Carl Schmitt. Die Weimarer Jahre. Eine werkanalytische Einführung 9783848753048, 9783845294865


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German Pages 733 [732] Year 2018

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Carl Schmitt. Die Weimarer Jahre. Eine werkanalytische Einführung
 9783848753048, 9783845294865

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Wolfgang A. Mühlhans

Carl Schmitt. Die Weimarer Jahre Eine werkanalytische Einführung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5304-8 (Print) ISBN 978-3-8452-9486-5 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Mutti

Danke

Herzlichst danke ich meiner Frau Barbara, die Hoch- wie Tiefstimmungen des Autors mit beeindruckender Gelassenheit immer wieder „aufgefangen“ hat. Mein Sohn Maximilian hat Unregelmäßigkeiten des technischen Equipments umgehend wieder in die nötige Ordnung gebracht und bei der Literaturbeschaffung geholfen, lieben herzlichen Dank. Ein großes Dankeschön meiner Schwester Jutta Eckert und ihrem Mann Wolfgang, die mich während der entscheidenden Abschlusssemester in Frankfurt am Main so herzlich bei sich aufgenommen haben. Lieben Dank auch meiner Cousine Elke Lugert (M.A.), die wichtige Teile meines Manuskripts gelesen hat und durch kritische Nachfragen und Diskussionen wertvolle Anregungen gab. Besonders danke ich Frau Dr. Sandra Frey vom Nomos-Verlag, die dieses Buch mit ruhiger Hand von der ersten Konzeption bis zur Fertigstellung begleitete und dem Autor die Zeit ließ, die er brauchte. Alle verbliebenen Fehler und Unklarheiten dieses Buches liegen ausschließlich in der Verantwortung des Autors. Uffenheim, im September 2018

Wolfgang A. Mühlhans

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

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Erster Teil: Grundlegungen.

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Erstes Kapitel:

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Schuld und Schuldarten (1910).

I. Der stud. iur. Carl Schmitt: Berlin – München – Straßburg. II. Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung (1910). Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912) I. Referendariat in Düsseldorf (1). II. Gesetz und Urteil (1912). 1. Der staatsrechtliche Positivismus. 1.1. Staatswillenspositivismus. 1.2. Die reine Rechtslehre Hans Kelsens. 1.3. Die politischen Konsequenzen des staatsrechtlichen Positivismus. 2. Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis. 2.1. Vorbemerkungen. 2.2. Das Problem: Wann ist eine richterliche Entscheidung richtig? 2.3. Der Wille des Gesetzes. 2.4. Das Postulat der Rechtsbestimmtheit. 2.5. Die richtige Entscheidung. 2.6. Die Frage nach der Legitimation der legitimierenden Autorität. III. Referendariat in Düsseldorf (2). 1. Ein Dichterfreund: Theodor Däubler. 2. Carita („Cari“) von Dorotic

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Inhaltsverzeichnis

Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur. I. II. III. IV.

Drei Tischgespräche (1911). Der Spiegel (1911). Schattenrisse (1913). Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. 1. Vorbemerkungen. 2. Recht und Macht. 3. Der Staat. 4. Der Einzelne. II. Der Erste Weltkrieg. Kriegsbeginn. III. Referendariat in Düsseldorf (3). 1. Am Rand von Selbstmord und Wahnsinn. 2. Wendepunkte? IV. München zum Zweiten. 1. Beim Militär: Schmitts Kampf an der „Heimatfront“. 2. Antisemitische Gefühle und jüdische Freunde. 3. Erster Weltkrieg und die Bohème Münchens.

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916). „Drei Studien über „die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes“.

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I. Theodor Däublers „Nordlicht“. 1. Historische und ästhetische Elemente. 2. Zur Kritik der Moderne. 2.1. Zu Inhalt und Interpretationsansatz von Däublers „Nordlicht. 2.2. Rathenaus „Zur Kritik der Zeit“. 2.3. Schmitts Kritik der Moderne im „Nordlicht“. 2.4. Antichrist und Apokalypse. II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus. 1. Das Thema des Belagerungszustandes.

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2. Straßburg: Universitäre Weihen. 2.1. Diktatur und Belagerungszustand. 2.2. Franz Blei und die Zeitschrift Summa. Sechstes Kapitel: Politische Romantik. I. Die Kriegsjahre: Fehlurteile und enttäuschte Hoffnungen. 1. Eine kurzer Aufriss des Kriegsverlaufs. 2. Die Politik des Krieges. 3. Der Kriegseintritt der USA und Wilsons 14-Punkte Plan. 4. Offensive, Gegenoffensive und der Zusammenbruch im Westen. 5. Friedensschluss oder Kapitulation: Strategisch-taktische Scheinverhandlungen. 6. „Im Felde unbesiegt“: Zur Genese der Dolchstoßlegende. 7. Novemberrevolution. 8. Revolution und konstitutionelle Bewegung: Das Ringen um die künftige politische Ordnung. II. Politische Romantik (1919). 1. Die Politische Romantik Carl Schmitts und ihr Umfeld. 2. Carl Schmitts Romantikkritik als Selbstinquisition. 3. „Romantik“ vs. „Gegenrevolution“: Schmitts Kritik der „Romantik“ als Kritik des „Liberalismus“. 3.1. Die Politische Romantik als konservativer Grundtypus. 3.2. Politische Romantik: Das Vorwort zur zweiten Auflage von 1925. 3.3. Einleitung (PR 31-49). 3.4. Die äußere Situation (PR 50–76). 3.5. „Die Struktur des romantischen Geistes“ oder „das antimetaphysische Subjekt“ als Prinzip. Der Demiurg der Gesellschaft. 3.6. Der Demiurg der Geschichte: „Die Vergangenheit ist Negation der Gegenwart“ (PR 102). 4. Das subjektive Prinzip der Romantik. 5. Die occasionalistische Struktur der Romantik. 6. Politische Romantik. 8. Schluss (PR 222-228).

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Zweiter Teil: Staat, Politik und Theologie.

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Erstes Kapitel:

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Die Diktatur (1921).

I. Der Versailler Frieden. 1. Ausgestoßen in Versailles. 2. Der Versailler Friedensvertrag. II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921. 1. Die belogene Nation: „Diktatfrieden“, „Kriegsschuldlüge“ und „Dolchstoßlegende“. 1.1. Die „Zäsur-Wahl“ von 1920. 1.2. Reparationsfrage und Teilung Oberschlesiens. 1.3. Erfüllungs- vs. Illusionspolitik. 1.4. Radikalisierung auf der Linken wie der Rechten. II. Nachrevolutionäre Wirrnisse als politischer Stoff. III. Die Diktatur (1921). 1. „Diktatur und Belagerungszustand“ (1916). 2. Zur Werkgeschichte. 3. Die Vorbemerkung zur 1. Auflage von 1921. 4. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre. 4.1. Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie. 4.2. Niccolò Machiavelli. 4.3. Arnold Clapmar. 4.4. Monarchomachen. 4.5. Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Jean Bodin. 5. Die Praxis der fürstlichen Kommissare bis zum 18. Jahrhundert. 6. Der Übergang zur souveränen Diktatur in der Staatslehre des 18. Jahrhunderts. 6.1. Die Kommissare der französischen Zentralregierung und die intermediären Gewalten. 6.2. Die Physiokraten und die Anfänge einer souveränen (Revolutions-) Diktatur bei Gabriel Bonmot de Mably. 6.3. Die Diktatur bei Jean-Jacques Rousseau. 7. Der Begriff der souveränen Diktatur.

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8. Die Diktatur in der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung (Der Belagerungszustand). Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922). I. Ein Karriereintermezzo. 1. Das ungeliebte Greifswald. 2. Erlösung von Greifswald. II. Die Bonner Jahre. 1. Schmitt politisiert sich. 2. Katholizismus als Lebensmaxime. III. Politische Theologie (1922). 1. Politische Theologie: Begriff und Inhalt. 1.1. Zum Begriff der Politischen Theologie. 1.2. Inhalt und Bedeutung. 2. „Definition der Souveränität“. 3. „Das Problem der Souveränität als Problem der Rechtsform und der Entscheidung“. 4. Politische Theologie. 4.1. Säkularisierung und Strukturanalogie. 4.2. Berufstypologie oder Strukturidentität. 4.3. Die Entwicklung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs. 4.3.1. Theismus und Monarchie. 4.3.2. Repräsentations- und Immanenzdenken. 4.3.3. Deismus und konstitutionelle Monarchie. 4.3.4. Sozialismus und Anarchismus. 5. Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution. 6. Katholizismus als politisches Credo. IV. Das Krisenjahr 1923. 1. Szenarium einer Staatskrise. 2. Die Regierung Cuno: Unvorbereitet und ratlos. 3. Scherben einer Ehe. Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923). I. Einführung.

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II. Römischer Katholizismus und politische Form. 1. Der antirömische Affekt. 2. Die katholische Kirche als eine complexio oppositorum. 3. Das Prinzip der Repräsentation. 4. Autorität und politische Form. 5. Katholische Kirche und Kapitalismus. 6. Autorität und Anarchismus. III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts. 1. Der Großinquisitor Dostojewskijs. 1.1. Einführung. 1.2. Die Figur des Großinquisitors in Dostojewskijs Roman Die Brüder Karamasow. 2. Der Katholizismus des Carl Schmitt. 2.1. Der Katholik. 2.2. Carl Schmitt, Donoso Cortez und die spanische Inquisition. 2.3. Der Großinquisitor in den Schriften Carl Schmitts. 2.4. Die drei Fragen des Versuchers. 2.5. Apokalyptische Geschichtsphilosophie: der Katechon. 2.5.1. Der theologische Hintergrund. 2.5.2. Das katechontische Geschichtsdenken Carl Schmitts. 2.5.3. Antichrist und Apokalyptik. 2.6. Anthropologisches Glaubensbekenntnis und das Dogma der Erbsünde. 2.6.1. Die Natur des Menschen: böse oder gut? 2.6.2. Das Dogma von der Erbsünde. 2.6.3. Die Instrumentalisierung der Kirche zum Kampf gegen den Anarchismus. 2.6.4. Carl Schmitt, der französische Katholizismus, Charles Maurras und die Action française. 2.6.4.1. Renouveau Catholique. 2.6.4.2. Action française und Charles Maurras.

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Dritter Teil: Im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles.

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Erstes Kapitel:

München vor dem Putsch.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923).

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I. Einführung und Werkgeschichte. II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie). 1. Grundprinzipien des Parlamentarismus: Öffentlichkeit und Diskussion. 2. Parlamentarismus, Liberalismus und Demokratie: Demokratie als Identität. 3. Einleitung. 4. Demokratie und Parlamentarismus. 5. Die Prinzipien des Parlamentarismus. 5.1. Die öffentliche Diskussion. 5.2. Die Öffentlichkeit der Meinung. 5.3. Die Teilung (Balancierung) der Gewalten. 6. Die Diktatur im marxistischen Denken. 6.1. Die Wissenschaftlichkeit des Marxismus ist Metaphysik. 6.2. Diktatur und dialektische Entwicklung. 7. Irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung. 7.1. Sorel und die Entdeckung des Mythos. 7.2. Die Energie des Nationalen. 8. Resümee. Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen. I. Die Regierung Stresemann: Wege aus der Krise. II. Das Völkerrecht in Weimar. 1. Das Völkerrecht der Zwischenkriegszeit in Deutschland. 2. Biographische und werkgeschichtliche Vorbemerkungen. 3. Carl Schmitts völkerrechtliche Grundposition.

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III. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925). Rede gehalten zur Jahrtausendfeier der Rheinlande in Köln am 14. April 1925. 1. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik. 2. Die moralisierende „pacta-sunt-servanda“-These. IV. Der Genfer Völkerbund. 1. Der Genfer Völkerbund: Werkgeschichtliche Vorbemerkungen. 2. „Die Kernfrage des Völkerbundes“. 2.1. Die Ausgangsfrage. 2.2. Die Garantie gegen gewaltsame Gebietsänderungen. 2.3. Homogenität. 2.4. Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes. 3. Völkerbund und Vereinigte Staaten von Amerika. 4. Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1932). Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung der Weimarer Republik 1924-1929. 1. Sozial- und innenpolitische Folgen der Stabilisierung. 2. Außenpolitische Folgen der Stabilisierung. 3. Außenpolitische Wegmarken: „Nationale Revisionspolitik als internationale Versöhnungspolitik“. 4. Der Young-Plan als Motor der Republikfeinde: Kooperation von NSDAP und DVP. Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928). I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung. 1. Konstitutionelle Monarchie und Rechtsstaat. 2. Verfassungsänderungen und Staatsrechtslehre im Krieg. 3. Die Gültigkeit der neuen Verfassung und ihre Legitimität. 4. Die „geistesgeschichtliche Wende“ der Staatsrechtswissenschaft und der „Methodenstreit“. II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts. 1. Einführung.

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2. Die Verfassungsbegriffe. 2.1. Absoluter und relativer Verfassungsbegriff. 2.2. Der positive Verfassungsbegriff. 2.2.1. Staat und Verfassung und die Verfassung als Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt. 2.2.2. Rechtsbindung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt. 2.2.3. Die materiellen Schranken der Verfassungsrevision. 2.2.3.1. Die Verfassung als Kompromiss (Verfassungsgesetze). 2.2.3.2. Inhalte der positiven Verfassung. 2.2.3.3. Rechtsfolgen der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz. 3. Der bürgerliche Rechtsstaat. 3.1. Die rechtsstaatlich-unpolitischen Bestandteile der Verfassung. 3.2. Die Gewaltenunterscheidung. 4. Das allgemeine Gesetz. 4.1. Formelles und materielles Gesetz. 4.2. Das rechtstaatliche Gesetz. 4.3. Der politische Gesetzesbegriff. 5. Die Grundrechte. 5.1. Verteilungsprinzip und Eingriffsabwehr. 5.2. Rechte des Einzelnen in Verbindung mit anderen Einzelnen. 5.3. Demokratische Staatsbürgerrechte. 5.4. Soziale Leistungsrechte. 5.5. Institutionelle Garantien. 5.5.1. Schutz von Verfassungsnormen gegen den Gesetzgeber. 5.5.2. Besonderheiten der Eigentumsgarantie. 6. Bürgerlicher Rechtsstaat und politische Form. 6.1. Die Verfassung des modernen bürgerlichen Rechtsstaats ist immer eine gemischte Verfassung. 6.2. Zwei Prinzipien politischer Form: Repräsentation und Identität.

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7. Das Urphänomen der Demokratie: Die Akklamation. 7.1. Volk und Akklamation. 7.2. Öffentliche Meinung als moderne Akklamation. 8. Schluss. Vierter Teil: Entscheidung für den starken Staat. Erstes Kapitel:

Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).

I. Der Weg in den Brennpunkt: Berlin. 1. Carl Schmitts Bemühungen um einen Ruf nach Berlin. 2. Das historische Umfeld. 2.1. Das Parlament entmachtet sich: das Ende der Regierung Marx. 2.2. Die Auflösung des Parteienstaates beschleunigt sich. 2.3. Ein Ausblick. II. Der Begriff des Politischen (1927,1932, 1933). 1. Das politische Zentrum im staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts. 2. Der Begriff des Politischen: Inhalt und Bedeutung. 2.1. Begriff des Staates. „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“ (BP 20). 2.2. Freund-Feind-These. „Die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“ (BP 26). 2.3. Qualifizierung als politischer Gegensatz. „Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ (BP 37). 2.4. Krieg als Extrem der Feindschaft. „Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ (BP 33).

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2.5. Recht zum Krieg. „Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das ius belli, d.h. die reale Möglichkeit im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen.“ (BP 45) 2.6. Freund-Feind-Bestimmung. „Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, wenn auch nur für den extremsten Fall – über dessen Vorliegen es selbst entscheidet – die Unterscheidung von Freund und Feind selbst bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz.“ (BP 50) 2.7. Pluralismus der Staatenwelt. „Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der Staatenwelt“ (BP 54). 2.8. Politische Anthropologie. „Man könnte alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen ‚von Natur bösen‘ oder einen ‚von Natur guten‘ Menschen voraussetzen“ (BP59). 2.9. Liberalismuskritik. „Durch den Liberalismus des letzten Jahrhunderts sind alle politischen Vorstellungen in einer eigenartigen und systematischen Weise verändert und denaturiert worden“ (BP 68). 3. Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929). 3.1. Geschichtsphilosophie und Kulturverfall. 3.2. Die Stufenlehre der wechselnden Zentralgebiete. 3.3. Das Zeitalter der Technik. 3.4. Kulturuntergang oder Neubeginn? 3.5. Der konkrete Feind im Begriff des Politischen. 3.5.1. Liberalismus und Anarchismus. 3.5.2. Der Liberalismus als konkreter Feind.

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre. I. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930). 1. „The discredited state“. 2. Der Kern der pluralistischen Theorie. 3. Kritik des Pluralismus. 4. Umdeutung: Der internationale Pluralismus. 5. Die Pflicht zum Staat. II. Nationaler Widerstand mit der Stimme Jean d’Arcs. III. Die „kommissarische“ Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV. 1. Die Auslegung von Art. 48 Abs. 2 in Die Diktatur (1921). 2. Der Vortrag auf der Staatsrechtlehrertagung in Jena (1924). 2.1. Die Lehre von der Unantastbarkeit der Reichsverfassung. 2.2. Carl Schmitts Kritik der Unantastbarkeitslehre. 2.3. Die staatstheoretische Qualifikation der Diktatur. 2.4. Die Grenzen der Diktaturbefugnis. 2.5. Der Begriff der Maßnahme in Art. 48 WRV. 3. Gesetzvertretende Notverordnungen und finanzrechtliche Gesetzesvorbehalte. 3.1. Machtpolitische Defizite der Lehre Schmitts. 3.2. Das „Hinzutreten“ des gesetzesvertretenden Verordnungsrechts. 3.3. Beseitigung der diktaturfesten Gesetzesvorbehalte der Finanzverfassung. Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette. 1. Flügel-Antagonismen und SPD-Versagen? 2. Die Regierung Brüning und der Übergang zur Präsidialregierung. I. Der Hüter der Verfassung (1931). 1. Einführung. 2. Der Streit um das richterliche Prüfungsrecht. 2.1. Zum Streitgegenstand. 2.2. Die Position Carl Schmitts.

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3. Die Debatte um die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. 3.1. Richterliches Prüfungsrecht oder Verfassungsgericht. 3.2. Die Position Kelsens anhand der Staatsrechtslehrertagung 1928 in Wien. 4. Die Justiz als Hüter der Verfassung 4.1. Das Vorwort vom März 1931. 4.2. Einleitende Übersicht über verschiedene Arten und Möglichkeiten des Verfassungsschutzes. 4.3.1. Funktionswandel der Verfassung. 4.3.2. Politisierung der Justiz. 4.3.3. Subsumtion und Dezision: Der Eigenwert der juristischen Entscheidung. 4.3.4. Die Position Hans Kelsens. 4.4. Der Reichspräsident als „Hüter der Verfassung“ – „pouvoir neutre et intermédiaire“. 5. Die konkrete Verfassungslage der Gegenwart. 5.1. Pluralismus, Polykratie und Föderalismus. 5.1.1. Entwicklung des Parlaments zum Schauplatz eines pluralistischen Systems. 5.1.1.1. Einführung: Pluralismustheorie. 5.1.1.2. Pluralismus im Hüter der Verfassung. 5.1.1.3. Die Wesensveränderung der Parteien. 5.1.1.4. Der Charakterwandel der Wahl. 5.1.1.5. Der Parteienstaat. 5.2. Die Polykratie in der öffentlichen Wirtschaft. 5.3. Der Föderalismus. 5.4. Abhilfen und Gegenbewegungen. 5.4.1. Versuche einer Wirtschaftsverfassung. 5.4.2. Das Problem der innerpolitischen Neutralität im pluralistischen Parteienstaat. 5.4.3. Unzulänglichkeiten der meisten Neutralisierungen und Entpolitisierungen. 5.4.4. Das Vorgehen der verfassungsmäßigen Regierung nach Art. 48 WRV. Die Entwicklung vom militärisch-politischen zum wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustand. 5.4.4.1. Krisensteuerung mit Art. 48 WRV.

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5.4.4.2. Zur verfassungsrechtlichen Entwicklung des Art. 48 WRV. 5.4.4.3. Das Verhältnis von Gesetzesvorbehalt und Verordnung. 5.4.4.4. Aushebelung der Kontrollfunktion des Parlaments? 5.4.4.5. Ablehnung aus verfassungsgeschichtlichen Erwägungen. 6. Der Reichspräsident als Hüter der Verfassung. 6.1. Die staatsrechtliche Lehre von der „neutralen Gewalt“ (pouvoir neutre). 6.2. Die besondere Bedeutung der „neutralen Gewalt“ im pluralistischen Parteienstaat, dargelegt am Beispiel des staatlichen Schlichters von Arbeitsstreitigkeiten. 6.3. Das Beamtentum und die verschiedenen Möglichkeiten einer „Unabhängigkeit“ vom pluralistischen Parteienstaat. 6.4. Die demokratische Grundlage der Stellung des Reichspräsidenten. II. Die Septemberwahl 1930 und der Funktionsverlust des Reichstags. 1. Die Katastrophenwahl vom 14. September 1930. 2. Tolerierung der Präsidialregierung Brüning: Zerreißprobe für die SPD. 3. Bemerkungen zur Weltwirtschaftskrise aus deutscher Sicht. III. Der Sturz Brünings und das Präsidialregime v. Papen. 1. Der Sturz Brünings. 2. Die Ernennung v. Papens zum Reichskanzler. 3. Die Reichstagswahl vom 31.7.1932 und die Verhandlungen Hitler-Schleicher/Hindenburg. IV. Legalität und Legitimität. (1932) 1. Zur Werkgeschichte 2. Die Einleitung zu Legalität und Legitimität. 2.1. Der Gesetzgebungsstaat. 2.2. Der Jurisdiktionsstaat. 2.3. Der Regierungsstaat. 22

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2.4. Der Verwaltungsstaat. 3. Die Legalität. 4. Die Legitimität. 5. Das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates. 5.1. Gesetzgebungsstaat und Gesetzesbegriff. 5.2. Legalität und die gleiche Chance politischer Machtgewinnung. 6. Die drei außerordentlichen Gesetzgeber der Weimarer Verfassung. 6.1. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione materiae; der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung als eine zweite Verfassung (LuL 40-61). 6.2. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione supremitatis. Eigentliche Bedeutung: plebiszitäre Legitimität statt gesetzgebungsstaatliche Legalität (LuL 62-69). 6.3. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione necessitatis. Eigentliche Bedeutung: die Maßnahme des Verwaltungsstaates verdrängt das Gesetz des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates (LuL 70-87). 7. Schluss. V. Die Reichsexekution gegen Preußen (der „Preußenschlag“). 1. Der Ablauf des „Preußenschlags“. 2. Die Vorgeschichte. 3. Zum Grundsatz der Diskontinuität. 4. Die Machtprämienlehre Carl Schmitts. 5. Schmitts staatsrechtliche Würdigung des „Preußenschlags“. 6. Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932. VI. Carl Schmitt als Akteur in der Endphase Weimars. 1. In der Nähe der Macht. 2. Staatsnotstandspläne. 3. Die Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland (1933). 4. Eine letzte Chance für die Weimarer Republik? 4.1. Das Präsidialkabinett v. Schleicher 1932/33.

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Inhaltsverzeichnis

4.2. Ausgebotet: „Der alte Herr ist verrückt geworden.“ 5. Sie machen den Weg frei. 6. Abgesang und Neuorientierung. Literaturverzeichnis I. Werke Carl Schmitts mit Siglen. II. Sekundärliteratur.

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„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitsbestimmungen“. Antonio Gramsci1 „Alle großen Revolutionen der Geschichte haben nichts anderes getan, als eine Entwicklung in die Tat umzusetzen, die sich zuvor schon unterschwellig in den Geistern vollzogen hatte. Man kann keinen Lenin haben, bevor man einen Marx hatte. Dies ist die Revanche der Theoretiker – die nur scheinbar die großen Verlierer der Geschichte sind.“ Alain de Benoist2. „Wenn Sie mehr als 30 Jahre eine erfolgreiche liberale Revolution haben, kommt fast zwangsläufig die Gegenrevolution. Aber wir haben auch manches falsch gemacht. (…) Wir haben das Bedürfnis der Menschen nach Gemeinschaft und Identität vernachlässigt, das sieht man in der Migrations- und Islamdebatte. Und wir haben Solidarität und Gleichheit vernachlässigt (…).“ Timothy Garton Ash.3

Carl Schmitt, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 130sten Male jährt, gilt als der umstrittenste deutsche Jurist des 20. Jahrhunderts, als Staatsdenker im Range eines Thomas Hobbes, als Klassiker des politi-

1 Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Hamburg 1991. S. 354. 2 Alain de Benoist (2017): Kulturrevolution von rechts. Buchdeckel (Rückseite). Das vollständige Zitat setzt sich fort: „Eines der Dramen der Rechten ist ihre Unfähigkeit, die Notwendigkeit zu begreifen, daß auf lange Frist geplant werden muß.“ De Benoist ist ein französischer Publizist und Philosoph und gilt als maßgeblicher Vordenker der Neuen Rechten. In seinem Buch Kulturrevolution von rechts befasst sich Benoist ausführlich mit den Schriften des italienischen Marxisten Antonio Gramsci. 3 Ash (2018).

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Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

schen Denkens schon zu Lebzeiten4, als Zuhälter der Gewalt5, als staatsrechtlicher Diabolus6, als Kronjurist des Dritten Reiches7: „In jedem Fall ist Schmitt ein teuflisch interessanter Denker“.8 Die moralische Verurteilung Schmitts nach 1945 wegen dessen Wirken im Nationalsozialismus vor allem von 1933 bis 1936 wurde gleichsam staatsoffiziell geadelt, auch wenn ihre Verbalisierung durch den damaligen Bundepräsidenten Theodor Heuss, der als Abgeordneter dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zugestimmt hatte, einen gewissen Beigeschmack hinterlässt.9 Die Liste negativer Urteile über Schmitt ließe sich fortsetzen. Wir versuchen, in dieser Schrift den Grundsatz walten zu lassen: Audiatur et altera pars. Wer über Carl Schmitt schreibt, begibt sich gleichwohl noch immer auf vermintes Terrain und die Befassung mit diesem schillernden Autor, brillanten Analytiker und scharfen Polemiker10 kann zu einem Entdeckungsverfahren mit ungewissem Ausgang werden. Zwar hat es den Anschein, als ob sich die Diskussion über Schmitt – auch wegen der stetig zunehmenden internationalen Rezeption11 – versachlicht hätte. Und gewiss mag es heute leichter sein, zwischen Schmitts theoretischen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen und ihren Anwendungen in der politischen Praxis durch Dritte zu trennen. Aber es wird wohl eine grundsätzliche Frage bleiben, wie – vielleicht sogar ob – sich ein Diskurs über diesen oft mehrdeutigen Denker und rätselhaften Menschen versachlicht überhaupt führen lässt. Denn schwerlich lässt sich verneinen, dass Schmitts immer noch rätselhafte zwölfjährige Phase im Nationalsozialismus eine nüchterne und sachliche Befassung mit seinem Werk mindestens erschwert. Ob ihm der vernichtende Titel eines „Kronjuristen“12 des Nationalsozialismus zuzuweisen ist, wird mit guten Gründen bejaht wie mit guten Gründen ver-

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Bernhard Willms. Cristian Graf von Krockow. Kurt Sontheimer. Waldemar Gurian. Ottmann (2010, S. 215). Siehe ebd. Schmitt setzte sich mit einem Gedicht gegen die öffentliche Verfemung zur Wehr: „Ich bin fürwahr ein alter Mann/mich spucken Präsidenten an./Alt-Bundes-Präsidenten./Und nicht nur in dem alten Bund,/Nein, auch im Allerneuesten Bund/bin ich nur noch ein toter Hund/Für alle Prominenten“ (zit. n. Ottmann 2010, S. 215-216). 10 So Voigt (2015, S. 303). 11 Siehe die Publikationsliste der Carl-Schmitt-Gesellschaft (www.carl-schmitt.de). 12 Waldemar Gurian (1934).

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neint.13 Fest steht, dass Carl Schmitt in dem hier behandelten Zeitraum seines Lebens nach unserer Meinung vor 1933 kein Nationalsozialist war und den Nationalsozialismus auch nicht herbeigeschrieben hat.14 Fest steht aber auch, dass Schmitt nach 1945 selbst nichts zu seiner Entnazifizierung beigetragen hat – von Einsicht, Reue und Entschuldigung für die schrecklichen Jahre 1933 bis 1945 findet sich keine Spur.15 Durchaus möglich erscheint uns, dass sich Carl Schmitt selbst nie als einen Nationalsozialisten gesehen hat, und wenn doch, dann jedenfalls intellektuell weit über dem gemeinen Nationalsozialismus stehend. * An Carl Schmitts Denken und Schriften führte schon zu seinen Lebzeiten rasch kein Weg mehr vorbei, sein Tod im Jahr 1985 aber hatte eine regelrechte und anhaltende Schmitt-Renaissance zur Folge16. Carl Schmitt verfüge heute, so Stefan Breuer, „über eine so breite und stets wachsende internationale Leserschaft wie kein anderer deutscher Staatsrechtslehrer des vergangenen Jahrhunderts. Das dürfte nicht zum wenigsten an seinem ausgeprägten Sensorium für die neuralgischen Punkte des staatsrechtlichen Diskurses der Moderne liegen (…).17

Genannt seien an dieser Stelle nur: die Krise des modernen kontinentaleuropäischen Nationalstaates und der zunehmend antagonistische Charakter von Krisenlagen, die nur noch eine Freund-Feind-Unterscheidung zulassen.18 Schmitts Denken im „Interregnum“ zwischen den beiden Weltkriegen mit seinen „unterschiedlichen Krankheitsbestimmungen“19 und folglich alternativen Heilmethoden oszillierte dabei um die Pole „Souveränität“, „Ausnahmezustand“, „Aushöhlung des Staates“ und „Bürgerkrieg“. Sein Denken orientierte sich dabei häufig am Ausnahmefall:

13 Schmitt war nach 1936 im Dritten Reich weitgehend „kaltgestellt“. 14 Noch am 19 Juli 1932 schreibt Schmitt in einem Beitrag für das Sprachrohr Schleichers, die Tägliche Rundschau: „Wer den Nationalsozialisten am 31 Juli die Mehrheit verschafft, obwohl er nicht Nationalsozialist ist und in dieser Partei nur das kleinere Übel sieht, der handelt töricht. (…) Er liefert Deutschland dieser Gruppe völlig aus“ (zit. n. Noack 1993, S. 181). Weitere Belege für diese These finden sich im Hauptteil dieser Arbeit. 15 Dadurch verzichtete Schmitt zunächst sogar auf seine ihm zustehende Pension (Voigt 2015, S. 291 f.). 16 So Brodocz (2002, S. 281-316; hier 283 mit weiteren Nachweisen). 17 Breuer (2012, S. 7). 18 Ebd., mit Benennung weiterer neuralgischer Problempunkte. 19 Siehe das dem Vorwort vorangestellte Gramsci-Zitat.

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Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

„Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik" (PT 21).

Schmitt denke dabei oft, so Günter Maschke, in „etwas gewaltsamer Konsequenzlogik bis an den äußersten Punkt, an die extreme Möglichkeit eines Gedankens, in dem das ‚Wesen‘ der Sache erkennbar wird“, also analog zu der Bedeutung des Ausnahmezustands in seinen frühesten Schriften.20 Carl Schmitt lebte und erlebte die verschiedensten „Ausnahmezustände“. Allein in der kurzen Spanne zwischen dem Ende der parlamentarischen Regierungen und der Machtübernahme der Nationalsozialisten von 1930–1933 herrschte während der Präsidialregime Brüning, Papen, Schleicher ein eigentlich permanenter Ausnahmezustand.21 Der Bürgerkrieg, die Entfriedung des Staates im Inneren, war Schmitts Horrorszenario, verliere doch mit der Auflösung des Normalzustandes, des Zustandes der Ordnung, das Recht seine Geltungsgrundlage. Das hatte er am Anfang der Weimarer Republik im revolutionären München erleben müssen und hat es umgehend in der großen Monographie Die Diktatur verarbeitet. Die vorübergehend errichtete „kommissarische“ Diktatur war ihm von da ab ein probates Mittel für die Rückkehr zum Normalzustand. Schonungslos, polemisch und manchmal auch überspitzt arbeitete Schmitt die Schwachpunkte der konstitutionellen Ordnung der Weimarer Republik ab, stellvertretend auch „für die Deformation der demokratischen Tradition durch das Denken des modernen Liberalismus“.22 Volker Neumann formuliert diesen Tatbestand äußerst prägnant: „C. Schmitt war einer der schärfsten Kritiker der Weimarer Republik (…). Ironischerweise hätte es jedoch der Republik vielleicht das Überleben ermöglicht, hätten ihre Vertreter eine Lehre Schmitts beherzigt und die Staatsform selbst – wie heute im Grundgesetz – nicht bloßer Mehrheitsentscheidung anheimgestellt“.23

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Maschke (2012, S. 179). Voigt (2015 c, S. 7). Flickinger (1990, S. 4). Neumann (1985, S. 305).

Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

In diesem Kontext sollte ein Zitat Joseph Goebbels vom 5.2.1931 im Reichstag nicht unerwähnt bleiben: „(…) nach der Verfassung sind wir nur verpflichtet zur Legalität des Weges. Wir wollen legal die Macht erobern. Aber was wir mit dieser Macht einmal, wenn wir sie besitzen, anfangen werden, das ist unsere Sache“.24

Diese zwei Zitate umrahmen die ganze Problematik von Schmitts Weimarer Endschrift Legalität und Legitimität (1932). * Carl Schmitt wurde am 11. Juni 1888 im sog. Drei-Kaiser-Jahr im sauerländischen Plettenberg geboren. In seinem Jahrhundertleben – Schmitt starb am Ostersonntag des 7. April 1985 im Alter von 97 Jahren – suchte, fand und verlor und fand er immer wieder die tragende Ordnung: den Wilhelminischen Rechtsstaat, die katholische Kirche, die parlamentarische Republik und das Präsidialsystem Weimars und „die juristisch-institutionelle Sinngebung im Nationalsozialismus“.25 Schmitt studierte von 1907 bis 1910 in Berlin, München und Straßburg, wo er bei Fritz van Calcer promovierte. Nach der Referendarzeit in Düsseldorf wird er 1915 Assessor und dient während des Krieges als Freiwilliger mit Angst und Abscheu vor dem Militär in der Münchner Militärverwaltung. Daneben bleibt er bis zur Schließung der deutschen Straßburger Universität, an der er sich 1916 auch habilitiert hatte, Privatdozent. Nach einer kurzen Dozentur an der Handelshochschule München wird er Professor in Greifswald, wechselt von 1921 bis 1928 – seiner wohl fruchtbasten Zeit – nach Bonn. Anschließend begnügt er sich 1928 bis 1933 mit einer Professur an der Handelshochschule Berlin, weil ihm die Hauptstadt einen näheren Zugang zum Machthaber bietet. Während der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 lehrt er an der Universität Berlin, um nach 1945 seine akademische Laufbahn für immer beendet zu sehen. Ein Leben, das beinahe durch die ganze deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts „hindurchgegangen“ ist, kann schwerlich ein normales gewesen sein. Die verdienstvolle, nicht zu überschätzende Publikation der Tagebücher gewährt heute neue Einsichten, die zeigen, „wie radikal, antibürgerlich und chaotisch Schmitt dachte“.26 Dass Schmitt am Ende seines langen Lebens von Halluzinationen und Verfolgungswahn gequält wurde, er-

24 Goebbels, zit. in Hennig (1990, S. 133). 25 Mehring (2009, S. 15). 26 Mehring (2017, S. 354).

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scheint da fast schon als Zwangsläufigkeit eines wechselvollen, von extremen Höhen wie Tiefen gezeichneten Lebens. In der Zeit der Weimarer Republik verfasste er seine bedeutensten Schriften: Politische Romantik (1919; 1925), Die Diktatur (1921), Politische Theologie (1922), Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), Der Begriff des Politischen (1927; 1932; 1933), Verfassungslehre (1928), Der Hüter der Verfassung (1931) sowie Legalität und Legitimität (1932). * Betrachtet man mit Mehring die Verfassungslehre (1928) als theoretische Summe, Substanz und Quintessenz von Schmitts Schaffen, die insbesondere ohne die Vorarbeiten Politische Theologie, Die Diktatur und die Parlamentarismus-Schrift so nicht möglich gewesen wäre, kann man Schmitt auch als einen Analytiker staatlicher Transformation lesen, der von historischen Fällen unabhängig ist: „Er interessiert dann als Kritiker des ‚bürgerlichen Rechtsstaats‘, Analytiker der Selbstauflösung und Transformation einer liberalen und demokratischen Verfassung in das ‚autoritäre‘ Präsidialsystem und den ‚totalen Staat‘ nationalsozialistischer Diktatur“.27

Carl Schmitt ist vornehmlich als Jurist, Professor für öffentliches Recht und hier insbesondere für Staats-, Verfassungs- und Völkerrecht bekannt, der zu seinem Forschungsgegenstand zahlreiche juristische Schriften verfasst hat. Dabei bewegte er sich keineswegs nur in den Grenzen seines Fachs, auch wenn, schränkt Mehring ein, sein Werk fachliche Identität und „Substanz“ vor allem in der Rechtswissenschaft habe.28 Auch Schmitt selbst verstand sich primär immer als Jurist, der sich aber, wie zu zeigen ist, zunehmend politisierte.29 Als Verfassungsrechtler kritisierte er den juristischen Positivismus und Normativismus, bestand auf metajuristischen Begründungen des Rechts wie auch der Rechtsauslegung und thematisierte die politischen und in zunehmendem Maße auch die religiös-theologischen Geltungsvoraussetzungen des Rechts.30 Aber Schmitts wissenschaftliches Interesse galt über die Rechtswissenschaften hinaus auch Themen der Politikwissenschaft, der Soziologie, der

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Mehring (2017, S. 359). Mehring (2017, S. 364). Voigt (2015, S. 289). Mehring (2011, S. 143).

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Philosophie und Theologie, ja sogar der Literaturwissenschaft. So versuchte sich Schmitt selbst als Literaturkritiker und als Literat, der auch feuilletonistische und zeitkritische Texte publizierte. Helmut Quaritsch ist zuzustimmen, wenn er bemerkt, „in den Nachbarwissenschaften wurzelt Carl Schmitts zweite wissenschaftliche Existenz.“31 Schmitts fachübergreifende Schriften werden wegen ihres Scharfsinns und ihres geschliffenen Stils teils sehr hoch, von anderen überwiegend als polemisch, antiparlamentarisch und antidemokratisch – vor allem wegen Schmitts Wirken im Nationalsozialismus – eingeschätzt. Hans-Georg Flickinger fasst diesen Zwiespalt so: „Schon zu Lebzeiten war Carl Schmitt ein Mythos. Die Brillanz, auch die rhetorische, seiner Analysen kontrastiert mit seiner, wenn auch zeitlich begrenzten, Teilhabe an den nationalsozialistischen Überzeugungen. Seine Fähigkeit, mit Begriffen Sachverhalte und Entwicklungslinien zu identifizieren und einzukleiden, scheint in unaufhebbarem Widerspruch zu der Blindheit zu stehen, die seine Parteinahme für Volk und Führer zuließ“.32

Schmitts Schriften wurden bei Juristen, Philosophen, Theologen, Historikern, Soziologen und Politikwissenschaftlern schnell rezipiert. Spätestens mit dem Erscheinen seiner Verfassungslehre (1928), kritisch vor allem gegenüber dem juristischen Positivismus und Normativismus, war man sich im Fach sicher, „es mit einem bedeutenden Kopf zu tun zu haben“, dessen verfassungsrechtlichen Ableitungen man zum Teil aber misstraute.33 Was Schmitt so lesenswert und interessant macht, ist neben seiner rhetorischen und ästhetischen Sprache34 die Einbettung der juristischen Methode in einen weiten geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorierahmen:35 „Die hohen theoretischen und systematischen Ansprüche machen Schmitt als ‚Klassiker‘ attraktiv“.36 Ein weiteres Faszinosum der Arbeiten Schmitts sei, dass er wie kein anderer Staatsrechtler die Kunst beherrschte, „Situationen, Konfliktlagen und Entwicklungen zum Begriff zu bringen“.37 Carl Schmitt in seine einzelnen Wissenschaftsgebiete gleichsam aufzuspalten und isoliert zu betrachten, seine schriftstellerischen Versuche ein-

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Quaritsch (1991, S. 11). Flickinger (1990, S. 1). So Stolleis (2002, S. 179). Zu Schmitts Rhetorik siehe Mehring (2011, S. 110-114). Vgl. Mehring (2017, S. 366). Ebd. Hofmann (1964, S. 7).

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mal ausgenommen, wäre nicht nur problematisch wenn nicht unmöglich, sondern würde „Schmitt“ wohl auch verfälschen:38 „(…) die spannendsten Fragestellungen ergäben sich vielmehr erst dem, der bereit sei, sich auf den breiten Horizont des Schmittschen Denkens einzulassen und dessen vielfältige Wurzeln, Verweisungen und daraus erwachsende Perspektiven einzubeziehen. Nur so könnten auch die diesem Denken vorausliegenden Überzeugungen offengelegt werden; Überzeugungen, die manche seiner politischen Positionen in ein neues Licht rückten und auf ihren sachlichen Kern zurückführten“.39

Wer sich näher auf Schmitt einlässt, wird aber auch bemerken, dass er sich in vielen seiner Arbeiten als mehrdeutig präsentiert. Hinzutritt sein Synkretismus, seine frappierend unbefangene Methode, sich der Argumente aus den verschiedensten ideologischen Lagern zu bedienen, nebst seiner notorischen Verschwiegenheit über die Herkunft etlicher dieser Argumente.40 Schon dies lässt Eindeutigkeit im Urteil über den Wissenschaftler Carl Schmitt schwerlich zu.41. Schmitt war schon für die Zeitgenossen in Weimar „am schwierigsten zu verorten“.42 Regulärer Professor für Staatsund Verwaltungsrecht, Völkerrecht und Staatstheorie war er, so trägt Stolleis vor, „von Anfang an auch Essayist und Theoretiker der Politik mit vielfältigen Verbindungen zur literarischen Szene“. Schmitt war ein origineller und widerborstiger, ein scharf bis zynisch formulierender Autor, Debattenredner und er war und blieb ein Außenseiter.43 Viele Freunde macht man sich derart nicht – und trotzdem verstärkte sich seine Anziehungskraft kontinuierlich „durch die ungewöhnliche Art, wie Schmitts Werk sich präsentiert – als eine Mischung aus konträren und letztlich inkompatiblen Typen des Denkens und des Wissens, deren einer sich in der Sphäre der Begriffe, der logischen De-

38 Quaritsch sieht hingegen bei Schmitt ein geistiges Doppelleben, hier der professorale Rechtswissenschaftler, dort der politische Schriftsteller, wobei es der Part des letzteren gewesen sei, der ihn so berühmt wie umstritten gemacht hätte (Quaritsch 1991, S. 12). 39 Flickinger (1990, S. 2). 40 Maschke (2012, S. 183 FN 66). 41 „Ohne Kollegenschelte wird niemand über Carl Schmitt referieren können. Denn jeder Meinung wird sofort eine andere Meinung entgegengestellt, für die sich durchaus Gründe finden ließen“ (Quaritsch 1991, S. 9). 42 Stolleis (2002, S. 178; nachst. Zitat ebd.). 43 Vgl. Voigt (2015 c, S. 8).

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duktion und der diskursiven Erörterung sich bewegt, deren anderer in der Welt der Bilder, der Symbole, der mythischen Narration“.44

Carl Schmitt hat wohl als einziger Staatsrechtler ausgeführt, dass die eigentlichen Kämpfe um die Macht in den Köpfen ausgetragen werden, in der Sphäre der Metaphysik, der Ideen und ihrer großen Bilder verloren oder gewonnen werden.45 Hinzutritt der breite Bildungskanon dieses vielbelesenen Autors, aus dem er schöpft, „die Evokation religiöser und esoterischer Traditionen, die Neigung zur Chiffrierung, dies alles stimuliert immer neue Versuche, den verborgenen Kern, das Kohärenz und Kontinuität stiftende arcanum herauszufinden“.46

So wird das arcanum gesucht in der – neopagan oder katholisch verstandenen – politischen Theologie, im okkasionellen Dezisionismus, im politischen Existenzialismus oder Expressionismus, „in der Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung; im fundamentalistischen Antimodernismus; im Etatismus, Nationalismus, Antisemitismus oder gar, arcanum arcanorum, der Bisexualität“.47

* SchmittsTheorieentwicklung setzte mit der Behandlung grundsätzlicher juristischer Probleme ein.48 In seiner Dissertationsschrift Über Schuld und Schuldarten erörterte er die Unterscheidung und Beziehung von Moral und Recht, in Gesetz und Urteil das Verhältnis von Gesetz und Urteil, indem er fragte, wann denn ein richterliches Urteil richtig sei. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen problematisierte die Unterscheidung des Verhältnisses von Macht und Recht. Mit Beginn der Weimarer Republik setzte die Politisierung Schmitts ein. Die Haltung des Bürgertums – den Bürger sah er vom citoyen zum bourgeois degeneriert – kritisiert er in Politische Romantik, Verfassungsfragen, staatsrechtliche und staatspolitische Erwägungen dominieren in Die Diktatur. An Aufbau wie Ordnung der katholischen Kirche vermisst er in Politische Theologie und Katholizismus und politische Form den liberalen Verfassungsstaat. Alle diese Schriften bestimmten die zeitgenössischen Diskurse mit und sie evo-

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Breuer (2012, S. 7). Siehe auch das einleitende Zitat von Alain de Benoist. Voigt (2015, S. 297.) Ebd. (Herv. im Original). Ebd. (Herv. im Original). Nachst. s. Mehring (2017, S. 356).

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zieren und provozieren noch heute49, wie die anhaltende Flut der Literatur über Carl Schmitt zeigt.50 Das Diktum Helmut Quaritschs, da dem politischen Denker Schmitt die „normativen Haltegriffe“ gefehlt hätten, seien „materiale Grundprägungen“ − Schmitt war für ihn Katholik, Etatist und Nationalist – an ihre Stelle getreten, trifft. Diese Prägungen hätten sein Erkenntnisinteresse ebenso wie seine Lagebeschreibungen und Situationsdeutungen bestimmt. Diese These ist so richtig, wie sie eine vermeintliche Trennschärfe suggeriert, die es so nicht gibt. Carl Schmitt war von allem mit unterschiedlicher Gewichtung – und ganz individuell – immer etwas von allem (s.o.) Als er mit der Politischen Romantik auch gegen seinen eigenen Ästhetizismus anschrieb, blieb er gleichwohl Ästhet51, auch in dem Sinne, Form gegen das Chaos zu stellen – eine Ausprägung seiner Schriften, die bei Schmitt deshalb „stets im Auge zu behalten ist“52. Zudem gehen die vier Grundprägungen auch unterschiedliche Verbindungen ein, wie Quaritsch selbst anhand der katholischen Kirche (Ästhetisches mit dem Katholischen) und des Staates (Ästhetisches mit dem Etatistischen und wohl auch dem Nationalen) aufzeigt. * Die Aktualität Schmitts erweist sich etwa an den Mutationen liberaler Verfassungsstaaten zu „autoritären“, in Putins Russland und Erdogans Türkei, bei Orbans Ungarn und Morawieckis Polen, den generellen Tendenzen der Renationalisierung in der Europäischen Union sowie dem europaweiten Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen. Letzteres mit der Frage, wie homogen muss eine Demokratie sein, anders gewendet, wie viel Heterogenität verträgt eine Demokratie. Zudem gewinnt Schmitts spezifisches Denken mit den Problemen der Spät- bzw. Postdemokratie an Aktualität: „Carl Schmitt kann man – lange vor Lyotard – durchaus als Vordenker der Postmoderne ansehen, der politische Begriffe dekonstruiert hat, um sie zusammenzusetzen. Die Frage ist also nicht fernliegend, inwieweit das Staats-

49 „Die weltweite Wirkung und Publizität ist deshalb ein merkwürdiges Phänomen. Eine Generalerklärung verbietet sich aber offenbar, wenn Schmitt auch in entlegenen Sprachen, Ländern und Kontinenten übersetzt ist und diskutiert wird“ (Mehring 2017, S. 357/358). 50 (…) auch wenn sie in ihrer selektiven, polemischen und thetischen Zuspitzung höchst problematisch [sind]“ (Mehring 2017, S. 357). 51 Voigt (2015 c, S. 8). 52 Ebd.; vorst. vgl. ebd..

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denken Carl Schmitts zum besseren Verständnis unserer heutigen Situation beitragen kann“.53

Die Einteilung der Welt in „Gut“ und Böse“ durch den amerikanischen Präsidenten George W. Bush wurde nicht nur in Deutschland mit Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung aus der Schrift Der Begriff des Politischen in Verbindung gebracht. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben greift in seiner Homo sacer-Reihe – Ausnahmezustand (dt. 2004) – auf Carl Schmitts Begriff der Souveränität aus dessen Politischer Theologie zurück, um unter anderem Reaktionen der USA auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 zu erörtern. Schmitt ist oft und vielfältig interpretiert worden: werkimmanent, zeitgeschichtlich-soziologisch, biographisch und auch seine Tagebücher und Briefwechsel sind mit Gewinn zur Analyse herangezogen worden. Zur Aktualität Schmitts trägt trotz seiner Tabuisierung sicher auch sein intellektueller Einfluss auf die junge Bundesrepublik bei. Beeinflusst von ihm und seinem Denken zeigen sich Juristen und Philosophen wie Ernst Forsthoff, Ernst-Rudolf Huber, Werner Weber, Joseph H. Kaiser, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Roman Schur, Reinhart Koselleck, Christian Meier, Hanno Kesting, Bernard Willms und Hermann Lübbe, aber auch journalistische Intellektuelle wie Rüdiger Altmann und Johannes Groß.54 Robert van Oyen ordnet zusätzlich zu den oben genannten die aus seiner Sicht etatistischen, liberal-konservativen Staatsrechtslehrer Roman Herzog, Hans Herbert von Arnim und Ernst-Wolfgang Böckenförde in die Reihe der Rechts-Schmittianer ein55, eine Ansicht, die man nicht vollinhaltlich und unbedingt teilen muss. Was bei einem als konservativ, weit rechts stehenden und meist als reaktionär eingeschätzten Autor überraschen dürfte, ist, dass sich neben Rechts- auch Links-Schmittianer an seinem Denken geformt haben. „Links“ finden sich Sozialdemokraten, Marxisten und Mitglieder der Frankfurter Schule. Promoviert hat bei Schmitt Otto Kirchheimer, der vor 1933, so Mehring, bereits einen „Links-Schmittianismus“ begründet habe.56 Beeinflusst von Schmitt war der Justiziar der Weimar-SPD, Franz

53 Voigt (2015, S. 9). 54 Siehe mit Details bei Ottmann (2010, S. 216 f.). 55 Siehe Voigt (2015, S. 300). Der spätere Bundespräsident Herzog war wie Böckenförde Richter am Bundesverfassungsgericht und hatte damit auch Deutungshoheit bei der Auslegung des Grundgesetzes. 56 Mehring (2009, S. 197); Voigt (2015, S. 300; nachst. s. ebd.).

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Neumann. Ernst Fraenkel konkurrierte mit Schmitt um den Ruf, Vater des grundgesetzlichen konstruktiven Misstrauensvotums zu sein. Eckard Bolsinger57 hat sogar den politischen Realismus Schmitts mit dem Lenins verglichen. Bekannt ist weiter, dass Walter Benjamin Carl Schmitt als einen großen Anreger geschätzt hat: „Wenn beide auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, so ist doch die Parallelität ihres Denkansatzes festzustellen, die ein gegenseitiges Sich-zurKenntnis-Nehmen fast selbstverständlich macht. Beide sind Gegner eines Denkens in Kompromissen – Benjamin sprach davon, daß Kompromiß Korruption sei – damit auch Gegner des Parlamentarismus, des politischen Liberalismus und des daraus hervorgehenden politischen Systems. Beide sind der Auffassung, daß erst im Ausnahmezustand sich der Geist einer Epoche enthüllt; beide pflegen eine Neigung zum Absoluten und Theologischen“.58

Mehring, so Voigt weiter, zähle auch Ulrich K. Preuß, Ingeborg Maus und Herfried Münkler zu den „Protagonisten eines Links-Schmittianismus“.59 Ellen Kennedy wiederum ordnete auch Jürgen Habermas in diese Reihe.60 Ob diese Bewertungen immer vollkommen zu Recht erfolgen, kann hier nicht erörtert werden. * „Carl Schmitts Schriften entstanden zumeist als Antworten auf Herausforderungen durch konkrete politische Probleme“,61 und auch Schmitt selbst hat seine Schriften historisiert und sie als Reaktionen auf zeitgeschichtliche Problemlagen verortet, die es zu befragen, zu deuten und zu beantworten galt. Insoweit war Schmitt ein über die Fachgrenzen hinaus publizistisch wirkender, öffentlicher politischer Akteur. Deshalb bietet sich für die Interpretation gerade der Schriften Schmitts ein werkbiographischer, sozial-historischer Ansatz an, der es ermöglicht, zu analysieren ohne zu moralisieren und so vor Schwarz-Weiß-Etikettierungen schützen kann, weil er Schmitt konsequent in die Zeit stellt. Mit anderen Worten: Schmitt wird in dieser Schrift zeitgeschichtlich gelesen und analysiert.

57 Eckard Bolsinger: The Autonomy of the Poitical: Carl Schmitt’s and Lenin’s Political Realism (2001). 58 Siehe Noack (1993, S. 113; weiter S. 110-114). Siehe aber auch Mehring (2009, S. 542). 59 Voigt (2015, S. 300). 60 Wir zitieren diese Zuordnungen ohne weitere Prüfung, die wohl einer eigenen Arbeit bedürfte. Siehe zur Beziehung Schmitt – Habermas Günter Maschke (2012, S. 109-154). 61 Mehring (2011, S. 7).

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Ein weiteres: Noack sieht bei Schmitt eine Korrelation zwischen der historischen Lage und seiner persönlichen Balance: „Betrachtet man sein Leben im Überblick, so läßt sich auch zu anderen Zeiten eine Synchronisation seines persönlichen Befindens, seiner Produktion und der politischen ‚Lage‘ nicht übersehen“.62

Auch wenn es dieser Korrelation eines konkreten Gradmessers ermangelt, zeigen doch die nunmehr publizierten Tagebücher, dass Schmitts Schriften von persönlichen Einflüssen keineswegs frei waren. Die vorliegende Arbeit unternimmt auch deshalb den Versuch, die Schriften Carl Schmitts – der sich weitgehend als einen Repräsentanten von Krisenlagen sah63 − in der Zeit ihrer Entstehung historisch und biographisch zu verorten, um sie textnah und ohne den wissenden Blick vom Ende her darzustellen. Sie ist der Versuch, den Denker Carl Schmitt konsequent in seine Zeit zu stellen, der auch als ein Theoretiker des Übergangs und der Grenzziehung zeitlebens ein „seismographisches Gespür für wechselnde Lagen“64 entwickelt hatte.65 Diese Herangehensweise ist nur möglich dank der herausragenden Carl Schmitt-Biographie von Reinhold Mehring und seiner neueren biographischen Forschungsergebnisse.66 Ähnliches gilt für Volker Neumanns epochales Werk Carl Schmitt als Jurist.67 Diese Arbeit geht weiter davon aus, dass ein Autor von dem zeitbedingten intellektuellen Umfeld – freilich unterschiedlich stark – beeinflusst ist, so wie er es subjektiv wahrnimmt, und so, wie jeder Text aus seiner Zeit für seine Zeit spricht.68 „Zugleich war dieses Jahrhundert eines, in dem politische Ideen eine ungewöhnlich wichtige Rolle zu spielen schienen – und zwar in einem solchen Ausmaß, daß die Zeitgenossen sie unmittelbar mit den Katastrophen und Umwälzungen in Verbindung brachten, die sie durchlebten. Dieser Glaube an den

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Noack (1993, S. 65). Auch bei Mehring (2009) findet sich diese Spur. Vgl. Mehring (2017, S. 355). Noack (1993, S. 13; 50). Das bedeutet nicht, dass der Leser eine lückenlose Geschichte der Weimarer Republik und eine lückenlose Biographie Carl Schmitts bis 1933 vorfinden wird. Historische und/oder biographische Ausführungen finden sich, wenn sie nach unserer Auffassung für die Einordnung der Schriften Carl Schmitts erkenntnisfördernd sind. 66 Mehring (2009; 2014; 2017). 67 Neumann (2015). 68 Vgl. Voigt (2015, S. 16; nachst. s. 16 ff.).

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Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

geradezu unermeßlichen Eindruck von Ideen fand sich unabhängig von der politischen Ausrichtung“.69

Zugleich wirken aber Aufnahme und Kritik eines Werkes reflexiv auf den Autor zurück. Auf den Kritiker wie den Interpreten dringen nun allerdings dieselben Kräfte seiner Zeit, von Recht, Politik und Kultur ein: „Das Erscheinungsbild jedes Denkers ändert sich von Epoche zu Epoche; diese Veränderungen wiederum werden in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Lagern unterschiedlich wahrgenommen. Auch die Schlussfolgerungen, die daraus für die Gegenwart gezogen werden, ändern sich – mit den sich wandelnden Rahmenbedingungen – oft ganz erheblich“.70

Der Zeitgeist selbst wird stark durch historische Schlüsselerlebnisse geprägt. Für Schmitt waren solche die revolutionären Nachkriegserlebnisse in München und die Staatskrisen der Jahre 1923 und 1932 mit der anschließenden Machtergreifung der Nationalsozialisten:71 „Carl Schmitts Publikationen von 1919 bis 1932 lassen sich nur vor diesem Hintergrund der Erfahrungen und wissenschaftlichen Strömungen der Weimarer Zeit verstehen, auch wenn und gerade weil seine Thematiken erst in einem epochengebundenen Kontext ihre Brisanz entfalten“.72

* Wollte Schmitt selbst kein die Zukunft antizipierender Prophet sein, sich nicht mehr offensiv mit seinen Einsichten an eine ferne Nachwelt wenden?73 Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Carl Schmitt faszinierte der eigener Legitimation nicht bedürftige Staat, der allein als eine „dämonische Macht“ dazu fähig war, den Ausnahmezustand zu bändigen74, und er läutete dem okzidentalen Staat dennoch das Totenglöckchen. Würde er heute angesichts der Entwicklungen in der Europäischen Union ein kommendes Zeitalter der Renationalisierung und die Wende zu einem neuen starken und womöglich autoritären Nationalstaat diagnostizieren? Der Geschichtswissenschaftler Timothy Garton Ash urteilt: „Nüchternanalytisch ist festzustellen: „Wir leben in einer Zeit der europäischen Desintegration“, und beschreibt diese wie folgt:

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Müller (2018, S. 7/8). Voigt (2015, S. 19/20). Näher dazu Voigt (2015, S. 20 f.). Flickinger (1990, S. 3). So Mehring (2017, S. 356). Stolleis (2002, s. 178).

Vorwort: Fragmente zu einem umstrittenen Intellektuellen.

„Aber es ist ein großer Irrtum zu glauben, was in Polen und Ungarn geschehe, sei weit weg, Osteuropa sei doch nie ganz das Europa der Aufklärung gewesen. Tatsächlich gibt es Ungarn jetzt in Großbritannien, Ungarn ist in Frankreich, überall gibt es genau die gleichen Phänomene. In den Niederlanden, in Österreich und jetzt erst recht in Bayern (…).75

Immer mehr Menschen sehen ihren Wohlfühlisolationismus – ob aus rationalen oder irrationalen Gründen sei hier dahingestellt – vielfältig bedroht. Allzu leicht gerät dabei die Einsicht in Vergessenheit, dass Geschichte sich nicht einfach wiederholt – oder tut sie dies etwa doch? Das Europa Weimars ist nicht das Europa Berlins. Und doch lohnt sich ein vertiefender Blick auf die Schriften Schmitts. „Ein zweiter wichtiger Aspekt der Beschäftigung mit Carl Schmitt muss also im ‚Herauspräparieren‘ solcher Erkenntnisse liegen, die uns helfen, den heutigen Staat zu verstehen“.76

Zu diesem Buch. Die vorliegende Schrift ist so konzipiert, dass die Kapitel einzeln für sich gelesen werden können. Dabei kommt es zu „Wiederholungen“, da Schmitt einzelne Sachverhalte von unterschiedlichen Standpunkten aus immer wieder betrachtet. Das ist auch deshalb in Kauf zu nehmen, um eine Flut von Querverweisen zu vermeiden. Deutlich wird dies z. B. im Kapitel Die Diktatur. Um seine Unterscheidung von „kommissarischer“ und „souveräner Diktatur“ zu erarbeiten, bettet er dieses Anliegen in eine weit ausholende ideengeschichtliche, verfassungsrechtliche, politiktheoretische wie geschichtswissenschaftliche Abhandlung. Das ist „Schmitt“. Wir gehen diesen Weg mit, um Schmitts Arbeit nah am Text nachvollziehen zu können, weil in ihm auch staatstheoretische Institute, theoretische Bausteine und Schlüsselbegriffe wie Souveränität, Repräsentation, Gewaltenteilung, Arcana und pouvoir constituant erörtert werden, die uns immer wieder begegnen werden.

75 Ash (2018). 76 Stolleis (2002, S. 178).

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Erster Teil: Grundlegungen.

Erstes Kapitel: Schuld und Schuldarten (1910). I. Der stud. iur. Carl Schmitt: Berlin – München – Straßburg. „Ich sehe noch, wie ich die Treppen der Humboldt- (damals natürlich noch Friedrich-Wilhelms-) Universität hinaufstieg, mit Hunderten von Menschen. Ich sehe heute noch das Schild vor mit: ‚Juristische Fakultät‘. Ich habe einen Moment überlegt – dann lief ich einfach in die Hürde ‚Juristische Fakultät‘ und blieb da. Ich fand das juristische Studium wunderbar, weil es im ersten Semester gleich mit Römischem Recht anfing. Das war für mich ein Vergnügen: Latein – eine ungeheure Freude“.1

So schildert Carl Schmitt 1972 seinen Studienbeginn 1907 in Berlin, nicht ahnend, wie eng der Lebensweg des jungen Stud. iur. aus der katholischen Diaspora, der von sich selbst einmal sagen wird, er habe nie ein Großstädter werden wollen, sich mit dem protestantischen „Babylon“-Berlin verweben würde. Der schon grassierenden Wohnungsnot2 immerhin konnte Schmitt entgehen, er kam bei Verwandten seines Vaters in einer Mietskaserne unter. Aufschlussreich, weil auf Schmitts damaligen Antiindividualismus weisend, ist seine frühe und wenig schmeichelhafte Kritik an den zwei „Großordinarien“ Josef Kohler und Ulrich von Wialamowitz-Moellendorff, die er heranzieht, um an ihnen die negativen Auswirkungen der damals ausgeprägten Ich-Bezogenheit zu verdeutlichen. Bemängelte er bei Ersterem die „ästhetizistische Ich-Entfesselung“, so kritisierte er bei Zweitem „das Selbstgefällig-Deutsche“, das Schmitt als „Goethe-Maske“ identifizierte, die für ihn ein bloßes Scheinbild geistiger Größe erzeugt habe.3 Schmitt selbst positioniert sich als Beobachter:

1 Carl Schmitt im Gespräch mit Dieter Groh und Klaus Figge (1972), hier zit. nach Mehring (2009, S. 23). 2 Die Einwohnerzahl Berlins steigerte sich von der Reichsgründung 1871 von 826.341 auf 1.888.848 im Jahr 1900 (Moser 2003/04). 3 Mehring (2009, S. 24); s. a. Noack (1993, S. 20).

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Erstes Kapitel: Schuld und Schuldarten (1910).

„Ich war ein obskurer junger Mann bescheidener Herkunft. Weder die herrschende Schicht, noch eine oppositionelle Richtung hatte mich erfaßt. Ich schloß mich keiner Verbindung, keiner Partei und keinem Kreise an und wurde auch von niemandem umworben“.4

Diese Selbsteinschätzung Carl Schmitts, auch wenn sie im Rückblick aus der Warte von 1946/47 erfolgt, birgt wichtige psychologische Erkenntnisse, die Mehring treffend zusammenfasst: „Sein Leben lang empfindet er sich als intellektuell überlegenen Aufsteiger und Außenseiter, als Underdog, der nicht dazugehört, nicht hinreichend respektiert wird und seine ‚bürgerliche‘ Mitwelt im Gegenzug verachtet“.5

Diese Schrift will und kann kein Ort sein, der sich mit Carl Schmitt aus psychologischer Sicht befasst, geschweige denn eine psychopathologische Diagnose erarbeitet, so wertvoll sie auch sein könnte.6 Aber die Symptomatik einer steten Suche nach Anerkennung, die man Außenseitern zuschreibt, kann für eine Bewertung von Schmitts Leben und Werk den Blick weiten. Auch Noack erkennt die Bedeutung dieser Selbstinterpretation Schmitts, aus der sich für Noack vor allem „Fremdheit“ artikuliert – vor 1914 gegenüber dem selbstinszenierten trügerischen Glanz der protestantischen Stadt, nach dem Weltkrieg gegenüber dem politischen System: „Wer so befremdet ist, kann als junger Mensch auf unterschiedliche Weise reagieren: Er sucht nach anderen Formen der Gemeinschaft, der Loyalität und Solidarität. Oder er drängt sich mit allen Mitteln, die er zur Hand hat, in die vorgefundenen Strukturen, paßt sich ihnen an, um sich ihrer zu bedienen, sei es, um sie zu verformen. Er bedient sich also der politischen Realität. Er kultiviert das Gefühl seiner Fremdheit und damit zugleich seiner Überlegenheit. Er schafft sich dadurch einen eigenen Entfaltungsraum, daß er Fremdheit und Feindschaft zu einer Ur-Befindlichkeit erklärt. Wenn jemand so weit ist, bedarf es nur noch eines Schrittes, um zu einem eigenen ‚Begriff des Politischen‘ zu gelangen“.7

Schmitts erster Berlin-Aufenthalt war nur eine kurze Episode, bereits zum Sommersemester 1908 wechselt er nach München.8 Dort belegt er zehn

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Carl Schmitt, hier zit. n. Mehring (2009, S. 24). Mehring (2009, S. 24). Siehe Mehring (2014, S. 5 ff.; insb. S. 6/7.) Noack (1993, S. 21/22). Siehe Mehring (2009, S. 24 f.). Schmitt belegt Sachenrecht, Urheberecht, Familienrecht und Erbrecht, Strafrecht, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Konkurs- und Konkursprozessrecht, Digesten-Exegese, Grundzüge der Sozialpolitik und Geschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert.

