, in denen er sich keineswegs als Held bewährt hat, wir haben gelernt, unsere Brüder mit einem feineren Vermögen der Einfühlung zu sehen, mit jenem Verständnis, das aus dem Mitgefühl stammt und auch einen ethischen W e r t einschließt. Nun aber tritt schon der Mensch eines neuen, positiven Zeitalters in den ersten Vorläufern auf, wir beobachten ihn nach seinem Verhalten gegenüber der Umwelt, sehen ihn gleichsam von außen, als Teilstück eines großen Lebenszusammenhanges, pragmatisch, und vervollständigen auch dadurch unser Gesamtbild vom Wesen des Menschen. Sainte-Beuves Größe zeigt sich nun darin, daß er in seiner Art, den Menschen zu sehen, Altes und Neues miteinander verbindet. Trotz des beträchtlichen historischen Abstandes, der uns schon von ihm trennt, empfinden wir ihn selbst als einen modernen Menschen. Sein allgemeines Bild vom Menschen ist alt und neu zugleich.
Zweiter Abschnitt: Die Gesellschaft
1. Herkunft und Erfahrungen Sainte-Beuve war, wie uns seine Lebensgeschichte gezeigt hat, bürgerlicher Herkunft. Sein Vater hatte seinen W e g als kleiner Finanzbeamter noch unter der alten Monarchie begonnen, und wenn er auch vor der Geburt seines Sohnes starb, so lebte die Mutter, um die bescheidene Überlieferung der Familie lebendig zu erhalten. So schroff sich auch der Bruch zwischen dem alten Frankreich und der revolutionären Welt vollzog, so dürfen wir doch nicht übersehen, daß die Monarchie selbst nicht ohne Sinn für Reformen war und in dem ersten Abschnitt der Revolution eine Versöhnung zwischen ihr und der neuen Ordnung möglich erschien. Nach allem, was wir wissen, herrschte in der Familie Sainte-Beuve ein konservativer Geist. Aber da sie nicht zu den privilegierten Schichten gehört hatte, so befand sich in ihrer sozialen Lage auch nichts, was sie zu einer legitimistischen, reaktionären Haltung hätte führen können. Die Zeit 13*
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der alten Monarchie wurde zu einer Erinnerung, die man ohne Bitterkeit pflegen konnte. So reicht das Dasein des jungen SainteBeuve mit seinen Wurzeln in das königliche-Frankreich zurück, und niemals war diese Verbindung in seiner Familie'gewaltsam durchschnitten worden. Die Familie lebte außerhalb der Hauptstadt, inmitten einer sozialen Schicht, die von der Revolution weder einen Sturz, noch eine Befreiung erfuhr. Durch alle Erschütterungen und Umwälzungen der großen Welt blieb hier der Zusammenhang des nationalen Lebens gewahrt. Der Aufstieg dieses kleinen Bürgertums vollzog sich allmählich, man hatte keinen Grund, der neuen Zeit feind zu sein, aber auch keinen, die alte zu schmähen. In dieser Atmosphäre einer konservativen Fortschrittlichkeit ist Sainte-Beuve, trotz aller Ablenkungen, durch starke Zeitströmungen, immer beheimatet geblieben. Diese Herkunft Sainte-Beuves war auch einer beobachtenden Haltung gegenüber den politischen Geschehnissen günstig und gab andererseits Freiheit der Entscheidung. Sein Vater war öffentlicher Angestellter gewesen, er selbst wurde Schriftsteller, Beruf und Amt forderten von keinem der beiden, daß sie rasch und entschlossen in den politisch-sozialen Kämpfen Stellung nahmen. Aus dieser Schicht sind entschiedene Vertreter aller politischen Richtungen hervorgegangen, aber der Weg war keinem herkunftsmäßig vorgeschrieben, und wer einen starken kritischen Sinn besaß, konnte sich trotz aller Anteilnahme immer wieder zu einer mittleren, schlichtenden Haltung zurückfinden, und das eben war Sainte-Beuves Fall. Gegen einen kirchlichen Kritiker, der den alten Vorwurf der Lauheit gegen Erasmus von Rotterdam wieder aufnahm, hat er den Angegriffenen entschieden verteidigt. Er nennt ihn einen gemäßigten Voltaire, einen Weisen, der zu früh kam und, zwischen extreme Parteien gestellt, zu klug war, um sich einer von ihnen zu vermählen. Mit ihm verlangt SainteBeuve das Recht des gemäßigten und verfeinerten Geistes, in solchen Kämpfen neutral zu bleiben. Er selbst freilich hat sich bald danach doch entschlossen, sich mit einer Partei zu vermählen, nämlich mit der des Bonapartismus, aber diese Ehe war nicht glücklich und stand zuletzt vor der Scheidung. Neutralität im Sinne jenes Ausspruchs bedeutet nicht Enthaltung von jeder Stellungnahme überhaupt, sondern die Voraussetzung für eine freie, abwägende, gerechte Entscheidung zwischen den Parteien im Sinne der Gesamtheit. Sie ist Sainte-Beuve von Hause aus mitgegeben worden. Als literarischer Kritiker hat er sich immer bemüht, sein Urteil ausschließlich auf, literarische Merkmale zu stützen. Aber im Gegenständlichen zog er der Literatur keine' Grenzen, so daß er sich mit zahlreichen Werken politischen Inhalts beschäftigen mußte. Auch als 196
Moralist, im Sinne Montaignes und seiner Nachfolger, wurde er immer wieder auf Fragen der Lebensführung, und somit auch der Politik, gelenkt. Er faßte die Aufgabe des Kritikers so, daß er nicht nur das Werk, sondern auch den Menschen beurteilte. Die Sprache, in allen ihren Gestaltungen, war ihm, dem Humanisten von Anlage und Überlieferung, immer und überall Ausdruck des menschlichen Wesens. So haben wir nTseinen Schriften, obwohl er zu keiner Zeit die Haltung des politischen Führers oder Lehrers einnimmt, doch einen großen Reichtum von Gedanken über die Erscheinungen des politischen und sozialen Lebens. Sie bilden kein System, ebensowenig wie die über den Menschen und seine Stellung in def Welt eine Philosophie ausmachen, aber sie schließen sich doch zu einem Ganzen zusammen. Und dies Gesamtbild suchen wir zu erfassen, da es einen wesentlichen Teil seines Weltbildes ausmacht. Die Schwierigkeit liegt dabei nicht nur in der Form seiner Schriften, sondern mehr noch in dem Charakter der Zeit und in seinem eigenen Wesen. Die sozialen Gegensätze, die zur großen Revolution geführt haben, sind noch keineswegs ausgetrageji, neue drängen sich schon dazwischen, die Regierungssysteme wechseln ständig, und auch solange sie dauern, flößen sie kaum den eigenen Anhängern Vertrauen in ihren Fortbestand ein. In diesen Zeitläuften bewegt sich ein Mensch, der die Erscheinungen nicht nur verstandesmäßig aufnimmt, sondern sich in die Menschen und ihre Denkart hineinlebt, auch als Forscher und Kritiker ein Künstler und Menschenformer, von den Kämpfen der Zeit innerlich mitbewegt, kein Mensch des Willens und der Tat, sondern der nachschaffenden Phantasie. Es versteht sich leicht, daß sich das politische Geschehen und seine Folgen zu wechselnden Zeiten in diesem Geiste verschieden spiegelten. Dennoch treten gewisse Grundlinien des ihm eigenen, persönlichen Denkens auch auf dem Gebiet der Politik und des sozialen Lebens immer wieder hervor, und diese gilt es aufzusuchen. Wir lassen das Material an Erfahrungen, das ihm zur Verfügung stand, nochmal kurz an uns vorbeigehen. Er wurde unter dem Kaiserreich geboren, und wenn es auch endgültig stürzte, als er noch ein Knabe war, so blieb ihm doch ein dauernder Eindruck von diesem gewaltigen und gewaltsamen Gebilde, wie sein Leben bezeugt und wie er es auch ausdrücklich ausgesprochen hat. Es war ja die Staatsform, die den materiellen Interessen und seelischen Bedürfnissen seiner Schicht am besten entsprach. Die Zeit der wiederhergestellten Bourbonenherrschaft umfaßt die Jahre, in denen sein Geist reift. In ihrem zwiespältigen Charakter vermittelt sie ihm ein Bild der alten Monarchie, das durch seine historischen Studien vertieft wird, und eröffnet ihm erlebnishaft den Zugang zu allen modernen Strömungen. 197
Die Julirevolution fällt in seine romantisch-revolutionäre Zeit hinein und bringt ihre Keime zur vollen Entfaltung. Er hat eine lange nachwirkende Begegnung mit dem Saint-Simonismus. Lamennais' Versuch, Demokratie und Christentum zu vereinigen, bleibt für ihn nur eine Episode, die ein für allemal zu Ende ist, als Lamennais selbst eine Wendung vollzieht. Seine innere Beteiligung an den Vorgängen der Politik hört auf, als die Monarchie Louis Philipps sich im konservativen Sinne festigt. Er richtet sich, älter geworden, in ihr ein, aber liebt sie nicht. Sie gewährt ihm die Anschauung der voll entfalteten parlamentarischen Regierungsformen. Seine eigene politische Entwicklung scheint mit dieser Distanzierung abgeschlossen zu sein. Aber die Februarrevolution und ihre Folgen zwingen ihn von neuem, Stellung zu nehmen. Die bürgerliche Republik ist ihm ebensowenig sympathisch wie die Julimonarchie, die Herrschaft der Demokratie erscheint ihm als eine Gefahr für den Weiterbestand der Kultur, es bleibt ihm nur der W e g zur plebiszitären Diktatur. Er geht ihn aus innerer Notwendigkeit und wird ein erklärter Anhänger des zweiten Kaiserreichs. Dies bietet ihm nun den Anblick einer Staatsform, in der sich Tradition und Revolution, Demokratie und Autorität zu vereinigen scheinen. Aber die zusammenhaltende Kraft dieses Gebildes läßt bald nach. In dem Kampf zwischen der bürgerlichen Intelligenz und der Kirche um das Maß der geistigen Freiheit tritt Sainte-Beuve entschieden auf die Seite der modernen Gedanken. Dem neuaufstrebenden Sozialismus, den er als eine Stütze für die Staatsform betrachtet, leiht er seine Feder, indem er eine Biographie Proudhons beginnt. Er sieht das Versagen des Empire, das nach und nach die Fühlung mit allen Schichten der Gesellschaft verliert, und erlebt noch, ohne Vertrauen in diese Wendung, die Ankündigung des liberalen Kaiserreichs.
2. Macht und Herrschaft Der Boden, auf dem sich Sainte-Beuves politische Gedanken bewegen, ist Frankreich und seine Geschichte. Er -lebt geistig in der freien, alle Kulturvölker mit gleicher Achtung umspannenden Atmosphäre seines Jahrhunderts, politisch aber bekennt er sich spät noch einmal ausdrücklich zur Nation. Als Mensch allen Gefühlen der Menschlichkeit, der ungezwungenen, freien, auch brüderlichen Verbindung offen sein, als Nation aber den Nerv der Nationen, die Liebe zum Vaterlande, unversehrt erhalten, das ist seine Mahnung in jenen 198
Jahren, in denen unter dem Eindruck des italienischen Feldzugs von 1859 und in der Sorge vor ferneren Kriegen um die Einigung Deutschlands und Italiens pazifistische Ideen wieder stark erörtert wurden. Diese Gedanken verbinden ihn mit Thiers, der durch seine Geschichtswerke einer der Schöpfer des Napoleonmythus in seinem Lande wurde. Den zahlreichen Bänden seiner Geschichte des Konsulats und Kaiserreichs, die in Abständen von Jahren erschienen, widmet er immer neue, ausführliche Besprechungen. Auf ihn bezieht er sich in seinem Bekenntnis zu den nationalen Gefühlen, die gerade die Masse des Volkes an Napoleon und seinen Ruhm binden. Thiers freilich war und blieb ein unversöhnlicher Gegner des zweiten Kaiserreichs, dem Sainte-Beuve sich anschloß. Im Grundsätzlichen einig, gingen sie im Praktischen auseinander, und die Geschichte gab dem Politiker recht, dem Schriftsteller aber unrecht. Das allgemeine Bekenntnis zur schöpferischen Macht der Persönlichkeit, das wir von Sainte-Beuve bereits kennen, kommt auch auf diesem Gebiet zum Ausdruck. In einem Aufsatz über das moderne Griechenland und seine inneren Schwierigkeiten kommt er zu dem Schluß, daß ein V o l k eines großen Staatsmannes bedarf, wenn es sich zu den Anfängen der Kultur erheben oder nach dem Sturz erneuern will. Um einen Staat zu errichten, bedarf es eines Staatsmannes, w i e für ein Gedicht eines Dichters. Er arbeitet diese Auffassung in einem Aufsatz über Katharina II. von Rußland noch schärfer heraus. Es wäre leicht, sie nach dem liberalen Katechismus zu messen und zu verurteilen. A b e r die menschliche Natur ist widerspenstiger, härter, Gutes und Böses sind stärker in ihr gemischt, als jene Lehre es wahrhaben will, und zum mindesten in Europa bedarf es für die Herrschaft noch der großen Charaktere und der großen Menschen, so schwer sie oft zu ertragen sind. Entgegen der demokratischen Staatsauffassung setzt Sainte-Beuve voraus, daß die Masse aus eigener Kraft nicht zur Staatsbildung fähig ist, jedenfalls nicht in der Alten Welt. In seiner Studie über Chateaubriand trennt er den Staatsmann scharf von dem Dichter. W e i l Chateaubriand im Kern dies ist, vermag er jenes nicht zu sein. Der Poet, gewöhnt an das freie Spiel der Phantasie, setzt alles an alles, sein Handeln ist in seinen Motiven radikal, in seinem Verlauf sprunghaft. Der wirkliche Staatsmann wird in Sainte-Beuves Augen vor allem durch die Ruhe seines Urteils und die Folgerichtigkeit seines Tuns gekennzeichnet. Als Beispiele großer Staatsmannschaft nennt er Augustus, Richelieu, Cromwell, W i l h e l m von Oranien, Pitt und Washington. V o n dem Manne, der als Begründer der großen amerikanischen Republik zu gelten hat, sagt er, daß er ohne Fehler gewesen sei, ein Urteil, das sittlich zu verstehen ist. Auch an Friedrich dem Großen rühmt er die Pflichttreue 199
und die Liebe zu seinem Lande, an denen er ein langes/hartes Leben hindurch festhält. Obwohl er nun an jener Stelle nur e i n e n Franzosen nennt, zeichnet er seine Idee vom wahren Staatsmann doch vor allem an den Gestalten der vaterländischen Geschichte. Die französische Monarchie ist auch für ihn die Schöpferin der nationalen Einheit, des Vaterlandes. Ihr Werk verkörpert sich ihm vorzüglich in der Gestalt Heinrichs IV., der im rechten Augenblick, nach gewissenhafter Selbstprüfung, im Interesse des Ganzen den Glaubenswechsel vollzieht, den die Politik von ihm verlangt, der alle Parteileidenschaften um ihn herum besiegt und sie zwingt, ihm auf seinem Wege zu folgen. Kaum irgendwo sonst tritt deutlicher zutage, was SainteBeuve von dem großen Regenten erwartet: daß er die unvermeidlichen, in sich berechtigten Gegensätze durch die Kraft seiner Persönlichkeit überwindet und so der Gesellschaft den Frieden erkämpft, dessen jede Arbeit zum Gedeihen bedarf. Aus Richelieus politischem Testament zitiert er das Wort über die Qualen des Staatsmannes, viele schlafen ruhig im Schutz seiner Nachtwachen und leben glücklich, während er elend ist. Zurückhaltender ist sein Urteil über Ludwig XIV., nicht nur über den Charakter, sondern auch über den Staatsmann. Wohl weiß er als König Respekt einzuflößen — Goethe nennt ihn den königlichsten, echtesten König, der je eine Krone getragen •—, aber er beschränkt sich zu sehr auf die ehrgeizigen Absichten des Augenblicks und blickt nicht in die Zu : kunft, was ihn zu seinen Ungunsten von Richelieu unterscheidet. Wenn Sainte-Beuve Heinrich IV. als Staatsmann höher stellt als Ludwig XIV., so drückt sich in diesem Urteil auch seine Gesamtauffassung von der alten Monarchie aus. Er beklagt es, daß Heinrich so früh starb. Wäre er leben geblieben, so hätte er vielleicht- das alte ständische Gefüge Frankreichs erhalten und zur Grundlage der neuen verstärkten Königsherrschaft machen können. Sainte-Beuve hat sich unter der Restauration eine Idee von der liberalen Monarchie erworben, von der er sich ungern trennt. Sie hätte Frankreich vielleicht den Gleichgewichtszustand verschafft, der ihm fehlt, und es vor dem Schicksal immer neuer Revolutionen bewahrt. Aber der Charakter des französischen Volkes widerstrebt einer solchen Ordnung in Freiheit,, Sainte-Beuve zitiert einmal den Ausspruch eines Mannes, der Mitglied des Konvents war und als Präfekt des Kaiserreiches gestorben ist: „Es ist das Unglück Frankreichs, daß jeder regieren und keiner gehorchen will." Deshalb bleibt es zuletzt das gemeinsame historische Verdienst Heinrichs, Richelieus und Ludwigs, daß sie die monarchische Autorität in Frankreich befestigt haben-, wenn sie auch dabei die Gefahr übermäßiger Zentralisierung nicht haben vermeiden können. Ihnen verdankt auch die Literatur 200
ein neues Element der W ü r d e und Vornehmheit. Die Frage, w i e eine Autorität in der Gesellschaft aufzurichten ist, erscheint in Sainte-Beuves Denken von zentraler Bedeutung. Er sieht in der französischen Geschichte schon früh den Wechsel von Zerfall und Wiederherstellung der Autorität beginnen. Obwohl er den Staatsmännern protestantischen Bekenntnisses, w i e z. B. Sully, völlig gerecht wird, erscheint ihm doch der Calvinismus als eine Störung des französischen Wesens und das Zeitalter der konfessionellen Kämpfe als ein solches des Bürgerkrieges. Es ist die Leistung des Königtums, daß es Frankreich aus dem Abgrund der Anarchie gerettet hat. A b e r auch in einer Gegenbewegung w i e dem Jansenismus sieht er v o r allem das Element der moralischen Autorität. Denn Sainte-Beuve ist, ungeachtet seiner konservativen Grundhaltung, keineswegs ein Legitimist. Gegen- den großen, entschiedenen Verfechter der Legitimität, Joseph de Maistre, dessen Persönlichkeit er eine hohe Achtung entgegenbringt, wendet er doch ausdrücklich ein, daß es auch Souveränitäten gibt, die neu beginnen, neue Dynastien, die sich einwurzeln. Soweit dies W o r t im stillen Hinblick auf das zweite Kaiserreich gesprochen ist, erwies es sich als falsch, denn die Dynastie der Bonaparte hat nicht Wurzel geschlagen, aber im allgemeinen ist Sainte-Beuves Bemerkung völlig richtig. Jede überlieferte Autorität hat irgendwann einmal zu bestehen begonnen, und es hängt nur von den historischen Schicksal'en ab, ob sie sich befestigt und zu Jahren kommt. Sainte-Beuve zeigt sich auch hier als der positive Denker. Auch das, was ihm am Herzen liegt und was die eine der großen Parteien seiner Epoche mit mystischer W e i h e umkleidet, nimmt er rein tatsächlich und begründet es auf die Bedürfnisse der Gesellschaft. Auch den Herrscher, unter dessen Schatten sein Geschlecht noch lebt, Napoleon I., sieht er v o r allem unter diesem Gesichtspunkt an. Napoleon Bonaparte steigt aus der Revolution auf, und um zu herrschen, muß er sie zugleich retten und überwinden. Unter den vielen Äußerungen Sainte-Beuves über seine Persönlichkeit haben wir einige v o n besonderer Kraft. 1843 beschreibt er in großartigen Bildern das W e r k der Wiederherstellung, das Napoleon bei seinem Auftreten unternahm. Unter den blutigen Trümmern mußte er die Statue des Gesetzes, den Altar mit den geweihten Gefäßen, den Thron mit seinen Stufen wieder auffinden und dies alles aus den allgemeinen Ruinen v o n neuem zusammensetzen. Man hat wiedergefunden, nötigenfalls auch erfunden, und bei dem großen Wiederaufbau gab es Echtes und Beständiges genug, aber auch v i e l Unechtes und mit falschem Anspruch Umkleidetes Im Winter von 1848 auf 1849 spricht er bei seinem Kurs über Chateaubriand auch über Napoleon, dem jener sich gern als gleich201
wertiger Gegenspieler gegenübergestellt hätte, und behandelt ihn im Stil der antiken Rhetorik. In seinen Anfängen erweckte er die Erinnerung an die großen Staatengründer des Altertums, an Solon und Numa Pompilius. Schade nur, daß er mit diesen hohen Gaben etwas Gewaltsames und Zügelloses verband, als sei er vom ersten Tage an auf das Roß des Mazeppa gebunden gewesen. Es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß sich hinter dieser gekünstelten Form eine ernste Auffassung von Moral verbirgt, an der er festhält. 1865 gibt er dann nochmals eine rein historische und psychologische Charakteristik der Persönlichkeit. Napoleon bleibt sich in seinem Charakter und seiner öffentlichen Rolle von Anfang bis zu Ende treu. Er ist der bewaffnete Vertreter der französischen Revolution im Angesicht des alten Europa. Darum vermag er auf seinem Wege auch nicht anzuhalten. Aber weil er seinem Wesen nach vor allem Organisator und überwinder der Gegensätze ist, Vollstrecker der bürgerlichen Reformideen der Revolution, Freund der Gleichheit, keineswegs aber der Freiheit, so muß er auf die Waffe der revolutionären Propaganda verzichten, und die Völker, denen er die Grundzüge der liberalen Gesellschaftsordnung bringt, fühlen dennoch nur die Bedrückung. Diese drei Charakteristiken geben ein vollständiges Bild Napoleons in den Hauptzügen und berühren die wichtigsten Fragen, die sich an seine historische Beurteilung knüpfen. Die letzte Stelle ist in einer anderen Zeitatmosphäre geschrieben als die -vorigen, die liberale Bewegung ist wieder im Aufstieg, und Sainte-Beuve sieht das Heil des zweiten Kaiserreichs in sozialen Reformen. Napoleons zwiespältiges Verhältnis zur Revolution erscheint nun als der Schlüssel zum Verständnis seines Schicksals. Sainte-Beuves Anschauung von ihm ist eher noch klarer, sein Gefühl für die Größe des Mannes noch tiefer geworden. Aber die Schwächen seines Charakters, die tiefe Unmoralität seines Wesens bleiben ihm gegenwärtig, und vergebens würden wir bei ihm Zeugnisse des Napoleonkults suchen, der in seiner Jugend begonnen hatte. Und für die Person seines Neffen zeigte er später nur Geringschätzung. Aber ein Cäsar, der seinem Begriff von einem wahren Staatsmann annähernd entsprochen hätte, wäre ihm der erwünschteste Regent gewesen. Die Gabe zu herrschen ist ihm eine Berufung, die an der Person haftet. Das ist im Kern trotz allem eine demokratisch-revolutionäre Auffassung. Herrschen soll das Individuum, das sich dazu am meisten eignet. Wie sollte es aber in einer kastenmäßig gebundenen Gesellschaft zur obersten Stelle gelangen? Wiederum aber, weil das Herrschenkönnen eine persönliche Berufung ist, kann man die Herrschaft nicht ungestraft dem Wettbewerb der blinden Menge überlassen. Auch sind die Eigenschaften, an denen der wahre Herrscher erkannt wird, 202
gerade solche, die der Menge nicht zugehören: er soll in Krisen fest bleiben, Krieg und Frieden zu mischen wissen, spannen und mildern, wie die Umstände es erfordern, wach bleiben, damit die arbeitsame Menge ihre friedlichen Feste begehen kann, und wenn er Größe besitzt, so muß sie sich in der Gabe der Erfindung zeigen. W i e soll die Menge einen Mann herausfinden, dessen wichtigste Eigenschaften sie nicht besitzt, ja, kaum begreift? Es bleibt nur der Ausweg, daß sich der geborene Herrscher in einer freien Gesellschaft der Gesamtheit aufzwingt, kraft seiner Persönlichkeit, und diese Anschauung, obwohl Sainte-Beuve sie nirgends ausspricht, kommt seiner Meinung wohl am nächsten.