I. Der stud. iur. Carl Schmitt: Berlin – München – Straßburg.

Vorlesungen und Seminare. Und er lernt die Stadt kennen, in der er von 1915 bis 1921 leben wird. München wird so zum zweiten zentralen Ort neben Berlin werden. Wahrscheinlich sind es die Nähe zu seinen begüterten lothringischen Verwandten mütterlicherseits und somit auch finanzielle Erwägungen, die ihn schon im Wintersemester 1908/09 nach Straßburg wechseln lassen, wo schon Goethe die Jurisprudenz studiert hatte und nun Paul Laband – der Star der juristischen Fakultät – lehrte. Was im Sommersemester in München begann, setzte sich in den vier Straßburg-Semestern fort. Schmitt trieb sein Studium vehement voran und, wir greifen etwas vor, nach nur sieben Semestern hatte er es einschließlich der Promotion abgeschlossen. Im Frühjahr 1910 wird er das Erste Staatsexamen ablegen. Noch im Wintersemester 1908 lernt Schmitt Fritz Eisler kennen, den in Hamburg aufgewachsenen Sohn des jüdischen Verlegers Heinrich Ludwig Eisler. Fritz ist ungarischer Staatsbürger, weil die Einbürgerung des Vaters 1908 scheiterte. Auch Eisler wird 1910 bei van Calker summa cum laude promovieren. Zwischen Schmitt und Eisler entwickelt sich eine tiefe Freundschaft: „Schon die gemeinsame Arbeit an der Satire Schattenrisse, die Begegnung mit dem Dichter Theodor Däubler und auch das liebe Geld verbinden beide miteinander. Die Familie Eisler unterstützt Schmitt“.9

Eisler kann als Ausländer kein Staatsexamen ablegen, ohne das eine akademische Karriere nahezu ausgeschlossen ist. Ein Einbürgerungsantrag, den Eisler stellt, bevor er eine Assistenz bei van Calker antreten will, scheitert wegen der Vorstrafen des Vaters. Daraufhin verzichtet Fritz Eisler förmlich auf das Staatsexamen, erklärt seine Bereitschaft zum Wehrdienst in Deutschland und sagt verbindlich zu, dass er nicht in den Hamburger Staatsdienst, sondern in das Geschäft seines in gesicherten Verhältnissen lebenden Vaters eintreten wolle – mit Datum vom 19. Mai 1914 wird Fritz Eisler eingebürgert und meldet sich bei Kriegsbeginn freiwillig zum Militär. Er fällt bereits am 27. September 1914 durch einen Granatsplitter. Schmitt war vom Tod des Freundes tief betroffen. Als letzten Freundschaftsdienst gibt er eine strafrechtliche Arbeit aus Eislers Nachlass heraus: „Mit der Familie Eisler begegnet Schmitt seinem Lebensthe-

9 Mehring (2009, S. 30; Herv. im Original; nachst. s. 30 ff.).

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Erstes Kapitel: Schuld und Schuldarten (1910).

ma: dem Verhältnis zum Judentum“10 – eine Problematik, die uns noch beschäftigen wird. Nachdem Schmitt 1910 seinen ersten Aufsatz – Über Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit des kunstgerechten operativen Eingriffs – veröffentlicht hatte, war die Promotion sein nächstes Ziel. II. Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung (1910). Betrachtet man Schmitts Gesamtwerk, mag es auf den ersten Blick durchaus überraschen, dass ein späterer Staatsrechtsprofessor mit einer strafrechtlichen Dissertation promoviert, nicht aber, wenn man seine Studienschwerpunkte zurate zieht.11 Seine Vorlieben galten dem Strafrecht und dem Verfassungsrecht.12 Und so promovierte Schmitt 1910 bei dem Straßburger Strafrechtler Fritz van Calker.13 Sein Doktorvater wird Schmitt Mentor wie auch väterlicher Freund werden.14 Weil Schmitt das Gebiet des Strafrechts nach Schuld und Schuldarten rasch wieder verließ und diese Schrift zudem für das Verständnis seiner staats- und völkerrechtlichen wie auch politischen Schriften nur geringe Bedeutung hat, können wir unsere Ausführungen dazu sehr knapp halten. Schmitt betont, dass seine Dissertation keine philosophischen wie auch kriminalpolitischen Erwägungen verfolge, sondern „dem geltenden Strafrecht und seiner Terminologie“ gilt (SuS 20). Schuld und Schuldarten (SuS) ist also eine Abhandlung in dogmatischer Absicht. Seine Arbeit soll

10 Ebd. S. 32. 11 Schmitt hatte allerdings während seines Studiums das Strafrecht schwerpunktmäßig gewählt, ebenso ökonomisch-staatswissenschaftliche Themen. Hingegen – und mit Blick auf seine Schriften wirklich überraschend – ist die fehlende Belegung philosophischer und theologischer Veranstaltungen (s. dazu Mehring 2009, S. 32 f.). 12 So Kennedy (1988 b; S. 239 f.). 13 Van Calker betrat mit einer Arbeit über die Fehlentwicklungen der politischen Parteien selbst das Gebiet des Staatsrechts (Neumann 2015, S. 6). Zweifellos, so Mehring, habe van Calker Schmitt an eine politische Betrachtung des Rechts herangeführt (Mehring 2009, S. 29). 14 Van Calker bietet Schmitt schon 1912 eine Dozentenstelle an, holt ihn aus seinen Düsseldorfer Ehekalamitäten nach München in die Militärverwaltung, was Schmitt den Frontdienst ersparte und ermöglichte auch die Habilitation – und trotzdem erwähnt ihn Schmitt in seinen Schriften fast nie (s. Mehring 2009, S. 27).

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II. Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung (1910).

klären,15 in welcher Beziehung Vorsatz und Fahrlässigkeit zur Schuld stehen (SuS 74) bzw. die Frage beantworten, ob sie, wie dies von der h. M. als selbstverständlich angenommen werde, überhaupt Schuldarten sind. Denn stehe fest, dass sie dies sind, müsse ihr Gemeinsames „offenbar die Schuld im Sinne des Strafrechts sein“ (SuS 3). Hiergegen führt Schmitt ins Feld, es sei „ein ewiger Zirkel, erst die Schuld aus den sogenannten Schuldarten und dann die Schuldarten aus der Schuld zu beweisen“ (SuS 14).

Deshalb sei zunächst überhaupt zu klären, „was ‚Schuld‘ ist“ (ebd.; s.a. SuS 20):16 „(…) es muß erst ohne Rücksicht auf die Terminologie ‚Schuldarten‘ eine Begriffsbestimmung der Schuld gesucht und erst dann, von ihr aus, nachgesehen werden, mit welchem rechte Vorsatz und Fahrlässigkeit Schuldarten heißen.“ (…)„Erst muß der Gattungsbegriff feststehen, bevor man die differentia specifica der Arten untersuchen kann“ (ebd.).

Die Suche nach diesem Gattungsbegriff beginnt beim geltenden Recht und der Tatsache, dass es einen Staat gibt, der Strafe androht, weil er das, wofür er straft, als etwas Böses, d. h. seinen Zwecken nicht Gemäßes ansieht, wobei der Inhalt dieses Zweckes irrelevant ist.17 Damit sei anerkannt, dass menschliche Satzung eine Schuld begründen kann (SuS 19). Für Schmitt ist – betrachtet man das geltende Recht – klar, dass Schuld ein Vorgang des Innenlebens eines Täters ist (s. SuS 24, Überschrift zu § 3; 28 f.; 31; 36). Wenn dem aber so sei, könne die Schuld nicht die Kausalität einer Handlung betreffen.18 Der Täter wird nur für einzelne Taten belangt, eine Charakterschuld – die es gebe, aber erst bei der Strafzumessung relevant werde – lehnt Schmitt ab. Für ihn ist „Schuld“ nicht gleich mit der juridischen Schuld. Die weitere Frage: „(…) was ist Schuld im formalen Sinne? folgt daraus, daß alle Schuld, wie wohl allgemein anerkannt, Willensschuld ist; sodaß sich als unbestreitbare

15 Zum Untersuchungsplan der Arbeit s. (SuS 1 f.). 16 „Erst muß der Gattungsbegriff feststehen, bevor man die differentia specifica der Arten untersuchen kann“ (SuS 14). 17 Mehring hebt als wichtig hervor, dass Carl Schmitt bereits in seiner Dissertation die Sphären von „Moral“ und „Recht“ strikt trennte (Mehring 2011, S. 20): „[Er] vertritt gegenüber dem moralischen Standpunkt des Individuums den juridischen Standpunkt normativer Orientierung am kollektiven Recht“. 18 Siehe Mehring (2009, S. 33; nachst. s. S. 33 ff.)

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Erstes Kapitel: Schuld und Schuldarten (1910).

Schulddefinition ergibt: Schuld im Rechtssinne ist (rechtlich) böser Wille“ (SuS 51).

Der Missbilligung liegt eine Zweckbetrachtung zu Grunde (SuS 57). Aus ihr ergibt sich die – für Schmitt – einwandfreie und präzise Definition: Schuld ist die „den Zwecken des Rechtes nicht entsprechende konkrete Zwecksetzung“ (SuS 72). Sind nach all dem Vorsatz und Fahrlässigkeit also Schuldarten (SuS 94)? Schmitt unterscheidet zwei unterschiedliche Lehrmeinungen: „Die erste Gruppe sieht in Vorsatz und Fahrlässigkeit neutrale Begriffe, die sich auf die Handlung im natürlichen Sinn beziehen, die zweite Gruppe hingegen Begriffe, deren Inhalt auf die Rechtswidrigkeit Bezug nimmt“.19

Neumann illustriert dies anhand folgenden Schulbeispiels. Nach der ersten Ansicht handelt ein Scharfrichter vorsätzlich, nach der zweiten hingegen nicht. Beide Arten betreffen eigentlich jede Handlung, die Handlung ist. Damit sind Vorsatz und Fahrlässigkeit keine Schuldarten und auch keine Schuldelemente, sondern „Schuldvoraussetzungen“, mithin „Voraussetzungen der Zurechenbarkeit“ und nicht „Arten der Schuld“ (ebd.); denn anderenfalls „müsste jeder, der vorsätzlich handelt, schuldhaft handeln“ (SuS 105)20 – so auch der Scharfrichter in obigem Beispiel. Die Bestnote „summa cum laude“ ist für Neumann durch van Calker zu Recht vergeben worden21, für Mehring ist die Dissertation eine „kühne Talentprobe“, mit der Schmitt gegen die h. M. angetreten sei.22 Werfen wir einen kleinen Blick voraus. Mit Gesetz und Urteil (1912) wird eine rechtstheoretische Arbeit folgen, mit der der Spielraum richterlicher Entscheidungen begrenzt wird. Seine Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914; 1916), in der die normative Konstruktion des Individuums durch den Staat erörtert wird, gehört in den Bereich der Rechtsphilosophie. Die Diktatur (1921) ist dem Bereich der Staatstheorie und der politischen Ideengeschichte zuzuordnen. Die ersten drei Kapitel der Politischen Theologie (1922) sind staatsrechtswissenschaftlich geprägte Abhandlungen, das vierte Kapitel behandelt Ge-

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Neumann (2009, S. 10). Siehe Mehring (2009, S. 34); Neumann (2015, S. 10). Neumann (2015, S. 10). Mehring (2009, S. 34).

II. Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung (1910).

schichte und Wirkung der konservativen Gegenrevolution und greift dabei Motive der Politischen Romantik (1919) wieder auf.23

23 Siehe Mehring (2009, S. 35); Neumann (2015, S. 10).

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

I. Referendariat in Düsseldorf (1). Schmitt beginnt seinen Vorbereitungsdienst als Referendar am 25. August 1010 am Amtsgericht Lobberich und setzt ihn ab Mai 1911 in Düsseldorf fort. Die Zeit in Düsseldorf ist von Krisen geprägt, auch wenn er, wie er seiner Schwester schreibt, Gesetz und Urteil im Oktober 1911 abschließen konnte. Sein chronischer Geldmangel – man muss allerdings wissen, dass Referendare damals kein Gehalt bezogen – zwingt ihn zu mehreren Umzügen in der Rheinmetropole. Wohl über seinen Freund Eisler lernt er den Dichter Theodor Däubler kennen, eine Bekanntschaft mit Folgen. Wegen des Erfolgs seiner Schrift Gesetz und Urteil wird ihm eine Stelle als Privatdozent in Straßburg angeboten, Strafrecht und Rechtsphilosophie soll Schmitt lesen. Wegen der mit nur 1000 Mark im Jahr dotierten Stelle, muss er ablehnen, und tröstet sich: 24 „Es wird schon wieder so etwas kommen und ich bin schließlich noch jung“ (JB 153). II. Gesetz und Urteil (1912). „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte.“ Carl Schmitt25

Die Werkgeschichte Carl Schmitts durchzieht ein Problemkreis von Anfang an: die Frage nach der Legitimation öffentlicher Macht. Wenn auch nicht in jeder Schrift ausdrücklich betont oder behandelt, ist es notwendig, bei der Befassung mit Schmitts Werk die Frage nach der Rechtfertigung staatlicher Gewalt in die Analyse einzubeziehen – auch, weil Schmitt den Begriff der Legitimität „in einen ungewohnten, ja provozierenden Gegen-

24 Siehe nachst. Mehring (2009, S. 37 f.). 25 (GU 68). GU = Gesetz und Urteil.

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II. Gesetz und Urteil (1912).

satz zum Begriff der Legalität bringt“.26 Mit seiner Kritik am Diskussionsstand seiner Zeit, der das Recht als „reine, wertende, aus Tatsachen nicht zu rechtfertigende Norm“ primär setzt, wo es doch um den Staat als Realität gehe (WdS 10),27 greift Schmitt bewusst die Problematik des staatsrechtlichen Positivismus auf.28 Für das Verständnis von Schmitts Position ist es unerlässlich, sich zu vergewissern, wogegen er sich konkret in Stellung bringt. 1. Der staatsrechtliche Positivismus. 1.1. Staatswillenspositivismus. Am Anfang des staatsrechtlichen Positivismus steht der Jurist Carl Friedrich Wilhelm von Gerber. Sein Ziel war es, das Staatsrecht als selbstständige wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Dazu hielt er ein Zweifaches für nötig: Einmal waren die dogmatischen Grundbegriffe zu präzisieren, wozu es notwendig war, alle philosophischen, ethischen und politischen Betrachtungen aus dem Staatsrecht zu entfernen. Zum anderen war ein System zu entwickeln, in dem alle Institute des Staatsrechts aus nur einem Grundgedanken rühren. Um das zu erreichen, sollten alle staatsrechtlichen Beziehungen als menschliche Willensverhältnisse aufgefasst werden. Diese wissenschaftliche Methode bezeichnete Gerber als „Positivität“: d. i. das vom Menschen gesetzte Recht.29 Der sog. Rechtspositivismus unterscheidet strikt Recht und Moral und lehnt die Geltung vorgegebener, nicht-gesetzter Rechtsnormen ab.30 Im Gegensatz dazu steht das Naturrecht bzw. das natürliche Recht (ius naturae bzw. ius naturale) oder überpositive Recht, das sich nicht menschlicher Autorität und Setzung verdankt, sondern unabhängig von gesetzlichen Normierungen der Vernunft des Menschen eigen ist.31 Paul Laband führte den rechtspositivistischen Ansatz weiter. Für ihn musste die juristisch-dogmatische Methode eine „rein logische Denktätig-

26 27 28 29 30 31

Hofmann (1964, S. 16 f.). Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914) = WdS. Vgl. Hofmann (1964, S. 18). Vgl. Neumann (2015, S. 11). Vgl. Staatslexikon (Bd. 4, S. 723-726; hier S. 723): „Rechtspositivismus. Vgl. Staatslexikon (Bd. 3, S. 1296-1318; hier S. 1296): „Naturrecht“.

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

keit“ sein, für politische, historische und philosophische Betrachtungen ist da kein Raum.32 Der Staat muss rechtswissenschaftlich betrachtet werden, d.h. die juristische Konstruktion – „generalisierende Abstraktion, anschließende Deduktion und Subsumtion“ – hat an die Stelle „politischen und staatsphilosophischen Raisonnements“ zu treten.33 Die Staatsrechtswissenschaft wird zu einer reinen Wissenschaft von den Normen und „endet in der „sozialen Technik“ Kelsens mit der restlosen Abstraktion von der Wirklichkeit im Namen einer auf Normlogismus reduzierten Wissenschaftlichkeit“.34

1.2. Die reine Rechtslehre Hans Kelsens. Der reinen Rechtslehre Hans Kelsens liegt die neukantianische Wissenschaftstheorie zugrunde. Neben dem Grundsatz, dass die Methode das Erkenntnisobjekt bestimmt, bildet die strikte Trennung von Sein und Sollen die grundlegende Prämisse von Kelsens Wissenschaftstheorie. Seine Rechtslehre entwickelt er als reine Normwissenschaft, die ein logisches, hierarchisches System von Sollenssätzen bildet. Jede Rechtsnorm kann nur aus einer höheren Rechtsnorm abgeleitet werden. Die letzte, nicht mehr ableitbare Norm dieser Hierarchie benennt Kelsen als Grundnorm; sie bildet den Geltungsgrund des Rechts.35 Hans Kelsen, der sich in einer Reihe mit den Staatsrechtswissenschaftlern v. Gerber, Laband und Jellinek sieht, bezeichnet seine eigene Theorie, die Reine Rechtslehre, als eine positivistische. Da das positive Recht durch den menschlichen Willen gesetzt ist, steht es dem Naturrecht diametral gegenüber.36 Dementsprechend ist die Rechtslehre „rein“, weil das

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Ebd. Als Anwendungsbeispiel dient der „Preußische-Budget-Konflikt“ (ebd. S. 11 f.). Hofmann (1964, S. 28). Vgl. Kick (2001, S. 69). Die Grundnorm als die letzte wissenschaftliche Begründung für das geltende Recht, wird vorausgesetzt und bildet die Hypothese für die Geltung der Rechtsordnung. Die Grundnorm stellt eine nicht beweisbare Annahme dar, die vorgibt, wie die Normen einer Rechtsordnung gebildet werden. Eine Rechtsnorm bestimmt so die Erzeugung der anderen Rechtsnormen (vgl. Kley/ Tophinke 2001, S. 172). 36 Vgl. Neumann (2015, S. 13).

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II. Gesetz und Urteil (1912).

Recht ausschließlich normlogisch begründet ist, nicht naturrechtlich und nicht durch empirische Kausalzusammenhänge.37 Für Kelsen ist jeder Staat ein (Rechts-)Staat, weil er eine „relativ zentralisierte Rechts- und damit eine Zwangsordnung“ ausbildet.38 Der Staat zieht Existenz nur aus von Menschen gesetzten (Staats-)Akten: „Der Staat wird dabei als Fiktion ausgeblendet, da er nur durch Menschen handelt und die Reine Rechtslehre sich nur mit dem vom Recht bestimmten Menschen befasst.“39

Im System Kelsens werden Staat und Recht identisch, der Staat ist immer dem Recht unterworfen und – weil er sich nur normativ begründen lässt – deshalb nichts anderes als eine Rechtsordnung.40 Das bedeutet auch, dass der (Rechts)-Staat sich durch das Recht weder legitimieren, noch inhaltliche Begründung finden kann.41 Neumann kommt zu dem Ergebnis: „Die Übereinstimmungen mit der reinen Rechtslehre sind unübersehbar.“42 Mit einer Divergenz: Bei Gerber und Laband begründet der Wille des Staates die Geltung des Rechts, bei Kelsen verschwindet der Staat, „d.h. er ist die ‚Rechtsordnung oder deren Einheitsausdruck‘. Dass Kelsen der deutschen Staatsrechtslehre ihren Lieblingsgegenstand genommen hat, das hat sie ihm nie verziehen“.43

1.3. Die politischen Konsequenzen des staatsrechtlichen Positivismus. Durch die Abstraktion von „allen staatstheoretischen, philosophischen, soziologischen, geschichtlichen Beziehungen und Verbindungen“44 kann der normativistische Positivismus – als eine bloße soziale Technik – sich mit jeder politischen Idee und Staatsform akkommodieren und den jeweiligen staatlichen Status quo legitimieren: 45

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Kick (2001, S. 69). Kley/Tophinke (2001, S. 172). Ebd. S. 173; nachst. vgl. ebd.. Ebd. S. 173; vgl. Kick (2001, S. 69). Vgl. Kley/Tophinke (2001, S. 173). Neumann (2015, S. 13.) Ebd. Hofmann (1964, S. 29/30). Ebd.

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

„In der Tat ließ sich mit Kelsens Lehre jeder Staat rechtfertigen, der nach wie auch immer inhaltlich beschaffenen Gesetzen regiert.“46

Trotz dieser pejorativ besetzten, allumfassenden politischen Anpassungsfähigkeit – einer staatsrechtlichen complexio oppositorum47 gleichsam – sollte man den ursprünglichen Sinn und die politische Zielsetzung des Positivismus nicht gänzlich verdrängen.48 Die angestrebte Reinheit der juristischen Begriffe sollte nämlich die ungelösten politischen Widersprüche von monarchischem und demokratischem Prinzip und deren jeweiliger Legitimität neutralisieren: Man deklarierte die Frage nach der Legitimität deshalb als eine „metajuristische“ und folglich unwissenschaftliche. So „wurde die politische Sprengkraft der ‚Kernfrage des Jahrhunderts‘, der Dualismus von Fürst und Volk, von Staat und bürgerlicher Gesellschaft von ‚homme‘ und ‚citoyen‘ rechtswissenschaftlich neutralisiert. Übrig blieb an Stelle der Legitimität der Staatsgewalt die Legalität aller ihrer Akte, (…) die Rechtfertigung des Staates und die Geltung des Rechts aus sich selbst“.49

Durch die Streichung der Legitimität aus der juristischen Welt hatte sich der theoretische Diskurs über das Wesen des Staates zur Nationalökonomie, zur Geschichtswissenschaft und zur Soziologie verlagert: „Aus der Reaktion auf den staatsrechtlichen Positivismus, aus dem Bemühen, dessen Grundlagen in Frage und das Problem der Rechtsgeltung wieder als eine Frage der zu erneuernden Rechtstheorie und Staatsphilosophie zur Diskussion zu stellen, sind die Anfänge des Werkes Carl Schmitts zu begreifen.“50

2. Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis. 2.1. Vorbemerkungen. Mit der ersten großen Abhandlung nach seiner Dissertation wendet sich Carl Schmitt, der „Theoretiker staatlicher Dezision“51, Methodenfragen des Rechts zu. Die gängige Verortung der Richtigkeit einer richterlichen

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Sontheimer (1994, S. 68). Siehe hier Römischer Katholizismus und politische Form. Grundlegend u. umfassend v. Oertzen (1974). Hofmann (1964, S. 30). Ebd. S. 31. Neumann (2015, S. 16).

II. Gesetz und Urteil (1912).

Entscheidung in deren Gesetzmäßigkeit zu sehen, weist Schmitt zurück. Er sucht ein von der Gesetzesbindung unabhängiges, methodisches Richtigkeitsprinzip. Zugleich wendet er sich gegen eine Kernthese des juristischen Positivismus, für den das Recht ein geschlossenes System ist. Denn der Dezisionismus vertritt gegen den normativistischen Positivismus die Auffassung, dass das richterliche Urteil niemals ausschließlich und vollständig allein durch die anzuwendenden Gesetzesnormen determiniert ist.52 Auch die positivistische These aus dem 19. Jahrhundert, es gäbe einen nahezu klaren Wortlaut des Gesetzes, den ein Richter nur zu artikulieren brauche, um den gesetzgeberischen Willen im Urteil zu realisieren, lehnt Schmitt als dogmatisch erstarrte Fiktion ab.53 Zugleich aber wendet er sich gegen eine freirechtlich-willkürliche richterliche Subjektivität54, die nur noch das gesetzliche Vokabular für ihre aus einem Gefühl des „Gerechten-an-sich“ getroffene Entscheidung gebraucht.55 „Dezisionismus“ ist einer der Schlüsselbegriffe im Denken Carl Schmitts, der ihn auch in die staats- und verfassungstheoretische Diskussion einbrachte. Der Begriff fußt auf der These, dass es bestimmte Situationen gibt, in denen die „Entscheidung an sich“ wichtiger ist als ihr Inhalt.56 Von Schmitt wird er auch im Sinne von „Entscheidungsdenken“ gebraucht.57 Höchstselbst weist er 1969 auf die Bedeutung von Gesetz und Urteil als wissenschaftliche Vorarbeit für seinen späteren staats- und verfassungstheoretischen Dezisionismus hin (GU Vorwort). Der Frühschrift folgen seine Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1916) und die Monographie Die Diktatur (1921). Sie bereiten der Präzisierung des Dezisionsbegriffs in der Politischen Theologie weiteren Boden. In ihr wird Schmitt das Diktum setzten, dass die juristische Entscheidung „normativ betrachtet aus dem Nichts ge-

52 Zum Dezisionismus bei Schmitt s. grds. Bolsinger (1998). 53 Bolsinger (1998, S. 473 f.). 54 Die Freirechtslehre ist eine rechtswissenschaftliche Schule des frühen 20. Jahrhunderts, die gegen die Begriffsjurisprudenz dem Richter eine „freie Rechtsfindung“ bei Gesetzeslücken zubilligen, sehr weitgehend sogar das geltende Recht als dem Einzelfall angemessener durch ein freies Richterrecht ablösen wollte. Cum grano salis sollte die Gesetzesbindung des Richters zugunsten des richterlichen Ermessens zurückgedrängt werden. 55 Vgl. Kiefer (1990, S. 481). 56 Vgl. (WdS 79); (DD 22); (PT 44). 57 Neumann (2015, S. 16).

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boren“ (PT 42) und irreduzibel personalistisch ist.58 Und er wird dem Prinzip, wonach Rechtsentscheidungen nur aus rechtlichen Normen zu gewinnen sind, eine entschiedene Absage erteilen (vgl. Werner 2006): „Die Vorstellung von der Gesetzesmäßigkeit aller Entscheidungen kann heute als überwunden bezeichnet werden“ (GU 11).

Das Vorwort zur Erstauflage von 1912 leitet Schmitt ein: „Die vorliegende Abhandlung stellt sich die Frage, wann eine in der Rechtspraxis ergangene Entscheidung richtig ist, und beantwortet sie dahin, daß die Rechtspraxis selbst darüber entscheide“ (GU VII).

Und im Vorwort zur Auflage von 1969 betont er: „Die Abhandlung Gesetz und Urteil vom Jahre 1912 betrifft die richterliche Entscheidung und ihre Eigenständigkeit gegenüber der Norm, auf deren materiell-rechtlichen Inhalt sie sich zu ihrer Begründung beruft“ (GU V).

Das Problem der Richtigkeit der richterlichen Entscheidung fokussiert sich – so können wir in erster Näherung sagen – auf das Verhältnis von Rechtsnorm und konkretem Fall.59 Und es handelt sich dabei, so Armin Adam zu Recht, nicht um ein randständiges politikwissenschaftliches Spezialproblem, sondern um ein zentrales Problem des modernen Staates, „sofern er nämlich Rechtsstaat ist“.60 Gesetz und Urteil gehört für Adam so zum „Fundament der politischen Reflexion Carl Schmitts“ 61. 2.2. Das Problem: Wann ist eine richterliche Entscheidung richtig? „Die entscheidende Frage ist die: wann ist eine richterliche Entscheidung richtig“ (GU 1)?

Schmitt sucht nicht nach der absoluten, zeitlosen Richtigkeit einer Entscheidung, sondern nach der leitenden Idee der heutigen Rechtspraxis (GU 2): „Das Ziel ist also, die Methode der modernen Rechtspraxis auf eine Formel zu bringen, die ausdrückt: Wann haben wir heute von einer richterlichen Entscheidung zu sagen, daß sie richtig sei“ (GU 4)?

58 59 60 61

56

Adam (1994, S. 30). Vgl. ebd. S. 28. Ebd. S. 30. Ebd.

II. Gesetz und Urteil (1912).

Die formale Geltung eines positiven Gesetzes bedeutet nicht, dass die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung ohne Weiteres deren Richtigkeit impliziert. Denn zwischen der Richtigkeit der Entscheidung und dem „geltenden Recht“, das aus dem verarbeiteten Rechtsstoff resultiert, handle es sich, so Schmitt, „um den Gegensatz zweier Geltungen innerhalb desselben Wissensgebietes, von denen die eine Geltung, die der Praxis, gefunden werden soll“ (GU 4).62

Unabhängig davon wird eine richterliche Entscheidung von der h.M. dann für richtig gehalten, wenn sie gesetzmäßig ist, d.h. wenn sie dem geltenden positiven Recht entspricht. Am einfachsten schiene die Richtigkeit also gewährleistet, „wenn das Gesetz dem Richter eindeutig vorschreibt, einen ganz bestimmten Tatbestand in bestimmter Weise zu beurteilen“, in der Form etwa, „sich streng an den Wortlaut des Gesetzes und den Sprachgebrauch des täglichen Lebens zu halten und keinen Fall zu entscheiden, der nicht zweifellos durch ein Gesetz geregelt wird (…)“ (GU 5),

Dies laufe aber nur darauf hinaus, dem Richter zu befehlen, nur dann zu entscheiden, wenn er sich der richtigen Entscheidung sicher ist, ansonsten aber nicht zu entscheiden (GU 5). Die Folge wäre, dass die Zweifelsfälle als nicht entscheidungsfähig gerichtsanhängig blieben,– auch wegen des Rechtsverweigerungsverbotes, ein schlicht nicht darstellbarer Zustand. Die einzige positivrechtliche Bestimmung, die das Verhältnis von Gesetz und Richter regelt, argumentiert Schmitt weiter, sei der § 1 GVG63: „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt“ (GU 6).

Der Richter soll also nur dem Gesetz unterworfen sein. Aber beschränkt die Norm den Richter auch, nur das klare Gesetz anzuwenden, dem er unterworfen ist? – Ja, so Schmitt, „worin aber die Unterwerfung besteht, ja was als Gesetz und sein Inhalt zu betrachten ist, darüber sagt der § 1 GVG

62 Emanuele Castrucci: „Manchmal erscheinen in den Frühwerken eines Autors, in denen die Entwicklung seines Denkens erst am Anfang steht, seine Intuitionen in einer reineren Form. (…) In dieser Abhandlung (Gesetz und Urteil, w.a.m.) geht der junge Schmitt von folgender Intuition aus: „Es ist ein Fehler zu glauben, daß dank eines formalistischen Verfahrens die normativen Inhalte eines Gesetzes grundsätzlich unverändert wieder im Urteil vorkommen können, in dem typischerweise die konkrete Bestimmung des Rechts erfolgt“ (Castrucci 2017, S. 11). 63 GVG=Gerichtsverfassungsgesetz.

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

nichts“ (GU 7). Mittels einer historischen Herleitung kommt Schmitt zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber den Richter an den klaren Sinn der Gesetze binden wollte: „Der Richter sollte weiter nichts tun, als unter Gesetze zu subsumieren“ (ebd.). Daraus sei vernünftigerweise zu folgern, dass für den Richter nur der manifeste Inhalt des Gesetzes maßgebend ist, „alles andere kümmert ihn nicht“ (GU 7/8). Mit dieser Beschränkung auf den klaren Inhalt des Gesetzes ist es aus Schmitts Sicht jedoch nicht möglich, „das vielgestaltige Leben“ mittels weniger oder gar fehlender Rechtsnormen erschöpfend zu erfassen. Der Richter könne sich also nicht mit dem positiven Recht begnügen (vgl. GU 8). Unter der Gesetzesnorm des § 1 GVG sei folglich „etwas anderes zu verstehen, als sein klarer Wortlaut“ (GU 9). Umfangreiche Bearbeitungen der Rechtsnormen, die unzähligen Fachbücher, Kommentare und Bibliotheken von Präjudizien lasten für Schmitt oft auf einem einzigen Gesetzeswort und führen zu Abweichungen „des in der Rechtsprechung heraustretenden Rechts vom Gesetzesrecht“64. So verlieren die Postulate der „Gesetzmäßigkeit“ und der „Bindung ans Gesetz“ erheblich an Stringenz. Wer, so Schmitt, vom Prinzip der Gesetzmäßigkeit gleichwohl nicht ablasse, müsse zu Methoden greifen, die geeignet sind, den eigentlichen Inhalt des Gesetzes zu erfassen. Das werfe jedoch die Frage auf, ob ein so ermittelter Gesetzesinhalt „überhaupt noch als ‚Gesetz‘ und das auf ihn gebaute Urteil noch als gesetzmäßig“ gewertet werden könne. Ob der Richter diesen Interpretationsmethoden unterworfen ist, sage der § 1 GVG nicht (vgl. GU 9), weshalb sich auch die traditionelle Hermeneutik nicht auf ihn berufen könne (GU 10). Ein anderer Ansatz fordere, dass mit den Methoden der extensiven und restriktiven Interpretation, der Analogie und dem Beweis aus dem Gegenteil – argumentum ex contrario – der wahre Inhalt des Gesetzes ermittelt werden soll. Diese ohne jeglichen Nachweis gestellte Anforderung setzt nach Schmitt einmal voraus, dass die genannten Methoden sich als fähig erweisen müssen, den wahren Inhalt des Gesetzes freizulegen und zum andern festlegen, dass eine richterliche Entscheidung dann als richtig anzusehen sei, wenn das Gesetz richtig interpretiert wurde. Eine derartige Identifikation sei aber falsch (vgl. GU 10 f.). Schmitt wird, wir greifen etwas vor, noch öfter ausführen, es sei etwas gänzlich anderes, ob ein Gesetz richtig interpretiert oder ob es in richtiger Weise angewendet werde, weil

64 O. Bülow. Gesetz und Richteramt. Leipzig 1885. S. IX, zit. nach (GU 9).

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es durch seine Anwendung schlicht in eine „andere Sphäre“ eintritt (GU 29; s.u.). 2.3. Der Wille des Gesetzes. Die herrschende Lehre der Rechtsanwendung greift auf den „Willen des Gesetzgebers“ bzw. den „Willen des Gesetzes“ zurück.65 Eine richterliche Entscheidung wäre demnach richtig, „wenn sie vom Gesetzgeber im positiven Recht vorgesehen ist; wenn so entschieden wird, wie die maßgebende gesetzgeberische Instanz es bestimmt hat oder wenigstens (fügt man unbedenklich hinzu, als ob das nicht etwas ganz anderes wäre) bestimmt haben würde, wenn sie den Fall vorausgesehen hätte. (…) aus dem Quell des Gesetzes ist die Entscheidung geschöpft“ (GU 21).

Da nunmehr alles von einem theoretisch konstruierten „Willen“ abhänge, wäre der reale Wille des Gesetzesverfassers oder des empirisch konkreten Gesetzgebers das maßgebliche Kriterium (GU 22).66 Diese Auffassung weist Schmitt als nicht möglich zurück, indem er sie mit der Philosophie Hans Vaihingers als „Fiktion“ dekonstruiert.67 Die subjektive Lehre68 vom „Willen des Gesetzgebers“ scheitere bereits an der faktischen Unmöglichkeit, „den realen, psychologischen Willensinhalt eines bestimmten Menschen (…) in irgendeinem bestimmten Zeitraum zu ermitteln (…)“ (GU 25/26). Für eine gesetzgebende, vielköpfige Versammlung gelte dies erst recht. Die objektive Lehre vom „Willen des Gesetzes“ verkenne, dass das Gesetz eine „konstante lebendige Kraft“ und der Gesetzesinhalt keineswegs unabänderlich und statisch seien (GU 26). Beide Ansichten, so Schmitt, beträfen nur die „Richtigkeit der Interpretation, nicht die der Entscheidung in der Praxis, was sie fälschlich für ‚selbstverständlich dasselbe‘ hielten“ (GU 27). Schmitt weiter (GU 27/28): „Der als geltend anzunehmende Inhalt des Gesetzes tritt dadurch, daß der Richter ihn anwendet, in eine andere Sphäre, seine Funktion wird eine andere, wie denn auch tatsächlich der abstrakt geltende Gesetzesinhalt durch die Bezugnahme auf einen konkreten Fall sofort ein anderer wird“ (GU 28).

65 „Die neue Wendung ‚Wille des Gesetzes‘ ist der vom ‚Willen des Gesetzgebers‘ nachgebildet und formal wie inhaltlich ohne diese undenkbar“ (GU 25). 66 Nachstehend vgl. Neumann (2015, S. 17). 67 Mehring (2009, S 39). 68 Siehe dazu Habfast (1998, S. 9 f.).

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Die Verbindung zwischen dem vom wirklichen Leben unberührten Rechtssatz und der konkreten Anwendung auf den Einzelfall fehle jedenfalls, „sobald Richtigkeit der Interpretation (…) und Richtigkeit der konkreten Entscheidung für ein und dasselbe erklärt werden“ (GU 28).

Für Schmitt gilt es nun zu prüfen, ob die richtige Interpretation und die richtige Entscheidung dasselbe sind, oder ob nicht etwa die Richtigkeit der Interpretation eine Voraussetzung für die Richtigkeit der Entscheidung ist, zu der allerdings noch andere Momente hinzutreten müssten, um sie als eine „richtige“ qualifizieren zu können (GU 28). In der Theorieentwicklung wurde die Maßgeblichkeit des „Willens des Gesetzgebers“ – wie auch die der Materialien eines Gesetzes – als Richtigkeitskriterium verneint. Man präferierte dann als Ansatz die Theorie vom „Willen des Gesetzes“, um den Willensbegriff und seine Problematik – „das schlimmere Gespenst“ (GU 29) – juristisch am Leben zu lassen (vgl. GU 28 f.). Trotz dieser entpersonalisierenden Volte sollte – Kann es ohne einen persönlichen „Gesetzgeber“ einen „Willen des Gesetzes“ geben, es sei denn als Fiktion (vgl. GU 26, FN 1)? – das Desiderat einer Interpretation nach wie vor dem wahren Willen des Gesetzgebers entsprechen. Beide Willenstheorien endeten – „wenn die Kompetenz eines ‚Willens‘ überhaupt noch nicht klar ist“ (GU 30) – für Schmitt ohnehin bei der „Konstruktion des vernünftigen Gesetzgebers“ (GU 29 f.). Denn im Ergebnis suchte man den Befehl, den „feststehenden Willen“, dem ein Richter zu gehorchen hatte, wenn er denn richtig entscheiden wollte (GU 30). Zu einer richtigen Entscheidung gehörten aber zwei Arbeitsschritte: das richtige Gesetz für den Tatbestand zu finden, sowie den Inhalt dieses Gesetzes richtig aufzufassen (GU 30 f.). So habe denn der Richter in jedem Arbeitsschritt einem Befehl zu gehorchen, dessen Inhalt er aber meistens selbst zu eruieren habe. Jeder Interpretationsakt aber „ist ein Akt selbständig schaffender Synthese eines ‚Gesetzgebers‘“ (GU 31). Ein systembildender Jurist führe durch die Umformung alter zugleich neue Gedanken ein und jede Auslegung kreiere deshalb einen neuen Rechtssatz, der die Bedeutung des Wortlauts des Gesetzes infrage stellt (vgl. ebd.). Weiterhin sei ungeklärt, welcher Zeitpunkt für die Willensermittlung der maßgebende sei und welcher feststehende Inhalt eine Subsumption überhaupt erlaube (GU 33).69 Dem lebendigen 69 Für weitere anzuzweifelnde Kriterien siehe (GU 33 f.).

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Organismus des Rechts entspreche ein Gesetzeswillen, der sich dem Fortschritt der Zeit anpasst: „Nur ist zu bedenken, daß man unter einen ‚lebendigen Organismus‘ nicht subsumieren kann“ (GU 34).

Schmitts Ziel war es, gezeigt zu haben, dass (1) das Kriterium des „Willens“ nicht ausreicht, um die Richtigkeit einer Entscheidung zu ermitteln, dass (2) der zur Entscheidung konkreter Fälle angewandte Rechtsstoff und die Regeln seiner Benutzung nicht identisch sind, dass (3) für das Kriterium der Richtigkeit weitere Geltungen heranzuziehen sind (vgl. GU 35) und dass (4) die Bindung des Richters an das Gesetz als ein Kriterium der inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidung „logisch unmöglich“ ist (vgl. GU 36), um den Erfordernissen der Rechtspraxis gerecht werden zu können (vgl. GU 35). Welches sind nun aber – neben der Richtigkeit der Interpretation – die weiteren Elemente („Geltungen“) einer Richtigkeitsprüfung? Ein Element, expliziert Schmitt weiter, könnte die „Gesetzmäßigkeit“ sein.70 Eine Entscheidung wäre demnach dann richtig, wenn sie unter einen – „relativ“ – feststehenden Inhalt von Gesetzesnormen subsumiert werden kann (GU 37). Allerdings erweist sich dieses Richtigkeitskriterium unter den Einflüssen der „Wirksamkeit des Rechtsgefühls, der Verkehrsverhältnisse usw.“ praktisch als zu eng, und dies zu leugnen oder Rechtsabweichungen als Ausnahmefälle zu deklarieren, löse das Problem nicht (ebd.). Nun habe aber die jahrhundertealte Vorstellung von der Gesetzmäßigkeit der Entscheidung dazu geführt, das Gesetz weiter zu fassen, um eine größere Subsumierbarkeit zu gewährleisten. Ergebe die Subsumption trotzdem kein richtiges Ergebnis, müsse das offenbar fehlerbehaftete Gesetz geändert werden, um damit zu einem richtigen Ergebnis zu kommen. Diese leitende Idee der Freirechtsbewegung, die neben dem positiven ein überpositives, freies Recht platziert und so zu einem erweiterten Gesetzesbegriff gelangt, beraube, so Schmitt, den Begriff der Gesetzmäßigkeit seines Merkmals der richtigen Entscheidung: die Subsumierbarkeit unter das Gesetz wird wertlos (ebd.), „wir geben die Gesetzmäßigkeit als Kriterium der Richtigkeit auf“ (GU 38; vgl. GU 40). In dieser Lage werde immer häufiger die These gesetzt; „Der Richter soll so entscheiden, wie der Gesetzgeber entschieden habe“ (GU 41). Aber diese Forderung verschleiere nur, dass man das Richtigkeitskriterium der Gesetzmäßigkeit aufgegeben 70 Nachstehend vgl. Neumann (2015, S. 17).

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hat, weil es nicht „einen Schatten von Rechtsbestimmtheit“ herstellen könne (GU 42): „Aber zum Glück ist die Methode der Praxis besser als das, was die Praxis für die Methode hält“ (GU 43). Folglich muss ein anderes Kriterium gefunden werden. 2.4. Das Postulat der Rechtsbestimmtheit. Schmitt wechselt nun die Perspektive, weg von der richterlichen Praxis und hin zur Gesetzgebung.71 Folgen wir Schmitts Gedankengang. Ein Gesetz habe inhaltlich „in den letzten Jahren“ meistens nichts Neues gebracht, habe sich an Inhalten wie der bestehenden Lebensordnung und Verkehrsgewohnheit orientiert, an moralischen und kulturellen Werten von Zeit und Volk, es habe kurzum schlicht Anschauungen geordnet (vgl. GU 44 f.). Diese Gruppe vorjuristischer Inhalte konnte einmal direkt in Rechtsnormen einfließen, oder sie wurde zur Interpretation von Gesetzen herangezogen, so dass die Wertanschauungen des Volkes gleichsam in den Willen des Gesetzes einflossen und insoweit maßgebend wurden, als man unterstellte, das Gesetz wolle bei Auslegungszweifeln diese im Volk verankerten Werturteile in juristischer Form verwirklicht sehen (vgl. GU 45). Für alle Gesetze gelte dies aber nicht, fehle doch einem Teil der Gesetze jede inhaltliche Bestimmtheit, entweder weil der Materie solche außerordentlichen Elemente fremd (z.B. Verjährungsfristen) oder weil derartige Elemente so unbestimmt seien, dass sie eine Antwort unmöglich machten (z.B. das gesetzliche Strafmaß bei den einzelnen Delikten) (vgl. GU 45 f.): „Diese Fälle machen eine wichtige Entscheidung des Rechtslebens deutlich: daß es häufig nicht so sehr auf die Art und Weise der Regelung, als auf eine Regelung überhaupt ankommt. Von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, enthält jedes Gesetz ein solches Moment, das ein Zivilist vielleicht als aleatorisches72 bezeichnen würde. Bis zu einem gewissen Grad ist es immer notwendiger, daß überhaupt etwas Gesetz, als daß ein bestimmter Inhalt Gesetz ist“ (GU 45/46).

71 Habfast (2010, S. 17). 72 Aleatorisch = eigentlich „zufällig“ oder „vom Zufall abhängig“; das Gegenwort ist: determiniert; im Sinne Schmitts hier wohl am besten: „unbestimmt“ oder „willkürlich“.

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Hier greift also das dezisionistische Element. Als Beispiel benennt Schmitt eine Polizeiverordnung, die bestimmt, Fuhrwerke hätten nach rechts auszuweichen. Sie hätte ebenso gut bestimmen können, Fuhrwerke hätten nach links auszuweichen. Allein entscheidend sei, dass man weiß und sich darauf verlassen kann, es wird nach rechts oder nach links ausgewichen. Die Entscheidung für eine bestimmte Richtung beruhe jedenfalls nicht auf Erwägungen nützlicher, gerechter oder moralischer Natur, sondern allein auf der Tatsache, dass entschieden ist. „Ein solches Moment inhaltlicher Willkür ist in allem Recht enthalten“ (GU 46). Gegen das Dogma von der Geschlossenheit der Rechtsordnung „setzt Schmitt die Theorie der Lückenfüllung durch die Entscheidung“.73 Der dezisionistische Weg bei Carl Schmitt hat hier seinen Anfang. Mit der bloßen richterlichen Entscheidung tritt eine Funktion der Rechtsordnung zutage, deren Bedeutung laut Schmitt vordem wohl nur Hegel gesehen habe:74 Die Bedeutung des Rechts liege darin, überhaupt eine Regelung zu treffen (vgl. GU 47 f.). Unter diesem Gesichtspunkt ist das geschriebene, positive und publizierte Gesetz das Ideal eines Gesetzes. Das Gesetzesrecht hat vor dem Gewohnheitsrecht den „Vorzug der Rechtsbestimmtheit“ (GU 48). Das für die Rechtsordnung wesentliche Erfordernis der Rechtsbestimmtheit tritt gleichsam zwischen die substantielle Gerechtigkeit des konkreten Falls und deren Realisierung im wirklichen Leben. Da sich das Kriterium der Rechtsbestimmtheit aber gerade auf die Gerechtigkeit beruft, kann sich ein Richter „nicht leicht über den Wortlaut eines klaren Gesetzes hinwegsetzen“ und durch Nichtbeachtung des Gesetzes die Rechtssicherheit gefährden(vgl. GU 49): „Alle diese Erwägungen gehen von dem Gedanken aus, daß das Gesetz in erster Linie überhaupt festsetzen will. Wie und was es festsetzt, ist die zweite Frage. So wird ein Moment in den Vordergrund geschoben, das scheinbar den ‚Inhalt‘ der Rechtsordnung zur Seite drängt, in Wahrheit aber gerade zu ihrem Inhalt gehört“ (GU 49/50).75

So wohnt jeder juristischen Entscheidung – unabhängig von Kriterien ihrer Richtigkeit – ein Eigenwert inne, „weil sie Rechtsbestimmtheit und Rechtssicherheit herbeiführt“.76 Als Zwischenergebnis ist für Schmitt nunmehr widerlegt,

73 74 75 76

Kiefer (1990, S. 481). Näher dazu s. Habfast (2010, S. 19 ff.). Siehe auch (GU 106 ff.). Vgl. Castrucci (2017, S. 11, FN 2). Neumann (2015, S. 18).

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„daß man von irgendeinem substantiellen Gerechtigkeitsideal oder einer inhaltlichen Zweckmäßigkeit her, das Kriterium der richtigen richterlichen Entscheidung gewinnen könne“ (GU 53).

Vielmehr gehe es „ausschließlich um die Gewinnung eines der Praxis spezifischen Kriteriums der Richtigkeit von Entscheidungen (…)“ (GU 109). Carl Schmitt beginnt jetzt erstmals, sich mit der Rechtstheorie Hans Kelsens auseinanderzusetzen und „die erste ernstzunehmende Kelsen-Kritik in der deutschen Staatsrechtslehre“ zu formulieren.77 Und zugleich setzt er an, das gesuchte, der Rechtspraxis eigene, Kriterium der Richtigkeit, aus dem Postulat der Rechtsbestimmtheit zu entwickeln: „Seine Legitimation dazu kann ein derartiger Gesichtspunkt nur dadurch beweisen, daß er in sich widerspruchslos und auf alle Erscheinungen der Rechtspraxis anwendbar ist“ (GU 57).

2.5. Die richtige Entscheidung. Nach dem bisher Ausgeführten sieht sich Schmitt in der Lage, „ein der Rechtspraxis autochthones Kriterium“ für die Richtigkeit einer juristischen Entscheidung – „Die Lösung ist kühn.“78 – zu formulieren: „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. ‚Ein anderer Richter‘ bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen“ (GU 68).

Mit dieser Formel rückt Schmitt die institutionellen und verfahrensmäßigen Bedingungen der Rechtspraxis für die Frage nach der Richtigkeit juristischer Entscheidungen in das Zentrum und zeigt, dass die Rechtspraxis das Erfordernis der Richtigkeit mittels eigener institutioneller Einrichtungen sicherstellen kann.79 Das Kollegialprinzip (GU 69 ff.), der Instanzenzug (GU 72 ff.), die Urteilsbegründung (GU 78 ff.) und die Berufsausbildung des „modernen rechtsgelehrten Juristen“ sollen sicherstellen, dass „die Entscheidung voraussehbar und berechenbar gemacht werden soll und auf die Gesamtheit der Rechtspraxis Bezug genommen wird“ (GU

77 Ebd. S. 21. 78 Hofmann (1964, S. 34). 79 Vgl. Habfast (2010, S. 28); s. Neumann (2015, S. 18).

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70). Somit ergibt sich die Richtigkeit einer richterlichen Entscheidung aus ihrer Voraussehbarkeit und ihrer Berechenbarkeit.80 Die Schmittsche Richtigkeits-Formel werde einmal durch Erscheinungen der modernen Rechtspraxis: das Kollegialsystem und die Entscheidungsgründe, bestätigt und löse zum anderen widerspruchslos jene Komplikationen, die daraus resultierten, dass die Autorität des Gesetzes nicht durch zwar richtige Entscheidungen beeinträchtigt werde, die aber … „… praeter und zuweilen (…) contra legem ergehen müssen, obwohl sie kaum noch ‚quellenmäßig‘ zu nennen sind – mögen sie nun durch Präjudizien der höchsten Gerichte und deren konstante Praxis gedeckt sein oder nicht“ (GU 68).

Erkläre die Formel zuletzt noch widerspruchslos die Bedeutung der Präjudizien „so hat sie ihre Berechtigung als maßgebendes Prinzip der heutigen Rechtspraxis bewiesen“ (GU 69) – was sie, wie Schmitt in der Folge ausführt, auch tut. Insgesamt rechtfertigt sich mit dem Maßstab eines „anderen Richters“ die Rechtspraxis durch die Rechtspraxis (vgl. GU 82).81 Gegen die hypothetische Formulierung der Formel Schmitts wurde die mannigfaltige Verschiedenheit von Urteilen ins Feld geführt: Undurchführbar sei es, festzustellen, wie ein anderer Richter entschieden hätte, und im Übrigen beweise schon eine unrichtige Entscheidung, dass nicht jeder Richter so entschieden hätte (vgl. GU 74). – Es sei, erwidert Schmitt, natürlich nicht von jedem einzelnen Richter die Rede. Die hypothetische Formulierung habe nicht den Sinn, auf etwas Faktisches hinzudeuten, wolle keineswegs das Tun anderer Richter bestimmen oder diese unter massenpsychologische Beobachtung stellen (vgl. ebd.): „Die vorgeschlagene Formel hat auch nichts mit einem Gesetzesbefehl an den Richter zu tun. Sie liefert nur ein methodisches Prinzip der heutigen Rechtspraxis. Der Hinweis auf den anderen Richter als empirischer Typus ist nur ein Ausdruck für die konstitutive Bedeutung des Postulats der Rechtsbestimmtheit in der Frage nach der Richtigkeit der Entscheidung“ (GU 75).

Der Richter hat sich nur zu bemühen, dass seine Entscheidung „der tatsächlich geübten Praxis entspricht“ und – weicht er von der herrschenden Meinung ab – auf einer Ebene der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit zu argumentieren. Schmitts formale Maxime verweist den Richter nicht

80 Neumann (2015, S. 19). 81 Vgl. Kiefer (1990, S. 482).

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auf eine vorgegebene inhaltliche Bestimmung. Aber sie fordert vom Richter, für seine Entscheidung alle Faktoren beizuziehen, „unter denen die positiven Rechtsregeln nur einen Teil ausmachen und denen etwa noch die Verkehrsauffassung, das Gerechtigkeitsgefühl, Billigkeitserwägungen und Präjudizien gehören, zu berücksichtigen und deren motivatorische Kraft für den durchschnittlichen Richter unter gegenseitiger Abwägung abzuschätzen, um damit trotz der Nicht-Ableitbarkeit der Entscheidung und des daraus resultierenden Moments inhaltlicher Indifferenz ein Höchstmaß von inhaltlicher Vorausberechenbarkeit der Judikatur zu erzielen“.82

In keiner Entscheidung aber dürfe er in seiner Subjektivität einem absolut freien Ermessen folgen, denn der andere Richter „ist eben der normale juristisch gebildete Richter“ und kein Idealtypus, präzisiert Schmitt (GU 75). Und an diesen gelehrten Juristen und Kollegen, nicht etwa an die Verfahrensparteien, richte sich deshalb auch die Urteilsbegründung; der andere Richter soll überzeugt werden: Die Praxis rechtfertige sich schließlich durch sich selbst (vgl. GU 82), das Buch wende sich an die Praxis, die es zum Gegenstand habe (vgl. GU VIII) und die Praxis habe die „objektiven Kriterien“ (GU 103) der Rechtsbestimmtheit entwickelt: „Schmitts Ziel ist es, diese Kriterien zu analysieren und so die richterliche Dezision an den „empirischen Typus“ des Richters zurückzubinden.“83

Eine rationale Entscheidung fordert eine Begründung und die Begründung braucht ein Kriterium. Dieser Anforderung will Schmitt durch den „anderen Richter“ gerecht werden, der den mit der gleichen professionellen Rationalität arbeitenden und urteilenden84 Kollegen bindet, weil er nicht gegen ihn judizieren kann. Denn: „Das Postulat der Rechtsbestimmtheit, für welches die auf den ‚anderen Richter‘ bezugnehmende Formulierung nur eine Umschreibung ist, kann als die Grundlage jeder Wertung des richterlichen Tuns betrachtet werden“ (GU 86).

Das von Schmitt erarbeitete Richtigkeitskriterium bringe, so er selbst, Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit, Begründbarkeit, Gleichmäßigkeit, kurz: die „Rationalität richterlicher Entscheidung“85 in die Rechtspraxis. Diese Rationalität jedoch bewegt sich in den engen Grenzen der Normalität, die sie voraussetzen muss. Begründen kann sie die Normalität nicht und gegen

82 83 84 85

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Hofmann (1964, S. 35). Mehring (2009, S. 40). Vgl. ebd. Kiefer (1990, S. 483).

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den kritischen Ausnahmefall verbleibt sie gleichgültig. Dies spricht Schmitt auch direkt an: „Es kann bei plötzlich eintretenden Änderungen des Rechtslebens, bei einer ‚stürmischen Entwicklung des Rechtslebens‘ (…) die Bestimmung darüber, wie ein anderer Richter entscheiden würde, sehr schnell sich ändern“ (GU 112).

Hier ist vorformuliert, was von Schmitt in seinen folgenden Schriften grundlegend vertieft und in einer anderen politischen wie historischen Lage aufgerufen werden wird, dass Rechtsnormen nur für normale Situationen gelten „und die vorausgesetzte Normalität der Situation ein positivrechtlicher Bestandteil ihres ‚Geltens‘ ist“ (LuL 71/72). In der Politischen Theologie wird Schmitt dies so ausdrücken: „Jede generelle Normierung verlangt eine normale Gestaltung der Lebensverhältnisse (…). Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre“ (PT 19).

Gesetz und Urteil vollzieht eine einschneidende Scheidung von Theorie und Praxis, die sich in Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen und auch in Die Diktatur fortsetzen wird. Schmitt unterscheide scharf, so Schneider, „zwischen Recht, Naturrecht, Gerechtigkeit, Wert, Norm und abstrakten Gedanken einerseits und Wirklichkeit, Tatsache, menschlichen Zwecken, der empirischen Welt der einzelnen Konfliktfälle, der Vielfalt der Parteiziele, des Wollens, der Realität und der Macht andererseits“.86

Eines ist bereits in dieser frühen Schrift Schmitts, in der Mehring einen „Paradigmenwechsel“ von der Theorie zur Praxis erkennt,87 deutlich gemacht: Ausgangslage der Problematik ist die Kluft, die sich zwischen der Rechtsidee und der Rechtswirklichkeit auftut. Die Überbrückung dieser Kluft in Gesetz und Urteil ist das Postulat der Rechtsbestimmtheit oder – synonym – der „andere Richter“.88

86 Schneider (1957, S. 259). 87 Vgl. Mehring (2009, S. 40). 88 Kiefer (1990, S. 483); vgl. (GU 49).

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2.6. Die Frage nach der Legitimation der legitimierenden Autorität. Die Frage, wann denn eine richterliche Entscheidung richtig sei, greift bei Schmitt tiefer, als bisher dargestellt, denn die vollständige Begründung eines richterlichen Urteils kann es, wie gezeigt, nicht geben, da dieses „immer mehr als bloße Explikation eines gesetzgeberischen Willens ist“.89 Denn der Richter setzt mit seinem Urteil für einen konkreten Fall Recht, aber nicht indem er positivistisch eine höhere oder allgemeinere Norm konkretisiert, „sondern indem er für den konkreten Fall (…) in der individuellen Entscheidung selbst allererst die allgemeine Regel autoritativ setzt, also nicht zum Zwecke späterer Subsumption juristisch konstruierend ermittelt“.90

Andererseits und scheinbar widersprüchlich schaffe der Richter dadurch nach Schmitt aber kein Recht, sondern berufe sich auf das Recht, das aber auf den Satz von der Rechtsbestimmtheit reduziert sei (s. GU 99). Diese Antithetik legt für Hofmann das sachliche Problem frei, um das es Schmitt bei seiner methodologischen Untersuchung für die Rechtspraxis eigentlich geht: „(…) um den Geltungsgrund des inhaltlich nicht ableitbaren Staatsaktes als einen Rechtsakt schlechthin. In der Antinomie von konkreter, subjektiver, lebensgestaltender Norm und objektiver Allgemeinverbindlichkeit liegt – um mit Hermann Heller zu sprechen – ‚die tiefste Problematik unserer Staatsund Rechtslehre beschlossen‘“.91

Habe der staatsrechtliche Positivismus die Frage nach dem Rechten zur Frage nach der logischen Richtigkeit verkehrt, so erscheine aus Schmitts Frage nach der Richtigkeit der richterlichen Entscheidung wiederum die Frage nach dem Rechten, also nach dem Geltungsgrund des Rechtes überhaupt. Weil Schmitt die positive Setzung als Geltungsgrund für die richterliche Entscheidung nur für die wenigen Fälle anerkennt, in denen die Rechtsbestimmtheit und eine eindeutige Praxis garantiert sind, operiere er methodisch am Ausnahmefall. Dieser trete für ihn ein, sobald außerhalb des positiven Gesetzesinhaltes gelegene Elemente diese Praxis erschütterten:

89 Kiefer (1990, S. 279). 90 Hofmann (1964, S. 36; nachst. s. ebd. S.. 36 f. 91 Ebd. S. 36/37.

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III. Referendariat in Düsseldorf (2).

„Damit ist bereits hier das Leitmotiv der Problematik von Ausnahmezustand und Norm angeschlagen, welches das Werk Schmitts bis zum Jahr 1933 durchzieht“.92

Wir werden noch sehen, dass Schmitt dem Ausnahmefall als der Indetermination von speziellen Staatsakten grundsätzliche Bedeutung zumisst. Damit greift er das Problem der Rechtsgeltung von Staatsakten – „die Legitimität der ihrerseits legitimierenden Autorität“ – generell auf.93 So steht hinter dem Problem der richtigen richterlichen Entscheidung die fundamentale Frage: „Was macht einen Staatsakt, der hinsichtlich seines Inhalts zu seiner Rechtfertigung prinzipiell nicht aus vorgegebenen Normen abgeleitet werden kann, eigentlich zu einem Rechtsakt des Staates“?94

Der Wille des Gesetzes bzw. des Gesetzgebers ist es, wie gezeigt, nicht, auch, weil die „Kompetenz eines Willens“ in diesem Bereich grundsätzlich fraglich ist.95 Schmitt will sich ja nach eigener Vorgabe auf eine Methodologie der Rechtspraxis beschränken und gegen den Normativismus Kelsens versuchen, „die radikale neukantische Antithese von Sein und Sollen zu unterlaufen, im Akte der Rechtspraxis, welche sich (…) aus sich selbst rechtfertigen soll, dialektisch überwinden“.96

Der Begriff der „Rechtspraxis“ wird dann in Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen der zentrale rechtsphilosophische Begriff der „Rechtsverwirklichung“.97 III. Referendariat in Düsseldorf (2). Die wichtigste Quelle für die Zeit in Düsseldorf sind Schmitts Jugendbriefe (JB) und die Tagebücher 1912-1915 (TB I): „[Sie] schildern ein desparates, exaltiertes Leben als Rechtsreferendar zwischen äußersten Geldsorgen, Liebesektasen (Carita (von) Dorotic), Abhängig-

92 93 94 95 96 97

Hofmann (1964, S. 37). Ausführlich dazu vgl. ebd. S. 37 f. Ebd. S. 38. Ebd. Ebd. S. 39. Ebd.

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

keiten von einem dämonischen ‚Geheimrat‘ (Hugo am Zehnhoff), kafkaesker Wahrnehmung des juristischen Ausbildungsbetriebs, Hass auf das konfessionelle und familiäre Herkunftsmilieu“.98

So komprimiert Reinhard Mehring die Tagebuchaufzeichnungen Schmitts. 1. Ein Dichterfreund: Theodor Däubler. Literatur und Musik spielten in Schmitts Leben eine große Rolle. Für die Düsseldorfer Zeit wissen wir dies auch aus den Briefen an seine Schwester Auguste (JB).99 Er gehe in die Oper, schreibt er ihr. Und wir erfahren, dass musikalisch Mozart, Wagner und Richard Strauss in hohem Rang stehen. An Literatur wählt er für sie Raabe, Mörike und Thomas Mann – ein vorveröffentliches Stück aus Felix Krull – und Auszüge aus Büchners Fragment Woyzeck (die „Jahrmarktsausruferrede“ der dritten Szene) aus. Auch Grabbe, in Düsseldorf als „Trunkenbold“ (JB 103) verkommen, sendet er ihr und auch darin ist mit Mehring eine „anthropologische Skepsis“ auszumachen. Literarisch neigte Schmitt „früh schon zur ‚tragischen‘ Literaturgeschichte“ von Büchner, Krabbe, Hebbel, musikalisch zur Achse Mozart und Wagner: „Hinter Mozart geht er nicht zurück und über Wagner, Richard Strauss und Hans Pfitzner kaum hinaus. Und auch Mahler, Schönberg und die zweite Wiener Schule, die aus dem weiten Mantel Wagners schlüpfte, erwähnt Schmitt kaum“.100

Überhaupt ist Schmitt Richard Wagner der Inbegriff der Moderne, und indem Wagners Theorie Musik als Dichtung auffasst, ermöglicht es dieser Ansatz Schmitt, eine Alternative zwischen Wagner und Theodor Däubler zu entwickeln. Schmitt lernt Däubler 1912 wahrscheinlich über seinen Freund Eisler kennen, wie aus einem Brief zu schließen ist: „Nächstens krieg ich Besuch von Eisler und dann von Däubler. Auf diesen bin ich besonders gespannt. Er ist beinahe 2 m groß, dick, hat einen langen schwarzen Bart und ist immer heftig gestikulierend am Reden“ (JB 127).101

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Mehring (2014, S. 3/4). Mehring (2009, S. 41; nachst. S. 41 ff.). Mehring (2009, S. 50; nachst. S. 50 ff.). Siehe zur Person Däublers auch Kennedy (1988).

III. Referendariat in Düsseldorf (2).

Im Juni vertieft sich das Kennenlernen. Däubler, der jetzt ein „berühmter Mann geworden“ sei, besucht Schmitt erneut und bleibt für sechs Wochen (JB 153). Zusammen mit Eisler plant Schmitt eine Däubler-Schrift, die parallel zu den Schattenrissen hätte verfasst werden müssen.102 Dieses Vorhaben kommt aber nicht zum Tragen, sodass Schmitt die DäublerSchrift103 alleine verfasst. Eine Veröffentlichung scheitert aber trotz zweier Anläufe. Trotzdem wird Schmitt als erster Däubler-Interpret in die Literaturkritik eingehen, „entdeckt“ jedoch hat er ihn durch und mit Eisler: „Ganz eindeutig ist die Däubler-Deutung ein affirmatives, emphatisches Gegenstück zur Schattenrisse-Satire. Dem verpönten ‚Gemeingut der Gebildeten‘ stellen beide den großen Dichter entgegen. Nur vom hohen Begriff der dichterischen Aufgabe her hat die satirische Polemik ihren Stand“.104

2. Carita („Cari“) von Dorotic Es ist nur ein Brief an seine Schwester, aber er kündigt private Verstrickungen an, die Schmitt lange und schmerzhaft umtreiben werden. Er schreibt über sein neues Liebesglück: „Ich habe jetzt eine entzückende Freundschaft mit einer spanischen Tänzerin, die auch dir gefallen würde“ (JB 151).

Die Varieté-Bekanntschaft Carita von Dorotic – „Cari“ – ist weder Spanierin, noch „von“, und sie präsentiert Schmitt ein Leben, „wie die Männer es lieben“: Sie, die in Wien geborene Tochter des adeligen Gutsbesitzers Karl von Dorotic, beschreibt sich als „jung, adelig und unglücklich“.105 Nach dem frühen Tod der Eltern sei sie bei einer in München lebenden Tante untergekommen, von dieser aber so schlecht behandelt worden, dass sie als Tänzerin zum Theater entfloh. – Erst 1922 wird das Scheidungsverfahren die ganze Wahrheit über Cari offenlegen.106 102 Siehe hier Carl Schmitt und die Literatur. 103 Schmitts Nordlicht-Schrift von 1912 besprechen wir hier nicht (s. dazu Mehring (2009, S. 53 f.). 104 Mehring (2009, S. 53). 105 Ebd. S. 57; nachst. s. ebd.). 106 Sie ist in Wien als uneheliche Tochter einer Augusta Maria Franziska Schachner geboren. Die Mutter heiratet später den Spenglergehilfen Johann Dorotic. Mit den Eltern kommt sie 1889 nach München, geht 1907 für ein Jahr nach Wien. In München zurück reist sie mit einem Königsberger Pass nach Prag, um dann erneut einige Monate in München zu leben „und dort den Behörden im März 1910

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Zweites Kapitel: Gesetz und Urteil (1912)

Obwohl ihm zum Beispiel der geheime Justizrat Hugo am Zehnhoff107, sein damaliger Förderer, abrät, heiratet Carl Schmitt „eine Tänzerin: eine Demimonde, Femme fatal und Betrügerin. (…) Es war ein halsbrecherisches Kunststück, sein Leben auf Cari zu stellen. Die Passion hat aber ihr eigenes Recht an sich. Was Schmitt ihr verdankt, ist schwer zu ermessen“.108

Es überrascht, aber beruflich übersteht Schmitt die Cari-Affäre ohne Einbruch.109 Eine Bemerkung Zehnhoffs über den Carl Schmitt dieser Periode soll nicht unerwähnt bleiben: „Ich habe in meinem langen Juristenleben keinen Menschen kennengelernt, der mehr Ordnung in seinen Gedanken und Begriffen hatte als Sie, aber auch keinen, der mehr Unordnung und Durcheinander in seinem Privatleben gehabt hätte“ (GL 168).

Privat hatte sich Schmitt umgehend von Helene Bernstein getrennt, nachdem er Cari kennengelernt hatte und nachgerade besessen von ihr war:110 „O Cari, Du bist mir so rein, Du hast keinen Vorgänger und keinen Nachfolger, und dieses widrige Scheusal ist so wenig Dein Vorgänger wie ein Affe, der sich im Königsmantel versteckt hat und die Leute eine Minute täuschte, Vorgänger des Königs wird“ (I 43).

Schmitt plagen – zu dieser Zeit ein Normal- und kein Ausnahmezustand – Geldsorgen ernstester Art, deren Ursache er jetzt in sozialen Ungerechtigkeiten ausmacht und ihn dazu zwingt, den Kontakt zu seinem reichen Onkel André zu reintensivieren. Zusätzlich absolviert er ein Praktikum, was ihm hilft, alte Schulden abzubauen. Der Schwester schreibt er tröstend:

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aus den Akten zu kommen. Eigentlich ist sie Münchnerin“ (Mehring 2009, S. 57). Mit dem „Geheimrat“ und Zentrumspolitiker Hugo am Zehnhoff, Rechtsanwalt und späterer preußischer Justizminister, hatte Schmitt ab 1913 fast täglich geschäftlichen wie privaten Umgang. Schmitt ist auf seine gutachterlichen Aufträge ebenso angewiesen wie auf Zehnhoffs Beziehungen. Die Abhängigkeit von ihm seit Kriegsbeginn belastet ihn aber, so dass Schmitt die Beziehung – wohl maßgeblich wegen Zehnhoffs Einmischung in die Cari-Affäre und ob des Versuches, Schmitt mit seiner Nichte zu verheiraten (s. TB I, E. 2) – nach langem Abnabelungsprozess sogar förmlich abbricht. Nach 1919 wird die Beziehung wieder aufgenommen (s. Mehring.2009, S. 66 ff.). Mehring (2009, S. 58). Siehe ebd.. Siehe dazu ebd.2009, S. 57 ff.