3. Revolution Hatte das Kaiserreich die Erinnerungen an die große Revolution bei den Zeitgenossen vorübergehend zurückgedrängt, so brachte die Restauration sie wieder zu voller Kraft. Die Wiederaufrichtung der alten Monarchie war zugleich eine Verdammung der Revolution in ihrem weiteren Verlauf, aber sie richtete sich nicht gegen ihre Anfänge, in denen eine Versöhnung zwischen den überlieferten Rechten der Monarchie und den Ansprüchen einer neuen Gesellschaftsordnung noch möglich erschienen war. J e stärker aber die liberale Opposition wurde, j e tiefer die Gegensätze zwischen ihr und .der Monarchie der Bourbonen, um so heller auch das Licht, das auf die späteren Stufen der Revolution fiel. Das gebildete Bürgertum fühlte mit den Girondisten, sie erschienen als die reinsten Vertreter und schließlich die Opfer der Idee der Revolution. In dieser frühen Zeit ließ sich aber die liberale Bewegung noch nicht von der bonapartistischen trennen, und da die Militärdiktatur Napoleons-in gewisser Weise eine Erneuerung der Diktatur des Konvents war, so wurden die Blicke tiefergehender Historiker auch wieder auf die Bergpartei und ihre Motive geführt. Auch die Saint-Simonist-ische Bewegung trug zu einer richtigeren Würdigung der Politik des Wohlfahrtsausschusses bei, der, so schien es, die ersten Versuche zu einer planmäßigen Organisation der Gesellschaft gemacht hatte. Die große, entscheidende Gegensätzlichkeit, die von Anfang an zwischen den Ideen der Freiheit und der Gleichheit bestanden hatte, wurde wieder empfunden. Der ganze Ablauf der Revolution schien sich wiederholen zu wollen. Inmitten aller dieser Strömungen sucht sich Sainte-Beuve s6lb203
ständig seinen Weg. In einer frühen Äußerung sehen wir, welche Maßstäbe der Beurteilung er wählt. Unter den Fraktionen der Revolution sind die Girondisten die letzten, für die er sich ohne Gewissensbisse zu erwärmen vermag. Aber aus späteren Bemerkungen geht hervor, wie bedingt doch auch diese Zustimmung ist: die Girondisten schaudern am Rande des blutigen Stromes, dem sie doch selbst das Bett zu graben geholfen haben. Hier nun, in dieser Kritik aus dem Jahre 1825, fällt Sainte-Beuve über die Führer der Revolution ein moralisches Urteil, das zugleich ein literarisches ist. Sie haben sich von den ewigen und unveränderlichen Regeln des menschlichen Handelns entfernt und sind so in ihrem Tun der Wut ihrer Leidenschaften verfallen, in ihrer Sprache aber der leeren Deklamation, Gladiatoren der Masse, die zuletzt mit Anstand fallen. Das Studium des Werkes von Thiers über die Geschichte der Revolution führt ihn tiefer in die Politik des Wohlfahrtsausschusses hinein. Er begreift die Dynamik der Tatsachen, so wie Thiers sie darstellt," weigert sich aber, eine Notwendigkeit im sittlichen Sinne anzuerkennen, die das Handeln der Bergpartei gegenüber den Girondisten rechtfertigen könnte. Niemals ist der Mörder edler als der Ermordete. So stellt er das sittliche Urteil schroff gegen das politische. Dieselbe Unabhängigkeit, wie bei Thiers, wahrt er sich gegenüber der Geschichte der Revolution von Mignet. Er habe seinen Gegenstand ad usum delphini behandelt, für die Söhne des dritten Standes, die Erben der Revolution. Noch leben die Zeugen des Untergangs so vieler Opfer, aber die Nachkommen tanzen auch hier auf den Gräbern. Die Erfahrungen des Jahres 1830 tragen nicht dazu bei, sein Ürteil über Umwälzungen im allgemeinen zu mildern. Er untersucht den Stand der literarischen Bewegung nach der Julirevolution. Die Dichtkunst, die während der auf 1789 folgenden Jahre geschwiegen hatte, war unter der Restauration wieder aufgeblüht und suchte jetzt die Verbindung mit den großen Bewegungen der Menschheit." Der Kritiker erhofft für sie eine neue Blütezeit. Aber der idealistische Aufschwung, der die führenden Gruppen der Julirevolution erfüllt hat, erlischt in dem Kompromiß des Bürgerkönigtums, und auch die literarische Bewegung enttäuscht die Erwartungen Sainte-Beuves. Mit der vollen Herrschaft des Bürgertums beginnt eine neue Epoche, die große Bewegung, die 1789 begann, scheint abgeschlossen zu sein, man kann sie als ein historisches Ereignis betrachten, aus dem nun das Fazit zu ziehen ist. Das versucht Sainte-Beuve in einer Vorrede zu unveröffentlichten Briefen der Frau Roland. Er setzt sich mit zwei verschiedenen Auffassungen auseinander. Die einen, die Fortgeschrittenen, pressen die Ereignisse in allgemeine philosophische 204
Formeln, die ihren gegenwärtigen politischen und sozialen Zwecken dienen, und bedecken so die Leidenschaften und Verbrechen mit einer großartigen Maske. Die anderen wenden sich enttäuscht von ihr ab. Maßvoll und verständig in ihrem Wollen und Handeln, hatten sie gehofft, auf neuen Wegen die Grundideen der Revolution zu verwirklichen. Aber ihnen begegneten jetzt, nach 46 Jahren, die nämlichen Schwierigkeiten wie ihren Vätern, die menschliche Natur scheint sich diesen Zielen zu versagen, das geistige Erbe der Revolution wird ihnen, wenigstens zur guten Hälfte, eine große und edle Illusion. Und wenn die Helden jener Epoche heute auf die Erde zurückkämen und das betrachteten, was sie mit ihrem Blut bezahlt haben, so würden sie ein wenig mitleidig lächeln. Zwischen jener Übertreibung und dieser Abdankung will Sainte-Beuve sich in der Mitte halten. Die Revolution, so ist seine Auffassung, hat uns unbestreitbare Ergebnisse hinterlassen, vermehrten Wohlstand, Gleichheit der Sitten bei allen Klassen, den allgemeinen Genuß der bürgerlichen Rechte, Freiheit für das Talent, sich zu entfalten. Aber der Fortschritt, dessen Bahn wir betreten haben, hat sich ünserer allgemeinen Fehler wegen als unendlich langsam und mühsam herausgestellt. Vor allem aber, und das ist das eigentlichste Wort SainteBeuves, ist uns die Revolution jene höheren Güter schuldig geblieben, die sie uns einst versprach, die Größe der Gesinnung, den politischen Charakter, die Hingabe an die allgemeinen Bedürfnisse des Vaterlandes. Er ergänzt diese Beurteilung ein .paar Jahre später in dem Porträt Lafayettes durch eine Untersuchung der Ergebnisse im Verfassungswesen Frankreichs. Von den verschiedenen politischen Willensrichtungen der Revolution, von denen die erste auf die direkte Volksregierung nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten ausging, die zweite auf eine parlamentarische Monarchie nach englischem Muster, die dritte auf eine demokratische Diktatur, hat sich 1830 äußerlich die zweite am stärksten durchgesetzt. Aber die ruhmvollen Gewohnheiten des Kaiserreichs und die von ihm errichtete zentralisierte Verwaltung haben dem Volkscharakter dauernde Züge aufgeprägt, und entscheidend für die gesamte Lage Frankreichs ist das Übergewicht des höheren und mittleren Bürgertums. Diese Gesellschaft aber, die aus der Revolution hervorgegangen ist, wird nach Sainte-Beuves Meinung nicht mehr von dem Enthusiasmus jener Epoche getragen, sie begnügt sich damit, im Sinne ihrer Genüsse und Interessen regiert zu werden. Neue Ideen strömen aus anderen Quellen und werden von einer anderen Generation vorwärtsgetragen. Die Julirevolution war ein Erlebnis und bald eine Enttäuschung des Werdenden, die Februarrevolution traf den fertigen Mann. 205
Obwohl sie zuletzt nur eine Episode blieb, erschütterte sie den Boden der Gesellschaft doch stärker, weil in ihr zum ersten Male das Proletariat mit eigenen Ansprüchen und Handlungen auftrat. So fühlte sich Sainte-Beuve aus doppelten Ursachen von ihr tief getroffen, obwohl er dem gestürzten Regierungssystem nicht nachweinte. Die Zivilisation selbst erschien ihm als gefährdet. Hatte er sich 1830 noch durch seine Beziehungen zu Thiers und Carrel und seine romantisch-radikalen Gefühle mit den Ereignissen verbunden gesehen, so stand er diesmal völlig außerhalb von ihnen. Mit den bürgerlichen Radikalen hatte er nichts mehr gemeinsam, das Proletariat war ihm fremd, der Sozialismus wenig vertraut. In Frankreich schien für ihn kein Platz mehr zu sein, und es ist nicht verwunderlich, daß er es für einige Zeit verließ, um erst zurückzukommen, als die Revolution so gut wie beendet war. Die Worte, mit denen er sie in späteren Jahren verteidigt hat, sind schwer zu bewerten, weil sie in der offenbaren Absicht geschrieben sind, das zweite Kaiserreich gegen seine liberalen Feinde in Schutz zu nehmen. Tocqueville hatte der Revolution von 1848 das Übergewicht der materiellen Motive vorgeworfen, worauf ihm Sainte-Beuve erwidert, daß es nichts Achtungswerteres gebe als den Magen, und daß kein Schrei lauter sei als der des Elends. Eine sonderbare Republik, so schreibt er ein andermal, die alle wahren Republikaner niederkanonierte, so daß zuletzt an ihrer Spitze nur noch Royalisten standen. Wenn damals überhaupt noch etwas von Demokratie in den französischen Einrichtungen übrigblieb, so war es nur dem einen zu verdanken, der keiner Klasse angehörte und sich deshalb um das Lebensrecht der Masse zu kümmern vermochte. Die Beteiligung der Arbeiterschaft an der Revolution von 1848 wird mit solchen Hinweisen verständlich gemacht, aber die Erhebung als Versuch der politischen Befreiung doch nicht gebilligt. Es gab unter dem Geschlecht, mit dem Sainte-Beuve lebte, einen weit verbreiteten Glauben an die Revolution überhaupt, an ihre befreiende, aufwärtsreißende Macht. Davon ist Sainte-Beuve ganz unberührt. Der Legitimismus läßt ihn gleichgültig, aber er sieht, daß die Volkserhebungen immer nur für kurze Zeit Erfolg haben und sich bald wieder eine Autorität an der Spitze des Staates bildet, die vielleicht zum Wohl des Volkes herrscht, seine Macht aber nur der Form nach von diesem herleitet. So sind die politischen Ergebnisse der Revolutionen von fragwürdiger Art. Den Enthusiasmus erkennt Sainte-Beuve als eine echte Kraft in der Bewegung der Geschichte an, jede Nation bringt ihn von neuem mit, aber er geht in dem Strudel der Revolutionen eher zugrunde, als daß er sich in ihnen siegreich entfaltete, und wenn er sie überlebt, so bleibt er enttäuscht zurück. 206
Das wirklichste an diesen A k t e n der Umwälzung ist der Aufstieg einer neuen Gesellschaftsschicht zu Macht und Ansehen. Aber dieser Vorgang läuft doch durch die Zeiten, die wir als Revolutionen bezeichnen, gleichsam nur hindurch, von ihnen vielleicht gefördert, aber doch nicht abhängig. Das geistige Leben aber erleidet durch sie jedesmal einen schweren Stoß, es setzt geradezu aus, und eine jede bildet für die Zivilisation eine Lebensgefahr.
4. Recht und Gerechtigkeit Sainte-Beuve "stellt einmal die Losungsworte von drei Generationen nebeneinander. Das der Männer von 1789 lautet: Recht, für die Verwalter und Krieger des Kaiserreiches heißt es: Pflicht, die poetischen Söhne der Restaurationszeit, zu denen Sainte-Beuve selbst sich hier rechnet, rufen: Phantasie! J e d e Revolution stellt die Frage des Rechts zur Erörterung, die von 1789 tat es besonders, weil sie im Namen der allgemeinen Menschenrechte geführt wurde. Ein Moralist und Kritiker wie Sainte-Beuve, der in einer Zeit sich wiederholender Umwälzungen lebte, konnte deshalb an dem Problem des Rechts und der Gerechtigkeit nicht vorbeigehen. Auch führte ihn die Geschichte Frankreichs überall auf die Bedeutung des Rechtswesens. In seinen historischen Bildnissen zeigt sich an vielen Stellen, welche Rolle Richter und Rechtsgelehrte in ihr gespielt haben. Dabei wird sogleich anschaulich, welche Aufgabe Sainte-Beuve ihnen zuweist. Juristen w a r e n die Stütze der Monarchie in der Zeit der Bürgerkriege, als das Königtum sich mühsam zwischen den Parteien behaupten mußte, und bildeten einen wichtigen Bestandteil jener dritten Partei der Politiker, .zu der sich Sainte-Beuve unter wechselnden Formen im tiefsten immer hingezogen fühlte. Juristen waren die Vertreter "der alten Freiheit in den Parlamenten und zugleich die Helfer der alten Monarchie bei jenen Reformversuchen, die nach Sainte-Beuves konservativ-reformistischer Anschauung zum Segen Frankreichs der Revolution hätten vorbeugen können, w e n n das Königtum die Kraft g e f u n d e n hätte, sie durchzusetzen. Juristen endlich verfochten als Vorkämpfer einer gesetzlich eingeschränkten Monarchie gegen die Ultras das neue Staatsrecht der Charte in den Parlamenten der Restauration, auch sie die V o r kämpfer einer auf Freiheit begründeten Ordnung. Die Bedeutuug, die das Recht für Frankreich hätte gewinnen k ö n n e n und leider nicht gewonnen hat, spricht Sainte-Beuve am Ende seines W e r k e s über 207
Port Royal aus. Auch in der jansenistischen Bewegung spielten neben den Geistlichen Juristen eine hervorragende Rolle, und die letzten Nonnen brauchten in ihrem zähen Kampf um den Fortbestand ihres Klosters alle Rechtsmittel. Frankreich, so sagt Sainte-Beuve dazu, dies Land der Ehrbegierde und der Raserei, hätte nur dann ein Land der Gesetzlichkeit und dadurch der Kraft werden können, wenn dies jansenistische Element nicht völlig aus dem Körper der Nation ausgeschieden worden wäre. Aus jansenistischer Tradition erwuchs der Charakter RoyerCollards. Er gehört mit zu denjenigen Persönlichkeiten, die SainteBeuve zu seinem Werk über Port-Royal angeregt haben, und wird darin mehrmals mit Aussprüchen über die moralischen Lehren dieser Bewegung zitiert. Royer-Collard beginnt seine politische Laufbahn als gemäßigter Anhänger der Revolution, muß sich während der Schreckenszeit verborgenhalten und wird unter dem Direktorium Mitglied des Rats der Fünfhundert. Dort gibt er, in bewußtem Gegensatz zu Danton, die Parole einer Wiederherstellung der Gesetzlichkeit im öffentlichen Leben aus: Gerechtigkeit, und nochmals Gerechtigkeit, und immer "wieder Gerechtigkeit! Unter der Restauration wird er der Mittelpunkt jener kleinen Gruppe von Parlamentariern, die als Doktrinäre bezeichnet wurden, weil sie sich bemühten, ihrem politischen Programm eine wissenschaftliche Form zu geben. Zu ihnen gehörte auch Guizot. -Royer-Collard bemühte sich, gestützt auf ein hohes Maß von persönlicher Autorität, das in der Verfassung vorgezeichnete Gleichgewicht zwischen Königtum und Kammer zu erhalten und Übergriffe von beiden Seiten zuriickzudämmen. Er scheiterte mit dieser Politik, und mit dem Sturz der Bourbonen 1830 war seine Rolle ausgespielt. Aber die Wirkung seiner starken Persönlichkeit auf den Kreis seiner Freunde dauerte fort, und in Sainte-Beuves späten Bemerkungen zur Geschichte der Restauration erscheint er wie ein Vertreter des Rechtsgedankens gegenüber den Ausschreitungen der Parteileidenschaft, überhaupt empfangen die kurzen Jahre der Restauration hier ein besonderes Licht. Auch die Epoche der Revolution kannte Vorkämpfer derRechtsidee. Zu ihnen gehörte Malesherbes, der frühere Minister Ludwigs XVI., der als Greis seine Verteidigung vor dem Konvent übernahm und später auf der Guillotine endete, zu ihnen der Dichter André Chénier, eine der Lieblingsgestalten Sainte-Beuves, der seinen publizistischen Kampf gegen den Radikalismus ebenfalls mit dem Leberu bezahlte. Aber sie standen vereinzelt und gingen machtlos unter. Die Restauration erscheint Sainte-Beuve wenigstens als ein Versuch, die widerstrebenden Kräfte durch ein ausgleichendes Grundgesetz zu binden und in gewisser Weise zu versöhnen. Der 208
König wurde in seine Rechte wieder eingesetzt, aber auch die Revolution bis zu einer bestimmten Grenze legalisiert. Aus der Gesetzlosigkeit und der Willkür der vorhergehenden Zeitabschnitte trat zum erstenmal in Umrissen ein Rechtsstaat hervor, und die bewußten Verfechter des Gesetzes, wie Royer-Collard und seine Gesinnungsgenossen, konnten von der Tribüne aus in voller Öffentlichkeit ihre Gedanken verfechten. Als Kennzeichen des Rechts, wie sie es vertraten und wie Sainte-Beuve es ebenfalls ansieht, erscheint nicht die Forderung des Individuums an sich, die auch auf revolutionärem Wege geltend gemacht werden kann, sondern die Herrschaft des Gesetzes, das die Leidenschaft der einzelnen bändigt und dadurch gerade dem einzelnen Schutz gewährt. Grundlegende Voraussetzung für einen solchen Zustand aber ist die Dauer der öffentlichen Einrichtungen. Der Staatsmann, so erklärt ein Royer-Collard nahestehender Abgeordneter in der Kammer in jenem Jahre 1815, das einen zweimaligen Staatsumsturz in Frankreich gesehen hatte, soll die Gesetze als stabil, ja, die Ordnung der Gesellschaft als ewig ansehen, wie Rom es tat, das sich selbst ewig nannte. Zu der Gruppe der Männer, die nach dem Bruch durch die revolutionären Eingriffe so bald wie möglich den Fortbestand des Rechts wieder zu sichern suchen, ohne in legitimistischer Weise die Tatsache, und in gewissen Grenzen auch die Berechtigung, grundlegender Neuerungen zu verneinen, gehört auch Portalis, Mitarbeiter am Code civile und Mitglied des unter dem Konsulat geschaffenen Staatsrats. Er vertritt die Theorie von der ununterbrochenen Reihe der Generationen, die sich mischen und so den jeweiligen Zustand schaffen. Aus seinen Reden erwähnt Sainte-Beuve eine, deren Anlaß in hohem Maße anschaulich macht, was er unter der ewigen Dauer des Rechts verstand. An der Küste von Calais scheiterte, während des Direktorats, ein englischer Truppentransport, der nach Ostindien bestimmt war. Von den neunhundert Mann der Besatzung gingen zwei Drittel zugrunde, unter den Geretteten aber befanden sich ausgewanderte Franzosen. Die Schiffbrüchigen wurden sogleich zu Feinden, ja, zu Landesverrätern, und man stellte sie vor ein Kriegsgericht. Der Fall wurde vor die gesetzgebende Körperschaft gebracht, und Portalis war Berichterstatter. Er konnte sich darauf berufen, daß die Truppen zur Verwendung in Indien bestimmt waren und in dem Vertrag mit den Führern der französischen Ausgewanderten eine Verwendung gegen ihr Vaterland ausdrücklich ausgeschlossen worden war. Die Versammlung beschloß demgemäß, daß auch die Schiffbrüchigen französischer Nationalität als solche zu behandeln und freizulassen seien. Portalis berief sich aber in seiner Rede auch auf die allgemeinen Grundsätze der Gastfreundschaft, die 14 Deiters, Sainte-Beuve
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allen gesitteten Völkern heilig seien, und zog das Beispiel eines spanischen Gouverneurs von Havanna heran, der während des österreichischen Erbfolgekrieges ein gestrandetes englisches Kriegsschiff nicht als ein solches, sondern einfach als ein gestrandetes Schiff behandelt hatte. Mit dieser Handlungsweise hatte sich der schlichte Diener eines Fürsten, so sagte Portalis, als Magistrat, als Sachwalter der Menschheit konstituiert. Sainte-Beuve berichtet einmal über die Rechtstheorie eines hohen Juristen der alten Monarchie, des Kanzlers Daguesseau. Er nahm eine natürliche Idee der Gerechtigkeit an, die in den Werken der großen Gesetzgeber und Völker triumphiert. Sie ruht im Gewissen des menschlichen Geschlechts. Diese Anschauung vertraten Plato und Cicero sowie unter Sainte-Beuves Zeitgenossen Royer-Collard. Das Christentum hat diese von der Antike ausgebildete Pflichtenlehre übernommen, das Werk der Humanisierung fortgesetzt und es vergöttlicht. Es bleibt zu prüfen, wieweit Sainte-Beuve diese Lehre von dem natürlichen Recht teilte, deren praktischen Folgerungen er in der Sache der Schiffbrüchigen von Calais zweifellos zustimmt. Die Anhänger der naturrechtlichen Theorie sahen in den Grundsätzen des Rechts etwas mit der Natur des Menschen Gegebenes. Auf dieser Tatsache beruhte für sie die Heiligkeit und Unveränderlichkeit der Grundlagen des Rechts. Wie diese Theorie dann weiter metaphysisch ergänzt und unterbaut wurde, war verschieden und berührte ihren Grundcharakter nicht. Die entgegengesetzte Theorie, auch sie schon antiken Ursprungs, nahm an, daß das Recht durch Setzung entstanden sei. Dadurch verlor das Recht seine Allgemeingültigkeit und Unerschütterlichkeit, und es blieb dann anscheinend nur noch übrig, es auf die Macht zu begründen, womit es seinen eigentlichen Charakter verlor. Es entsprach dem konservativen Wesen der spätrömischen und der christlichen Kultur, daß die Lehre vom Naturrecht, in verschiedener Gestalt, die Oberhand hatte. Einzelne Denker hatten aber immer wieder die positive Rechtstheorie vertreten, und zu ihnen gehörte auch Hobbes. Seine Philosophie war von erheblichem, wenn auch mehr mittelbarem Einfluß auf Sainte-Beuve. In seiner Senatsrede über die Freiheit des Unterrichts bekennt er sich in der Frage der Willensfreiheit zu der Auffassung von Hobbes, Hume und Tracy, welche sie leugnen. Die Verantwortlichkeit im sozialen Sinne, so fügt er hinzu, werde dadurch aber nicht aufgehoben. Für die Ablehnung der Lehre von der Willensfreiheit beruft er sich auch auf die Lehre der Jansenisten von der Gnade. Was ihn hierin mit den Jansenisten, und über sie hinweg mit Augustin, verknüpft, ist die tiefere Einsicht in das Wesen psychologischer Vorgänge. Das Christentum erscheint hier 210
nicht als eine abstrakte Doktrin, sondern als eine tatsächliche Erfahrung. Diese positive, pragmatische Auffassung ließ sich nun auch auf Fragen des Rechts anwenden, wie Sainte-Beuve das ja mit dem Problem der Verantwortlichkeit schon getan hatte, und so wird er von einer ganz anderen Seite nochmals auf die W e l t des Jansenismus zurückgeführt. Strittig War bei der naturrechtlichen Theorie, w i e weit sich der Bereich der allgemeingültigen Grundsätze erstreckte und w o derjenige der besonderen Bestimmungen durch einzelne Gesetze begann, mit anderen Worten, w o das Naturrecht im strengen Sinne aufhörte und das bürgerliche Recht anfing. Das Eigentum galt allgemein als natürliches Recht. A b e r schon Rousseau war dieser' Auffassung entgegengetreten, und Proudhon bestritt sie ausdrücklich. Das Eigentum gehöre zu den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts. Dieser These Proudhons stimmte Sainte-Beuve ausdrücklich zu. Auch Pascal sei dieser Meinung gewesen. Damit war ein sehr wichtiges Stück aus dem Katalog der natürlichen Rechte preisgegeben, und in der Folgezeit hat ja gerade der Kampf um den Eigentumsbegriff die alte Auffassung von den natürlichen und allgemeingültigen Grundsätzen des Rechts weithin zerstört. A m weitesten geht aber SainteBeuve an einer Stelle von Port-Royal, w o er, unter Erinnerung an Hobbes, die Gerechtigkeit geradezu eine Erfindung des Menschen nennt, die schönste. V o n Zeit zu Zeit wird sie vergessen, und dann müssen mächtige Geister erscheinen, die Gesellschaft von neuem erfinden und einen Altar errichten, der über den natürlichen Grundmauern steht und sie dem gewöhnlichen A u g e verbirgt. W a s besagt dies anders, als daß auch die höchsten Begriffe eines gegebenen Rechtssystems praktischen Ursprungs sind und das Bemühen des Gesetzgebers, sie mit einer göttlichen W e i h e zu umkleiden, nur eine Täuschung der Menge? Diese positive Auffassung von dem W e s e n der rechtlichen Satzung entsprach dem kritischen Geiste SainteBeuves besser als jene naturrechtliche, die ihren metaphysischen Ursprung nicht verleugnen kann. Sein Rechtsbewußtsein ist inhaltlich darum nicht weniger dem Naturrecht verwandt. Es ist eine innerlich erlebte Gewißheit von dem, was Recht ist, die sich durch die Übereinstimmung mit den großen Rechtsschöpfern aller Zeiten bestätigt weiß, seien sie nun Staatengründer, Religionsstifter oder Philosophen, und sich aus der .geistigen Überlieferung des Abendlandes nährt. Die A u f g a b e des Rechts besteht darin, bei allen Wandlungen der besonderen Verhältnisse die Lebensordnungen der kultivierten Menschheit zu wahren, den Streit zu schlichten und, wenn das nicht möglich war, nach dem Krieg einen neuen Frieden herzustellen. Die Grundlage seiner obersten Satzungen, die Gewähr ihrer Gültigkeit und Dauer, die von ihm 14 :
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niemals angezweifelt werden, findet er in der Einheit der abendländischen Kultur selbst, die durch alle Epochen hindurch besteht und deren maßgebende Überlegenheit allen anderen Kulturen gegenüber ihm eine selbstverständliche Gewißheit ist.
5. Bürgertum und Proletariat Nach Herkunft, Neigungen und Lebensgewohnheiten ist SainteBeuve durchaus ein Bürger. Er hat eine politische Vorliebe für die Monarchie in ihren größten Vertretern, eine ästhetische für die großen Damen der Aristokratie, aber er betrachtet mit selbstverständlicher Sicherheit den dritten Stand als die eigentliche Basis, die Kerntruppe der Gesellschaft. Darin ist er völlig der Sohn der großen Revolution und ihrer egalitären Denkweise. Sein Bewußtsein von der Bedeutung des Bürgertums ist jedoch nicht revolutionär, sondern ausgesprochen konservativ. Das allmähliche Wachstum des dritten Standes vom Mittelalter an ist ihm gegenwärtig. Das Königtum hat seine Macht im Kampf gegen den Adel und gestützt von Elementen bürgerlicher Herkunft errungen, und das Bündnis Ludwigs XIV. mit der Literatur ist- ebenfalls ein solches der Monarchie mit dem dritten Stand. Sainte-Beuve, selbst ein Mann der Literatur, unterläßt es doch nicht, den Bürger zu verteidigen, wenn er von geistreichen und zugleich rückwärtsgewandten Leuten angegriffen wird. Die Verachtung des Literaten und Artisten für den Bürger liegt völlig außerhalb der Denkweise Sainte-Beuves. Der Bürger ist ihm der Mann, der die Ergebnisse der Philosophie in sein Wesen aufgenommen hat, der zwar Bayle und Locke nicht gelesen hat, wahrscheinlich nicht einmal kennt, aber in ihrem Sinne fühlt und denkt. Sein Weltbild ist im wesentlichen das der modernen Astronomie, seine Moral ist die überlieferte christlicher Jahrhunderte, aber in säkularisierter Form, und alle diese Grundlagen moderner Kultur sind in ihm gegebene Tatsachen, Selbstverständlichkeiten. Die Grundlage des bürgerlichen Lebens ist die Familie. Der Humanismus, aus dessen Tradition Sainte-Beuve so viele Züge seines Denkens geschöpft hat,' war dem Familienleben nicht günstig gesinnt. Seinem Lebensideal entsprach das ehelose Leben des Weisen oder die schwärmerische Liebe für eine unerreichbare Geliebte. Die Romantik hatte das Bild des Genies aufgestellt, das sich von der Liebe zu einer Frau nicht binden läßt und die Ehe als Grab des Geistes betrachtet. Diese Auffassungen läßt Sainte-Beuve nicht gelten. Im 212
Gegensatz dazu beruft er sich auf Cowper als den Dichter des häuslichen Glücks und erwähnt das Wort von Wordsworth, daß ein geringeres Maß von Geist die Häuslichkeit unglücklich mache, ein höheres aber die Schönheit der Familienbande erkennen lehre. Vielleicht tritt hierin überhaupt etwas von dem englischen Erbe in ihm hervor. Auch in der Zeit, in der er Rousseau mit der .betonten Gegnerschaft der sozialen Reaktion gegenübertritt, rühmt er es doch, daß er das Gefühl für das häusliche Leben erweckt habe. Davon besitze die Rasse der Aristokraten nichts, man müsse Bürger sein, aus der Provinz und ein Neuling in der großen Welt, um so innig seiner Jugend zu gedenken, wie Rousseau es tut. Alles dies sind Züge, die mit Sainte-Beuves eigener Geschichte übereinstimmen. Als Kind nach Paris übergesiedelt, um dort seinen Geist zu bilden, wird er das Heimweh gekannt haben. Obwohl er selbst den W e g in die Ehe nicht gefunden hat, tritt er doch auch literarisch für sie ein. Das Auftreten Bonaids gegen die von der revolutionären Gesetzgebung vor kurzem eingeführte Möglichkeit der Scheidung nennt er eine edle und gute Tat, deren Wirkungen, in der Beseitigung der Ehescheidung unter der Restauration, noch fortdauern. In dieser Zustimmung SainteBeuves liegt sein eigenes, wenn auch etwas verdecktes, Bekenntnis zur Unauflösbarkeit der Ehe, ein Bekenntnis freilich, mit dem sein eigenes Leben nicht übereinstimmte. Im Gegensatz zur Genielehre der Romantiker betrachtet Sainte-Beuve die Familie als die Quelle der geistigen Gesunderhaltung im späteren Leben. Wenn sich, so sagt er in einem Aphorismus, in einem bestimmten Alter dein Haus nicht mit Kindern belebt, so füllt es sich mit Torheiten oder Lastern. Die Kinder verbinden uns mit der Zukunft. Ein Vater wünscht und hofft für seine Kinder, und 60 widersteht er dem Hang der sinkenden Lebensjahre, die Welt als etwas zu betrachten, das sich ständig verschlechtert. Der Großvater, der sich über die W i e g e des Enkels beugt, versinnbildlicht den ewigen Wiederbeginn der Welt. Mit dieser Ansicht von der Bedeutung der Familie, die als die eigentliche Trägerin des Kulturzusammenhanges erscheint, ist auch seine Auffassung von der Stellung der Frau in der Gesellschaft bereits gegeben. Er zitiert einmal zustimmend den Ausspruch von Joseph de Maistre über die Frauen: Von den großen Werken der Poesie und der Wissenschaft haben sie nichts geschaffen, aber sie erziehen den künftigen ehrenhaften Mann und die künftige ehrenhafte Frau auf ihren Knien, und das bedeutet mehr! In seinen Schriften und seiner Lebensgeschichte spiegelt sich ein großes Stück der Geschichte der französischen Frau. Er schildert uns die großen Damen der Aristokratie, die Politik machen, die Damen des achtzehnten Jahrhunderts, die in ihren Salons das geistige Leben ihres Landes 213
fördern und beeinflussen, er zeigt uns, wie die Frauen des Adels darin von denen des großen Bürgertums abgelöst werden, den letzten Salon dieser Art, den der Frau Récamier, hat er noch selbst besucht, und was dann in dieser Art noch folgt, etwa der Salon der Russin Frau Swetschin, ist n u r noch ein Nachklang. Denn dieser Typ der Frau, die durch das Boudoir oder den Salon herrscht, gehört der Vergangenheit an. Sainte-Beuve beklagt wohl den Untergang der alten französischen Gesellschaft, aber er erklärt, daß er sich doch nicht mehr in ihre verzauberten Inseln einschließen möchte. Die Frau des bürgerlichen Zeitalters, in ihren Ansprüchen an das Leben durch den romantischen Kult der Leidenschaft gesteigert, beginnt die Enge und Abhängigkeit ihres Daseins schmerzlich zu fühlen und drängt, oft genug auch von der Not getrieben, in das öffentliche Leben ein, zuerst als Schriftstellerin. Sainte-Beuve betrachtet diese Emanzipation, als deren Beispiel ihm im Leben vor allem George Sand begegnet, als W i r k u n g des Saint-Simonismus, der zwar nirgends Lösungen gegeben, aber überall Schäden aufgedeckt habe. Er sieht, daß die Lockerung früherer gesellschaftlicher Beengungen auf das W e s e n der Frauen eine günstige W i r k u n g hat. Die zurückhaltende, liebenswürdige Frau verliert dabei nicht, die kluge und nach außen drängende aber gewinnt. W a s die Frau an Anbetung durch den M a n n aufgibt, erwirbt sie an Achtung bei ihm zurück. Aber der nächste Schritt, den man erwarten sollte, erfolgt nicljt. Die Frau nimmt an der größeren Zwanglosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft teil, aber sie bleibt als Gefährtin und Helferin des Mannes doch in ihrer alten Sphäre und tritt nicht, wie es n u n in den angelsächsischen Ländern geschieht, mit ihrer eigenen Person und selbständig schaffend in das öffentliche, politische und kulturelle, Leben ein. Auch Sainte-Beuve in seinen Gedanken geht nicht weiter. Er schildert uns einmal die Frau, die voller Verständnis und Wissen an den Studien des Gatten, Bruders, Vaters teilnimmt, seinen Gedanken folgt, zuweilen eine Bemerk u n g voller natürlicher Klugheit einfließen läßt, bei all dem aber ihre Handarbeit nicht verläßt! So etwa hat Henriette Renan sich für ihren großen Bruder aufgeopfert, nur daß sie über die in SainteBeuves Phantasie gezogene Grenze hinausging, als Erzieherin in fremden Häusern für ihren und ihres Bruders Lebensunterhalt arbeitete und ihm später auf einer wissenschaftlichen Reise n a c h Syrien folgte, wo sie am Fieber starb. Aber Sainte-Beuve k a n n t e die Größe dieses Lebens. Er nennt sie in Port-Royal unter den Schwestern großer Männer, die vielleicht ihren Brüdern überlegen sind, weil sie sich im häuslichen Bezirk ohne Flecken bewahrt haben, und stellt sie zusammen mit Elektra und Antigone, mit Jacqueline, der Schwester Pascals, und Eugénie de Guérin. In den natürlichen Verbindungen 214
der Verwandtschaft oder der Liebe und Ehe erkennt er der Frau jede wirkende Rolle zu, aber es entspricht seiner Gesamtauffassung vom gesellschaftlichen Leben, daß er an eine Emanzipation der Frau im eigentlichen Sinne dieses Wortes, so w i e ihn die Frauenbewegung geprägt hat, nicht denkt. Und seine eigene Gönnerin im Alter ist eine letzte Vertreterin des Typs der großen Damen aus aristokratischem Geblüt, die Prinzessin Mathilde Bonaparte. Trotz seiner Bürgerlichkeit lehnt Sainte-Beuve jedoch die Staatsauffassung des Bürgertums, den Liberalismus, ausdrücklich ab. Er tut es im v Jahre 1861, in einer Zeit der wieder aufsteigenden nationalen und liberalen Bewegung, unter Berufung auf das besondere Temperament des französischen Volkes, seine Traditionen, sein Bedürfnis nach Ruhm und Vorherrschaft in der W e l t und unabhängig von der politischen Lage seines Vaterlandes grundsätzlich und allgemein in einer etwas späteren Polemik gegen den amerikanischen Begriff der Demokratie. Er sieht das Wesentliche dieser folgerichtigen Form der liberalen Staatstheorie in ihrem Begriff von der Freiheit und ihren Folgen für das gesellschaftliche Leben: man gewähre den Menschen die Freiheit, zu tun und zu sagen, was ihnen gut erscheint, und das Gute wird sich zuletzt durchsetzen. Aber, so hält er dem entgegen, der Mensch ist nicht so vernünftig, der Bau der Gesellschaft nicht so einfach, w i e jene Lehre es voraussetzt. Seine Auffassung von der Natur des Menschen ist uns ja schon bekannt, sie ist es, die ihn bei der Ablehnung der liberalen Staatstheorie in ihrer folgerichtig ausgebildeten demokratischen Form festhält. Er geht von der Voraussetzung aus, daß die demokratische Staatsauffassung, in ihrer liberalen Gestalt, mit der Uberzeugung von der ursprünglichen Güte der menschlichen Natur fest verbunden ist. Diese Annahme trifft auch für Rousseau und die von ihm beeinflußten Denker zu. Sie gilt aber in dieser Gestalt nicht für die englischen Dissenters, in denen wir .die eigentlichen Schöpfer der demokratisch-liberalen Staatsidee sehen müssen. Diese waren keine Naturalisten w i e Rousseau, sondern hielten sich mit ihrem Denken an die göttliche Gnade gebunden, wenn sie auch das Dogma und die Institution der Kirche radikal vergeistigten. Sainte-Beuves Polemik trifft also weniger die amerikanische, als die Rousseausche Staatsauffassung. Seine Stellung zur Julimonarchie stimmt mit seiner grundsätzlichen Kritik am Liberalismus überein. In einer Notiz über den Marschall de Saint-Arnauld schildert er die Stimmung der afrikanischen A r m e e gegen die Regierung. Schon für Homer gibt es zwei Gefilde des Ruhmes, die Schlacht und die Versammlung. Die A r m e e zieht jenes vor und steht daher in ständiger Opposition gegen die Regierung, die ihrerseits die Siege in der Versammlung bevorzugt. In den Jahren nach dem Staatsstreich, 215
als die Diktatur das öffentliche Leben unterdrückt hatte, erschien der Opposition die Julimonarchie vor allem' als die Regierung, unter der das Wort frei gewesen war. Der Schwerpunkt der Politik hatte im Parlament gelegen, dort waren die Gegensätze in großen Redekämpfen ausgetragen worden. Aber, so sagt Sainte-Beuve bei einer Besprechung der Erinnerungen Guizots, die rhetorischen Siege in der Kammer waren Scheinsiege, ihre Wirkung endete an der Tür des Sitzungssaales. Pascal schon hat die Beredsamkeit eine trügerische Macht genannt. Guizot selbst spricht von den Grenzen, die der Wirkung des Redners gezogen sind, aber, so schließt Sainte-Beuve, er und seine Freunde haben sich dennoch zu sehr auf das Wort verlassen. Aus der Feder eines Schriftstellers ist das eine merkwürdige Kritik. Aber Sainte-Beuve, der so genau die rednerische Wirkung der großen französischen Kanzelredner untersucht hat, kennt die echte Wirkung des Wortes sehr wohl. Die Männer der Julimonarchie kommen jedoch vom Worte zur Praxis, es sind Professoren und Schriftsteller, die Kammermitglieder und Minister werden wollten, Rhetoren, die sich zur Tat drängen, und darum hat die Rede in ihrer Vorstellung ein größeres Gewicht als in der Wirklichkeit. Bürgerliche Staatsmänner nach dem Sinn Sainte-Beuves waren die Mitglieder der hohen Magistratur im 16. Jahrhundert, die unantastbar und unabhängig in einer Mittellage zwischen König und Volk standen. Sie besaßen den Respekt vor dem Gesetz, der dem Adel und der Masse mangelt. Seit dieser Stand unter Ludwig XIV. verdorben ist, hat Frankreich vergeblich versucht, eine Mittelklasse zu schaffen. Sainte-Beuve denkt sich also das Bürgertum als die Mitte des polischen Lebens, bestimmt dazu, nötigenfalls die Nation gegen den König zu verteidigen, aber auch den König gegen die Nation, wie es der von ihm gefeierte Malesherbes vor dem Konvent getan hatte. Statt dessen hatte er gesehen, wie es unter der Julimonarchie nach der Herrschaft über den Staat gestrebt hatte. Dazu aber besaß es, nach dem Urteil seines Kritikers, nicht die ausreichende politische Begabung. Für das Vcrlk im engeren Sinne des Wortes empfand Sainte-Beuve in seiner Jugend jene halb romantische, halb Sozialrevolutionäre Sympathie, die in den dreißiger Jahren besonders deutlich in Erscheinung trat. Mit Beranger und Lamennais neigt er damals dazu, in dem Proletariat jene unverbrauchte Grundschicht der Gesellschaft zu sehen, aus der sich die dekadente Oberschicht erneuern wird. Dieser Glaube an die rettende Mission der Masse tritt später bei ihm nicht mehr auf. Er erwähnt nach 1848 ohne Kritik das Wort von Mallet du Pan, daß die moderne Kultur nicht wie die antike von den außerhalb der Reichsgrenzen wohnenden, sondern von den inneren Barbaren 216
bedroht sei. Es liegt ihm überhaupt fern, in dem Kampf der Klassen Partei für die eine oder die andere zu nehmen. Schon Lamennais gegenüber warnt er davor, nur die Oberschicht zu belasten und die Züge des Hasses und der Brutalität im V o l k e zu übersehen. Und bei der entschiedensten Sympathie für die Arbeiter v o n Lyon lehnt er es doch ab, w e g e n dieser Vorgänge in die Anklage gegen die Regierung Louis Philipps einzustimmen, da keine Regierung v o r solchen Unglücksfällen geschützt sei. A b e r in seinem Gefühl für die N o t der Masse hat er nie geschwankt. Und im Jahre 1865 schreibt er über ein Gespräch mit Proudhon, daß sie sich in der sozialistischen Forderung nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Arbeiterschaft begegnet seien, jener auf Grund einer geklärten Überzeugung, er selbst, Sainte-Beuve, aus einem natürlichen Gefühl. Zu den Persönlichkeiten, die dieses soziale Gefühl in ihm durch ihren Einfluß verstärkten, gehörte v o r allen anderen die Dichterin Marcelline Desbordes-Valmore. Sie war ihm auch ein Beispiel für die Not, die den gebildeten Mittelstand treffen konnte und die er ebenso stark mitempfand w i e die des industriellen Proletariats. Er selbst lebte v o m Ertrag seiner Feder und durfte sich einen literarischen Arbeiter nennen. Sainte-Beuves Gedanken über die wünschenswerte Ordnung des sozialen Lebens blieb zu allen Zeiten von einigen Grundideen des Saint-Simonismus bestimmt. Dieser hatte in seinen Augen das Verdienst, einige von den bedeutendsten Einsichten Joseph de Maistres, und der Legitimisten überhaupt, in das Lager der Revolution verpflanzt und so den Liberalismus zur kritischen Selbstbesinnung genötigt zu haben. Der unbestimmte und phantastische Gedanke des menschlichen Fortschritts, so w i e ihn Condorcet gehegt hatte, nahm dadurch klare Gestalt an, und man sah, w i e und mit welchen Mitteln er sich verwirklichen ließ. Hier zeigt sich mit voller Deutlichkeit, daß Sainte-Beuve seinen Platz zwischen der Revolution und der Reaktion sucht. Er mißt den Verlauf der französischen Geschichte an dem, was ihm am nächsten liegt, an dem Stand des geistigen Lebens, und kann sich nicht darüber täuschen, daß dies nicht mehr jenen Reichtum der Persönlichkeiten, jene Sicherheit des Geschmacks, jene Macht über die höheren Klassen besitzt w i e in früheren Jahrhunderten. Er verkennt auf der anderen Seite nicht den mächtigen materiellen Fortschritt seiner Zeit und die Vorteile, die er alles in allem mit sich bringt. So kommt er, in einem Vergleich seiner Zeit mit derjenigen der sinkenden römischen Republik, zu der Einsicht, daß auch wir von dem Verfall bedroht sind, daß aber die Industrie unseres Zeitalters befreiend zu wirken vermag, so daß w i r Aussicht haben, den gesellschaftlichen Niedergang aufzuhalten. Im ganzen bejaht 217
er also die Vorstellung von dem gesellschaftlichen Fortschritt, ist sich aber klar darüber, daß dieser sich keineswegs auf allen Gebieten vollzieht und allgemein viel langsamer und fragwürdiger ist, als seine Bewunderer es wahr haben wollen. Vor allen Dingen beurteilt er die Kräfte der Gesellschaft anders, als es die grundsätzlichen Anhänger der Revolution tun. So wenig wie das Bürgertum erscheint ihm die Masse befähigt, die Kultur über große Krisen hinweg und weiter emporzuführen. Dazu bedarf es der Autorität, die durch wenige ausgeübt wird und sich auf Traditionen der Herrschaft und der geistigen Zucht zu stützen vermag. Von dem Gefüge der Macht und der Ordnung hat er die Vorstellung des Konservativen, nicht die des Revolutionärs. Das nähert ihn dem Legitimismus und verbindet ihn mit der durchaus autoritären Gesellschaftsphilosophie des SaintSimonismus. Im Gegensatz zu allen Vertretern der gesellschaftlichen Restauration klammert er sich aber an keine besondere Form des sozialen Lebens. Indem er Proudhon einräumt, daß das Eigentum kein unveränderliches Grundrecht ist, sondern auf Konvention beruht, gibt er die bestehende Eigentumsordnung unerschrocken der Entwicklung preis. Er beschäftigt sich eingehend und freundlich mit den Vorschlägen zur sozialen Reform, die Le Play im Sinne einer Vermittlung zwischen den Einrichtungen einer aristokratisch-grundherrlichen Ordnung und den egalitären Kräften der modernen Gesellschaft entwickelt, bemerkt aber dann doch skeptisch dazu, daß Linderungsmittel dieser Art nichts helfen, denn das herrschende Prinzip eines Zeitalters muß erst seine sämtlichen Wirkungen erschöpfen, ehe ein Ruhepunkt eintritt. Die Ordnung der Gesellschaft ruht für Sainte-Beuve auf der immer und überall sich gleichenden Natur des Menschen. Sie zeigt sich uns am deutlichsten in den großen biologischen Tatsachen, dem Bedürfnis nach Nahrung und dem Trieb zur geschlechtlichen Fortpflanzung. Der Staatenlenker und. Gesetzgeber muß sie beachten, wenn er mitsamt seinem Werk dauern will. Eine politische Richtung, die sich zu wenig um die elementaren Bedürfnisse-des Menschen bekümmert, wird in großen Krisen versagen und scheitern. Unter den Institutionen, die der Mensch sich im Laufe einer langen Entwicklung schafft, sind diejenigen am dauerhaftesten und gewähren das meiste, die einen natürlichen Trieb versittlichen, wie Ehe und Familie es tun. Der Aufstieg des Menschen zu größerer Sicherheit des äußeren Lebens ist unendlich mühsam und stets von Rückschlägen bedroht, aber er ist möglich. Unveränderlich im Kern bleibt jedoch das sittliche Wesen des Menschen. Darum erweisen sich Revolutionen als so gefährlich. Sie sind unvermeidlich, zuweilen selbst heilsam, aber sie entarten rasch, und es ist notwendig, daß sich der Staatsmann findet, der sie 218