III. Referendariat in Düsseldorf (2).

„Hoffentlich bin ich in einigen Jahren ein reicher Mann und helfe Euch allen. Aber jetzt bin ich noch ein sehr kleiner Lump, der sich durchbeißt“ (JB 166).

Trotzdem holt er Cari im Dezember nach Köln, wo sie gemeinsam Weihnachten feiern. So drängt sich die Frage auf, was denn Cari so zu Schmitt hinzog, Geld konnte zu diesem Zeitpunkt kaum ein Motiv gewesen sein. Im Oktober 1913 feiert man schließlich Verlobung und Schmitt beginnt umgehend mit der Erledigung der notwendigen Formalien für die Hochzeit. Erstmals bezieht man eine gemeinsame Wohnung – kurz nur, denn Cari hat ihren Pass „verloren“. Schmitt schickt sie stante pede nach Plettenberg, die Heirat, die dann erst die Ausnahmebedingungen des Weltkriegs ermöglichen werden, wird um ein Jahr verschoben.111 Der Aufenthalt Caris in Plettenberg jedoch gestaltet sich schwierig: „Sie ist in Plettenberg in der Umgebung der abscheulichen, gemeinen, lasterhaften und bösen Mutter und der verzogenen kleinen Anna. Nur der Vater macht ihr das Leben leicht. Ich weiß nicht, was aus mir wird“ (TB I 114).

Nach weiteren gegenseitigen Anwürfen beruhigt sich die Situation in Plettenberg aber wieder. Trotzdem wird Cari in einem Kölner Kloster untergebracht und Schmitt setzt seinen Alltag in Düsseldorf – „zwischen Mansarde und Cari, Gericht und Geheimrat“ – fort: „Was werde ich für ein Mensch? Esse bei dem Millionär Josten, dem schwerreichen Fabrikbesitzer, zu Mittag als gehörte ich zur Familie, gehe zu Lamberts, zum Geheimrat, wie es mir paßt, habe eine Braut in Köln, die aus einer alten adeligen kroatischen Familie stammt und heiße Schmitt und bin aus Plettenberg und weiß nicht, wovon ich morgen leben soll“ (TB I 2).

Das Tagebuch reißt Mitte Februar 1914 ab.112 Seine Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen wird er seiner „Pabla von Dorotic“ widmen.

111 Siehe Mehring (2009, S. 68). 112 Siehe ebd. S. 70.

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

Neben seinen Schwerpunkten Jurisprudenz, Rechtsphilosophie und Politik beschäftigte sich Schmitt auch mit geisteswissenschaftlichen und theologischen Fragen. Auf dem Gebiet der Literatur profilierte sich Schmitt aktiv als Schriftsteller und passiv als Kritiker, Betätigungen, die jüngst wieder stärker beleuchtet werden.113 Der Schwerpunkt dieser Arbeit befasst sich hauptsächlich mit dem Literaturkritiker Schmitt und seinem Essay Theodor Däublers „Nordlicht“. Auf seine eigenen schriftstellerischen Arbeiten werden wir wenn auch knapp eingehen, weil sie das Bild von Schmitts Kultur- und Zeitkritik der Moderne vervollständigen.114 Carl Schmitt entpuppt sich als Vielschreiber. Zwischen 1910 und 1916 veröffentlich er fünf Monographien, viele Gutachten und Abschlussarbeiten sind wohl verloren. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit publiziert er kleinere Texte, in denen er vor allem die literarischen Formen von Rezension und Miszelle erprobt und mit denen er seine Position zu Philosophie und Kunst thematisiert. Wichtig für unsere Betrachtungen der literarischen Werke Schmitts ist, dass er sie von der Wirkung auf den Adressaten her bewertet.115 Publikationsforum wird zunächst die Kulturzeitschrift Die Rheinlande, für die er zwischen 1911 und 1913 sechs kleinere Artikel verfasst. Schmitts literarische Frühschiften wurden von der Kritik meist pauschal und mit wenigen Sätzen als „skurril“ abgewertet.116 I. Drei Tischgespräche (1911). Die Drei Tischgespräche117 schreibt Schmitt in der literarischen Form der Anekdote. Ernst Jünger schreibt Schmitt am 31.3.1976: 113 Siehe Linjing Jiang (2013). 114 Angemerkt sei, dass sich Schmitts literarische Ader schon in seinem ersten Berufswunsch verriet, er wollte zunächst Philologie studieren. 115 Siehe dazu auch Carl Schmitts Aufsatz Don Qujiote und das Publikum (Die Rheinlande, 1912, Heft 10, S. 348-350). 116 Villinger (1995, S. 138). 117 Die Rheinlande, 1911, Heft 7, S. 250.

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II. Der Spiegel (1911).

„In diesen Tagen habe ich eine Trouvaille gemacht: „Die Rheinlande/Herausgeber Wilhelm Schäfer“, 1911, Heft 7. Darin: Carl Schmitt „Drei Tischgespräche“. Eine charmante kleine Trilogie, die Sie vielleicht selbst schon vergessen haben. Schien mir auch insofern verwunderlich, als Schäfer, wie ich mich zu entsinnen glaube, ungefähr um dieselbe Zeit in Ihren „Schattenrissen“ nicht gut weggekommen ist. Ein glänzender Titel übrigens für Negativbeleuchtungen“.118

Die Anekdoten gehen von autobiographischen Erlebnissen aus, ihre Pointe liegt jeweils in einer überraschenden Schlusswendung, in der der gesunde Menschenverstand über die vorangegangene Intellektualisierung obsiegt.119 II. Der Spiegel (1911). Eine andere Qualität als die „charmante kleine Trilogie“, hat die Novelle Der Spiegel120. Ein Ich-Erzähler – „Ich bin ein wissenschaftlich denkender Mensch, so gut wie mein Kritiker“.121 – unternimmt den Versuch, „etwas seltsame Theorien“ durch eine wahre Geschichte zu unterstützen. Diese seltsame Theorie behauptet eine „Identität der sogenannten geistigen Welt mit der sogenannten Wirklichkeit“:122 „Ich verlange von niemandem, daß er auf diese theoretischen Behauptungen hin meine Überzeugung teilt. Zufällig kenne ich eine Geschichte, die meine, wie ich gern gestehe, etwas seltsamen Theorien zu stützen geeignet ist“.123

Schmitt erzählt folgende Geschichte: „Franz Morphenius bekam als Kind viele Schläge und war schon früh davon überzeugt, daß er sie verdiene“.124

Die warmherzige Mutter aber ließ schlagen, der Vater, dessen Intelligenz außerhaus in seinem Büro verblieb, hatte zu exekutieren. Fünf Jahre alt,

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https://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=urn:nbn:de:bsz:16-diglit-264941 |log00090&physid=phys00275#navi. Jünger (1999, S. 418). Siehe Mehring (2009, S. 43). Die Rheinlande, 1911, Heft 2, S. 61-62. Ebd. S. 61. Ebd.; s. Mehring (2009, S. 43; nachst. s. ebd.). Die Rheinlande, 1912, Heft 12, S. 61. Ebd.; nachst. Zitate ebd. S. 61-62.

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

schenkte Franz der vierjährigen Rosalie Blöing Schokolade, was die Mutter scheltend unterbindet. Da Rosalie seiner Mutter in keinster Weise – nicht an körperlicher Kraft, Intelligenz, Sprachgewandtheit, Schönheit – gewachsen war, beschloss Franz der Mutter immer zu gehorchen – und hielt Wort. Aber Franz verliebte sich endlich, und immer wenn er Rosalie Blöing sah, glaubte er auf die übrige Welt verzichten zu können, was er Rosalie auch wissen ließ. Andererseits hing er den unwidersprechlichen Ansichten der Mutter „über das ganze Verhältnis“ an. Dieser Zwiespalt, Körper und Seele rissen auseinander, schien zugunsten der Mutter aufgelöst, als sich „ein Jurist in fester Position“ um Rosalie bemühte: „Da aber wurde es der Instanz, die Körper und Seele in prästabilierter Harmonie und Korrespondenz hält, zu viel. Der Körper des Franz Morphinius blieb bestehen und wurde mit der Seele eines Referendars bevölkert, die durch ein Automobilunglück frei geworden war. Niemand bemerkte eine Veränderung. Die Seele des Franz Morphinius aber wurde in einen Spiegel gesteckt.“

Diesen Spiegel hatte ein Möbelhändler just zur Zeit des Autounfalls in ein Schaufenster gestellt: „Die Seele des Referendars fand sich in den neuen Verhältnissen sofort zurecht“. Fortan ließ er Menschen wie Dinge an sich vorbeifließen, nahm sie in sich auf, um sie wieder freizugeben „und wunderte sich über seine Vielseitigkeit und Rezeptivität“.125 An eine Familie verkauft, stand der Spiegel nun zwar in einem Empfangszimmer, aber ansonsten lief alles ab wie bisher. Das änderte sich, als Rosalie Blöing jene Familie besuchte, und an ihm vorbeiging. Der Spiegel geriet darüber in Aufregung, nur die Pflicht allem gerecht zu werden, dämmt sie. „Sie stand da und drehte sich vor ihm herum. Sie bemühte sich offenbar um ihn. Das beruhigte ihn. Ein junger Mensch in einem schwarzen Gehrock kam ins Zimmer. Auch er schien sich um Spiegels Gunst zu bewerben.“

Als der junge Mann Rosalie plötzlich küssen wollte, stieß er den Ellenbogen in den Spiegel, „so daß niemand sich über den zerbrochenen Spiegel wunderte und die Rationalisten scheinbar recht behielten. Aber was weiß so ein Rationalist denn vom wirklichen Wesen?“

Der Spiegel war darob in viele Teile zerbrochen, die – bis auf einen – alle den „Weg normaler Entwicklung“ gingen und sie „hatten jeder sein

125 Ebd. S. 62; nachst. Zitate ebd..

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III. Schattenrisse (1913).

Schicksal für sich“. Sie fanden zu einem Flickschneider, einem Lehrer, einem Philosophen und einer zu einem Quintaner, der sich darüber belustigte, ihn Grimassen schneiden zu lassen, der Sonne ins Gesicht zu sehen, sie in sich aufzunehmen „und sie dann bloß zu seinem Spaß, einem berühmten Gelehrten ins Gesicht zu werfen“. Ein anderer mahnte einen Ziegenbock zur Selbsteinsicht, der darüber aber irrsinnig wurde und den Spiegel in nicht mehr lebensfähige Splitter zerstieß. Er war tot. Die anderen Spiegel aber lösten sich allmählich von der Welt des Scheins und der Körperlichkeit los, erkannten die Richtigkeit der Welt und Dinge, „auch die Richtigkeit ihrer selbst. Sie gaben das falsche Sichdünken ‚Ich bin‘ auf. Der Quecksilberbeschlag löste sich; durchsichtiges Glas blieb zurück. Ihre Seele ging auf in der Weltseele, wo jede Individualität verschwindet.“

Die Identität war damit zerschlagen, das geprügelte Kind war zum unglücklich Liebenden geworden und hatte sich selbst vernichtet: „Schmitt skizziert eine bittere Entbildungsnovelle mit autobiographischem Unterton. Eine Rosalie war eine Sudentenliebe aus Saarburg (…)“.126

Das mag genügen. III. Schattenrisse (1913). „Es handelt sich bei dem vorliegenden Werk um einen ersten Versuch. Um eine provisorische Zusammenstellung, die – falls sie den Beifall der Gebildeten finden sollte – fortgesetzt werden wird. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis dürfte genügen, um, worauf es uns ankam, darzutun: in zwangloser Reihenfolge den überquellenden Reichtum westeuropäischer Kultur und deutscher Geschichte im Zusammenhang mit dem tiefen Ernst nordischen Wesens (vgl. Nr. 5), sowie gallischer Leichtigkeit (vgl. Nr. 10) zu bannen. Auf und nieder steigen die Eimer der Gegenwart und Zukunft (vgl. Nr. 7, verbunden mit Nr. 9), und da gilt es, den seelenlosen Menschen des mechanistischen Zeitalters wieder mit der Gewißheit zu

126 Mehring (2009, S. 43).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

erfüllen, daß der Wellenschlag der Kultur auch über uns Gegenwärtige hinwegbraust und jedes Ding seine Zeit hat“.127

Carl Schmitts mit Fritz Eisler unter dem Pseudonym Johannes Negelinus verfasste Schattenrisse – „weit mehr als ein bloßer ‚Studentenulk‘128 – wollen zeigen, dass der Relativismus nicht tot ist und der Naturalismus lebt, aber „gezielt das Gegenteil tun“.129 Sie erörtern „neuere literarische Tendenzen der ‚Überwindung‘ des Naturalismus im Spiegel grotesker Portraitskizzen“.130 Heinrich Muth attestiert den zwölf „Negativbeleuchtungen“131 eine Mischung von geistvoller Gesellschaftskritik und geschmacklosem Unsinn. Ingeborg Villinger hält dagegen: „Er übersieht dabei allerdings, daß Schmitts ‚Unsinn‘ ein Unsinn mit Methode ist: Er bildet damit den aus seiner Sicht um 1900 herrschenden Unsinn ab“.132

Stilmittel, um „die Umrisse und Konturen der Kultur um 1900 abzubilden“, sind eine absichtsvoll banale Sprache, „mit der sie aus ihrer Sicht ebensolche, bis an den völligen Unsinn reichende, Inhalte wiedergeben. Deshalb hat dieser Unsinn, wie im Fall der Dunkelmännerbriefe, Methode: die polemische Zuspitzung der zentralen Strömungen der Kultur um 1900 mit deren eigenen Mitteln, läßt ihre Kohärenz hervortreten“.133

Schmitts „Unsinn“ sei ebenso kalkuliert wie durchkomponiert, die Struktur sei mit der der Dunkelmännerbriefe identisch.134 Das Pseudonym Johannes Nigelinus setzt sich zusammen aus dem Vornamen des eigentlichen Verfassers, Johannes Reuchlin und dem Nachnamen des Absenders des 18. Dunkelmännerbriefes, Magister Petrus Negelinus. Dem Pseudonym folgt das satirische Programm der Briefe, sollten die satirisch Gezeichne-

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Vorwort der Schattenrisse (zeilenidentisch) in Villinger (1995, S. 15). Villinger (1995, S. 7). Mehring (2009, S. 55). Ebd. Jünger (1999, S. 418). Porträtiert werden u.a.: Walter Rathenau, Gottfried von Bouillon (steht für Kaiser Wilhelm II.), Herbert Eulenberg, Pipin der Kleine, Wilhelm Schäfer, Thomas Mann. 132 Villinger (1995, S. 138). 133 Ebd. S. 143; s.a. ebd. S. 7). 134 Ebd. S. 143 f.). Die sog. „Dunkelmännerbriefe“ bezeichnen eine Serie gefälschter, satirischer lateinischer Briefe aus dem Jahr 1515, die sich – verfasst von deutschen Humanisten – über das Lehrgebäude der Scholastik, und damit Rom, lächerlich machten und im Oktober 1515 anonym veröffentlicht wurden.

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III. Schattenrisse (1913).

ten sich doch durch ihren eigenen Tonfall selbst „als materialistisch, positivistisch, relativistisch und nihilistisch entlarven“.135 Damit ergibt sich ein Pandämonium all dessen was der Katholik Schmitt als modernistisch verwarf: Naturalismus, Positivismus und Monismus, die Verabsolutierung der Naturwissenschaften, die Überhöhung des Individuums zum Persönlichkeitskult, Fortschrittsdenken und Bildungsverflachung sowie eine „Idolatrie des Übermenschen“.136 Während aber die Dunkelmännerbriefe mit ihrer Scholastik-Kritik den römischen Katholizismus angriffen, kämpften die Schattenrisse gerade gegen den „anti-römischen Affekt“137 an. Schmitt verfasste die Schattenrisse zu einer Zeit, in der er schon fasziniert zu dem Dichter Theodor Däubler aufblickte und ihn zum größten deutschen Dichter der Moderne erhob. Wir werden sehen, dass Däublers Nordlicht für das Verständnis des jungen Carl Schmitt eine Schlüsselschrift ist: „Am Gegenbild dieser wunderlich-gewaltigen kosmogonisch-gnostischen Phantasmagorie, damals von Schmitt noch christlich gedeutet, entfaltete er seine Zeitkritik. Die drei Jahre zuvor entstandenen ‚Schattenrisse‘ verhalten sich zu den ‚Nordlicht‘-Studien wie der Schatten zum Licht; sie sind das satirische Abbild jener Zeit und Kultur, von der sich Däublers weltenschaffende Phantasie abgewandt hatte“.138

Für Mehring sind die Schattenrisse eine „Generalabrechnung mit der Wilhelmischen Kultur“.139 Für Ostermann hingegen spricht Schmitt mit seinem sprachlichen Bombast und den Phrasen und Floskeln seiner Zeit wie ein wilhelminischer Oberlehrer. „Kulturkritische Impulse, der Hochmut eines intellektuellen Dandys gegenüber der misera plebs, die sich mit geistigen Surrogaten zufriedengibt, und das reine Vergnügen an Sprachwitz und Blödsinn sind in den ‚Schattenrissen‘ eine merkwürdige Mischung eingegangen“.140

135 Martin Stingelin in(Meuter/Otten Hg. 1999, S. 67). 136 Osterkamp (1995, S. 2). 137 Siehe den ersten Satz von Schmitts Katholizismusschrift Römischer Katholizismus und politische Form (1923). 138 Osterkamp (1995, S. 1). 139 Mehring (2009, S. 56). 140 Osterkamp (1995, S. 2).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918). In der Agonie des Wilhelminischen Kaiserreichs verfasste Carl Schmitt seine literarische Satire Die Buribunken (1918), veröffentlicht in der von Franz Blei und Jakob Hegner herausgegebenen Zeitschrift Summa.141 In satirischer Form zeichnet Schmitt sein Bild über die Inhaltslosigkeit der westlichen Zivilisation142 und parodiert mit Wortwitz und Anspielungen den Historismus und die Fortschrittsgläubigkeit, wie sie in wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Organisationen dieser Zeit programmatisch vertreten werden.143 Dabei liegt dieser Satire „die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert ebenso zugrunde wie die nüchterne politische und soziale Realität des zusammenbrechenden Kaiserreichs und die zeitgenössisch inhaltsleere bürgerliche Rechtsstaatlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts“.144

Sie kritisiert eine Moderne, die ihre eigene Sinnleere bzw. Sinnlosigkeit nicht nur durchschaut, sondern zugleich durch „reflexive, rhetorische, literarische und publizistische Formgebung zu überspielen versucht“.145 Der Jurist Schmitt – als Intellektueller eigentlich für jede Anregung dankbar – überzieht eine leerlaufende wissenschaftliche Betriebsamkeit mit beißendem Spott.146 Schmitts Buribunke ist der fiktive Prototyp des modernen Menschen, der dem wahren, wirklichen Leben durch sein autobiographisches, exzessives Tagebuchschreiben entflieht, wie dies in Reinform ein Mensch namens Schnekke praktiziert:147 „Er ist nichts mehr als Tagebuchführer, er lebt für das Tagebuch, er lebt in und vom Tagebuch“ 148

Der Buribunke zeichnet sich durch zwei Merkmale aus, er schreibt Tagebuch und hat ein – physiologisch wie chrakterisierend betrachtet – „großes Maul“.

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Die Buribunken, in: Summa I (1917/18), Heft 4 (1918), S. 89-106). Noack (1993, S. 36). S. Koselleck (2000, S. 141). Pfeiffer/Schnell (2008, S. 11). Ebd. S. 12. Vgl. Mehring (2011, S. 142). Vgl. Mehring (2017, S. 45). Die Buribunken (S. 100).

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

Reinhart Koselleck charakterisiert Die Buribunken als eine negative Utopie, wobei das Utopische darin bestehe, dass der Mensch glaubt, Geschichte nicht nur erfassen, sondern vollstrecken und beherrschen zu können: „Diese Bewußtseinsphilosophie erstreckt sich auf alle drei zeitlichen Dimensionen, die gegeneinander relativiert und zugleich progressiv ausgelegt werden“.149

Woraus für Koselleck zu schließen ist, dass die Kritik Carl Schmitts auf die gesamte geistige Fundierung der Neuzeit ziele, sofern sie als geschichtlicher Fortschritt entworfen und vollzogen werde.150 Die Existenz der Buribunken resultiert aus der Existenz der „Buribunkologie“, was heißt, dass sich die Wissenschaft ihren eigenen Gegenstand produziert, „so daß auf diese Weise die Konvergenz zwischen der Buribunkologie und dem wirklichen Buribunkentum erzeugt wird“.151 Aus literarischer Sicht besteht die Pointe darin, dass die Verzeitlichung der fortlaufenden Geschichte „als eine Vollzugsweise des Schreibens ironisiert wird“.152 Jeder Mensch soll in buribunkologischer Absicht Tagebuch führen, sein Innerstes nach außen tragen und so eine Kontrolle ermöglichen, die perfektioniert wird bis zum vollendeten Kontroll-Terror. Der philosophische Grundsatz der Buribunkologie lautet: „Ich denke, also bin ich; ich rede, also bin ich; ich schreibe, also bin ich; ich publiziere, also bin ich“.153

Die Identitäten steigern sich in logischer Gesetzmäßigkeit: “Ich schreibe, daß ich mich selbst schreibe. Was ist der große Motor, der mich aus diesem selbstgenügsamen Kreis der Ichheit hinaushebt? Die Geschichte! (…) Ich bin also ein Buchstabe auf der Schreibmaschine der Geschichte. (...) Aber in mir erfaßt, schreibend, der Weltgeist sich selbst, so daß ich, mich

149 Koselleck (2000, S 142). Um seinem satirischen Aufsatz den Schein der Wissenschaftlichkeit zu verleihen, bietet Schmitt bedeutende Persönlichkeiten auf, die aber meist nur aus Anspielungen herauszulesen sind: Descartes, Adam Smith, Hegel und Marx, Richard Wagner und Nietzsche, Lamprecht, Haeckel oder Ostwald, – möglicherweise schon Lenin und die kommunistische Partei, Wilson und den amerikanischen Kapitalismus (Koselleck 2000, S. 148). 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Die Buribunken (S. 103).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

selbst erfassend, gleichzeitig den Weltgeist erfasse. (…) Das heißt: Ich bin nicht nur Leser der Weltgeschichte, sondern auch ihr Schreiber“.154

Und weiter: „Erst in der Sekunde, in welcher der einzelne Buchstabe aus der sinn- und bedeutungslosen Gleichgültigkeit der Tastatur auf die belebte Zusammenhangsfülle desweißen Blattes schlägt, ist eine historische Realität gegeben, erst diese Sekunde ist die Geburtsstunde des Lebens. Das heißt der Vergangenheit, denn die Gegenwart ist nur die Hebamme, die aus dem dunklen Leib der Zukunft die lebensvolle geschichtliche Vergangenheit entbindet. Solange sie nicht erreicht ist, liegt die Zukunft stumpf und gleichgültig da wie die Tastatur der Schreibmaschine, wie ein dunkles Rattenloch, aus dem eine Sekunde nach der andern wie eine Ratte nach der andern ins Licht der Vergangenheit tritt“.155

Schmitt folgt „der in logischer Folge aufsteigenden Entwicklung des Buribunkentums“156 und benennt ihre Vorläufer wie Marc Aurel, Augustinus, den älteren Plinius bis zu Richard Wagner. „Die Buribunken sind das tagebuchschreibende Kollektivgewissen der Geschichte“.157 Den geschichtlichen Betrachtungen – Wirklichkeit werdend erst mit dem geschriebenen Tagebuch – wird die Figur des „denkbar unwissenschaftlichen“, dagegen „lebensstrotzenden“ Kavaliers Don Juan entgegengestellt. Zwar wird über dessen amouröse Eroberungen durch seinen Diener Leporello ein Register geführt, die entscheidende Frage aber sei, „wem das geistige Eigentum an dieser Idee zuzusprechen ist“.158 Mit dem Führen einer Registratur für einen anderen aber kann Leporello noch keine Geschichtlichkeit erlangen. Er nimmt mit, was an amourösen Brotsamen vom Tisch seines Herrn fällt. „Das tut ein Buribunke nicht, denn der Buribunke ist unbedingt und absolut sein eigener Herr, er ist er selbst“.159

Doch wächst der Wunsch des Dieners, durch das Aufschreiben an den Erlebnissen seines Herrn teilzunehmen „und in diesem Augenblick beginnt die Morgendämmerung des Buribunkentums“.160 Don Juan kann Leporel-

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Ebd. S. 103/104. Ebd. S. 104 . Ebd. S. 95. Koselleck (2000, S. 143). Die Buribunken (S. 92). Ebd. S. 93. Ebd. S. 94.

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

lo nicht werden, aber sich über ihn erheben, indem er zu seinem Biographen wird. „Er wird Historiker, er schleppt ihn vor die Schranken der Weltgeschichte, das heißt des Weltgerichts, um dort als Advokat oder Ankläger aufzutreten, je nach dem Ergebnis seiner Beobachtungen und Deutungen“.161

Doch Leporello selbst, ist sich dieser „riesenhaften Entwicklung“ nicht bewusst – und deshalb auch kein echter Buribunke: „Es fehlt ihm das Bewußtsein der höheren Bewußtheit des Schreibenden, das Bewußtsein, Verfasser eines Stücks Weltgeschichte geworden zu sein, ja, das Urteil dieses Weltgerichts in der Hand zu haben (…)“.162

Zudem ist Leporellos Registerführung völlig unzulänglich. Sie verbleibt bei den singulären aufeinanderfolgenden Verführungen und ist nicht in der Lage, ein homogenes Kontinuum der Entwicklung zu gestalten sowie den Nachweis gesetzmäßiger Zusammenhänge zu erbringen. Es fehlen in der Darstellung die sozialen, klimatischen, wirtschaftlichen und soziologischen Bedingtheiten der einzelnen Abenteuer und damit die Individualität des einzelnen Falls. Nirgends gehe er den tieferen Zusammenhängen der einzelnen Verführungen nach, nirgends fänden sich sozialwissenschaftliche Angaben – Stand, Herkunft, Alter – der Opfer. Auch über eine mögliche gemeinschaftliche Massenaktion der Opfer schweige das Register.163 Weiter fehlten statistische Angaben, unerlässlich bei der Zahl von 1003 Opfern. Die Frage nach einer sozialen Fürsorge der verlassenen Mädchen werde ebenso wenig behandelt, wie die Frage des Frauenwahlrechts ob der „brutalen Ausbeutung der sozialen Überlegenheit des Mannes gegenüber den wehrlosen Frauen“.164 So stoße eine Unmenge dringendster wissenschaftlicher Fragen bei Leporello auf taube Ohren: „Mit einem Wort, das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis“.165 So verbleibe Leporello der Diener seines Herrn, weshalb auf den Werbeplakaten der Theater immer noch stehe: „Don Juan, der bestrafte Wüstling und nicht: Leporellos Erzählungen“.166

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Ebd. Ebd. Ebd. S. 95. Ebd. Ebd. Ebd.

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

Derart komme das Buribunkentum erst zur Erscheinung, wenn all die Versäumnisse Leporellos behoben sind. Dieser Aufgabe nahm sich der „Stifter und Führer der buribunkologischen Bewegung bzw. des wahren Buribunkentums“ an, ein Mann namens Ferker: „Erst Ferker machte das Tagebuch zu einer ethisch-historischen Möglichkeit, ihm gebührt das Erstgeburtsrecht im Reiche des Buribunkentums. Sei ihr selbst Geschichte; Lebe, daß jede deiner Sekunden in deinem Tagebuch eingetragen werden und deinem Biographen in die Hände fallen kann:“.167

Ferkers Lebensweg verlief „sensationell“.168 Der Sohn kleiner Leute, ausgebildet nur in der lateinlosen Realschule, ergriff nacheinander folgende Berufe: Dentist, Buchmacher, Redakteur, Tiefbauunternehmer in Tiflis, Sekretär der Zentralstelle internationaler Vereine zur Hebung des Fremdenverkehrs an der Adria, Kinobesitzer in Berlin, Reklamechef in San Franzisko und Dozent für Reklamewesen und Arrivistik an der Handelshochschule in Alexandria.169 Unter dem Motto: „Sei dir selbst Geschichte“170, entstand der Weltbund zur Verbreitung seiner Ideen, der mit großem Geschick organisiert war und „dem eine intelligente Presse zur Verfügung stand“171 und sich schon dadurch auszeichnete, daß er bereits über 400.000 buribunkologische Dissertationen zugelassen hat und dessen Kontrolle vom Internationalen Buribunkologischen Institut für Ferker und verwandte Forschung (Ibiffuff) ausgeübt wird. „Gerade diese gewaltige Realität ist von imponierender Beweiskraft“.172 Für den Fall seines Ablebens hatte Ferker eine Feuerbestattung in Alexandria verfügt. Ein kleiner Teil seiner Asche war an alle Druckereien der Erde zur Herstellung von Druckerschwärze zu versenden, „daß in jedem der Milliarden Buchstaben, die das Auge im Laufe der Jahre treffen, ein Atom der Asche des unsterblichen Mannes enthalten sei“.173

Aber auch der große Ferker war aus zwei Gründen für die „Edelburibunken nur ein Vorläufer“, hat er doch kurz vor seinem Ableben seine „gänz-

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Ebd. S. 96. Ebd. S. 97. Ebd. Ebd. S. 96. Ebd. Ebd. S. 90. Ebd. S. 97.

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

lich ungebildete, ja analphabetische“ Haushälterin geheiratet, ohne dies in Tagebuchnotizen festzuhalten174 und hat sich, zweitens, „den ‚Giftträumen atavistischer Todesangst hingegeben (…)‘, ohne sie in produktive Schöpfung umzusetzen“.175

So blieb Ferker trotz aller Verdienste im Vorhof des wahren Buribunkentums stecken und der Weg zum wahren Fortschritt versperrt. Diese Inkonsequenzen hat erst Schnekke überwunden: „Als vollausgereifte Frucht edelsten Buribunkentums fiel dieser Genius vom Baum seiner eigenen Persönlichkeit. Bei Schnekke finden wir auch nicht das leiseste Straucheln mehr, keine noch so geringe Abweichung von der edelgeschwungenen Linie des Ur-Buribunkischen. Er ist nichts mehr als Tagebuchführer, er lebt für das Tagebuch, er lebt in und vom Tagebuch, und wenn er endlich auch Tagebuch dar-über führt, daß ihm nichts mehr einfällt, was er ins Tagebuch schreiben könnte“.176

Schnekke ist – im Gegensatz zu Ferker – frei von jeder partikulären Besonderheit, „sein in extremster Eigengesetzlichkeit schwingendes Ich ruht in einer unausgeprägten Allgemeinheit, in einer gleichmäßigen Farblosigkeit, die das Resultat desopferwilligsten Willens zur Macht ist“.177

Als Nachfolger Ferkers wird Schnekke zum neuen Führer, „der die Identität von Allgemeinheit und Ich zwanglos durchsetzt“.178 Ein Rückfall wie bei Ferker steht nicht mehr zu befürchten, das Reich des Buribunkentums ist errichtet.179 Schauen wir uns die Organisation dieses Reiches an. Jeder Buribunke hat jede Sekunde seines Lebens im Tagebuch festzuhalten, damit sie geschichtsfähig werden kann. Schnekke hat durchgesetzt, dass die Individualtagebücher täglich kopiert werden und jeder Instanz zur Verfügung stehen und in der groß angelegten Hierarchie „ein obligatori-

174 Ebd. S. 99. „Die einzig denkbare Lösung der Frage enthält wiederum den Keim zu neuen Fragen. Denn ob Ferker die Haushälterin in einer auf seine neuro-psycho-pathologische Veranlagung zu-rückzuführenden Depression geheiratet hat, oder ob die neuropsychopathologische Erkrankung die Folge seiner Ehe ist, darüber sind wir wegen des beklagenswerten Mangels jeglicher Tagebucheintragung auf bloße Vermutungen angewiesen“ (ebd.). 175 Koselleck (2000, S. 145); s. Die Buribunken (S. 99 f.). 176 Die Buribunken (S. 100). 177 Ebd. 178 Koselleck (2000, S. 145). 179 Die Buribunken (S. 100).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

sches Kollektivtagebuch der Menschheit herstellt“, das nach Art eines Sachregisters und nach dem Personalprinzip organisiert und damit vom Distrikt bis zur Zentrale leicht kontrollierbar ist:180 „Wollte zum Beispiel ein Psychopathologe sich dafür interessieren, welche Träume eine bestimmte Klasse von Buribunken während ihrer Pubertätszeit gehabt hat, so könnte das einschlägige Material an der Hand der Zettelkataloge in kürzester Zeit zusammengestellt werden. Die Arbeit des Psychopathologen würde ihrerseits aber ebenfalls wieder der Registrierung unterliegen, so daß etwa ein Historiker der Psychopathologie in wenigen Stunden zuverlässig ermitteln kann, welche Art psycho-pathologischer Studien bisher betrieben wurde“.181

Die so gesichteten und ausgewerteten Tagebücher werden dem Präsidenten des Buribunkenparlaments zur Kontrolle vorgelegt, der wiederum der Zentralinstanz berichtet und so in der Lage ist, „das gesamte Buribunkentum buribunkologisch zu erfassen“.182 Damit das Interesse des Buribunken an sich selbst und am Buribunkentum nicht erstarrt, werden „regelmäßige gegenseitige photographische Aufnahmen und Filmdarstellungen, ein reger Tagebuchaustauschverkehr, Vorlesungen aus Tagebüchern, Atelierbesuche, Konferenzen, Zeitschriftengründungen Festspielaufführungen mit vorhergehen-den und nachfolgenden Huldigungen für die Persönlichkeit des Künstlers [organisiert]“.183

Das oberste Gebot der Kontrolle im Buribunkologenreich aber ist „eine unbegrenzte, alles verstehende, nie sich entrüstende Toleranz und der höchste Respekt vor der persönlichen Freiheit“.184

Das Toleranzgebot senkt die Hemmschwellen der Individuen, alles von sich preiszugeben, was eine effektive Kontrolle erst möglich macht. Dem Buribunken steht es auch frei, eine opponierende Haltung gegen das Tagebuchschreiben einzunehmen – wenn sie nur dokumentiert wird. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist der unantastbare Lebensnerv der Buribunken:

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Koselleck (2000, S. 146). Die Buribunken (2000, S. 101). Ebd. Ebd. S. 101/102. Ebd. S. 102.

IV. Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch (1918).

„Der Gipfelpunkt dieser Freiheitlichkeit liegt jedoch darin, daß es keinem Buribunken verboten ist, in sein Tagebuch zu schreiben, daß er sich weigere, Tagebuch zu führen“.185

Wer aber tatsächlich aufhört, Tagebuch zu führen, missbraucht die allgemeine Geistesfreiheit „und wird wegen seiner antisozialen Gesinnung ausgemerzt. Das Rad der Entwicklung geht schweigend über den Schweigenden hinweg, es ist von ihm nicht mehr die Rede, er kann sich infolgedessen auch nicht mehr zur Geltung bringen“.186

Er sinkt dann herab in die Klasse derer, die nur mehr die äußeren Bedingungen produzieren. Da er nicht mehr schreibt, kann er sich gegen Falschdarstellung gegenüber seiner Person nicht mehr wehren und ist am Ende seines Abstufungsprozesses „nicht mehr vorhanden“, denn „das eherne Gesetz kennt keine Schonung gegen den Unwürdigen, der sich selbst ausgestoßen hat“.187 Durch diese Sicherungen verschwindet jede Opposition. „Die Gegner werden vereinnahmt, die Progressiven werden gesteuert, nur die Tagebuchunfähigen und damit Unkontrollierbaren werden ausgestoßen. Sie verwandeln sich in eine Nichtexistenz. Derartige Techniken der Negation führen dazu, daß die Buribunken die List der Weltgeschichte selber überlisten“.188

Die Buribunken aber hoffen, dass ihr arbeitsfreudiges Schaffen wenn auch vielleicht erst in Hunderten von Generationen eine unerhörte Veredelung erreicht. Infolge der nie endenden Höherentwicklung könnten neue Kommunikationsmittel es den Buribunkenfoeten ermöglichen, „Tagebuch zu führen“, ja „sich gegenseitig über ihre einschlägigen Wahrnehmungen unterrichten und somit, die letzten Geheimnisse der Sexualforschung entschleiernd, die notwendige tatsächliche Grundlage für eine verfeinerte Sexualethik liefern“.189

Wenn dies auch in weiter Ferne liegt, ist es gleichwohl historische Tatsächlichkeit,

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Ebd. Ebd. Ebd. S. 103. Koselleck (2000, S. 147). Die Buribunken (S. 103).

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Drittes Kapitel: Carl Schmitt und die Literatur.

„daß es bereits heute ein gewaltiges, in kompakter Masse organisiertes, aber gerade dadurch zum intensivsten Genuß der ureigensten Persönlichkeit gedrungenes, redendes, schreibendes, betriebmachendes Buribunkentum gibt, das triumphierend in die Morgenröte seiner Geschichtlichkeit schreitet“.190

Selbst die Angst vor dem Tode, die noch den großen Ferker katastrophal beeindruckt hatte, verschwindet, da das wirkliche Leben nur in seiner niedergelegten Schriftform Bestand hat: „In der Erkenntnis, daß nur in der Geschichte die wahre Realität sei, suchen wir die reale Unsterblichkeit in der Geschichte. Nicht in irgendeiner Jenseitigkeit. (…) Wir geben daher den Köpfen die rechte Richtung aufs Reale wieder, indem wir die Unsterblichkeit da suchen, wo sie wirklich ist: hinter uns, nicht vor uns“.191

Die klassischen Hindernisse einer traditionellen Utopie, der individuelle Tod und die private Liebe, sind in Schmitts Buribunkologie überwunden und münden im „reinen Bewußtsein allgemeiner Selbstbestimmung“: „Hinter dieser freilich verbirgt sich die absolute Knechtschaft im Namen der Wissenschaft und der Toleranz“.192

Und so bleiben doch Tod und Liebe die einzigen Gegeninstanzen, die verhindern könnten, „daß der Fortschritt in einem rassisch legitimierten Zweiklassenstaat endet, dessen herrschende Klasse aus selbstbewußten Ideologen besteht und dessen andere in das Nichts der geistigen Vergessenheit versenkt wird“.193

Carl Schmitt setzt sein eigenes Tagebuchschreiben wahrscheinlich bis 1921 aus.194

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Ebd. Ebd. S. 105. Koselleck (2000, S. 148). Ebd. Siehe Mehring (2017, S. 46).

Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

„Sinn dieses Buches ist, daß es den Sinn des Staates ausschließlich in der Aufgabe findet, Recht in der Welt zu verwirklichen, wodurch der Staat zu Mittelpunkt der Reihe: ‚Recht, Staat und Individuum‘ wird.“ Carl Schmitt195

I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. 1. Vorbemerkungen. Carl Schmitts spätere Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, die er von Januar bis Mai 1913 verfasste (TB II, VII), erörtert rechtsphilosophisch das Verhältnis des Staates zum Recht mit dem Ziel, „eine rechtsphilosophische Theorie des Staates zu geben“ (GU 21). Die Untersuchung konzentriert sich dabei, so Schmitt selbst, auf folgende Fragen: „die nach dem Verhältnis von Recht und Staat, nach der Definition des Staates und den Konsequenzen, die sich für das Individuum im Staat ergeben“ (WdS 21).

Mit Gesetz und Urteil hatte sich Schmitt weit von den zentralen Dogmen des Rechtspositivismus und dessen Postulat der Geschlossen- und Lückenlosigkeit des Rechts entfernt, hatte sich auf die Methode der Rechtspraxis beschränkt und diese streng vom wissenschaftlichen Umgang mit dem Recht unterschieden (vgl. GU 54).196 Er war in Gesetz und Urteil auch zu 195 (WdS 10.). Im Text verkürzen wir auf Der Wert des Staates (Sigle = WdS). 196 Vgl. Breuer (2012, S. 14). Schmitts Blick auf die Theorie des geltenden Rechts offenbart Überraschendes: Er schließt sich der neukantianischen Rechtslehre an. Alles, was aus dem Gesetz begrifflich nicht abzuleiten ist und deshalb dem Wesen nach mit einer Methode der Praxis nichts gemein haben kann, betrachtet Schmitt mit den Neukantianern als ein autonomes – von Faktizität, Moral und Ethik – streng geschiedenes, vollendet-geschlossenes Normensystem. Offen

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

der Einsicht gekommen, dass es Recht erst im Urteil – geleitet auch vom Konsens der Praxis – geben kann, womit erstmals die „Dezision“ als Geltungsgrund und als Normerzeugungsfaktor in das Recht eingeführt wurde.197 An dieser Auffassung hält Schmitt im Wert des Staates fest, nur tritt an die Stelle des Richters nunmehr der Staat, dem es obliegt, das Recht zu verwirklichen, um die Kluft zwischen der Rechtsidee und der Rechtsverwirklichung zu schließen.198 Schmitt sucht jetzt den Begriff der juristischen Entscheidung im Bereich des Staatshandelns.199 Explizit betont er, Der Wert des Staates sei eine „prinzipielle, nicht politische Untersuchung, der es auf die philosophische Erkenntnis, nicht Parteiziele und -zwecke ankommt“ (WdS 45).

Die herrschende Strömung der Staatsrechtslehre200 war sich 1913, als Schmitt gerade begann, die Schrift Der Wert des Staates zu verfassen, bei der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Recht darüber einig, dass der Staat dem Recht historisch wie kategorial vorausgehe, das Recht mithin eine Emanation des Staatswillens darstelle. So begründete Georg Jellinek in seiner „Zwei-Seiten-Lehre“ die Auffassung, dass das Recht politisch bedingt sei und die soziale Staatslehre der Staatsrechtslehre vorgehe.201 Dieser Auffassung trat energisch Kelsen entgegen, für den es eine methodische Unmöglichkeit war, ein- und denselben Gegenstand „Staat“ von zwei unterschiedlichen Erkenntnisrichtungen aus zu analysieren. Denn der Staat könne, da „allrechtlicher Natur“,202 nur normativ betrachtet werden. In seiner Allgemeinen Staatslehre (1925) wird er den Staat als den „Ausdruck für die Einheit eines Systems“, der Rechtsordnung nämlich, bestimmen.203 Dies ist grob skizziert aus staatsrechtlicher Sicht the state oft the art, den Schmitt am Beginn seiner Arbeit vorfand.

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bleibt hingegen der Übergang des Rechts vom Sollen ins Sein. Hierzu bedarf es der Vermittlung des Staates, der „als Übergangspunkt der einen Welt zur anderen“ (WdS 56) agiert (vgl. Breuer ebd.). Stolleis (2002, S. 52). Siehe Mehring (2009, S. 59). Vgl. Kiefer (1990, S. 484). Nachstehend vgl. Neumann (2015, S. 21 f.). Siehe Antar (1998, S. 517). Kelsen (1911, S. 253). Kelsen (1925, S. 76).

I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

Schon in der Einleitung präsentiert Schmitt das Resultat seiner Untersuchung. Der Staat steht für ihn im Mittelpunkt der Reihe: „Recht, Staat und Individuum“, liege doch der Sinn des Staates „ausschließlich in der Aufgabe, Recht in der Welt zu verwirklichen“ (WdS 10). 2. Recht und Macht. Seine Theorie des Verhältnisses von Staat und Recht bzw. seine rechtsphilosophische Begründung des Staates beginnt Schmitt mit einem Blick auf die „Theorie des geltenden Rechts, die bei einer Nichtbeachtung all dessen, was nicht aus dem Gesetz begrifflich zu deduzieren ist, ihrem Wesen nach mit der Methode einer Praxis nichts zu tun haben kann“ (GU 54).

Da das „reine, wirklichkeitsentwurzelte“204 Recht seinem Wesen nach Norm ist, nach deren Richtigkeit unabhängig von ihrer Tatsächlichkeit gefragt werden könne (WdS 44), heißt das Anliegen des ersten Teils der Schrift, das Recht von allem Empirischen zu lösen, es „rein“ zu machen.205 Zur Begründung seiner strikten Trennung der Sphären von Recht und Wirklichkeit, von Sollen und Sein, bedient sich Schmitt der Argumentation der neukantianischen Rechtslehre, die das Recht als ein autonomes – von Faktizität, Moral und Ethik streng geschiedenes – vollendet-geschlossenes Normensystem versteht. Da das Recht den Übergang vom Sollen zum Sein selbst nicht bewältigen kann, bedarf es der Hilfe des Staates, der als „Übergangspunkt der einen Welt zur anderen“ (WdS 56) dienen soll. 206 Die Trennung von Recht und Wirklichkeit besagt zunächst, dass die Geltung des selbstständigen und unabhängigen Rechts nicht von realen Begründungsprozessen, nicht von empirischen Anschauungen und nicht

204 Kiefer (1990, S. 484). 205 Vgl. ebd. 206 Vgl. Breuer (2012, S. 14). Schmitts Argumentation kann schwerlich als Bekenntnis zur neukantianischen Philosophie verstanden werden (s. Habfast 2010, S. 45 FN 30, mit weiteren Nachweisen). Aber Schmitt stand ursprünglich in der Tat in der Nähe des Neukantianismus und Kelsens Ausgangspunkt, entfernte sich aber bald vom klassischen Positivismus (Stolleis 2002, S. 178; siehe auch Kiefer 1990, S. 484).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

von der Zustimmung der Menschen abhängen darf.207 Gleiches gilt zum anderen für das Verhältnis von Recht und Macht. Weil das Recht für die Machttheoretiker nur ein Teil des Seins ist (WdS 24), „unterliegt es dem Gesetze der Kausalität wie alles, was da ist“ (WdS 25). Da auch die Anerkennung des Rechts durch die Menschen lediglich eine Tatsache darstellt, wird klar, dass der Rechtsbegriff Schmitts auf einem Dualismus basiert. Verneine man nämlich die Frage, ob Tatsachen ein Recht begründen könnten, „so ist der Gegensatz zweier Welten gegeben. Wird das Recht der Macht gegenüber selbständig und unabhängig, so folgt daraus ein Dualismus, der den Antithesen von Sollen und Sein, von normativer und genetischer, kritischer und naturwissenschaftlicher Betrachtung entspricht“ (WdS 26).

Schmitts Argumentation folgt der Absicht, mit der Machttheorie auch alle Positionen, die zur Machttheorie vereinigt wurden, gleichzeitig zu widerlegen, so da sind: die Rechtslehre Ernst Zitelmanns, der die normative Verbindlichkeit des Rechts in der wachsenden Gewöhnung an das tatsächliche Verhalten verortet, weiter die Interessenjurisprudenz (s. WdS 32 ff.), der Rechtspositivismus (s.o.; s. WdS 27) und die These von der demokratischen Legitimation des Rechts (WdS 35). Sie alle gewinnen das Recht aus psychischen, sozialen oder ethischen Tatsachen.208 In logischer Konsequenz des Schmittschen Dualismus verbietet es sich dann auch, dem Recht zur Realisierung eines bestimmten Zweckes eine normativ orientierte Einwirkung auf die Realität – wie dies die sog. Rechtszwecklehre tut – zuzusprechen.209 Denn eine Implementierung des Zwecks im Sinne einer Zielerreichung durch das Recht, würde die „Hereinziehung der Verwirklichung des Rechts in seine Definition“ bedeuten, „womit ein Moment der Realität und, um die Formulierung der Antithese zu gebrauchen, ein Moment der Macht in die Definition einer reinen, von jeder Tatsache und Erfahrung unabhängigen Norm gelangt. Die Norm kann kein Wollen, keinen Zweck tragen; Träger eines Zwecks kann nur eine Realität sein (…)“ (WdS 39).

Die entscheidende Frage sei deshalb nicht, ob das Recht oder die Macht in der Welt vorgeht, sondern die, ob das Recht aus Tatsachen abgeleitet wer207 Vgl. Neumann (2015, S. 22); vgl. Habfast (2010, S. 38 f.). Das beinhaltet auch die Ablehnung der These, dass das Recht ein fluktuierendes Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse ist (so Habfast 2010, S. 39). 208 Vgl. Habfast (2010, S 42 f.). 209 Neumann (2015, S. 22); s. a. Habfast (2010, S. 39).

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

den kann. Auch die Anerkennung des Rechts durch die Menschen sei lediglich eine Tatsache und es frage sich, ob Tatsachen ein Recht zu begründen vermögen. Werde diese Frage verneint, sei der Gegensatz zweier Welten gegeben (WdS 26). „Wird das Recht der Macht gegenüber selbständig und unabhängig, so folgt daraus ein Dualismus, der den Antithesen von Sollen und Sein, von normativer und genetischer, kritischer und naturwissenschaftlicher Betrachtung entspricht. Die Sphäre des Rechts kann dabei nicht mit dem Gebiet des positiven, tatsächlich geltenden Rechts, abgeschlossen sein, sondern wenn die tatsächliche Geltung zum Recht hinzukommt, um seine Positivität zu konstruieren, so kommt sie als etwas Äußerliches, in diesem Betracht Unwesentliches hinzu“ (WdS 26/27).

Denn wer auf dem Standpunkt steht, alles Recht sei notwendig positiv, wer die Begründung des Rechts mit den Vorgängen, die aus dem positiven Recht resultieren, abschließt, steht auf dem Boden der Machttheorie und verneint den unvereinbaren Gegensatz von Recht und Tatsache (s. WdS 27). Damit verwirft Schmitt die „landläufige Methode“ (WdS 27), die das Recht auf den nur faktischen Willen des Staates gründet, dann aber juristisch den richtigen Willen einer nur tatsächlich begründeten Norm zu ermitteln sucht (vgl. ebd.) – womit sich Schmitt erneut vom staatrechtlichen Positivismus Labands abgrenzt.210 Das Recht ist für Schmitt eine eigene Welt, „ist abstrakter Gedanke, der nicht aus Tatsachen abgeleitet und nicht auf Tatsachen einwirken kann, Subjekt des auf die ‚Verwirklichung‘ des Rechts gerichteten Wollens kann nur eine Realität sein. Das Problem besteht darin, die beiden Reiche miteinander zu verbinden, den Punkt zu ermitteln, von dem aus – unter Wahrung des Primates des Rechts vor der Macht – auf das Sein eine Einwirkung im Sinne rechtlicher Normen bewerkstelligt wird“ (WdS 42).

Das Subjekt, „das seinem Wesen nach Aufgabe wird“ (WdS 43) und die zwei Reiche verknüpfen soll, ist der Staat.

210 Vgl. Neumann (2015, S. 22).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

3. Der Staat. Es ist sinnvoll und hilfreich, mit Neumann noch einmal das Problem zu benennen, das Schmitt zu lösen hat: „Einerseits darf das Recht kein einziges Molekül sozialer Wirklichkeit enthalten, andererseits muss es gleichwohl auf seine Verwirklichung drängen“.211

Der Staat sei deshalb ein „normativ-empirisches Zwitterwesen“, will heißen, dass er einerseits irgendwie in der empirischen Wirklichkeit steht, aber andererseits ein „in seiner Idee erfaßter Staat“ ist (WdS 45). 212 Der ideelle Staat „verdankt seine Würde einer Gesetzlichkeit, die nicht aus ihm sich herleitet“. Diese Gesetzlichkeit ist nach Schmitt nur im Recht zu finden, was heißt, „daß das Recht nicht aus dem Staat, sondern der Staat aus dem Recht zu definieren, der Staat nicht Schöpfer des Rechts, sondern das Recht Schöpfer des Staates ist: das Recht geht dem Staate vorher“ (WdS 50).

So gefasst ist der Staat notwendig und immer Rechtsstaat: „Darum gibt es keinen anderen Staat als den Rechtsstaat und jeder empirische Staat empfängt seine Legitimation als erster Diener des Rechts“ (WdS 57).

Der Primat des Rechts vor dem Staat – ein weiterer Fehdehandschuh wider die Hauptströmung der Staatsrechtslehre – ist letztlich in einem eigenartigen Konstrukt zu sehen. Der Staat ordnet sich bei Schmitt dem Recht unter, ohne völlig im Recht aufzugehen – also nicht, wie bei Kelsen, in Normativität gänzlich verschwindend213 – und das Recht will zu einer Wirklichkeit werden, die nicht die seine ist: beide wollen, doch beide können nicht. Um diesem Dilemma zu entkommen, bürdet der Staat den beiden Welten je die Leistung auf, die sie für sich selbst nicht erfüllen können. So ist der Staat für Schmitt der „Übergangspunkt der einen Welt in die andere“ (WdS 56). „In ihm als Konstruktionspunkt, wird das Recht als reiner Gedanke zum Recht als irdischem Phänomen. Der Staat ist danach das Rechtsgebilde, dessen Sinn ausschließlich in der Aufgabe besteht, Recht zu verwirklichen (…)“ (ebd.)214.

211 Ebd. S. 23. 212 So Axel-Johannes Korb, hier zit. nach Neumann (2015, S. 24 FN 118): Kiefer (1990, S. 484) spricht von „Zwitterexistenz“. 213 Siehe ebd. S. 24. 214 Herv. im Original.

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

In diese Definition ist der Zweck des Staates – als „ein Instrument der Einwirkung des Rechts auf die Wirklichkeit“ (ebd.) – eingeflossen, „hört aber nicht auf, eine Konstruktion des Rechts zu sein, wenn er als die einzige Konstruktion des Rechts einen Zweck in seinen Begriff aufnimmt“ (ebd.). Diese einzige Ausnahme verletzt für Schmitt den Grundsatz, dass ein Zweck jeder Rechtsnorm und jeder juristischen Konstruktion feindlich ist, nicht, denn „das Recht setzt vielmehr in demselben Moment, da es Zweck werden soll, den Staat als Träger dieses Zweckes“ (WdS 56/57). Derart erfüllt der Zweck den Staat und die Zweckrichtung konstituiert als ein besonderes Gebilde den Staat (WdS 57): „Darum gibt es keinen anderen Staat als den Rechtsstaat und jeder empirische Staat empfängt seine Legitimation als erster Diener des Rechts (…). Er wird seiner Idee nach Träger einer Aufgabe, seine Größe ruht darin, daß er nichts ist, wie diese Aufgabe, seine Würde deriviert vom Recht und besteht in der Ausschließlichkeit, mit der er vom Recht umfaßt und ergriffen ist“ (ebd.).

Als Wirklichkeit bloße Gewalt, veredelt das Recht den Staat zu einer legitimierten Gewalt, zur höchsten – aber nicht zur größten – Gewalt:215 „Der Sinn des Staates besteht demnach in der Aufgabe, Recht in der Welt zu verwirklichen und auf sie in dieser Richtung einzuwirken. Warum er die höchste Gewalt ist, folgt aus dieser Aufgabe; warum er die höchste Gewalt sein muß. ergibt sich aus der Richtung seiner Aufgabe, da die Einwirkung auf die Welt der Phänomene eine faktische Macht zur Voraussetzung hat (WdS 58).

Die Lösung des Problems Recht und Wirklichkeit zu verbinden, sei Schmitt, so Neumann, „nicht überzeugend gelungen“.216 Spüren wir seiner Begründung kurz nach. Recht sei bei Schmitt nur ein abstrakter Gedanke, der nie in die empirische Wirklichkeit eingehen könne, Zwang und Macht hingegen gehörten nur zum Begriff des Staates. Seine Autorität verleiht ihm das Recht, das allein der Staat zur Wirkung bringen kann. „Damit scheint nur die Alternative zu bestehen“217: die staatliche Rechtsverwirklichung ist entweder nur Zwang und Gewalt, oder sie hat das Recht verwirklicht, seine Abstraktheit verloren und hört damit auf, Recht zu sein.218 Schmitt geht einen anderen Weg. Er dualisiert das gesamte empirische Recht in das ursprüngliche, abstrakte Recht und „in das staatliche, das die-

215 216 217 218

Vgl. Habfast (2010, S. 49). Neumann (2015, S. 25). Ebd. Ebd.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

nende, zweckbestimmte, vermittelnde Recht“.219 Ob seiner Verbindungsfunktion zwischen Recht und empirischer Welt modifiziert sich die vom Medium Staat proklamierte Rechtsnorm, weil ein „Moment des Empirischen“ in sie einfließt (vgl. WdS 75): „Der Staat, der Mittler des Rechts, tritt handelnd in die Welt ein und muß sich dort nach deren Mechanismus von Mittel und Zweck einrichten. In demselben Augenblick, in dem er die empirische Welt benutzt, um etwas bestimmtes aus ihr zu machen, wirkt diese auf ihn zurück mit der Macht, wie sie das Material über den Künstler, die gegebenen Eigenschaften des Dieners über den Herrn haben“ (WdS 75/76).

Um in der empirischen Welt Wirkung zu erzielen, bedarf es empirischer Mittel, und das stärkste in Betracht kommende Mittel ist der Zwang. Das Moment der Erzwingbarkeit wird also durch den Staat ins Recht gebracht (WdS 76). Die beiden Rechtskomplexe sind aber nicht derart, „daß sich zwei abgeschlossene Massen inhaltlich bestimmter Satzungen gegenüberständen“ (WdS 77), sondern beide seien in jedem einzelnen empirischen Rechtssatz gegenwärtig und zu scheiden (vgl. ebd.). Damit, so Neumann, werde die Brücke zum Dezisionismus geschlagen: „Der Staat kann in jedem Rechtsakt eine Autorität beanspruchen, die nicht aus der inhaltlichen Zweckmäßigkeit der Regelung, sondern aus dem festgestellten, gleichwohl aber unsichtbar-abstraktem Recht folgt.“220

Es steckt also in jedem positiven Gesetz ein Moment des „bloßen Festgestelltseins“, der zur Geltung kommt, weshalb es wichtiger sein könne, „daß überhaupt etwas positive Bestimmung wird, als welcher konkrete Inhalt dazu wird“ (WdS 80)221. Die Dezision ist der „mangelnden Reichweite der normativen Sphäre“222 geschuldet, oder in der Formulierung Kiefers: „Die Begründungsmöglichkeit bleibt hinter der Verwirklichungspflicht zurück; in die Lücke tritt die Dezision“223. Die Realisierung des Rechts – mittels Kategorien der Wirklichkeit – fasst Schmitt „als eine Positivierung, als ein Festsetzen und Bestimmen des Normgehalts“:224

219 220 221 222 223 224

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Ebd. S. 25; s.a. die Argumentation bei Kiefer (1990, S. 485 f.). Neumann (2015, S. 26). Herv. im Original. Habfast (2010, S. 56). Kiefer (1990, S. 490). Ebd. S. 54.

I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

„Der Rechtsgedanke, der einer Umgestaltung der Wirklichkeit zur Richtschnur dienen soll, muß positiv werden, (…) er wird zur Satzung und in konkreter Fassung ausgesprochen (WdS 79/80). (…) weil das Recht vom Staate als seinem exactor zwangsweise verwirklicht werden soll, muß alles staatliche Recht exakt ‚formuliert‘ und ‚bestimmt‘ werden, um der konkreten Verwirklichung fähig zu sein“ (WdS 81).

Der Umschlag des idealen zum verwirklichten Recht erfolgt in der staatlichen Praxis allein mittels einer normativ indifferenten Entscheidung des staatlichen Souveräns.225 Vollendet wird die Rechtsverwirklichung durch die direkte Übertragung der theoretischen Lösung ins Praktische. Schmitt erläutert den Rechtsverwirklichungsprozess am Vorbild der katholischen Kirche. So wie die bloße Bestimmung des Rechtsinhalts die Metamorphose des Rechtsgedankens in das positive Recht bewirkt, so „soll der das Recht verwirklichende Staat diese Metamorphose durch die Bestimmtheit und die Einheit seiner Institutionen unterstützen“. 226 „(…) sobald irgendwo das Bestreben einer Verwirklichung von Gedanken, einer Sichtbarmachung und Säkularisierung auftritt, erhebt sich gleich, neben dem Bedürfnis nach einer konkreten Entscheidung, die vor allem, und sei es auf Kosten des Gedankens, bestimmt sein muß, das Bestreben nach einer in derselben Weise bestimmten und unfehlbaren Instanz, die diese Formulierung gibt“ (WdS 81/82).

Bei dieser Aufgabe biete „die katholische Kirche mit ihrer Lehre ein Beispiel in typischer Reinheit“ (WdS 82). Einmal, so Schmitt, erfüllt die Kirche die juristischen Anforderungen, da sie das jus divinum in der Wirklichkeit durchsetzt. Ihre Mittel sind dabei die Prinzipien der Sichtbarmachung und der Repräsentation.227 Mit der Institution des Papstes, eines Mittlers von Recht und Wirklichkeit, als Oberhaupt der Kirche, sei zum anderen auch die Frage nach der letzten Instanz vorbildlich geklärt. Von der Seite des Rechtes her sei der Papst der unfehlbare Interpret des natürlichen Sittengesetzes und des Offenbarungsinhalts, während er auf der Seite der wirklichen Welt als die Institution gelte, die „mit den Mitteln weltlicher Macht verbindlich Recht verwirklicht“:228 „Die Konsequenz der Unfehlbarkeit von Entscheidungen ex cathedra liegt auf der Hand, und wer die Prämisse, ein jus divinum und eine Rechtsordnung der

225 226 227 228

Ebd. S. 59. Ebd. S. 57. Siehe hierzu das Kapitel Römischer Katholizismus und politische Form. Habfast (2010, S. 58).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

Kirche zugibt, wird dieser Konsequenz seine Bewunderung nicht versagen können“ (WdS 82).

Schmitt weiß um die Gefahr seiner Theorie, die darin liegt, dass die staatliche Rechtsverwirklichung in eine reine Machtentfaltung umschlagen kann, weil sie das Recht der staatlichen Macht (Verfügungsgewalt) aussetzt. Doch sei mit diesem Risiko zu leben, weil mit keiner irgendwie gearteten Norm das Muss der Rechtsverwirklichung kontrolliert oder umgangen werden könne: „Kein Gesetz kann sich selbst vollstrecken, es sind immer nur Menschen, die zu Hütern der Gesetze aufgestellt werden können, und wer selbst den Hütern nicht traut, dem hilft es nichts, ihnen wieder neue Hüter zu geben (WdS 83). (…) Es gibt einen Punkt, an dem das Richtige sich nicht mehr erzwingen läßt“ (WdS 84).

Schmitt selbst vertraut seiner Konzeption, was auf seine positive Einschätzung des Staates zurückzuführen ist: „Vom Recht bis in jedes Element beherrscht, kann der Staat nur das Recht wollen (WdS 57). Er würde sich selbst aufgeben und ausliefern, wenn er sich auf seine bloße Macht berufen wollte (…)“ (WdS 57).

4. Der Einzelne. „Das Individuum aber als empirisches Einzelwesen ist zunächst nichts wie Tatsache“ (WdS 98).

Das Individuum „Mensch“, so Schmitt, sei zunächst nur materielle Körperlichkeit, „eine gänzlich zufällige Einheit“ von Atomen aus Staub (WdS 101). Erst durch die Aufgabe seiner bloßen Individualität und seiner Sudordination unter das staatlich verwirklichte Recht erhebe sich das Individuum über seine nur natürliche Existenz: „Die objektiv gültige Norm erfüllen heißt, vom Einzelnen aus gesehen, die eigene subjektive empirische Wirklichkeit verneinen“ (WdS 89).

Der einzelne Mensch, als Faktum ein Nichts, muss erst etwas werden, erklärt Schmitt, „was in einer anderen Sphäre liegt“ (ebd.). Rechtlich erhöhe sich das Individuum, indem es sich den vorgängig existierenden Normen

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

des Rechts unterwerfe, ethisch, indem es sich dem Sittengesetz unterwerfe.229 „(…) das Individuum aber, als empirisches Einzelwesen, verschwindet, um vom Recht und dem Staat, als der Aufgabe, Recht zu verwirklichen, erfaßt zu werden und selbst seinen Sinn in einer Aufgabe und seinen Wert in dieser abgeschlossenen Welt nach ihren Normen zu empfangen“ (WdS 10).

Dies geschehe aber nicht, um den Einzelnen zu vernichten, „sondern um etwas aus ihm zu machen, von dem eine Bewertung unter den Gesichtspunkten des Rechts erst möglich ist. Das ist der Sinn der Gleichheit aller vor dem Recht, wenn es in der Tat keinen Unterschied der Personen kennen soll“ (WdS 10/11).

Erst das Recht also gibt dem Einzelnen eine Würde und so unterscheidet Schmitt – Kant folgend – zwischen der autonomen Gesetzgebung der Vernunft, mit der sich der Mensch ein sittliches Gesetz gibt und den heteronomen Gesetzen, unter dessen Normen der Mensch gestellt wird. Entgegen Kant aber trennt Schmitt mit Feuerbach und Fichte Ethik und Recht, denn sie seien „nicht auf dasselbe Prinzip zurückzuführen“ (WdS 70).230 Das Recht und der Staat, dessen Diener er ist, rangieren in dieser Reihenfolge vor dem Individuum. So wie die Kontinuität des Staates nur aus dem Recht fließt, so fließt die Kontinuität des Individuums nur aus dem Staat. Der Staat ist der Einzige, dem eine Pflicht zum Recht im eminenten Sinne inne ist, das Individuum hingegen „wird vom Staat gezwungen, und seine Pflicht wie seine Berechtigung sind nur der Reflex eines Zwanges“ (WdS 86). Es besteht die Antithese von Recht und Staat und das positive Recht ist die Einheit zwischen der überempirischen Norm und dem Staate – „das empirische Individuum scheidet ganz aus“ (ebd.). Aus dieser Sicht wird das Individuum – der Staat ergreift es und fügt es in seinen Rhythmus ein (WdS 94) – letztlich zur Norm,231 denn es gilt: „Kein Individuum hat im Staat Autonomie“ (WdS 101). Es ist eine tiefe Kluft, die die menschlichen Zwecke und Bedürfnisse vom Staat trennt:232 „Der Zweck ist so wenig ein Schöpfer des Rechts oder des Staates, wie die Sonne damit definiert ist, dass sie ein Feuer sei, von frierenden Wilden angezündet, um die Glieder daran zu wärmen“ (WdS 93/94).

229 230 231 232

Vgl. Habfast (2010, S. 62). Vgl. zu Einzelheiten ebd.. So im Ergebnis wohl auch Habfast (2010, S. 64). Neumann (2015, S. 27).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

Derart gefasst wird allen liberalen Rechtstheorien, die auf individualistischen Rechts- und Staatsbegriffen basieren, der Boden entzogen,233 liege doch das Imponierende des Staates in seiner überindividuellen Organisation faktischer Kräfte und in seiner Totalität, die jedes Individuum – „auch den mächtigsten Despoten“ (WdS 86) – als Werkzeug benutzt. Der Recht verwirklichende Staat ist für Schmitt „eine überindividuelle, nicht interindividuelle Instanz, die ihre Würde keiner Schilderhebung der Einzelnen verdankt, sondern ihnen mit originärer Autorität entgegentritt“ (ebd.)“.

Für Neumann ist der Begriff der „Aufgabe“ in der Reihe „Recht – Staat – Individuum“ ein durgehendes Strukturelement.234 Aufgabe des Staates ist die Rechtsverwirklichung, Aufgabe des Einzelnen ist die Wahrnehmung staatlich angeordneter Aufträge (vgl. WdS 87). Im Übrigen, betont Schmitt durchaus überraschend, lasse sich „von dieser allgemeinen Erscheinung des Funktionärs, der fungiblen Persönlichkeit, vom Beamten aus“ (…) der Sinn des Staates viel tiefer erklären, als durch seine Herabwürdigung zum negotiorum gestor235 der allein wichtigen Persönlichkeit“ (ebd.). Carl Schmitts Antiindividualismus wirft ob der Subordination des Individuums unter den Staat zwingend die Frage nach der Freiheit des Einzelnen auf. Die individuelle Freiheit ist für ihn – in Anwendung seiner Zweiweltenlehre – ein Begriff aus der empirischen Sphäre. Ihre Bedeutung oder ihre Bedrohung kann deshalb nicht aus der Sphäre des Rechts rühren und auch nicht aus der des Staates, der rechtsverwirklichend nur im Sinne des Rechts auftreten kann, sondern nur aus der Sphäre des Wirklichen. Geht eine Gefahr für die Freiheit hingegen vom empirischen, dem Machkomplex „Staat“ aus, so muss dies hingenommen werden: „Die Frage, wie hier dem empirischen Individuum zu helfen wäre, ist keine rechtsphilosophische mehr, ebenso wenig wie die Frage, auf welchem Wege es zu bewerkstelligen ist, daß die Machthaber sich stets an das Recht halten“ (WdS 107).