beherrscht und beendet. Das sind die hauptsächlichsten Gedanken zur Politik und Gesellschaftslehre bei einem Manne, der seine Hauptaufgabe in der kritischen Prüfung der Literatur sah, die Vorgänge des öffentlichen Lebens aber mit einem immer fester und ruhiger werdenden Blick beobachtete. Sainte-Beuve hat sich verhältnismäßig oft mit Gegenständen der römischen Geschichte beschäftigt. Das lag in der literarischen Tradition seines Volkes begründet, gewiß aber auch in seiner eigenen Art, diese Dinge zu sehen, einer Art, die sich n a c h einer romantisierenden J u g e n d p e r i o d e mit wachsender Reife immer bestimmter herausbildete. Nie und nirgends vermeidet er den V e r k e h r mit seiner eigenen Epoche. Aber in einem Jahrhundert, das oft genug selbstvergnügt in seinem Modernismus war, setzt er mit ruhiger Selbstverständlichkeit eine geistige Tradition fort, die auch auf diesem Gebiet bis in das Altertum zurückreicht, ohne Feindschaft gegen seine eigene Zeit, nur frei von ihrer Herrschaft, ein unbestechlicher Betrachter auf einem Felde, das von aufgeregten Propheten wimmelte. Die Klarheit seines Blicks, die Selbständigkeit seines Urteils, zeigen sich vor allem in der Freiheit, mit der er den großen politischen Richtungen seiner Zeit gegenübersteht. Mit dem Liberalismus stimmt er in der Forderung nach einer weitgehenden, v o m Staate nur überwachten Freiheit des W o r t e s überein, wünscht aber nicht, daß der Schriftsteller mit seinem Urteil in das politische Leben eingreift. Dagegen steht er dem Liberalismus als politischem System ablehnend gegenüber. So wie er aber geistig, unter Beschränkung auf das literarische Leben, mit ihm übereinstimmt, so verbindet ihn seine soziale Anschauung mit der demokratischen Theorie. Er hat ein starkes Gefühl für die Bedeutung der Gleichheit in der modernen Gesellschaft und ist völlig frei von jedem aristokratisch oder bürgerlich gefärbten Vorurteil. Daß die Gleichheit der bürgerlichen Rechte eines Tages zur ökonomischen Gleichheit f ü h r e n könnte, ist ein Gedanke, der ihn nicht erschreckt. Aber in einem sehr wesentlichen Punkte weicht er von der demokratischen Auffassung ab: er glaubt nicht an die Gleichheit der Begabung. Seine Beschäftigung mit der Literatur lehrt ihn immer wieder, daß Talent und Genie Gegebenheiten sind, die sich w e d e r auf W i r k u n g e n der Umwelt, noch auf Erziehung und Bildung zurückführen lassen. Aus diesem Grunde stimmt er auch politisch mit dem Demokratismus ebensowenig überein, wie er es mit dem Liberalismus tut. Er betrachtet die Leitung eines Staates, das Regieren, als eine h o h e Kunst, für die es nur zwei Arten der Entstehung gibt, die Tradition und das Genie des einzelnen. Die Tradition ruht in der Hand einer juristisch geschulten, ausschließlich auf den Dienst des Staates eingestellten Beamtenschaft. Er liebt es, hervorragende Vertreter dieses Standes aus der Zeit der Monarchie oder 219
des ersten Kaiserreiches zu schildern. Was er an ihnen hervorhebt, ist vor allem die Treue zum Gesetz und die Unabhängigkeit gegenüber den Parteiungen. Ihren richtigen Platz aber findet diese Beamtenschaft im Dienste eines großen Herrschers, sei es nun ein König, ein erster Minister oder ein Diktator, der aus dem Volke aufgestiegen und in seiner Macht durch eine Volksabstimmung bestätigt ist. In diesem Sinne des Wortes ist Sainte-Beuve ein Anhänger der Einherrschaft. Die Gesellschaft unter diesem Regenten erscheint ihm zuweilen in ständisch-konservativen Zügen, aber die Wirkung der egalitären Gedanken auf ihn ist so stark, daß sich seine Vorstellung von der richtigen, und kommenden, gesellschaftlichen Verfassung eher einem Staatssozialismus nähert. Bei diesem Wort, darf man nicht an irgendeinen Kollektivismus denken, wenn man Sainte-Beuve richtig verstehen will. Aber es ist die Aufgabe der Regierung, ihre Autorität zum Wohle der „zahlreichsten Klasse" der Gesellschaft einzusetzen. Vom Saint-Simonismus, dem er für viele Gedankenkeime verpflichtet ist, unterscheidet ihn eben die starke Betonung des Politischen in seinem Begriff von der Organisation des sozialen Lebens. Eigentümlich, und sehr charakteristisch für den ganzen Mann, ist sein Verhältnis zu den konservativen Theorien. Die Herrschaft einer bestimmten Dynastie ist ihm ebenso unwesentlich wie das Fortbestehen gesellschaftlicher Privilegien oder Besitzrechte. Insofern machen ihm Staatsumwälzungen kein Kopfweh. Trotzdem aber betrachtet er Herrschaft und gesetzliche Ordnung als unerläßliche Grundlagen jedes gesunden staatlichen Lebens. Nicht die Treue zu bestimmten Einrichtungen und Überlieferungen ist es, die ihn mit dem konservativen Denken verbindet, wohl aber seine Vorstellung von der Bedeutung einiger Grundformen der politischen Organisation. Insofern kann man sagen, daß er mit den Konservativen moralisch übereinkommt. So ist das Verhältnis seines Denkens zu den Richtungen seiner Zeit keineswegs einfach. Aber es wäre völlig abwegig, in ihm einen Eklektiker zu sehen. Bei aller Beweglichkeit auf der Oberfläche ist doch der Kern seiner Gedanken auch hier fest und gleichbleibend, seine Persönlichkeit geschlossen und eigenwüchsig.
Dritter Abschnitt: Das geistige Leben
1. Die literarische Kritik In seinen Gedanken über den Menschen im allgemeinen und seine Stellung in der Gesellschaft nennen wir Sainte-Beuve einen kritischen Betrachter. Ein Kritiker im eigentlichen Sinne, ein literarischer Kritiker, ist er aber erst deshalb, weil er sich immer auf ein schriftstellerisches Werk bezieht und erst an ihm, gleichsam mittelbar, seine Meinungen und Urteile' über das Leben selbst und seine Gegenstände entwickelt. Das Feld des literarischen Kritikers ist nun so weit, wie das Feld der Literatur selbst, d. h. so unbegrenzt wie die Wirklichkeit. Aber er hat zu diesem unendlichen Stoff eine besondere Einstellung, die ihn z. B. von dem Verfasser wissenschaftlicher Kritiken auf irgendeinem Fachgebiet unterscheidet-, und wählt danach aus, ganz abgesehen davon, daß ihn einerseits seine eigene Individualität, andererseits die Beschaffenheit des literarischen Lebens zu seiner Zeit in der Wahl seiner Gegenstände einschränken. Sainte-Beuves Stellung unter den großen Kritikern der Weltliteratur ist nun eigentümlich bedingt, ja, erschwert durch die Veränderungen, denen das gesamte literarische Leben in seiner Zeit unterliegt. Um diese Wandlung in ihrer vollen Bedeutung zu verstehen, tut man gut, von ihm aus rückwärts schauend zu vergleichen. Wie die Literatur der europäischen Völker in ihren Grundformen, so ist auch die Kritik eine Schöpfung de_r Griechen. Da sie eine Spiegelung der schon voll entwickelten Poesie darstellt, so entfaltet sie sich spät und gelangt, auf der Grundlage des Aristoteles, erst in hellenistischer Zeit zu voller Blüte. Obwohl die griechische Dichtung noch weiter lebte, so lag doch ihre große Epoche abgeschlossen hinter dem Beurteiler. Die Aufgabe derer, die sich wissenschaftlich mit ihr beschäftigten, bestand darin, die Texte philologisch zu behandeln, ihren Inhalt auszulegen und diejenigen ästhetischen Regeln abzuziehen, die in den alten Mustern enthalten waren. In diesem Geiste wurde die Kritik durch das Altertum hindurch weiter gepflegt, nur daß nach der Festlegung eines Kanons von klassischen Werken rhetorische und stilistische Untersuchungen immer mehr in den Mittelpunkt traten. Humanismus und Renaissance setzten die literarische Kritik im gleichen Sinne fort. Die nationalen Poesien der modernen Völker, die sich, unter Bruch mit der mittelalterlichen Tradition volkstümlicher Art, jetzt nach dem Vorbild der antiken Dichtung neu bildeten, wurden in ihrem Aufstieg von einer Kritik begleitet und je nachdem gefördert oder gehemmt, die ihre Maßstäbe ebenfalls dem Altertum, namentlich den Schriften des 221
Aristoteles, entnahm. Gegenüber den neuen Werken der eigenen Zeit war diese Kritik in der Hauptsache eine ästhetische. Der Typ des Kritikers dieser Art in Frankreich war Boileau, und mit ihm beginnt die über fast zwei Jahrhunderte hin völlig lebendige Tradition für Sainte-Beuve. Boileau orientierte sich stilistisch an der klassischen Tradition, inhaltlich an einem bürgerlich-rationalistischen Begriff von Lebenswahrheit und pflanzte mit alldem einen literarischen Geschmack, der in Ursprung und Fortwirkung von der Monarchie Ludwigs XIV. und ihren repräsentativen Bedürfnissen nicht zu trennen war. Diese Form der Kritik hat auf Sainte-Beuve tiefen und dauernden Einfluß gehabt. Er nennt Boileau einmal denjenigen, mit dem er als Kritiker am meisten gelebt habe. Ungeachtet allen Einflusses, den die romantische Umwälzung der literarischen Ideen auf ihn geübt hat, verteidigt er noch in seinem Werk über Chateaubriand mit Wärme die französische Kritik. Sie hat sich immer nur mit einer kleinen Zahl antiker Dichter beschäftigt, im wesentlichen mit Horaz, Vergil und Homer, mit diesem letzten freilich zu wenig, aber immer hat sie dabei diejenigen Werke gewählt, die am besten dazu geeignet sind, den Sitten Gefälligkeit zu verleihen und einen ästhetischen Genuß des Lebens zu lehren. So verficht er noch mitten im Übergang vom romantischen zum positiven Zeitalter die viel ältere, humanistische Vorstellung von dem Verkehr mit der schönen Literatur und dem Wert, den diese für die Lebensgestaltung hat. Auch rühmt er es an Chateaubriand selbst, wie dieser romantische Geist doch ganz im Sinne der kritischen Tradition die Darstellung der großen, natürlichen Lebensformen bei den Alten und den Modernen miteinander vergleicht, die Gatten in der Odyssee und in Miltons Verlorenem Paradies, die Andromache Homers und Racines, die Iphigenie des Euripides und wieder Racines. Einer der Grundgedanken der klassischen Form der literarischen Kritik liegt hier zugrunde, die Vorstellung nämlich, daß es einen maßgebenden Kanon poetischer Gestaltungen gibt und daß die Aufgabe aller folgenden vor allem darin liegt, in ihrem eigenen Schaffen den Geist der Vorbilder lebendig zu erhalten. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine unfreie Nachahmung, denn über allem dichterischen Gestalten steht als höchste Idee die Wahrheit der Natur. Sainte-Beuves Kritik an der Persönlichkeit Chateaubriands, ungeachtet aller Anerkennung im einzelnen, doch von größter Schärfe im ganzen, wird wesehtlich von diesem sittlich-vernünftigen Begriff der Wahrheit getragen, den Boileau in den Mittelpunkt seiner Kritik gestellt hat. Er beruft sich in einem allgemeinen Bekenntnis auf Boileau. Es gibt die Rasse derer, die das Falsche dulden, die heuchlerische Übereinkunft, an deren Fortbestand sie ein Interesse haben, und sie sind die Masse. Es 222
gibt aber auch noch die Rasse Boileaus, die für das Wahre kämpft, so wie sie es fühlt, ob es sich nun um Reime handelt oder um noch etwas ernstere Dinge. Um die Wahrheit im sittlichen Sinne geht es auch in den Komödien Molieres. Sie schließt die Echtheit der Gesinnung, die Redlichkeit der künstlerischen Arbeit ein, und diese Eigenschaften sind es, die Sainte-Beuve an Chateaubriand vermißt. Ferner beruht seine gesamte Kritik am Sprachstil, auf die wir später eingehen werden, die Beurteilung der Vergleiche, Metaphern, Beiwörter, auf den Begriffen der klassischen Ästhetik und damit auf denen Boileaus. Er prüft sie auf ihr Verhältnis zur Wirklichkeit, auf das Maß und den Geschmack in ihrer Anwendung, auf jene etwas konventionelle Naturbeseelung, die ein Erbteil der antiken Mythologie war. Endlich sucht er vor allen Dingen den klassischen Begriff von der Stellung der Literatur gegenüber dem Leben zu erhalten. In ihrer Blütezeit war die griechische Poesie ein Teil des religiösen und kommunalen Lebens gewesen. Mit dem Untergang der griechischen Freiheit verlor sie diesen Boden, wenn auch die örtlichen Gebräuche weiter gepflegt wurden, und nun erst wurde sie Literatur im späteren Wortsinne, etwas für sich Bestehendes, das den Gebildeten erfreute, seinem Leben unter Umständen einen höheren Gehalt gab, auf dem Umweg über mächtige einzelne auch einen gewissen Einfluß auf das allgemeine Leben ausübte, aber doch nicht mehr der Öffentlichkeit angehörte. Wurde sie dadurch von den großen Bewegungen der Völker und Klassen getrennt, so wurde sie auch über die Leidenschaften der Märkte und Straßen erhoben. Was sie an Unmittelbarkeit verlor, gewann sie an Form. Augustus förderte die lateinische Dichtung seiner Zeit, weil sie einen Teil seines Werkes der gesellschaftlichen Wiederherstellung nach den Zeiten des Bürgerkrieges übernahm. Die Renaiss^ncedichtung war eine Angelegenheit der Höfe, und in Frankreich bedienten sich Kardinal Richelieu und Ludwig XIV. der hohen Dichtung zu ähnlichen Zwecken, wie es Augustus getan hatte. Die schöne Literatur blieb von dann an ein Bestandteil der gesellschaftlichen Kultur der Oberschicht. Im Zeitalter der Aufklärung übte sie dann wieder einen steigenden Einfluß auf die öffentliche Meinung und damit auch auf die Politik aus, bewahrte aber trotz ihres oppositionellen Charakters in der Pflege der Sprache, der Treue zu den überlieferten Kunstformen und der Wahrung des Maßes in der Darstellung etwas von der alten Würde und Erhabenheit. Diese Haltung war so tief in den Überlieferungen begründet, daß sie auch die politischen Erschütterungen, denen Frankreich seit 1789 Schlag auf Schlag ausgesetzt wurde, überdauerte, wenn auch durch Tendenzen moderner Art geschwächt. Und Sainte-Beuve hegte nicht nur zeitweise den Traum, 223
daß das zweite Kaiserreich die Literatur wieder so zu sich heranziehen würde, wie es die alte Monarchie getan, sondern er versuchte auch immer wieder, sie als eine Welt unabhängiger und freier Gestaltung aus dem Kampf der Leidenschaften und Interessen herauszuhalten. Bei der Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit des Inhalts, der aus einer zerrissenen Wirklichkeit in sie eindrang, war das nur möglich durch eine bewußte Betonung des formalen, sprachlichen, allgemein des stilistischen Elements. Er hat dies Bestreben niemals ganz aufgegeben, noch in seiner späteren Zeit bietet der Artikel über Veuillot ein glänzendes Beispiel dafür, aber mit der Zeit scheint es doch vor dem ungemessenen Ansturm neuer Inhalte immer mehr zu erlahmen. Die Epoche der alten, auf einen gesicherten Kanon anerkannter Meisterwerke sich stützenden klassischen Kritik ging unwiderruflich zu Ende. Sainte-Beuve sah selbst völlig klar, daß sich eine Wandlung in dem Charakter der Kritik vollzogen hatte, die sich jedem aufzwang. Es bleibt nur die Frage offen, wie weit das ästhetische Urteil, dieses Kernstück jeder literarischen Kritik, trotzdem seine Freiheit vom Stoff, seine Unabhängigkeit gegenüber dem leidenschaftlichen Hin- und Hertaumeln der allgemeinen Gefühle, kurz, seine eigentümliche Lebenskraft behaupten konnte. Als Vertreter der deutschen Kritik, denen er die französische gegenüberstellt, nennt Sainte-Beuve gelegentlich Lessing und Herder. Lessing nimmt eine Übergangsstellung ein. Er bekämpft zwar die Regeln der französischen Tragödie und stellt ihnen das Genie Shakespeares entgegen, aber an dem Begriff künstlerischer Regeln hält er doch grundsätzlich fest. Herder dagegen eröffnet wirklich eine neue Periode der literarischen Kritik. An die Stelle eines begrenzten Kanons musterhafter Werke tritt jetzt die ganze Breite der poetischen Erzeugung bei allen Völkern und zu allen Zeiten. Die Herrschaft der Regeln wird abgelöst durch die Freiheit der schöpferischen Persönlichkeit. Die neue Epoche der Poesie zeichnet sich am deutlichsten in Deutschland ab, da hier nur eine schwache Nachahmung der französischen Formen des literarischen Lebens vorausgegangen ist und die Blütezeit der deutschen Dichtung von Anfang an die neuen Ideen in sich trägt. Anders in Frankreich, dem Hauptland des Klassizismus. Auch hier dringen die modernen Begriffe ein und führen eine gründliche Verwandlung des literarischen Betriebes herbei, aber der Übergang von der alten rationalistischen zur neuen empiristischen Methode der Kritik vollzieht sich nach der Darstellung, die Sainte-Beuve selbst in den vierziger Jahren gibt, doch allmählich und' ohne Bruch. In Deutschland folgte auf die romantische Literaturrevolution der Gegenschlag der Weimarer Dioskuren. Nach dem frühen Tode Schillers aber stellte Goethe 224
allein in seiner Person über alle Gegensätze hinweg die innere Einheit und Ganzheit der deutschen Dichtung dar. Im übrigen entbehrte die deutsche Literatur jedes ordnenden Mittelpunktes. In Frankreich dagegen wirkte die Hauptstadt einer solchen Zersplitterung entgegen. Jüngere Talente, die dem Neuen offen sind und doch die literarische Tradition lebendig in sich tragen, finden eine Gelegenheit, sich zu gemeinsamem Werk zusammenzutun und durch alle Wandlungen hindurch die Verbindung des Alten mit dem Neuen zu bewahren. Der einzelne Kritiker findet Halt an einer Gruppe, diese an einer Zeitschrift. So steht dem einsamen Goethe, der drüben in Weimar sein Kritikeramt ohne gleichwertige Helfer ausübt, in Paris der Kreis um den Globe gegenüber. Und wenn die eine Zeitschrift ihren Charakter ändert und den Anspruch, allgemein gehört zu werden, zugunsten einer Parteidoktrin aufgibt, wie es mit dem Globe geschah, so findet sich bald ein Ersatz in einer anderen, wie hier in der Revue des deux mondes. Aber obwohl die Wandlung in den Bedingungen der Kritik sich hier allmählicher vollzog, so war sie doch nicht minder vollständig und die Schwierigkeiten, die daraus entstanden, nicht geringer. Das Leben hatte seinen allgemeinen Charakter völlig verändert. Mit der Entstehung einer breiten bürgerlichen Leserschaft erweiterte sich zunächst der Kreis des Publikums. Der Dichter hatte nicht mehr mit dem kleinen Zirkel erlesener Kenner zu rechnen, deren Geschmack gebildet genug war, um alle Feinheiten des Stils wahrzunehmen, sondern mit einer sich immer verbreiternden Masse, auf die er mit stärkeren und einfacheren Mitteln wirken mußte. Aber die Poesie hatte sich auch gar nicht mehr jenen überragenden Platz zu bewahren vermocht, den sie noch zur Zeit Ludwigs XIV. besessen, dann aber schon im 18. Jahrhundert eingebüßt hatte. Die Ereignisse hatten einen ungeheuren Stoff der Darstellung aufgehäuft, und nicht nur einzelne, sondern breite Massen, ja, die Gesamtheit der Nation, hatten daran teilgenommen. Eine Fülle von Memoiren und historisch-politischen Werken drängten sich ans Licht der allgemeinen Aufmerksamkeit, das Leben hatte einen öffentlichen Charakter angenommen. Demgegenüber trat die Dichtung mehr zurück. Zu der äußeren Erweiterung des Lesestoffes, den der Kritiker bewältigen sollte, trat die innere Aufgliederung. Die absolute Monarchie hatte überall, wo sie herrschte, den Schein der Einheitlichkeit aller Gefühle und Gedanken wiederhergestellt, nachdem das Zeitalter der Religionskämpfe zu Ende gegangen war. Nach langem Ringen war nun, mit Ausbruch der großen Revolution, diese Form zerbrochen worden, und keine politische Reaktion hatte es vermocht, die entfesselten Kräfte wieder zu bändigen. In dem Kampf der Geister versanken auch alle 15 Deiters, Sainte-Be-uve
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die Maßstäbe der Beurteilung, mit denen der Kritiker bisher ans Werk gegangen war. Er mußte neue Wege suchen, um seine Aufgabe zu lösen. Dem Relativismus konnte der Kritiker auf bequemem Wege entrinnen, wenn er sich zu einer literarischen Partei bekannte. Dann wußte er, woran er sich bei seinen Entscheidungen zu halten hatte. Aber er verzichtete damit auf den Anspruch, von allen gehört zu werden. Für seine Person mochte er das tun, er konnte dann immer noch vielen nützen und von einem begrenzten Standpunkt aus Richtiges sagen, für die Kritik im ganzen aber blieb ein solcher Verzicht unmöglich. Die Literatur war ein Ganzes und bestimmt für die Allgemeinheit. Die Kritik mußte immer wieder versuchen, Urteile zu finden, die nicht nur von einem bestimmten ästhetischen Parteistandpunkt aus galten, sondern den allgemeinen Bedingungen jenes Ganzen entsprachen und deshalb Anspruch darauf hatten, von allen gehört zu werden. Ein Verzicht darauf hatte entweder den Anspruch auf eine Diktatur des Geschmacks zur Folge, der ja auch oft genug praktisch erhoben wurde, oder jenes Zurücktreten in geistige Sektiererei, das zuletzt für kräftige Naturen unmöglich war. Diesen Weg der Flucht in die Einseitigkeit hat Sainte-Beuve nun für den Kritiker wiederholt mit allem Nachdruck abgelehnt. Was er unter dem kritischen Genie verstanden wissen will, zeigt er an Bayle, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo ¿r selbst eben in den vollen Besitz seiner kritischen Mittel gekommen ist. Bayle ist der erste Kritiker im Sinne der modernen Epoche. Er faßt die Literatur in ihrer vollen Ausdehnung auf, als den Ausdruck des gesamten geistigen Lebens seiner Zeit. Unersättlich in seiner intellektuellen Neugier sucht er in einem Buch mehr den Autor als das Thema selbst. Vor allem enthält er sich in den theologischen Kämpfen der Parteinahme, er kennt auf diesem Gebiet keinen Enthusiasmus. Dagegen bemüht er sich, jedem Standpunkt gerecht zu werden und so, wie der Apostel Paulus, allen alles zu sein. Er besitzt zwei Grundeigenschaften des echten Kritikers: Indifferenz gegenüber allen partikularen Überzeugungen und Optimismen gegenüber jeder einigermaßen ernst zu nehmenden literarischen Produktion. Die gleiche Eigenschaft der unbegrenzten literarischen Gastlichkeit rühmt Sainte-Beuve an dem kritischen Verhalten Diderots. Die Zeit des Rationalismus ist bereits vorüber, die Welt gefühlvoll geworden. Wer die verschiedenen Individualitäten verstehen will, muß sie nicht nur mit dem Verstand erfassen, sondern sich in sie einfühlen, und diese Fähigkeit, sich in andere wenigstens zum Teil und auf Zeit zu verwandeln, besitzt Diderot. So wird er, wie Sainte-Beuve es ausdrückt, der Homer der Kritik, d. h. ihr Begründer und zugleich Vollender. Denn in einer 226
Zeit, in der das Individuum im Kunstwerk zuerst und vor allem sich selbst zur Darstellung bringen will, bedarf der Kritiker vor allem dieser Kunst der Selbstverwandlung. Das Bild des echten Kritikers, das Sainte-Beuve an diesen beiden Großen zeichnet, bestätigt er durch die Charakteristik seines Kollegen, des Bibliothekars Charles Magnin, der gegenüber den beiden anderen den Typus des Philologen darstellt. Er vermag den Abstand zwischen der alten und der neuen Zeit ohne M ü h e zu überbrücken, denn gerade seine gründliche Bildung macht es ihm möglich, die Leistungen der Neueren ruhig anzuerkennen. Vor allem aber: auch er besitzt jene philosophische Indifferenz, die Descartes als erste Bedingung für die Erforschung der W a h r h e i t bezeichnet hat, und betätigt sie in der Literatur. Er ist vollkommen unpersönlich und sucht nie sein eigenes. Die Kritik ist an keinen Standpunkt gebunden. Diesen Gedanken drückt Sainte-Beuve einmal in einem Vergleich aus: Man kann sich die Kunst, die in sich selbst und in ihrem W e r k lebt, als ein altes ehrwürdiges Schloß am Ufer eines Flusses vorstellen, als ein Kloster über dem Strom, einen unbeweglichen, majestätischen Felsen. Aber von jedem dieser Punkte aus umfaßt der Blick doch nur einen Teil der Gegend, und viele dieser edlen Denkmäler, dieser wunderbaren Landschaften k e n n e n sich gegenseitig nicht. Die Kritik aber, deren Gesetz die Beweglichkeit und das Fortschreiten ist, zieht wie der Fluß an ihrem Fuß vorbei, bespült sie, spiegelt sie in ihren Gewässern und trägt den Reisenden mit Leichtigkeit von einem Denkmal, von einer Landschaft zur anderen. W e n n der Kritiker seinen Geist in dieser W e i s e allen Eindrücken öffnet, woher sie auch kommen mögen, w e n n er sich in fremde Individualitäten verwandelt, um sie zu verstehen, so erhebt sich die Frage, ob er sich dabei nicht auf andere W e i s e seines Amtes begibt. Sainte-Beuve charakterisiert den Kritiker zuweilen als den Deuter der Literatur, der zu lesen versteht und a n d e r e zu lesen lehrt. Er selbst hat seine A u f g a b e zum Teil so aufgefaßt und namentlich in seiner J u g e n d meistens die Tätigkeit des enthusiastischen Erklärers geübt. Aber daneben übte er auch damals schon das eigentliche Amt des Kritikers, zu richten, und das bedeutet auch, zu verurteilen, und in seiner reifen Zeit bekennt er sich wiederholt und ausdrücklich zu der Absicht, Urteile des Geschmacks zu fällen. Ein W e r k der Kritik in diesem Sinne, und zwar sein größtes, ist sein Chateaubriand, und dort gibt er auch eine Beschreibung des großen Kritikers. Ihn schafft die Natur, so wie sie anderen die Gabe des Befehlens verleiht. Die Zeit ist voller Bewegung. Mächtige Talente in der Philosophie, der Politik, der Literatur rühren sich, wirken nach außen und reißen andere in ihre Bahn mit hinein. Der w a h r e Kritiker stellt 15*
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mit wenigen Worten das Gleichgewicht wieder her, ein ruhiger und aufrechter Träger der Autorität. Als Beispiel nennt Sainte-Beuve Royer-Collard. Gegenüber der Frage, ob es mehr in der Rolle des Kritikers liege, zu tadeln oder zu loben, zu beschränken oder anzufeuern, bekennt er sich mit einem Unterton des Bedauerns zu der Auffassung, daß Tadel und Beschränkung einen großen Teil seiner Tätigkeit ausmachen. Dieser Gedanke ist völlig richtig. Wie überall, so ist auch in der Literatur das Vollendete selten, das Gute nicht häufig, das Mittelmäßige aber die Regel. Eine Kritik, die nicht mehr zu tadeln wagt, hat ihren Sinn verloren. Sainte-Beuve vergleicht den Kritiker mit einem König oder Staatspräsidenten. Seine Aufgabe liegt mehr in der Anwendung des Veto als in der Initiative. Am schönsten ist seine Rolle freilich, wenn er nicht nur die falschen Erfolge aufzudecken, sondern auch die echten zu erkennen und zu fördern hat. Ob er nun aber tadelt oder lobt, bekämpft oder fördert, in jedem Falle muß er sich entscheiden und muß ein bewertendes Urteil abgeben. Es gibt von Sainte-Beuve manche Äußerungen, die skeptisch klingen. Er gefällt sich zuweilen in der Haltung des immer Beweglichen, nirgends sich Hingebenden. Er spricht von dem Kritiker einmal als von dem Tyrannen, der in seinem Palast dreißig Zimmer habe und bald dies, bald jenes benutze, damit niemand wisse, wo er schläft. Ein merkwürdiger Vergleich, der auf Herrschsucht und Furcht zugleich hinweist. Der Pessimismus, der ihn erfüllt und mit den Jahren wächst, ist dem Zweifel an allem, was den Anspruch auF dauernde Anerkennung und Verehrung erhebt, nahe verwandt. Dennoch wäre es .völlig falsch, in ihm einen grundsatzlosen Skeptiker sehen zu wollen. Er ist vielmehr seiner tiefsten Natur nach eben ein Kritiker, und als solcher liebt er seine Unabhängigkeit und bindet sich weder an literarische Gruppen noch Dogmen, aber er sucht, anders als der Skeptiker, die Erkenntnis und ist überzeugt, daß sie zu finden ist, ob nun durch ihn oder einen anderen. Deshalb haben wir sein eigentliches Bekenntnis in dem Ausspruch aus d e m ' J a h r e 1845 zu suchen: Die Seele jeder gesunden Kritik liegt in der Liebe zur Wahrheit. So bleibt die Aufgabe des Kritikers dieselbe wie zu der Zeit Boileaus, nur ist ihre Bewältigung unendlich viel schwerer geworden. Die Kritiker der alexandrinischen Zeit hatten es mit der Poesie zu tun, in der die Religion, die Sittlichkeit, die Psychologie, kurz, das gesamte Menschentum der griechischen Blütezeit eingefangen war. Die Kritiker der Renaissance und des Klassizismus hatten sich auf die Poesie beschränkt, die zwar nicht mehr das Leben ihrer Zeit umfassend zum Ausdruck brachte, es aber doch wenigstens repräsentierte. Dann aber hatte sich der Umfang der Literatur gewaltig 228
über die Grenzen der Poesie ausgedehnt, alle Arten von philosophischen Untersuchungen, gemeinverständliche Darstellungen aus den Gebieten der Naturwissenschaften, Memoiren und Geschichtswerke waren hinzugetreten. Alle diese Gattungen wurden durch die Tatsache zusammengehalten, daß sie sich an die Gesamtheit der Gebildeten wandten und keinen Fachcharakter trugen, sondern der allgemeinen geistigen Bewegung angehörten. Deshalb mußte der Kritiker, als Vermittler zwischen dem Buch und der Leserschaft in ihrer Gesamtheit, sich mit ihnen allen beschäftigen. Die erste Leistung, die ihm oblag, bestand also in der Sichtung dieses ungeheuren Stoffes. In der Zeit der Bildnisse überwiegen bei SainteBeuve noch die Dichter, wie es seinen eigenen Neigungen und denen der Restaurationsepoche entsprach. Dann wandte er sich mehr der historischen und besonders der biographischen Literatur zu. Auch naturwissenschaftliche, religiöse und sozialwissenschaftliche Gegenstände vermied er nicht. Die Dichtung, und zwar die Lyrik und der Roman, verschwanden nicht aus dem Umkreis seiner Beobachtung, während er das Theater nur gelegentlich beachtet hat. Die Einheit, die sich in dieser äußerlich unbegrenzten Auswahl durchsetzt, liegt ohne Zweifel in dem Menschlichen und Persönlichen. Mehr als die einzelnen Werke beschäftigen ihn die Charaktere ihrer Verfasser, die allgemeinen, typischen Charakterzüge, die dabei zum Ausdruck kommen, die Antworten auf weltanschauliche Fragen, politische, soziale, moralische Probleme. Wäre es anders, so würden seine Kritiken heute nur noch für den Literarhistoriker von Wert sein, während sie so der allgemeinen Literatur angehören. Er nimmt damit den Standpunkt ein, der allein der Kritik gemäß ist. Seine Aufgabe liegt in der Verfeinerung des ästhetischen Urteils, dessen also, was die klassische Kritik unter dem Geschmack verstand, darüber hinaus aber in der allgemeinen Hebung der Urteilsfähigkeit überhaupt, zunächst gegenüber den Büchern, dann aber gegenüber dem Leben selbst, so wie es sich in jenen spiegelt. Er hat also in diesem Sinne ein erzieherisches Amt zu verwalten und wählt daher nur solche Bücher aus, die in irgendeiner Weise unmittelbar auf den Geist des Lesers wirken, nicht also nur ein wissenschaftliches oder praktisches Ziel verfolgen. Sainte-Beuve hat sich seiner" Aufgabe mit einem universalen Blick für alle wichtigen Gebiete des Lebens unterzogen, von der Astronomie bis zur Kriegswissenschaft. Er hat seine Arbeit als eine Persönlichkeit mit bestimmten Neigungen und Begriffen getan, aber ohne dogmatische Bindung irgendeiner Art. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß diese Universalität und Sachlichkeit auch bei ihm nur angestrebt, keineswegs völlig erreicht werden. Gel ade auf dies Streben aber kommt es an. Es schreibt ihm die 229
allgemeinen Gesichtspunkte vor, nach denen er seine Themen wählt. Zur Durchdringung dieses mächtigen Stoffes bedient sich der Kritiker, ohne selbst ein Forscher zu sein, aller wissenschaftlichen Methoden, die ihm seine Zeit bietet. Die klassische Kritik hatte die Kunstwerke als etwas immer Gegenwärtiges genommen, ohne den Zeitumständen, unter deren Einfluß sie entstanden waren, eine tiefere Bedeutung für ihr Verständnis zuzuschreiben. Die genauere Beschäftigung mit den Bedingungen, unter denen eine Zivilisation entsteht, blüht und vergeht, hatte dann schon im Zeitalter der Aufklärung das geschichtliche Denken allgemein gefördert. Aber erst die Revolution mit der tiefgreifenden Zerstörung der gewohnten Lebensbedingungen führte dann zu einem vollen Erwachen des historischen Sinnes. Die klassischen Werke, mit denen man bisher gleichsam unmittelbar gelebt hatte, wurden nun Gegenstand historischer Betrachtungen und Untersuchungen. Die allgemeine romantische Strömung erweckt die mittelalterliche Dichtung zu neuem Leben, eine Wiedergeburt, die nur mit den Mitteln der historischen Forschung und Vergegenwärtigung möglich ist, da die Lebensbedingungen jener Zeit völlig andere waren als die der modernen Zeit. Literaturgeschichte und moderne Philologie entstanden als besondere Wissenschaften. Ihrgri Nutzen für die literarische Kritik erkannte Sainte-Beuve durchaus an, wenn er auch Bedenken gegen manche Übertreibungen hatte. Er sah, daß die literarhistorische Betrachtungsweise viele Vorurteile und Engherzigkeiten der alten ästhetischen Kritik beseitigt und vergessene Schönheiten wieder zum Leben erweckt hatte. Aber er hielt die Grenze gegenüber einer rein historischen Behandlung der Literatur ohne Schwankungen inne. Mochte auch der einzelne Autor das einzelne W e r k in geschichtliche Beleuchtung rücken, die Literatur im ganzen blieb ihm, dem ständigen Mitarbeiter an Tageszeitungen, doch immer eine Sache der jeweiligen Gegenwart, ein Bestandteil des unerschöpflichen Lebens, wie den Gebildeten seines Volkes überhaupt. Die geschichtliche Betrachtungsweise war ihm ein mit Selbstverständlichkeit angewandtes Mittel der literarischen Kritik. Schwieriger ist es, sein Verhältnis zu den Naturwissenschaften richtig zu beurteilen. Am Ende der Literarischen Bildnisse, an bedeutsamer Stelle also, finden sich unter einer Sammlung von Aphorismen einige über seine Methode der Kritik. Er nennt sich einen Naturwissenschaftler des Geistes und bezeichnet als sein Ziel, eine Naturwissenschaft der Literatur zu begründen. Er will in die Kritik zweierlei einführen, den Zauber der Kunst und die Wirklichkeit, die Poesie und die Physiologie. Natur erscheint dabei wie ein Wechselbegriff für 230
Wirklichkeit. Genauer denkt er an eine beschreibende Klassifizierung der Typen unter den Dichtern, nach dem Verfahren der beschreibenden Naturwissenschaften, so wie etwa Buffon es angewandt hatte. Wie weit die naturwissenschaftlichen Methoden der Verallgemeinerung und der Feststellung von Gesetzmäßigkeiten auf die Geschichte angewendet werden können, wie weit sie 'besonders zur Erläuterung ästhetischer Probleme von Nutzen sein können, das war eine Frage, die in der Folgezeit von der deutschen Philosophie eingehend untersucht wurde. Sainte-Beuve gibt zu diesem schwierigen Problem doch nicht mehr als einige allgemeine Andeutungen. Auf seine Praxis sind aber die Fragestellungen der Naturwissenschaft von einigem Einfluß. So sucht er Grundtypen' unter den Dichtern zu unterscheiden, etwa den allseitig der Wirklichkeit zugewandten, in vollem Sinne schöpferischen Geist von dem energischen, aber beschränkten Talent. In der geistigen Veränderung, die das Alter bringt, sieht er das Gesetzmäßige, so in dem Übergang von der Lyrik zum Roman, in der Wendung zur Kritik, die schließlich die übrigen Fähigkeiten beerbt. Er achtet auf die Stammbäume der Begabungen und charakterlichen Eigenschaften, indem er Vorfahren und Geschwister zum Vergleich heranholt. Aber auch hier, wie bei den Methoden der Literaturgeschichte, bleibt er souverän. Er benutzt, was ihm das Verständnis der Wirklichkeit erleichtert, aber er läßt sich nicht einengen. Alles Erkenntnismäßige ist ihm nur Hilfsmittel. Im Grunde ist für ihn die Kritik dauernde Erfindung und Schöpfung, wie die Poesie. Er folgt den Weisungen seines Gefühls und gestaltet wie ein Künstler. Daher die unverminderte Frische seiner Aufsätze. Er achtet den positiven Geist seines Zeitalters, aber er steht ihm frei gegenüber, im vollen Besitz eines unermeßlichen geistigen Erbes aus vielen Jahrhunderten. Die Kritik ist eine praktische Angelegenheit mit bestimmten Aufgaben. Wir zeigen deshalb am besten nochmals an einem konkreten Fall, in welchem Geiste Sainte-Beuve sein Amt ausübt. Im Jahre 1840 schreibt er einen programmatischen Aufsatz für die Revue des deux mondes, unter der Uberschrift: Zehn Jahre später in der Literatur. Er blickt zunächst zurück auf die literarische Bewegung der Restauration, aus der er selbst hervorgegangen ist. Sie hat mitten in der glänzendsten Entwicklung aufgehört, unterbrochen durch die Julirevolution. Aber auch die Politik hat jetzt ihre Leidenschaften' erschöpft, wenigstens für den Augenblick. Dies ist der günstige Augenblick für die literarischen Gruppen, sich zu sammeln und sich über gewisse gerecht abwägende Gesamturteile, Ergebnisse der ästhetischen Prüfung und des ruhigenGeltenlassens zu verständigen. In der allgemeinen Atmosphäre der Enttäuschungen werden die mensch231
liehen Beziehungen enger. Auch sind die meisten namhaften Schriftsteller in die zweite Phase ihres Talents eingetreten, die etwa mit dem vierzigsten Lebensjahre beginnt, und stehen damit vor einer neuen Entscheidung über die Richtung ihres Schaffens. Die Sorge um den Nachruhm wird wach. Wird diese Generation, die unter der Restauration begann, künftig nur als ein schöner Untergang erscheinen oder wird ihr Werk Bestand haben? Sie kämpft auf den letzten Hängen der Literatur und des ästhetischen Gefühls —• Sainte-Beuve ist sich klar darüber, daß eine große Periode der Literatur zu Ende geht — und es fragt sich nur, ob man einst von ihr sagen wird, daß sie es mit Ehren getan hat. In dieser Lage rät der Kritiker, zugleich im Namen seiner Zeitschrift; zu einer zweiten Vereinigung aller reifen Talente. Die- alten Gruppierungen haben sich aufgelöst, dafür herrschen in der Literatur Mannigfaltigkeit und Freiheit, auch das ist etwas! Vor allem strebt die Kritik danach, sich zu erneuern und ein natürlicher Sammelplatz der Geister zu werden. Sie ist an sich schon die zweite Entwicklungsperiode der meisten Talente, das Floß, auf das sie sich retten, wenn das Schiff der poetischen Jugendschwärmerei gesunken ist. Unredlichkeit und Unsauberkeit drohen auch die Literatur zu überschwemmen. In dieser Zeit ist es ein Dienst am allgemeinen Ganzen, eine Kritik zu begründen, die breit und umfassend angelegt ist, sich aus klar umschriebenen historischen Beispielen nährt und sich, ohne Engherzigkeit, von einer gesunden Sittlichkeit durchdringen läßt. In der allgemeinen Zersplitterung ist es doppelt notwendig, daß sich alle zusammenschließen, denen auf irgendeinem wesentlichen Gebiet die Erhaltung am Herzen liegt und die sich nicht blind den Kräften des Unbekannten überlassen wollen. Diese konservative Einigung, die in der Politik so schmerzlich vermißt wird, läßt sich einstweilen in der Literatur verwirklichen. Wird dieser Ruf zur Sammlung gehört, so wird sich auch eine Atmosphäre der Verträglichkeit und des Gemeinsinnes bilden, die sich nur von gemeinsame! Tätigkeit erhoffen läßt. Das Land ist in seinem literarischen Leben verletzt. Soll diese Notzeit überwunden werden, so ist es notwendig, daß in der Kritik die allgemeine Liebe zur Literatur und zu dem Lande selbst an die Stelle der absoluten Überzeugungen aus jüngerer Zeit treten. — Sainte-Beuve geht fünf Jahre später nochmals auf die Entwicklung der Kritik in der Revue des deux mondes ein. Er spricht dem Herausgeber, Buloz, das Verdienst zu, daß er gegen die Empfindlichkeit der Dichter die Selbständigkeit der Kritik aufrechterhalten hat. .Sie hat sich allmählich und unmerklich, wie so etwas überhaupt am besten geschieht, einen bestimmten Charakter herausgebildet, ohne Dogma oder System, den Sinn für das Maß und die Wahrheit, die Unabhängigkeit von den Zeitströmungen. Viele 232
scheinen zu glauben, daß der Geist für alles genüge, die Politik, die Kunst und selbst die Kritik. Aber mit dem Geist allein, so SainteBeuve, ist von alldem noch nichts zustande gebracht worden, Es ist vielmehr notwendig, daß man Grundsätze besitzt, an denen man festhält. Und die Revue wird bei denen des Wohlwollens, der Aufrichtigkeit und der Gerechtigkeit beharren. — Den großen Strom der literarischen Erzeugung zu lenken, mit einem Blick über die Zeiten hinweg, im Geiste der Unabhängigkeit und der Verantwortlichkeit gegenüber der Gesamtheit aller echten Interessen des Landes, mit einem starken Sinn für die Zusammenfassung aller lebendigen Kräfte: das erscheint bei diesem besonderen Anlaß als das allgemeine Wesen der Kritik, ein Bild, das in dem Geiste Sainte-Beuves von seinen Anfängen im Globe an immer das gleiche geblieben ist und dem er, wenn auch nicht ohne Irrtümer, praktisch immer nachgelebt hat.