233 „Somit ist nicht der Staat eine Konstruktion, die Menschen sich gemacht haben, er macht im Gegenteil aus jedem Menschen eine Konstruktion. Die große überpersönliche Organisation ist nicht von Einzelnen als ihr Werk geschaffen; (…)“ (WdS 93). 234 Neumann (2010, S. 26; nachst. vgl. ebd., S. 26 f.). 235 Negotiorum gestor: Geschäftsführung ohne Auftrag, bzw. ohne besonders ermächtigt zu sein.

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I. Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.

Abseits dieser methodologischen Überlegungen ist festzuhalten, dass für Schmitt die alltäglichen Interessen der Menschen, die nur bestrebt seien „voll Hast ihr Einzelglück zu retten“ (WdS 85), keine große Bedeutung haben.236 In der Hingabe an den Staat, in der Identifizierung mit seiner Aufgabe erweist sich für Schmitt die Würde des Einzelnen, wie sich am Leben großer Staatsmänner zeige: Ein Caesar, ein großer Friedrich und ein Bismarck hätten ihre Ziele nicht in der „harmonischen Ausbildung ihrer Persönlichkeit“ gesehen (WdS 90): „Aber die Größe dieser Männer liegt in der Größe ihrer Aufgabe und deren Erfüllung; (…) Nur die Identifikation mit der Aufgabe, die maßlose Hingabe an die Sache, das Aufgehen in der Aufgabe, der Stolz, Diener des Staates und somit einer Aufgabe zu sein, die Selbstvergessenheit, mit der sie projectissimi waren ad rem, das allein macht die großen und bewundernswerten Augenblicke ihres Lebens aus. Der Wert lag in der Sache (…)“ (WdS 90/91).

Der Einzelne aber könne die Norm zur Tat werden lassen und so am Rechtsverwirklichungsprozess teilhaben. „Jeder Wert, der mit dem einzelnen Menschen verknüpft werden kann, besteht in der Hingabe an den überindividuellen Rhythmus einer Gesetzlichkeit. In der Welt des Staates ist dieses Grundprinzip aller Erscheinung des Wertes am klarsten zur Tat geworden“ (WdS 93).

Somit sei nicht der Staat eine Konstruktion durch Menschen, sondern der Staat mache vielmehr aus jedem Menschen eine Konstruktion, eine juristische Konstruktion,237 seine Individualität ist dem Recht untergeordnet: „Der Staat ergreift das Individuum und fügt es in seinen Rhythmus ein“ (WdS 94).

Selbst der absolute Herrscher ist demnach nur der erste Diener des Staates (ebd.): „(…) der absolute Herrscher ist über alle Relativitäten des Zeitlichen erhaben, er kommt als Mensch überhaupt nicht mehr in Betracht, er hat keine Launen

236 Dies wird sich bei der nachfolgenden Behandlung von Theodor Däublers: Nordlicht noch verdeutlichen. 237 Siehe dazu auch die Vorüberlegungen zu Der Wert des Staates in (TB I 62 ff. u. 67 ff.). „Was immer die Persönlichkeit ist, bestimmt sich durch die Rechtsordnung selber und ist nicht ein abgegrenzter Raum. Denn Persönlichkeit ist zu Gesetzmäßigkeit ‚verpflichtet‘, und alle Definitionen von der Einschränkung durch das Recht, verraten eine bedenkliche oberflächliche und utilitaristische Auffassung des Rechts der Persönlichkeit“ (TB I 63).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

und Ergötzungen mehr, er ist eben ganz ‚Gesetz‘ geworden; er steht nicht über dem Recht, so wenig wie über der Grammatik“ (WdS 95).

Größte methodische Klarheit bietet für Schmitt auch hier wieder die katholische Kirche. Der infallible Papst, obwohl das Absoluteste auf der Erde, „ist nichts für seine Person, ist nur Instrument, Statthalter Christi auf Erden, servus servorum Dei“ (ebd.) und der Fürst als Mensch ist genauso belanglos wie ein Individuum im Staate, weshalb auch die Würde, die er einfordere, nur seinem Amt gelte: „Durch die Art Gottähnlichkeit, die der Monarch als ‚lebendiges Gesetz‘ erhält, wird er sofort dem Recht unterworfen, wie der Gott der Theologie, dessen allmächtiger Wille nichts Böses und nichts Unvernünftiges wollen kann“ (WdS 96).

Hier scheint prima facie der Einwurf berechtigt, der Staat zerstöre die Freiheit des Individuums. Dieser These widerspricht Schmitt jedoch mit seiner Zweiweltenlehre. Freiheit ist ihm danach nur ein Begriff der empirischen Sphäre: „Von der Freiheit des Individuums kann nur in dem Sinne gesprochen werden, daß der Staat nicht als Erscheinung des Rechtsgedankens, sondern als Machtkomplex aufgefaßt wird, das Individuum aber (…) als Träger berechtigter Forderungen (…). Die Freiheit des Individuums wäre dann die Formel für konkrete politische Forderungen, die zur Voraussetzung haben, daß der Staat gegen den sie sich richten, kein reiner Rechtsstaat ist, sondern eine Mittel für materielle Zwecke (…)“ (WdS 99).

Eine rechtsphilosophische Konstruktion des Staates oder des Individuums müsse jedoch davon abstrahiert werden. Die eigentliche Bedrohung des Individuums ist der Machtkomplex des Staates: „Die Vernichtung des Individuums (…) kommt nicht vom Recht und dem ganz in der Verwirklichung des Rechts aufgehenden Staate her, sondern von dem Machtkomplex Staat, von der Tatsächlichkeit, der durch einen Kampf der Macht mit der Macht zu begegnen ist“ (WdS 106/107).

Eine Hilfestellung für das empirische Individuum kann vonseiten der Rechtsphilosophie nicht kommen. Dies gelte auch für die Frage, wie sichergestellt werden könne, dass der Machthaber sich stets an das Recht hält: „Alles, was die Rechtsphilosophie tun kann, ist, darauf hinzuweisen, wie alle Macht ohne Recht sinnlos und auch der mächtigste Einzelne als solcher belanglos ist“ (WdS 107).

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II. Der Erste Weltkrieg. Kriegsbeginn.

Alles was darüber hinausgeht, fällt bei Schmitt in die Sphäre der technischen Fragen von Politik. II. Der Erste Weltkrieg. Kriegsbeginn. Der Kriegsschuldparagraph 231 des Versailler Vertrags befeuerte ab 1919 die politisch-historische Debatte und die Revision des Friedensdiktats von Versailles und der von ihm geschaffenen Machtbalance wurde zum handlungsleitenden Ziel des Deutschen Reiches. Die Frage nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs stand lange Zeit im Zentrum der historischen und politischen Forschung. Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg kann von einer gezielten Entfesselung durch die politisch-militärische Führung des Deutschen Reiches nicht gesprochen werden. Zu fragen ist vielmehr, warum im Verlauf der „Julikrise“ weder in Deutschland, in Frankreich und in Großbritannien keine Bereitschaft vorhanden war, mäßigend auf den eskalierenden Konflikt der serbischen, österreichisch-ungarischen und russischen Diplomatie einzuwirken. Mit anderen Worten: Der Erste Weltkrieg kann nicht einfach mit divergierenden Interessen der europäischen Großmächte erklärt werden.238 Diese waren schon vor dem Ersten Weltkrieg gegeben, bis dato aber alle friedlich beigelegt worden. Vorhanden war aber in politisch-militärischer Führung und großen Teilen der öffentlichen Meinung eine gesteigerte Risikobereitschaft, Krieg zu führen. Kriegsfördernd waren überdies die Bündnismechaniken und der Glaube an einen feldzugartigen, kurzen Kriegsverlauf. Zum Tag der deutschen Mobilmachung am 1. August 1914 finden wir bei Carl Schmitt folgenden Tagebuch-Eintrag: „Vielleicht siegen die Slawen, weil die Germanen das Gebiet östlich der Elbe germanisiert haben. Da sind die Slawen in den Germanen aufgegangen und zu Preußen geworden. Sie haben das übrige Deutschland unterworfen, und der Preußengeist, diese knarrende, schneidige und gänzlich intellektlose und gefühllose Maschinerie wird es verhindern, daß die Deutschen mit den Russen fertig werden. Das wäre auch eine Art metaphysische Gerechtigkeit“ (TB I 173).

Und am 4. August 1914 stellt er lapidar fest: „Der Krieg hat begonnen.“ Öffentliche Stellungnahmen zum Krieg außerhalb der unverbindlichen Welt seiner Tagebücher finden wir 1914 wie später auch nach Kapitulation 238 Vgl. Raphael (2014, S. 38-41); siehe (Clark 2013).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

und Revolution von 1918/19 nicht.239 Helmut Quaritsch bemerkt zu dem späteren Nationalisten: „Carl Schmitts Nationalismus hatte eine eher unauffällige Vorgeschichte. Als 1914 und danach viele Professoren und Schriftsteller den Feind mit Druckerschwärze bekämpften, hat Carl Schmitt geschwiegen. Seine nichtjuristischen Aufsätze und Abhandlungen, die er zwischen 1914 und 1918 verfaßte, erscheinen seltsam zeitabgewandt“.240

Schmitts zu dieser Zeit depressive Grundstimmung lässt offenbar keinen Platz für eine große Siegeszuversicht. Die Vorstöße französischer Truppen auf deutsches Reichsgebiet, insbesondere der Vormarsch auf Straßburg, wecken aber Betroffenheit (s. TB II E. 14)241. Erst den Versailler Vertrag und darin speziell den Kriegsschuldartikel wird Schmitt als ungerechte und persönliche Schmach empfinden.242 In den ersten Kriegswochen jedenfalls belegen seine privaten wie beruflichen Probleme den ersten Rang seiner Prioritätenliste. Das Schmittsche Schweigen erstaunt auch, weil seine Kulturkritik und sein Kulturpessimismus, wie er sie aus Däublers Nordlicht liest, einer breiten gesellschaftlichen Strömung der Zeit entsprechen, die – wie Kruse treffend herausarbeitet – eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs spielt.243 Die geistige Strömung des Kulturpessimismus – rührend aus ökonomischen, sozialen und politischen Verwerfungen der modernen Gesellschaft, Naturzerstörung, die anonyme Unwirtlichkeit der großen Städte mit ihrer Künstlichkeit der sozialen Beziehungen und in einer freiheitsrestringierenden wohlanständigen Bürgerlichkeit – hatte die „Generation von 1914“ erfasst und mündete in Kriegsbegeisterung. Denn auch ein Krieg war ja ein Bruch mit der bürgerlichen Welt. Carl Schmitt schreibt wenig zum Kriege, greift allerdings nach Kapitulation und Revolution 1918 auch nicht zur „Friedensschalmei, er beschwor nicht den ‚Geist von Weimar‘, und er rechnete nicht mit den Hohenzollern ab. Opportunist war er weder 1914 noch 1918, der Zeitgeist konnte ihn nicht beflügeln und schon gar nicht fortreißen“.244

239 So jüngst Wacker (2016, S. 312). 240 Quaritsch (1991, S. 58 f.). 241 Die Einfügung „E“ – (TB I E.) – bezieht sich auf Belegstellen in der Einführung in die Tagebücher von Ernst Hüsmert. 242 Quaritsch (1991, S. 60). 243 Siehe Kruse (2009, S. 8; nachst. S. 8 f.). 244 Quaritsch (1991, S. 59).

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III. Referendariat in Düsseldorf (3).

Dass Schmitt trotzdem von der deutschen Niederlage tief betroffen war, schließt Quaritsch aus einer Tischrede Schmitts, die er am Vorabend seines 50. Geburtstages im Jahr 1938 hielt. Die Monate des Zusammenbruchs seien die Zeit „schlimmster Verzweiflung und aussichtsloser Depression“ gewesen.245 Die deutsche Niederlage, so Quaritsch, wurde von Schmitt als eigene empfunden, „die Schuldzuweisung im Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages als ungerechte, persönliche Schmach“.246 III. Referendariat in Düsseldorf (3). 1. Am Rand von Selbstmord und Wahnsinn.247 Das Tagebuch (TB I) setzt mit Juni 1914 wieder ein. Von nervösem Gefühlschaos getrieben arbeitet Schmitt – nach eigenem Bekunden nunmehr verheirateter Junggeselle und unbezahlter Referendar – unter finsterem depressivem Gemütszustand selbstinquisitorisch Vergangenes ab, bzw. er versucht es zumindest.248 Dem nicht genug, stirbt sein Referendarskollege Wülfing im Krankenhaus, den er tags zuvor noch besucht hatte. Wie schon 1912 wühlt Schmitt die Frage nach der Determiniertheit seiner Existenz wieder auf. Cari hatte er am 24. Oktober 1912 geschrieben: „Was Du morgen tust, hat vielleicht vor 500 Jahren einer aufgeschrieben, mit allen Kleinigkeiten.249 Es gibt keinen Zufall und gibt kein Entrinnen vor der Schuld. Es bleibt nichts, als ein guter Mensch zu sein. Wir sind hilflos verloren in einer brutalen Maschinerie, wenn wir uns nicht selbst mit einem ernsten Entschluß zur Selbstachtung bestimmen. Es handelt sich immer um einen Kampf des Selbst mit der Außenwelt; um die Frage, ob man selbst sein Schicksal bestimmt oder sich ihm hingibt“ (TB I 26).

Deutschland leistet Österreich den unbedingten Treueschwur, der drohende Weltkrieg klopft immer hörbarer an, und Schmitt treiben zuvörderst weiterhin private Sorgen um: „Angst vor der Ehe mit Cari“, Angst vor ihrer „Subjektivität“:

245 246 247 248 249

Ebd. S. 60; s. dort auch S. 60 FN 110. Ebd. So Mehring (2009, S. 57). Siehe ebd. S. 70 f.. Gemeint ist Michel de No(s)tredame („Nostradamus“) (1503-1566).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

„Es geht doch nicht ohne Objektivität und gesunden Menschenverstand im Leben. In der Philosophie wohl, auch in der Liebe, aber nicht in der Ehe“ (TB I 167). 250

Auch die Sorge um das tägliche Brot zermürbt. Schmitt hatte ja nunmehr auch noch Entgelt für Kost und Logis für die nach Plettenberg ausgesiedelte Cari aufzubringen – und Mutter Schmitt überschätzte offensichtlich die finanziellen Verhältnisse des Sohns bei weitem. Der Umzug Caris nach Köln in die Pension eines Nonnenklosters hinterließ schließlich ein langanhaltendes Zerwürfnis Schmitts mit dem Elternhaus, den Vater ausgenommen (TB I, E. 11)251. Der Umgang mit Zehnhoff belastet Schmitt zunehmend. Er empfindet seine Situation als entwürdigend. Finanziell hält ihn der Geheimrat knapp, und gleichzeitig lockt er ihn mit seiner Nichte. Eine Heirat würde für Schmitt auch das Ende materieller Not bedeuten, doch Zehnhoff erreicht das Gegenteil: „Carl Schmitt, der an sich selbst fast verzweifelt, macht seine Cari zur Richtschnur und Erfüllung seines Lebens. Er zwingt sich zu blindem Vertrauen und weiß nicht, welchem unerhörten Glücksfall er es verdankt, dass er ihre Liebe gewonnen hat“ (TB I, E. 12).

Doch Schmitt ist zerrissen: „In Wirklichkeit befällt ihn ein abgrundtiefes, unerklärbares und unwiderlegbares Misstrauen gegen seine Braut. Doch er ringt den Zweifel in seiner Brust nieder (…)“ (TB I, E. 13).

Schmitt reist nach Lothringen zu Onkel André, weil er finanzieller Unterstützung für das Examen bedarf und besucht im Anschluss mit Vetter André die Konfliktregion des Elsass mit Straßburg, wo er van Calker aufsucht. Den Kriegsbeginn am 4. August 1914 notiert er nüchtern: „Der Krieg hat begonnen. Wir fürchten eine Belagerung von Köln“, aber eingehende politische Betrachtungen fehlen weiterhin. Schmitt muss sich zum Landsturm melden. Kriegsangst befällt ihn, zudem sorgt er sich um sein Examen.252 Prophetisch notiert er:

250 „Damit ist Cari der Prototyp des Romantikers, den Schmitt später beisetzt“ (Mehring 2004). In (TB I 298) notiert Schmitt bereits: „Merkmal der spezifischen Romantik: die Unfähigkeit zur Objektivität, zum Abstrakt von sich selbst.“. 251 „E“ zeigt, dass es sich um die Einleitung von Ernst Hüsmert zu (TB II) handelt. 252 Mehring (2009, S. 71).

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III. Referendariat in Düsseldorf (3).

„Ich fühle deutlich den Finger des Schicksals. (…) Von Eisler habe ich eine Karte aus Namur bekommen. Wenn er nur nicht fällt, der liebe, gute Kerl“ (TB I 200).

Doch Eisler fällt. Am 7. Oktober erschüttert Schmitt die Nachricht vom Tode seines besten Freundes: „Wir waren seit über 6 Jahren in einer Freundschaft verbunden, wie sie nur jahrelange gemeinsame Stunden und gleiche geistige Interessen und Ziele begründen können. Ich habe jetzt im Laufe eines Vierteljahres meine beiden Freunde verloren und nichts erscheint mir in der Fassungslosigkeit meiner gegenwärtigen Stimmung natürlicher, als daß ich nunmehr an die Reihe kommen muß“ (TB I 222).

Trost sucht er in der Beschäftigung mit Sören Kierkegaard. Als letzten Freundschaftsdienst veröffentlicht er die Einleitung zu Fritz Eislers begonnener Habilitationsschrift. Später wird er ihm seine Verfassungslehre (1928) widmen. 2. Wendepunkte? Die Unterbringung Caris im Kölner Kloster wird unhaltbar, auch weil sie des Diebstahls bezichtigt wird. Sie zieht in eine Wohnung um. Obwohl Schmitts Assessorhausarbeit nur mühsam in Gang kommt, hilft er parallel seinem Freund Heinrich Gross: „In Wahrheit diktiere ich ihm die ganze Arbeit“ (TB I 257). Die Beziehung zu Geheimrat Zehnhoff wechselt zwischen Dankbarkeit – Zehnhoff bezahlt die Prüfungsgebühr für das Assessorexamen – und Mordgedanken und beschränkt sich vonseiten Schmitts auf das Notwendigste. Diese Distanz tut Schmitt und damit seinen Prüfungsvorbereitungen gut. Sogar finanziell, denn aus einem Kommissionsgeschäft verdient er 2000 Reichsmark, ein guter Grundstock für eine gemeinsame Wohnung.253 Am 18. und 19. Dezember schreibt Schmitt die Prüfungsexamen, obwohl Däubler ihn mit Beschlag belegt. Anschließend ist er mit Däubler und Möller van den Bruck unterwegs und „pflegt das Gespräch mit Avantgarde und Literaturwissenschaft“ (TB I E. 14). Weihnachten verbringt er bei der jüdischen Familie Eisler – wohl nicht ganz ohne Hintergedanken, denn Eislers hatten Schmitt schon früher finanziell unter die Arme gegrif-

253 Siehe näher Mehring (2009, S. 73); s. (TB I E: 14).

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

fen und mit Georg, dem Bruder des gefallenen Fritz Eisler, hatte sich eine engere Freundschaft entwickelt.254 Schmitt selbst beschreibt seinen physischen und psychischen Zustand nach den Auseinandersetzungen mit Zehnhoff, dem Tod seines engsten Freundes Fritz Eisler, dem Familienzwist wegen der Unterbringung Caris sowie deren Diebstahlaffäre und nicht zuletzt dem Assessorexamen – mit den Worten: „Ich bin fertig. Ich kann nur noch Tagebücher schreiben“ (TB I 286). Im Januar beziehen die Verlobten die erste gemeinsame, für Schmitts Verhältnisse sehr kostspielige Wohnung, woraus neue Zahlungszwänge erwachsen. Cari drängt auf eine schnelle Hochzeit255, auch wenn in der Strafsache wegen Diebstahl neu gegen sie ermittelt wird. Was Wunder, dass seine „wahnsinnige Überreizung“ bleibt. Erst ein Besuch Georg Eislers normalisiert Schmitts Gemütslage (s. TB I E. 17). Anfang Februar 1915 erhält Schmitt die befürchtete Aufforderung, seinen Wehrdienst anzutreten. Beruhigend wirkt, dass umgehend das Angebot seines Doktorvaters, des nunmehrigen Majors Fritz van Calkers, eintrifft, ihm einen Posten beim Leibregiment – dem Hausregiment des Bayerischen Königs – in München zu verschaffen. Umgehend fährt Schmitt am 7. Februar nach München, wo er nach einer ärztlichen Untersuchung nur für garnisonsdienstfähig, nicht für felddiensttauglich eingestuft wird. Seinen Stellungsbefehl erhält er für den 15. Februar. Seine Einberufung ermöglicht ihm eine Kriegstrauung. Am 13. Februar 1915 heiratet Schmitt seine Cari in Köln. Trauzeugen sind zwei unbekannte Invaliden. Für die kirchliche Trauung am 20. Februar und die mündliche Assessorprüfung am 25. Februar in Berlin – die Note ist ein für ihn ungewohntes „Befriedigend“ – hatte er Urlaub erhalten.256 In München erwartet ihn schon sein Freund Georg Eisler, der für Schmitt bereits ein privates Zimmer angemietet hatte.

254 Vorst. s. Mehring (2009, S. 73 f.); s. (TB I E. 14). 255 Cari hatte sich wegen der Neuausstellung ihrer Personalpapiere direkt an den Kaiser von Österreich gewandt und damit tatsächlich Erfolg gehabt (s. Mehring 2009, S. 74). 256 Zu Details s. Mehring (2009, S. 75); s. (TB I E. 18); s. (TB II E. 6).

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IV. München zum Zweiten.

IV. München zum Zweiten. „Seltsamer Affekt, Wut auf das Militär und diesen menschenunwürdigen und bestialischen Zwang. O, würde doch einmal dieses Tagebuch gelesen, das wäre etwas anderes als die gedruckten Heldenverehrungen“. Carl Schmitt257

1. Beim Militär: Schmitts Kampf an der „Heimatfront“. Nach dem einsemestrigen Kurzgastspiel im Sommer 1908 führten Krieg und Militär Carl Schmitt zum zweiten Mal nach München. Hier wird der Jurist und (Gelegenheits-)Literat in den nahezu sieben Jahren von Februar 1915 bis Oktober 1921 in den schwierigen Zeiten von Krieg, Revolution und Gegenrevolution seine politische Prägung erfahren und sich zum politischen Denker entwickeln. Und er wird sein Verständnis vom Katholizismus und sein Verhältnis zur katholischen Kirche zu klären suchen. Eine wesentliche Quelle für diese Zeit sind die 2006 erstmals veröffentlichten Tagebücher: Die Militärzeit 1915 bis 1919 (TB II). Mehring formuliert ihre Bedeutung: „Das Tagebuch zeigt Schmitt am neuen Ort, in neuer Funktion und Tätigkeit. Wir lernen den Stabssoldaten in den prägenden Jahren seiner Absage an Boheme und Romantik und des Scheiterns seiner ersten Ehe genauer kennen. Man könne von einer formativen Phase oder auch Inkubationsjahren sprechen. Hier lebte Schmitt seine Neigung zur Boheme aus. Hier wurde er zu dem gegenrevolutionären Etatisten, den wir aus der Weimarer Zeit kennen“.258

Am 26. Februar beginnt für Schmitt mit der Einkleidung die „Hölle“ des Militärlebens: „Das Leben in der Kaserne, meine gänzliche Verunstaltung durch die Uniform, das Kommando der Unteroffiziere, alles erscheint mir als ein Traum, ein Spuk, eine Verzauberung, eine Hölle; Swedenborgs Hölle“ (TB II 23).259

257 (TB II 97). 258 Mehring 2006 b, S. 2 pdf). Siehe auch Mehring (2014, S. 4). 259 Gemeint ist die Schrift „Himmel und Hölle“ von Emanuel Swedenborg (1758), Schmitt bezieht sich auf den Dritten Teil: „Von der Hölle.“.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

Schmitt bekommt gleich zu Beginn seiner Militärzeit die Gelegenheit, die in Der Wert des Staates idealisierte „Vernichtung des Einzelnen“ durch den Staat im Alltag der Militärverwaltung praktisch zu erfahren. Er reflektiert: „Wie wird der Weltkrieg ausgehen. Deutschland wird das Land der Gerechtigkeit, der Vernichtung des Einzelnen, es verwirklicht genau das, was ich in meinem Buch über den Staat als Ideal des Staates aufgestellt habe“ (TB II 24).

Aus dem Anti-Individualismus des Frühwerks, so Mehring, ist eine negative Utopie geworden260: „Sein Dienst beim Militär wird zur Strafe für die Überhöhung des Staates in seiner Schrift ‚Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen‘ und die extravagante Ehe mit einer vermeintlich adeligen Dame zum entwürdigenden Gefängnis des Minderprivilegierten“ (TB II E: 1).

Ende März 1915 holt Calker Carl Schmitt ins Stellvertretende Generalkommando. Er wird „Freigänger“, kann also die Kaserne verlassen und in seiner Wohnung schlafen, – und ist weit davon entfernt, im Krieg etwas Heroisches sehen zu können. Im Gegenteil, er fasst ihn als Unrecht auf und lehnt den Staatsdienst im Weltkrieg und damit seine Tätigkeit im Generalkommando grundsätzlich ab: „Ich war wahnsinnig vor Wut über die Preußen, den Militarismus, hätte die ostentativsten Befehlsverweigerungen begehen können. Wie scheußlich, als Individuum in einem solchen Gefängnis zu sitzen“ (TB II 77).

„Angst“ wird zum bestimmenden Thema dieser Tage: Angst vor dem Militär, vor der Nachmusterung, vor dem Sog des Preußentums, vor dem Staat, vor der Willkür, vor dem Militärregime. Die Teilnahme am Leben der Bohème bot kaum Ablenkung und war zudem wohl gering. Das Café Stefanie, der wichtigste Szenetreff, mied er, war es doch Treffpunkt der Anarchisten-Szene Münchens mit Mühsam, Gross261, Jung und anderen. Schmitt arbeitet in der Abteilung P 6 unter Hauptmann Christian Roth. Dabei lebt er in der ständigen Angst vor weiteren Musterungen und der damit verbundenen Gefahr, als frontdiensttauglich eingestuft zu werden. Am 7. September findet die Untersuchung in der Kaserne statt:

260 Mehring (2009, S. 77). 261 Zum Verhältnis Schmitt – Groß siehe die kurze Anmerkung bei Omiya (2008, S. 132).

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IV. München zum Zweiten.

„Felddiensttauglich; ein Prolet von Stabsarzt. Ich bin ein armer Tropf. Zerknickt und ziemlich trübselig zum Generalkommando“ (TB II 125).

Ab sofort begleitet Schmitt die Furcht, ins Feld geschickt zu werden, nur die Karriere im Generalkommando kann ihn davor bewahren. Im Büro hat er meist nichts zu tun und erschrickt doch „vor dem schauerlichen Mechanismus des täglichen Berufslebens“(s. TB II 64). Er verfasst Gutachten, wie über die Entwicklung des Belagerungszustandes, erteilt Passierscheine und andere Genehmigungen, zensiert Briefe und verfolgt beobachtend literarische Pazifistenkreise. Schmitts Krieg ist der Papierkrieg: „Jenseits allgemeiner Schmähungen des ‚Militarismus‘ finden sich keine politischen Bemerkungen. Der Frontverlauf existiert in diesen Aufzeichnungen nicht. Von den ‚Ideen von 1914‘ oder glühendem Nationalismus und Etatismus findet sich in den frühen Tagebüchern fast keine Spur“.262

Was Schmitt als „Gefängnis“ oder „Tretmühle“ wahrnimmt, erschließt sich dem Leser der Tagebücher so nicht. Schmitt – die meiste Zeit wohl nur vormittags im Büro – ist oft unterwegs, verabredet sich zum Essen und zum Kaffee und pflegt neben dem Privatleben seine kulturellen Interessen. Zur Linderung der chronischen Geldnot, verwendet er dienstliche Erkenntnisse für journalistische Beiträge, die pseudonym in der Hamburger Woche – sie gehört Eislers – erscheinen.263 Vom Generalkommando erhält er den Auftrag, einen Bericht über das Belagerungszustandsgesetz zu verfassen. Dieser wird unter dem Titel „Diktatur und Belagerungszustand“ veröffentlicht ein Erfolg: „Das Thema bahnt ihm den weiteren Weg. Die Diagnose einer Verschiebung der Gewaltenverhältnisse wird seine wichtigste verfassungspolitische Einsicht“.264

Außerdem findet er Zeit, Teile seiner Nordlicht-Studie im Büro zu verfassen (TB II E. 7). Ende April zieht Cari nach München, das Ehepaar Schmitt-Dorotic in eine gemeinsame Wohnung und das eheliche Zusammenleben veralltäglicht das Charisma der Liebe265, ja die Misshelligkeiten der Ehe bringen ihm Wahnsinn und Verzweiflung zurück (TB II E: 7).

262 263 264 265

Mehring (2006 b, S. 3 pdf). Siehe Mehring (2009, S. 81). Ebd. Ebd.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

2. Antisemitische Gefühle und jüdische Freunde.266 Schon zu dieser Zeit ist bei Schmitt ein ständig bleibender Antisemitismus auszumachen, auch wenn er in seinen Schriften selbst erst ab 1933 hervortritt.267 Allerdings zeigen die Tagebücher eine vorhandene antisemitische Einstellung, die – siehe Ex Captivitate Salus (ECS) und Glossarium (GL) – eine lebenslängliche war. Schmitt attestierte sich selbst einen „jüdischen Komplex“. Diese Selbstdiagnose lässt sich vielleicht als inneren Kampf zwischen antisemitischen und philosemitischen Strebungen erklären.268 Denn u.a. durch die Tagebücher weiß man auch, wie teils eng er mit Juden befreundet war.269 Sein bester Freund, Fritz Eisler, war Jude, mit dem er die „Judenfrage“ wohl auch diskutierte.270 Biologistisch äußert sich Schmitt nicht271, strikt konfessionell und assimilatorisch aber auch nicht: „Auch ein getaufter Jude ist ihm ein Jude“.272 Schmitt habe im Rahmen seiner Politischen Theologie die jüdische Identität nicht zuletzt als „politischen Schicksalszusammenhang“ angesehen.

266 Zum Thema s. Gross (2005). 267 Mehring (2009, S. 82; nachst. S. 82 f.). Zur Thematik grundsätzlich s. Gross (2005) und hier insb. Kap. I 1: Die Juden in Schmitts Frühwerk (2005, S. 31 bis 41), mit n.u.E. nicht immer nachvollziehbarer „Beweisführung“. 268 Vgl. Mehring (2014, S. 4). 269 Zu nennen sind: Fritz und Georg Eisler, sein Verleger Ludwig Feuchtwanger, Jakob Taubes. Freundschaftliche Beziehungen unterhielt Schmitt auch zu dem Nationalökonomen Moritz Julius Bonn, dem Schriftsteller Hermann Broch, zu dem Juristen und Journalisten Waldemar Gurian. In engerem Kontakt stand er mit dem Berufskollegen, dem sozialdemokratischen Staatsrechtslehrer Hermann Heller und dem Staatsrechtler Erwin Jakobi, den Juristen Albert Hensel und Gerhard Lassar, dem konservativen Juristen Erich Kaufmann und wichtigsten Gegenspieler dem Juristen und Rechtsphilosophen Hans Kelsen. Den späteren Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz schätzte Schmitt sehr, intellektuellen Austausch pflegte er mit Karl Löwith, Karl Mannheim und Walter Benjamin, nach dem Kriegt zu Francis Rosenstiel, Raymond Aron, Alexander Kojève. Zu seinen Schülern oder Bewunderern zählten Leo Strauss, Otto Kirchheimer und Franz Neumann. Die Aufzählung ist keineswegs erschöpfend. 270 Mehring (2015, S. 82; nachst. s. ebd.). 271 Vgl. aber Gross (2005, S. 127). 272 Mehring (2009, S. 82).

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IV. München zum Zweiten.

„Vor 1918 denkt er über diese Fragen aber noch nicht starr, reflektiert auf das Judentum weniger in der Absicht auf antisemitische Trennung als auf Selbstidentifikation seines problematischen Charakters“.273

Schmitt sehe vielmehr, so Mehring, im Judentum seine „eigne Frage als Gestalt“: „Sehr wichtig ist ihm dabei der soziale Ehrgeiz und die psychische Disposition, sich mit den Augen der Anderen zu sehen und vom Urteil der Anderen abhängig zu machen. Diese Einstellung ist ihm zutiefst verhasst“.274

Er empfindet sich als Prolet, rätselt über seinen problematischen Charakter, empfindet selbstinquisatorisch den „Instinkt sich zu ducken und sich zu strecken, wie es kommt“, und was er an sich entdeckt, „rechnet er immer wieder Richard Wagner und dem Judentum zu, die ‚Abhängigkeit von der Meinung anderer“ (s. TB II 124 u. 173).275 „Braucht immer fremde Menschen (Richard Wagner wartete immer nach seinem Tagebuch auf Briefe und Zeitungen!), frisst sie, untersucht sie auf ihre Nützlichkeit, beutet sie aus, geschickt, heuchlerisch, verlogen, läßt sie kaltblütig sitzen; all sein Tun ist für die Sekunde, was er gerade braucht“ TB II 124).

Den Prior des modernen, postchristlichen Antisemitismus, Richard Wagner, parodiert er seinerseits als einen „Juden“ (TB II 115): „Man sollte über Wagner weder schimpfen, noch sollte man ihn loben, sondern ganz allgemein als eine rein interne jüdische Angelegenheit behandeln“ (TB II 164).

Ein geistiges Deutschland ohne Juden aber erschreckt ihn (s. TB II 178). So analysiert Mehring: „Viel Literatur steckt in diesem Antisemitismus. Schmitt vertritt ihn als Spiegelgefecht in der literarischen Tradition Heines, Wagners, Nietzsches und Weiningers. Er findet für seine antisemitischen Affekte keine klare Deutung. Sie speisen sich nicht zuletzt aus dem Ressentiment gegenüber seiner Herkunft, unter der der Aufsteiger ständig leidet. Die wilde Melange von philosemitischen und antisemitischen Affekten, Diskrepanz zwischen persönlicher Freundschaft und abstraktem und diffusen Antisemitismus vermag Schmitt kaum zu thematisieren, geschweige denn zu lösen“.276

273 274 275 276

Mehring (2015, S. 83). Ebd. Ebd. Ebd.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

Schmitt sei deshalb in den Katholizismus geflüchtet, fährt Mehring fort, aber schon durch sein Tagebuchschreiben habe er allmählich Distanz von seinen Leiden erlangt: „Das Psychogramm der Wirrnis endet vorerst in einer reflexiven Objektivation der eigenen Lage und Problematik: in der Romantikkritik“.277

3. Erster Weltkrieg und die Bohème Münchens. Am 30. November 1926 zeichnete Thomas Mann ein Bild des kulturellen Niedergangs seit Beginn des Jahrhunderts, als München noch das Zentrum der künstlerischen Avantgarde war: „Erinnern wir uns, wie es in München war vorzeiten, an seine Atmosphäre, die sich von der Berlins so charakteristisch unterschied! Es war eine Atmosphäre der Menschlichkeit, des duldsamen Individualismus, der Maskenfreiheit sozusagen; eine Atmosphäre von heiterer Sinnlichkeit, von Künstlertum (…). Hier genoß man eine heitere Humanität, während die harte Luft der Weltstadt im Norden einer gewissen Menschenfeindlichkeit nicht entbehrte“.278

Für Mann hat der kulturelle Niedergang Münchens dieses Verhältnis nahezu umgedreht: „Wir mußten es erleben, daß München in Deutschland und darüber hinaus als Hort der Reaktion, als Sitz aller Verstocktheit und Widerspenstigkeit gegen den Willen der Zeit verschrien war, mußten hören, daß man es eine dumme, die eigentlich dumme Stadt nannte“.279

Carl Schmitt hatte 1908 die Stadt München ein kurzes Sommersemester lang kennengelernt280, in seiner Glanzzeit als Kunststadt, „als Schwabing das Zentrum der künstlerischen Avantgarde war, ein jedem Genie und jedem Verrückten offenstehendes Experimentierfeld der Kunst und des Lebens“.281

277 Ebd. 278 Aus dem Vortrag von Thomas Mann der von der Deutschen Demokratischen Partei veranstalteten Kundgebung „Kampf um München als Kulturzentrum“ am 30. November 1926, hier zit. nach Görl (2014). 279 Ebd. 280 Mehring (2009, S. 25). 281 Görl (2014).

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IV. München zum Zweiten.

München war neben Berlin und Wien ein Zentrum der kulturellen Moderne und damit des neuen Subjektivismus, dessen Manifestationen man sich, so Breuer, nicht heterogen genug vorstellen könne: „Avantgardistisch ging es vor allem in der Malerei zu, wo sich zunächst die Neue Künstlervereinigung München mit Kandinsky, Jawlensky, Münter, Marc und Kubin, später der ‚Blaue Reiter‘ der radikalen Moderne verschrieben hatten“.282

Im Kreis der Literaten ragten die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann heraus, daneben wirkten Frank Wedekind und andere moderate Moderne, aber auch die Lyriker Stefan George und Rainer Maria Rilke, auch wenn sie nicht ständig anwesend waren. Als Verleger wären zu nennen Georg Müller, der – sicher ein Wagnis – Däublers Nordlicht herausbrachte und später auch Schmitts Nordlicht-Studie, Albert Langen und Reinhard Piper, der Moeller van den Brucks Dostojewskij-Ausgabe verlegte. Auch an Literaten- und Malertreffs sowie an Szene-Cafés und Gaststätten bot München eine vielzählige und bunte Palette, in der auch Schmitt verkehrte.283 Darüber hinaus führten die Bechsteins, Bruckmanns und Schnitzlers großbürgerliche Salons, „in denen sich die Crème de la Crème des Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsbetriebs die Klinke in die Hand gab“.284 Natürlich leuchtete die Kunststadt München zu Kriegszeiten nicht mehr so hell wie vor 1914, aber auch während des Krieges war es die Hauptstadt der Bohème und selbst der „Krieg entflammte neue künstlerische Energien“. 285 Schon bald nach seiner Ankunft kontaktiert Schmitt Freunde und Verwandte Theodor Däublers, die ihn in den Kreis um die Maler Otto Th. W. Stein, Willi Nowak und Hugo Troendle einführen (TB II E. 6). Außerdem ist der Literat Schmitt „ein ausgewiesener Kenner der Szene, der etwas zu sagen hat“.286 Die täglichen Mittags- und Abendtische – Cari kocht nicht – mit Kollegen287 und über den Th. W. Stein-Kreis hinaus mit dem Maler Walter Einbeck, den Kunstmäzen Albert Kollmann und dem Museumskurator Dr. Hans Rupé, der Schriftstellerin Alice Berend und an-

282 Breuer (1912, S. 23; nachst. s. ebd.). 283 Siehe (TB II 536 f.). Zu München selbst s. schön Gunna Wendt: Münchner Boheme im Kaffeehaus. Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek. (www.literaturportal-bayern.de). 284 Breuer (2010, S. 23). 285 Mehring (2009, S. 83). 286 Ebd. S. 84. 287 Dr. Georg von Schnitzler, Baron von Freyberg, Dr. Alexander Münch.

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Viertes Kapitel: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914).

deren aus der Schwabinger Bohème bringen ebenso Ausgleich vom leidigen Ehealltag wie Opern-, Theater- und Ausstellungsbesuche (TB II E. 8). Allerdings verändert sich sein Verhältnis zu diesen Kreisen wegen seiner Aufgaben im Generalkommando, zu denen auch die Observation bestimmter Schriftsteller und Künstlerkreise gehört und Schmitt so zu einem doppelten Spiel getrieben wird: „Er schaut den Literatenkreisen in die Eingeweide der Korrespondenz und schämt sich dessen“.288

Der Kontakt mit Däubler bleibt eng, schon wegen dessen in München lebender Verwandtschaft. Ab Juni schreibt Schmitt seine Nordlicht-Studie im Juli in zehn Tagen fertig und schickt das Manuskript auch dem Münchner Verleger Georg Müller mit positivem Ergebnis. Am 15. Oktober kommt Däubler mit seiner Geliebten und Mäzenin Ina Bienert für mehrere Wochen nach München. Sie gehen für Schmitt mit der vollkommenen Entzauberung Däublers einher (s. TB II 142-155)289, und Schmitt denkt sogar daran, die Studie zurückzuziehen, weil Schmitt sich als Reklametrommel missbraucht fühlt: „Frau Bienert und Däubler honorieren aber die Schrift. Sie qualifiziert zwar nicht den Staatsrechtler, schließt aber eine längere Auseinandersetzung ab und verstärkt die Kontakte in Literaturkreise“.290

Das Däubler-Fiasko wird für Schmitt noch aus einem anderen Grund bedeutsam. Es löste den Impuls aus, „hinsichtlich der Aufhebung der Entzweiung nicht länger auf Kunst, Mythos oder Glauben zu vertrauen, sondern stärkere Mächte ausfindig zu machen, die auch eine institutionelle Basis besaßen“.291

Da Schmitts sehr reservierte Haltung – Der Wert des Staates hin oder her – gegenüber dem kriegführenden Staat und seiner drohenden Einberufung nach wie vor bedrückend existent war, rückte die Kirche wieder stärker in sein Blickfeld, von der er durch sein katholisches Herkunftsmilieu geprägt war.292

288 289 290 291 292

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Mehring (2009, S. 84). Siehe Breuer (2012, S. 32). Ebd. Ebd.. Siehe hier: Zweiter Teil.

IV. München zum Zweiten.

Das unveröffentlichte Nordlicht-Essay des Jahres 1912 geht in die schmale Nordlicht-Schrift ein. Neu an Schmitts Däubler-Interpretation sollten drei Akzente werden. Schmitt arbeitet stärker die zeitkritischen Züge des Nordland-Epos heraus, die sich gegen bestimmende Merkmale der Moderne richteten. Zweitens, betont er die Momente, die das Nordlicht von einem gnostischen Fundamentalismus abheben und die Welt im Ganzen zu einem Werk des Teufels erklären, und drittens, stellte er das Nordlicht konsequent in die Tradition der Romantik und damit in die Ästhetik.293

293 Siehe Breuer (2009, S. 26 ff.).

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916). „Drei Studien über „die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes“.294

„Ihr Heuchler, die Gestalt des Himmels und der Erde könnt ihr prüfen, wie prüfet ihr aber diese Zeit nicht? Lukas 12, 56

I. Theodor Däublers „Nordlicht“. Die mangelnde Aufmerksamkeit, die Carl Schmitts Schrift Nordlicht295 zunächst fand und wohl noch findet, steht in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer Bedeutung für sein Werk. In expressionistischer Diktion entwickelt sie eine Kritik der Moderne, die – erstmals grundgelegt – Schmitts Werk als ein Leitmotiv durchziehen wird. Ellen Kennedy attestiert Schmitt, dem Grenzgänger zwischen Recht und Politik296, er sei der Einzige gewesen, der die Rechtswissenschaft als Teil einer größeren geistigen Bewegung, begriffen habe. Über Däubler sei er sich der Kulturproblematik seiner Zeit – für den jungen Schmitt einer „Offenbarung“297 gleich – bewusst geworden und mehr noch: „Ohne das Buch über Däubler hätten weder ‚Politische Romantik‘ noch ‚Die Diktatur‘ noch ‚Politische Theologie‘ geschrieben werden können“.298

Die These Kennedys, die Nordlicht-Abhandlung sei zugleich Schmitts „eigene Kritik der Zeit“ gewesen,299 die ihn auf den Weg zu einem „politi-

294 Gewidmet ist die Studie seinem gefallenen Studienkollegen und Freund: „Im Andenken an Fritz Eisler“. 295 Sigle = N. 296 Neumann (1985, S. 304-306). 297 Kennedy (1988, S. 241). 298 Ebd. 299 Siehe Motschenbacher (2000, S 29). Linjiing Jiang argumentiert ähnlich: „Dennoch bleiben Schmitts große Faszination und hohe Wertschätzung an dessen

118

I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

schen Staatsrechtslehrer“ gebracht habe, ist treffend.300 Noch kurz vor seinem Tod postulierte Schmitt gegenüber Nicolaus Sombart: „Kein Mensch darf über mich schreiben, der mein ‚Nordlicht‘-Buch nicht gelesen hat“.301 Ein verständliches Postulat, da Schmitt in diesem Triptychon seine Weltanschauung vor allem im zweiten Kapitel grundgelegt hat. In diesem bestimmt er die abendländische Metaphysik als Glauben an den „Geist“ (N 49), den er im ersten Teil gegen den alten Orient und im dritten Teil gegen die Gegenwart abgrenzt.302 Bereits im ersten Teil stimmt Schmitt Metaphysisches an: „Was interessiert ist der Geist der Menschheit und das Schicksal des Sterns, der diese Menschheit trägt, kein Problem irgendeines Einzelnen, etwa eines Künstlers oder stud. phil. oder Ingenieurs, der ‚sich‘ findet oder zu seiner ‚Persönlichkeit‘ durchringt“ (N 38)303.

Das Essay verdeutlicht die Kulturkritik wie auch die Zeitdiagnose und Zeitkritik Schmitts anhand der Interpretation eines Versepos. 1. Historische und ästhetische Elemente. Nach der Art des Denkens und Betrachtens, so Schmitt, gehöre die Nordlicht-Dichtung in die Nachklassik, inhaltlich in die Romantik, ansonsten zeige sie „ungewöhnliche Traditionslosigkeit und Originalität“ (N 17). Schmitt deklariert Däubler so als unvergleichbar, als eine ganz aus dem Rahmen fallende Erscheinung. Seine Dichtung stehe in der Nachfolge von Hegel, Schelling und des „jungen, noch nicht reflektierten Schiller“ (ebd.). Aber auch die Zeit der mittelalterlichen Mystik lebe in Däublers Werk, wie sie in den nachfolgenden Versen zum Ausdruck gelange: „Erblicke ich die eigenstillen Dinge, So bin ich nimmer ein Gemüt auf Erden, Sondern der Geist, als der ich uns durchdringe. So bin ich alle, die noch kommen werden!

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Dichtung bestehen, er findet in Däublers Nordlicht eine Wurzel seines eigenen Denkens“ Jiang (2013, S. 37, Herv. im Original.) Vgl. ebd. Sombart (1991, S. 123). Vgl. Mehring (1989, S. 42 f.). Herv. im Original.

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

Die Dichter und Erdichteten der Tiefen: So bin ich Pan und auch der Schreck der Herden. Virgil und alle Wiesen, die ihn riefen.“304

In der Persönlichkeit Däublers sieht Schmitt die ganze Kultur und die ganze Schönheit der Mittelmeerländer aufgenommen und er schreibt ihm weiterhin zu, er sei „vielleicht der erste, in dem die geistige Einheit des Okzidents aus der Sehnsucht zur Erfüllung gelangt ist“ (N 18). Weiter schwärmt Schmitt von Däublers Sprachgewalt, der Musikalität der Sprache, dem Reichtum an Metaphern und Bildern und empfindet es als „höchst bemerkenswert (…)“, „daß auch in dieser hemmungslosen Hingabe an den Sprachklang die gedankliche Richtigkeit immer gewahrt bleibt und gerade da die tiefsten Gedanken entstehen, wo die Sprachgewalt nicht nur sich selber singt und malt, sondern auch sich selber denkt“ (N 44/45).

Der Gnostiker Däubler wird von Schmitt gänzlich als Lyriker und nicht als ein philosophischer, gelehrter Dichter verstanden, denn er lasse die Dinge mit ihrem Eigenwert für sich selbst sprechen,305 auch weil er glaube, dass jedes Ding einen Geist besitzt.306 Die Sprache in der Däubler dies tut – „von den Lesern allgemein als ungenießbar bewertet“307 – ist ebenso wenig jedermanns Sache, wie die ungeheure Dimension dieses Epos mit über 30.000 Versen auf ca. 1.200 Seiten. Selbst der Bewunderer Schmitt erklärt mit Däublers Sprachstil, „daß ihm heute viele fernbleiben“ (N. 40).308 Auch „Banalitäten“, „sprachliche Härten“ und „Geschmacklosigkeiten“ (ebd.) gesteht Schmitt zu (vgl. N 40 f.), schränkt aber umgehend ein, dass sich das Werk Däublers derartiger Kategorisierung entziehe, habe doch „Däubler überhaupt kein Verhältnis zu einem Publikum“ (N 41). Und schon gar nicht, darf man ergänzen, zu der anspruchsloseren, „nur“ Unterhaltungsliteratur kon-

304 305 306 307 308

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Däubler „Das Nordlicht“, Zweiter Teil: Der Ararat speit! Der Ausbruch, S. 520. Jiang (2013, S. 40). Ebd. S. 44. Ebd. „Von allen“ sicher nicht, aber durchaus von vielen. Ulrich Klappstein („Nordlichter“) kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Ein wesentlicher Grund für die Zurückhaltung der Lesergemeinde Arno Schmidts und auch der Schmidt-Forschung bei der Beschäftigung mit Däubler und seinem Werk dürfte in der Einschätzung Däublers als sperrigem Autor zu suchen sein: seine Lyrik gilt als schwierig und findet deshalb heutzutage nicht mehr viele Leser“ (Klappstein 2012, S. 9).

I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

sumierenden Masse der Leser.309 Jedenfalls habe der „bildnerische Drang im ‚Nordlicht‘ (…) die Umschaffung der Sprache zu einem rein künstlerischen Mittel“ geleistet (N 40). Was Schmitt auch für Richard Wagner gelten lässt, der in der Theorie die Dichtung über die Musik gestellt habe. Beide gingen gewaltsam310 mit der Sprache um. Wagner untermalte und verstärkte seine Verse mit dem fremden Mittel der Musik, Däubler hingegen „holt vielmehr alles, Farbe, Klang, inhaltliche Beziehung, aus der immanenten Fülle der Sprache heraus. Oft löst er sie vollständig in Klangwerte auf, neben denen der Inhalt nur adminikulierend in Betracht kommt. Die absolute Musik der Sprache, die Farben der Vokale und Konsonanten wirken sich selbst das lebendige Kleid dichterischer Schönheit“ (N 42).

Mit seiner eigenartigen Art zu dichten311 − „vom Erlebten in ein Bild und vom Bild in Dichtung“312 – verfolge Däubler das Ziel, die Alltagssprache zu überwinden, die von dem Zweck beherrscht sei, zwischenmenschliche Kommunikation zu ermöglichen. Gerade diese utilitaristische Absicht sei es, die die Alltagssprache hässlich mache und bewirke, dass sich mit ihr – im Gegensatz zur Musik – kein Mythos dichten lasse, „nicht einmal ein schönes Gedicht; es wird entweder Banalität oder eine kunstgewerbliche Leistung“ (N 43). Däubler lässt für Schmitt deshalb den Naturalismus der Sprache hinter sich – so wie er überhaupt das naturwissenschaftliche Wirklichkeitsverständnis überwinden will313 – und erhebt sie zum rein ästhetischen Mittel, ohne Rücksicht auf ihre umgangssprachliche Kommunikationsfähigkeit (vgl. ebd.), ein Faktum, das die Vorwürfe der Sperrigkeit im Sinne einer Nichtverstehbarkeit von Däublers Sprache ein Stück weit plausibler macht. Im Glossarium314 wird Schmitt später die Botschaft Däublers als „die Auflösung alles Gegenständlichen im Klang des Gedichts“315 interpretieren:

309 Vgl. Jiang (2013, S. 40). 310 Wobei für Däubler gelte: „Aber seine Gewaltsamkeit ist nur vollkommene Hingabe“ (N 47). 311 Darauf ist im Rahmen dieser Arbeit ebenso wenig näher einzugehen (s. dazu Jiang 2013, S. 43-48) wie auf die Frage des dichterischen Rangs Däublers. 312 Jiang (2013, S. 44). Siehe auch Nienhaus (1996, S. 88). 313 Vgl. Werner (1996, S. 59). 314 Sigle: GL. 315 Nienhaus (1996, S. 92).

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

„Däubler: die Dinglichkeit ist tot; das Wort erfüllt den Raum! Nein, der Ton erfüllt die Räume, hebt sie sogar auf. Das ‚Nordlicht‘ Däublers ist nicht Wort, sondern Ton, ist Tonalität“ (GL 89).

Noch aber ist in der Nordlicht-Schrift die Sprache das wirkmächtigste und einzige Mittel des Dichters und, so verstehen wir Schmitt, er bedarf offenbar auch keines anderen, denn der Reichtum der künstlerischen Elemente ist in der Sprache bereits vorhanden.316 Bei Däubler konstatiert Schmitt, „daß auch in dieser hemmungslosen Hingabe an den Sprachklang die gedankliche Richtigkeit immer gewahrt bleibt und gerade da die tiefsten Gedanken entstehen, wo die Sprache nicht nur sich selber singt und malt, sondern auch sich selber denkt“ (N 44/45).

Jiang hebt die besondere Bedeutung des Begriffs der „Demut“ für den Literaturkritiker Schmitt hervor. Sie sei der Schlüssel für die Größe Däublers wie auch für die Shakespears. Bei beiden sehe Schmitt den Glauben an die Offenbarung, d.i. der „Glauben an die von Gott geschenkte Sprache und den Glauben an die von Gott zugelassene Geschichte“:317 „In gläubigem Schauen wird die Welt erkannt. Bei einem Künstler, dessen Wesen Intuition ist, kann es nicht anders sein. Soviel die schöne Form bedeutet, soviel an ihr bewußt erarbeitet werden kann, das Wesentliche ist Offenbarung, Geschenk, Gnade. Der Dichter ist nur die Feder eines Andern, der schreibt, eine ‚Adlerfeder‘, ein Werkzeug. Er vollzieht, was ihm befohlen“ (N 55).

Diese dichterische Demut unterscheide sich vom Romantiker, der sich als auserwähltes Werkzeug eines Höheren fühle, als ein freidenkender, genialischer, intellektueller Künstler, der sich in einer Gesellschaft bewegt, die es dem privaten Individuum überlässt, „sein eigener Priester zu sein, aber nicht nur das, sondern, wegen der zentralen Bedeutung und Konsequenz des Religiösen, infolgedessen auch der eigene Dichter (…)“ (PR 26).

316 „Für den, der im Ernst alle künstlerische Wirkung aus der Sprache herausholen will, werden Assonanzen, Reime, Alliterationen das Ein und Alles, der Ausdruck ihrer wesentlichen Schönheit, eine herrliche Absage an den Naturalismus des alltäglichen Verständigungsmittels“ (N 47). 317 Jiang (2013, S. 43).

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I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

2. Zur Kritik der Moderne. 2.1. Zu Inhalt und Interpretationsansatz von Däublers „Nordlicht. In seinem Vorwort zur Genfer Ausgabe seines Nordlicht-Epos von 1921 stellt Däubler den Inhalt desselben als seine eigene „Privatkosmologie“, als seine persönliche mythologische Deutung von der Entstehung und Entwicklung der Welt vor. Das Nordlicht-Symbol, so Jiang, verkörpere „eine innerseelische Erscheinung des Daseinszustandes“318, dessen „seelischgeistige“319 Aneignung die Menschheit der Moderne auf eine höhere Stufe ihrer Entwicklung hebt: „Angeregt von diesen Seelenregungen beginnt der Mensch allmählich das Denken zu ergreifen“.320 Und weiter: „Diese Kraft des Denkens führt den Menschen über eine Schwelle, die in kosmische Bereiche hineinführt“.321

Für Däubler überschreitet der bewusste Mensch die Schwelle, die die Erdenwelt von der kosmischen trennt. So beginnt denn auch das Vers-Epos mit folgenden Zeilen: „Es sind die Sonnen und Planeten alle, Die hehren Lebensspender in der Welt, Die Liebeslichter in der Tempelhalle, Der Gottheit, die sie aus dem Herzen schwellt.“

Das Nordlicht, so leitet Schmitt den ersten Teil seines Essays ein, das am Pol aus dem Innersten der Erde ausströme, sei ein Symbol: „Es ist also gesiebtes Sonnenlicht und das Eigenlicht der Erde“ (N 11/12). In Däublers Versepos herrsche ein „romantischer Deutungsdrang“ und insbesondere die Figur der Ellipse als räumliches, aus dem Bereich der bildenden Kunst entstandenes Ordnungsprinzip322, sei Gegenstand zahlreicher Reflexionen bei Däubler (N 16). Die Figur der Ellipse, die bekanntlich auch den Lauf der Planeten beschreibt, finde sich als die „Grundhieroglyphe der Schöpfung“ (N 12/13) nahezu überall wieder. Das Auseinanderstehen ihrer beiden Brennpunkte drücke den „allgemeinen Dualismus der sichtbaren Welt“ aus. Ihr Bestreben aber, das Zentrum des göttlichen Kreises zurück-

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Jiang (2013, S. 48); inneres Zitat Falck-Ytter (1996, S. 53.) Falck-Ytter (1996, S. 53.) Ebd. S. 54. Ebd. Nienhaus (1996, S. 88).

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

zuerobern, „ist die Erklärung für alles Leben“ (N 13).323 So kartographiert sich die elliptische Form auch in den Wanderungen des „Ich“ im ersten Teil des Werkes: „Mittelmeer“, von Venedig nach Neapel, von Rom nach Florenz und Venedig, „um so die Linie der Gedanken und Träume zu einer schönen Schleife zu machen“ (N 16). Am Ende jedes Entwicklungsfortschritts stürzt die Menschheit aber in den Schlund des Ararat und jedes Mal speit sie dieser auf ihrem Weg zu ihrer historischen Bestimmung, der „Erdvergeistigung“,324,wieder aus, bis zur Nacht des Tartarus, nach der das Nordlicht erscheint (N 67, Anm. 1). Nach „schaurigen Kämpfen“ erreicht das Volk das „Nordlicht“ und es „wird der ‚Geist‘ gewonnen, der Same der Erde und ihrer Menschheit“ (N 49). Dieser Weg nach Norden gleicht einem „Zum-Geist-Kommen der Menschheit als alternatives Ziel“325, an dem die Offenbarung der geistigen Rettung der Menschheit steht, wobei der Weg dorthin nicht nur ein christlicher sein kann.326; „Aber der Erfolg ist eine neue Erde. Das Ende ist weder ein Totentanz noch eine Gerichtsszene; die Verklärung liegt im Geist. Die Erde ist vollendet, weil sie ein leuchtender Stern geworden ist; die Menschheit ist vollendet, weil sie den Geist errungen hat. Beides ist Eins, getreu der erdentreuen Gesinnung, die das große Gedicht trägt“ (N 49).

Jedoch mache Däublers Nordlicht-Epos keinen sozialen Anspruch geltend und seine Weltbetrachtung sei keine kritische, analytische, psychologische und keine polemische, es negiere aber das mechanistische Zeitalter und den Materialismus der modernen Zivilisation in Gänze. Ohne dadurch ins politisch-polemische oder in eine Zeitkritik nach Rathenau abzugleiten, biete es geistige Zuflucht vor Utilitarismus und Materialismus und kompensiere so als ein „Buch des Aeons“ das „Zeitalter der Geistlosigkeit“ (N 64 f.):327 „Es bedeutet die in einem großen Kunstwerk inkarnierte Polarität einer geistund kunstlosen Welt. Es trägt in sich das ganze Gewicht des geistigen Ausgleichs einer Welt, die der Geist verließ“ (N 65).

323 Schmitt hatte Rathenau bereits am 12. April 1912 per Brief auf Däublers Nordlicht-Epos hingewiesen, Rathenau hatte geantwortet, woraufhin sich Schmitt in einem zweiten Schreiben näher vorstellte (s. dazu Mehring 2009, S. 45 f.). 324 Siehe Motschenbacher (2000, S. 31). 325 Nienhaus (1996, S. 90). 326 Vgl. ebd. 327 Vgl. Jiang (2013, S. 48 f.).

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I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

Hier, so Schmitt, zeige sich auch die Aktualität des Werkes, die auf dem Verhältnis zum innersten Wesen der Zeit beruhe, und dessen großartige Verneinung dieses Werk ist“, (ebd.). Es sei, so Jiang, „die Verneinung der Verneinung der Transzendenz“328. Im Gegensatz dazu fehlt der Zeitkritik der Skeptiker, der direkte Gegenpol zur Geistlosigkeit einer gottlosen Welt, weshalb sie in der bloßen Verneinung des Hier und Jetzt gefangen bleibe; der Weg zu einer Problemlösung ist so verstellt. Deshalb verliert sich der moderne Skeptizismus – der Romantik ähnlich – alibiheischend in endlosen Diskussionen, nur um der Erfordernis der Dezision zu entgehen.329 Bei aller zeitlosen Aktualität erkennt Schmitt gleichwohl Abschnitte im Nordlicht, die – wenn auch von „nebensächlichem Interesse“ (N 66) – ein „deutlich kritisches Bewußtsein der Gegenwart“ (ebd.) zeichnen, dann aber „ergreifender als ein kritischer Historiker das vermochte. Es durchschaut die Gegenwart mit der intuitiven Klarheit einer hellsehenden Vision“ (ebd.) und macht es zu einem wertvollen Element für das Verständnis der Moderne. 2.2. Rathenaus „Zur Kritik der Zeit“. Carl Schmitts Kritik der Moderne setzt mit der Rezeption von Walther Rathenaus Buch Zur Kritik der Zeit ein, das er im Jahr des Erscheinens (1912) in der Zeitschrift Rheinlande auch rezensiert hat.330 Rathenau, der im öffentlichen Leben stehende, politisch ambitionierte Topmanager, Macher und Literat, erregte als „Ingenieur und Industriekapitän zugleich als Gesellschaftskritiker und Philosoph“331 aufsehenerregende Resonanz.332 Rathenau wollte nichts weniger, als Ursprung und Weg des technisch-industriellen Zeitalters geschichtsphilosophisch in kritischer Absicht zu analysieren. Damit traf er auf eine Zeitstimmung,

328 Ebd. S. 50. 329 Vgl. ebd. 330 Das Buch Rathenaus erlebte im Erscheinungsjahr sieben Auflagen und mehr als fünfzig Rezensionen, bis 1925 achtundzwanzig Auflagen (Heimböckel 1996, S. 182 f.). 331 Stefan Zweig 1912, hier zit. nach Heimböckel (1996, S. 183). 332 Vgl. ebd.

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„die auf dem allgemein verbreiteten Gefühl gründete, der Gleichförmigkeit des Daseins hoffnungslos ausgeliefert und nur noch Rad im Getriebe einer von Industrie und Technik beherrschten Weltmaschinerie zu sein“.333

Als Ursache des technizistischen Zeitalters sah er nicht den Kapitalismus, sondern die Bevölkerungsexplosion. Wirtschaftstheoretisch formulierte er deshalb, dass eine Gesamtwirtschaft bei geringer Bevölkerungszahl ebenso undenkbar sei, wie eine Einzelwirtschaft bei großer Bevölkerungsdichte:334 „Gesamtwirtschaft muß daher mit Naturnotwendigkeit eintreten, sobald eine gewisse Verdichtung stattgefunden hat“.335 Als Erklärung bietet Rathenau seine „spekulative und rassentheoretisch durchsetzte Zweischichten- und Umschichtungstheorie“, die schon zu seiner Zeit als sehr befremdlich angesehen wurde.336 In seiner Rezension kritisierte Schmitt heftig, dass offen bleibe, von welcher Warte aus Rathenau seine Kritik bestreitet, etwa von einem historischen, soziologischen, wissenschaftlichen oder religiösen Standpunkt aus. Er hingegen gehe von der Fundamentalvorstellung einer mystischtranszendenten Seele aus,337 eine Wertzumessung, die ja gerade vermieden werden sollte338: „Wer aber ‚Seele‘ gegen die ‚Zeit‘ aufbietet, lastet sich ein stärkeres Begründungspensum auf. Schmitt entzieht Rathenaus Fundmentalkritik so den Boden (…)“.339

Methodologisch kritisiert Schmitt das Fehlen eines leitenden Wertgesichtspunkts und damit der Wissenschaftlichkeit bei Rathenau, seine pessimistische Zeitsicht aber teilt er.340

333 Ebd.(S. 184). 334 „Einzelwirtschaft bedeutet Abgeschlossenheit, Nachbarlosigkeit. Gesamtwirtschaft bedeutet enge Berührung, Zusammenschluß. Einzelwirtschaft kann nur aus dem vollen schöpfen (…). Gesamtwirtschaft lebt von Ersparnis; Ersparnis an Zeit, Kraft. Material, Lagerverlust, Reibungsverlust“ (Rathenau 1912, S. 24). 335 Ebd. 336 Heimböckel (1995, S. 185). 337 Siehe dazu auch (N 63): „Ein kluger Kritiker der Zeit fand den Gegensatz von Mechanik und Seele.“ Der „kluge Kritiker“ ist Rathenau. 338 Vgl. Mehring (1989, S. 41 f.). 339 Mehring (2009, S. 46/47). 340 Mehring (1989, S. 42).

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2.3. Schmitts Kritik der Moderne im „Nordlicht“. Die geschichtliche Entwicklung von der Reformation und der Renaissance über die Aufklärung und die Französische Revolution markieren für Schmitt den Zerfall der mittelalterlichen Ordnung durch die Spaltung des einen341 Glaubens und in der Folge als eine zerstörerische Entwertung der „wichtigsten und letzten Dinge“342. Zentral für seinen Begriff der Moderne ist die Herausbildung des modernen Staates in Europa. In Der Begriff des Politischen benennt er die Moderne vom 16. bis zum 19. Jahrhundert als die „Epoche der europäischen Staatlichkeit“(BP 17), die ein europäisches Völkerrecht – jus publicum Europaeum – nach sich gezogen habe. 343 Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem universellen Individualismus im 19. Jahrhundert und mit ihrer Antistaatlichkeit, habe dann die Auflösung des Staates nach den Begriffen Schmitts eingeleitet. Analog universalisierte sich auch das europäische Völkerrecht.344 „Die Menschen sind arme Teufel geworden, sie wissen alles und glauben nichts“ (N 60) – in einem Zeitalter, das „sich selbst als das kapitalistische, mechanistische, relativistische bezeichnet, als das Zeitalter des Verkehrs, der Technik der Organisation. In der Tat scheint der ‚Betrieb‘345 ihm die Signatur zu geben, der Betrieb als das großartig funktionierende Mittel zu irgendeinem kläglichen oder sinnlosen Zweck, (…) der Betrieb, der den Einzelnen so vernichtet, daß er seine Aufhebung nicht einmal fühlt (…) (N 59).

Schmitt eröffnet mit einem wahren Feuerwerk der Zeitkritik: „Sie interessieren sich für alles und begeistern sich für nichts. Sie verstehen alles, ihre Gelehrten registrieren in der Geschichte, in der Natur, in der eigenen Seele. Sie sind Menschenkenner, Psychologen und Soziologen und schreiben schließlich eine Soziologie der Soziologie. Wo irgendetwas nicht ganz glatt sich entwickelt, weiß eine scharfsinnige und flinke Analyse oder eine zweckmäßige Organisation den Mißstand zu beheben. Selbst die Armen dieser Zeit, die Menge Elender, die nichts ist, als ‚ein Schatten, ‚der zur Arbeit hinkt‘, Millionen, die sich nach der Freiheit sehnen, erweisen sich als Kinder dieses Geistes, der alles auf die Formel seines Bewußtseins bringt und keine Geheimnisse und keinen Überschwang der Seele gelten läßt. Sie wollen

341 342 343 344 345

Herv. w.a.m. Vgl. Motschenbacher (2000, S. 30). Zur Europazentriertheit der Moderne siehe Heuer (2010). Ebd. S. 47. Die Wahrnehmung der Moderne als „Betrieb“ ist ein offensichtlicher Bezug auf Max Weber (siehe dazu später Politische Theologie).

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den Himmel auf der Erde, den Himmel als Ergebnis von Handel und Industrie, der tatsächlich hier auf der Erde liegen soll, in Berlin, Paris und New York, einen Himmel mit Badeeinrichtungen, Automobilen und Klubsesseln, dessen heiliges Buch der Fahrplan wäre. Sie wollen keinen Gott der Liebe und Gnade, sie hatten so viel Erstaunliches ‚gemacht‘, warum sollten sie nicht den Turmbau eines irdischen Himmels ‚machen‘. Die wichtigsten und letzten Dinge waren ja schon säkularisiert. Das Recht war zur Macht geworden, Treue zur Berechenbarkeit, Wahrheit zur allgemein anerkannten Richtigkeit, Schönheit zum guten Geschmack, das Christentum zu einer pazifistischen Organisation. Eine allgemeine Vertauschung und Fälschung der Werte beherrschte die Seelen. An die Stelle der Unterscheidung von gut und böse trat eine sublim differenzierte Nützlichkeit und Schädlichkeit“ (N 60/61).

Wir haben so ausführlich zitiert, weil in dieser zentralen Stelle des Nordlicht-Essays die wichtigsten Kritikpunkte aus der Weltsicht Schmitts verdichtet wiedergegeben sind. Die Welt tritt als ein durchorganisierter Betrieb auf, der nur scheinbar mit seiner Technizität zu einem Himmel auf Erden verhelfen kann und nur vorgeblich Freiheit bringt. Das irdische Paradies, das einem kapitalistischen Wirtschaftssystems aus Handel und Industrie entwachsen soll, bringt nur einem kleinen Teil der Menschen Freiheit, denen die große „Menge Elender und Unfreier“ gegenübersteht. Alles scheint technisch machbar, weshalb in fataler Konsequenz jedes Problem nur unter technischen Aspekten untersucht wird und der Glauben durch ein nur vermeintliches Wissen abgelöst ist. Das „heilige Buch“ ist zum Fahrplan als dem Inbegriff technischer Präzision und Vorausberechnung mutiert und es herrscht der Glaube an einen – diesmal erfolgreichen zweiten – „Turmbau eines irdischen Himmels“. Motschenbacher hat recht, wenn er diese Gemengelage gerade auch unter den Aspekt der „Säkularisierung“ subsumiert sieht.346 Dieses Gefühl des haltlosen Ausgeliefertseins in einer monströs technisierten Welt hat Hugo Ball, der 1924 die erste Abhandlung über die Schriften Schmitts verfassen wird − Carl Schmitts politische Theologie347 – 1917 so beschrieben: „Eine Zeit bricht zusammen. Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären. (…) Die Welt zeigt sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte. Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. (…) Maschinen entstanden und traten anstelle der Indi-

346 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 30). 347 Ball (1924).

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I. Theodor Däublers „Nordlicht“.

viduen (…) Turbinen, Kesselhäuser, Eisenhämmer, Elektrizität ließen Kraftfelder und Geister entstehen. (…) Die Welt wurde monströs (…) Eine Welt abstrakter Dämonen verschlang die Einzeläußerung, verzehrte die individuellen Gesichter in turmhohen Masken, verschlang den Privatausdruck, raubte den Namen der Einzeldinge, zerstörte das Ich und schwenkte Meere von ineinandergestürzten Gefühlen gegeneinander“.348

Diese apokalyptischen Zeilen Balls trafen, wie Blom zu Recht betont, auf die Zeit nach 1918 zu, hätten aber eigentlich diejenige vor 1914 beschreiben sollen, waren doch zu dieser Zeit „die großen Metropolen zu Schlachtfeldern der Moderne geworden“349. Balls Zeit- und Gesellschaftskritik ist wie die Schmitts nichts Originäres, sondern gründet auf einem vor allem unter Intellektuellen weitverbreiteten Kulturpessimismus.350 Der „homo catholicus“351 Carl Schmitt hat seine Sicht auf dieses Bild einer geistlosen und öden Industriegesellschaft der Moderne mit dem verhängnisvollen Sieg der Technik, die er als das Resultat der fortschreitenden Säkularisierung begriff, substantiell nie geändert. 2.4. Antichrist und Apokalypse. Schmitt hatte – „Eine allgemeine Vertauschung und Fälschung der Werte beherrschte die Seelen.“ – für seine Gegenwart einen Wertewandel352 diagnostiziert, in dem er eine Entwertung der heiligen und letzten Dinge sah, was aus seiner Sicht verhängnisvolle Folgen zeitigte: „Die Verwechslung war schauerlich. Für den, der die verheerende Macht erkennt, scheint die Erde zur knirschenden Maschine geworden. Ein Bild, das in anderen Zeiten aus der unbeschreiblichen Angst vor der unentrinnbaren Macht des Bösen geboren ist, taucht auf wie eine Prophezeiung, die sich nunmehr erfüllt: der Antichrist“ (N 61).

Der Begriff des Antichristen (d.i. der Gegenmessias) ist für Schmitt ein zentraler, denn er „ist der Angelpunkt für alles Weitere zum Verständnis

348 Hugo Ball (1917): Kandinsky: Vortrag, gehalten in der Galerie Dada, zit. nach Blom (2015, Epigramm u. S. 14). 349 Vgl. Blom (2015, S. 14). 350 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 32); grds. dazu. Ringer (1983); Stern (1986). 351 Tommissen (1975, S 179). 352 „Eine allgemeine Vertauschung und Fälschung der Werte beherrschte die Seelen. An die Stelle der Unterscheidung von gut und böse trat eine sublim differenzierte Nützlichkeit und Schädlichkeit“ (N 61).

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seiner politischen Theologie“353 und die Zeitkritik erhält mit dieser apokalyptischen Figur einen starken religiösen Impetus. Der Antichrist wird uns in Schmitts Werk noch öfter begegnen und bedarf deshalb kurzer Erläuterung. Der Terminus „Antichrist“ begegnet uns in den frühchristlichen Schriften nur bei 1Joh 2, 18, 1Joh 2, 22 und 1Joh 4, 3 sowie 2Joh 7. Er bezeichnet die Vertreter gegnerischer theologischer Positionen und steht so parallel zu den Begriffen „falscher Prophet“ und „Pseudoapostel“. Die Bedeutung von „anti“ als „anstelle von“ weist zur Figur des Gegenspielers Christi in der Apokalypse, der als falscher Messias auftreten und falsche Lehren verbreiten wird. Hinter den verschiedenen Antichrist-Figuren – Teufel, Satan, Fürst dieser Welt, Beliar – steht mit ihm das Böse schlechthin.354 Das „Grausige“ an ihm, das ihn über alle anderen Tyrannen – Timur Lenk und Napoleon benennt Schmitt – erhebt, ist seine Fähigkeit, Christus so zu imitieren, „daß er allen die Seele ablistet. (…) alles wird ihn als Glück der Menschheit preisen und sagen: ein großartiger und gerechter Mensch“ (N 61). Die derart Überlisteten aber … „… sehen nur den fabelhaften Effekt; die Natur scheint überwunden, das Zeitalter der Sekurität bricht an; für alles ist gesorgt, eine kluge Voraussicht und Planmäßigkeit ersetzt die Vorsehung; die Vorsehung ‚macht‘ er, wie irgendeine Institution“ (N 62).

Die religiösen, kulturellen und philosophischen Verheißungen einer gesicherten Existenz unter der Formel: „Pax et securitas“ lässt der Antichrist durch seine Conferenciers vortragen, „deren geschickter Analyse kein Heiliger und kein Held, auch nicht Christus am Kreuz entgeht …“ (ebd.). und schon gar nicht „der arme Mensch dieser gottlos und irrsinnig arbeitenden Zeit“ (N 69). Und dennoch herrsche gerade unter „vielen der Besten“ (N 70) eine Stimmung, die in Däublers Vers-Epos nicht aufkommen könne: „das menschen- und weltkennerische Mißtrauen gegen die Welt und jeden Menschen; dann das bange Gefühl ewigen Betrogenseins und schließlich der Zweifel, ob Christus und der Antichrist überhaupt noch zu unterscheiden sind“ (ebd.).

In einer Zeit, in der vermeintlich alles als rational, plan- organisier- und realisierbar gilt, sei den Menschen die Fähigkeit zur elementarsten Unter-

353 Jiang (2013, S. 54). 354 Vgl. Pratscher (2010).

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scheidung abhanden gekommen, auf die allein es aber ankomme (vgl. N 71. F.). In der Nordlicht-Exegese, so Motschenbacher, zeige sich schon früh Schmitts Affinität zur Apokalyptik, die ein wesentliches Element seines Denkens bildet.355 Auch seine Befassung mit der Gnostik wird deutlich: „Wer die moralische Deutung der Zeit ahnte und gleichzeitig sich als Kind der Zeit wußte, konnte nur Dualist werden“ (N 63). Aber Schmitt beschreitet nicht den Weg des Marcion im 2. Jahrhundert, der – die Gnosis noch radikalisierend – zwei Götter unterschied.356 Den Schöpfergott („Demiurg“), der ob seiner eigenen schweren charakterlichen Mängel eine mangelhafte Welt schuf, sie als Urheber des alttestamentlichen Gesetzes beherrscht und nicht der Vater Christi ist. Dieser habe einen vollkommenen, guten und barmherzigen Gott verkündet, der die Menschen in seiner Gnade erlöst. Der Demiurg aber wisse von ihm nicht.357 Der Welt der Geistlosigkeit, die nur aus den Reihen der Skeptiker kommen könne, „deren Verstand jeder Apokalyptik fremd ist“, (N 48) begegnet Schmitt mit Däublers Nordlicht, mit dem „Geist“ als „Ziel und Vollendung“ (N 48). Aber er erkennt den Antichrist im Kriegsjahr 1916 nicht etwa im Anwerfen der menschenverachtenden und technisch hochgerüsteten Todesmaschinerie, sondern im Kapitalismus der modernen Bourgeoisie, „dieser in Angst um Geld und Besitz verkommenen, durch Skeptizismus, Relativismus und Parlamentarismus moralisch zerrütteten Gesellschaftsschicht“,

die ihn verkörpert (PuB 11). Es ist „der typisch konservative, katholische Antikapitalismus“, auf dem Schmitts Argumentation hier beruht, wenn er die christliche Ontologie durch die apokalyptische Macht des Rationalismus zerstört sieht358 „und endlich über die Erde reitet wie einer der apokalyptischen Reiter“ (N 67). Schmitt sieht in der Nordlicht-Dichtung eine Erlösungsfunktion, durch die bei Däubler, „die geistige Einheit des Okzidents aus der Sehnsucht zur Erfüllung gelangt ist“ (N 18). Mehring sieht so bereits im Nordlicht impli-

355 Motschenbacher (2000, S. 34). 356 „So hätte nur eins bleiben können: mit dem Gnostiker Marcion die Welt restlos als Werk des Teufels zu erklären, in der ewig die Geistlosigkeit über den Geist triumphieren wird“ (N 63). 357 Vgl. May (2005, S. 3-12).Siehe hier das Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form. 358 Mehring (1988, S. 44).

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zit eine für Schmitts Gesamtwerk wichtige „Leitfrage“ aufgerufen, die explizit dann 1950 in der Donoso-Cortés-Schrift ausgesprochen wird und fragt, „ob der christliche Äon zu Ende ist oder nicht“ (DC 93).359 Denn mit der „Sinnlosigkeit“ seines Zeitalters stellt sich für Schmitt das Problem, „in Millionen Sekunden den Sinn zu finden, der in keiner einzigen von ihnen ist und trotz der Sinnlosigkeit des einzelnen Zeitabschnittes an die Fülle der Zeiten zu glauben“ (N 53),

Däubler finde im Nordlicht diesen Sinn und begründe so die Bedeutung der Universalität der Dichtung, die mit der Neuschaffung der Erde zwar anhebe, aber in Wirklichkeit „mit nichts als dem Glauben, daß alles gut sei und einen Sinn habe“, und dass die Natur wie der Mensch auch von Natur aus gut sind (N 53). So erfüllt sich – wohl erstmals – die geistige Einheit des Okzidents (vgl. N 18): „Am Ende aller Dinge steht der Geist, die Erkenntnis, die Gnosis, die Visio Dei. Die Zeit und die Weltgeschichte hören auf, das Irdische versinkt nach dem Sprung ins Metaphysische. Die Erde bleibt, sie wird sogar verklärt, aber die nichtigen Wichtigkeiten der Haupt- und Staatsaktionen sind zu Ende. Es gibt keine Weltgeschichte mehr, sobald die Welt erkannt ist“ (N 56)360.

Schmitts Nordlicht-Studie ist, wie Mehring geltend macht, vor allem auch eine Antwort auf das Weltkriegsgeschehen“ und „vermutlich ein zentrales Motiv ihrer Wiederaufnahme“:361 „In den Tagen, da die europäische Welt sich selbst zerfleischt, wird diese Dichtung bekannt; in den Jahren, die materiell und metaphysisch die Verwüstung ermöglichten, ist sie entstanden“ (N 59).

II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus. Schmitts Däubler-Schrift betrachtet den Weltkrieg als ein apokalyptisches Geschehen. Die über zwanzig anonym verfassten Zeitungsartikel für die Hamburger Woche bis Februar 1916 dagegen „überraschen durch ihre Beiläufigkeit und Banalität. Sie machen nicht den Versuch, den militärischen und politischen Fragen des Weltkriegs auf den

359 Ebd. 360 Herv. im Original. 361 Mehring (2009, S. 85).

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II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus.

Grund zu gehen, beteiligen sich nicht an Kriegszieldiskussionen und Friedenstrategien, reflektieren nicht auf die Strukturwandlungen des Wilhelminismus und die Zukunft. (…) Man glaubt kaum an Schmitts Autorschaft“.362

Meist handelte es sich um ankommentierte Übersetzungen von Artikeln englischer und französischer Zeitschriften. Wir erwähnen dies nur deshalb und knapp, weil es zeigt, dass der Carl Schmitt dieser Jahre noch keineswegs der homo politicus war, der er werden sollte. Noch suchte er nicht, den Systemgrenzen von Universität und Wissenschaft „durch seine starke politische Adressierung und Funktionalisierung seiner Wissenschaft zu entkommen“.363 1. Das Thema des Belagerungszustandes. Wie bereits erwähnt, war Schmitt vom Generalkommando beauftragt worden, eine Studie über die juristische Problematik eines Belagerungszustandes zu verfassen, der auch für die Nachkriegszeit rechtens bleiben sollte: „Nachmittags: Bericht über das Belagerungszustands-Gesetz machen. Begründen, daß man den Belagerungszustand noch einige Jahre nach dem Krieg beibehält. Ausgerechnet ich! Wofür mich die Vorsehung noch bestimmt hat“ (TB II 125).

Nun, die Vorsehung hatte offenbar bestimmt, dass die außerordentliche Ausweitung der exekutiven Maßnahmebefugnisse zulasten der Legislative und der Jurisdiktion für Schmitt eine zentrale Thematik wurde und blieb, die sein Werk von nun an durchziehen wird. Man wird mit Mehring davon ausgehen dürfen, dass Schmitt zu dieser Zeit nicht zu den Gegnern der liberalen Gewaltenunterscheidung zählte: „Was so ein Mensch doch fertig bringt364 und wie berechtigt es ist, vor dem Militärregime Angst zu haben und eine Trennung der Gewalten und gegenseitigen Kontrollen einzuführen. Aber das alles ist zweckloses Ressentiment“ (TB II 135).

362 Ebd., S. 86; zu Einzelheiten s.ebd. (S. 86 f.). 363 Mehring (2014, S. 3). 364 Gemeint ist General Falkenhayn, der telefonisch anordnete, die gesamte Korrespondenz nach Österreich zu überwachen (TB II 135).

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

Aber Schmitt erkannte auch bzw. ahnte mindestens, dass diese Problematik „Zukunft“ haben würde – und so denkt er bereits über ein Buch zu diesem Thema nach: „Die rechtliche Problematik des Instituts sieht Schmitt dabei sehr wohl. Die Ausweitung der Diktaturgewalt wünscht er nicht“.365

Die Machtverhältnisse schätzt Schmitt richtig ein: „Aber vor dem Militarismus gibt es keine Rettung und keine Hilfe; nach dem Krieg wird es immer schlimmer werden. Der Einzelne ist nichts; schauerlich“ (TB II 130).

Gedanklich ist er bereits so weit, dass er sein Buchprojekt mit van Calker bespricht. 2. Straßburg: Universitäre Weihen. 2.1. Diktatur und Belagerungszustand. Calker unterbreitet Schmitt unerwartet den Vorschlag, sich in Straßburg zu habilitieren. Ende des Kriegsjahres 1915 rechnete kaum jemand mit einer deutschen Niederlage, geschweige denn mit dem Gebietsverlust des Elsass. Schmitt ist begeistert und schickt sein Habilitationsgesuch umgehend nach Straßburg. Schon am 16. Februar hält Schmitt eine Probevorlesung: Die Einwirkungen des Kriegszustandes auf das ordentliche strafprozessuale Verfahren. Schmitt sieht beim Übergang der vollziehenden Gewalt an den Militärbefehlshaber die richterliche Unabhängigkeit gefährdet. Zwar beruhigt er, die exekutive Einwirkung finde ihre Grenze an der Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, doch die Formulierung der Militärbefehlshaber „kann trotz seiner weitgehenden Befugnisse nicht über den Strafanspruch des Staates verfügen, sondern nur dessen Durchführung fördern oder hemmen“ (TB II 429)366,

kann durchaus sowohl – „nur“ – als Beschwichtigung aber auch als rechtspolitische Warnung verstanden werden. Wir werden sehen, dass er mit die-

365 Mehring (2009, S. 89). 366 Herv. w.a.m.

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II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus.

ser Bestandsaufnahme die wissenschaftliche Theorie der „kommissarischen Diktatur“ einleiten wird.367 Noch Ende 1916 erscheint Diktatur und Belagerungszustand. Eine staatsrechtliche Studie. Sie ist das staatswissenschaftliche Hauptwerk der Münchner Militärzeit. Schmitt analysiert die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Belagerungszustandes ab der Französischen Revolution 1789. Das Jahr 1848 markiert für ihn eine wichtige Wende. Damals sei es um Aufruhr im Inneren gegangen und das Prinzip der Gewaltenteilung – ursprünglich ein praktisch-technisches Mittel – habe sich in ein „absolutes Axiom“ gewandelt, an das fortan mit Pathos geglaubt worden sei.368 Schmitt sieht den maßgeblichen rechtlichen Unterschied der beiden Institute darin, dass beim Belagerungs- oder Kriegszustand die Trennung von Gesetzgebung und Exekutive aufrechterhalten wird und nur eine Konzentration von Befugnissen innerhalb der Exekutive erfolgt (s. SGN 16). Der Militärbefehlshaber erhält also stärkere Exekutivbefugnisse, die ihre Grenzen in der richterlichen Unabhängigkeit finden, aber keine legislativen Vollmachten:369 „bei der Diktatur bleibt der Unterschied von Gesetzgebung und Vollzug zwar bestehen, aber die Trennung wird beseitigt, indem die gleiche Stelle den Erlaß wie den Vollzug der Gesetze in der Hand hat“ (SGN 16)370.

Mehring weist darauf hin, dass Schmitt im Belagerungszustand eine „Rückkehr zum Urzustand“ der Staatstätigkeit sehe, wie er vor der Gewaltenteilung gegeben war: „Insoweit besteht die Trennung der Gewalten nicht mehr; innerhalb des dem Militärbefehlshaber überlassenen Spielraums ist die Rechtslage so, als hätte es eine Teilung nie gegeben. Bei der Diktatur aber bleibt die Teilung bestehen“ (SGN 19).

Damit wechselt die Rechtsstaatlichkeit vom Belagerungszustand zur Diktatur. Der Belagerungszustand aber hebelt die Gewaltenteilung aus, was allerdings umgehend die Frage aufwirft, ob ein solches Staatshandeln mit den rechtsstaatlichen Kategorien des Verfassungsstaates überhaupt noch gefasst werden könne. Sei man dieser Auffassung, käme dies einer Negation der Rechtlichkeit des gegenwärtigen Zustandes gleich:

367 368 369 370

Mehring (2009, S. 90). Siehe ebd. S. 91. Vgl. Neumann (2015, S. 30). Herv. im Original.

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

„Dann wäre seine Darstellung mit dem apokalyptischen Grundzug seiner Kriegspublizistik vereinbar. Sie machte diskret deutlich, dass Deutschland nicht mehr in staatlich geordneten „Zeiten der Mittelbarkeit“, sondern in apokalyptischen Zeiten lebt, wo jeder Einzelne sein individuelles Verhalten zur Idee finden muss“.371

Schmitt erörtert in Diktatur und Belagerungszustand das Verhältnis der Gewalten Gesetzgebung und Verwaltung. Wir bemerken dazu nur, dass Verwaltung nicht nur der bloße Vollzug von positiven Gesetzesbestimmungen ist, sondern auch Rechtsschöpfung, weil das Gesetz nur einen Rahmen darstellt, innerhalb dessen die Verwaltung schöpferisch tätig wird. Historisch betrachtet, sei die Verwaltung der Gesetzgebung sogar vorgeordnet, weil sie am Anfang aller Staatstätigkeit stehe, von der sich Gesetzgebung und Jurisdiktion dann abgesondert hätten. Folglich sei der Belagerungszustand letztlich nur die Rückkehr zum staatlichen Urzustand.372 2.2. Franz Blei und die Zeitschrift Summa. Ab dem 1. Oktober 1917 ist Schmitt zu einem höheren Militärbeamten (Assessor) im Generalkommando befördert worden und leitet nunmehr eine eigene Abteilung. Sie ist zuständig für die Überwachung der Friedensbewegung, der USPD, der Alldeutschen Bewegung, der Einfuhr von Druckzeitschriften, von ausländischen Zeitungen und feindlichen Propagandaschriften sowie der Genehmigung von Vorträgen und Versammlungen.373 In dieser Zeit lernt er den Schriftsteller, Herausgeber, Übersetzer, Literaturkritiker und promovierten Nationalökonomen Franz Blei kennen: es ist der Beginn einer 15-jährigen Freundschaft, die 1933 an politischen Differenzen endet. 1940 wird Blei über Schmitt sinnieren: „Wie konnte dieser römische, rheinländische, gänzlich unromantische Katholik (…) dem Leviathan Staat unterliegen?“374

371 372 373 374

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Mehring (2009, S. 91 f.). Neumann (2015, S. 30 f.). Mehring (2009, S. 93). Franz Blei in Zeitgenössische Betrachtungen (1040), hier zit. n Mehring (2009, S. 95).

II. Straßburg – Belagerungszustand – Katholizismus.

Schmitt veröffentlicht in Bleis Zeitschrift Summa drei größere Beiträge, die, so Mehring, als Triptychon zusammenpassen: Die Sichtbarkeit der Kirche375, Schmitts einzige explizit theologische Veröffentlichung, Macht und Recht376 und Die Buribunken. Carl Schmitt war sicher kein orthodoxer Katholik mit Katechismusfestigkeit und regelmäßigem – zumindest sonn- und feiertäglichem – Kirchgang. Er war aber ein religiöser Mensch, der sich die Freiheit und das Recht zu einem eigenen privatisierten Katholizismus nahm und die religiöse Auseinandersetzung in Literatur und Dichtung suchte – so bei Däubler, Dostojewskij und Kierkegaard. Vor 1914 von religiös pessimistischer Grundstimmung, wie er sie bei Wagner, Schopenhauer und Strindberg finden konnte, erfuhr er in der Beschäftigung mit Kierkegaard, „dass die Frömmigkeit auch im Zweifel besteht. Wir sehen eine doppelte Fluchtbewegung: eine Flucht aus der Zeit und in die Zeit. Schmitt flieht in die Zeit, indem er sich dem gegenrevolutionären Staat verschreibt. Und er flieht aus der Zeit: zum Katholizismus, wie es Hugo Ball in seinen Tagebüchern Flucht aus der Zeit damals beschreibt“.377

Schmitt hatte nach dem Tod Fritz Eislers in seinen Tagebüchern Gott, Mensch und Welt radikal verworfen. Mit der Nordlicht-Studie findet er – vorerst – wieder zu einer positiveren Sicht von Mensch und Welt. In Die Sichtbarkeit der Kirche schreibt er: „Wer die Sünde der Menschen noch so tief erkennt, wird durch die Menschwerdung Gottes wieder zu dem Glauben gezwungen, daß der Mensch und die Welt ‚von Natur gut‘ sind. Denn Gott will nichts Böses“ (TB II 451).

Schmitt unterstreicht die urchristliche Erwartung des Weltendes. Er vertritt die katholische Lehre – eine Kirche, ein Gott – von der Einzigkeit und Universalität der sichtbaren Kirche, die Schmitt vom Mittlertum durch Christus her konstruiert: „Solange Kirche existiert, sieht er sich in ‚Zeiten der Mittelbarkeit‘. Damit verschiebt er den Garanten der ‚Zeiten der Mittelbarkeit‘, von dem schon Der Wert des Staates sprach, vom Staat auf die Kirche“.378

So konstruiert Schmitt erstmals einen institutionellen Dualismus von Staat und Kirche und positioniert die Kirche als Gegenspieler des Staates:

375 376 377 378

Siehe hier auch das Kapitel Römischer Katholizismus und politische Form. Macht und Recht ist das erste Kapitel aus Der Wert des Staates. Mehring (2009, S. 97). Ebd. S. 98.

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Fünftes Kapitel: Theodor Däublers „Nordlicht“ (1916).

„Wenn der Christ der Obrigkeit gehorcht, weil sie – Grund und Grenze – von Gott ist, so gehorcht er Gott und nicht der Obrigkeit. Das ist die einzige Revolution der Weltgeschichte, die das Prädikat einer großen verdient: das Christentum hat der weltlichen Obrigkeit durch seine Anerkennung eine neue Grundlage unterschoben“ (TB II 447).

Für Schmitt leben die Menschen durch die Menschwerdung Christi in Gemeinschaft, und diese Gemeinschaft ist die Kirche. Wie aber der christliche Vorbehalt für Kirche und Staat gilt, so gilt er auch für den Einzelnen gegenüber der Kirche: „Schmitt nimmt sich das Recht zur Staats- und Kirchenkritik“.379 Schmitts Beiträge zur Zeitschrift Summa sind durchaus ein religiöses Credo. Bedeutungsvoll ist ihr religiöser Vorbehalt gegen Kirche und Staat. So hält Schmitt am Universalitätsanspruch der katholischen Kirche fest, legitimiert aber gleichzeitig die Kirchenkritik: „Mit seinem christlichen Credo negiert er den metaphysischen Pessimismus und Gnostizismus. Dessen Konsequenzen für die Lebensführung zeigt er an der Gestalt des Buribunken auf“:380

Zunächst setzt Schmitt das Tagebuch aus.

379 Ebd. S. 99. 380 Ebd. S. 101.

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

Carl Schmitt schreibt seine erste längere Monographie – Politische Romantik – in die beiden letzten Kriegsjahre hinein. Am 16. Juli 1918 bietet er sein Manuskript dem Verlag Duncker&Humblot an, im August geht die Politische Romantik in Druck, Anfang 1919 erscheint sie. Warum Schmitt dieses Buch, zwischen München und Straßburg pendelnd, schrieb, ist einigermaßen unklar.381 Beschäftigen wir uns zunächst mit dieser Zeitspanne. I. Die Kriegsjahre: Fehlurteile und enttäuschte Hoffnungen. „Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front: vergebens hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken.“ Paul v. Hindenburg.382

Als Schmitt die Politische Romantik verfasste, waren die Kriegslage und die politischen Aussichten für das Deutsche Reich noch nicht katastrophal. Ende 1916 schien sich die diplomatische Tür für einen Verständigungsfrieden noch einmal zu öffnen, 1917 aber wollten beide Parteien nur noch einen Siegfrieden erreichen.383 Auch Vertretern der sozialistischen Parteien und Abgesandten des Vatikans gelang es nicht, einen europäischen Friedensprozess in Gang zu setzen. Politisch aktuelle öffentliche Meinungsbekundungen von Schmitt fehlen zwar weiterhin. Doch werden wir uns mit dem Ende des Krieges und dem Beginn der Weimarer Republik näher befassen, weil Schmitts Schriften nach dem Kriegsende im Zusammenhang mit realpolitischen Themen zu lesen sind wie die Gefahr des Bolschewismus, die sogenannte „Dolchstoß-

381 Näher s. Mehring (2017, S. 72). 382 Paul v. Hindenburg (1919): Aus meinem Leben. Leipzig 1929, S. 403, hier zit. n. Kraus (2014, S. 18).Der Satz ist gleichsam die literarische Quintessenz der auch von. v. Hindenburg maßgeblich inszenierten „Dolchstoßlegende“. 383 Zu den Einzelheiten s. Kruse (2009; insb. 2009, S. 29-31).

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Legende“, der Vertrag von Versailles, das Krisenjahr 1923 und andere. Seine völkerrechtlichen Positionen sind von diesen Entwicklungen stark beeinflusst. Er wird später, wir greifen kurz vor, im neugeschaffenen Völkerbund vor allem eine Institution zur Aufrechterhaltung des Status quo sehen. 1. Eine kurzer Aufriss des Kriegsverlaufs. Den erhofften militärischen Sieg durch schnelle und umfassende Angriffsaktionen erringen zu können, wie es der militärstrategisch brillante Schlieffen-Plan versprochen hatte, war spätestens im November 1914 gescheitert:384 Im Westen war der Bewegungs- in einen Stellungskrieg übergegangen. Damit stellte sich der militärischen Führung die Frage, ob im Westen oder Osten, an den stärkeren oder schwächeren Fronten anzugreifen sei.385 Aber auch das Anrennen der Ententetruppen gegen die mittlerweile gut ausgebauten Verteidigungsstellungen an der Westfront brachte nur riesige Verluste. So gewannen Überlegungen an Gewicht, die mit der Türkei zunächst einen wichtigen Verbündeten der Mittelmächte ausschalten wollten. Aber die vom Persischen Golf ausgehende Landoffensive britischer und französischer Einheiten blieb immer wieder stecken und der Versuch mit einem groß angelegten Flotten- und anschließendem Landemanöver die Dardanellen zu erobern, scheiterte auf der türkischen Halbinsel Gallipoli.386 An der Ostfront kam es zu keinem Stellungskrieg. Im Frühjahr und Sommer 1915 waren große Teile Polens und des Baltikums erobert worden. Der Plan v. Hindenburgs und v. Ludendorffs den fliehenden russischen Truppen nachzusetzen und eine militärische Entscheidung herbeizuführen, widersetzte sich die Oberste Heeresleitung unter General Falkenhayn. Diese sah die Entwicklung an der Westfront als entscheidend an.

384 Siehe Kruse (2009, S. 23). Die erste Schlacht an der Marne fand vom 5. bis 12. September 1914 entlang der Marne östlich von Paris statt. Die Schlacht markiert den ersten Wendepunkt des Ersten Weltkrieges und das Scheitern des Schlieffen-Plans. 385 Kruse (2009, S. 53; nachst. s. ebd.). 386 Von ca. 700.000 Soldaten auf beiden Seiten verloren 350.000 Soldaten das Leben.

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1916 setzten sich die verlustreichen, gleichwohl nicht kriegsentscheidenden Angriffsbemühungen fort. Als schreckliches Sinnbild steht dafür der Angriff auf Verdun,387 der am 21. Februar begann und am 19. Dezember 1916 ohne eine nennenswerte Frontverschiebung endete. Angriffe der Ententemächte im Westen blieben an der Somme stecken, russische Angriffe in Galizien konnten erst durch die Verlegung von deutschen Einheiten gestoppt werden.388 War damit der Krieg für das Deutsche Reich und seine Verbündeten – wie oft betont wird – bereits verloren? Für den Fall eines Stellungs- bzw. Abnutzungskrieges „schätzte die deutsche Militärführung ihre Siegeschancen ausgesprochen gering ein“.389 Trotzdem hielten die Mittelmächte eine militärstrategisch keineswegs aussichtslose Stellung, konnten doch die Eroberungen im Westen lange Zeit verteidigt und im Osten große militärische Erfolge erzielt werden. Und auch der später entscheidende Kriegseintritt der USA, der am 6. April 1917 erfolgte, musste vordem keineswegs als selbstverständlich einkalkuliert werden. Der Krieg sollte so erst im Jahr 1918 entschieden werden.390 2. Die Politik des Krieges. Mit dem Kriegseintritt Englands hielt das ganze Empire Einzug in die europäische Auseinandersetzung.391 Die Grundkonstellationen der Kriegsdiplomatie wurden umgehend nach Beginn des Krieges festgelegt. Im „Londoner Abkommen“ vom 5. September 1914 einigten sich England, Frankreich und Russland darauf, prinzipiell keine separaten Friedensverhandlungen zu führen. Die Mittelmächte und insbesondere das Deutsche Reich präferierten dagegen von Anfang an separate Friedensabkommen. Dies wird aus der Logik einer Auseinandersetzung verständlich, die einen Zweifrontenkrieg vermeiden will.392 Die Kriegsdiplomatie sah als weiteres Ziel vor, neue Verbündete zu gewinnen. Im Mai 1915 trat Italien auf Seiten der Entente in den Krieg ein, 387 Die französischen Truppen sollten sich bei der Verteidigung „weißbluten“, was bedeutete, sie sollten langsam aufgerieben werden (Kruse 2009, S. 53). 388 Zur Technisierung bzw. Industrialisierung des Kriegsführung, zu Handelskrieg und Seeblockade s. Kruse (2009, S. 54-57). 389 Kruse (2009, S. 23). 390 Siehe ebd. S. 24. 391 Zu Einzelheiten s. Kruse (2009, S. 25). 392 Siehe ebd. S. 25.

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dem man territoriale Gewinne in Südtirol, Istrien, Dalmatien und Triest auf Kosten Österreich-Ungarns zugestanden hatte. Bulgarien hingegen band sich im Oktober 1915 an die Mittelmächte, weil ihm Territorium zu Lasten Serbiens versprochen war. Nach den militärischen Siegen über Serbien 1915 und Rumänien 1916 verfügten die Mittelmächte über ein verbundenes Territorium von der Nord- und Ostseeküste bis zu Mittelmeer und Schwarzem Meer bis nach Arabien.393 Kriegsziele des Deutschen Reiches waren die Zerstörung Frankreichs als Großmacht, das zudem – wie auch Belgien und Holland – von Deutschland wirtschaftlich abhängig werden sollte. Die Herrschaft Russlands sollte gebrochen werden, kurzum, Deutschland strebte die hegemoniale Stellung auf dem europäischen Kontinent an. Über das „Wie“ stritten gemäßigte Kräfte mit radikalen Annexionisten. Das gemeinsame Kriegszielprogramm der Mittelmächte präzisierte als Hauptziele die Sicherung der militärischen Eroberungen und die Errichtung eines Kolonialreiches in Afrika. Das Kriegsziel im Osten war mit dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk bereits umgesetzt.394 Auf Seiten der Entente wurden ebenso ausgreifende Kriegsziele verfolgt. 3. Der Kriegseintritt der USA und Wilsons 14-Punkte Plan. Am 6. April 1917 erklärten die USA nach der Zustimmung von Repräsentantenhaus und Senat dem Deutschen Reich den Krieg. Die USA waren Partei geworden, um nach eigener Diktion die Freiheit und die Demokratie zu verteidigen. Als die britische Flotte im Frühjahr 1915 den Blockadering um Deutschland fast geschlossen hatte, kündigte die deutsche Seekriegsleitung im Februar 1915 an, künftig jedes Handelsschiff in britischen Gewässern mit U-Booten anzugreifen. Die britische wie die deutsche Position verstießen gegen internationales Seekriegsrecht. In der Öffentlichkeit wur393 Ebd. S. 26; nachst. ebd.. 394 Ebd. S. 27. Die einzelnen Kriegsziele sind bei Wolfgang Steglich formuliert (s. ebd.). In den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk wurde dem bolschewistischen Russland – begleitet von einem umfangreichen militärischen Vormarsch, einem Feldzug per Eisenbahn – im Ergebnis ein Siegfrieden mit riesigen Gebietsabtretungen in Mittel- und Osteuropa aufgezwungen. Mit dem Rücken zur Wand unterzeichnete die bolschewikische Delegation den Friedensvertrag (s. Münkler 2014, S. 666 ff.: s. Kraus 2014, S. 15).

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de die Tötung unschuldig ertrinkender ziviler Passagiere allerdings weit schärfer verurteilt als das Erleiden von Hunger. Betroffen wurden vom UBoot-Krieg auch die USA, die aus ökonomischen Gründen großes Interesse hatten, England zivile und militärische Güter zu verkaufen. Nachdem am 7. Mai 1915 ein deutsches U-Boot den Passagierdampfer „Lusitania“ – er hatte allerdings auch Waffen und Munition in großer Menge geladen – versenkt hatte, stellten die USA das Deutsche Reich vor die Alternative, den U-Boot-Krieg zu beenden, oder den Kriegseintritt der USA in Kauf zu nehmen. Nach intensiven Debatten, zog die Reichsleitung die U-Boote zurück. Als im Sommer 1916 dann endgültig klar war, dass ein Landkrieg nicht gewonnen werden könne, gewannen die Befürworter eines unbeschränkten U-Boot-Kriegs so schnell an Boden, dass Reichskanzler BethmannHollweg als Ausweg nur noch forcierte Friedensgespräche unter Vermittlung der USA für zielführend hielt. Diese kamen jedoch nicht zustande. Daraufhin nahm das Deutsche Reich den unbeschränkten U-Boot-Krieg wieder auf und versenkte allein im Kriegsjahr 1917 über 1000 alliierte Schiffe. Die Konsequenz war der Kriegseintritt der USA.395 Mit dem Frieden von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 war – nach dem inneren Zusammenbruch – Russland aus dem Krieg ausgeschieden.396 Nunmehr schienen wieder bessere Voraussetzungen gegeben, ein schnelleres Kriegsende durch einen Ausgleich zwischen der Entente und den Mittelmächten herbeizuführen. An diesem Punkte griffen die Friedensinitiativen des amerikanischen Präsidenten Wilson in die Kriegsdiplomatie ein. In seinen Umrissen für eine europäische Friedensordnung Anfang Januar 1918 – ein liberaldemokratischer Gegenentwurf zu den Vorstellungen der autokratischen Mittelmächte wie zu den Prinzipien der bolschewistischen (Welt-)Revolution Lenins – waren Abrüstung, Freihandel und Rückgabe aller besetzten Gebiete sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker die Grundpfeiler. Der aus dem Ausscheiden Russlands resultierende Machtzuwachs für das Deutsche Reich ließ kurzzeitig einen Frieden ohne Sieger und Besiegte als möglich erscheinen. Allerdings richtete sich das Angebot

395 Siehe Herbert (2014, S. 146-149). 396 Für Lenin machte es nach der siegreichen Oktoberrevolution Sinn, mit den Entente-Mächten zu brechen und einen sofortigen Friedensschluss anzustreben, um den Rücken frei zu bekommen für die Stabilisierung der jungen und ungesicherten Sowjetmacht (s. Kruse 2009, S. 31).

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an die Kräfte der deutschen Friedenresolution vom Juli, nicht aber an die militärische Führung des Deutschen Kaiserreiches.397 Das von Wilson propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker richtete sich zwar explizit gegen die Weltmachtposition Englands und die Kolonialmacht Frankreich, „war aber so vage formuliert, dass sich daraus nicht zwangsläufig ein politischer Konflikt zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten ergab“. 398

Wilsons Ansage an die Mittelmächte war weit deutlicher. Deutschland müsste die von ihm besetzten Gebiete in Belgien, Russland und Frankreich räumen und das 1871 annektierte Elsass-Lothringen zurückgeben. Die Grenzen Italiens müssten entsprechend der ethnischen Zugehörigkeit der Bewohner korrigiert werden, den Völkern des Habsburgischen und des Osmanischen Reiches müsse das Recht auf nationale Selbstbestimmung garantiert werden. Serbien, Montenegro, Rumänien sowie Polen seien als eigene Staaten wiederherzustellen, Polen sei zudem ein unbeschränkter Zugang zum Meer einzuräumen: „(…) je konkreter aber die Vorschläge des amerikanischen Präsidenten wurden, desto deutlicher zeigte sich, dass er als Vertreter einer Kriegspartei sprach und sowohl im wilhelminischen Deutschland als auch in der Donaumonarchie in erster Linie Störenfriede der internationalen Gemeinschaft sah. Für die USA bekam der Krieg durch Wilsons Erklärung den Charakter eines Kreuzzugs, mit dem eine neue Weltordnung durchgesetzt werden sollte, die gegen die Mittelmächte und deren politische Ordnung gerichtet war“.399

Ob Wilsons Vierzehn-Punkte-Programm nur ein Deckmantel für den Aufstieg der USA zur Weltmacht war, ist in der Literatur umstritten.400 Carl Schmitt sprach später in seinen völkerrechtlichen Aufsätzen und in Der Begriff des Politischen unmissverständlich aus, was er in Wilsons liberaldemokratischer Weltordnung mit dem neuen Völkerbunde sah: eine Institution zur Erhaltung des Status quo eines niedergedrückten und gedemütigten Deutschen Reiches.401

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Siehe Herbert (2014, S. 157 f.). Münkler (2014, S. 653; nachst. s. 653 ff.). Ebd. S. 654. Ablehnend Münkler (2014, S. 655, mit weiteren Nachweisen); zustimmend Kruse (2009, S. 30). 401 So ist für Günter Maschke Der Begriff des Politischen eine „Ideologie des Widerstandes (…) gegen die so friedlich und menschenfreundlich anmutenden Schlag-

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Außenpolitisch hatte der Vierzehn-Punkte-Plan zudem einen Propagandacoup der Bolschewiki zu parieren. Diese hatten nach ihrer Machtergreifung umgehend eine ganze Anzahl von Geheimdokumenten der Entente veröffentlicht, wie das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916, das die Aufteilung der arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches festlegte. Die Entente als der moralisch überlegene Verteidiger der Demokratie und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung war damit enttarnt und verfolgte offensichtlich die gleichen geopolitischen und wirtschaftlichen Ziele wie die „bösen Mittelmächte“. Lenin verkündete umgehend: „Wenn beide Seiten imperialistische Kriegsziele verfolgten, (…) dann müsse das europäische Proletariat diesen Krieg der Imperialismen in einen Krieg der Klassen verwandeln und seinen wahren Feind bekämpfen – die Bourgeoisie und deren Verbündete“.402

Auch Lenin hatte verbal ein Recht auf nationale Selbstbestimmung eingeräumt, sah darin allerdings nur ein Zwischenstadium auf dem Weg zur sozialistischen Revolution, auf dem das Nationale dann ohnehin an Bedeutung verlieren würde. Trotz unterschiedlicher Auffassungen von Trotzki und Lenin – Lenin setzte sich bekanntlich durch – waren die russischen und die deutschen Interessen kooperationsfähig. Auch wenn jede Partei sich am Ende obsiegen sah, brauchten sie sich: „Die Deutschen die Bolschewiki, um im Osten Ruhe zu bekommen und das Gros ihrer dortigen Truppen abziehen zu können, und die Bolschewiki die Deutschen, um die politischen Verhältnisse reif zu machen für die Ausdehnung der sozialistischen Revolution nach Westen“.403

4. Offensive, Gegenoffensive und der Zusammenbruch im Westen. Die territoriale Kriegsbeute im Osten überdehnte zwar die Front und band rund eine Million deutscher Soldaten, die im Westen fehlen würden.404

worte und Begriffe des Völkerbundes (…) eine Organisation zur Sicherung der Beute der Sieger von 1918, zur Wahrung des durch Versailles geschaffenen, ungerechten und konfliktiven status quo, (…)“ (Maschke 2012, S 186/187). 402 Münkler (2014, S. 656); s. auch Kruse (2009, S. 30 f.). 403 Münkler (2014 S. 659). 404 Trotz des Friedensvertrages setzten die Deutschen ihren Vorstoß fort. 30 Divisionen rückten von der Ukraine kommend bis zum Donezbecken, der Krim und Transkaukasien in Südrussland vor. Im August 1918 musste die russische Regierung einen Zusatzvertrag – gleichsam das russische Versaille – annehmen: Abtre-

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Gleichwohl forderte vor allem v. Ludendorff im Einvernehmen mit einem depressiv-schweigenden v. Hindenburg nach Brest-Litowsk nunmehr einen Siegfrieden im Westen, der jetzt wieder möglich schien.405 Nach dem Diktatfrieden im Osten war aber an einen Verhandlungsfrieden im Westen sowieso nicht mehr zu denken.406 Im Reichstag stimmte nur die USPD gegen den Vertrag von Brest-Litowsk, die SPD enthielt sich, alle anderen Parteien stimmten zu. Die deutsche Militärführung setzte deshalb alles auf eine Karte, bevor die Hauptmasse der amerikanischen Truppen auf dem Kriegsschauplatz eintreffen würde.407 Am 21 März 1918 starteten die sog. Frühjahrsinitiativen an wechselnden Frontabschnitten („Michaeloffensive“), die zwar große territoriale Gewinne brachten, aber keinen entscheidenden Erfolg – auch weil die Truppe erschöpft war, der Nachschub fehlte und die Verluste (bis Ende Mai ca. 300.000 Solodaten) nicht ausgeglichen werden konnte. Die letzte deutsche Offensive erfolgte am 15. Juli an der Marne.408 Nun begannen im Gegenzug die Entente-Mächte mit zunehmender Unterstützung amerikanischer Verbände ihre Gegenoffensive. Als erstes rückten am 18. Juli 1918 französische Verbände vor, am 8. August – v. Ludendorff bezeichnete ihn als den „schwarzen Tag des deutschen Heeres“ – folgten die Briten gemeinsam mit imperialen Truppen; ihnen gelang ein entscheidender Durchbruch bei Amiens. Die Front begann zusammenzubrechen, deutsche Soldaten ergaben sich massenhaft dem Feind.409 Die deutsche Armee war geschlagen – die deutsche Öffentlichkeit erfuhr davon nichts.410

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tung des Baltikums, Ausscheiden Georgiens aus dem russischen Staatenverband, Ablieferung aller Goldvorräte an Deutschland, fünf Milliarden Mark Reparationszahlungen und Ausbeutungsrecht für die Kohlevorkommen im Donezbecken: „So bot die Herrschaft im Osten auch eine Perspektive für einen möglichen deutschen Sieg in ganz Europa“ (vgl. Herbert 2014, S. 158). Hindenburg war bei der Entscheidung für die Operation wie bei deren Durchführung völlig abgetaucht und repräsentierte letztlich die OHL nur noch nach außen. Das Duo v. Hindenburg und v. Ludendorff hatte sich schon aufgelöst, ehe es im Herbst 1918 offiziell auseinanderbrach (Münkler 2014, S 686). So Herbert (2014, S. 159). Ebd. S. 161. Ebd. S. 161; s. Kruse (2013; 2009, S. 121 ff.); vgl. Münkler (2014, S. 674 ff.). Zu den Einzelheiten der militärischen Operationen s. Münkler (2014, S. 687-703). Zu den militärischen Operationen des Gegenangriffs s. (Münkler 2014, S. 703-726). Herbert (2014, S. 162). Die militärisch hoffnungslose Lage wurde auch von den Verbündeten erkannt. Mitte/Ende September 1918 boten Österreich-Ungarn, die

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Am 29. September 1918 wiederholte Generalquartiermeister Erich von v. Ludendorff in einer Versammlung der Obersten Heeresleitung (OHL) in Spa vor ranghohen Offizieren, was er kurz zuvor den wichtigsten Männern des Reiches – Kaiser Wilhelm II., Generalfeldmarschall Paul v Hindenburg, Staatssekretär des Auswertigen Amtes Paul von Hintze, Reichskanzler Georg v. Hertling – bereits eröffnet hatte: Der Krieg sei verloren, ein Waffenstillstandsabkommen müsse unverzüglich angeboten werden, das in Respektierung der Vierzehn-Punkte-Erklärung Wilsons von einer schnell zu bildenden parlamentarischen Regierung verabschiedet werden müsse.411 Es gehe nunmehr nur noch darum, mit einer Revolution von oben eine drohende Revolution von unten zu verhindern.412 Was v. Ludendorff und seine Entourage an Außenwirkung wollten, lag auf der Hand: Die Bürde der Niederlage wäre so parlamentarischer Natur, das Heer aber stünde unbesiegt im Felde. Die meisten Teilnehmer dieser Versammlung waren – nach vier Jahren Krieg und nahezu zwei Millionen deutschen Gefallenen – allerdings außer sich hören zu müssen, dass „das OHL und das deutsche Heer (…) [seien] am Ende: der Krieg sei nicht mehr zu gewinnen, vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl unvermeidlich bevor. Bulgarien sei abgefallen, Österreich und die Türkei, am Ende ihrer Kräfte, würden wohl bald folgen. Unsere eigene Armee sei leider schon schwer verseucht durch das Gift spartakistisch-sozialistischer Ideen. Auf die Truppen sei kein Verlass mehr“.413

Für seine Einschätzung, dass der Krieg verloren sei, führte v. Ludendorff vor allem zwei Gründe an: die aussichtslose militärische Lage an der Westfront und die Angst vor dem Bolschewismus, der in Deutschland unter Anwendung barbarischer Gewalt, wie sie – durch unterschiedliche Quellen belegt – im russischen Bürgerkrieg zu Tage getreten war, revolutionär obsiegen könnte.414 Nach der Parlamentarisierungsforderung der OHL und der Zustimmung des Kronrats, trat die Regierung v. Hertling zurück und in zäheren Verhandlungen konnte man sich als Kompromiss auf den Prinzen Max v. Baden als Reichskanzler einigen. Am 3. Oktober wurde er vom Kaiser er-

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Türkei und Bulgarien den Alliierten Friedenverhandlungen an (Grevelhörster 2002, S. 10). Kruse (2009, S. 121). Nipperdey (1998, Bd. II, S. 863). General Albrecht von Thaer, hier zit. nach Jones (2017, S. 19). Siehe die Nachweise in Jones (2014, S. 21, FN 11).

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nannt. Er führte die erste Regierung, der die deutsche Sozialdemokratie angehörte. Zwar ein dezidierter Vertreter von Reformen und Befürworter eines Verständigungsfriedens blieb er gleichwohl „der Mann der untergehenden Monarchie“.415 In der Nacht vom 3. zum 4. Oktober erging das Waffenstillstandsangebot an Wilson. Unter dem Druck der Entente-Mächte folgte nun ein langer und verzögernder Notenaustauch.416 5. Friedensschluss oder Kapitulation: Strategisch-taktische Scheinverhandlungen. In der von der Niederlage völlig überraschten und ungläubig-entsetzten Öffentlichkeit allerdings häuften sich – unterstützt von Prominenten wie dem Industriellen und Intellektuellen Walther Rathenau – bald die Stimmen, die ein Ende des Austausches diplomatischer Noten mit Wilson verlangten. Ihr Hauptargument, das bis in die Reihen der SPD hinein vertreten wurde, war, dass kein feindlicher Soldat auf deutschem Boden stand,417 dass im Gegenteil deutsches Militär weite Teile Europas kontrollierte. Auf dem Feld jedoch ging es für die ausgelaugten deutschen Truppen weiter rückwärts, die Nachschubprobleme blieben ungelöst. Trotzdem begann sogar v. Ludendorff seine bisherige Meinung zu überdenken. Mit der zweiten Wilson-Note vom 14. Oktober 1918 spitzten sich die Entscheidungsalternativen auf die Frage zu: Unterwerfung oder letzter nationaler Widerstandskampf. Denn die neue, verschärfte Note Wilsons forderte nichts weniger als die bedingungslose Kapitulation, die sofortige Preisgabe der besetzten Gebiete und die Verfassungsrevision. Zudem zeigte sich unverhohlen, dass die alliierte Führungsmacht USA nur mit einer wirklich demokratischen Regierung verhandeln würde, nicht mit den Militärs:

415 Nipperdey (1998, Bd. II., S. 864). 416 Zu Einzelheiten s. ebd. 417 Ein erst später erkannter Fehler der Alliierten sei es gewesen, so MacMillan, dass die große Mehrheit der Deutschen wegen der Waffenstillstandsbedingungen die Niederlage ihres Landes „nicht selbst unmittelbar erlebten. Außer im Rheinland bekamen sie keine Besatzungssoldaten zu Gesicht“. Vielmehr seien die zurückkehrenden Soldaten jubelnd begrüßt worden. Reichspräsident Friedrich Ebert begrüßte sie mit den Worten: „Kein Feind hat euch überwunden“ (MacMillan 2015, S. 220 f.).

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„Das war die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation und der Verfassungsrevision, dem Sturz des Monarchen als Bedingung eines Friedens. Der Hauptgrund für Wilsons Verhärtung war, daß England und Frankreichs solche Verzögerung wünschten, die deutsche Lage sollte sich so verschlechtern, daß statt Verhandlungen nur Kapitulation blieb“.418

Die Taktik der Scheinverhandlungen ging weiter. Mit einer dritten Note vom 23. Oktober forderte Wilson, dass ein Waffenstillstand nur geschlossen werden könne, wenn die deutsche Kampffähigkeit vernichtet und die Wiederaufnahme von Kampfhandlungen unmöglich sei. Nach dieser Kapitulationsforderung dachten v. Ludendorff und die Oberste Heeresleitung wieder in den Kategorien eines „Endkampfes“ und der „militärischen Ehre“. In einer Kundmachung an die Truppe betonten sie, der Kampf sei nunmehr mit allen Mitteln fortzusetzen. Von der Regierung wurde verlangt, die Verhandlungen abzubrechen. Die Regierung lehnte aber ab, weil sie hoffte, eine entschieden parlamentarische Regierung könne immer noch mit einem Verhandlungsfrieden rechnen: „(…) sie wollte sich gegen die OHL durchsetzen, den Vorrang der politischen Gewalt gegen das Hineinregieren der OHL, das jede Friedensaussicht zerstöre; sie forderte die Entlassung der OHL und drohte andernfalls mit Rücktritt“.419

Der Machtkampf endete am 26. Oktober mit der Entlassung von v. Ludendorffs durch den Kaiser.420 Unter dessen Nachfolger Groener stabilisierte sich die Stellung des OHL nochmals, aber die Alternative eines Endkampfs war vom Tisch. Am 27. Oktober erhielt die Regierung Vorschläge für den Waffenstillstand, am 5. November forderte Wilson die Regierung auf, eine Delegation zur Entgegennahme der Waffenstillstandsbedingungen zu entsenden. Im Inneren setzte sich die konstitutionelle Bewegung durch: Der Reichskanzler war fortan vom Vertrauen des Parlaments abhängig, und selbst das Preußische Wahlrecht sollte binnen Wochen geändert werden.

418 Nipperdey (1998, Bd. II, S. 865). MacMillan weist darauf hin, dass sich auch die Situation der Alliierten verschlechterte, deren Streitkräfte von 198 Divisionen im November 1918 auf 39 Divisionen im Juni 1919 geschrumpft waren. Tatsächlich hätten die alliierten Befehlshaber im Frühjahr 1919 gezweifelt, ob sie in einem erneuten Waffengang gegen Deutschland obsiegen könnten (s. MacMillan 2015, S. 221). 419 Ebd. S. 865. 420 „Damit war die einflussreichste Figur der heimlichen Militärdiktatur gestürzt“ (Herbert 2014, S. 167).

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6. „Im Felde unbesiegt“: Zur Genese der Dolchstoßlegende. An der „Heimatfront“ waren die inneren Konflikte des Reichs – schon im Verlauf des Kriegsjahres 1917 war es etwa wegen der Lebensmittelknappheit zu zahlreichen Streiks gekommen – im Januar 1918 bei Massenstreiks in Wien und Berlin offen aufgebrochen. Man fürchtete, ein Friedensschluss mit Russland werde an den immer weiter reichenden Annexionsforderungen der deutschen Militärs scheitern. Organisiert von der USDP und kleinen linken Zellen wurden die großen Rüstungsbetriebe bestreikt. Etwa eine halbe Million Arbeiter beteiligten sich an den Ausständen, die sich am Vorbild der Oktoberrevolution orientierten und die SPD und die Freien Gewerkschaften völlig überrascht hatten. Sie beteiligten sich eher notgedrungen am Arbeiterrat „Berlin“, um einen Einfluss auf die Bewegung nicht gänzlich zu verlieren. Denn die Forderungen waren eindeutig politischer Natur: Frieden ohne Annexionen, Mitwirkung der Arbeiterschaft bei Friedensverhandlungen, Aufhebung des Belagerungszustands, Verbesserung bei der Lebensmittelversorgung und Reform des Wahlrechts. Das waren klare Ansagen an Reichtagsmehrheit, Regierung und Militärführung. Auch deshalb wurden die Streiks schnell und brutal niedergeschlagen. Innenpolitisch war diese Entwicklung von großer Bedeutung, bot sie doch Entschuldigungsargumentation für einen verlorenen Krieg: „Nicht die Armee und die Führung hätten dann versagt. Vielmehr hätten die streikenden Arbeiter und darüber hinaus SPD, Gewerkschaften und Reichtagsmehrheit die Front im Stich gelassen. Bereits im Januar 1918 war diese Argumentation vorbereitet, die man später die ‚Dolchstoß-Legende‘ nennen sollte“.421

Auch kurz vor der Kapitulation hatte die Handlungsweise der Militärs keineswegs nur militärische Funktion. Ihr ging es seit den Forderungen vom 29. September auch darum, für die Verantwortung der unabwendbar bevorstehenden Niederlage zivile politisch Verantwortliche zu finden: Das war schon der militärischen Ehre geschuldet. V. Ludendorff hatte deshalb gefordert, die bisherige Opposition müsse eingebunden werden, vor allem SPD und Zentrum, die zwar seit August 1914 die Politik der Reichsleitung überwiegend unterstützt hatten, seit 1917 aber im sog. Interfraktionellen Ausschuss des Parlaments mit der liberalen Fortschrittspartei auf einen Verständigungsfrieden hingearbeitet hatten. Von einem Primat des Militä-

421 Herbert (2014, S. 159 f.; zu Einzelheiten der Niederschlagung s. ebd.).

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rischen vor der zivilen Politik aber hatten der General und die OHL im Angesicht der Niederlage nichts mehr wissen wollen. Unbedingt vermieden werden sollte, dass die OHL und die Politiker der Rechten mit Niederlage und Waffenstillstandsverhandlungen belastet würden.422 Die angebliche Verseuchung der Truppe durch linkssozialistische und bolschewistische Propaganda gehörte zur Mär der „Dolchstoß-Legende“, auch wenn die Realität ein gänzlich anderes Bild bot: „Die Soldaten waren tödlich erschöpft, kriegsmüde und kriegsunwillig. Von den 760.000 Mann Verlusten der letzten vier Kriegsmonate entfielen 350.000 auf Gefangene (und Vermißte) (…) Im Hinterland gab es Mengen von Deserteuren und – absichtlich – Versprengten. (…) Der harte Kern der kämpfenden Front hat bis November ohne Auflösungsprobleme durchgehalten. Einen ‚Dolchstoß‘ hat es nicht gegeben“.423

Parallel und unabhängig zu diesen Vorgängen wurde an der Verfassungsreform gearbeitet. Ohne die Parteien und ihre vorbereitende Tätigkeit im Interfraktionellen Ausschuss – eine Art Koalitionsausschuss – wäre diese nicht zu realisieren gewesen. Insoweit handelte es sich nicht nur um eine Revolution von oben. Am 26. Oktober wurden gegen die Stimmen von Konservativen und Unabhängigen zwei Gesetze verabschiedet, die den Übergang zur parlamentarischen Monarchie markierten. Wesentlich ist, dass die Regierung nunmehr an den Reichstag gebunden war: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages." Ein ganzes Bündel von Maßnahmen wurde zum Verhältnis von Militär und politischer Gewalt paraphiert. Wichtige und politisch bedeutsame Akte der militärischen Kommandogewalt und die Aufsicht über das Militär standen jetzt in der Verantwortlichkeit der politischen Führung. Für den Kriegszustand waren nunmehr Minister verantwortlich.424 Trotzdem war die Kommandogewalt noch nicht gänzlich parlamentarisiert, war die Monarchie noch mit der Militärmacht verbunden, blieb die Nominierung des Kanzlers in der Sphäre des Monarchen und die Stellung des Bundesrates

422 Ebd. S. 164 f.. Die Verhandlungen, so v. Ludendorff, sollten von den Parteien der Reichstagsmehrheit geführt werden, um „jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir soweit gekommen sind. Wir werden also diese Herren in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe essen, die sie uns eingebrockt haben“ (v. Ludendorff zit. n. Herbert 2014, S. 165). 423 Nipperdey (1998, Bd. II, S. 866). 424 Siehe ebd. S. 867.

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war noch unklar. Auch war die Frage offen, ob Kaiser und Militär die Parlamentarisierung auf Dauer und endgültig akzeptieren würden. All diese Fragen aber wurden von der Wirklichkeit eingeholt, weil sich die innenpolitische Lage zuspitzte: „Die Oktoberreformen hatten keine eigenständige Wirkung mehr, sondern gingen auf in der Radikalisierung der Novemberrevolution“.425

7. Novemberrevolution. Der Zusammenbruch des Kaiserreiches war während dieser Entwicklungen unaufhaltsam fortgeschritten. Einen letzten Anstoß zur Revolution gab die Meuterei von Marinesoldaten in Kiel, die sich weigerten, der Marineführung in eine letzte „ehrenvolle“ Schlacht zu folgen. Als die Anführer des Matrosenstreikes gefangengenommen wurden, solidarisierten sich weitere Matrosen und Soldaten, Arbeiter der Werften und Großbetriebe folgten. Am Abend des 4. November 1918 befand sich Kiel in den Händen der Aufständischen, die für den nächsten Tag einen Generalstreik ausriefen. Der Aufstand setzte sich in Hamburg, Bremen und Lübeck (6. November), Hannover (7. November), Braunschweig, Münster, Köln und Düsseldorf (8. November) und am 9. November in Berlin fort, ohne auf Widerstand durch Militär, Polizei oder Bevölkerung zu stoßen.426 Die Schnelligkeit und die Gewaltlosigkeit dieser Entwicklung zeigt, wie weit der Legitimationsverlust der staatlichen Institutionen bereits fortgeschritten war.427 Die reichspolitisch entscheidenden Weichenstellungen ereigneten sich am 9. November in Berlin. Einmal versuchte Reichskanzler Max von Baden Kaiser Wilhelm II. davon zu überzeugen, seinen Thron aufzugeben, weil nur so die seit Oktober geltende Staatsform der parlamentarischen Monarchie erhalten werden könne. Die MSPD hatte ihre weitere Mitarbeit von diesem Schritt abhängig gemacht. Auf der anderen Seite hatten linke Kräfte aus dem Spektrum der USPD, die über einen starken Rückhalt in der Berliner Arbeiterschaft verfügte, eine „Sozialistische Republik“ gefordert und erfolgreich zu Massenkundgebungen aufgefordert. Riesige Demonstrationszüge bewegten sich am Vormittag des 9. November durch die 425 Ebd., S. 868. 426 Grevelhörster (2002, S. 15 f.). 427 Herbert (2014, S. 169).

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Stadt, eine so eindrucksvolle Machtdemonstration, dass der Reichskanzler von sich aus die – noch nicht vorliegende – Abdankung des Kaisers bekannt machte und gleichzeitig – verfassungswidrig – sein Amt dem Parteivorsitzenden der MSPD, Friedrich Ebert, übertrug, der – sich der Fülle der vor ihm liegenden Aufgaben voll bewusst428 – einen politischen Umsturz für unnötig, ja gefährlich, hielt.429 Ein parlamentarisches System war seit Oktober installiert – eine parlamentarische Monarchie war für Ebert bis zum 9. November durchaus denkbar – und bei einem revolutionären Umsturz nach russischem Vorbild fürchtet er den unkalkulierbaren Verlauf. Die Stärke der Anhängerschaft der revolutionären Obleute und des „Spartakusbundes“ unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg war zudem schwer einzuschätzen.430 Ebert, der zunächst und primär Ordnung, Sicherheit und Versorgung gesichert sehen wollte, schwebte dazu eine Regierung auf Basis der bestehenden bürgerlich-sozialdemokratischen Oktoberregierung unter Einschluss von Politikern der USPD bis zu einer Nationalversammlung vor. Auf die Ausrufung der „Deutschen Republik“ durch Philipp Scheidemann vom Gebäude des Reichstags zu den demonstrierenden Massen reagierte Ebert deshalb äußerst ungehalten. Scheidemanns Absicht war es, die Massen zu beruhigen und Karl Liebknecht zuvorzukommen, dessen Ziel eine „Rätediktatur“ nach bolschewistischem Vorbild war. Revolutionäre Obleute und Spartakisten konnten einen Beschluss erreichen, wonach am 10. November in den Betrieben und Garnisonen Arbeiter- und Soldatenräte zu wählen waren, die am gleichen Tag im Zirkus Busch zu einer Vollversammlung zusammentreten und eine neue, vorläufige Regierung einsetzen sollten. Der Ebert-Plan einer bürgerlich-sozialdemokratischen Übergangsregierung war damit obsolet. Jetzt musste schnell eine Verständigung alleine mit der USPD gefunden werden. MSPD und USPD einigten sich auf eine sechsköpfige paritätisch besetzte Regierung mit Ebert als Vorsitzendem.431 428 Zu nennen sind: die Rückholung der Fronttruppen, die Verbesserung der Versorgungslage für die Bevölkerung, die Umstellung der Wirtschaft auf eine Friedensproduktion, die rasche Wiederherstellung des Transport- und Verkehrswesens, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Kriegsheimkehrer. Zudem galt es einen Waffenstillstandsvertrag vorzubereiten und den Übergang zu einer neuen politischen Ordnung sicherzustellen (Grevelhörster 2002, S. 19). 429 Siehe Herbert (2014, S. 178). 430 Siehe Grevelhörster (2002, S. 16 ff.). 431 Siehe ebd. S. 21 f..

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

Gleichwohl versammelten sich am 9./10. November 3000 Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte. Sie bestätigten einerseits die vorläufige MSPD/USPD-Regierung und wählten andererseits einen sogenannten „Vollzugsrat“, der nach Auffassung der Linksradikalen um Liebknecht die Regierung beaufsichtigen, letztlich aber als Gegenregierung mit eigenem Machtanspruch agieren sollte. Dieser Plan scheiterte am Widerstand der gemäßigten, der MSPD nahestehenden Soldatenvertreter, die analog der Regierung einen paritätisch mit Vertretern der MSPD und der USPD besetztes Gremium durchsetzten.432 Damit war nach der Ein-Tag-Revolution die Entscheidung für eine parlamentarische Demokratie in Deutschland gefallen.433 Deutschland war bereits zu industrialisiert und zu demokratisch434 gewesen, fasst Winkler die Argumentation Eduard Bernsteins zusammen. 8. Revolution und konstitutionelle Bewegung: Das Ringen um die künftige politische Ordnung. Die deutsche Revolution hatte sich in allen politischen Lagern vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Russland vollzogen. Antirevolutionäre Kräfte verschiedenster Richtung, unterstützt von Truppen der Westmächte, bekämpften das neue System. Die Wirtschaft versank bei dramatischen Rückgängen der Produktion und galoppierender Inflation im Chaos, Hungersnöte forderten zwei Millionen Opfer und die herrschenden Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte herrschten nur nominell. Denn die Bolschewiki entmachteten die Rätebewegung, verhinderten die Abhaltung von Wahlen und errichteten eine Ein-Parteien-Diktatur.435

432 Für eine Abgrenzung vom Bolschewismus sprachen innen- wie außenpolitische Überlegungen. Als der Führer der Spartakusgruppe Liebknecht versuchte die USPD-Reichstagsfraktion auf die Formel „Alle Macht den Räten“ festzulegen, „zuckte es dem anwesenden Eduard Bernstein‚ wie ein Blitz durch den Kopf: ‚Er bringt uns die Konterrevolution‘“. Ein kommunistischer Umsturz hätte aber, so Heinrich August Winkler, zu einem erneuten militärischen Eingreifen der Entente geführt (Winkler 2000 Bd. 1, S. 379). 433 Siehe Grevelhörster (2002, S. 22 f.). 434 Der Verwaltungsstaat war bereits so entwickelt, dass wichtige Positionen mit Arbeitervertretern besetzt waren und so ein großer Schritt in Richtung Sozialismus getan war, zitiert Winkler Eduard Bernstein (Winkler 2000 Bd. 1, S. 380). 435 Siehe Herbert (2014, S. 177; nachst. s. ebd. S. 178 ff.).