2. Die Dichtung Obwohl die Erweiterung der literarischen Kritik durch die Einbeziehung aller Hauptgebiete des geistigen Lebens zu den eigentlichen Leistungen Sainte-Beuves gehört, dürfen wir doch bei der Beurteilung seines Gesamtwerkes nicht vergessen, daß er von der Dichtung ausgegangen ist. Er betrachtet die Kritik, wie auch die Geschichtsschreibung, als eine Art der Kunst, und wie in der älteren Kritik, so nimmt auch in der seinigen die Dichtung immer einen hervorragenden Platz ein. Man darf sogar noch weiter gehen, ohne dem Geist seines literarischen Werkes zu widersprechen: in Übereinstimmung mit der allgemeinen Anschauung der Romantik betrachtet er die Poesie als die Muttersprache der Menschheit. Aus ihr erst ist die Prosa hervorgegangen, so wie die Wissenschaft aus dem Mythos. Die geistige Atmosphäre, in der Sainte-Beuve heranwächst, ist ganz anders als das Zeitalter der Aufklärung und selbst das des Klassizismus von Poesie durchdrungen. Er selbst ist in seiner Jugend auch Dichter. Vergegenwärtigt man sich die künstlerische Form seiner Kritiken, die anschauliche und beseelte Sprache, die Lebendigkeit der Darstellung, so überzeugt man sich, daß dies gesamte schriftstellerische Werk aus künstlerischen Quellen aufsteigt und dieser Kritiker zu allen Zeiten auch ein Dichter bleibt. Man kann nun an der Hand der einzelnen Aufsätze darstellen, wie das Verhältnis Sainte-Beuves zu den Dichtern, vor allem Frankreichs, beschaffen ist. Das ist an den bedeutsamsten Gestalten seiner 233
Bildnisse und Plaudereien im ersten Teil geschehen. Hier ist die Absicht eine ändere: Es soll das allgemeine Verhältnis Sainte-Beuves zur Dichtung geklärt werden, die ästhetische Grundauffassung, die sich in seinen einzelnen Urteilen ausprägt. Das Verhältnis zu den dichterischen Persönlichkeiten und ihren Werken dient uns dabei in entscheidender Weise zur Aufhellung. Aber Sainte-Beuve hat sich auch in allgemeinen Sätzen über seine ästhetischen Gedanken ausgesprochen, besonders in den Einleitungen zu seinen Bildnissen. Von höchstem Wert sind schließlich einige wenige Aufsätze, in denen er sich eigens über allgemeine Fragen der Literatur und des literarischen Lebens ausspricht. Zu Ende der dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre, als dies seinen bisherigen geschlossenen Charakter verliert und demokratisiert wird, schreibt er hintereinander mehrere Artikel der Kritik und der Warnung. Auch Plaudereien aus den Anfängen der Reihe, über das Theater und über öffentliche Abendvorlesungen, beschäftigen sich mehr mit der sozialen Stellung der Dichtung als mit dieser unmittelbar. Dagegen behandelt er in dem Artikel: Was ist ein Klassiker? und in der Eröffnungsvorlesung an der f c o l e normale supérieure über die Tradition in der Literatur Grundfragen der Dichtung selbst. Das Material an ästhetischen Beobachtungen und Urteilen ist also sehr reich, und es kommt hier darauf an, diejenigen Gedanken herauszuheben, die für Sainte-Beuves Stellung entscheidend sind. Der allgemeine Gang seiner Entwicklung ist bekannt. Er beginnt als Herold der romantischen Bewegung, namentlich der Lyrik. Mit dem Sturz der Bourbonen endet auch in der Dichtung ein Zeitabschnitt. An die Stelle der älteren konservativen Romantik tritt eine jüngere Sozialrevolutionäre. Von dieser Entwicklung zieht sich Sainte-Beuve nach kurzer Zeit zurück, ohne seine Liebe für die Lyrik und das Idyll im Stil der Romantiker zu verlieren. Klassizistische Werturteile treten in seiner Kritik stärker hervor, und seine Haltung wird von einem Bekenntnis zur literarischen Tradition bestimmt. Die ersten großen Werke realistischen Stils, namentlich auf dem Gebiet des Romans, stellen seiner Kritik dann neue Aufgaben. Er sucht in seiner letzten Periode, derjenigen der Plaudereien, nach einem Ausgleich zwischen den verschiedenen literarischen Richtungen, im Geiste einer umfassenden Betrachtungsweise, die jede echte Leistung an ihren Platz stellt und in allen Wandlungen die Einheit des höchsten ästhetischen Urteils zu wahren sucht. Aber in diesen scheinbaren Veränderungen seines ästhetischen Standpunktes bleibt er doch im Kern derselbe. Er entwickelt sich, er reift und gewinnt hinzu, aber er gibt nichts preis, was er einmal errungen hat. Diese tiefere Einheit seines ästhetischen Urteils gilt es zu erfassen. 234
In einem Artikel, den er npch unter dem frischen Eindruck der Julirevolution geschrieben hat, über die Hoffnungen und Wünsche der Dichtung nach dieser Umwälzung, berührt er sogleich die Frage, die man als die wahre Schicksalsfrage seines literarischen Lebens betrachten muß. Seit der Renaissance, also seit dem Anfang der neueren Zeit, stand es für alle, die sich mit Poesie und ihrer Theorie beschäftigten, im Grunde fest, daß die höchsten Werke der Kunst unabhängig von allen Veränderungen des Geschmacks und der Mode unvergänglichen Wert besaßen, und zwar nicht etwa als Museumsstücke, sondern als lebendige Muster. Diese Auffassung war durch die wachsenden Erträgnisse der literarhistorischen Forschung nach und nach erschüttert worden. Die Breite der Anschauung, die in dem Begriff der Weltliteratur eingeschlossen ist, die innere Umwälzung, die mit dem Erwachen des historischen Denkens verbunden war, ließen es nicht zu, daß der Glaube an feststehende künstlerische Werte in der aiten Form weiter bestand. Aber dem Relativismus, der aus dieser Lage anscheinend mit Notwendigkeit hervorging, waren doch Grenzen gezogen. Männer wie Herder, die Brüder Schlegel, Hegel, die Begründer des neuen Weltbildes der Literatur und der Geschichte, hatten doch niemals die Vorstellung aufgegeben, daß die Kultur dei abendländischen Völker eine Einheit bildete, waren vielmehr bemüht gewesen, diesen Begriff neu zu begründen. Aber schon in dem Denken der Aufklärung lebte, neben dem Glauben an die Vernunft und ein vernünftiges, fest umrissenes Weltbild, der andere an die unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen. Revolutionäre Denker wie Condorcet und Saint-Simon entwitkelten ein Geschichtsbild, in dem die Vorstellung von dem Gegensatz zwischen der Vergangenheit und der Zukunft des Menschengeschlechtes schließlich alles andere überwog. Der Glaube an die Einheit der menschlichen Kultur war freilich auch bei diesen bewahrt, aber in der Glut des revolutionären Wollens, die hier wehte, konnte sich praktisch keine Tradition behaupten. Dieser Strömung, die nach der Julirevolution mächtig an Einfluß gewann, sah sich nun Sainte-Beuve gegenübergestellt. Er steht einen Augenblick selbst unter der Wirkung des SaintSimonismus und betont die Abhängigkeit der Kunst von den gesellschaftlichen Zuständen. Selbst ihre Aufgabe werde ihr von dem Zeitgeist vorgeschrieben: sie solle die Epopöe der Menschheit sein. Von dieser Auffassung ist Sainte-Beuve auch zu keinem Zeitpunkt abgegangen. Bei seiner Methode, das Kunstwerk biographisch zu erschließen, sah er sich immer wieder auf die allgemeinen Umstände geführt, unter deren Einwirkung es entstanden war. Er sah auch die Wechselwirkung zwischen Dichtung und Gesellschaft. Die Poesie ist Ausdruck der Gesellschaft, aber sie formt diese andererseits auch 235
nach ihrem Bilde. Er zeigt dies an Dichtern, die eine starke Wirkung in die Breite hatten, wie Byron und Balzac. Dennoch behält er selbst in dem Saint-Simonistischen Artikel der Kunst ihre Selbständigkeit ausdrücklich vor: in ihren Daseinsbedingungen zwar ist sie von den Zeitumständen abhängig, nicht aber in ihrem völlig innerlichen und eigentümlichen Prinzip. Worin aber ist dies zu erkennen? In seinen ersten Artikeln über Victor Hugo spricht er von dem allgemein menschlichen Gefühl, aus dem die Dichtung, vor allem die lyrische, hervorgeht, und beschreibt es als einen interesselosen und lauteren Sinn für das Schöne, Erhabene und Unsichtbare. Diese Beschreibung ist ihrem Geiste nach platonisch, und wir- entsinnen uns, daß er auch die Herausbildung des religiösen Gefühls im Sinne christlicher Mystik mit Plato beginnen läßt. In einem viel späteren Aufsatz über Dante begegnen wir der nämlichen Anschauung.'Wir sind davon abgekommen, so führt er aus, in den Werken der Vergangenheit Muster vollkommener Schönheit zu finden. Nur mit größer Mühe vermögen wir die ewige Schönheit aus den zeitlichen Besonderheiten des einzelnen Werkes herauszulösen. Aber die großen Werke der Alten und des christlichen Mittelalters führen uns doch am ersten zu ihr hin. Am deutlichsten aber ist eine Äußerung aus seiner Spätzeit. Er spricht über das Theater des französischen Mittelalters und findet, bei allen lebenswahren und eindrucksvollen Zügen, die uns die Mysterienspiele bieten, die Schönheit des antiken Dramas doch nirgends erreicht. Man soll die literarhistorischen Gesichtspunkte nicht mit denen des Geschmacks verwechseln. Die Geschichte der Dichtung zeigt uns, daß die Schönheit in verschiedenster Gestalt erscheint — die Wesensoffenbarungen des Lebens und der Seele sind unendlich —, aber wir sollen darüber die wahre Schönheit nicht vergessen, die wir am reinsten ausgedrückt finden in den besten Werken der Alten, bei Homer, Sophokles, Euripides, Vergil. Von der Schönheit in diesem Sinne kann man freilich nur zu dem sprechen, der weiß, worum es sich dabei handelt. Sie. ist leichter zu fühlen, als begrifflich zu beschreiben. Diese Aussprüche aus verschiedenen Zeiten, die im wesentlichen übereinstimmen, zeigen deutlich, daß für Sainte-Beuve das Wesen der Kunst in der Schönheit liegt. Di« wahre Schönheit, ihre Idee, steht über allen ihren einzelnen Erscheinungen im Wandel der Zeiten, wirkt aber in ihnen und weist ihnen ihren Rang an. In seiner Auffassung von dem, was der Kunst ihre Selbständigkeit und Eigentümlichkeit verleiht, ist Sainte-Beuve Idealist im Sinne der Philosophie Piatons ünd bleibt es bis zuletzt. Er steht damit in der Tradition der Ästhetik, die seit der Renaissance bei den europäischen Völkern in Gültigkeit war. Sie ist im Kern klassizistisch. Das Schöne ist in den besten Werken des Altertums 236
schon vorhanden, es kommt nun darauf an, e i unter neuen Verhältnissen von neuem zu schaffen. Dabei begegnen sich die alten Formen und das stets sich erneuernde Leben. Man kann diesen Vorgang auch mit den Begriffen der Platonischen Philosophie beschreiben: Die Idee senkt sich in den Stoff, und in diesem Dualismus liegt das eigentliche Problem. Unter wechselnden Formen wird deshalb in der modernen Ästhetik immer wieder die Frage erörtert, wie sich die Kunst zur Natur, zur Wahrheit, zur Wirklichkeit verhält. Die Antwort hängt davon ab, wie man den Begriff der Wirklichkeit auffaßt. Die klassizistische Ästhetik der Franzosen, vertreten durch Boileau, hatte sich ein gereinigtes, vernunftmäßiges Bild der Natur geschaffen, das doch für seine Zeit inhaltsreich - genug war, um der Dichtung Platz zur Entwicklung zu geben. Aber die große Gefühlsbewegung, die in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts begann, fand die hier gezogenen Schranken zu eng und sprengte sie auseinander. Sainte-Beuve betrachtete die Romantik, vom französischen Standpunkte aus, vor allem als die Eroberung neuer Lebensgebiete für die Kunst und blieb ihr in diesem Sinne immer treu. Aber die Bewegung ging weiter. Der neuen Generation, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zur Herrschaft gelangte, erschien rückblickend auch die Romantik als Verengung und Verfälschung der Wahrheit. Es begannen jene Stilbewegungen, die ihre Kraft vor allem aus dem Kampf gegen eine verblaßte Idealisierung der Wirklichkeit schöpften und zuerst als Realismus, dann als Naturalismus auftraten. Mit diesem neuen Begriff der Wirklichkeit hatte sich Sainte-Beuve auseinanderzusetzen. Diese Aufgabe war für einen Kritiker schwer zu ' lösen, der gleichsam zwischen den Zeiten stand und lebendigen Sinn für die schöne Form mit durchdringendem Blick für das Tatsächliche verband. J e reifer er in seiner Schriftstellerei wurde, um so lebhafter wünschte er, seine Artikel mit Wirklichkeit zu füllen. Und es gelang ihm; in der Wahrhaftigkeit und Tatsächlichkeit seiner literarischen Bildnisse hat man immer einen ihrer bedeutendsten Vorzüge gesehen. Auch gibt es von ihm Äußerungen, die wie ein rundes Bekenntnis zu einer realistischen Kunstauffassung klingen. Aber die Kritik, die er an Madame Bovary und an Salammbô übt, zeigt doch sogleich, daß es nicht möglich ist, ihn als Realisten zu bezeichnen. In dem aufkommenden Realismus sieht er die Tendenz. Zeichnet das Währe, nur das Wahre, in seiner Frische und selbst in seiner Roheit, aber bevorzugt nicht das Böse! Für diese runde Anschauung der Wirklichkeit, die das Schöne ebenso umfaßt wie das Häßliche, auch im sittlichen Sinne, beruft er sich auf Shakespeare und Goethe. Einen engeren, aber bestimmteren Begriff von dem Wahren entwickelt er an Mérimée. Von ihm sagt er, daß er von der romantischen Woge nur die Kraft der Beobachtung, die 237
energische Erfassung der Wirklichkeit übernommen habe, nicht den Dunst des Gefühls und den Nebel der Theorie. Er besitzt in höchstem Maße Phantasie, aber sie ist nicht lyrisch, sondern episch und dramatisch, unpersönlich, wie die Shakespeares und Scotts. Er geht unmittelbar auf die Natur los und erringt sich auf diesem Wege die Eigenschaften der Einfachheit und Wahrheit für seinen Stil, die einem Kunstwerk erst die Gewähr der Dauer geben, so wie der Kritiker sie ein andermal an dem Abbé Prévost rühmt. Mit Mérimée vergleicht Sainte-Beuve nun den Novellisten Xavier de Maistre, den er in seiner begrenzten Kunst sehr hoch schätzt. Alles in seinen Erzählungen trägt den Stempel der Wahrheit, seine Art zu erzählen gleicht bei ihm, dem aus Savoyen Gebürtigen, schon dem Stil der italienischen Novelle. Mérimées Colomba aber stellt der Kritiker der Elektra an die Seite. Sainte-Beuves Begriff von der Wahrheit des Kunstwerks ist an dem Vorbild der antiken Dichtung und Renaissanceerzählung gewonnen. An vielen Stellen rühmt er die Fähigkeit namentlich griechischer Dichter, einzelne Vorgänge zu erfassen, die zwar dem gewöhnlichen Beobachter entgehen, sich aber doch sofort dem Geist als wahr und bedeutsam aufdrängen. Mit einem Wort, er sucht das typische Wahre, das durch die unendliche Mannigfaltigkeit individueller Züge die einfachen Grundlinien der menschlichen Natur erkennen läßt. Es ist das allgemeine Wahre, für das er sich auch auf Goethe beruft und das er mit diesem gegen einen abstrakt und leer gewordenen Schönheitsbegriff ausspielt. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1863, also aus seiner letzten Zeit, faßt er uns seine Gedanken über das Schöne und das Wahre, Ideal und Wirklichkeit, nochmals in ausgereifter Form zusammen: Die Wirklichkeit ist der Grund des Lebens, deshalb zieht sie alle an, selbst in ihrer rohen Gestalt. Aber für sich allein vermag sie den Geist nicht zu sättigen. Dazu ist sie zu häufig platt, gemein und ermüdend. Darum fordern wir zunächst von der Kunst der Darstellung, daß sie ihr Frische und Glanz verleiht. Ein persönliches Gefühl muß hinzukommen, ein Strahl des sittlichen Bewußtseins, das hinter der Wirklichkeit aufleuchtet. Und endlich bedarf sie der Steigerung, damit sie schöner und leuchtender erscheint als im gewöhnlichen Alltag, der Idealisierung. Wenn aber all dies fehlt, so ist die nackte Wirklichkeit immer noch besser als glänzende Phantasiegebilde, denn sie besitzt doch die Anziehungskraft der Wahrheit, und in jedem Augenblick kann aus ihr. etwas Ergreifendes und Rührendes aufsteigen. So schließt Sainte-Beuve mit einem Programm des gemäßigten Realismus, der im Innersten doch von dem fdealismus der klassischen Kunstlehre bestimmt bleibt, einer Stiltorm, die wir in der deutschen Dichtung am reinsten bei Keller, Storm und Fontane ausgeprägt finden. 238
Sainte-Beuves Verhältnis zu den beiden großen Kunstrichtungen, die während seiner jüngeren Jahre miteinander stritten, der Klassik und der Romantik, wird durch die Tatsache verdunkelt, daß er als Kritiker früh in den Kreis der Romantiker gerät und auch in seinen eigenen Dichtungen unter ihrem Einfluß steht. Aber seine Vorstellung von dem Romantischen ist eigener Art. In seinen späteren Jahren hat er sich gelegentlich gegen den Vorwurf verteidigen müssen, daß er vom Romantizismus zum Klassizismus übergetreten sei. Er hält seinen Kritikern entgegen, daß er immer nur ein Halbbekehrter gewesen sei. Die romantische Bewegung hat der französischen Lyrik natürliche Wärme, Wahrheit und Kraft zurückgegeben, darin sieht er ihr unvergängliches Verdienst. Bei diesem Dank an die Romantik, daß sie Altes erneuert habe, denkt er aber nicht an die Volksdichtung im Sinne der deutschen Romantiker, sondern an jene Poesie der französischen Renaissance, die das Thema seiner ersten literarhistorischen Untersuchung bildete und die nach Form und Gehalt eine Kunstdichtung war. Um zu zeigen, daß trotz allem der Romantiker in ihm lebendig geblieben sei, bekennt er sich nochmals zu der leidenschaftlichen Liebe seiner Jugend für die Sonette Petrarcas. Er liebt ferner die antike Kunstform des Idylls und folgt ihrem Weg durch die Literaturgeschichte von Theokrit und dem Hirtenroman des Longos, Daphnis und Chloé, bis zu St. Pierres Paul und Virginie, zu Goethes Hermann und Dorothea und Lamartines Jocelyn. Seine rückwärts gewandte Sehnsucht gilt nicht dem christlichen Mittelalter, sondern sie gleicht dem Gefühl, das schon die Alten auf die Jugendzeit ihrer Welt zurücklenkte, die Dichter und Gelehrten der Renaissance aber auf die Trümmer von Rom und vor die antiken Statuen führte. Er betrachtet die Vergangenheit als Elegiker, nicht als Romantiker im allgemeinen Sinne des Wortes. Aus dieser Art, Dichtung zu empfinden, einer Art, in der sich Romantisches und Klassisches mischen, stammt auch seine Vorliebe für den Dichter André Chénier, den die Romantiker lange nach seinem Tode von neuem entdeckten. Von ihm sagt er, daß er versuchte, griechischen Inhalt und griechische Form in die französische Lyrik einzuführen, und daß es ihm gelang, Homer, Theokrit, Vergil und Horaz die Reichtümer ihrer Sprache zu rauben und sie mit der Süßigkeit Racine zu vereinigen. In einem Streben, das Klassische und Moderne zu verbinden, den Reichtum persönlichen Gefühls mit antiken Mitteln gegenständlich zu machen, erinnert Chénier an Hölderlin, nur daß bei jenem das griechische Element viel kräftiger erscheint als bei diesem. In Sainte-Beuves romantisches Kunstempfinden mischt sich von Anfang an die Welt der Bilder und Formen, die durch die Renaissance in Frankreich heimisch geworden waren, und gibt ihm eine 239
besondere Färbung. Seine Auseinandersetzung mit dem eigentlichen romantischen Geist finden wir in den Vorlesungen über Chateaubriand. Er bekennt, daß er und seine Generation v o n . der Rasse Renés stammen, daß sie in ihrer Kindheit seine Träume geträumt, in der Jugend seine Wirren durchlebt haben. Aber er wirft diesen Zauber nun kritisch nieder, und zwar zum Teil durch eine Analyse der künstlerischen Form der Dichtungen Chateaubriands. Seine Beschreibungen sind unwahr und gewaltsam, seine Bilder Nachahmungen Homers, aber ins Bizarre und Groteske verzogen. Chateaubriands Stil trägt die Kennzeichen des Niedergangs, mit all seinen Verfeinerungen grenzt er schon an das Barbarische. Dagegen lobt er an Chénier die Fähigkeit, den Worten ihren ursprünglichen Sinn zurückzugeben, und an Mérimée das Talent, in seiner Darstellung gerade auf die Natur loszugehen. Dadurch werden Wirkungen erreicht, wie sie den Alten zu Gebote standen, nicht aber, indem man diese nachahmt. So verstärkt sich bei Sainte-Beuve ein wohlverstandener Realismus immer wieder an dem stilistischen Vorbild der Klassiker, um sich dann gegen die romantischen Kunstmittel zu wenden. Die Kritik, die er an Chateaubriands Sprachstil übt, steht aber in seinen Artikeln über die Romantiker nicht allein da. Die Abwendung von. seiner ursprünglichen Linie, die er Lamartine so bitter verdenkt, schädigt auch seinen Stil. Seine poetischen Vergleiche werden gewaltsam, barock, stofflich, wie diejenigen Hugos, und verlieren den spiritualistischen Charakter, der sie în Sainte-Beuves Augen auszeichnete. Die Wendung von dem Geist der ursprünglichen Romantik zu einem romantisch gefärbten Naturalismus tritt noch deutlicher in dem Stil Balzacs zutage, der dem Kritiker Schwindel verursacht und gegen den er Stimmen aus der Zeit reiner Sprachbehandlung und aus dem Kreise Goethes aufruft. Selbst an einem Schriftsteller wie Vinet, dessen Stil er im ganzen rühmt, tadelt er doch die Neigung zu übermäßiger Deutlichkeit im einzelnen, die den Fluß des Ganzen störe. Indem er den eigentümlichen Charakter eines Wortes herauszuheben sucht, macht er es hart. Sainte-Beuve sucht die Erklärung für diesen Zug in Vinets strengem protestantischen Gewissen, die von ihm zitierten Stellen deuten aber eher auf eine Beeinflussung durch die Sprache der deutschen Philosophie hin. Sein stilistisches Ideal entwickelt er schon früh an La Bruyère. Dieser lebt wie ein Weiser, interesselos, in sich ruhend, und darum vermag er auch so zu schreiben, wie es jeder tun sollte, mit dem einzigen Zweck, in vollendeter Form das auszusprechen, was man denkt. Während der moderne Schriftsteller maßlos in Einzelheiten schwelgt — SainteBeuve mag an Hugo und Balzac denken —, ist jener bestrebt, zu konzentrieren und in kürzester Form das Beste zu sagen. Es wäre aber 240
irrig, nun anzunehmen, daß Sainte-Beuve auf einen streng sachlichen, nüchternen Stil als höchstes Ziel des Schriftstellers hinweisen wollte. Er spricht sich darüber bei Gelegenheit von Sieyès aus. Die Sprache, so führt dieser aus, ist reicher als der Geist selbst. Sie kündet Vorstellungen an, denen keine Wirklichkeit entspricht, und so werden Irrtümer weitergeschleppt und verbreiten sich über die Erde. Darum gilt es, aus Gründen der Redlichkeit, um das Zusammenleben der Menschen erträglich zu gestalten, die Sprache von leeren Worten zu reinigen und sie streng zur bloßen Dienerin der Gedanken zu machen. Der oratorische und akademische Stil ist ein Erzeugnis des Absolutismus, unter dessen Herrschaft die Beredsamkeit keine sachlichen Zwecke hat und nur repräsentative Aufgaben erfüllt. Aber, so wendet Sainte-Beuve ein, auch das Volk liebt die vergoldeten Gedanken, und wenn Sieyès klagt, daß man verrückt oder trunken sein müsse, um in den uns vertrauten Sprachen gut, das heißt ihrem Geiste gemäß, zu sprechen, so erwidert ihm Sainte-Beuve, daß die Menschen eben in ihrer ungeheuren Mehrheit etwas verrückt oder trunken seien, auch die aus der Menge herausgehobenen. So stellt er gegen die Ansprüche des Verstandes auf absolute Herrschaft über die Sprache die Rechte der Phantasie. Aber der Verfall des Stils ist eiije Tatsache, über die er sich keinen Täuschungen hingibt. Die Zeit der Rhetorik ist vorüber. Jeder improvisiert und schreibt, wie er denkt oder gewöhnt ist, sich auszudrücken. Der Schriftsteller, der sich um die sprachliche Form bemüht, ist der Meister einer Kunst, die auszusterben scheint. Jedoch ist Sainte-Beuve durchaus nicht gewillt, die alte Position aufzugeben, nur daß er sich einer neuen Lage gegenüber sieht. Er beschreibt sie in einer Bemerkung über den Stil Mérimées, der sich in bewußter Reaktion gegen den falschen Geschmack der sich auflösenden Romantik gebildet hat. Der Kritiker billigt diese Rückkehr zur Wahrheit und Natur, aber er wünscht doch, daß Mérimée, nachdem er aller seiner Mittel Meister geworden ist, auch die des idealistischen und rhetorischen Stils nicht gänzlich verwirft und unbenutzt läßt. Dies eben rühmt er an Fromentin, dem Maler und Dichter, daß er in seinen landschaftlichen Beschreibungen aus Nordafrika zwar die volle Meisterschaft des Malers und Zeichners entfaltet, aber es auch nicht verschmäht, in das Leben der Natur menschliche Züge hineinzulegen. Es ist die Metapher, die SainteBeuve in seinen Stilanalysen immer wieder beschäftigt. Er unterscheidet drei Stadien des poetischen Vergleichs: Bei Homer, Pindar und den Tragikern, wie auch in der althebräischen Dichtung dient das Bild der Vergegenwärtigung des Gegenstandes nach einer wesentlichen Seite. Die späteren Dichter, die sich zwar an der alten Art geschult haben, wie Vergil, Boileau, Pope, führen doch den Vergleich 16 Deiters, Sainte-Beuve
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bis ins einzelne aus und suchen die genaue Übereinstimmung. Chateaubriand endlich, der ihm den Anlaß zu diesem Überblick gibt, sucht zu der ersten Form zurückzukehren, aber er wird dabei nur gewaltsam und bizarr. Unter dem Einfluß des Christentums tritt der symbolische und metaphysische Vergleich auf, und dieser ist es, auf den Sainte-Beuve nicht völlig verzichten möchte. Ein Stil, der sich im Geist einer positiven Naturauffassung nur die Aufgabe stellt, die äußere Erscheinung in Worten wiederzugeben, vermag ihn nicht zu befriedigen. Am deutlichsten wird sein Standpunkt bei der Kritik des Stils der Goncourt, die als die vorgeschrittensten Vertreter der realistischen Darstellungsform vor ihm stehen. Sie pflegen das seltene Beiwort, aber sie tun es nach Sainte-Beuve in einseitiger Beschränkung auf die sinnlichen Eindrücke. Inmitten der Farben aber, die von außen kommen, gibt es die Widerspiegelungen durch das persönliche Gefühl. Deshalb hat auch das Beiwort mit sittlichem oder metaphysischem Inhalt sein Recht. Alle diese kritischen Bemerkungen deuten auf ein Stilideal hin, das mehr sentimentalen als naiven, mehr lyrischen als epischen Charakter trägt und eher Vergil und dem späteren Hellenismus entstammt als den griechischen Dichtern der klassischen Zeit. Aber das letzte Wort über den Sprachstil in seiner höchsten Form hat Sainte-Beuve damit noch nicht gesprochen. Er findet ihn bei Männern des Glaubens und des Handelns. St. Cyran von Port-Royal, Vauvenargues und Buffon stimmen darin überein, daß der Stil eine Sache des Charakters ist. Der gefällige und gewandte kann von einer Verfeinerung zeugen, die an Verderbtheit grenzt, der echte und wahrhaftige aber entspringt nur einer Seele derselben Art. Die Schriftsteller von Port-Royal vermieden die Rhetorik, um schlicht und klar nur das auszusprechen, was ihnen ihr Gewissen nach strenger Selbstprüfung gebot. In dieser Schule gelangte Pascal zu der reinen und strengen Schönheit seines Sprachstils, dessen wichtigste Züge Bestimmtheit und jene Art von Sachlichkeit sind, die gerade auf den Gegenstand losgeht und ihn gleichsam bloßlegt. Wir haben bei Pascal außerdem das Glück, daß wir bei der Unfertigkeit der Form, in der uns die Pensées überliefert sind, seine Gedanken dort erfassen, wo sie entspringen. In den Erinnerungen von Zeitgenossen bietet sich uits die gleiche Gelegenheit für Napoleon. Auch sein Stil ist einfach und nackt und Ausdruck eines starken Willens, genau so wie derjenige Pascals, an dem Voltaire einen despotischen Ton tadelt. Doch hat Pascals Sprache daneben einen Reichtum der Formen, sein Gedanke bewegt sich frei, während Napoleon unmittelbar auf die Handlung hindrängt und deshalb knapp ist. Nachahmen kann man diesen Stil der Großen nicht, man müßte dazu zuerçt ihre Gedanken haben. Deshalb bleibt für den Gebildeten 242
immer noch Raum für die literarische Form der Sprache, und neben Cäsar ist Platz für Cicero. Zu den großen Stilisten rechnet SainteBeuve auch Friedrich den Großen. Er nennt ihn einen Schriftsteller von hohem Charaktbr, von ganz eigener Prägung, doch verwandt mit Polybios, Lucrez und Bayle. Ungefähr in der Mitte seiner Tätigkeit gibt der Kritiker eine Bestimmung des Begriffs vom Klassiker, in der seine Lehre von der Dichtung und ihrem Charakter als Kunst einen geschlossenen Ausdruck findet. Sein Bemühen geht dahin, den Kern der überkommenen Vorstellung beizubehalten, ihren Umfang aber zu erweitern. Das Klassische ist zunächst das Alte und zugleich Musterhafte, so schon bei den Römern. Zu seinem Wesen gehört die Dauer, aber nicht nur in dem Sinne des Fortbestehens von Dingen, die in irgendeiner Vergangenheit ans Licht getreten sind, sondern auch in dem der Fortsetzung eines einmal begonnenen Vorganges. Der Bestand an Werken, die als klassisch gelten, wächst mit den Jahrhunderten. Für die Italiener ist Dante der große Klassiker der nationalen Literatur, für die Franzosen sind es die namhaftesten Dichter des 17. und 18. Jahrhunderts, und ein Dichter wie Shakespeare, den das 18. Jahrhundert nicht als solchen anerkannte, ist es heute für England und die Welt. Erst im 19. Jahrhundert droht der Begriff zu erstarren. An die Stelle des lebendigen Besitzes musterhafter Werke versuchen die Verteidiger des Alten einen Bestand von allgemeinen Vorschriften zu setzen, an dem neue Werke gemessen werden. Diese Verengung erkennt Sainte-Beuve nicht an. Es gibt einen Schatz der "Menschheit an unvergänglichen Kunstwerken, und die Aufgabe des wahren Klassikers besteht darin, ihn zu vermehren. Dazu gehört nach Sainte-Beuve die Entdeckung einer neuen Seite an dem inneren Wesen des Menschen, einer moralischen Wahrheit, wie er es ausdrückt, denn für seine Anschauungsweise, wie für die Alten selbst, fallen die sittlichen Gesetze im Grunde mit dem Wesen der Dinge zusammen. Die Form mag sein, wie sie will, nur soll sie Größe, Klarheit und Schönheit besitzen. Die Sprache, und hier berührt er das Problem des Individuellen, soll dem Dichter selbst angehören, zugleich aber allen verständlich sein, neu und alt zugleich, damit sein Werk von allen Zeitaltern bequem als zeitgenössisch empfunden wird. In allen diesen beschreibenden Zügen, mit denen der Kritiker sein Bild des Musterhaften zeichnet, wird seine völlige Überlegenheit allen literarischen Schulen gegenüber offenbar. Den Tempel des Geschmacks, in dem er die ihm besonders werten klassischen Schriftsteller versammelt, bevölkern außer den Größten, Homer, Sophokles, Piaton, Vergil, Dante, Cervantes, Molière, auch Solon und Demosthenes, Montaigne, La Bruyère und La Rochefoucauld, Boileau und Pope usw. Shakespeare und Milton 16*
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sind die einzigen großen germanischen Dichter, die er hier nennt, das Übergewicht, das die lateinische Poesie und die der romanischen Sprachen in seinem Geist besitzen, tritt völlig klar heraus, übrigens will er nicht der Erbauer und Ordner jenes Pantheons sein, sondern seinem persönlichen Geschmack folgen. Systematischer faßt er die Frage später in der Eröffnungsvorlesung an, die er an der École normale über die Tradition in der Literatur hält. Aufgabe des Lehrers ist es, so sagt er bei dieser Gelegenheit, die Tradition im ästhetischen Urteil zu erhalten, aber was er hier sagt, ist auch die Meinung des Kritikers Sainte-Beuve. Die Franzosen sind die Abkömmlinge der Römer, oder wenigstens die Adoptivkinder der lateinischen Rasse, die selbst den Kult des Schönen von den Griechen gelernt hat, deshalb haben sie diese Erbschaft zu pflegen, die den festesten und reinsten Bestandteil ihres geistigen Besitzes bildet. Sainte-Beuve legt an dieser Stelle den größten Nachdruck auf die Leistung der Griechen. Sie besaßen für ihn in unvergleichlichem Maße die Gabe der Harmonie und der vollendeten Form. Der romantischen Auffassung, daß die Poesie ein Besitz aller Nationen sei, stellt er dies Bekentnis zu dem besonderen Genius der -Griechen ausdrücklich entgegen. Auch die höfische Poesie des Mittelalters ist von einem Hauch der Antike umweht. Sainte-Beuves Dank an jene ist höflich, aber doch nur kühl, namentlich gemessen an dem Enthusiasmus, mit dem er die Griechen, und der freundschaftlichen Bewunderung, mit der er die Römer grüßt. Die vollendete Schönheit erscheint erst in der Renaissance, in dem Rom Leos X., wieder. Auch an den großen Dichtern der modernen Epoche, Shakespeare, Molière, Goethe, hebt Sainte-Beuve die vollendete Menschlichkeit, das Übergewicht des Klassischen hervor. Das Klassische, sagt er mit Goethe, ist das Gesunde. Dagegen ist sein Urteil über die Romantik hier entschieden ungünstig. Er läßt ihr das Verdienst einzelner bedeutender Leistungen, behandelt sie aber im ganzen als die Frucht unklarer und unsicherer Zeitverhältnisse. Es ist unzweifelhaft, daß der Redner in diesen Ausführungen mit dem Geist der studierenden Jugend ringt, die anders empfindet als er. Die junge Generation steht unter dem Einfluß von Gedanken, die positivistisch und zugleich romantisch-revolutionär sind, sie befindet sich also jetzt dort, wo ihr Lehrer vor 30 Jahren gestanden hat. Sainte-Beuves Bekenntnis zur Idee der klassischen Schönheit und zur literarischen Tradition überhaupt empfängt aus dieser Situation die starke Betonung, mit der es vorgetragen wird. Der Kritiker würde Einschränkungen machen, die der Lehrer vermeidet. Aber der Kern seiner Gedanken würde davon nicht berührt werden. 244
3. Die Stellung der Literatur im öffentlichen Leben Sainte-Beuve stellt der Kritik gelegentlich die Aufgabe, zum richtigen Lesen zu erziehen, und der volle Begriff des Klassikers scheint ihm erst dort erfüllt, wenn ich mir einen Schriftsteller nach persönlichem Geschmack auswähle- und ihn lese und immer wieder lese. In dem Lob des Lesens kommt eine wesentliche Seite seiner literarischen Auffassung zum Ausdruck. Der Leser, im strengen Sinne des Wortes, will nur die Wahrheit und Schönheit des Geschriebenen in sich aufnehmen, weitere Zwecke verfolgt er dabei nicht. Das geschriebene Werk trägt seine Bedeutung in sich, und der Mensch tritt ihm als einzelner und ohne Vermittlung nahe: darin sieht Sainte-Beuve eine Grundform unseres Verhältnisses zur Literatur. Nach allem, was wir über seine Auffassungen von der Kritik und der Dichtung gehört haben, versteht es sich aber von selbst, daß er in der Literatur nicht nur den Ausdruck des Lebens sieht, sondern ihr eine selbständige Bedeutung und eine besondere Aufgabe zuspricht. Da sie außerhalb des Kampfes der Interessen steht, ist sie die große Versöhnerin der Streitenden, das Asyl, das allen offensteht, der Ort, an dem die Polemik zwar nicht zu schweigen braucht, aber ohne Haß und ohne Verletzung der Menschlichkeit geführt werden sollte. Sie ist zugleich die Hüterin des Nachruhmes, indem sie die Ereignisse sichtet und klärt und ihnen in der Erinnerung zuweilen höheren Glanz verleiht, als sie in der Wirklichkeit gehabt haben. Sainte-Beuve nennt die Nachwelt den großen Hirten mit dem zusammenfassenden Blick. Der Schaffende in der Literatur, der Schriftsteller oder Dichter, verwaltet ein heiliges Amt, für das er vor seinem Gewissen verantwortlich ist. Er mag in Zeiten dringender Not Partei ergreifen und für diejenige Sache eintreten, die ihm die gerechte erscheint, seine eigentliche Aufgabe ist das nicht. Das Wesen des literarischen Geistes beschreibt SainteBeuve überhaupt nicht an dem Beispiel des Schaffenden, sondern an dem des Betrachtenden und Empfangenden. Die Liebe zu dem, was wir mit einem älteren, dem Französischen nachgebildeten Ausdruck die schönen Wissenschaften nennen, verlangt Freiheit von praktischen Interessen, eine Weite des Urteils, die sich nicht von der Mode und dem Erfolg des Tages bestimmen läßt, und die Fähigkeit des Geistes, sich seinem ästhetischen Gefühl folgend nach jeder Seite zu wenden. Obwohl Sainte-Beuve die positiven, praktisch-technischen Kräfte seines Jahrhunderts genau kennt und in ihren Grenzen auch anerkennt, bleibt er so den alten humanistischen Begriffen von der Literatur und unserem Verhältnis zu ihr treu. Sie sind im Kern platonischen Ursprungs. Da die Kunst die Darstellung des Schönen ist, so ist unsere Beziehung zu ihr eine ästhetische. W i r schauen die voll-