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Die extreme Linke zog daraus den Schluss, dass eine radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich sei, würde sie nur konsequent betrieben und die alten Gewalten völlig entmachtet. Allgemeine Wahlen galten ob der Möglichkeit bürgerlicher Mehrheiten als revolutionsgefährdend und waren folglich abzulehnen. Instrument zur Umwälzung industrialisierter Gesellschaften war die neu geschaffene Kommunistische Internationale. Die Wahrnehmung der Revolution bei Eberts MSPD war eine gänzlich andere. Die unkalkulierbare Eigendynamik revolutionärer Kräfte gefährdete in ihren Augen Wirtschaft und Versorgung der Bevölkerung, könnte in einen Bürgerkrieg umschlagen und zur Diktatur führen. Deshalb waren größte Anstrengungen nötig, um eine schnelle Demobilisierung des Heeres und die Umstellung auf eine Friedenswirtschaft zu erreichen, die Versorgungslage für Millionen von Kriegsversehrten und Hinterbliebenen sicherzustellen und Arbeitsplätze zu schaffen. Grundbedingungen dafür waren eine starke Wirtschaft, eine funktionierende Verwaltung und stabile politische Verhältnisse in der parlamentarischen Demokratie. Nur so könnten die schwierigen außenpolitischen Herausforderungen und ein akzeptabler Friedensvertrag bewältigt werden.436 Die Entscheidung über die Rätebewegung fiel – wieder vor der Entwicklung in Russland – auf dem Allgemeinen Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. – 18. Dezember 1918 in Berlin. Schon zu Beginn war klar, dass die MSPD über die Mehrheit der Delegierten verfügte.437 Zu einer Grundentscheidung wurde die Frage, weniger „Ob“ als „Wann“ die verfassunggebende Nationalversammlung stattfinden sollte, sobald als nötig wie es die MSPD wegen der fehlenden demokratischen Legitimierung der aktuellen Regierung für nötig erachtete, oder ob durch eine „Diktatur auf Zeit“ die sozialistischen Ziele – Verstaatlichung der Großindustrie, Demokratisierung von Heer und kaiserlicher Verwaltung durch personellen Austausch – bereits vor der verfassunggebenden Nationalversammlung umzusetzen waren, wie dies die Mehrheit der USPD wollte und deshalb für einen späteren Termin eintrat.438 Die MSPD begründete ihre Forderung durch den Abgeordneten Max Cohen-Reuß. Er argumentierte, dass die Bolschewiki das Rätesystem nur eingeführt hätten,

436 Siehe zu den daraus resultierenden Grundsatzentscheidungen Herbert (2014, S. 179-181). 437 Siehe Winkler (2000 Bd. 1, S. 385). 438 Vgl. Grevelhörster 2002, S. 23 f.); vgl. Winkler (2000 Bd. 1, S. 386).

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um freie Wahlen zu verhindern und die Ein-Parteien-Diktatur einzuführen, habe sich bestätigt. Die sozialistische Umgestaltung hätte dazu geführt, dass Russland friere und hungere. Für eine Industriegesellschaft seien radikalsozialistische Experimente noch gefährlicher und unkalkulierbarer. Sei die Industrie aber einmal vernichtet, stehe sie nie wieder auf. Der Rätekongress beschloss im Dezember 1918 mit 400 zu 50 Stimmen, nicht am reinen Rätemodell festzuhalten und die Nationalversammlung möglichst früh, am 19. November 1918, abzuhalten. Damit war ab sofort der Weg zu einer parlamentarischen Demokratie frei, weil es Ebert und der MSPD gelungen war, die Revolution zu kanalisieren und zum großen Teil in die konstitutionelle Bewegung zu reintegrieren 439 Kurzfristig nahmen die Spannungen, wie sich bei den sogenannten „Weihnachtsunruhen“ zeigte, wieder zu. Eine linke „Volksmarinedivision“ – zum Schutz der Revolutionsregierung aus Cuxhaven nach Berlin gekommen – belagerte in erpresserischer Absicht am 23. Dezember 1918 die Reichskanzlei.440 Da die MSPD diese linksradikale Bewegung als eine bolschewistische wahrnahm, schreckte sie vor einem Waffeneinsatz – wie mit Generalquartiermeister Gerhard Groener, der von Ebert Blankovollmacht erhalten hatte, vereinbart – nicht zurück. Am Morgen des 24. Dezember nahmen Reichstruppen die Quartiere der revolutionären Matrosen unter Beschuss – ein Vorgang von hoher symbolischer Bedeutung.441 Auf Druck des linken Flügels zog die USPD am 28. Dezember ihre Volksbeauftragten aus der Regierung zurück. Damit regierten Ebert und die MSPD alleine: „Neben der konstitutionell und parlamentarisch orientierten Sozialdemokratie stand nun die revolutionäre, auf die Errichtung der proletarischen Diktatur orientierte kommunistische Bewegung“.442

Am 31. Dezember 1918 gründete sich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), neben der linken USPD Auslöser des „Januaraufstandes“ 1919 in Berlin. Wieder konnte die MSPD dem Umsturzversuch nur begegnen, indem sie regierungstreue Truppen unter dem Oberbefehl des MSPD-Volksbeauftragten Gustav Noske einsetzte, die den Aufstand blutig niederschlugen. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden am

439 440 441 442

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Vgl. Herbert (2014, S. 181 f.). Grevelhörster (2002, S. 25). Herbert (2014, S. 183). Ebd. S. 183.

I. Die Kriegsjahre: Fehlurteile und enttäuschte Hoffnungen.

15. Januar 1919 von Freikorpsoffizieren schlicht ermordet – was nichts daran änderte, dass sie wider alle Vernunft (Liebknecht) und bessere Einsicht (Luxemburg) zum Sturz der Regierung aufgerufen hatten: „Der Berliner Januaraufstand war der Putschversuch einer radikalen Minderheit“.443 In Bremen dauerte es bis zum 4. Februar, ehe die Freikorpsgruppen die Hansestadt nach blutigen Straßenkämpfen zurückerobert hatten. Vergleichbare Aufstände mit militärischer Niederschlagung ereigneten sich auch im Ruhrgebiet, in Sachsen und in München. Ebert war so für viele Sozialisten zum „Arbeiterverräter“ geworden. Die Vorgänge in München sind für uns von besonderer Bedeutung, weil Carl Schmitt sie vor Ort erlebte. Diese revolutionären Wirrnisse hatten starken Einfluss auf seine Theorieentwicklung (s. hier Zweiter Teil). Am 19. Januar 1919 setzte sich mit Ebert und der MSPD die konstitutionelle Bewegung in den Wahlen zur Nationalversammlung endgültig durch. Die MSP erhielt 37,9 Prozent, die USPD 7,6 Prozent, das waren ca. 10 Prozent mehr als bei der Wahl 1912, trotzdem weit von einer Mehrheit entfernt, was das erklärte Ziel der bürgerlichen Parteien war.444 Die linksliberale DDP erreichte 18,5 Prozent (+ 6,2), das Zentrum 19,7 (+ 3,3) – aus Sicht der Konstitutionalisten ergab dies eine Dreiviertelmehrheit. Die Wähler gaben also den Parteien den Vorzug, so Grevelhörster, „welche sich im Wahlkampf rückhaltlos zum demokratischen politischen Neubeginn bekannt hatten“, den „Weg eines bruchlosen Übergangs zu Demokratie und Republik“.445 Seinen parlamentarischen Ausdruck fand dieser Weg in der sogenannten „Weimarer Koalition“ von MSPD, DDP und Zentrum unter dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann am 13. Februar 1919, ernannt von Friedrich Ebert, den die Nationalversammlung bereits am 11. Februar zum ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt hatte.

443 Winkler (2000 Bd. 1, S. 391). 444 Vgl. ebd. S. 393. 445 Grevelhörster (2002, S. 32; nachst. s. ebd.).

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

II. Politische Romantik (1919). „Wo die politische Aktivität beginnt, hört die politische Romantik auf.“ Carl Schmitt446

1. Die Politische Romantik Carl Schmitts und ihr Umfeld. Die in den letzten Kriegsjahren 1917/1918 begonnene Politische Romantik geht im August 1918 in den Druck und erscheint Anfang 1919 mitten in den revolutionären Anfangswirrnissen einer neuen politischen Staatsform. Sie ist Carl Schmitts erste längere Monographie, die seinen „Ruhm begründete, deren Bedeutung heute noch diskutiert wird. Die Schrift war für ihn – so sah er es selbst – der Abschluss seiner wissenschaftlichen ‚Jünglingsjahre‘“447.

Die Politische Romantik steigert nicht nur Schmitts Bekanntheit und Reputation in weiteren Kreisen der Wissenschaft, sie macht ihm erstmals auch einem breiteren Publikum bekannt. Das Buch wird mannigfach besprochen, unter den Rezensenten befinden sich bekannte Namen wie Friedrich Meinecke und Hugo Ball448, der sie als ein Pamphlet gegen die deutsche politische Romantik und als ein Unikum in der neudeutschen Literatur bezeichnet449. Schmitt polarisiert mit seinen radikalen Thesen, die er zudem stilistisch virtuos formuliert ausbreitet: „Schmitts Thesen bilden ab 1919 den unumstrittenen Horizont aller Auseinandersetzungen mit der ‚politischen Romantik‘ in der Weimarer Republik“.450

Die Romantik-Schrift ist, hier Paul Noack folgend, eher im Zusammenhang mit den Däubler-Interpretationen (1916) und der staatsphilosophischen Schrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914) gesehen worden, wogegen Schmitt mit Die Diktatur (1921) ein neues und politischeres Kapitel seiner Werkgeschichte beginnt.451 Aber die Romantik-Schrift ist keineswegs nur von literaturwissenschaftlich-un446 447 448 449 450 451

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(PR 224.) Noack (1993:, S. 48). Ball (1925, S. 266 ff.). Ebd. (S. 266). Roque (2007, S. 111). Vgl. Noack (1993, S. 48); s. a. Ball (1924).

II. Politische Romantik (1919).

politischem und gerade-noch-historischem Wert oder gar nur von psychologischem Interesse, wie zu zeigen ist. Schmitt lässt die Arbeit an der Diktatur und damit auch den aktuellen Verfassungsfragen zunächst ruhen und bringt mit der Politischen Romantik „seine ältere, fortdauernde Individualitätskritik zum geistesgeschichtlichen Abschluss“452. Schmitt habe, weist Mehring den Weg, Die Diktatur wohl als das Werk verstanden, „das er sofort geplant hatte“, weil er intuitiv sein zentrales Lebensthema erfasst und ab diesem Zeitpunkt gewusst habe, was seine Aufgabe als Staatsrechtler zukünftig sein würde, nämlich die „Gegenwart als Rechtsgeschehen“ aufzufassen, weil die Geschehnisse der Kriegsjahre wie auch die der revolutionären Nachkriegsphase mit den normalen Kategorien eines Verfassungsstaates nicht mehr gefasst werden konnten.453 Mit seiner Arbeit zur politischen Romantik behandelte Schmitt nicht etwa ein Randthema dieser Zeit. Unter dem Leitthema einer Krise der Moderne nahm die Debatte um die politische Romantik einen aktuellen wie bevorzugten Platz ein.454 Das romantische Paradigma zählte jedenfalls zu den grundlegenden Ideologemen der Weimarer Republik.455 Gegen 1920 setzte zudem eine Adam Müller-Renaissance ein: „Daß Müller ‚den Typus politischer Romantik in seltener Reinheit darstellt‘456, scheint eine allgemeine Überzeugung gewesen zu sein. Es darf somit postuliert werden, daß eine intensive Beschäftigung mit Adam Müller auch Ausdruck eines größeren Interesses an der ‚politischen Romantik‘ war.457

Die verschiedenen Diskurse um die „politische Romantik“ widersetzen sich dabei allen vereinfachenden Einteilungen und Ordnungskategorien – links-rechts, konservativ-fortschrittlich, modern-antimodern – der politisch-geistigen Ebene.458 „Politische Romantik“ ist deshalb „immer eine Konstruktion innerhalb eines bestimmten Denkens, weshalb Aussagen zu ihr immer in ihren historischen Wirkungszusammenhang eingeschrieben werden [müssen]“459.

452 453 454 455 456 457 458 459

Mehring (2009, S. 102). Ebd. S. 92. Vgl. ebd. S. 115. Roque (2007, S. 107). Ebd. S. 106. Ebd. S. 106. Ebd. S. 107 f.. Vgl. ebd. S. 108.

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

Dies gilt gerade für eine Werkanalyse des Zeitdiagnostikers Carl Schmitt, der wie Karl Mannheim („Das konservative Denken“, 1927) eine „gleichsam strukturierende Rolle“460 im Romantik-Diskurs gespielt hat. Allerdings gewann die eigentliche Welle des Diskurses über die „politische Romantik“ im Veröffentlichungsjahr von Schmitts Schrift im Jahr 1919 erst richtig Fahrt, weshalb Roque sie als „erstaunlich unzeitgemäß“ klassifiziert. Dies berücksichtigend sei es nur verwirrend, die heftigen Angriffe gegen die Person Adam Müllers überzubewerten. Zudem behandle Schmitt nicht „Die politische Romantik“, sondern allgemeiner die „Politische Romantik“. Der eigentliche Sinn der Schrift ist für Roque „(…) die Auseinandersetzung mit einer intellektuellen Tradition unter den deutschen Gebildeten, deren Einfluß Schmitt für besonders aktuell und schwerwiegend hält. [Sie ist (…)] „die Abrechnung mit einer Denktradition, mit einer Weltanschauung, die 1918 als noch aktuell betrachtet wird“461.

Dies bedenkend kann Roque zugestimmt werden, wenn er es als „sinnlos“ deklariert, eine einheitliche Definition der „Romantik“ für die Republik von Weimar zu formulieren, weil die „politische Romantik wie die ‚Romantik‘ selbst immer eine Konstruktion innerhalb eines bestimmten Denkens [ist]“ 462. Bohrer identifiziert dies als einen Angriff, welcher „der Romantik als Paradigma der gefährlichen Moderne [gilt]“463. Es wird geltend gemacht, dass die Titulierung und Behandlung als „Politische“ Romantik keine Begrenzung der Thematik zur Folge habe, sondern als eine inhaltliche Zuspitzung gesehen werden müsse, welche die Mängel der Romantik deutlicher hervortreten lassen soll. Nach der epochalen Zäsur des Jahres 1933 wird die Perspektive vor allem zu der Frage wechseln, inwiefern die politische Romantik als Ursprung und Wurzel der völkischen bzw. nationalsozialistischen Ideologie infrage kommt. „Die Romantik wird zur tragischen Etappe eines dunklen Sonderwegs in den deutschen Abgrund“.464 460 461 462 463 464

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Ebd. S. 110. Ebd. S. 115. Ebd. S. 109. Siehe auch Fritsche (1977, S. 72-74). Bohrer (1989, S. 288). Roque (2007, S. 141). Der lutherische Theologe Adolf von Harnack formuliert 1923: „Über unser Vaterland, ja über die europäische Kulturwelt, geht zur Zeit wieder einmal eine romantische Welle (…). Statt ‚Wissenschaft‘ will man ‚Leben‘, statt der ‚Ratio‘ die ‚Intuition‘, und ein Weltbild voll geheimnisvoller Kräfte und seelenstärkender Elemente soll den Geist für den angeblichen Zusammenbruch aller rationalen Erkenntnis entschädigen“ (zit. nach Roque 2007, S. 105).

II. Politische Romantik (1919).

Eine Position gegen die Politische Romantik Carl Schmitts zeichnen wir hier knapp mit Henning Ottmann.465 Wer den Romantischen Konservatismus verstehen wolle, müsse sich erst einmal von billiger Polemik befreien.466 Schmitt habe in seiner Politischen Romantik die Romantik als „subjektivierten Occasionalismus“ abgetan. Die Phantasie des Romantikers könne sich an beliebigen Gelegenheiten entzünden: Krieg oder Frieden, Revolution oder Restauration, einem König wie einem nihilistischen Verschwörer. Zudem wolle die Romantik die Gegensätze vereinen, ohne sich zu entscheiden. Für Schmitt sei „Politische Romantik“ ein ironischer Titel: „Aber er war es zu Unrecht. Schmitt ordnete die Romantik ein bei der bürgerlichen, der ‚diskutierenden‘ Klasse. Er maß sie an seinem extremen Dezisionismus und er übersah alles, was in der Romantik gegen die bürgerliche Gesellschaft gerichtet war“.467

Ottmanns Ausführungen zu Adam Müller behandeln wir in den entsprechenden Passagen dieses Textes.468 2. Carl Schmitts Romantikkritik als Selbstinquisition. Die Politische Romantik, „der Kulminationspunkt in Schmitts jugendlichintellektueller Entwicklung“469, und „zugleich die Zurückweisung der Welt, in der er bis dahin in München gelebt hatte“470, schrieb Schmitt nicht allein gegen eine Epoche und eine historisch-politische Bewegung, sondern in psychologischer Deutung auch gegen seine eigenen romantischen Neigungen,471 und darüber hinaus gegen „einen existenziellen Habitus, den er historisch-soziologisch am Bürgertum festmachte“472. In seiner Fronstellung gegen das „lange“ bürgerliche Zeitalter machten Kritiker in

465 Ottmann (2008, S. 20-28). 466 Ottmann (2008, S. 20; nachst. s ebd.). Kritik kam von den Linkshegelianern (Heinrich Heine, Arnold Ruge, Theodor Echtermeyer), die sich gegen den Romantischen Konservatismus stellten, weil er ihnen nicht fortschrittlich genug war (ebd.). 467 Ebd. S. 20. 468 Ebd. S. 22-28. 469 Kennedy (1988 b, S. 153). 470 Noack (1993, S. 48). 471 Vgl. Breuer (2012, S. 28). 472 Mehring (2006, S. 125).

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

der Romantik-Schrift schnell auch ein Stück Selbstinquisition aus.473 Belegt werde dies durch die Publikation von Schmitts Tagebüchern 1912 bis 1919 (TB I; TB II; Mehring 2014), mit denen auch weitere Materialien aus diesen Jahren zugänglich wurden. Noack hatte Schmitts Kampf wider den inneren Feind seiner selbst 1993 wie folgt beschrieben: „Er mußte sich frei machen von der eigenen Unentschiedenheit, von den intellektuellen Verführungen folgenloser Diskussionen als Vorwand für Politik. Und er tat das in der Art, die seinem Charakter entsprach: Er machte sich von seinen subjektiven Gefährdungen frei, indem er sie zu geschichtlichen Konstanten deklarierte. (…) Das Vehikel, das er damals benutzte, um den eigenen Subjektivismus zu bekämpfen, war sein Buch über die ‚Politische Romantik‘“.474

Die erhoffte Immunisierung gegen diese romantisch-bürgerlichen Anfälligkeiten habe aber, so Mehring, der die Politische Romantik „im autobiographischen Kontext als Selbstkritik“ rekonstruiert, nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt.475 Anknüpfend bei Helmut Quaritschs vier Grundprägungen, die dieser bei Schmitt ausmacht – Ästhetizismus, Katholizismus, Etatismus und Nationalismus476 − sieht er den Sprung in den Katholizismus als den Fluchtpunkt Schmitts. Anhand der Tagebücher sei nunmehr sogar eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung möglich, „die der literarischen Selbstkritik folgt. Sein Werk wurde Schmitt zur Form der Objektivation, Reflexion und Distanzierung seiner Leiden. Er hielt Gerichtstag über sich, exekutierte seinen frühen ‚Ästhetizismus‘ und entschied sich allmählich für Staat und Kirche, Etatismus und Katholizismus“.477

In den Schattenrissen und in Der Wert des Staates bereits aufflackernd, ist erst mit den beiden längeren Monographien – Politische Romantik aber auch Die Diktatur – „die Jugendkrisis entschieden“478. Schmitts Schrift sei so nicht nur als Kritik an einem romantischen Ästhetizismus und Subjektivismus zu lesen, sondern – wie vor allem auch die Buribunken – als „eine Art geistesgeschichtliche Abrechnung mit dem juristisch-politischen Denken der Neuzeit“479. Denn auch für die Romantik gelte:

473 474 475 476 477 478 479

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Ebd. Noack (1993, S. 47). Mehring (2006, S. 125). Quaritsch (1989; insb. III. Kapitel). Mehring (2006, S. 126). Ebd. Beneyto (1983, S. 65).

II. Politische Romantik (1919).

„Man muß jede geistige Bewegung metaphysisch und moralisch ernst nehmen, aber nicht als Exempel für einen abstrakten Satz, sondern als konkrete geschichtliche Wirklichkeit im Zusammenhang eines geschichtlichen Prozesses“ (PR 7).

Eine Abwendung von seinem eigenen Romantizismus und ein Verdikt gegen das Bildungsbürgertum, das in den Fängen der deutschen Klassik und damit auch der deutschen Romantik in Tatenlosigkeit verharrte, sieht auch Joseph W. Bendersky in Schmitts Romantikkritik: „Schmitt’s increasing political awareness was quite evident in the book he published early in 1919 entitled Politische Romantik (Political Romanticisms).Before World War I, romanticism had been one of the strongest apolitiocal currents in German intellectual life. Most German intellectuals had been profoundly influence by the romantic tradition, which from the beginning had fostered a subjektiv perception of reality wherein the fulfillment of the self was paramount“.480

Bendersky sieht dies in einem Zusammenhang mit einer Tendenz zum Unpolitischen innerhalb des deutschen Intellektualismus, „to stress inner moral and intellectual development rather than public life and polical affairs“.481

Derart lässt sich im Ergebnis eine zunehmende Politisierung Schmitts wider einen Geist des Unpolitischen feststellen. 3. „Romantik“ vs. „Gegenrevolution“: Schmitts Kritik der „Romantik“ als Kritik des „Liberalismus“.482 Die politische Romantik ist seit den 1920er Jahren durch zwei berühmte theoretische Abhandlungen präsent. Einmal ist dies die Habilitationsschrift Altkonservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens von Karl Mannheim aus dem Jahr 1925,483 und zweitens, die Politische Romantik Carl Schmitts (1919; 1925). In beiden Abhandlungen steht die Per-

480 Bendersky (2014, S. 25). 481 Ebd. S. 23. 482 Wir übernehmen hier die Kapitelüberschrift in dem Aufsatz von Christian E. Roque (2007, S. 210), die einem Merksatz zu Schmitts Romantik-Schrift nahekommt. 483 Sie wurde vollständig erst 1984 unter dem Titel Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens (Mannheim 1984) veröffentlicht.

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

son des Philosophen, Ökonomen, Diplomaten und Staatstheoretikers Adam Müller im Zentrum. Während es Mannheim darum ging, den „Altkonservatismus“ als Denkrichtung zu untersuchen, geht es Schmitt darum, die politische Romantik von den Theoretikern der Gegenrevolution – de Maistre, de Bonald und Donoso Cortés – abzugrenzen, und herauszuarbeiten, dass nur die gegenrevolutionäre Form konservativen Denkens ein wirkliches Ordnungskonzept zu begründen vermag,484 das zu klaren politischen Entscheidungen fähig ist. Müller wird bei Schmitt zum Idealtypus eines haltlosen und opportunistischen bürgerlichen Intellektuellen, dem „alle religiösen, moralischen, politischen oder wissenschaftlichen Angelegenheiten nur zufälliger Anlaß für seine ästhetische Produktivität [ist]. Romantik ist ‚subjektivierter Occasionalismus‘, ein ästhetisches Spiel ohne Substanz, ein Ordnungszusammenhang ohne klare Entscheidung“.485

3.1. Die Politische Romantik als konservativer Grundtypus. Die politische Romantik ist ein Grundtypus des Konservatismus,486 der Romantische Konservatismus mithin und zuallererst, „eine auf Realität bezogene, aus konkreten Interessen sich herleitende Konstruktion des Politischen“.487 Gesellschaftspolitisch und historisch betrachtet hat der Konservatismus klaren wie festen Grund und Funktion. Die Basis, auf der er wachsen konnte, war die Französische Revolution,488 die das bürgerliche Zeitalter einläutete, indem sie den bis dahin bestimmenden Gruppen von adeligen und klerikalen Großgrundbesitzern und patrizischem Handelsbürgertum ihre Stellung und ihre Existenz streitig machten. Die geistig-ideologische Gegenwehr gegen diese revolutionären Prozesse war der Konser-

484 Mannheim hat sich mehr für den Denkstil des Altkonservatismus interessiert, weniger für die politische Ausprägung (näher dazu s. Göhler/Klein (1993, S. 321 f.). 485 Göhler/Klein (1993, S. 321). 486 Wir unterscheiden mit Ottmann (2008, S. 3): 1) Liberaler Konservatismus (Burke, v. Genz, Brandes, Rehberg, Hegel), Romantischer Konservatismus (v. Baader, Novalis, v. Schlegel, Müller, Carlyle, Disraeli, Coleridge, de Chateaubriand), Gegenrevolutionärer Konservatismus (de Bonald, de Maistre, Donoso Cortés, v. Haller) und Sozialkonservatismus (v. Stein, Wagner, Wagener, Huber, RodbertusJagetzow). 487 Fritsche (1995, S. 186). 488 Siehe Ottmann (2008, S. 1).

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II. Politische Romantik (1919).

vatismus,489 der insoweit als Ideologie erscheint, als er eine Theorie gesellschaftlicher Ordnung zum Zwecke der Durchsetzung eigener Interessen war.490 Von konservativer Seite gesehen, war die Französische Revolution die praktische Konsequenz des rationalistischen, aufklärerischen Individualismus, mit dem die autonome menschliche Vernunft sich zum Maßstab aller gesellschaftlichen Ordnung erhob, die göttliche Ordnung säkularisierte und sich anmaßte, Verfassungen nach dem Vernunftpostulat zu konstruieren.491 Derart kann der Konservatismus als der Versuch zur Rehabilitierung der monarchischen Herrschaft begriffen werden, die unter der Infragestellung des Adels und dem Druck liberaler Kräfte ins Wanken geraten war.492 Reflections on the Revolution in France (1790), die Schrift des Stammvaters des klassischen Konservatismus, Edmund Burke,493 war eine unmittelbare Antwort auf die Französische Revolution und „breitete einen ganzen Fächer von Vorstellungsmustern und Argumentationen aus, mit denen sie zur klassischen Bekenntnisschrift des Konservatismus bis heute wurde“.494

Burke vertrat das Prinzip der historischen Kontinuität.495 Die herrschenden Eigentumsverhältnisse und die bestehenden Institutionen, Konventionen und Traditionen sichern für ihn Ordnung und Bestand der Gesellschaft. Dagegen habe die Französische Revolution unter dem revolutionären Vorwand der Freiheit „den Staat als die auf Ewigkeit berechnete Gemeinschaft aller Tugenden und aller toten, lebenden und künftigen Generationen in ein regelloses Chaos [gestürzt]“.496

Insbesondere beschwört Burke an mehreren Stellen seines Buches die Gefahr einer instrumentalisierbaren, besitzlosen und unberechenbaren Masse:

489 Auf die Konkurrenz des Konservatismusbegriffs zu Tradition, Reaktion und Restauration muss hier nicht eingegangen werden (S: Ottmann 2008, S. 1). 490 Göhler/Klein (1993, S. 318). 491 Ebd. S. 317. 492 Lenk (1989, S. 71). 493 Ebd. S. 271. Ausführlich zu Burke s. Ottmann (2008, S. 4-15; insb. S. 8-12). 494 Fritsche (1995, S. 186). 495 Göhler/Klein (1993, S. 317). 496 Fritsche (1995, S. 186).

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„Thron, Kirche, Adel, Volk heißt die Rangordnung, gegen deren Wahrheitsanspruch und geschichtliche Gültigkeit die aufklärerischen Hoffnungen und Apelle, die Forderungen nach Egalität und Menschenrechten ‚nur betrügerische Träume und Schattenbilder sind‘“.497

Allerdings hatte in England ebenfalls eine fundamentale Umwälzung stattgefunden, die Kontinuität, Traditionen und Institutionen – einschließlich der Köpfung des Monarchen – erschüttert hatte, wenn auch einhundert Jahre früher als in Deutschland. Burke rettete sich aus seiner Begründungsmalaise, indem er ausführte, in England sei nur der kranke Teil der Staatswirklichkeit beseitigt, deren Kern, die Erbmonarchie, aber erhalten worden – eine gewagte Interpretation der Geschichte. 498 Es wäre aber eine restringierte Interpretation, sähe man in Burke ausschließlich einen literarischen Gegenrevolutionär. Denn ein Staat, so warnt er, müsse auch die Mittel der Veränderung einsetzen;499 fehlten diese, fehlten auch die Mittel zu seiner Erhaltung. Auch müssten die freien Bürger ein Stück Gewalt in Händen halten, sollte ihre Freiheit gesichert sein. Über allem aber habe das Recht als Schutz gegen Willkür zu stehen. Insoweit ist Fritsches Charakterisierung Burkes als „weitsichtiger Realpolitiker und konzeptiver Ideologe der Eigentümergesellschaft“ zuzustimmen, an dessen Positionen viele konservative Konzepte anknüpfen konnten.500 Burkes Buch war Auftakt einer Reihe ähnlicher Schriften, insbesondere in Deutschland, das durch die Nachwirkungen des verheerenden Dreißigjährigen Krieges, wegen seiner Zerstückelung in Kleinstaaten und dem Fehlen ergiebiger Kolonien der sozioökonomischen Entwicklung in England und Frankreich weit hinterherhinkte: „Aus diesen Gründen nahm auch der deutsche Konservatismus besonders spekulative, wirklichkeitsfremde Züge an. Eine seiner einflußreichsten Ausprägungen wird seit Carl Schmitt (1919) allgemein als Politische Romantik bezeichnet. Ihr exemplarischster Vertrete ist Adam Müller (1779-1829), insbesondere mit seinem 1809 erschienenen Hauptwerk ‚Die Elemente der Staatskunst‘. Dieses ist inhaltlich weitgehend abhängig von Burke“.501

497 498 499 500 501

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Ebd. S. 187 (inneres Zitat Burke). Siehe ebd. Siehe Ottmann (2008, S. 4). Siehe ebd. Fritsche (1993, S. 188).

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3.2. Politische Romantik: Das Vorwort zur zweiten Auflage von 1925.502 Carl Schmitt nutzt das Vorwort zur zweiten Auflage der Politischen Romantik von 1925, um zentrale Thesen der Erstauflage und deren Herleitung wie Begründung zu erneuern, zu klären oder zu verschärfen.503 Abseits aller als romantisch bezeichneten Personen, Objekte und Situationen fordert Schmitt ein, „daß die Definition des Romantischen nicht von irgendeinem als romantisch empfundenen Gegenstand oder Thema ausgehen darf, vom Mittelalter oder der Ruine, sondern vom romantischen Subjekt. (…) Auf das eigentümliche Verhalten des Romantikers ist zu achten und von der spezifisch romantischen Beziehung zur Welt auszugehen, nicht von dem Ergebnis dieses Verhaltens und von all den Dingen und Zuständen, die sich in bunter Menge als Folge oder Symptom einstellen“ (PR 5).

„Romantisch“ ist aus der Sicht Schmitts eben nicht eine idyllisch gelegene und waldumsäumte mittelalterliche Ruine, sie kann nur das Objekt eines romantischen Denkens sein.504 Das Entscheidende ist demnach das romantische Subjekt, das sich durch bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata in Bezug auf die Welt und auf sich selbst auszeichnet, durch seinen romantischen „Habitus“, um einen Begriff Pierre Bourdieus aufzugreifen. Das Ergebnis dieses romantischen Verhaltens ist zunächst nicht von Interesse (vgl. PR 5). Die vielfältigen Bemühungen, die „Romantik“ mit der Beifügung eines Prädikats, oder durch die Beifügung von als „romantisch“ geltenden Gegenständen näher zu definieren und zu charakterisieren, verfehlten hingegen ihre Absicht, weil sie zeigten, „daß die Definition des Romantischen nicht von irgendeinem als romantisch empfundenen Gegenstand oder Thema ausgehen darf, vom Mittelalter oder der Ruine (…)“ (PR 5).

Schmitt geht hier insbesondere auf die Beifügung nationaler Prädikate wie „deutsch“, „germanisch“ oder „romanisch“ ein, die schon deshalb fehlliefen, weil die Romantik im 19. Jahrhundert eine große durch die europäischen Nationen hindurchgehende Strömung gewesen sei (s. PR 6). Da über die Romantik noch keine klare Erkenntnis vorliege, seien solche Beifügungen zudem willkürlich und verfehlten die „geschichtliche Besonder-

502 Das Vorwort selbst ist datiert mit „September 1924“. 503 Siehe Mehring (2015, S. 72). 504 Siehe die Aufzählung (PR 3/4).

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heit der Bewegung“, was „zu einer ungerechten Ablehnung sympathischer und wertvoller Erscheinungen und Leistungen“ führe (PR 7): „Man muß jede geistige Bewegung metaphysisch und moralisch ernst nehmen, aber nicht als Exempel für einen abstrakten Satz, sondern als konkrete geschichtliche Wirklichkeit im Zusammenhang eines geschichtlichen Prozesses“ (ebd.).

Für eine solche geschichtliche Betrachtung, die eine geistige Bewegung in ihrem Zentrum erkennen will, wäre es ein durchaus richtiges Verfahren, am Gegensatz der romantischen Bewegung zu Aufklärung und Klassizismus anzusetzen. Was aber umgehend zu großer Verwirrung führen würde, behandelte man dieses Wesensmerkmal als erschöpfend und bezöge zahlreiche Bewegungen – religiöse, mystische und irrationale Tendenzen aller Art, Plotins Mystik, die Franziskanische Bewegung, den deutschen Pietismus, Sturm und Drang – auf die Romantik. Zudem verbiete sich eine antithetische Betrachtung wie, alles ist Romantik, was nicht Klassik ist, oder alles ist Romantik, was nicht Rationalismus oder Aufklärung ist (s. PR 8 f.). Es führt für Schmitt kein Weg daran vorbei, dass über das Zentrum einer geistigen Bewegung Klarheit gewonnen werden muss, „sei es auch nur Klarheit darüber [zu gewinnen], warum eine Bewegung objektiv unklar erscheint und aus der Unklarheit ein Prinzip zu machen sucht“ (PR 10).

Wenn die Romantik den Anspruch erhebe, für Menschenworte „unfaßbar und mehr zu sein“, so gehöre dies nun mal zur Romantik und brauche einen folglich nicht zu beirren: „Denn meistens ist die logische Taktik ihres Anspruchs allzu armselig. Es ist nämlich nur darauf zu achten, wie der Romantiker alles durch sich zu definieren sucht und jede Definition seiner selbst durch anderes vermeidet. Es ist romantisch, sich mit allem zu identifizieren, doch niemandem zu erlauben, sich mit dem Romantischen zu identifizieren“ (ebd.).

Romantisch sei es zu sagen, „der Occasionalismus ist Romantik“, nur nicht umgekehrt, „wie das hier vorgeschlagen wird, Romantik ist eine Form des Occasionalismus; denn damit wäre die Romantik selbst in ihrer zentralen Undefinierbarkeit berührt“ (PR 11).

Die Romantik wird derart – „grammatisch-logisch gesprochen“ – nur noch zum Prädikat, niemals zum Subjekt, und mit diesem einfachen Handgriff zaubere sie „ihr geistesgeschichtliches Labyrinth ins Dasein“ (ebd.). 168

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Verschwenderisch gleichsam gehe die Romantik oft mit einem „erstaunlichen Reichtum differenzierten Geschmacks und subtiler Analyse“ um, nur bleibe das alles im Bereich eines „bloß ästhetischen Feingefühls und dringt niemals zu einem Begriffe vor“ (ebd.). Aber erst wenn sie geschichtlich einer der großen historischen Konstruktionen der letzten Jahrhunderte eingefügt werde, gewinne sie eine bedeutendere Tiefe, wie das die gegenrevolutionären Schriftsteller versucht hätten. Die Romantik war für sie die Konsequenz einer Auflösung, „die mit der Reformation beginnt, im 18. Jahrhundert zur französischen Revolution führt und sich im 19. Jahrhundert in Romantik und Anarchie vollendet. So entsteht das ‚Monstrum mit den drei Köpfen‘: Reformation, Revolution, Romantik“ (ebd.).

Die Verbindung von Reformation und Revolution zieht sich durch das ganze gegenrevolutionäre Denken Europas und die Romantik tritt in den deutschsprachigen Ländern schon während der Restaurationszeit ab Metternichs Wiener Kongress (1815-1830) in diese Reihe. Überhaupt sei man sich damals in der intellektuellen Szenerie der engen Verbindung von politisch-sozialen und literarisch-künstlerischen Bewegungen bewusst gewesen. Auch Donoso Cortes benannte die Literatur als einen Reflex der ganzen Gesellschaft und ist davon ausgegangen, die Kunst sei immer „das notwendige Resultat des sozialen, politischen und religiösen Zustandes der Völker“ (PR 12; nachst. s. ebd.). Die Romantik galt ihm als eine revolutionäre Bewegung gegen die Traditionen wie die sozialen Zustände, „wie es sich damals in Frankreich, Italien und Spanien von selbst verstand“. Deshalb war die Romantik für die Gegner der Revolution „Anarchie“, ihre Bewunderer priesen ihre Kraft und Energie. Ergebnis war die Reihe: Reformation, Revolution und Romantik. „Die Auffassung ist im Kern politisch“ (PR 12), auch wenn sie die charakteristischen Widersprüche der Romantik auf politischem Terrain nicht erklärt, sondern summarisch als „Rebellion und Anarchie“ behandelt (PR 13). Damit wirft Schmitt die Frage auf, wie es komme, dass man in Deutschland, England und anderen Ländern den Eindruck gewinnen könne, die Romantik wäre ein natürlicher Bundesgenosse konservativer Ideen? „Politische Romantik verbinde sich in Deutschland mit der Restauration, mit Feudalität und ständischen Ideen gegen die Revolution“, erscheine als „Flucht in die Vergangenheit“ und Rückkehr zur Tradition (ebd.). Konsequenz sei eine andere Verallgemeinerung: Wer die Gegenwart nicht für besser, freiheitlicher und fortschrittlicher halte als die Vergangenheit, wird zum rückwärtsgewandten Romantiker. 169

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Die Romantik erscheint so in Schmitts Deutung als eine vielköpfige Bewegung505, die in konträrste Richtungen weisen und verdammt oder verherrlicht werden kann. Schmitt folgert daraus, dass eine „nur politisch interessierte Betrachtung (…) die politische Romantik niemals richtig erfassen“ [wird], sei sie doch „nicht einfach eine politisch-revolutionäre Bewegung; sie ist ebensowenig konservativ oder reaktionär“ (PR 14). Darob gerate auch die politische Auffassung der Gegenrevolutionäre ins Polemische, müsse sie doch letztlich einen Teil der romantischen Bewegung ignorieren. Sie leide an dem Mangel, dass sie nicht von der sozialen Eigenart der Menschen, den Trägern der Bewegung spreche. Darauf komme es für eine geschichtliche Betrachtung aber wesentlich an. Schmitt macht spöttelnd das neue Bürgertum als Träger der romantischen Bewegung aus (PR 16), auch wenn der liberale Bürger niemals lange Revolutionär geblieben sei (PR 17/18): „Seine Epoche beginnt im 18. Jahrhundert; es hat 1789 mit revolutionärer Gewalt über Monarchie, Adel und Kirche triumphiert; es stand im Juni 1848 bereits wieder auf der anderen Seite der Barrikade, als es sich gegen das revolutionäre Proletariat verteidigte“ (PR 16).

Eine klare geschichtliche Antwort auf das romantische Problem hat für Schmitt Hippolyte Taine gegeben, für den die Romantik eine bürgerliche Bewegung dargestellt habe, die sich im 18. Jahrhundert gegen die herrschende aristokratische Bildung durchgesetzt hat:506 „Mit der Demokratie, mit dem neuen Geschmack des neuen bürgerlichen Publikums entsteht die neue romantische Kunst. Sie empfindet die überlieferten aristokratischen Formen und die klassische Rhetorik als künstliches Schema und geht in ihrem Bedürfnis nach dem Wahren und Schönen oft bis zur völligen Vernichtung jeder Form“ (PR 17).

Allerdings bleibe Taine in seinen Aussagen widerspruchsvoll, weil ihm die Romantik bald Kraft und Energie, bald die Krankheit des Jahrhunderts ge-

505 Schmitt führt eine ganze Reihe von politisch-romantischen Möglichkeiten auf: „„Restaurations- und Revolutionsromantik, romantische Konservative, romantische Ultramontane, romantische Sozialisten, Völkische und Kommunisten usf. (…)“ (PR 13). 506 Schmitt nennt als Quelle Kathrin Murray: Taine und die englische Romantik. 1924. Beide hatten eine Liebesbeziehung schwankender Intensität. Schmitt wollte Kennedy zeitweise sogar heiraten (ausführlich zu dieser Beziehung siehe Mehring (2009, S. 131 ff. u.a.). Schmitt soll an dieser Dissertation nicht nur korrigierend und ratgebend mitgewirkt haben.

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wesen sei. Widerlegt sei Taine trotzdem nicht, weil er von der liberalen bürgerlichen Demokratie und damit von einer selbst höchst widerspruchsvollen Sache spreche. Er verstehe darunter „die politische Herrschaft des liberalen Mittelstandes, der „classes moyennes“, bürgerlicher Bildung und bürgerlichen Besitzes“ (PR 17).

Mit großer Schnelligkeit habe sich dann im 19. Jahrhundert die Auflösung der alten Gesellschaft des liberalen Bildungsbürgertums zur heutigen Massendemokratie moderner, industrialisierter Großstaaten vollzogen (vgl. ebd.). Dieser Entwicklung sei der liberale Bürger in Zeiten der Krise in starker Unsicherheit – schwankend zwischen überlieferter Monarchie und sozialistischem Proletariat – gegenübergestanden. Diese Pendelausschläge hätten auch das Urteil Taines verwirrt: hier intelligenter und kraftvoller Bildungsbürger, da der Typus eines platten wie ordinären und entmoralisierten Geldverdieners, der den Begriff des „Bourgeois“ zum Schimpfwort habe werden lassen (s. PR 18). Diese widerspruchsvolle Gemengelage machte es Taine oft schwierig, seine Definition der Romantik als der Kunst des revolutionären Bürgertums durchzuhalten, weil die Frage naheliege, „was denn der revolutionäre Bürger mit der Kunst (…) zu tun habe“ (ebd.). Die Romantik jedenfalls habe den Anspruch erhoben, „wahre, echte, natürliche universale Kunst zu sein. Niemand wird den eigenartigen ästhetischen Reiz ihrer Produktivität leugnen (PR 19).

Sie bleibe aber Ausdruck einer Zeit, die wie auf anderen geistigen Gebieten, „auch in der Kunst keinen großen Stil aufbringt und, im prägnanten Sinne, keiner Repräsentation mehr fähig ist“ (PR 20).

Vor allem aber, so Schmitt, werde Einigkeit im Urteil über die Aussage bestehen: „die romantische Kunst ist nicht repräsentativ“ (ebd.) – was allerdings auffallen müsse, weil die Romantik ihre geistige Produktivität ins Ästhetische verlegt und von diesem Ästhetischen aus alle anderen Gebiete kolonialisiert habe. Nunmehr aller Fesseln ledig, habe dies zu einem riesigen künstlerischen Selbstbewusstsein geführt. Die Verabsolutierung der Kunst werde nunmehr proklamiert, und eine Universalkunst werde gefordert und alles Geistige, Religion, Kirche, Nation und Staat, fließe in den Strom, „der von dem neuen Zentrum, dem Ästhetischen, ausgeht“ (ebd.). Aber umgehend vollzieht sich für Schmitt eine überaus romantisch-typische Verwandlung:

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Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

„Die Kunst wird verabsolutiert, aber gleichzeitig problematisiert. Sie wird absolut genommen, aber durchaus ohne die Verpflichtung zu einer großen und strengen Form oder Sichtbarkeit. Das alles wird vielmehr gerade aus Kunst abgelehnt (…)“ (ebd.).

Diese Leerstelle ermögliche es romantischer Kunst, sich in „tumultuarischer Buntheit“ aller Formen zu bemächtigen und diese trotzdem als belangloses Schema zu behandeln, aber, bei täglich wechselnder Kunstkritik und Kunstdiskussion, nach dem Wahren und Echten zu schreien: „Die auf den ersten Blick so ungeheure Steigerung bleibt in der Sphäre unverantwortlichen Privatgefühls, und ihre schönsten Leistungen liegen in der Intensität des Gemüts“ (PR 20/21).

So fragt Schmitt, was die Kunst seit der Romantik sozial denn bedeute, und kommt zu dem Verdikt, entweder ende sie in der Polarität von Snobismus und Bohème, oder sie werde zu einer Angelegenheit privater Kunstproduzenten für private Kunstkonsumenten. Die allgemeine Ästhetisierung diene aus soziologischer Sicht nur dazu, auch die anderen Gebiete geistigen Lebens zu privatisieren. Löse sich aber die Hierarchie der geistigen Sphäre auf, könne alles zum Zentrum des geistigen Lebens werden. Darin liegt für Schmitt die erste und einfachste Erklärung der scheinbaren Widerspruchsfülle des Romantischen: „Aber alles Geistige, auch die Kunst selbst, wird in ihrem Wesen verändert und sogar gefälscht, wenn das Ästhetische verabsolutiert und zum Mittelpunkt erhoben wird. (…) Weder religiöse, noch moralische, noch politische Entscheidungen, noch wissenschaftliche Begriffe sind im Bereich des NurÄsthetischen möglich“ (PR 21).

Derart aber könne jeder Gegensatz – gut vs. böse, Freund vs. Feind, Christ vs. Antichrist – zu ästhetischen Kontrasten und zu Mitteln der Intrigen in einem Roman werden und sich ästhetisch in ein Kunstwerk einfügen. Dann seien sie aber nur noch auf der tiefsinnigen und geheimnisvollen Ebene, dem der romantische Gegenstand selbst angehört (ebd.) – in unserem Beispiel dem Roman. Womit für Schmitt die verwirrende Buntheit der romantischen Szenerie in ihrem einfachen Prinzip erkannt ist (s. PR 22). Verbleibt die wichtigere Frage, welche geistige Struktur dieser Ausweitung des Ästhetischen zugrunde liege und warum die Bewegung gerade im 19. Jahrhundert so erfolgreich auftrete. Bester Prüfstein jeder echten Erklärung sei auch hier die „metaphysische Formel“ (ebd.): „Jede Bewegung beruht einmal auf einer bestimmten, charakteristischen Haltung zur Welt und zweitens auf einer bestimmten, wenn auch nicht immer bewußten Vorstellung von einer letzten Instanz, einem absoluten Zentrum. Die

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romantische Haltung wird am klarsten durch einen eigenartigen Begriff bezeichnet, den der occasio“ (PR 22; s. nachst. ebd.).

„Occasio“ – Anlass, Gelegenheit, Zufall – erhalte seine eigentliche Bedeutung als Gegenteil von „causa“, denn er verneine den Zwang einer berechenbaren Ursächlichkeit und einer jeden Bindung an eine Norm; er sei mithin ein „auflösender Begriff“, denn alles, was dem Leben und dem Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt, (…) ist mit der Vorstellung des bloß Occasionellen unvereinbar. Wo das Gelegentliche und das Zufällige zum Prinzip wird, entsteht eine große Überlegenheit über solche Bindungen“ (ebd.).

In den als occasionalistisch identifizierten metaphysischen Systemen besetzt das bloß Occasionelle den entscheidenden Punkt. Bei Malebranche „ist Gott die letzte, absolute Instanz und die ganze Welt und alles, was in ihr vorgeht, bloßer Anlaß seiner alleinigen Wirksamkeit. Das ist ein großartiges Bild der Welt und steigert Gottes Überlegenheit zu einer ungeheuerlichen, phantastischen Größe“ (ebd.).507

Die charakteristische occasionalistische Haltung könne nun bestehen bleiben, zugleich an die Stelle Gottes aber eine andere höchste Instanz oder gar ein maßgebender Faktor treten, der Staat, das Volk – oder auch ein einzelnes Subjekt. Letzteres sei in der Romantik der Fall. Deshalb schlägt Schmitt die Formel vor: „Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, d.h. im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romanistischen Produktivität“ (PR 23).508

Heute existierten für den modernen Menschen viele Arten metaphysischer Haltung in säkularisierter Gestalt: die Menschheit, die Nation, das Individuum, die geschichtliche Entwicklung oder das Leben als Leben seiner selbst, ohne dass die metaphysische Haltung aufhöre, weil Metaphysik et-

507 Nicolas de Malebranche (1638-1715) baut auf die Gedankenführung Descartes auf, dessen mathematische Klarheit und Methodik ihn stark beeinflussten. Er denkt dessen Philosophie mithilfe der christlichen Lehre weiter und sieht, Descartes abwandelnd, in Gott die wirkliche Ursache aller Ideen, wo hingegen der Mensch nur die gelegentliche – occasionelle – Ursache sein kann (kursiv, w.a.m.). Menschliche Empfindungen sind für die Wahrheitsfindung nicht von Bedeutung, Denn allein Gott ist der Urheber aller Naturphänomene und – neu – auch der menschlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen: „Wir sehen alle Dinge in Gott“ (‚en dieu‘) (Prill 1995: 554 f.; siehe Hirschberger 1991: 128-129). 508 Siehe auch (PR 96, 138 u. weitere).

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was Unvermeidliches sei. Was die Menschen als letzte und absolute Instanz betrachten, kann durch irdische und diesseitige Faktoren ersetzt werden: „Das nenne ich Säkularisierung und davon ist hier die Rede (…)“ (ebd.). Denn unter Beibehaltung der metaphysischen Struktur und Haltung treten immer neue Faktoren als absolute Instanzen auf (PR 24). Schmitt definiert: „Die Romantik ist subjektivierter Individualismus, weil ihr eine occasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlaß macht“ (PR 24).

Das Occasionelle in Reinkultur tritt jetzt zutage und entfaltet „die ganze Konsequenz seiner Ablehnung jeder Konsequenz“, nunmehr kann „wirklich alles zum Anlass für alles werden“ (ebd.). Irgendeinen beliebigen Punkt kann der Romantiker zum Anlass nehmen, um ins Grenzenlose und Unfassbare zu schweifen, und zeigen, wie sehr das Occasionelle die Relation des Phantastischen ist, die Relation von Rausch, Traum, Abenteuer oder Märchen. Aus immer neuen Anlässen entsteht eine immer neue, aber eben nur occasionelle Welt, „eine Welt ohne Substanz und ohne funktionelle Bindung, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend, geführt nur von der magischen Hand des Zufalls, the magic hand of chance“ (PR 25; Herv. im Orig.).

Was jeder anderen geistigen Sphäre und der Wirklichkeit als lächerlich erschiene, wird im Romantischen zu einer ästhetischen Leistung. Alles werde im Romantischen zum „Anfang eines unendlichen Romans“, wie dies selbstverständlich auch für Märchen oder lyrische Gedichte und Weiteres gelte (PR 26). Und trotzdem verändert diese romantisch-flüchtige Welt die wirkliche Gesellschaft, denn nur in einer individualistisch aufgelösten Gesellschaft, nur in einer bürgerlichen Welt, die das Individuum im Geistigen isolierte, auf sich selbst verwies und ihm die ganze Last aufbürdete, die in einer sozialen Ordnung ansonsten hierarchisch verteilt war, „ist es dem privaten Individuum überlassen, sein eigener Priester zu sein, (…) wegen der zentralen Bedeutung und Konsequenz des Religiösen, infolgedessen auch sein eigener Dichter, Philosoph, der eigene Dombaumeister an der Kathedrale seiner Persönlichkeit. Im privaten Priestertum liegt die letzte Wurzel der Romantik und der romantischen Phänomene“ (ebd.).

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Und doch, warnt Schmitt, solle man nicht nur auf die guten Idylliker schauen, sondern auf die Verzweiflung und den Weltschmerz, die auch hinter der romantischen Bewegung stehen können (s. PR 26 f.). 3.3. Einleitung (PR 31-49). Als der „publizistische Gehilfe“ und Vertraute Metternichs und Freund bekannter Romantiker, Friedrich von Gentz – Schriftsteller, Staatstheoretiker, Übersetzer Burkes und Politiker – 1832 verstorben war und die bürgerliche Revolutionsbewegung ab dem Gründungsjahr der Heiligen Allianz (1815) bis zum Kulminationsjahr 1848 sich bereits abzuzeichnen begann, wurde die Romantik die Ideologie des „reaktionären Absolutismus“ (PR 31; nachst. ebd.). Gentz selbst – „der ‚sardanapalische‘509 Held der liederlichen Genialität“ – begriff man nun als die Inkarnation eines politischen Romantikers, der die „bequeme Ruhe des reaktionären Polizeistaats“ einem Kampf für die Freiheit vorgezogen hatte. Schmitt teilt diese schroffe Charakterisierung nicht (PR 32; nachst. vgl. PR 32 ff.). Ihm steht Gentz für das klassische Wesen des 18. Jahrhunderts, dem in staatstheoretischen Fragen eine begriffsauflösende Romantik im Übrigen unverständlich geblieben sei.510 Zudem subsumierten die revolutionären Protagonisten des Vormärz eigentümliche und in der Folge widersprüchliche liberal-humanitäre Begriffe unter das Signum der Romantik. Grund dafür sei „das unruhige, aufsässige Gemüt“511 des protestantischen „freien Selbst“ gewesen (PR 34; nachst. vgl. PR 34 f.). Die Romantik offenbart so etwas Protestantisches. Dass sie zugleich „trübe Gärung und Willkür sei, exzessive Freiheit des Individuums, das sich die Welt unterwerfen will“ (PR 34), war für Schmitt eine Verschärfung, die aus der Reihe der Vormärz-Revolutionäre gekommen sei. Um die Beziehung mit der politischen Reaktion erklären zu können, hätten sie freilich zur dialektischen Methode greifen müssen, um zu erklären,

509 „sardanapalisch“ = verweichlicht. 510 Für Metternich habe sich bei Gentz in den letzten Lebensjahren „eine Art von Romantik“ bemerkbar gemacht (PR 33). Metternich habe allerdings, so Schmitt, wie die Aristokraten der Restauration auch darunter vornehmlich liberale Neigungen verstanden (ebd.). 511 Arnold Ruge, zit. nach (PR 34).

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„daß die Romantik zwar als Negation ein revolutionäres Prinzip enthalte, aber gerade als subjektive Willkür Gegner der ‚Schranken der wahren Freiheit sei und die aus der Aufklärung hervorgehende Revolution ablehne‘“ (PR 34/35).

Solche hegelianischen Konstruktionen enthielten aber Verwirrungspotenzial, würden doch Kriterien wie „äußerster Individualismus und vegetative Dumpfheit nebeneinander“ genannt. Außerdem warfen die Hegelianer der naturalistischen Romantik vor, sie sei eine transzendente und abstrakte Abkehr vom wirklichen Leben; außerdem wecke sie Wünsche, die das wirkliche Leben nicht gewähren könne. Die Romantik, erklärte man, entstamme „den elenden politischen Verhältnissen Deutschlands“, woraus der Realismus der Hegelianischen Revolutionäre folgerte, die romantische Bewegung sei umso stärker, je unseliger der wirkliche Zustand eines Volkes sei. Aber begrifflich richtig zu fassen bekam man die vieldeutige Romantik nicht (s. PR 35 f.).512 Unsicherheit rief vor allem hervor, dass die kommenden Revolutionäre die Französische Revolution bewunderten, aber für Deutschland jeden Zusammenhang von Romantik und Revolution bestreiten mussten. Als Gemeinsamkeit betrachtete man einen charakteristischen Individualismus (PR 36).513 Die ersten Romantiker bezeichneten sich als „geistige Revolutionäre“, obwohl sie mit der politischen Reaktion verbunden waren, aber es mit der Revolution ebenso hätten sein können (PR 39). Auch in der Nachfolge der Französischen Revolution wurden sie einmal als Revolutionäre und dann wieder als Gegenrevolutionäre begriffen (PR 42 f.). Kurzum, über der Frage, was Romantik sein oder nicht sein – oder gar beides zugleich – kann, herrscht heillose Verwirrung: „Wollte man bei dieser Verwirrung überhaupt darauf verzichten, das Wort zu gebrauchen, so wäre das wohl ein praktischer Ausweg, aber keine Lösung“ (PR 43).

Aber die Schwierigkeit einer Definition resultiert für Schmitt schon aus dem Faktum, dass „romantisch“ nicht zu einer akzeptierten parteipolitischen Bezeichnung geworden (ebd.) und zudem ein leeres Gefäß gewesen sei, das seit einem Jahrhundert mit den verschiedensten Inhalten gefüllt wurde. Versuchen wir uns einer Romantik-Definition zu nähern, indem wir uns dem Zweck Schmitts zuwenden, den seine Politische Romantik verfolgt. Die Aussage Hugo Balls deckt das zentrale Motiv Schmitts auf:

512 Zur Positionierung der Romantik in Frankreich siehe (PR 36 ff.). 513 Näher dazu (PR 36 ff.).

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„Letzten Endes war die ganze Untersuchung in ‚Politische Romantik‘ unternommen, um die großen politischen Theologen Burke, Bonald und de Maistre vor einer ferneren Verwechslung mit Talmipolitikern514 und Adapteuren wie Adam Müller und Fr. Schlegel zu schützen“.515

Den wirr-schillernden Begriff der „Romantik“ einfach aus dem Vokabular zu entfernen ist für Schmitt gleichwohl keine Lösung, weil er die Auffassung vertritt, dass es unter Bezug auf die historischen und geistigen Zusammenhänge des Romantik-Komplexes möglich ist, dasjenige Moment herauszuarbeiten, „was berechtigterweise politische Romantik genannt werden muß“ (PR 43; vgl. nachst. PR 43 f.). Jedoch fehle dem Begriff eine parteipolitische Zuordnung wie eine etymologische Analyse: „Leider ist aber in einer grauenhaften Verwirrung das Wort Romantik seit fast einem Jahrhundert ein leeres Gefäß, das mit verschiedenem, von Fall zu Fall sich änderndem Inhalt gefüllt wird“ (PR 44).

Zur Verwirrung hatten für Schmitt auch die Historiker „in ihrer Abneigung gegen begriffliche Trennungen“ beigetragen, für die jede Meinung eines als Romantiker ausgemachten Subjekts dann auch eine „romantische“ war (PR 45). Ohne dies vertiefen zu wollen, fiel ob dieser Gemengelage des Begriffsdurcheinanders ein Vertreter nach dem anderen aus der Riege der politischen Romantiker. Übrig blieben mit Adam Müller, Friedrich Schlegel und Karl Ludwig von Haller nur noch die eigentlichen Schriftsteller der politischen Restauration. So verblieb für Schmitt zunächst nur noch der norddeutsche protestantische Philosoph, Staatstheoretiker, Ökonom, Diplomat und Literat Adam Heinrich Müller als Beispiel eines politischen Romantikers, an dem deshalb die Praxis eines politischen Romantikers „in concreto“ (PR 49) dargestellt werden müsse: „In Deutschland zeigt Adam Müllers politische Betätigung das typische Bild politischer Romantik. Es wird sich schon daraus ergeben, wie unrichtig die heute übliche Darstellung ist, die Männer wie Burke, de Maistre und Bonald mit Adam Müller und Friedrich Schlegel unter dieselbe Kategorie politischer Geistigkeit bringt“ (PR 49).

So liest sich die Rechtfertigung für die oben zitierte These Hugo Balls bei Carl Schmitt.

514 Talmi = Falschgeld. 515 Ball (1924, S. 269).

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3.4. Die äußere Situation (PR 50–76). Die romantische Bewegung in Deutschland bezeichnete sich selbst als Revolution und stellte deshalb einen Bezug zu den politischen Entwicklungen in Frankreich her. Das Potenzial der Gefährdung für eine stabile bürgerliche Gesellschaftsordnung wurde aber als so gering angesehen, dass in den Reihen des bürgerlichen Lagers sogar Sympathien für die Vorgänge in Frankreich zu beobachten waren (vgl. PR 50; nachst. s. PR 50 ff.). Selbst die hohe Bürokratie und der Adel – „die politisch maßgebliche Schicht“ (PR 52) – vertrauten unbeirrt auf ihre Überlegenheit. Erst nach den Napoleonischen Freiheitskriegen wuchs die Furcht vor einer revolutionären Infizierung und der Staat ergriff repressive Polizeimaßnahmen. Selbst Friedrich Schlegel, anfänglich ein Sympathisant der französischen Ereignisse, fügte sich in dieses polizeilich gesicherte bürgerliche Schema. Wenig später ließ er das revolutionäre Frankreich nur noch „als einen ganz erfreulichen Versuch gelten“: „Die Revolution der Romantiker selbst aber bestand darin, eine neue Religion, ein neues Evangelium, eine neue Genialität, eine neue Universalkunst zu versprechen. Von ihren Manifestationen in der gewöhnlichen Wirklichkeit gehörte kaum etwas in ein Forum externum. Ihre Taten waren Zeitschriften“ (PR 51).

Als die weitgereiste Deutschlandkennerin Madam de Stael erstaunt feststellte, dass in Deutschland die kühnsten revolutionären Gedanken frei geäußert werden könnten, lieferte sie die Erklärung gleich mit: „im Ernst kümmerte sich niemand darum“ (PR 52). Den Schreibtisch- und Vortragsrevolutionären schlug aus den Reihen einer sich überlegen fühlenden Aristokratie und herrschaftsbewussten Bürokratie sogar eine gewisse Verachtung entgegen. „Wichtiger ist die Antwort auf eine solche Überlegenheit und das tatsächliche Verhalten des politischen Romantikers, dem Gelegenheit zu politischer Betätigung gegeben wird“ (PR 54; nachst. vgl. PR 54 ff.).

Schlegel aber betrachtete jede praktische Arbeit im politischen Feld als unwürdig – und doch ließ ihn sein Ehrgeiz nach diplomatischen Geschäften und Aufträgen geradezu heischen. Aber sein Versuch, am Bundestag in Frankfurt politisch eine Rolle zu spielen, blieb erfolglos. Von seinen politischen Zeitgenossen wurde er mitsamt seinem Ideenpool über Papsttum,

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Kirche und Adel als Politiker schlicht nicht ernst genommen, und konnte, ätzt Schmitt, „nicht einmal neben Adam Müller bestehen (PR 56/57).516 Adam Müller war mit seinem Hauptwerk Die Elemente der Staatskunst (1924) für Schmitt der exemplarischste Vertreter der „Politischen Romantik“.517 Für die Bestellung zum Generalkonsul in Leipzig und die spätere Erhebung in den Adelsstand,518 für die er „Gott und dem Fürsten“ (PR 57) dankte, war Müller für Schmitt doch immer nur das „unbedingte Werkzeug“ Metternichs (PR 58), der differierende Ansichten nur in der Theorie seiner Schriften angedeutet hatte. Das Zeitfenster für eine politische Entscheidung, für eine eigene bedeutende politische Idee, habe für Müller in den Jahren 1808 bis 1814 gelegen. „Am Schlusse seines Lebens war er einfach ein guter, frommer Katholik, oft so demütig, daß er für eine menschliche Beurteilung damit wohl ein Jahrzehnt bedenklicher Zweideutigkeit ausgeglichen hat“ (PR 58;519 nachst. vgl. PR 58 ff.).

Der 1779 in Berlin geborene Müller hatte als romantischer Empörer begonnen, „spielte“ aber schon als zwanzigjähriger Student und „gelehriger Jünger von Gentz“ in Göttingen bereits den anglophilen Revolutionsgegner.520 Er befasste sich mit Nationalökonomie, Naturphilosophie, Medizin, Literatur und Astrologie und später auch Meteorologie – seine Interessen und Aktivitäten blieben „von romantischer Buntheit“ (PR 60). Von Geldsorgen und schweren Depressionen gedrückt, lebte Müller lange bei zwei polnischen Gutsbesitzern und folgte im Februar 1805 einer Einladung von Gentz nach Wien, wo er am Tag seiner Rückreise zum Katholizismus konvertierte (PR 61). Als Privatgelehrter hielt er in Dresden, in das er gezogen war, Vorlesungen über Literatur, Wissenschaft und Sprachen und schrieb für Zeitschriften (PR 62; nachst. vgl. PR 62 f.). In dieser Lage schlug Gentz dem bürgerlichen Müller vor, ein Buch zur Verteidigung des Adels zu verfassen, der sich in Preußen nach der Niederlage von 1806 nicht nur einer schlechten öffentlichen Reputation, sondern

516 517 518 519 520

Weitere Nachweise für ein politisches Tätigwerden Schlegels siehe (PR 55-57). Fritsche (1977, S. 72). Adam Müller von Nitterdorf. Herv. w.a.m. Die Göttinger hatten sich auch wegen der Verwandtschaft zwischen dem Englischen und dem Hannoveraner Herrscherhaus der Französischen Revolution gegenüber reserviert verhalten. Der florierende kulturelle Austausch habe sich bei Müller zur „Anglomanie“ gesteigert (PR 60).

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auch der wachsenden Gefahr liberaler Reformbestrebungen zu erwehren hatte. Im Winter 1808/9 hielt er Vorlesungen über Staatskunst, aus denen dann die Aufsatz- und Vorlesungssammlung „Elemente der Staatskunst“ hervorging. Schmitt spottet: „Auch hier beschränkte sich der Erfolg auf den engeren Kreis der Verwandtschaft“ (PR 63). Dresden musste er 1809 aus privaten und nach dem Einrücken der Franzosen auch aus politischen Gründen verlassen. Müller hatte die österreichischen Interessen zu stark vertreten und entfloh nach Berlin. Der preußischen Regierung schlug er vor, eine Ministerial- und Oppositionszeitung zugleich zu schreiben, wenn ihm eine gehobene gesellschaftliche Position verschafft werde (s. PR 65; nachst. vgl. 66 ff). Der Plan eines Regierungsblattes wurde aufgegriffen, Müller als Redakteur genannt, aber der neue Staatskanzler Hardenberg verweigerte ihm die Position eines höheren preußischen Regierungsbeamten, auch weil Müller bereits gute Beziehungen zur agrar-konservativen Opposition geknüpft und antiliberale Vorlesungen in deren Sinn gehalten hatte. Hardenberg, weiß Schmitt, habe den „unzuverlässigen und oberflächlichen Literaten“ gekannt (PR 66), der in der Tat schnell für die Opposition Partei ergriff, um zugleich „ohne jedes Gefühl für seine politische Charakterlosigkeit und Achselträgerei“ die Beziehung zu Hardenberg aufrechtzuerhalten, ohne aber etwas zu erreichen (PR 67). Müller wechselte daraufhin wohl nur nach Wien, weil Gentz ihm weiterhelfen konnte, nicht jedoch aus einem anti-revolutionären Instinkt zum katholischen Österreich. Seinen Übertritt zum Katholizismus hatte er in Preußen wohlweislich verschwiegen (PR 68). Schmitt charakterisiert Müller gnadenlos als einen charakter- und rückgratlosen politischen Opportunisten, indem er Wilhelm Grimm zitiert, der seinem Bruder Jacob über Müller geschrieben habe: „Fühlst Du nicht auch, daß eine gewisse Lüge sich durch alle seine Schriften verbreitet“ (PR 70). Auch als Gehilfe und publizistischer Beirat des provisorischen Tiroler Landeschefs schwenkte Müller in den Jahren 1813 bis 1815 zur herrschenden Meinung der siegenden Macht und sagte von sich, er sei überhaupt der geistige Leiter der „Austriacisierung“521 Tirols gewesen, auch wenn es weiterhin „ständische Gelüste“ hege. In seiner Denkschrift, die sich mit

521 „Austriacisierung“ meint die Eingliederung Tirols in das zentralistische System des Gesamtstaats (PR 71).

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seiner Rückberufung nach Wien kreuzte, hatte er scharfe Maßnahmen gegen Tirol gefordert (vgl. PR 71 f.).522 Schmitt personifiziert die „merkwürdigen charakteristischen Widersprüche, welche die romantische Bewegung gerade auf politischem Gebiete zeigt“ (PR 13) anhand Müller, der „in allem nur der eifrige Diener eines beliebigen Systems war, immer bereit, den Teil seiner Ideen, der einem ungehinderten Funktionieren im Wege stehen konnte, beiseite zu stellen und den andern zu assimilieren“ (PR 74)

Nur in seinem Katholizismus der späten Jahre habe Müller sich gefestigt gezeigt, konzediert Schmitt, auch wenn dies in der Zeit der Restauration keinen ungewöhnlichen Entschluss erfordert habe. Hier erwies sich für Schmitt die katholische Kirche „als der Felsen, an dem die romantische Eitelkeit, die alles über sein wahres Wesen belehren wollte, zerbrach“ (PR 76; nachst. s. ebd.). Die starke religiöse Bewegung, die nach den Napoleonischen Kriegen aufgetreten sei, habe auch Müller erfasst und „trug ihn innerlich an die letzten Konsequenzen seiner Richtung, zu einer orthodoxen Religiosität“. Hier hörte er allmählich auf, sich als Romantiker zu zeigen. Aber unrichtig sei, „ihn einen Romantiker zu nennen, weil er Katholik war“. Diese „beliebte Auffassung“, expliziert Schmitt, erkläre sich nur aus der dilettantischen Verwechslung des romantischen Objekts mit der Romantik: „Der Katholizismus ist nichts Romantisches. Sooft die katholische Kirche das Objekt romantischen Interesses war und sooft sie auch romantische Tendenzen in ihren Dienst zu stellen wußte, sie selbst ist nie, sowenig wie eine andere Weltmacht, Subjekt und Träger einer Romantik gewesen“ (PR 76).