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endete'Gestalt. Der Geist der Dichtung aber erfüllt auch die anderen Teile der Literatur, darum stehen wir zu ihnen wesentlich in dem gleichen Verhältnis wie zu jener. Mit dem Schönen ist das Gute verbunden. Darum hatten die Alten recht, so ruft Sainte-Beuve seinen Hörern in der ßcole normale mahnend zu, wenn sie dem Menschen, der kein Gefühl für die Werke der schämen Literatur besaß, auch das für die Tugend und den Ruhm absprachen. Aber obwohl ihre Aufgabe über dem Kampf der jeweiligen Interessen liegt, brauchen die Schriftsteller, und namentlich die Dichter, doch einen Standort in der Gesellschaft. In seinen Gedanken darüber folgt Sainte-Beuve der Tradition der lateinischen Poesie und der klassischen seines eigenen Landes. J e höher die Kunst über die Nöte des Tages erhoben wird, um so mehr bedarf sie des Schutzes durch eine gesellschaftliche Macht, die selbst über den Parteien und Klassen steht, und eine solche findet Sainte-Beuve in der Monarchie, sei sie nun weltlichen oder kirchlichen Ursprungs. Die lateinische Dichtung errang ihre Vollendung unter Augustus, die großen Päpste der Renaissance, unter ihnen vor allem Leo X., wurden die Schutzherren der Maler und Bildhauer, Richelieu und Ludwig XIV. halfen die klassische Dichtung der Franzosen heraufführen. Die Aufgabe des Monarchen — denn auch Richelieu ist als erster Minister mit der Macht eines solchen umkleidet —• besteht aber für Sainte-Beuve nicht nur darin, die Dichtung zu beschützen und durch äußere Mittel zu fördern, von ihm soll vielmehr auch die innere Autorität ausgehen, deren sie zu ihrem Gedeihen bedarf. Er soll nicht etwa selbst in die Reihen der Schriftsteller oder auch der Kritiker treten, aber indem er den Gedanken der Rangordnung und des höchsten Ansehens in seiner Person verkörpert, bringt er durch diese moralische Einwirkung auch Abstufung und Ordnung in die Literatur. Sainte-Beuves Urteil über die verschiedenen Herrschaftsformen, unter denen Frankreich gelebt hat, wird deutlich von ihrem Verhältnis zur Literatur bestimmt. Die Jahre der Revolution erschienen ihm als eine Unterbrechung des literarischen Lebens. Das Direktorium überließ das wieder erblühende literarische Leben sich selbst. Das Kaiserreich dagegen griff auf die Überlieferung der Monarchie zurück und trat in ein offizielles Verhältnis zur Literatur. Sainte-Beuve hat sich eingehend mit den dichterischen Erzeugnissen dieser Jahre beschäftigt und ihnen mehr Aufmerksamkeit gewidmet, als ihrem Wert entspricht. Ihn beschäftigte die Wiedergewinnung der äußeren Form, die sich hier unter den Augen des Kaisers vollzieht. Aber wenn das Direktorium, so faßt er zusammen, durch das Übermaß an Gewährenlassen sündigte, so das Kaiserreich durch das Übermaß an polizeilicher Bevormundung. Die Restauration erscheint als die Zeit der kleinen Dichterkreise, die 246
ihr Leben für sich führen und wenig nach der Förderung durch den Staat fragen. Erst unter der Julimonarchie drängt sich dem Kritiker die Frage von neuem auf, was auch unter den Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft von dem Staat erwartet werden müßte, und immer wieder wirft er es Louis-Philipp und seinen Ratgebern vor, daß sie die Literatur völlig sich selbst überlassen. Die Entwicklung des literarischen Lebens in den vierziger Jahren betrachtet Sainte-Beuve mit tiefer Abneigung. Die Literatur, so schildert er den Zustand, ist industriell geworden. Immer hat es zwar wirtschaftliche Motive in der Literatur gegeben, aber jetzt überwuchern sie alle anderen. Der Dämon des literarischen Eigentums erhebt das Haupt. Die einstigen Führer der Kritik sind zur Politik übergegangen, die Überlieferung ist abgerissen. Hinter den großen Gestalten des Vordergrundes, die in ihrem Charakter unantastbar sind und achtunggebietend durch ihr Talent, drängt sich die Masse der Mittelmäßigen nach vorn, unter ihnen auch manche verworfene Gestalt. Der erwerbsmäßige Charakter der Literatur wird durch ihre kommerzielle Verflechtung mit der Presse verstärkt. Die Zeitungen bestehen zum erheblichen Teil von den Einnahmen aus Anzeigen, die der Verleger einrücken läßt, und verlieren dadurch die volle Unabhängigkeit der Kritik. Der Verleger seinerseits muß bemüht sein, umfangreiche Werke herauszubringen, damit die Kosten der Anzeigen schneller hereinkommen. Die Demokratisierung und Industrialisierung gehen Hand in Hand und drängen die Literatur von ihrer alten Höhe herab. Afidere Ursachen kommen hinzu und wirken in der gleichen Richtung, die Eitelkeit der Schriftsteller, die von Byron auf die jüngere Generation übergegangen ist, und der Einfluß, der von einem Teil der weiblichen Leserschaft ausgeübt wird. In diesen Äußerungen aus den Jahren 1839 und 1840 zeigt sich Sainte-Beuve von dem Eindruck des Übels wie überwältigt. Wo gibt es Hilfe gegen diese Entartung? Die Blüte der französischen Literatur wurde nicht nur durch die Monarchie begünstigt, sondern auch durch das ideale Publikum, das sie in den Salons fand. Sie bilden eine ununterbrochene Reihe, die, ohne abzusinken, vom Hotel Rambouillet bis zur Revolution reicht. Aus den Händen adliger gehen sie zuletzt in diejenigen bürgerlicher Frauen über, wie Frau Necker und Frau Recamier, und noch während der Ereignisse von 1848 kommt dem Salon der Frau Swetschin eine gewisse Bedeulung zu. Aber ihre Zeit ist vorüber, das geistige Leben in einer mehr und mehr demokratisierten Gesellschaft kann von solchen Stätten aus nicht mehr gelenkt werden. In der Akademie hatte sich die Monarchie selbst eine Einrichtung geschaffen, um die Literatur zu beeinflussen. Sainte-Beuve gehörte ihr zwar an, aber sein Urteil über ihre 247
Wirksamkeit war überwiegend skeptisch. Sie habe die eine der Aufgaben, die ihr von Anfang an schon durch Richelieu gestellt wurden, die Regelung des Sprachgebrauchs, zwar im wesentlichen gelöst, nicht aber die andere, die Lenkung des ästhetischen Urteils. Die Presse, selbst ein Teil der Literatur, ist in ihren Niedergang mit hineingerissen worden, von wenigen Ausnahmen abgesehen ist das Lob in ihr käuflich, und der Geist des Erwerbs thront über allem. Die öffentliche Meinung, die in neuer Form an die Stelle der früheren Salons und engen Zirkel getreten ist, bevorzugt das Leichte und das Sensationelle, nimmt rasch auf, läßt aber ebenso rasch wieder fallen. Es bleibt als letztes Mittel nur der Zusammenschluß weniger, in literarischer Tätigkeit bewährter Männer um eine angesehene und unabhängige Zeitschrift, die sich an keine Richtung bindet, sondern frei das Gute, zu würdigen sucht, der Weg also, den Sainte-Beuve in seiner rückblickenden Beschäftigung 1840 empfiehlt. Unter den Plauder&en, die Sainte-Beuve in der kurzen Zeit zwischen dem Sturz der Julimonarchie und der Errichtung des zweiten Kaiserreichs geschrieben hat, befindet sich ein Artikel über das französische Theater, in dem "er sich zu den Grundfragen der Kulturpolitik äußert. Er blickt auf die Vergangenheit zurück: Im 18. Jahrhundert befreit sich die Literatur vom Einfluß des Hofes, es beginnt die Herrschaft der öffentlichen Meinung, die sich in bestimmten Zirkeln bildet Unter der Restauration dauert diese Macht der Salons noch fort, wenn auch geschwächt. Es war der große Fehler der Julimonarchie, daß sie den Geist der Literatur sich selbst überließ. So begannen auch die großen Talente nach unten zu sehen, auf die Masse, statt nach oben. Die Literatur bedarf aber einer Persönlichkeit, an der sie einen Halt findet. Mit ihrer Hilfe kann die öffentliche Meinung langsam genesen und, organisiert in Akademien und literarischen Körperschaften, die notwendigen Bedingungen für eine Erneuerung und Fortführung der literarischen Tradition Frankreichs schaffen. Ohne eine solche stetige Pflege, diese seine Grundüberzeugung spricht Sainte-Beuve auch hier aus; ist eine höhere Kultur nicht zu schaffen und zu erhalten. Scheint dies Programm Sainte-Beuves unverändert und von den Ereignissen der Februarrevolution nicht berührt, so zeigt doch ein etwas späterer Artikel über öffentliche Abendvorlesungen, daß der Kritiker durchaus bereit war, neue Erfahrungen zu verwerten. Die Vorlesungen waren für Arbeiter bestimmt und sollten diese, in der Art der späteren Volkshochschulen, in die wichtigsten Werke der Literatur einführen. Sainte-Beuve hörte sich mehrere an und sprach mit anderen Beobachtern. Von den Bildungszielen dieser Kurse machte er sich eine klare Vorstellung. Frei von jeder politischen oder weltanschaulichen Absicht wollen sie in dem Arbeiter die Empfäng248
lichkeit für das Gute und Schöne in dichterischer Form kräftigen, den Trieb zur Bewunderung des menschlich Großen, auch in der Geschichte, zur Entfaltung bringen und die Neigung zu vorschnellem Urteil und zur Phrase bekämpfen. Aber diese Volksbildungsbestrebungen haben auch ein kulturpolitisches Ziel, das Sainte-Beuve durchaus anerkennt: Da die Herrschaft der engen literarischen Kreise vorbei ist, muß man das Schöne unter den Schutz der Gesamtheit stellen. Voraussetzung dafür ist aber, daß eine soziale Schicht wie die Arbeiterschaft, die neu in die Bezirke der Bildung eintritt, von berufenen Vertretern der Literatur in diese eingeführt wird. Sainte-Beuve ergänzt also seine kulturpolitischen Gedanken durch Einbeziehung neuer Tatsachen, aber er verändert sie nicht. Unter den Staatsmännern und Fürsten, denen die Kunst besondere Förderung verdankt, nennt Sainte-Beuve auch Perikles, den Leiter der athenischen Demokratie, und Augustus, das große Muster fürstlicher Schutzherrschaft, war ebenfalls kein geborener Monarch. Es stand also für Sainte-Beuve nichts im Wege, Hoffnungen auf Napoleon III. zjx setzen, um so mehr als dieser schon als Prätendent einen gewissen literarischen Ehrgeiz gezeigt hatte. Dagegen verhielten sich die älteren Vertreter der Literatur, die ihren Namen zum Teil schon unter der Restauration begründet und unter der Orléans-Monarchie hohe Ämter bekleidet hatten, gegen den neuen Herrn feindlich, und die Akademie wurde geradezu zu einem Stützpunkt der liberalen Opposition gegen ihn. Sainte-Beuve bemühte sich nun, wenigstens zwischen der Masse der Schriftsteller und dem Regiment Napoleons eine Verbindung herzustellen. Er stand von Haus aus den Anfängen einer Organisation der Schriftsteller ablehnend gegenüber, weil er fürchtete, daß sie nur zur Förderung der Mittelmäßigen und zur Befehdung der Hervorragenden benutzt würde. Aber er sah doch den Stand in seiner Ganzheit und fand, daß er sich in einer schwierigen Lage befand. Schon Richelieu hatte sich gegen die übergroße Zahl von Literaten in einem Volke ausgesprochen, und Sainte-Beuve war geneigt, ihm darin grundsätzlich zuzustimmen. Er sah auch, daß die französische Schulbildung, mit ihrer starken Betonung des Rhetorischen, ihrer frühen Förderung des literarischen Ehrgeizes, die Gefahr mit sich brachte, daß zu viele junge Leute in die Bahn des Schriftstellers gerieten, auch ohne die volle Berufung dazu. J e größer die Zahl der Schriftsteller wurde, um so bedenklicher gestaltete sich die wirtschaftliche Lage des Standes. Es war nicht möglich, der Not, mit der viele Schriftsteller zu kämpfen hatten, vor allem im höheren Alter, nur mit dem Appell an den Idealismus beizukommen, es mußten Institutionen geschaffen werden, die dem Stand größere Sicherheit und seinen Mitgliedern einen Aufstieg mit den Jahren gewährten. 249
Sainte-Beuve deutet hier, ohne nähere Ausführung, Gedanken an, die gerade von konservativer und regierungsfreundlicher Seite zugunsten der Industriearbeiter vertreten wurden. Auch waren die Schriftsteller als Gruppe in die politische Gesellschaft nicht eingeordnet. Sie hatten sich im achtzehnten Jahrhundert als oppositionelle Schar zur Geltung gebracht, und bisher war es noch keiner Regierung gelungen, ihre Mitarbeit zu gewinnen. Sainte-Beuve machte nun in vertraulicher Beratung einen Vorschlag, der nach dem Sturz des zweiten Kaiserreichs aus den Papieren der Tuilerien veröffentlicht wurde und der auf die Gründung einer Gegenakademie hinausläuft. Mit seiner Mitgliedschaft in der bestehenden Akademie war ein solches Vorgehen freilich schwer zu vereinigen. Er berief sich darauf, daß die Regierung Napoleons sich auf keinem Gebiet scheue, mit den Mächten der Demokratie in Verbindung zu treten, um sie zu organisieren und auf eine höhere Stufe zu heben. Die Organisation der Schriftsteller, so schlug er vor, sollte eine Vertretung wählen, die in den Tuilerien wohnen und in unmittelbarem Verkehr mit dem Kaiser oder seinem Staatsminister stehen sollte, ohne Einschaltung des Unterrichtsministeriums. Der Kaiser sollte einen Literaturpreis aussetzen, der jährlich für die beste Bearbeitung eines sinngemäß ausgewählten Themas verliehen werden würde, unter Mitwirkung der Vertretung der Schriftsteller. Endlich sollten im Namen des Kaisers Beihilfen an bedürftige Schriftsteller und ihre Familien vergeben werden, unter Formen, die keine persönliche Empfindlichkeit aufkommen ließen. Diese plebiszitäre Gegenakademie kam nie zustande. Sainte-Beuve hat einmal das Versagen der bestehenden Akademie auf dem Gebiet der Geschmackslenkung aus der Tatsache erklärt, daß es an einer fortlaufenden Reihe von Staatsmännern gefehlt habe, die Richelieu ebenbürtig waren. Nun, auch Napoleon III. war kein Richelieu, weder als Staatsmann, noch in seinem Verhältnis zur Literatur. Auch gab es niemand in seiner Nähe, der in diese Lücke eingetreten wäre, denn Prinz Napoleon und Prinzessin Mathilde bildeten doch immer nur eine Art von Opposition im Schoß der kaiserlichen Familie. Sainte-Beuve fällte in seinen letzten Veröffentlichungen über das Verhalten des kaiserlichen Regiments zum literarischen Leben ein absprechendes Urteil von größter Schärfe. Vergebens hatte er gewarnt, man hatte die Opposition der studierenden Jugend, der Akademie, der Künstler und Schriftsteller mit Hochmut übergangen. Jetzt war die Autorität vertan, und es schien Sainte-Beuve zweifelhaft, ob der Versuch eines liberalen Empire gelingen werde. In den letzten Jahren seines Lebens ergriff Sainte-Beuve dreimal die Gelegenheit, von der Tribüne des Senats aus zu Grundfragen der Kulturpolitik zu sprechen. Dreimal ging es im Grunde um dasselbe 250
Problem der Meinungsfreiheit. In einer Petition an den Senat war die Ausschließung bestimmter Autoren wie Rousseau, Proudhon, Renan, George Sand aus den Volksbüchereien verlangt worden. Sainte-Beuve sprach gegen diesen Antrag. Er wollte es nicht rechtfertigen, daß man unerfahrenen. Lesern bedenkliche Lektüre in die Hand gab, aber er wandte sich gegen die amtliche Mißbilligung einzelner Autoren, die ihm als ein Gegenstück zu dem Index verbotener Bücher in der katholischen Kirche erschien. Ein solches Verfahren widersprach der Schulpolitik des Staates. Man konnte nicht darauf hinarbeiten, daß alle lesen und schreiben lernten, zugleich aber dem Volke sagen: Dies darfst du lesen, jenes nicht. Auch fehlte die Stabilität der Zustände, die für eine solche Kulturpolitik die notwendige Voraussetzung bildete. Es kann geschehen, daß die Verfemten des Abends die angesehensten Leute der nächsten Frühe sind. Gegenüber einem Staat, der sich immer mehr säkularisierte, forderte die katholische Kirche seit 1848 die Unterrichtsfreiheit, die ihr ermöglichen sollte, ein kirchliches Schulwesen auszubauen. Durch das Unterrichtsgesetz Falloux war ihr diese Forderung grundsätzlich gewährt worden, es handelte sich aber weiterhin um den Ausbau und die Berechtigungen dieses freien Schulwesens. Sainte-Beuve, der sich damals in seiner "ausgesprochen antiklerikalen Periode befand, erhob Bedenken. Er war bereit, die Freiheit des Unterrichts zuzugestehen, fand aber, daß die Kirche tatsächlich eine privilegierte Körperschaft darstellte, die darüber hinaus nach einer geistigen Herrschaft über den Staat strebte. Seine Rede erweiterte sich so zu einer Behandlung der Frage, wie der Staat sich gegenüber den Ansprüchen der Religionsgemeinschaften verhalten sollte. Unter Berufung auf das Beispiel Friedrichs des Großen und Napoleons I. verlangte er von dem Staat religiöse Neutralität. Die beste Haltung sah er für ihn in einer überlegenen und wohlwollenden Glaubenslosigkeit. Die Verhandlung im Senat, in deren Verlauf Sainte-Beuve sprach, war durch Angriffe gegen die medizinischen Fakultäten veranlaßt worden. Hier war es, wo der Kritiker mit vollem Nachdruck für die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung eintrat. Aufgabe des Forschers war es, in strenger Befolgung der Vorschriften seines wissenschaftlichen Gewissens die Tatsachen zu verarbeiten, die sich ihm aus Beobachtung und Experiment ergaben. Die religiösen und philosophischen Folgerungen waren persönliche Angelegenheit jedes einzelnen. Sainte-Beuve berief sich auf das Beispiel des großen Mediziners Claude Bernard und dessen Erklärung, daß er Spiritualismus und Materialismus vor der Tür des Laboratoriums lasse, um nur zu beobachten und zu experimentieren. Die politisch wichtigste Rede aber, die er als Senator des zweiten Kaiserreichs hielt, war die 251
über das Pressegesetz von 1868. Sie bietet auch ein biographisches Problem. Napoleon, der zu Anfang seiner Regierung die Presse den schärfsten Beschränkungen unterworfen hatte, gab zu Beginn des Jahres 1867 selbst den Anstoß zu einem neuen, liberalen Pressegesetz. Der Kern des Entwurfs, über den der Senat zu beraten hatte, lag in der Bestimmung, daß hinfort jeder Franzose ohne vorherige behördliche Autorisation berechtigt sein sollte, eine Zeitung herauszugeben. Döch blieben, wie bisher, die Strafgerichte für Pressevergehen zuständig, und die angedrohten Strafen wurden zum Teil sogar verschärft. Der Widerstand gegen den Gesetzentwurf wurde von den alten nächsten Helfern des Kaisers unterstützt, die seine liberale Schwenkung nicht verstanden und nur äußerlich mitmachten. Aber schließlich konnten sich die Anhänger des Kaisers nicht selbst über dessen Willensmeinung hinwegsetzen, und so wurde das Gesetz, das den Wünschen der Opposition im wesentlichen entsprach, in der gesetzgebenden Kammer mit allen gegen eine Stimme angenommen. Dann erst kam es zur Stellungnahme vor dem Senat. Sainte-Beuve sprach in längerer Rede für die Annahme des Gesetzes. Er erinnerte die Gegner an das Beispiel der Restaurationszeit. Auch damals waren Versuche zur Herstellung eines vernünftigen verfassungsmäßigen Gleichgewichts im Staate gemacht, aber zum Schaden des Ganzen zu früh aufgegeben worden. Sainte-Beuve spricht also im Sinne der Regierung selbst und warnt sie nur vor ihrer eigenen Schwäche und Uneinigkeit. Die Frage der Freiheit der Presse wird von ihm in ihrer grundsätzlichen Bedeutung gar nicht mehr erörtert, sie ist von vornherein beantwortet. Seine Kritik richtet sich gegen die noch bestehenden Einschränkungen. Er fordert, daß die Gefängnisstrafe für Pressevergehen abgeschafft wird, daß die Geldstrafen gesenkt werden, damit das Kapital sich für die Gründung neuer Zeitungen interessiert, vor allem, daß Pressevergehen der Strafgerichtsbarkeit entzogen und den Schwurgerichten überwiesen werden. Er verwirft einen Artikel des Entwurfs, der die Veröffentlichung von Tatsachen aus dem privaten Leben untersagt, und tritt für den Grundsatz der Öffentlichkeit ein. Um den Preis einiger Leiden, so führt er aus, bringt sie uns Ströme von heilsamer Luft, die alle Fähigkeiten entwickeln. Beschränkt man die Erörterung ernsthafter Gegenstände, so schafft man nur für oberflächliche Zerstreuungen Raum. Eine blühende Literatur ist nur möglich, wenn der Schriftsteller von der Angst vor Gericht und Polizei befreit ist. Sainte