Nachdem Schmitt an der Person Adam Müllers, die politische Offenheit der Romantik zwischen Revolution und Restauration gezeigt hat, geht er im Hauptteil seiner Romantikschrift daran, die Struktur des romantischen Geistes freizulegen.

522 Einzelheiten zur Tirol-Politik s. (PR 70 ff.).

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3.5. „Die Struktur des romantischen Geistes“523 oder „das antimetaphysische Subjekt“524 als Prinzip. Der Demiurg der Gesellschaft. „Die Wurzellosigkeit des Romantikers, seine Unfähigkeit, aus freiem Entschluß eine bedeutende politische Idee festzuhalten, seine innere Widerstandslosigkeit gegen den jeweils nächsten und stärksten Eindruck haben ihre individuellen Gründe“ (PR 77).

Wolle man die genannten Gründe zu einer Definition der politischen Romantik heranziehen, müssen sie in den Zusammenhang mit der geistigen Situation der Zeit gestellt werden. Dann, erläutert Schmitt sein Ziel, zeige sich, was fremdes Element und was wesentlich an der politischen Romantik ist. Um die Besonderheit ihrer geistigen Situation aufzubereiten, müsse wie bei jeder wichtigen Situation der modernen Geistesgeschichte, mit der Philosophie von René Descartes begonnen werden (PR 77/78). Am Anfang der Moderne, repetiert Schmitt, stünden zwei große Veränderungen.525 Wurde die Erde durch das Kopernikanische Planetensystem aus dem Mittelpunkt der Welt verwiesen, so wurde das alte ontologische Denken durch die rationalistische Philosophie Descartes erschüttert. Der Mensch konnte sich dadurch von den metaphysischen Autoritäten lösen und den Mittelpunkt in sich selbst suchen, und Descartes „cogito ergo sum“, „wird zur letzten und einzigen Quelle von Sicherheit in einem Strom von Ungewissem und Zweifelhaftem“.526 Das philosophische Denken, formuliert Schmitt, „wurde egozentrisch und suchte den Mittelpunkt in sich“ (PR 78).527 Nunmehr galt: „Die moderne Philosophie ist von einem Zwiespalt zwischen Denken und Sein, Begriff und Wirklichkeit, Geist und Natur, Subjekt und Objekt beherrscht, den auch die transzendentale Lösung Kants nicht behoben hat“ (PR 78).

Kants Philosophie habe dem denkenden Geist die Außenwelt nicht wiedergegeben, legt Schmitt dar, weil das Wesen der empirischen Wirklich-

523 (PR 77). 524 Bohrer (1989, S. 286). 525 Wann der Übergang zwischen Mittelalter und Moderne historisch anzusetzen ist, ist auch heute noch umstritten (Schaal/Heidenreich 2017, S. 37). Zur Genese der Moderne s.(ebd. S. 37 ff.). 526 Schaal/Heidenreich (2017, S. 45). 527 Siehe auch Bohrer (1989, S. 286).

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keit, das Ding an sich, gar nicht erfasst werden soll bzw. kann (ebd.).528 Erst die nachkantische Philosophie habe dann bewusst nach dem Wesen der Welt gegriffen, „um die Irrationalität des wirklichen Seins aufzuheben“ (ebd.). Die Romantik kann als Oppositionsbewegung begriffen werden, die sich gegen den Rationalismus des 18. Jahrhunderts und eine als mechanistisch begriffene Welt richtete, wenn auch nicht alles, was moderner Rationalismus ist, romantisch sei (PR 79).529 Mit dem philosophischen Streben nach der dem abstrakten Rationalismus unzugänglichen Realität erkennt Schmitt weitere Gegenbewegungen, die sich gegen den durch Descartes inaugurierten Rationalismus richten: (1) die philosophische, 530 (2) die mystisch-religiöse, (3) die historisch-rationalistische und (4) die gefühlsmäßig-ästhetizistische (lyrische) (PR 82; s. nachst. PR 82 f.). Letztere bringt zwar den Dualismus nicht zur Einheit, löst aber die Gegensätze in ästhetische oder gefühlsmäßige Kontraste auf, um sie dann wieder zu verschmelzen. Im Ergebnis bewirkt diese ästhetische Verschmelzung die Suspendierung jeder Entscheidung, und „namentlich in dem Rest des Rationalismus, den sie bei allem irrationalen Gebaren sich vorbehält, liegt der Ursprung der romantischen Ironie“ (PR 83).

Die deutsche Romantik vom Anfang des 19. Jahrhunderts zählt Schmitt zur antirationalistischen, gefühlsmäßig-ästhetizistischen Gegenbewegung (PR 84), die wie auch die anderen drei in der historischen Wirklichkeit selten in Reinkultur vorhanden sind (s. PR 85), aber gleichwohl gut unterscheidbar bleiben (PR 86). Noch wichtiger für die geistesgeschichtliche Bestimmung der Romantik sieht Schmitt in der Änderung, die dadurch eintrat, „daß die metaphysische Entwicklung vom 17. zum 19. Jahrhundert zu ganz neuen Vorstellungen von Gott und dem Absoluten führte“ (ebd.):

528 Anders formuliert: Kant sind „die transzendentalen Gesetze des Erkennens wichtiger (…) als die transzendentalen Gegenstände an sich, die er für unerkennbar hält“ (Hirschberger 1991, S. 329). 529 Siehe auch Bohrer (1989, S. 286); s. Motschenbacher (2000, S. 40). 530 Die einzelnen philosophischen Strömungen und anderen Gegenbewegungen, die Schmitt abhandelt, können im Rahmen einer Einführung nur soweit für das Verständnis des Zusammenhanges der Schmittschen Ausführungen notwendig und vereinfacht angesprochen werden. Zur Philosophie Fichtes und Schellings siehe (PR 78 ff.), zu Hegel und Spinoza siehe (PR 80 ff.) und zu weiteren Gegenbewegungen siehe (PR 82 ff.). Eine gut lesbare Darstellung der romantischen Philosophie, insbesondere auch Fichtes, findet sich bei Safranski (2015: 70 ff.).

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„Die höchste und sicherste Realität der alten Metaphysik, der transzendente Gott, war beseitigt. Wichtiger als der Streit der Philosophen war die Frage, wer seine Funktionen als höchste und sicherste Realität und damit als letzter Legitimationspunkt in der historischen Wirklichkeit übernahm. Zwei neue diesseitige Realitäten traten auf und setzten eine neue Ontologie durch, ohne auf die Beendigung der erkenntnistheoretischen Diskussion zu warten: die Menschheit und die Geschichte“ (PR 86).

An die Stelle Gottes traten zwei diesseitige, neue Realitäten; zwei überindividuell geltende Demiurgen ergriffen die Herrschaft über das Denken der Menschen. Der erstgenannte Demiurg, die menschliche Gesellschaft, wirkte in verschiedenen Gestalten als Volk, Gemeinschaft und Menschheit, aber immer in derselben revolutionären Funktion (PR 87). Bereits Rousseau hatte ja in seinem Contrat social die Allmacht der Gesellschaft proklamiert.531 Die individualistischen Elemente des Gesellschaftsvertrags seien dann in der Französischen Revolution praktisch beiseite geworfen worden: „Die Politik wird eine religiöse Angelegenheit, das politische Organ ein Priester der Republik, des Gesetzes, des Vaterlands. Gegen jeden politischen Dissidenten, jede abweichende Meinung wütete das Jakobinertum mit blutigem Eifer“ (PR 87).

Der politische Feind – wie Danton oder Hébert – rebellierte nun gegen den einzigen und höchsten, den priesterlichen Souverän und wurde infolgedessen zum geächteten „Atheisten“, weil der Souverän sich erfolgreich auf die neue Religion berufen konnte und seine Person dem Staat „unterschiebt“: „je mehr er selbst sein will, um so mehr muß er seine Privatperson verstecken und immer laut betonen, daß er ja nur der Funktionär des allein mächtigen und maßgebenden, überpersönlichen Wesens sei“ (PR 88).

Wäre der Funktionär allein von egoistischen Interessen getrieben, seiner privaten Vorteile – Macht, Ehre, Reichtum – könnte er sich nur heimlich und diebisch erfreuen: „Er ist nichts für sich und alles in seiner Funktion als Organ der wahren Macht, des Volkes oder der Gesellschaft. Sie hatte man gefunden, als man zur Natur zurückkehren wollte. Die Realität war die menschliche Gesellschaft, aus welcher der sentimentale Individualist zu fliehen glaubte“ (ebd.).

531 „(…) die grenzenlose Gemeinschaft [ist] ein revolutionärer Gott, der alle sozialen und politischen Schranken beseitigt und allgemeine Brüderlichkeit der ganzen Menschheit proklamiert“ (PR 90/91).

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3.6. Der Demiurg der Geschichte: „Die Vergangenheit ist Negation der Gegenwart“ (PR 102). Das Korrektiv der revolutionären Schrankenlosigkeit verortet Schmitt im zweiten Demiurgen, der Geschichte (PR 91): „Sie ist der konservative Gott, der restauriert, was der andere revolutioniert hat, sie konstituiert die allgemeine menschliche Gemeinschaft zum historisch konkretisierten Volk, das durch diese Begrenzung zu einer soziologischen und historischen Realität wird und die Fähigkeit erhält, ein besonderes Recht und eine besondere Sprache als Äußerung seines individuellen Nationalgeistes zu produzieren“ (ebd.).

Auch das Volk ist demnach das Ergebnis geschichtlicher Entwicklung, „der Gedanke einer willkürlichen Herrschaft über die Geschichte ist der eigentlich revolutionäre Gedanke“.532 Der hemmungslose Fanatismus der Jakobiner aber ist „unhistorisches“ Denken – was die Geschichte getan, jedoch ist wohlgetan: „Die voluntas Dei in ipso facto, die früher alles rechtfertigen konnte, hatte der geschichtlichen Rechtfertigung ex ipso facto weichen müssen“ (PR 92).

Hinzutreten müsse allerdings die „Dauer“; sie ist das gegebene konservative und traditionalistische Argument, aber nicht in dem Sinne, dass man hinsichtlich politischer Ereignisse erst einmal die Zeit abwarten müsse (s. PR 92). Nein, jetzt werde die Zeit als Geschichte eine schöpferische Macht, die Völker und Familien zu weltgeschichtlicher Größe bringe; „sie bildet Nationen und Individuen, in ihr wächst die Menschheit“ (PR 93). So habe auch Burke immer wieder auf die über Generationen sich überstreckende Gemeinschaft der Nation hingewiesen, was bei ihm allerdings praktische Erwägung geblieben sei: „die Vorstellung der neuen Macht, die als solche etwas rechtfertigen kann, fehlt bei ihm“, sein Pathos über die von menschlicher Willkür unabhängige, nationale Wirklichkeit sei umso nachhaltiger (PR 93/94). Neu war: „jetzt wird das Volk die objektive Wirklichkeit, die geschichtliche Entwicklung aber, die den Volksgeist produziert, wird zum übermenschlichen Schöpfer“ (PR 94).

Erst Hegel habe die beiden Realitäten zu einer Synthese gebracht, erst mit ihm war die Entthronung des Gottes der alten Metaphysik vollzogen. Er

532 Er hat zum Inhalt, etwas beliebig machen, schaffen zu können (PR 91).

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habe, so Schmitt, das Volk zum Staat rationalisiert, und mit der Geschichte, dem dialektisch sich entwickelnden Weltgeist, vereinigt. Dem Volksgeist, bei Hegel nur mehr Instrument des Weltgeistes, blieb gleichwohl der Spielraum, um eine revolutionäre neben einer reaktionären Richtung ausweisen zu können. Die Gesellschaft blieb – zum Marxismus weiterentwickelt – der revolutionäre Part, mit dem Proletariat als Träger der marxistischen Geschichtsphilosophie. Zum alten Gott der christlichen Metaphysik aber führte kein Weg mehr (vgl. PR 94 f.). Wo nun steht der Romantiker in diesem Kampf der Gottheiten? Der Macht der beiden Realitäten Gesellschaft und Geschichte unterlagen sie sofort, hatten sich unter der Philosophie Fichtes des absoluten Ichs aber stark genug gefühlt, die Rolle des Weltschöpfers selbst zu übernehmen – was alles aber nur dazu diente, als „ein geistiges Mittel die Souveränität des Ich zu steigern“ (PR 96).533 Der Entscheidung selbst wich der idealtypische Romantiker elegant aus: „Sie ließen es instinktiv unklar, wie weit das romantische Ich mit den neuen Mächten sich identifizierte oder sich ihrer als Mittel seiner Macht bediente. Das geniale Subjekt ertrug, wenn es mit seiner göttlichen Autarkie praktisch Ernst machte, keine Gemeinschaft mehr; die Einbeziehung des Subjekts in Gemeinschaft und Geschichte bedeutete die Entthronung des weltschöpferischen Selbst“ (PR 96).

Diese Malaise machte für die Romantiker die katholische Kirche höchst attraktiv. Sie bot „eine große irrationale Gemeinschaft, eine weltgeschichtliche Tradition und den persönlichen Gott der alten Metaphysik“ (ebd.). Daraus zogen sie zunächst den Fehlschluss, gute Katholiken werden und geniales Subjekt zugleich bleiben zu können: „Aber als sie auch innerlich von ihm534 überwältig wurden und im Ernst fromme Katholiken sein wollten, mußten sie ihren Subjektivismus aufgeben. Sie taten es, nachdem sie eine Zeitlang versucht hatten, auch der Kirche gegenüber das geniale Subjekt zu spielen (…). Mit dem definitiven Verzicht und der Perzeption eines Entweder-Oder war die romantische Situation beendet“ (PR 96/97).

Der romantische Konflikt zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit wirft ein weiteres Problem auf. Die Romantik begann als Bewegung der Jungen gegen die Alten. „Die Alten“ am Ende des 18. Jahrhunderts war die Generation der Klassiker mit Goethe an ihrer Spitze. Was aber konnten sie die533 Inneres Zitat von S. Elkuß (PR 96) ohne weiteren Nachweis. 534 Dem Katholizismus (w.a.m).

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sem Heroen entgegensetzen denn bloße Möglichkeiten, Pläne und Versprechungen auf die Zukunft? „Die romantische Lösung dieser Schwierigkeit besteht darin, daß die Möglichkeit als die höhere Kategorie hingestellt wird. Die Rolle des weltproduzierenden Ich konnten sie nicht in der gewöhnlichen Wirklichkeit spielen; den Zustand ewigen Werdens und nie sich vollendender Möglichkeiten zogen sie der Beschränktheit konkreter Wirklichkeit vor“ (PR 98).

Jetzt also, ironisiert Schmitt, kehre sich das Verhältnis um, nicht die Möglichkeit ist leer, sondern die Wirklichkeit, nicht die abstrakte Form, sondern der positive Inhalt, was auch philosophisch eine Umkehrung bedeutet: „Das Zeitalter suchte die Realität, um die rätselhafte Irrationalität des wirklichen Seins aufzuheben. Wenn das durch eine Rationalisierung geschehen sollte, war die Unendlichkeit des Lebens wieder beseitigt. Der Sinn alles Scharfsinns der Philosophen wie der erhitzte Zerebralismus mancher romantischen Äußerung liegt darin, daß sie das Dasein erklären und erfassen wollen, ohne auf die Schauer der unberührten Möglichkeiten zu verzichten“ (PR 99).

Das Ziel allen philosophischen Bemühens, fazitiert Schmitt, das Irrationale philosophisch zu erreichen, war nicht erreicht. Die neue Gesellschaft hatte in besonderer Form „den Romantiker überwunden und gezwungen, an sie zu appellieren (ebd.). 4. Das subjektive Prinzip der Romantik. „Der Gegensatz von Möglichem und Wirklichem wird mit dem Unendlichem und Endlichem, Intuitivem und Diskursivem verschmolzen“ (PR 99).

Der Mystiker des Mittelalters fand die Lösung dieses Konflikts in Gott, der unendliche Möglichkeit und konkrete Wirklichkeit zugleich ist. Das sei, so Schmitt, eine mystische Auflösung, aber nicht Romantik. Denn diese sei „auch hier wieder die des sich selbst reservierenden Subjekts“, das anstrebte, selbst zu übernehmen, was der Mystiker des Mittelalters in Gott gesucht und gefunden hatte (PR 100; nachst. s. ebd.). An der Möglichkeit, den beiden Demiurgen die Aufgabe dieser Vereinigung zuzuweisen, hielt der Romantiker gleichwohl fest. Das große, übermenschliche Gesamtindividuum, bei dem Denken und Leben eins sind, wird für den Romantiker das Volk und das „gute, edle, großmütige, instinktsichere Volk“ erhielt die Aufgabe zugewiesen, Träger der Naivität zu werden, die der „ungeduldige, nervöse, anspruchsvolle Intellektualist“ für seine Person verloren hatte. 187

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Adam Müller habe aus politischen Gründen anstelle von „Volk“ immer von „Staat“ gesprochen und „zum Urgrund aller Möglichkeiten“ erhoben: „sein Wille ist Gesetz, Stimme der Wahrheit, nicht nur juristische, sondern eben in Wahrheit“ (PR 101). Aber, hebt Schmitt mit Nachdruck hervor, die Romantiker seien nicht die Entdecker des neuen Stolz- oder Nationalgefühls, „weil sie die Realität eilig zu romantisieren suchten“. Denn das Volk stehe ja bereits im Dienst des romantischen Subjekts, habe die Aufgabe, die Quelle unerschöpflicher Möglichkeiten zu sein und die Gedanken der Aufklärung fernzuhalten, „weil Lesen und Schreiben und der ganze Bildungsschwindel das große Unbewußte vernichten würden“ (ebd.).535

Der Demiurg „Geschichte“ ist romantisch gut verwertbar. Weil die Zeit den Menschen in jeder Sekunde determiniert und jeder Moment die Vernichtung unzähliger Möglichkeiten bedeutet, weicht der Romantiker vor dieser Macht in die Geschichte zurück. Das vergangene Faktum ist real und konkret, übt aber nicht den Druck gegenwärtiger Realität aus. So ist dem Romantiker um die Wende des 18. Jahrhunderts die Flucht in das Mittelalter möglich, aber „das zeitlich oder räumlich entfernte romantische Objekt (…) ist nicht seiner selbst wegen Objekt des Interesses; es ist ein Trumpf, der gegen die gewöhnliche, real gegenwärtige Wirklichkeit ausgespielt wird und soll die Gegenwart widerlegen. (…) Seine romantische Funktion liegt in der Negation des Heute und Hier“ (PR 103).

„Auf der Flucht“ sieht Schmitt den Romantiker trotzdem nicht, denn er weiche zwar der Wirklichkeit aus, „aber ironisch und mit der Gesinnung der Intrige“. Das aber seien Mittel, um die eine Wirklichkeit gegen eine andere auszuspielen, „denn in der Ironie liegt der Vorbehalt aller unendlichen Möglichkeiten. So wahrt er sich seine innere, geniale Freiheit, die darin besteht, keine Möglichkeit aufzugeben“ (PR 105).

Das Angriffsziel romantischer Ironie sei eben nicht das Subjekt, „sondern die objektive Realität, die sich um das Subjekt nicht kümmert. Nur soll die Ironie die Realität nicht vernichten, sondern, unter Beibehaltung der Qualität realen Seins, dem Subjekt als Mittel zur Verfügung geben und es ihm ermöglichen, jedem Definitivum auszuweichen“ (PR 107).

535 Zum romantischen Potenzial von Kindern – „Auch Kinder sind solche Träger irrationaler Fülle, über welche der Romantiker verfügt.“ – siehe (PR 101 f.).

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So kommt Schmitt zu dem Ergebnis, „dass der Romantiker wegen seiner subjektivistischen Vorbehalte die gesuchte Realität weder in sich selbst, noch in der Gemeinschaft, noch in der weltgeschichtlichen Entwicklung, noch, solange er Romantiker war, im Gott der alten Metaphysik finden konnte“ (ebd.).

Die Sehnsucht nach der Realität aber sucht die Erfüllung. Mithilfe der Ironie konnte sich der Romantiker nur vor der einzelnen Realität schützen, doch war diese Ironie nur die Waffe, mit der das Subjekt sich verteidigte: „Die Realität war subjektivistisch nicht zu erringen“ (ebd.). Darum unterschob sich ihr etwas scheinbar noch Größeres, die Totalität, weshalb das Subjekt sich nunmehr des ganzen Universums, der gesamten Wissenschaft, der gesamten Kunst „in complexo“ bemächtigen konnte. Den Hebel entnahm man dem Arsenal der Naturphilosophie. Die philosophische Konstruktion sei aber auch da nicht romantisch (ebd.) – auch wenn sie ebenso wie die geschichtliche und die psychologische Konstruktion, romantisiert werde, „weil man sich nicht von der Vorstellung befreien kann, alles, was einen Romantiker interessiert und zu romantischer Produktivität reizt, selber auch in der Sache für romantisch zu halten (PR 108).

Im Romantischen diene eben alles, selbst die beiden neuen Realitäten, die Demiurgen der Gesellschaft und der Geschichte, Weltall und Menschheit, nur der Produktion des romantischen Ich, selbst der Umgang mit der Natur sei dem Romantiker nur Umgang mit sich selbst (PR 110).536 So zerstiebt die Realität zu einer nur mehr substanzlosen punktualisierten Wirklichkeit und jeder Punkt wird zum Anknüpfungspunkt für einen Roman (PR 109). Das Ergebnis ist eine „romantische Anarchie“, es „kann jeder sich seine Welt gestalten“ (PR 112).537 In einer frei gestaltbaren eigenen Welt aber – Schmitt demonstriert dies an Novalis – wird alles beliebig und jeder ist austauschbar: „In einer allgemeinen Vertauschung und Vermengung der Begriffe, einer ungeheuerlichen Promiskuität der Worte, wird alles erklärlich und unerklärlich,

536 „Was man als romantischen Rationalismus und Intellektualismus empfunden hat, ist diese ironische Entwicklung der Welt in eine phantastische Konstruktion. Dadurch wurden auch die beiden neuen Realitäten – Menschheit und Geschichte – zu Figuren, die man handhaben konnte (PR 109). 537 Siehe a. Motschenbacher (2000, S. 43).

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identisch und gegensätzlich, und kann allem alles unterschoben werden“ (PR 113).

Aber Welt oder Universum ist dies nicht, „sondern nur noch eine kleine Kunstfigur. Der Wille zur Realität endet im Willen zum Schein“ (ebd.). Die Romantiker hatten nach der Wirklichkeit der ganzen Welt gegriffen und erhielten stattdessen „einen beseelten, d.h. subjektivierten ludus globi“ (ebd.). Schmitt erinnern sie manchmal an die Verdammten in Swedenborgs Hölle: „sie sitzen in einer engen Tonne, sehen über sich wunderbare Figuren, die sie für die Welt halten, und glauben, sie hätten diese Welt zu regieren“ (PR 114).

5. Die occasionalistische Struktur der Romantik. Die Realität, die sich jeden Tag faktisch erwies, verbleibt nun als eine irrationale Größe im Dunkeln, das ontologische Denken gab es nicht mehr (PR 115). Im ganzen von der Romantik beeinflussten Jahrhundert über den Unterschied von Optimismus und Pessimismus hinweg macht Schmitt eine ganz eigene Stimmung aus, die Angst des einzelnen Individuums, sein Gefühl betrogen zu sein: „Wir sind hilflos in der Hand einer Macht, die mit uns spielt“, „einer unsichtbaren Macht freier Subjektivität“ (PR 115). In diese „Phantasien über die Macht geheimer Bünde“ mische sich, so Schmitt, ein rationalistischer Glaube an die bewusste Herrschaft des Menschen über die Geschichte – für den Romantiker „ein Thema für seinen intriganten und ironischen Realitätsdrang: die Freude an geheimer, verantwortungsloser und spielerischer Macht über die Menschen“ (PR 116).538

Hegel hatte dem sich fragenden Menschen – „Wer ist das seltsame Ich, das so mit mir herumzankt (PR 116)?“ – seinen Platz bereits zugewiesen: „der einzelne Mensch ist ein Instrument der im dialektischen Prozeß sich entwickelnden Vernunft. Über der nur vermeintlichen Freiheit des einzelnen Menschen schwebt eine unbewußte höhere Notwendigkeit (…)“ und un-

538 Siehe auch Safranski (2015, S. 53 ff.). Schmitt nennt Ludwig Tiecks zehn Bücher umfassenden Briefroman „Die Geschichte des Herrn William Lovell“. Lovell – vermeintlich seine Umgebung mit ironischer Überlegenheit beherrschend – muss erkennen, dass er selbst durch die Ironie des Andrea beherrscht wurde, der sich wiederum selbst fragt, wessen Werkzeug er eigentlich sei.

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willkürlich realisiert sich die Geschichte (PR 116/117). Die Völker sind nur Instrumente des Weltgeistes, der Einzelne nur Opfer dieser „List der Vernunft“ (PR 117).539 So zitiert Schmitt Arthur Schopenhauer: ihm ist „das Leben ein fortgesetzter Betrug“ (ebd.). Für Burke, de Maistre und de Bonald liegt der „Grund“540 allen politischen Geschehens in einer überindividuellen Macht und äußert sich in Abscheu „vor den künstlichen, von einem findigen Individuum berechneten Verfassungen, vor den Konstitutionsfabrikanten und den politischen Geometern“ (PR 119).

Die Romantiker kombinierten diesen Gedankengang mit ihrer subjektivistischen Weltkonstruktion und „empfanden sich gern als Glieder eines höheren Organismus“ (ebd.), die tanzen, essen, sprechen, arbeiten, sich hören, sehen, fühlen usw., weil all das bereits Funktionen der Wirksamkeit eines „höheren, zusammengesetzten Menschen, des Genius“ seien (Novalis): „Wie in dem Zwiespalt von Wirklichkeit und Möglichkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit die Gemeinschaft und die Geschichte Funktionen wahrgenommen hatten, die in der christlichen Metaphysik Gott zustanden, so wurden sie hier zur wahren Ursache, für welche alles nur ein Anlaß ist.

Doch es waren nicht die beiden Demiurgen, sondern das romantische Subjekt selbst, das absolute Ich Fichtes, das alles zum Anlass nimmt und zum romantischen Subjekt wurde. „Die Welt, das ‚Nicht-Ich‘, wird bei Fichte zur Materie, die verarbeitet werden muß“ und in „absoluter Kausalität und absoluter Aktivität“ umzugestalten ist (PR 120). Dadurch begibt sich dieses Eingreifen in die Materie allerdings in die äußere Realität der Kausalzusammenhänge, in der für Ursache und Wirkung ein adäquater Zusammenhang gefordert ist: „Hier liegt allerdings der entscheidende Punkt. Wenn nämlich etwas die Romantik total definiert, so ist es der Mangel jeglicher Beziehung zu einer causa“ (ebd.)541.

539 Im Marxismus sind die Menschen und Klassen gleichzeitig Werkzeug und Wirkung des Produktionsprozesses (PR 117). 540 „Grund“, erläutert Schmitt, bedeute bei ihnen sowohl die kausale Erklärung als auch die normative Rechtfertigung, die Legitimierung“ (PR 119). 541 Herv. im Original.

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Sie wehrt sich gegen die absolute Kausalität von Ursache und Wirkung, sie wehrt sich auch gegen den organischen Zusammenhang von Reiz und Wirkung. Das Verhältnis von occasio und Wirkung aber ist „absolut inadäquat“ (ebd.) – „völlig inkommensurabel, jeder Sachlichkeit sich entziehen, a-rational, die Relation des Phantastischen“ (PR 121). Wie, fragt sich Schmitt, ist es dieser Relation möglich, die Welt umzugestalten? – Und antwortet, durch „Poetisierung“ (ebd.). d.h. indem Phantasien produziert werden (PR 122) und auf ein adäquates Verhältnis zur äußeren Realität bewusst verzichtet wird (PR 123). Für Schmitt liefert Novalis in seinem Fragment (Nr. 66) „die eigentliche Formel des Romantischen“: „Alle Zufälle unseres Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen, alles ist erstes Glied in einer unendlichen Reihe, (…) Anfang eines unendlichen Romans“ (PR 121).

Wird aber jedes Gespräch, jede interessante Begegnung, jede sensuelle Wahrnehmung zum möglichen Anlass eines Romans, kommt es auch im Romantischen zu einer Umgestaltung der Welt: „So erklären sich die scheinbar verwickelten romantischen Phänomene: Fichtes absolutes Ich, ins Gefühlsmäßig-Ästhetizistische umgebogen, ergibt eine nicht durch Aktivität, sondern in Stimmung und Phantasie veränderte Welt“ (PR 122).

Die Romantik produziert also Phantasien. Soll ihr Wesen erkannt werden, muss vom romantisierenden Subjekt ausgegangen werden. Das Objekt, „das gegebene Faktum“, ist nur „Gegenstand ästhetisch-gefühlmäßigen Interesses, an dem der „romantische Enthusiasmus sich entzündet“, aber so sehr im Subjektiven liegt, dass von „Objekt oder Gegenstand nicht mehr gesprochen werden kann“ (s. PR 122): „Das Objekt ist substanzlos, wesenlos, funktionslos, ein konkreter Punkt, um den das romantische Phantasiespiel schwebt. (…) Daher fehlt jede Möglichkeit, ein romantisches Objekt klar vom andern – (…) – zu unterscheiden, weil eben nicht Objekte, sondern nur noch occasiones vorhanden sind“ (PR 123)542.

Auf eine tief gehende Betrachtung der philosophischen Entwicklung bzw. Probleme des Occasionalismus verzichtend halten wir nur Folgendes fest: Der Begriff der occasio entstammt den Systemen des philosophischen Oc-

542 Herv. im Original.

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casionalismus bei de Cordemoy, Geulinex und Malbranche. Die occasio, als ein neuer, besonderer Typus metaphysischer Haltung steht dabei im Gegensatz zum Begriff der causa. Bei den genannten Philosophen wurde der Gott der christlichen Metaphysik beibehalten (s. PR 123 f.). Die Welt war so zwar Anlass, „aber ein Anlaß für Gott, in welchem sich Ordnung und Gesetz wiederfinden“ (PR 124). „Das Problem der wahren Ursache ist das Ausgangsproblem des Occasionalismus“, der in Gott die wahre Ursache für alle psychischen und physischen Vorgänge dieser Welt fand. „In Wahrheit handelt nicht der Mensch, sondern Gott“ (PR 125). Schreibt der Mensch, führe Gott die Feder, war ein beliebtes Beispiel für diese These. Das Entscheidende aber liegt, wie wir bereits im Vorwort der RomantikAusgabe von 1925 ausgeführt haben, in der strukturellen Besonderheit des Occasionalismus, der einen Dualismus nicht erklärt, sondern bestehen lässt, ihn aber illusioniert, „indem er in ein umfassendes Drittes ausweicht. (…) Das Interesse gleitet einfach vom dualistischen Ausgang in eine allgemeinere ‚höhere‘ und ‚wahre‘ Einheit“ (PR 126/127).

Der Gott-Gläubige werde diese Beziehung als höchst „organisch“ empfinden, denn im Wesentlichen, in Gott, gebe es keinen Dualismus. Der Gott im System des Occasionalismus „hat wesentlich diese Funktion, wahre Realität zu sein, in welcher der Gegensatz von Leib und Seele ins Wesenlose verschwindet“ (PR 127).

Sobald aber, wie bei den Romantikern, der „Organismus“ die Gegensätze nicht nur polarisiert, hebt ein „höheres Drittes“ die Gegensätze auf, indem die Gegensätzlichkeiten „im ‚höheren Dritten‘ verschwinden, und der Gegensatz zum Anlaß dieses ‚höheren Dritten‘ wird“, so wie der Gegensatz der Geschlechter im „Gesamtmenschen“ aufgehoben ist (ebd.) „Das, was die Kraft hat, den Gegensatz als Anlaß seiner höheren, alleinigen Wirksamkeit zu benutzen, ist die wahre und höhere Realität“ (ebd.).

Auch für Adam Müller treffe dies zu. Er begann, so Schmitt, mit einer Lehre vom Gegensatz, die eine absolute Identität ausdrücklich ablehnt und als letztes Prinzip den Gegensatz – eine Art „antithetische Synthesis“ – proklamierte: „jedes Ding ist nichts anderes als sein Gegensatz“ (PR 127/28). Eine Überwindung des Gegensatzes könne aber nur durch ein Höheres, die „Idee“, gelingen (PR 128), alles werde bei Romantikern dadurch erklärt, „daß die konkrete Gegensätzlichkeit und Mannigfaltigkeit

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derart im Höheren aufgeht“ (PR 129). Dieses Höhere könne die Gemeinschaft sein, dann werde aber auch alles in „Geselligkeit“ gedacht. Das höhere Dritte ist dem Romantiker die wahre Realität, in der sich alle Gegensätze aufheben. Augenscheinlich wird diese Struktur des romantischen Geistes, wenn Romantiker wie Friedrich Schlegel zum Gott der christlichen Metaphysik und damit der katholischen Kirche zurückfinden (nachst. s. PR 129 ff.).543 Das Dilemma des Katholiken Schlegel war die Beziehung von Natur und Mensch: „entweder vernichtet der Mensch (der Geist) die Natur (die Körperlichkeit), oder die Natur vernichtet den Menschen; (…)Die Rettung geschieht unmittelbar durch Gott“ (PR 129/130).

Müller folgt Schlegels Philosophie und gelangt so zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der Staatswissenschaft: „der Mensch kann keinen Schritt tun, ohne daß sich eine Kluft öffnet, auch der ewige Widerstreit zwischen Legitimismus und Liberalismus kann daher nur durch das Eingreifen Gottes geschlichtet werden. Gott allein bewegt die Geschichte“ (PR 130).

Mit diesem Ansatz wehrte Müller u.a. den Freiheitsanspruch der Völker ab. Sie beriefen sich auf die unzähligen Opfer, die sie in den Freiheitskriegen mit Napoleon hatten erbringen müssen. Diesem Argument hielt Müller entgegen, der Sieg über Napoleon sei nur auf das Wirken Gottes, nicht aber auf Menschenwerk zurückzuführen. Folglich waren für Müller politische Forderungen aus diesen Ereignissen nicht abzuleiten:544 „Immer kam es (…) darauf an, daß die Gegensätzlichkeit konkreten Geschehens die allein wahre Wirksamkeit der allein wahren Realität auslöst“ (PR 131).

Zur romantischen Situation gehört es, nach Schmitt, sich mehrerer Realitäten – „Ich, Volk, Staat, Geschichte“ – zu bedienen, was aber verwirrend die einfache Struktur des Wesens der Romantik verdeckt, weil die „wahren Ursachen“ durcheinander spielen und so

543 Motschenbacher (2000, S. 45). 544 „Früher, als er noch unter dem Einfluß der Naturphilosophie stand, hätte er gesagt, sie wären das Werk der nationalen ‚Lebenskraft‘, die in dem Gegensatz von Fürst und Volk allein produziere (…) oder das Ergebnis organischen geschichtlichen Wachstums, weil so große Dinge überhaupt nicht von Menschen ‚gemacht‘ werden könnten“ (PR 131).

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„das Andere und Fremde mit dem Wahren und Höherem Eins wird. Erst damit ist die Romantik vollendet“(PR 131).

Die Frage nach der wahren Ursache tangierte den Romantiker solange nicht, als er selbst der Schöpfer in seiner eigenen Welt war (ebd.). Die Situation des Romantikers stützt sich nun darauf, sich die Identifikation mit dem Weltschöpfer zwar vorzubehalten, „ohne sie jedoch auszuhalten, weil das eben vom einzelnen empirischen Subjekt aus, eine phantastische Unmöglichkeit ist (PR 132).545

Konsequenz war, dass die Romantiker von einer Realität zur anderen glitten, „vom Ich zum Volk, zur ‚Idee‘, zum Staat, zur Geschichte, zur Kirche, immer, solange sie Romantiker blieben, die eine Realität gegen die andere ausspielend, niemals sich entscheidend in diesem Intrigenspiel der Realitäten“ (ebd.).

Die Realität des Romantikers steht immer im Gegensatz zu einer anderen, das Wahre, Echte bedeutet Ablehnung des Wirklichen und Gegenwärtigen, wird zum anderen schlechthin, und die Worte, die sie gebrauchten, „waren substanzlos, weil sie immer nur von sich selbst, nicht von den Gegenständen sprachen“ (ebd.). Den Traum vom Weltschöpfer aufgebend, fühlte der Romantiker sich nunmehr „als Objekt der Ironie zahlreicher wahrer Realitäten“, (…) die ihn „ironisch durcheinander spielten“ (PR 133). Man möchte meinen, merkt Schmitt an, ein solcher Zustand würde einen Menschen geistig wie physisch vernichten: „Statt dessen endete die Romantik als Gesamtphänomen im Biedermeier, vielleicht kein schimpfliches, aber auch kein tragisches Ende. Die revolutionäre Zerrissenheit wurde zur Idylle, der Bourgeois schwärmte von der Romantik und sah in ihr sein Kunstideal und seine Erholung.“ (PR 133).

Damit, so Schmitt, war der Kreislauf der Gegensätze von Revolution zu Idylle geschlossen, war „der ironische Romantiker das Opfer einer bösen Ironie geworden. (…) Es war die Erfüllung der Romantik“ (PR 134): „Mit Satiren gegen die Philister hatte die Romantik begonnen, (…). Der Romantiker haßte den Philister. Aber es stellte sich heraus, daß der Philister den Romantiker liebte, und in einem solchen Verhältnis war die Überlegenheit offenbar auf der Seite des Philisters“ (PR 134).546

545 Man unterschied das „wahre Ich“ und das „empirische Ich“ (s. PR 132). 546 Das Problem des Occasionalismus ist nicht nur metaphysischer, sondern ebenso sehr ethischer Natur, weil es die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen, d.h. nach dem Grad und dem Inhalt seiner Aktivität, aufwirft: „worin besteht die

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Die Besonderheit des romantischen Occasionalismus liegt für Schmitt also in der Subjektivierung Gottes, des Hauptfaktors des occasionalistischen Systems (PR 140 f.). Das vereinzelte, isolierte und emanzipierte Individuum mit seiner Illusion, Gott zu sein, beanspruchte immer, dass allein sein Erlebtes von Interesse sei. Bestand könne dieser Anspruch aber nur in einer geregelten Gesellschaftsordnung haben. Deshalb gelte: „Die Romantik ist psychologisch und historisch ein Produkt bürgerlicher Sekurität“ (PR 141; s. nachst. ebd.). Verkennen konnte das nur, wer romantisierte Objekte fälschlich wieder zur Romantik selbst zählte: Ein Raubritter könne zwar eine romantische Figur sein, aber er ist doch kein Romantiker: „Nur das romantisierende Subjekt und seine Tätigkeit sind für die Begriffsbestimmung von Bedeutung“ (ebd.). Dass nun das geniale Subjekt Gott entthronte war zwar eine Revolution, „aber da der Romantiker Occasionalist blieb, nur eine ‚geistige‘, d.h. in Wahrheit ästhetische. (…) Die Möglichkeit einer wirklichen politischen Revolution, an der er persönlich beteiligt sein könnte, ist ihm nicht in den Sinn gekommen. Mochte seine Phraseologie revolutionär oder reaktionär sein, kriegerisch oder pazifistisch, heidnisch oder christlich, niemals war er entschlossen, die Welt seines stimmungsmäßigen Erlebens zu verlassen und an dem, was sich in der gewöhnlichen Wirklichkeit ereignete, etwas zu ändern“ (PR 141/142).

Wie kann aber eine in Eigenstimmungen schwelgende Romantik zu einer Bewertung der realen Ereignisse in einer gewöhnlichen Welt kommen (PR 142)? Weil, so Schmitt, der Romantiker der historischen Entwicklung nur mit „Begleitaffekten“ folgt, weil Zustimmung oder Ablehnung nur als eine lust- oder unlustbetonende Antithese auf einen Reiz hin zu werten sind und nicht als eine aktive Parteinahme, die in die Außenwelt eingreifen will: „Der Romantiker will nichts tun als erleben und sein Erlebnis stimmungsvoll umschreiben“ (PR 143).547 Dem Subjekt, auf sein Erleben beschränkt, verbleiben gleichwohl sein Geltungsbedürfnis und sein Wille zur Produktivität (vgl. PR 146; nachst. PR 146 f.). Der Weg zu diesem Ziel ist die künstlerische Ausgestaltung seines Erlebnisses, für Schmitt, der psychische Sachverhalt, der einem ansonsten nur ästhetischen Interesse zugrunde liege, werde doch das kunst-

Tätigkeit des Menschen? Nach der Ethik occasionalistischer Systeme nur in einer Gemütsbewegung“ (PR 134 f.). Wir vertiefen dies nicht weiter (s. dazu PR 135 ff.). 547 Näher dazu s. PR 143-146.

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schaffende, geniale Subjekt mit dem christlichen Schöpfergott identifiziert. Eine Aufgabe der occasionalistischen Grundstruktur war damit nicht verbunden, wenn sie auch von der Ethik des historischen Occasionalismus abwich. Blieb bei Malebranche Gott der absolute Faktor, konnte der dem subjektiven Occasionalismus verhaftete Romantiker „nur in höchstem Drang urteilen. (…) Die einzige Produktivität, die das Subjekt in dieser Situation entwickeln kann, ist ästhetischer Art“ (PR 147). Im Kunstwerk ist dann auch die gewöhnliche Realität der Kausalzusammenhänge außer Kraft gesetzt (ebd.).548 Die Fragen von Romantik und Ästhetik verlassend wendet sich Schmitt erneut Friedrich Schlegel und Adam Müller zu. Auch sie suchten ihre Produktivität aus dem Widerhall fremder Aktivität zu gewinnen (PR 149). Schmitts Verdikt ist gnadenlos, polemisch und partiell sicher auch ungerecht:549 „Sozial und geistig ohne jeden Halt, unterlagen sie jedem starken Komplex, der in ihrer Nähe mit dem Anspruch auftrat, als wahre Realität genommen zu werden. Sie konnten sich daher, ohne ein moralisches Bedenken, ohne ein anderes Verantwortungsgefühl als das eines diensteifrigen, servilen Funktionärs, für jedes politische System benutzen lassen, wie man das an Adam Müllers administrativer Tätigkeit feststellen kann“ (PR 149/150).

Selbst eine künstlerische Gestaltung im eigentlichen Sinne spricht Schmitt ihnen ab. Während sie als Occasionalisten zustimmen oder ablehnend begleiteten, versuchten sie als Romantiker „gerade darin die Produktivität des genialen Subjekts zu erreichen“ (PR 150). Und wieder verstärkt Schmitt seine Kritik durch einen Vergleich mit den „großen Occasionalisten“,550 deren wahre und auch private Standhaftigkeit in der Festigkeit ihres Gottesbegriffes gefunden ist. Die zwei Romantiker Schlegel und Müller hingegen unterlegten ihren Affekt mit intellektuellem Material aus Philosophie, Rechtswissenschaft, Historie und Literatur, was zu romantischen Mischprodukten geführt habe. Für kurze Zeit erscheinen diese als von einem ungeheuren geistigen und intellektuellen Reichtum getragen – und sind in Wahrheit doch, so lesen wir Schmitt, nur intellektuelle Hochstapelei.

548 Auf Schmitts Ausführungen zur Beziehung von Romantik und Musik gehen wir nicht ein. 549 Siehe nur Mehring (2017, S. 72 ff.). 550 Malebranche und Geulineux.

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„Das Ganze ist eine räsonnierende (!) Resonanz, in der Worte und Argumente zu einer lyrischen Staatsphilosophie, einer poetischen Finanzwissenschaft, einer musikalischen Agronomik verschmelzen, alles determiniert durch den Zweck, den großen Eindruck, der den Romantiker bewegt, nicht zu artikulieren, sondern in einem Ausdruck zu umschreiben, der einen entsprechend großen Eindruck macht“ (PR 151).

6. Politische Romantik. Im Jahr 1796 liegen für Carl Schmitt – fernab jeder Tagespolitik – alle prinzipiellen Argumente offen, die gegen die Französische Revolution vorgebracht worden waren. Burke (1790), Rehberg (1790 bis 1793), Gentz (1793), Bonald (1796), de Maistre (1796) einte in ihren Analysen die Ablehnung der Vorstellung, dass Staat, Recht und insbesondere Verfassungen aus der planmäßigen Tätigkeit einzelner Menschen geschaffen werden können (vgl. PR 153; nachst. PR 153 ff.): „Alle wichtigen staatlichen Institutionen, namentlich die während der Französischen Revolution so oft geänderten Verfassungen, sollen sich im Lauf der Zeit von selbst aus der Lage der Verhältnisse, aus der Natur der Sache, ergeben, deren vernünftiger Ausdruck, nicht aber Urheber sie sind“ (PR 153/154).

Die genannten Autoren eint die Überzeugung, dass Nation und Gemeinschaft nicht durch rationales und doktrinäres „Machen“, sondern nur in langen Zeiträumen entstehen können. (PR 154) Menschliches Wirken halte auf und störe nur den natürlichen Lauf der Dinge. In Deutschland hingegen glaubte man 1796 noch an die Revolution und an die Vorstellung eines vom Einzelnen ausgehenden rationalen Naturrechts.551 Das Recht und der Staat erklärten sich aus dem Zusammenleben der Menschen, „aus der Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung, die sich ergibt, wenn freie und selbständige Wesen zusammenleben wollen (…)“ (PR 155).

Vor allem aber seien Recht und Staat „etwas bewußt zu Machendes“ (PR 155). Auch bei Fichte konstituierten im Jahr 1793 die Einzelnen den Staat, „der ihnen erst nach dieser Konstituierung als eine selbständige Einheit, wie Rousseau sagt, „moi“ entgegentritt“ (PR 155).552. So habe Fichte –

551 Zu den Veröffentlichungen der Genannten siehe (PR 155 f.). 552 Herv. im Original.

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unbeschadet zahlreicher Widersprüche – an der naturrechtlichen Begründung des Staates durch Vertrag festgehalten (PR 156). In den folgenden Jahren, bemerkt Schmitt, „schien ein Strom neuen Lebens durch Deutschland zu gehen“.553 Ein erhabener Geist der Schönheit und der Liebe hielt Einzug in die geistige Welt der Zeit, „der die Gerechtigkeit der Pflichtlinge die Unmenschlichkeit des jüdischen Gottesglaubens und alles ‚Mechanische‘ überwindet“ (ebd.). Schleiermacher und Schlegel treten der juristischen Ethik Kants und der Herabwürdigung des Staates zum notwendigen Übel, zum bloßen „Maschinenwerk“, entgegen. Sei dies auch noch keine neue Staatsphilosophie gewesen, kam es doch der Französischen Revolution zugute, die als ein ungeheures Ereignis bewundert worden sei. Eine neue Staatstheorie wurde als Aufriss zunächst nur von Schelling theoretisiert (nachst. vgl. PR 157). Dieser hatte – wie Fichte – die ganze Rechtslehre als Mechanik aufgefasst, in der freie Wesen in Wechselwirkung agierten. Unter dem Einfluss Hegels und in Abkehr von Fichte fasste er 1803 den wahren Staat554 als einen Organismus, wobei er den kantschen Naturrechtlern vorwarf, dass sie einen Staat kreieren wollten, aber nur einen endlosen Mechanismus geschaffen hätten. 1804 räumt er auch diese Position. Der Staat sei ihm nunmehr etwas Seiendes, ein „Kunstwerk“, ein „geistiger Weltkörper“, „in dem Wissenschaft, Religion und Kunst sich zu einem einheitlichen, geistigen Organismus durchdringen“ (PR 157). Hatte die Romantik an Schellings Staatsidee, ihre „liebeleere Weisheit“ kritisiert,555 ernannte zu gleicher Zeit Schlegel „Liebe und Treue“ zu den elementaren Stützen staatlichen Lebens (vgl. PR 158; nachst. vgl. PR 158 f.). Auf dieses gefühlsmäßige Diffusum sollte sich eine vier-ständische Monarchie stützen können, wie sie ähnlich Schelling, Hegel und Jo-

553 1797 erschien Hölderlins „Hyperion“, 1798 Novalis „Glaube und Liebe“ und „Europa und die Christenheit (s. PR 156). 554 Der wahre Staat im Gegensatz zum „privatrechtlichen“ wandelt alles Private in öffentliches Recht, „den objektiven Organismus der Freiheit, die ‚Naturseite der Kirche‘“ (PR 157). Schmitt bietet eine etwas eigenwillige Analyse des Schelling‘schen Staatsverständnisses. Zutreffend scheint zu sein, dass Schelling den Staat nur als Funktionalität bejaht, der existiert, solange er Mittel zur Freiheit der Individuen ist (Schmiljun/Thiel 2017, S. 48). Aber Schelling bietet Interpretationsspielraum: „Kritik am Staat und der Ruf nach dem Staat stehen bei Schelling, so scheint es, unvermittelt nebeneinander“ (ebd. S. 54). 555 Schleiermacher, zit. in (PR 158).

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hann Jacob Wagner diskutiert hatten. Bei Fichte findet sich gar die Kombination feudaler und wirtschaftssozialistischer Elemente. Auch in Müllers Staatskomposition finden sich gefühlsmäßige Tönungen, wenn er den Staat als Idee gegen den Staat als Mechanismus definiert. Im Ergebnis sollen Schellings „‘Organismus‘, „der schon seiner Idee nach Leben ist, aber noch nicht gefühlvolles Leben“, „die Gefühle von Liebe und Treue eingehaucht werden“ (PR 159), ausgebildet in einer halb feudalen, halb ständischen Monarchie (ebd.). 1799 lernt Schlegel Burke kennen, seine Revolutionsbegeisterung schwindet und die Wende zur feudal-konservativen Staatstheorie nimmt ihren Anfang. Ab 1810 rezipiert Müller die traditionalistischen Schriften de Bonalds, verwirft die Naturphilosophie als atheistischen Schwindel und übernimmt de Bonalds Traditionalismus, in den er später noch Ansätze von Hallers und de Maistres Staatsphilosophie einfließen lässt, denen selbst aber das Gefühlsmoment wenig bedeutendes Beiwerk war (s. ebd.). In den Zeiten der Restauration zeigt sich die Romantik dann als noch flexibler, denn es wird ihr sogar „Metternichs zentralistischer Polizeistaat organisch, dauernd, erhaltend, fest, friedlich und legitim“ (PR 160). Die Fähigkeit der Romantik sich mit den verschiedensten politischen Ideen und philosophischen Positionen arrangieren zu können, beweist für Schmitt, dass sie in Zeiten der Revolution revolutionär und in Zeiten der Restauration konservativ, ja reaktionär, auftreten konnte: „Diese Wandelbarkeit des politischen Inhalts ist nicht zufällig, sondern eine Folge der occasionellen Haltung und tief im Wesen des Romantischen begründet, dessen Kern Passivität ist“ (ebd.).

Scheine es nahezuliegen, die Ablehnung des bewussten Machens oder dem Quietismus einer Legitimitätstheorie mit der politischen Passivität des Romantischen zu identifizieren, bleibe jedoch ein gravierender Unterschied: Alle „Begründer der gegenrevolutionären Theorie, Burke, Maistre und Bonald, waren aktive Politiker mit eigener Verantwortung“, die sich nicht über den politischen Kampf erhaben fühlten, „sondern es als Verpflichtung ansahen, „für das, was sie als Recht betrachteten, sich zu entscheiden“ (PR 161). Die organische Passivität des subjektiven Occasionalismus von etwaigen hemmenden Widrigkeiten zu unterscheiden, denen ein Staatsmann in der Praxis ausgesetzt ist, hält Schmitt für unproblematisch: „Das Kriterium liegt darin, ob die Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht sich zu entscheiden, vorhanden ist oder nicht. Sie ist das Prinzip jeder politi-

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schen Energie, der revolutionären, die sich auf das Natur- oder Menschheitsrecht, wie der konservativen, die sich auf das historische Recht beruft“ (PR 161).556

Die organische Staatsauffassung des Romantischen beruht Schmitt zufolge auf ihrer Unfähigkeit zu normativer Bewertung (PR 162). Sie sucht den über Recht und Unrecht erhabenen Staat, d.h. einen Anknüpfungspunkt für Gefühle, „der zugleich die Projektion des romantischen Subjekts ins Politische ist. Die Wurzel der romantischen Erhabenheit ist die Unfähigkeit, sich zu entscheiden, das ‚höhere Dritte‘, von dem sie immer sprechen, nicht ein höheres, sondern ein anderes Drittes, d.h. immer der Ausweg vor dem Entweder-Oder“ (PR 162).

Selbst Schlegel, der in seinem Essay Signatur des Zeitalters (1820) unter dem Beifall Schmitts der Frühromantik gesellschaftskritisch „Unwahrheit und Phrasenhaftigkeit“ vorwirft (ebd.), ist im Kern aber trotzdem romantisch, ansonsten „bis zur Banalität unoriginell“ (PR 163) – im Gegensatz zu einem de Bonald, der in Frankreich während der Restauration als Führer der Ultras politisch aktiv war. Schlegels Ansichten und Ideale entsprächen zwar denen de Bonalds, aber der gesellschaftlich-politischen Entwicklung wollte Schlegel „in teilnehmendem Mitdenken folgen“, das Zeitalter nur intellektuell erklären und erörtern, keineswegs aber in wissenschaftlicher Neutralität (s. PR 165): „Politische Leidenschaft, politische Polemik sind für ihn etwas Unchristliches, der ‚Ultrageist‘ ist böse wie jeder Parteigeist, ein Christ darf keiner Partei angehören, und gar eine katholische Partei zu bilden, wäre eine ‚frevelhafte Entweihung des Katholizismus“ (PR 165/166).

Schmitt fragt und antwortet zugleich: „Was sollen wir also tun? Eiverstanden sein mit dem, was die Regierung tut. Darin besteht unsere Aktivität, im consentement“ (PR 167).

Im Gegensatz zu den politischen Parteien, ist die Regierung das höhere, umfassende Dritte, vor ihrer Kraft sollten die Parteien verschwinden, so wie die Kraft Napoleons sie zermalmt habe. Ein Widerstandsrecht gegen die Obrigkeit gebe es bei de Bonald nicht. Schlegel müsse ob des Grundsatzes, man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen, einen berechtigten Widerstand zulassen, ob die Voraussetzungen dafür vorlägen, könne 556 In Der Begriff des Politischen ist dies später die Fähigkeit, zwischen Freund und Feind zu unterschieden.

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aber nur die Kirche entscheiden. Im Ergebnis gelte für die Kirche das Gleiche wie für den Einzelnen: „sie soll nicht „wirken wollen‘, sondern im Rhythmus des gesetzmäßigen Geschehens schwingen. Geschichte, Entwicklung, schließlich die Vorsehung Gottes sind die Instanzen, denen auch die Regierung alle wirkliche Tätigkeit überlassen muß“ (PR 168).

So formiert sich für Schmitt in der Romantik lediglich ein Verschiebebahnhof der Verantwortlichkeiten: „Geschichte, Entwicklung, schließlich die Vorsehung Gottes sind Instanzen, denen auch die Regierung alle wirkliche Tätigkeit überlassen muss. – So wird alle Aktivität von einem zum andern geschoben. Vom Einzelnen zur Regierung, von der Regierung zu Gott, und bei Gott ist Vorsehung und Gesetzmäßigkeit“ (PR 168/69).

Gleich, wie nun am Ende das letzte und umfassende Element in dieser Reihe lautet, alle Aktivitäten des Menschen verharren in seinem „teilnehmenden Mitdenkenden“ (PR 169; nachst. s. PR 169 f.), ein Eingriff in den staatlichen Prozess ist verpönt. Die Bewertung eines Staates als „böse“ oder „gut“ durch den Romantiker dürfe deshalb nicht als eine moralische Entscheidung aufgefasst werden, wie dies bei jedem der Fall sei, der von „gut“ und „böse“ in moralischem Sinne spricht und Recht von Unrecht unterscheidet. So hätten Burke, de Maistre und de Bonald, die gegen die Französische Revolution Partei ergriffen, weil sie Unrecht in ihr sahen. Schmitts Gegenbeispiel ist wieder Adam Müller, der 1810 in seinen Vorlesungen die Französische Revolution „als Äußerung unterdrückten und eingespannten Lebens bezeichnet hatte“, später aber offen erklärt habe, „ob sie berechtigt oder unberechtigt gewesen sei, interessiere ihn nicht“ (PR 170): „Konkret bedeutet das: Revolution und Restauration können in gleicher Weise romantisch genommen d.h. zum Anlaß romantischen Interesses gemacht werden, und es ist falsch und irreführend, die Gedanken oder auch nur die Stimmungs- und Gefühlswelt des Legitimismus im besonderen Sinne als ‚politische Romantik‘ zu bezeichnen. Ganz verschiedenartige, entgegengesetzte Vorgänge und Gestalten können vom romantischen Subjekt als Anfang des romantischen Romans betrachtet werden“ (PR 170).

Alles kann also Thema einer Romantisierung sein, aber jedes Thema muss poetisiert worden sein. Vorher wäre es tot, romantisch belanglos, gleich welcher Art seine politische Bedeutung auch sein möge. Ob ein Drama romantischer sein könne als ein anderes, lasse sich, so Schmitt, nicht nach Gesichtspunkten der Legitimität entscheiden (vgl. PR 171). 202

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Jede Beziehung zu einem rechtlichen oder moralischen Urteil wäre demnach disparat, jede Norm erschiene als antiromantische Tyrannei: „Der Romantiker ist deshalb nicht in der Lage, aus bewußtem Entschluß Partei zu ergreifen und sich zu entscheiden“, weil es immer möglich bliebe, auch eine ‚Bestie‘ zu romantisieren. Beim Romantischen handele es sich eben eher um Höheres als um eine Entscheidung. (PR 172; nachst. s. ebd.) Die selbstbewusste Frühromantik, getragen vom absoluten, weltschöpferischen Ich, habe dies noch als Überlegenheit empfunden. Erst als Romantiker wie Schlegel und Müller begannen, sich trotzdem theoretisch und praktisch mit politischen Fragen zu befassen, hätten sie nach Schmitts Befunden „Burke, de Bonald, de Maistre und Haller wiederholten, mit anderen Worten, daß es eine politische Produktivität im Romantischen nicht gibt“. Weshalb sie nunmehr völlige Passivität gepredigt hätten, um unter der Benutzung von mystischen, theologischen und traditionalistischen Vorstellungen mit Metternichs Polizei zu einem romantischen, höheren Dritten zu verschmelzen. „Das also ist der Kern aller politischen Romantik“: der Staat ist ein Kunstwerk, nur eine occasio, die durch den schöpferischen Geist des Romantikers zu einem Artefakt wird (PR 128). Wenn Novalis und Müller das Preußen Friedrichs II. als öde Maschine ansahen, das Preußen Friedrich Wilhelms III., wegen seiner liebreizenden Gattin Luise hingegen als ein wahres Königtum, so zeigt sich dieses – auch Friedrich II. könnte ja romantisiert werden – letztendlich als eine ästhetische, die Realität bewusst ausblendende idyllische Staatsphilosophie.557 Der Staat Adam Müllers in seiner Schrift „Elemente der Staatskunst“ sei ebenfalls „eine Projektion des romantischen Subjekts ins Politische, ein Über-Individuum“, „eine romantische Auftreibung der gesuchten Realität“ (PR 174) und seine Produktivität „ist rein ästhetisch zu werten“ – sofern sie nicht purer Opportunismus ist (PR 175), den Schmitt Müller freilich grundsätzlich unterstellt. „Der Staat war ihm, wie Novalis, die Geliebte, Sofie, die sich in alles verwandeln und in die man alles verwandeln kann (…)“ (PR 175).

Speziell für Müller gelte: „Er kann alles verstehen und beliebig gutheißen, weil ihm alles zum Material seiner ästhetischen Gestaltung werden kann“

557 So bewertet Schmitt auch den berühmten Aufsatz von Novalis „Die Christenheit oder Europa“ in „seinem Inhalt, seiner Stimmung und seinem Tonfall“ als ein Märchen (PR 174).

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(PR 177), ein nachgerade „amoralisches Verständnis für alles und sein Gegenteil“ (PR 176), seine „weltumfassende Toleranz“, vor der Gentz erschrak (ebd.) und die Unfähigkeit des Lehrers vom Gegensatz, „einen anderen Gegenstand als den eines ästhetischen Kontrastes zu sehen“ (PR 177). Wir beenden an dieser Stelle Schmitts Befassung mit Adam Müller, weil er ab jetzt mehr Stil558 und opportunistische Biographie des formidablen Rhetorikers Müllers behandelt, denn dessen Staatsauffassung559. Überhaupt gelte: „Nur als oratorische Leistung darf man Müllers Argumentation beurteilen“ (PR 191), seine „Staatstheorie aber anders als ästhetischstilistisch zu schätzen, ist unmöglich“ (PR 196). 8. Schluss (PR 222-228). Carl Schmitt schließt“: „Wo immer ein ernstes politisches Interesse politischer Romantik begegnet, wird die politische Romantik entweder als willkommenes Mittel politischer Suggestion in den Dienst der Politik gestellt, oder aber es kommt zu moralischen Vorwürfen gegen die innere Verlogenheit des Romantikers“ (PR 222).

Jede politische Aktivität widerspricht zunächst der wesentlich ästhetischen Art des Romantischen. Ein politisch oder moralisch denkender Mensch durchschaue schnell die Vertauschung der Kategorien, und wisse, das romantische Interesse für eine Sache von der Sache selbst zu unterscheiden. Da der konkrete Punkt, der Anlass für einen romantischen Roman ist, immer occasionell sei, könne grundsätzlich alles romantisch werden. In einer solchen Welt lösten sich aber alle politischen und religiösen Unterscheidungen in nebulöser Vieldeutigkeit auf:560 „Hier lässt sich alles mit Allem vertauschen“ (PR 222). Da die romantische Behandlung politischer Figuren bei einem ehrlichen Gegner leicht den Eindruck der Unsachlichkeit begründen könne, seien

558 Mehring (2006, S. 135). Ein Feuerwerk rhetorischer Fabulierkunst Schmitts bietet (PR 176-181). 559 Zu Adam Müller siehe Ottmann (2008, S. 22-28); s. Müller-Schmid (2002, S. 109-138). 560 „Der König ist eine romantische Figur wie der anarchistische Verschwörer, und der Kalif von Bagdad nicht weniger romantisch als der Patriarch von Jerusalem“ 222).

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II. Politische Romantik (1919).

Adam Müller und andere Romantiker als Sophisten benannt worden.561 Genugtuung für den sophistischen Rhetor sei die gelungene Form – die rhetorische Ästhetik – seiner Rede gewesen (s. PR 223). 562 Allein, es fehle bei diesen Sophisten das spezifisch Romantische: „das occasionalistische Ausweichen in ein ‚höheres Drittes‘“ (ebd.). Der entscheidende Widerspruch des Romantischen aber, der besonders in der politischen Romantik den Eindruck von Unwahrhaftigkeit erwecke, sei darin zu sehen, „daß der Romantiker in der organischen Passivität, die zu seiner occasionellen Struktur gehört, produktiv sein will, ohne aktiv zu werden“ (PR 223).

Es bleibe der Kern der politischen Romantik, dass sie wegen ihres subjektivierten Occasionalismus auch sich selbst gegenüber nie zu der Kraft gefunden habe, eine eigene Theorie zu objektivieren (s. PR 223 f.). Vielmehr habe sie ihren Subjektivismus zu einer Art lyrischer oder glossierender Umschreibung des Erlebnisses verwiesen, „[immer aber] „ohne eignen Entschluß, eigne Verantwortung und eigne Gefahr. Politische Aktivität ist so nicht möglich, wohl aber Kritik, die alles diskutieren und ideologisch auftreiben kann, die Revolution so gut wie die Restauration (…)“ (PR 224).

Auch hier sei es die Methodik des Romantischen gewesen, von dem Gebiet, dem der streitige Gegenstand angehört, vom Politischen, in ein Höheres occasionalistisch abzuweichen: „Wo die politische Aktivität beginnt, hört die politische Romantik auf (…)“ (ebd.). Es fehle der Romantik, konstatiert Schmitt, nicht nur der spezifische Zusammenhang mit der – in Deutschland fälschlich als politische Romantik bezeichneten – Restauration, auch mit der Revolution bestehe keine notwendige Beziehung: „Das isolierte, absolute Ich ist über beides erhaben und benutzt beides als Anlaß“ (PR 225). Die anspruchsvolle Expansion des Ästhetischen, die der romantischen Bewegung zugrunde liege, dürfe nicht mit politischer Macht verwechselt werden,

561 Der Begriff der Sophistik sei leeres Schimpfwort. Denn die Verbindung von Subjektivismus und Sensualismus habe alle Gegenständlichkeit aufgehoben und aus der sachlichen Argumentation eine willkürliche Produktivität des Subjekts gemacht (PR 223). 562 „Der Rhetor fühlte kein anders Verpflichtungsgefühl als das, schön zu reden und kannte keine andere Genugtuung als die Freude an der gelungenen, künstlerischen Form seiner Rede“ (PR 223). Romantiker waren die Sophisten für Schmitt gleichwohl nicht, weil sie nicht occasionell in ein höheres Drittes auswichen (vgl. PR 223).

205

Sechstes Kapitel: Politische Romantik.

„ebensowenig das von der politischen Tagespolitik des deutschen Vormärz am meisten bemerkte Akzidentale, den Zusammenhang mit der damals stärksten Macht, der katholischen Restauration, zum Wesensmerkmal machen“ (PR 225/226).

Ein im Subjektiven verbleibender Affekt vermöge keine Gemeinschaft zu begründen, der Rausch der Geselligkeit keine dauernde Verbindung und Ironie und Intrige seien keine sozialen Kristallisationspunkte. Keine Gesellschaft könne eine Ordnung finden, ohne einen Begriff von dem, was normal und was Recht ist. Das Normale ist aber seinem Begriff nach unromantisch, denn jede Norm zerstört die occasionalistische Ungebundenheit des Romantischen. „So löst sich die tumultuarische Buntheit des Romantischen in ihr einfaches Prinzip eines subjektiven Occasionalismus auf, und der geheimnisvolle Widerspruch der verschiedenartigen politischen Richtungen der sogenannten politischen Romantik erklärt sich aus der moralischen Unzulänglichkeit eines Lyrismus, der jeden beliebigen Inhalt zum Anlaß ästhetischen Interesses nehmen kann“ (PR 227).

Jeder politische Ansatz kann romantisiert werden und ist damit politisch gleichwertig, weil er nur ein occasionalistischer Anknüpfungspunkt für die romantische Produktivität des schöpferischen Ichs ist: „Aber im Kern dieser phantastischen Überlegenheit des Subjekts steckt der Verzicht auf jede aktive Änderung der wirklichen Welt, ein Passivismus, der zur Folge hat, daß nunmehr die Romantik selbst als Mittel unromantischer Aktivität benutzt wird. Trotz ihrer subjektiven Überlegenheit ist die Romantik schließlich nur die Begleitung der aktiven Tendenzen ihrer Zeit und ihrer Umgebung (…)“ (ebd.).

Während Rousseaus geschichtliche Bedeutung darin liege, die Begriffe seiner Zeit romantisiert und damit die Revolution begünstigt zu haben, weil sie zu seiner Zeit die siegreiche Strömung seiner Zeit befördert habe, gelte für Deutschland Gegenteiliges: „Die deutsche Romantik romantisierte erst die Revolution, dann die herrschende Restauration und seit 1830 wurde sie wieder revolutionär (PR 227/228).

Carl Schmitts geistesgeschichtliches Interesse wendet sich nunmehr der Staatsphilosophie der Gegenrevolution, der Ideengeschichte des Vormärz und der Staatstheorie der frühen Neuzeit zu.

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Zweiter Teil: Staat, Politik und Theologie.

Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921). I. Der Versailler Frieden. Das erste Halbjahr 1919 forderte von der Weimarer Koalition die Lösung von zwei grundlegenden politischen Projekten: die Schaffung eines Verfassungsentwurfes und die Vorbereitungen für den Abschluss eines Friedensvertrages.1 Wie wichtig der Themenkomplex des Versailler Friedens für Schmitt war, zeigt sich schon daran, dass er eine von ihm zusammengestellte Aufsatzsammlung, die 1940 erschien, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939 benannte. Weltpolitisch siedelte Deutschland 1918 ideologisch zwischen dem westlichen liberalen Demokratiemodell mit der „Weltfriedensordnung“ Wilsons und dem universalistischen Anspruch der kommunistischen Weltrevolution. Allein die Gefahr eines Übergreifens des Bolschewismus in das Zentrum Europas sollte eigentlich eine rationale Handhabung von Waffenstillstand und Friedensvertrag erwarten lassen. Schon bevor am 11. November 1918 das Waffenstillstandabkommen in einem Eisenbahnwaggon in Compiègne unterzeichnet wurde, hatte sich am 9. November der politische Umsturz in Deutschland vollzogen.2 Die neue demokratische Republik als ein künftiges Bollwerk gegen den Bolschewismus versprach, wie man in Deutschland dachte, einen gerechten Frieden.3 Die Ergebnisse aber lassen sich selbst aus heutiger Sicht schwerlich als rational bewerten. Sie siedelten irgendwo zwischen „Bestrafung, Entschädigungs-

1 Wir behandeln die Weimarer Reichsverfassung (WRV) in diesem Text wo immer nötig, insbesondere aber im Kapitel der Darstellung von Carl Schmitts Verfassungslehre (1928). 2 Siehe hier Erster Teil: Die Kriegsjahre 1916-18: Fehlurteile und enttäuschte Hoffnungen. 3 Im Waffenstillstandabkommen vom 11. November war deshalb festgelegt, dass deutsche Truppen einstweilen im Baltikum verbleiben sollten (s. Winkler 2000 Bd. 1, S. 379).

207

Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

zahlungen und Vorbeugung“ – darüber bestand Einigkeit, nicht aber darüber welches dieser Ziele Priorität haben sollte.4 1. Ausgestoßen in Versailles. Seit dem 18. Januar 1919 wurde in Paris über die Bedingungen eines Friedenschlusses verhandelt. An der Konferenz nahmen Delegierte aus 32 Staaten auch außerhalb Europas teil. Deutschland war von den Verhandlungen ausgeschlossen. Dieser Ausschluss war der äußere Ausdruck einer neuen völkerrechtlichen Haltung, die seit dem Westfälischen Frieden im 17. Jahrhundert darauf ausgerichtet gewesen war, den Kriegsverlierer nicht zu diskriminieren und nicht so zu schwächen, dass das Mächtegleichgewicht gefährdet war. Diese Haltung wurde aufgegeben, weil vornehmlich Frankreich Deutschland politisch, militärisch und ökonomisch in der Zukunft schwach sehen wollte. Der zweite Grund ist in Wilsons Ziel einer vermeintlich demokratischen und grundsätzlich friedlichen „one world“ mit dem Völkerbund am der Spitze zu sehen. Diese neue Welt schien nur erreichbar, wenn man das bisherige europäische Völkerecht verabschiedete. Verlauf wie Ausgang der Verhandlungen bestimmten die drei Vertreter der Großmächte: der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der britische Premierminister Lloyd George sowie der Vorsitzende der Konferenz, der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau. Nach monatelangen, heftig und konträr geführten Verhandlungen einigte man sich auf ein detailliertes Vertragswerk, das man der deutschen Delegation – in den Verhandlungen nie angehört – am 7. Mai 1919 in Versailles – befeuert von der Provokation Clemenceaus: „Die Stunde der Abrechnung ist da.“ – übergab. Der deutsche Außenminister BrockdorffRantzau wies in seiner Antwortrede den Vorwurf der deutschen Kriegsschuld entschieden zurück und verwies auf die Regelungen des Waffenstillstandvertrags. Deutschland war nur das Recht eingeräumt worden, innerhalb von vierzehn Tagen schriftlich Stellung zu nehmen.5 Im Inneren wurde das Friedensdiktat von allen Parteien abgelehnt. Am 16. Juni überreicht man der deutschen Delegation die Antwort auf ihre Gegenvorschläge „im Tenor einer geradezu hasserfüllten ‚Mantelnote‘“6. 4 Vgl. Mac Millan (2015, S. 224 f.). 5 Vgl. Kraus (2014, S. 23 ff.). 6 Ebd. S. 26.

208

I. Der Versailler Frieden.

Nach Ablauf von fünf Tagen, so das Ultimatum, werde der Waffenstillstand beendet sein, akzeptiere Deutschland den Vertrag nicht. Das war nichts anderes als die Drohung mit einer Wiederaufnahme des Krieges. Nach dramatisch verlaufenden Kabinettssitzungen trat die deutsche Regierung am 20. Juni 1919 zurück. Die neue Regierung Bauer – getragen nur noch von MSPD, USPD und Zentrum – erhielt mit 237 zu 138 Stimmen die Zustimmung der Nationalversammlung zur Unterzeichnung des „Friedensvertrages von Versailles“.7 2. Der Versailler Friedensvertrag. Der Versailler Vertrag war ein Buch mit ca. 260 Druckseiten und umfasste 440 Artikel, die alles enthielten, „was man aus dem unterlegenen Deutschland aus Anlass dieser überaus günstigen Gelegenheit abpressen wollte“.8 Wir unterteilen mit Kraus in acht Hauptaspekte:9 (1) Der Kriegsschuldartikel 231: Er bildetet die Grundlage, auf der das ganze Werk aufbaute, auch wenn er von den USA und Frankreich unterschiedlich interpretiert wurde und vom vereinbarten Wilsonprogramm abwich. Er wurde in Deutschland allgemein als fundamentale Diskriminierung empfunden. Er lautete: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben“.10

(2) Die Höhe der Reparationszahlungen – vor allem an das stark zerstörte Frankreich – war in Zahlen nicht festgelegt. Die Höhe der „Wiedergutmachung“ sollte bis zum 1. Mai 1921 von einer interalliierten Kommission festgelegt werden. Unabhängig davon sollte das Reich sofort 20 Milliarden Goldmark bezahlen. (3) Gebietsabtretungen: Uneingeschränkt und sofort sollten Elsaß-Lothringen an Frankreich, die überwiegenden Gebiete der ehemals preußi7 Ebd. S. 26 f. 8 Ebd. S. 27; zu den acht Hauptaspekten des Vertrages s. ebd. S. 27-31). 9 Wir gehen an dieser Stelle nicht in Details dieser Hauptaspekte. Wo sie für diese Arbeit notwendig sind, werden sie im Kontext genauer behandelt. 10 Zit. n. Kraus (2014, S. 28 f.).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

schen Provinzen Westpreußen und Posen an das neu entstandene Polen, das Memelland an Litauen, die Stadt Danzig – nominell dem Völkerbund unterstehend – faktisch an Polen sowie sämtliche Kolonialgebiete – zumeist unter britische und französische Kontrolle – abgetreten werden. In weiteren deutschen Grenzgebieten sollten Volksabstimmungen durchgeführt werden (u.a. Oberschlesien und das Saargebiet). Deutschland büßte ein Siebtel seines Territoriums und ein Zehntel seiner Bevölkerung ein. (4) Entwaffnungsbestimmungen: Die entsprechenden Artikel verlangten die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und die Beschränkung auf ein Berufsheer von 100.000 Soldaten. Stärksten Restriktionen wurden allen Waffengattungen auferlegt. Die Ausrüstung des Berufsheers mit Panzern, schweren Geschützen war untersagt, der Bau von U-Booten war gänzlich verboten, die Luftwaffe wurde abgeschafft. (5) Sanktionsbestimmungen: Ein Fehlverhalten Deutschlands konnte mit Einfuhrverboten, mit wirtschaftlichen und finanziellen Zwangsmaßnahmen sowie „überhaupt in allen Maßregeln, die den betreffenden Regierungen durch die Umstände geboten erscheinen können“11 bestraft werden. Bald würde sich zeigen, dass darunter auch die militärische Besetzung deutscher Gebiete verstanden werden konnte – und zwar „für die ganze Laufzeit der Reparationsschuld, also voraussichtlich für viele Jahrzehnte“.12 (6) Auslieferungsartikel: Hierin wurde festgelegt dass sich der frühere Kaiser Wilhelm II. wegen Verletzung der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge vor einem internationalen Gerichtshof verantworten sollte. Später zu benennende deutsche Staatsmänner und Militärangehörige sollten wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden. Die besondere Bedeutung dieser Sanktionsartikel lag darin, dass „hiermit eine ‚schwerwiegende, grundsätzliche Änderung‘ vorgenommen [wurde], die ein ‚Ur-Institut des Rechts, die Amnestie‘ betraf. Bis dahin war die Amnestie immanenter Bestandteil jedes Friedensvertrags gewesen – damit wurde jetzt, im Jahr 1919, ausdrücklich ‚durch Diskriminierung des Besiegten‘ gebrochen“.13

(7) Annullierung der Ostfriedenverträge: Die Verträge des Kaiserreichs mit Sowjetrussland im März und Mai 1918, mit Finnland und Rumä-

11 Teil VIII, Anlage II, §§ 17-18, hier zit. n. Krause (2014, S. 30). 12 Ebd. 13 Ebd. S. 30 f.; innere Zitate aus Schmitt (NE 235).

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I. Der Versailler Frieden.

nien wurden annulliert. Keiner dieser Staaten war am Zustandekommen des Friedenvertrags beteiligt. Für Russland wurde ausdrücklich das Recht vorbehalten, Reparationen von Deutschland auf der Grundlage des Friedenvertrages zu verlangen. (8) Völkerbundakte: Der Zutritt zu dieser Weltorganisation, die die Funktion eines universalen Friedenswächters einnehmen sollte, war Deutschland schon vor Vertragsabschluss verwehrt worden. Bei Wohlverhalten wurde die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Es muss hier nicht weiter ausgeführt werden, wie dieser Vertrag in Deutschland aufgenommen wurde. Ohnmächtige Wut, Hass und grenzenlose Enttäuschung zeigten sich in allen Bevölkerungsschichten und allen Parteiungen. Auf die Philippika des britischen Ökonomen John Maynard Keynes ist gleichwohl einzugehen. Auch für Keynes, der der britischen Delegation als Vertreter des britischen Schatzamtes angehörte, hatte die deutsche Nation die Grundlage eines prosperierenden Europa umgestürzt. Aber er zog andere Konsequenzen, wenn er ausführt: „Doch die Wortführer der französischen und der britischen Nation gehen nun das Risiko ein, das von Deutschland begonnene Werk der Zerstörung zu vollenden – durch einen Frieden, der, sollte er in der vorgesehenen Form in Kraft treten, das komplexe, empfindliche politische System, (…), noch weiter beschädigen würde, anstatt es wiederherzustellen; jenes System, durch das allein die Völker Europas arbeiten und existieren können“.14

Für Keynes hatten bei den Verhandlungen in Versalles zwei alternative Pläne für eine künftige Weltpolitik vorgelegen: der 14-Punkte-Plan des amerikanischen Präsidenten und „der karthagische Friede von Monsieur Clemenceau: Doch war nur der eine wirklich legitim, denn der Feind hatte nicht bedingungslos kapituliert, sondern unter ganz bestimmten Bedingungen, mit welchen der allgemeine Charakter des Friedensschlusses festgelegt wurde“.15

Das war hinsichtlich des Friedensschlusses die deutsche Position, die sich immer auf den wilsonschen Frieden bezogen hatte. Die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages wertete Keynes in seiner furiosen Abhandlung, die an manchen Stellen der polemischen Kraft Schmitts nicht nachstand als schlicht verheerend; er sah sie den ganzen Kontinent auch politisch ruinieren:

14 Keynes (2014, S. 39). 15 Ebd. S. 78.

211

Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

„Keynes prophezeite nichts weniger als ‚einen langen Bürgerkrieg zwischen den Kräften der Reaktion und den verzweifelten Zuckungen der Revolution (…) der, gleichgültig wer Sieger ist, die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation zerstören wird“.16

So ist Keynes furioses Pamphlet eine Kampfansage gegen Versailles und zugleich die frühe Anregung für eine europäische Integration.17 II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921. Am 11. August 1919 unterzeichnete Reichspräsident Friedrich Ebert die Weimarer Verfassung18, die eine parlamentarische Demokratie konstituierte. Die Gesetzgebung lag nunmehr in den Händen des Reichstags, der die Regierung tragen und kontrollieren sollte. Allerdings wurde ihm ein Reichspräsident gegenübergestellt, der den Reichskanzler ernannte und entließ, der den Reichstag auflösen konnte, den Oberbefehl über die Reichswehr innehatte und mittels Referendum direkt den Volkswillen abrufen konnte – „ein dem klassischen liberalen Parlamentarismus fremdes Element“19. Das so gewichtige wie gefährliche Potenzial des Art. 48 WRV („Ausnahmezustand“), der den Reichspräsidenten ermächtigte im Wege von Notverordnungen gegen ein – schon jetzt mit dem Makel des Misstrauens versehenes – Parlament zu regieren, wurde von der Parlamentsmehrheit – mit Ausnahme der USPD – nicht erkannt.20 Dass der „Ersatzkaiser“21 direkt vom Volk gewählt wurde, verlieh seiner ohnehin schon übergroßen Machtfülle weitere Autorität und Legitimität.

16 17 18 19 20

Hauser (2014, S. 9/10). Vgl. ebd. S. 10. Abkürzung = WRV. Mommsen (2009, S. 81/82). Siehe dazu Kolb/Schumacher (2013, S. 19 f.). Ausführlich zur WRV s. siehe hier die Kapitel (…) Verfassungslehre, Der Hüter der Verfassung (…) und Die Diktatur des Reichspräsidenten (…). 21 „Wir brauchten eine starke Zentralgewalt, die auch gegenüber dem Parteitreiben festen Kurs steuern könnte, wir brauchten (…) ein ‚Ersatzkaisertum‘ und nicht die französische oder englische, sondern die nordamerikanische Verfassung mit ihrer starken plebiszitären Präsidentschaft“ (Friedrich Meinecke, zit. nach Longerich 1995, S. 95/96).

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II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921.

1. Die belogene Nation: „Diktatfrieden“, „Kriegsschuldlüge“ und „Dolchstoßlegende“. 1.1. Die „Zäsur-Wahl“ von 1920. Der Kapp-Lüttwitz-Putsch und die nachfolgenden Kämpfe hatten die junge Republik erschüttert. Die Regierung ließ sich von den Putschisten dazu zwingen, die für Herbst geplante Reichstagswahl auf den 6. Juni 1920 vorzuziehen: „Die ‚Weimarer Koalition‘22 verlor bei dieser ersten regulären Reichstagswahl die absolute Mehrheit und gewann sie nie wieder zurück“.23

Sie hatte für eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft sowie eine Außenpolitik der Verständigung gestanden, aber für diese Politik keine Mehrheit mehr gefunden – eine tiefe Zäsur für die Weimarer Republik: „Bei ihr bildete sich jene politische Kräftekonstellation heraus, die in der Folgezeit die Berufung stabiler Regierungen im Reich verhinderte. Einer insgesamt zu schwachen Mitte stand eine starke Fundamentalopposition gegenüber, die den demokratischen Staat und seine Regierungen mit allen Mitteln bekämpfte (…)“.24

Es konnten nur Minderheitsregierungen, Beamtenkabinette, zeitweise „Bürgerblockregierungen“ (DDP bis DNVP) mit knappen Mehrheiten oder Regierungen der Großen Koalition gebildet werden. Letztere waren wegen nahezu antagonistischer Gegensätze zwischen den Flügelparteien SPD und DNVP genauso labil wie Minderheitsregierungen ohne feste Mehrheit.25 Erst nach zähen Verhandlungen gelang es 1920 dem Zentrumspolitiker Konstantin Fehrenbach eine Minderheitsregierung aus Zentrum, DDP und DVP zu installieren. Ihr wurde von der SPD, die eine Regierungsbeteili-

22 Die Weimarer Koalition war ein Bündnis aus der gemäßigt-linken SPD, der Katholischen Zentrumspartei und der linksliberalen DDP. 23 Büttner (2010, S. 147). 24 Die SPD schrumpfte zugunsten der USPD (7,6% auf 17,9%) von 37,9% auf 21,7%. Die DDP wurde mehr als halbiert (18,6% auf 8,3%), das Zentrum (19,7% auf 13,6%) verlor 4,2% zugunsten ihrer Regionalabspaltung, der Bayerischen Volkspartei (s. Büttner 2010, S. 148). 25 Ebd.

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

gung wegen der Teilnahme der DVP26 abgelehnt hatte, eine Tolerierung bis zur Konferenz von Spa27 zugesichert. DNVP und BP hatten keinerlei Interesse, mit der Installierung des Versailler Vertrags-„Diktats“ identifiziert zu werden und verharrten lieber in der zweifelsohne bequemeren Opposition – mit dem Ergebnis, dass die SPD aus außenpolitischen Erwägungen und letztlich aus Staatsräson in einer Art indirekter Regierungsunterstützung verantwortlich blieb.28 In der Legislaturperiode von 1920-1924 sollte es dann sechs verschiedene Reichsregierungen und fünf Reichskanzler geben. 1.2. Reparationsfrage und Teilung Oberschlesiens. Die Regierung Fehrenbach sah sich zwei Problemfällen gegenüber, die friedensvertraglich nicht geregelt waren. Dies war, erstens, die Aufteilung Oberschlesiens und, zweitens, die Höhe der Reparationszahlungen. In der für Oberschlesien vereinbarten Volksabstimmung votierten 60 Prozent für einen Verbleib in Deutschland, 40 Prozent für Polen, wobei auf dem Lande durchaus polnische Mehrheiten zu finden waren. Jedenfalls forderte die Reichsregierung ganz Oberschlesien für Deutschland, die Polen im Verbund mit den Alliierten bestanden auf Trennung.29 Nach einem „Gutachten“ des Völkerbundrates wurden dann vier Fünftel des oberschlesischen Industriegebietes unter partieller Missachtung des Selbstbestimmungs-

26 Die DVP steigerte ihr Ergebnis von 4,4% auf 13,9%, trotz oder gerade wegen ihrer ambivalenten Haltung zum Kapp-Lüttwitz-Putsch. Da die radikalere DNVP mit ihrer positiven Haltung zu diesem Putsch ihr Ergebnis ebenfalls deutlich von 10,3% auf 15,1% steigern konnte, scheint es kaum vermessen zu schlussfolgern, dass „wegen“ die wahrscheinlichere Antwort ist (s. Büttner 2010, S. 147; nachst. s. ebd.). 27 Dies war die erste Konferenz (5. bis zum 16. Juli 1920) nach dem Krieg, bei der neben Frankreich (52) Großbritannien (22), Italien (10), Belgien (8) und Japan (8) erstmals wieder die deutsche Regierung teilnahm. Auf ihr wurde festgelegt, welches Land in welcher Höhe an den von Deutschland aufzubringenden Reparationsleistungen partizipieren würde (Zahlen in Prozent in Klammern). 28 Vgl. Mommsen (2009, S. 119); Longerich (1995, S. 118). 29 Nach bürgerkriegsähnlichen Scharmützeln zwischen polnischen Insurgenten und oberschlesischen Selbstschutzgruppen, jeweils von Polen und Deutschland unterstützt, bewirkte eine Interalliierte Abstimmungskommission den Abzug beider bewaffneter Parteien (s. Winkler 2000, S. 416 f.).

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II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921.

rechts zum 15. Mai 1922 Polen zugeschlagen.30 Es ist dies einer der Fälle, die zweifeln lassen, dass die Stärke des Rechts dem Recht des Stärkeren vorgeht. Der zweite Problemfall betraf die Höhe der Reparationszahlungen. Es wurden 23 Konferenzen mit dieser Frage befasst.31 Ein Angebot von 100 Milliarden Goldmark zuzüglich einer Mitwirkung beim Wiederaufbau zerstörter Gebiete hatten die – unter sich selbst nicht einigen – Siegermächte abgelehnt. Die Reparationskommission, die ohne Beteiligung Deutschlands konferierte, legte am 5. Mai 1921 als sogenanntes Londoner Ultimatum eine Schuld von 132 Milliarden Goldmark ohne künftig anfallende Zinsen fest, die laut Londoner Zahlungsplan in Raten von zwei Milliarden Goldmark plus 26 Prozent der deutschen Exporteinnahmen32 jährlich zu leisten waren.33 Dieser Zahlungsplan traf am 6. Mai 1921 in Berlin ein, das Ultimatum zur Annahme betrug sechs Tage. Bei einer Ablehnung dieser Forderung durch das Reich wurde die Besetzung des Ruhrgebietes – also für den 12. Mai 1921 – angedroht.34 Parallel hatte die Regierung Fehrenbach versucht, die USA zu einer Vermittlungsaktion in der Reparationsfrage zu bewegen und trat, als diese Initiative erfolglos blieb, am Tag vor der Übergabe des Londoner Ultimatums zurück. Sie führte so eine unselige Kombination von Reparations- und Regierungskrise herbei, die nach Lage der Dinge auch nur gemeinsam zu lösen war. Da die gespaltene DVP das unumgängliche Ultimatum nicht mittragen wollte, übernahm am 10. Mai 1921 eine „Weimarer Koalition“ von SPD, Zentrum und DDP die Regierungsverantwortung, die aber schon nach fünf Monaten am 22. Oktober 1921 aus Protest gegen die Entscheidung des Völkerbunds über Oberschlesien zurücktrat. DNVP, CDVP und KPD stimmten gegen die Annahme des Ultimatums, wohl wissend, dass dies den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch Deutschlands zur Folge hätte. Doch konnten

30 31 32 33

Vgl. Winkler (2000, S. 417); vgl. Longerich (1995, S. 123). Zu Abfolge und Inhalten s. Longerich (1995, S. 119). Das war geschätzt: eine Milliarde pro Jahr (Longerich 1995, S. 120). Weiterhin wurden für das 1914 überfallene Belgien sechs Milliarden in Rechnung gestellt und weitere zwölf Milliarden, die nach dem Versailler Vertrag am 1. Mai 1921 fällig gewesen wären. Abzuschließen waren die von den Alliierten geforderten Entwaffnungen und die Auslieferung von Kriegsverbrechern (Winkler 2000, S. 417). 34 Siehe Kolb/Schumacher (2013, S. 46). Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort waren schon am 8. März 1921 besetzt worden, weil Deutschland das vorrangegangene Ultimatum nicht eingehalten hatte (Winkler 2000, S. 417).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

die Rechtsparteien wie schon beim Versailler Vertrag davon ausgehen, „daß es auch ohne sie eine Mehrheit für das kleinere Übel geben werde“.35 1.3. Erfüllungs- vs. Illusionspolitik. Die Rechte hatte mit ihrer Flucht aus der Verantwortung aus ihrer Sicht richtig taktiert. SPD, Zentrum und DDP organisierten aus staatspolitischer Notwendigkeit – unter dem als „Zentrumslinker“ und als „leidenschaftlicher Republikaner“ angesehenen Joseph Wirth36 als Kanzler – als Erstes eine Parlamentsmehrheit für die Annahme des Londoner Ultimatums. Mit dem Namen der Regierung Wirth ging fortan der Begriff der „Erfüllungspolitik“, der von den deutschen Nationalisten umgehend pejorativ vereinnahmt wurde, in die Geschichte Weimars ein. Diese 1921/1922 verfolgte Erfüllungspolitik war ein politisches Mittel, das den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben suchte.37 In dem Wissen, den Reparationsforderungen auf Dauer keinesfalls nachkommen zu können, unternahm Deutschland gleichwohl die äußersten Anstrengungen, diese bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu erfüllen, um sie derart „ad absurdum zu führen“38. Diese Art der Erfüllung, so glaubte man in Weimar, musste derart katastrophale Folgen zeitigen, dass die Alliierten zur Revision schlicht gezwungen sein würden. Dieser Logik folgten 220 Abgeordnete, 172 nicht. Das Ultimatum war angenommen, Reparationszahlung, Entwaffnung und Aburteilung deutscher Kriegsverbrecher hatten zu folgen. Letztere wurde „praktisch nicht erfüllt“39, die Entwaffnung erfolgte formell im Frühsommer 192140. Allerdings hatte die breite Streuung des Waffenbesitzes infolge der Waffenausgabe an die Freikorps, Einwohner- und Bürgerwehren durch die Reichswehr Bestand, „um den Geist am Leben zu erhalten, der sich den Körper bauen sollte: ein militärisch starkes, zur Revanche für 1918 fähiges Deutschland“.41

35 36 37 38 39 40 41

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Vgl. Winkler (2000, S. 417 f.; Zitat ebd. S. 418). Ebd. S. 418. Eine Kurzbiographie Wirths bietet Büttner (2010, S 149 f.). Vgl. Mk 3, 22 u. 3, 23, 26 EU. Winkler (2000, S. 418). Ebd.; zu Einzelheiten s. Longerich (1995, S. 122 f.). Winkler (2000, S. 419). Ebd. Ob Schmitts damaligen Wohnorts München, lohnt ein kurzer Blick auf die „Ordnungszelle“ Bayern: sie „blieb das Eldorado zahlreicher ‚Vaterländischer Ver-

II. Das historische Umfeld: Münchner Wirrnisse 1919-1921.

Diese Haltung weist auf ein „grundlegendes psychologisches Hindernis“, denn weite Teile der Nation verharrten in der Erwartung einer illusionären Politik der Revanche und einer inneren Verweigerung des Friedensschlusses.42 Die Ergebnisse einer „machbaren“ Realpolitik konnten die Erbitterung so nur verstärken. „Der harte Kern des Londoner Ultimatums ließ sich nicht aufweichen: Deutschland mußte bereits 1921 3,3 Milliarden Goldmark an Reparationen zahlen, von denen 1 Milliarde bereits am 30. Mai fällig war“.43

Die Alliierten folgten der deutschen Logik einer Erfüllungspolitik nämlich nicht, wenn ihr nicht eine Währungssanierung, eine radikale Kürzung der Ausgaben und eine Erhebung neuer Steuern vorhergingen.44 Nach dem Rücktritt der Wirth-Regierung vom 22. Oktober 1921 wurde erneut Wirth mit der Regierungsbildung beauftragt. Seine parlamentarische Stütze war aber schwächer als vorher, weil die DDP der Regierung nicht beigetreten war. Nach dem Zusammenschluss von SPD und USPD schien mit 289 von 459 Stimmen das Fundament der Regierung solider geworden zu sein. Aber die ideologisch bedingten Kontroversen der beiden Flügelparteien SPD und DVP konnte Wirth nicht zur Deckung bringen. Am 22. November 1922 war auch die zweite Regierung Wirth am Ende.45 1.4. Radikalisierung auf der Linken wie der Rechten. Die äußere Linke hatte sich noch unter der Regierung Fehrenbach konsolidiert, nachdem sich die USPD im Oktober 1920 im Zuge eines Auflösungsprozesses gespalten hatte. Die Minderheit verblieb unter dem alten Namen, die Mehrheit schloss sich im Dezember 1920 der mitgliedermäßig deutlich schwächeren KPD an. Grund der Trennung war der Beitritt der USPD zur Kommunistischen Internationalen, die zu dieser Zeit eine „Of-

42 43 44 45

bände‘, die die (aufgelösten, w.a.m.) Einwohnerwehren an Radikalität weit übertrafen“ (ebd.). Mommsen (2009, S. 122). Diese illusionäre Erwartung „beruhte auf einem an die wilhelminische Tradition anknüpfenden politischen Wunschdenken und auf dem mangelnden Einverständnis der militärischen Niederlange“ (Ebd. S. 123). Winkler (2000, S. 419). Kolb/Schumacher (2013, S. 47). Büttner (2010, S. 149).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

fensivtheorie“ vertrat, was nichts anderes hieß, als die Revolution zu erzwingen; in Deutschland war diese Strategie im Februar 1921 ein völliger Fehlschlag. Ein am 17. März 1921 inszenierter, aber weitgehend unvorbereiteter Aufstand im mitteldeutschen Industriegebiet scheiterte an einer gut vorbereiteten Polizeiaktion und an der Verweigerungshaltung der Masse der Industriearbeiter schon Ende März; 145 Zivilisten und 35 Polizeibeamten wurden getötet.46 Für die politische Rechte waren die „Erfüllungspolitik-Marxisten“ von SPD und USPD schon deshalb Verräter, weil sie dem Londoner Ultimatum und der oberschlesischen Teilung nachgegeben hatten. Das Verdikt zu großer „Nachgiebigkeit“ war geeignet, auch die politische Mitte zu erfassen. Mit beispiellosen Hasskampagnen gegen die Republik wie gegen ihre Repräsentanten schürte die Rechte eine Atmosphäre, die Gewaltbereitschaft einschloss, was sich alsbald zeigen sollte. Am 9. Juni 1921 wurde der Fraktionsvorsitzende der Bayern-USPG, Karl Garais, erschossen. Der 26. August 1921 sah die Ermordung des „Erfüllungspolitikers“, „Novemberverbrechers“ und „Volksverräters“, des ehemaligen Reichsfinanzministers Mathias Erzberger, der von zwei Mitgliedern der „Organisation Consul“47 und des Münchner „Germanenordens“ auf einem Spaziergang erschossen wurde. Die Täter entflohen über München nach Ungarn. Für den „Berliner Lokalanzeiger“ aber hätte jedes andere Land den Attentätern „unbegrenztes Verständnis“ entgegengebracht.48 Selbst die mit Entsetzen aufgenommene Ermordung Walther Rathenaus – „die zweite herausragende Persönlichkeit im Kabinett Wirth“49 – am 24. Juni 1922, erneut durch Mitglieder der „Organisation Consul“, führte nicht dazu, der Nachfolgeregierung unter Wilhelm Cuno eine breitere parlamentarische Basis zu verschaffen.50 Zu der von den Attentätern erhofften Gewalteskalation durch

46 Vgl. Longerich (1995, S. 120 f.). 47 Die „Organisation Consul“ war eine terroristische, geheim operierende Gruppe, die der ehemalige Anführer des Kapp-Putsches, Kapitän Erhard, leitete (Longerich 1995, S. 122). 48 Siehe Winkler (2000, S. 420 f.). Die Mörder – von Hitler 1933 amnestiert – wurden erst 1950 zu zwölf bzw. fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt – zwei Jahre hatten sie zu verbüßen (ebd.). 49 Büttner (2010, S. 150); zur Person Rathenaus siehe die Kurzbiographie (ebd. S. 150 f.). 50 Ebd. S. 151.

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II. Nachrevolutionäre Wirrnisse als politischer Stoff.

einen kommunistisch befeuerten, proletarischen Massenaufstand, kam es nicht.51 II. Nachrevolutionäre Wirrnisse als politischer Stoff. Bayern befand sich bis Anfang Mai 1919 in einem revolutionären Ausnahmezustand. Schmitt hatte in seiner Stellung bei der Stadtkommandantur München, zu der er am 1. April 1919 versetzt worden war, die „blutigsten Tage der Revolutionsdiktatur“ bereits erlebt: „die Reichsexekution und den militärischen Widerstand der Revolutionsregierung“.52 Diese blutigen Tage griffen ihn gesundheitlich derart an, dass er zur Gesundung beurlaubt und am 30. Juni aus dem Wehrdienst verabschiedet wurde. Von einer Normallage jedoch konnte in Bayern, das auf seiner eigenen substantiellen Staatlichkeit beharrte, noch lange keine Rede sein. Denn auch nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung am 14. August 1919 bestand Bayern auf seiner eigenständigen Militärgewalt, seinem Notstandsrecht und seiner Verfassungsschutzgewalt. Treffend pointiert Mehring: „Bayern verwandelte sich in eine gegenrevolutionäre Zelle. Politische Justiz und Gewalt bestimmten das Klima“.53

Nach dem rasch gescheiterten Kapp-Putsch vom März wurde Gustav v. Kahr Ministerpräsident, umgehend begann er, eine irreguläre Miliz zu formieren. Erst sein Nachfolger Hugo Graf Lerchenfeld beendete im September 1921 den seit 1914 ununterbrochen währenden Ausnahmezustand in Bayern. Das Kriegsende aber, die Revolutionserfahrungen, die Räterepublik, so Noack, „stellen eine radikale Zäsur im Denken Schmitts dar. Von nun an leidet er an der Erblast der nationalen Niederlage, vor allem seit dem Versailler Vertrag“.54

Nach seiner Entlassung aus dem Heeresdienst setzte sich Schmitt umgehend mit Geheimrat Hugo am Zehnhoff – jetzt schon preußischer Justizminister – in Verbindung. Durch dessen Hilfe bekommt Schmitt umgehend

51 52 53 54

Siehe Winkler (2000, S. 426). Mehring (2009, S. 114). Ebd. Noack (1993, S. 40).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

die Stelle eines Regierungsrats im Volkswohlfahrtsministerium angeboten. Dieses Angebot kreuzt sich mit der Zusage für eine Dozentenstelle des öffentlichen Rechts an der Handelshochschule München. Von Zehnhoff rät zur Annahme – und Schmitt, gerade 31 Jahre alt, kann seine akademische Laufbahn, formal weiterhin als Privatdozent wie ehedem in Straßburg, fortsetzen.55 Vom 1. September 1919 bis 30. September 1921 lehrt Schmitt in München Öffentliches Recht, hat den Verlust der Dozentur in Straßburg kompensiert und sich akademisch positioniert. Die Existenz der Hochschule ohne Promotions- und Habilitationsrecht war allerdings alles anders als gesichert. Trotzdem zeigt sich Schmitt ambitioniert, er liest über die neuzeitliche „Idee des Einheitsstaates“ und betrachtet die Klassiker Bodin, Montesquieu und Rousseau. Seine Analysen finden wir in seiner ersten großen Schrift Die Diktatur wieder, die er im Sommer 1920 abschließt.56 Direktor der Handelshochschule München ist bei Schmitts Dienstantritt Moritz Julius Bonn, der sich später, bis 1933 Schmitt freundschaftlich verbunden, für Schmitts Ruf an die Handelshochschule Berlin einsetzen wird: „Der begabteste meiner Kollegen war unzweifelhaft Dr. Carl Schmitt. (…) Seine Unausgeglichenheit war mir zwar bekannt, aber ich vertraute seiner hohen Begabung“.57

Schmitt steht in München in einer wohl relativ engen Verbindung mit Max Weber, hört seine Reden und Vorlesungen 58 und nimmt am Dozentenseminar teil. In der Erinnerung hält er Weber für einen Revanchisten, „ein Revanchist, das Radikalste von allem Revanchismus gegenüber Versailles, was ich je erlebt habe, wenigstens an starken Redensarten, neben denen auch Scheidemanns ‚verdorrte Hand‘ harmlos klingt“.59

Im Oktober 1919 liest Schmitt über die Geschichte der politischen Ideen seit der Reformation und die „Idee des Einheitsstaates“, Ausarbeitungen,

55 56 57 58

Siehe Mehring (2009, S. 115);s. Noack (1993, S. 42). Siehe Mehring (2009, S. 118). Siehe ebd. S. 117); Bonn, zit. nach Mehring (ebd.). Wissenschaft als Beruf (7.11.1917) und Politik als Beruf (18.1.1919); Vorlesung: Abriss der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (s. Mehring 2009, S. 118). 59 Tommissen in CO (1988, S. 79).

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III. Die Diktatur (1921).

die in sein erstes Hauptwerk Die Diktatur (1921) eingehen werden60, die er „in die Wirren der Münchner Revolutions- und Bürgerkriegslage und seiner Ehekrise hinein schreibt“.61 Die Zeit literarischer Selbstversuche war abgeschlossen, die Jurisprudenz war Mittelpunkt seines Schaffens geworden, doch auch sie wird sich verändern, sie wird politischer. III. Die Diktatur (1921). „Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur, nämlich in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung. Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus. Carl Schmitt62

Der Begriff der Diktatur – wie er bis zum 20. Jahrhundert verstanden und gebraucht wurde – geht auf das außerordentliche Amt des Diktators in der Römischen Republik zurück.63 Es bezieht sich auf einen politischen Führer, der in Zeiten der Krise – Krieg oder innere Rebellion – für einen begrenzten Zeitraum mit umfassenden Machtbefugnissen ausgestattet wurde: „Die Diktatur wurde konzipiert als Ordnung der Unordnung“64, für den Fall, dass die gewöhnlichen Institutionen und Verfahren in einer Krisenlage versagen.65 Von diesem verfassungsmäßigen und legitimen Amt sind 60 Mehring (2009, S. 118). Ab dem Sommersemester bietet er spezifische rechtswissenschaftliche Veranstaltungen: die Verfassung des Deutschen Reiches, das Betriebsrätegesetz, Grundzüge der Sozialversicherung an, aber auch Politische Ideen seit 1789 (ebd. S. 118 f., mit weiteren Einzelheiten). 61 Mehring (2009, S. 120). 62 (DD XVII). 63 Nachst. s. Behrends (2009, S. 41 f.); s. a. Nippel (2004). 64 Münkler (2010, S. 15). 65 Im Normalzustand, einem System der Gewaltenteilung, kontrollierten sich Senat, Konsulat und Tribunat gegenseitig. Die Mehrfachbesetzung dieser Institutionen trug Sorge, dass keinem Einzelnen zu große Macht zuwuchs. Dieses System war über mehrere Jahrhunderte erfolgreich. Erst mit den Bürgerkriegen 133-30 v.Chr. wandelte sich das erfolgreiche Instrument der Krisenbewältigung in eine konfliktverschärfende „Diktatur“. Der Begriff der Diktatur ist seit dieser Zeit pejorativ besetzt (s. Münkler 2010, S. 16).

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Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

die illegitimen Herrscher zu unterscheiden, die als Tyrannen oder Despoten bezeichnet wurden. Mit dem Sturz legitimer Monarchien nach der Französischen Revolution 1789 wurde der Begriff in der politischen Fachsprache wieder aktuell. Von Karl Marx – Diktatur des Proletariats – wurde der Begriff auf eine soziale Gruppe als Träger autoritärer Herrschaft ausgedehnt. Seine gegenwärtige Bedeutung erhielt der Begriff im Ergebnis der russischen Revolution. Lenin führt in Staat und Revolution aus: „Die Lehre vom Klassenkampf, von Marx auf die Frage des Staates und der sozialistischen Revolution angewandt, führt notwendig zur Anerkennung der politischen Herrschaft des Proletariats, seiner Diktatur, d.h. einer mit niemandem geteilten und sich unmittelbar auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützende Macht“.66

Nur wenige Jahre nach Lenin wandte sich Carl Schmitt dem Begriff der Diktatur zu. 1. „Diktatur und Belagerungszustand“ (1916). Carl Schmitt befasst sich erstmals mit dem für ihn zentralen Thema der Diktatur in dem 1916 erschienenen Aufsatz Diktatur und Belagerungszustand. Eine staatsrechtliche Studie.67 Als entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Instituten Diktatur und Belagerungszustand macht er aus, dass beim Belagerungszustand die Trennung von Gesetzgebung und Vollzug gewahrt bleibt und nur eine Konzentration der Befugnisse bei der Exekutive stattfindet.68 So erhält der Militärbefehlshaber zwar größere Exekutivbefugnisse aber keine legislativen Vollmachten. Zudem erreichen seine Exekutivbefugnisse ihre Grenze da, wo die richterliche Unabhängigkeit anfängt. Die Trennung von Gesetzgebung und Vollzug bleibt erhalten, was aber in der Praxis kaum eine Rolle spielt, wird doch die Trennung beseitigt, weil dieselbe Stelle den Erlass wie auch den Vollzug von Gesetzen in der Hand behält – „sei es, daß die Exekutive auch die Legislative oder daß die Legislative die Exekutive übernimmt“ (DuB 156). Schmitt wendet sich nun umgehend grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis der beiden Gewalten: Gesetzgebung und Verwaltung, zu. Darauf zu achten ist, dass „Verwaltung“ hier mehr ist als der nur bloße Voll66 Lenin, hier zit. n. Behrends (2010, S. 41). 67 Sigle DuB, in: ZgStrW 38 (1916). S. 138-161. 68 Nachst. s. Neumann (2015, S. 30 f.).

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III. Die Diktatur (1921).

zug positiver Rechtsnormen. Schmitt betrachtet das Gesetz als einen Rahmen, innerhalb dessen die Verwaltung schöpferisch tätig werden könne und somit Rechtsschöpfung betreibt. Deshalb sieht er die Wertigkeit der Verwaltung derjenigen der Gesetzgebung nicht nur als gleichgestellt, sondern – aus einer historischen Betrachtung heraus – sogar als vorgängig und höher an, sei doch der Anfang aller Staatstätigkeit „Verwaltung“ gewesen, aus der sich dann die Legislative wie auch die Exekutive abgesondert hätten. „Belagerungszustand“ sei deshalb nur die Rückkehr zum staatlichen Urzustand. In der Diktatur bleibe die Gewaltenteilung bestehen, Gesetzgebung und Vollzug würden jedoch von der gleichen Zentralstelle ausgeübt (DuB 157, 159). Hier entstünde deshalb auch kein rechtsfreier Raum, würde er doch durch die gesetzlichen Anordnungen des Diktators gefüllt (DuB 160). 2. Zur Werkgeschichte. Mit seiner im Herbst 1920 abgeschlossenen und 1921 erschienenen Arbeit: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf69, erhebt Carl Schmitt den Anspruch, für „die betäubende Vieldeutigkeit des Schlagworts“ aus anderen Zusammenhängen einen Begriff der Diktatur zu gewinnen und zu zeigen, „welche für die Erkenntnis der Sache wesentlichen Momente im politischen Sprachgebrauch enthalten sind, wodurch in die betäubende Vieldeutigkeit des Schlagworts eine vorläufige, nicht nur rein terminologische Orientierung gebracht und ein Hinweis auf den Zusammenhang mit weiteren Begriffen der allgemeinen Rechts- und Staatslehre möglich wird“ (DD XIII).

In den Mittelpunkt der Darstellung rückt das Institut der „Diktatur“ als „ein zentraler Begriff der Staats- und Verfassungslehre“ (DD XIII). Schmitt gelangt durch seine Explikationen der historischen Diktaturbegriffe zu seiner berühmten Unterscheidung von „kommissarischer“ und „souveräner“ Diktatur, die für seine Schrift zentral ist (DD XIX; DD 3).70 Mehring hat gewiss nicht Unrecht, wenn er Schmitts Darstellung der Entwicklung der Diktaturformen als „sehr breit“ einordnet und kritisiert, dass

69 Sigle = DD; wir zitieren aus der achten, korrigierten Auflage 2015. 70 Siehe Ottmann (2010, S. 228); s. Nippel (2011, S. 106).

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die Stoffmenge die Linienführung bedränge und den Leser belaste.71 Denn eingebettet ist Schmitts Anliegen in eine weit ausholende ideengeschichtliche, verfassungsrechtliche, politiktheoretische wie geschichtswissenschaftliche Abhandlung, die sich auf die Neuzeit beschränkt.72 Denn Schmitt war „Staatsrechtler und Staatsrechtstheoretiker, aber er ist ebenso auch Kulturkritiker und Geschichtsphilosoph mit katholischer Tradition“73,

und pflegte sein Wissen und seine Belesenheit nicht unter den Scheffel zu stellen. So werden auch staatstheoretische Institute und Begriffe wie Souveränität, Repräsentation, Gewaltenteilung, Arcana und pouvoir constituant erörtert.74 Nach einem Rückblick auf das römische Staatsrecht diskutiert Schmitt nahezu alle Theorien der Staatsphilosophie der Neuzeit: Machiavelli, Hobbes, Pufendorf, Locke, Grotius, Thomasius, Wolff, Montesquieu, Mably, Hobbes und – vor allem – Rousseau. Da die Diktatur-Schrift die theoretischen Bausteine seiner eigenen Staats- und Verfassungstheorie enthält, die er in den nächsten Jahren weiterentwickeln wird, werden wir diesen Theorien nachspüren. So werden behandelt: Souveränität und Ausnahmezustand (DD 16 ff.), die Lehre von den intermediären Gewalten (DD 99 ff.; 102), die Feinderklärung (DD 3 Anm. 2; 57 ff.; 175 f.), das rechtsstaatliches Verteilungsprinzip (DD 105 f.), der materielle Gesetzesbegriff (DD 105 f.) und die verfassunggebende Gewalt des Volkes (DD 141 ff.). Die Diktatur ist weiterhin eine geschichtliche Betrachtung der Praxis der kaiserlichen Kommissare bei der Ausübung staatlicher Autorität im 16. und 17. Jahrhundert, der vermeintlichen Diktatur Wallensteins, die Herrschaft Cromwells und die Praxis der Volkskommissare während der Französischen Revolution. Aus diesen historischen Betrachtungen entwickelt Schmitt den Begriff der Diktatur und in der Folge die Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur.

71 Mehring (1988, S. 60). Wir folgen in unserer Darstellung der Linienführung Schmitts, weil sie ein Stück weit die Ursprungsgeschichte des modernen Staates expliziert. 72 Die Untersuchung weist aber einen für Carl Schmitt ungewöhnlich umfangreichen Verweisapparat auf, der u.a. Verbindungen zur römischen Diktatur vertieft (s. DD 1 ff., Anm. 1 ff.; s. Nippel 2011). 73 Voigt (2015:, S. 35.) 74 Nachst. s. Neumann (2015, S. 31 f.).

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Die Stellung der Diktatur-Schrift in seinem bis dahin vorgelegten Werk sieht Schmitt wie folgt: Gesetz und Urteil (1912) habe den „Rechtswert der Entscheidung als solcher, unabhängig von ihrem materiellen Gerechtigkeitsinhalt“ zur Grundlage einer Untersuchung der Rechtspraxis gemacht. Mit der Weiterführung dieses Ansatzes habe sich der Gegensatz von Rechtsnorm und Rechtsverwirklichungsnorm aufgetan, der in Der Wert des Staates (…)“ (1914) untersucht worden sei. Nach der teilweisen Verkennung dieser Abhandlung habe es nahe gelegen, „den kritischen Begriff der Rechtsverwirklichung, also die Diktatur, gesondert zu betrachten“ (DD XX), wie für Schmitt überhaupt der Gegensatz von Recht und Rechtsverwirklichung „das juristische Grundproblem der Staatslehre“ (DD 191) darstellt. Die Diktatur kann einmal als Vorarbeit zum Begriff der Souveränität in der Politischen Theologie gelesen werden. Aber es greift andererseits bereits die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV auf, mit der sich Schmitt noch auf intensivste Weise beschäftigen wird. Die Erörterung ist der zweiten Auflage Der Diktatur als Anhang (215-261) beigefügt. 3. Die Vorbemerkung zur 1. Auflage von 1921. Die Vorbemerkung zur 1. Auflage von Die Diktatur bietet neben einem Blick auf den Gang der Untersuchung und Ausführungen zu Quellenlage wie zu Quellenauswahl bereits eine Oszillation um den Begriff der Diktatur. Thematisch zentral bleibt das Problem der staatlichen Rechtsverwirklichung, jetzt allerdings in dem besonderen Fall der Diktatur. Ist die Geltung des Rechts durch eine innen- und/oder außenpolitische Ausnahmesituation in Teilen oder im Ganzen gefährdet, so rechtfertigt sich die Diktatur, weil sie das Recht ignoriert, jedoch nur mit dem Ziel, es zu verwirklichen (DD XVIII).75 Die Negierung des Rechts ist aber rein faktischer, nicht normierender Natur.76 Diese Form der Rechtsverwirklichung, eine „konkrete Ausnahme“, nennt Schmitt „Diktatur“:

75 Diese Rechtfertigung hat wohl inhaltliche Bedeutung, „ist aber noch keine formale Ableitung und daher keine Rechtfertigung im Rechtssinne, denn der noch so gute wirkliche oder vorgebliche Zweck kann keinen Rechtsbruch begründen“ (DD XVIII). 76 Habfast (2010, S. 73).

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„ Das formale Merkmal liegt in der Ermächtigung einer höchsten Autorität, die rechtlich imstande ist, das Recht aufzuheben und eine Diktatur zu autorisieren, d.h. eine konkrete Ausnahme zu gestatten (…) “ (DD XVIII).

Eine weitere Eigenart der Diktatur liegt darin, dass sie zu allem berechtigt ist, was für den konkret zu erreichenden Erfolg als erforderlich angesehen wird.77 „[Deshalb] bestimmt sich bei der Diktatur der Inhalt der Ermächtigung unbedingt und ausschließlich nach Lage der Sache; daraus entsteht eine absolute Gleichheit von Aufgabe und Befugnis, Ermessen und Ermächtigung, Kommission und Autorität. Bei einer solchen Identität ist jeder Diktator in einem besonderen Sinne Kommissar“ (DD XIX).

In Carl Schmitts Überlegungen zur Diktatur trennen sich die Normen des Rechts von den Normen der Rechtsverwirklichung78, damit sie nach dem Erfolg der richtigen Maßnahmen – das sind die zweckmäßigen, diktatorischen − und damit dem Ende der Diktatur79 wieder zusammengeführt werden können, der Status quo ante wieder erreicht und der Primat des Rechts wiederhergestellt ist (vgl. DD XVII).80 Dies bedenkend wird man formulieren können, dass die Diktatur Carl Schmitts ein notwendiges Mittel der Realpolitik ist, um einen Gegner der bestehenden Rechtsordnung durch „die Entfesselung des Zwecks vom Recht“ erfolgreich ausschalten zu können (s. DD XVIII).

77 Die Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit der Mittel, die Sachtechnik der Diktatur, betont Schmitt immer wieder: „Einen konkreten Erfolg bewirken, bedeutet aber, in den kausalen Ablauf des Geschehens eingreifen mit Mitteln, deren Richtigkeit in ihrer Zweckmäßigkeit liegt und ausschließlich von den tatsächlichen Zusammenhängen des Kausalverlaufs abhängig ist“ (DD XVII f.). Noch ausführlicher siehe DD 11. 78 Siehe dazu auch (DD 191). 79 „Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus“ (DD XVII). 80 Hingegen sucht die souveräne Diktatur „einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht“ (DD 134).

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4. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre. 4.1. Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie. Carl Schmitt geht in der Tat „einen verschlungenen Gang durch die politische Theorie seit Machiavelli“, um zu erläutern, dass es zwei verschiedene Typen der Diktatur gegeben hat.81 Bis ins 19. Jahrhundert aber sei die Institution der Diktatur nur eine gleichbleibende „Angelegenheit der Altertumskunde“ geblieben und kein Begriff „von allgemeiner staatsrechtlicher Bedeutung“ (DD 1). Der Grund hierfür sei, so Schmitt, dass man die „auffällige Verschiedenheit“ des älteren republikanischen römischen Modells der Diktatur des 5. bis 2. Jahrhunderts v.Chr. und dem späteren Typus der sullanischen und caesarischen (Missbrauchs-)Diktatur entweder ignoriert oder nicht erkannt habe: „Der Gegensatz von kommissarischer und souveräner Diktatur, der im folgenden als die grundlegende Entscheidung entwickelt werden soll, ist hier bereits in der politischen Entwicklung selbst angedeutet und liegt eigentlich in der Natur der Sache“ (DD 3).82

Im 16. und 17. Jahrhundert betrachtete sich das Fürstentum als absolut von Gottes Gnaden und nicht von der Zustimmung des Volkes abhängig und setzte sich so gegen die Stände – die damalige Auffassung von „Volk“ – durch (DD 4). Bei den staatsrechtlichen und politischen Schriftstellern dieser Zeit hingegen wurden zwischen dem Institut der römischen Diktatur und den Einrichtungen anderer Staaten Vergleiche angestellt, was als ein erster Versuch zu werten sei, die Diktatur als einen Begriff der allgemeinen Staatslehre zu entwickeln.

81 Nippel (2004: Abs. 3). 82 Die römische Diktatur des 3. Jh. diente zur Bewältigung innen- wie außenpolitischer Krisenlagen. Der Diktator, auf Antrag des Senats vom Konsul ernannt, verfügte über höchste Gewalt jedoch nur für sechs Monate. Er konnte den Ausnahmezustand nicht selbst ausrufen, seine 6-Monats-Befristung nicht verlängern. Dieser Typus der Diktatur wurde von den großen Heerführern in den Bürgerkriegen des 1. Jh. revolutionär ausgeweitet und letztlich zum Sturz der Republik missbraucht. Der grundlegende Wandel zeigte sich in der Ernennung Cäsars zum Diktator auf Lebenszeit (44 v.Chr.): die diktatorische Überbrückungszeit der Republik war zur scheinlegalen Führerherrschaft (Prinzipat) der römischen Kaiserzeit mutiert (Bracher 1995, S. 56).

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Schmitt benennt als Referenzautor Machiavelli83, obwohl dieser nie eine Staatstheorie im eigentlichen Sinn aufgestellt hat (DD 5).84 4.2. Niccolò Machiavelli.85 Die Bewertungen Machiavellis in Der Diktatur sind auf den ersten Blick nicht aus einem Guss, ordnet Schmitt ihn doch den Traditionsdenkern zu, die auf das überkommene römisch-republikanische Institut der Diktatur fokussiert waren und an ihm festhielten. Staatstheoretisch böte sich demnach kaum ein Erkenntnisgewinn, zumal Machiavelli ja keine Staatstheorie ausgearbeitet hätte (DD 5). Sein Bild der Diktatur sei das des Titus Livius und damit das der „alten Diktatoren“ (DD 6). Gleichwohl zeigten aber Machiavellis Bemerkungen zur Diktatur ein „selbständiges politisches Interesse und Unterscheidungsvermögen“ (ebd.). Er habe nämlich die Probleme eines normal geregelten Ablaufs von Verwaltungstätigkeit aufgedeckt, „dessen Umständlichkeit und kollegiale Beratungsweise in dringenden Fällen gefährlich werden und eine schnellen Entschluß unmöglich machen können. Gerade für die Republik soll die Diktatur eine Lebensfrage sein. Denn der Diktator ist kein Tyrann und die Diktatur nicht etwa eine Form der absoluten Herrschaft, sondern ein der republikanischen Verfassung eigentümliches Mittel, die Freiheit zu wahren“ (DD 6).

Machiavelli sei es darum gegangen, so Schmitt, die institutionelle Schwerfälligkeit der gewaltenteilend wirkenden Mischverfassung einer Republik86 um die Vorteile einer monarchischen, also alleinentscheidenden Regierungsweise zu ergänzen, in erster Linie also um Schnelligkeit und Effizienz. So habe die venezianische Republik – für Machiavelli die beste moderne Republik – über ein solches Notstandsinstitut verfügt. Hieran wird

83 Machiavelli erreichte bei Schmitt nicht die Bedeutung von Hobbes und Bodin. Schmitt zeigte aber eine hohe persönlich-biographische Verbundenheit, indem er seinen Rückzugsort in Plettenberg mit San Casciano benannte, den Landsitz, auf dem Machiavelli 1513 sein Exil antreten musste (Saracino 2013, S. 22 f.). Rudolf Augstein bezeichnete Schmitt in Anlehnung als „Machiavelli im Sauerland“ (Der Spiegel, Nr. 45, S. 75). 84 Einen prägnanten Einstieg zu Machiavelli bietet Reinhard (2003, S. 241-255). 85 Grundsätzlich s. Ottmann (2006, S. 11-62); Reinhard, in: Fenske et al. (2003, S. 244-253); Münkler (1995); Deppe (1987). 86 Siehe Saracino (2013, S. 28).

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deutlich, dass Machiavellis Augenmerk vor allem dem casus necessitatis, dem Not- und Ausnahmefall, und dessen Überwindung gilt.87 „In der Tat ist die Diktatur eine der römischen Institutionen, welche besondere Beachtung verdient; denn sie war eine der Ursachen der Größe des Imperiums. Ohne eine ähnliche Einrichtung übersteht ein Staatswesen nur schwer außergewöhnliche Ereignisse. Der gewöhnliche Gang der Geschäfte in den Freistaaten ist langsam; denn kein Rat, keine Behörde kann allein alles erledigen, in vielen Dingen brauchen sie sich gegenseitig. Durch den notwendigen Ausgleich der verschiedenen Willensrichtungen vergeht die Zeit, und so entsteht die größte Gefahr, wenn man einer Sache abhelfen soll, die keinen Zeitverlust erlauben. Die Freistaaten müssen daher in ihren Verfassungen eine der Diktatur ähnliche Einrichtung haben“.88

Das 34. Kapitel der Discorsi – „Die diktatorische Gewalt brachte der römischen Republik nur Vorteil, keinen Schaden.“ – wendet sich gegen den Vorwurf, dass die Institution der Diktatur in Rom die Entstehung einer Tyrannis gefördert habe. Gegen diese Fehleinschätzung will Machiavelli die Diktatur in Schutz nehmen, sei doch der Diktator kein Tyrann und die Diktatur keine Form der absoluten Herrschaft, „sondern ein der republikanischen Verfassung eigentümliches Mittel, die Freiheit zu wahren“ (DD 6): „Der Diktator wird definiert als ein Mann, der, ohne an die Mitwirkung irgendeiner anderen Instanz gebunden zu sein, Anordnungen treffen und sie sofort, d.h. ohne das weitere Rechtsmittel gegeben wären, vollstrecken kann (…)“ (ebd.).

„Darum ist die Diktatur ein verfassungsmäßiges Institut der Republik (…)“ (DD 7) für den Not- und Ausnahmefall, sie ist die Antwort auf das Unerwartete, die gesetzlich legitimiert ungesetzliche Mittel anwenden können muss, um den freiheitlichen Status der Republik zu verteidigen. Schmitt: „Daß jede Diktatur die Ausnahme von einer Norm enthält, besagt nicht zufällige Negation einer beliebigen Norm. Die innere Dialektik des Begriffs liegt darin, daß gerade die Norm negiert wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit gesichert werden soll. (…)

87 Zu Machiavellis Lebzeiten fanden in Florenz drei gescheiterte Verschwörungen (1478, 1513, 1522) gegen die herrschenden Medici und zwei erfolgreiche Verfassungsumstürze (1513, 1522) statt. Im Gegensatz zum Diskurs über die Staatsräson ging es in den Discorsi thematisch primär um die Erhaltung der Freiheit und weniger um die Erhaltung des Staates. 88 Machiavelli 1977, S. 96.

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Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur, nämlich in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung. Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus“ (DD XVII).

Aber, kann in der großen Machtfülle des dittatori nicht doch der Keim für eine Tyrannis angelegt sein? Diese Gefahr sieht auch der Florentiner. Deshalb sei es maßgeblich, so paraphrasiert Schmitt Machiavelli89, dass die Diktatur verfassungsmäßig eingehegt ist. Folgende vier Prämissen sollen diese Einhegung gewährleisten: Das Amt muss, erstens, zeitlich beschränkt sein. Zweitens, kann der Diktator Gesetze weder ändern, die Verfassung und die Behördenorganisationen aufheben, noch neue Gesetze machen. Ebenso lässt Machiavelli, drittens, die ordentlichen Verfassungsorgane und Gewalten, die er als eine Art Kontrollorgan sieht, unangetastet: 90 Sie sollen allein durch ihre Existenz wirken, denn ihre verfassungsmäßige Gewalt ist ja suspendiert. Und als Viertes soll Bürgertugend, für Friedrich eine lebenswichtige Voraussetzung, vorhanden sein.91 „Doch er (der Diktator, w.a.m.) konnte nichts tun, was dem Staat hätte schaden können; er konnte zum Beispiel nicht dem Senat oder dem Volk die Machtbefugnisse nehmen, er konnte die alten Einrichtungen des Staates nicht abschaffen und neue einführen“ (Machiavelli 1977: 95).

Zur Untermauerung seiner Einhegungsthese vergleicht Machiavelli den dittatore mit den decemviri. Letztere waren mit unbestimmten Vollmachten ausgestattet und für einen längeren Zeitraum ernannt worden. Dies versetzte sie in die Lage, Autorität über ihr Mandat hinaus zu usurpieren, was letztlich zur Tyrannis führte. Den Diktatoren war dieser Zeitrahmen verschlossen.92 Insofern verharrten Machiavelli und die nachfolgende Zeit in der altrepublikanischen Denkweise, seine Diktatur verblieb „als ein der freien römischen Republik wesentliches Institut“ (DD 7). Eine Scheidung

89 Ebd. S. 95. 90 „Machiavelli hat gerade darin, daß die Magistrate bestehen bleiben, eine Garantie gegen Mißbrauch der Diktatur gesehen“ (DD 114). 91 Siehe Machiavelli (1977, S. 95); s. Friedrich (1961, S. 40; s. Saracino (2013, S. 31):. 92 Friedrich (1961, S. 41).

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der Diktatur in den kommissarischen und souveränen Typus sei deshalb gar nicht in den Blick geraten.93 Was aber macht Machiavelli dann zu einem von Schmitt so geschätzten Staatsdenker der Neuzeit? Einmal entdeckt Schmitt in der auf Livius basierenden Auseinandersetzung mit der Diktatur eine „dezisionistische Pointe“, weil die Ermächtigung des Diktators mit der Aufhebung der gewaltenund aufgabenteilenden Mischverfassung einhergegangen sei. Zweitens betont Schmitt die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung des Principe für die neuzeitliche Staatslehre. Drittens, und am wichtigsten aber, gilt Machiavelli als der wesentliche und frühe Begründer eines technischen Politikverständnisses, einer neuen politischen Sachtechnik, die er durch die Analysen in den Discorsi und im Principe gewonnen hat.94 Der Principe beschreibt die Mittel und Wege, wie man als absoluter Fürst die politische Macht erlangen bzw. in seinen Händen behalten kann. Ging es in dieser Schrift – mit allen Amoralitäten – um die Alleinherrschaft, drehten sich die Erörterungen in den Discorsi um die Freiheit in einer Republik. Für Schmitt sind alle Missverständnisse und Vorwürfe aus dem Nebeneinander von Principe und Discorsi allerdings nicht relevant, „weil ein rein technisches Interesse herrscht, wie es für die Renaissance charakteristisch war (…). Aus der absoluten ‚Technizität‘ folgt die Indifferenz gegenüber dem weiteren politischen Zweck (…)“ (DD 8).

Die normativen Gehalte95 der beiden Staatsformen verblassen hinter Machiavellis sachtechnischem Neutralismus, seiner Technik des erfolgreichen Machterhalts:

93 Aus dem genannten Grund erschließt sich, dass der absolute Fürst niemals Diktator ist und die im Principe dargestellte Regierungsweise keine Diktatur: „Der Diktator ist immer ein zwar außerordentliches, aber doch verfassungsmäßiges republikanisches Staatsorgan (…). Der Principe dagegen ist souverän (…)“ (DD 7). 94 Siehe Saracino (2013, S. 24 f.). „Das grundsätzlich Neue an Machiavellis politischer Theorie ist dagegen seine prinzipielle Rechtfertigung einer technizistischen Politikbetrachtung sowie eine pessimistische Anthropologie, die bei ihm erstmals zu einer diesseitig begründeten Legitimation des Staates avanciert“ (Münkler 1990: 37). 95 Normative Anforderungen, die die Realität übersteigen, werden von Machiavelli „schroff zurückgewiesen“ (Münkler 1995, S. 251): „Es ist ein so außerordentlicher Unterschied zwischen der Art, wie man wirklich lebt und wie man leben sollte, daß alle, welche bloß darauf sehen, was geschehen sollte, und nicht auf das, was wirklich geschieht, eher ihren Untergang als ihre Erhaltung erleben. Es ist daher unvermeidlich, daß ein Mann, der überall rein moralisch handeln will, unter so

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„Die politische Machtorganisation und die Technik ihrer Erhaltung und Erweiterung ist bei den verschiedenen Staatsformen verschieden, aber immer etwas, das sachtechnisch herbeigeführt werden kann (…)“ (DD 8)96.97

Und Münkler expliziert: „Es kommt also darauf an, sich den jeweiligen Umständen möglichst gut anzupassen, um Erfolg zu haben. Machiavelli hat damit die Bedeutung, die moralische Normen mit universellem Gültigkeitsanspruch für sich in der Politik beanspruchen können, deutlich relativiert; statt dessen hat er gefordert, politisches Handeln müsse sich mehr als an allgemeinen Normen an den jeweiligen Umständen als Voraussetzung des Erfolgs orientieren“.98

Schmitts Erhöhung einer rationalen, kühlen wie abwägenden Technizität stand konträr zu der Dämonisierung machiavellistischer politischer Theorie.99 Denn die Fixierung Machiavellis auf die Zielerreichung, also den bestimmten Erfolg, ließ verbrecherische Methoden als Mittel der Zwecker-

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vielen anderen, die nicht so handeln, früher oder später zugrunde gehen muß“ (Machiavelli 1990, S. 91). Fixpunkte dieser Sachtechnik sind die geographische Lage, der Charakter des Volkes, die religiösen Anschauungen, soziale Machtgruppierungen und Traditionen. Aus der Verschiedenartigkeit dieser Parameter rühren unterschiedliche Methoden (DD 8 f.): „In den römischen Discorsi rühmt Machiavelli die guten Instinkte des Volkes, im Principe wiederholt er, daß der Mensch von Natur aus böse, Bestie, Pöbel ist. Das hat man als anthropologischen Pessimismus bezeichnet, aber es hat theoretisch eine ganz andere Bedeutung“ (DD 9). Schmitt macht nämlich die unterschiedliche moralische Verfasstheit der Bürgerschaft zum Konstruktionsprinzip einer Verfassung (s. dazu auch Friedrich 1961, S. 39). Der Principe gehe davon aus, dass der Mensch eine moralisch minderwertige Qualität aufweist, „um sich als Material für diese Staatsform zu eignen“. Menschen hingegen, die über die virtú, das Konstruktionsprinzip einer Republik verfügten, könnten eine Monarchie nicht ertragen: „Die Art politischer Energie, die sich in der virtú äußert, verträgt sich eben nicht mit absolutistischen Regierungsformen, sondern läßt nur eine Republik zu. Je nachdem nun die Aufgabe gestellt wird, ein absolutes Fürstentum oder eine Republik zu konstruieren, muß das Menschenmaterial, mit der das technische Verfahren zu rechnen hat, verschieden sein, da sonst der gewünschte Erfolg nicht erreicht werden kann“ (DD 9). Zur Persönlichkeit des Staatsgründers s. auch Friedrich (1961, S. 31 ff.). Vgl. Habfast (2010, S. 76 f.). Münkler (1990, S. 37). Weiter dazu siehe Saracino (2013, S. 25 f.).

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reichung ja zu. 100 Schmitt setzt dem Moralismus ungerührt das sachtechnische Ethos entgegen: „Auch Machiavelli selbst hat sich am liebsten mit rein technischen wie militärwissenschaftlichen Problemen beschäftigt. Bei diplomatischen und politischen Angelegenheiten nimmt ihn die Frage, wie man etwas ‚macht‘, am meisten in Anspruch, und wo sich im Principe ein ehrlicher Affekt verrät, ist es Haß und Verachtung für den Dilettanten, den Stümper des politischen Lebens, der eine Sache halb macht, mit halben Grausamkeiten und halben Tugenden“ (DD 8).101

Entscheidend für Schmitt ist, dass „diese technische Auffassung (…) für die Entstehung des modernen Staates wie für das Problem der Diktatur von unmittelbarer Bedeutung“ ist (DD 9). „Im Verlauf der weiteren Untersuchung wird sich immer wieder zeigen, daß der Inhalt der Tätigkeit des Diktators darin besteht, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, etwas ‚ins Werk zu richten‘; der Feind soll besiegt, der politische Gegner beruhigt oder niedergeschlagen werden. Immer kommt es auf die ‚Lage der Sache‘ an. Weil ein konkreter Erfolg herbeigeführt werden soll, muß der Diktator mit konkreten Mitteln in den kausalen Ablauf des Geschehens unmittelbar eingreifen. (…) Er kann daher, wenn es sich wirklich um den äußeren Fall handelt, keine allgemeinen Normen beobachten. (…) Hier wird also nicht mehr nach rechtlichen Rücksichten gefragt, sondern nur nach dem im konkreten Fall geeigneten Mittel zu einem konkreten Erfolg. (…) Daher herrscht gerade in der Diktatur ausschließlich der Zweck, von allen Hemmungen des Rechts befreit und nur durch die Notwendigkeit bestimmt, einen konkreten Zustand herbeizuführen. (…) Der absolut technischen Staatsauffassung bleibt ein unbedingter, von der Zweckmäßigkeit unabhängiger Eigenwert des Rechts unzugänglich“ (DD 11).

Schmitt kommt so zu dem Schluss, dass Rationalismus, Technizität und Exekutive den Weg zur Diktatur weisen, dass diese Gemengelage am Anfang des modernen Staates steht und dieser mithin aus einer politischen Sachtechnik entstanden ist. Und mit ihm beginnt als ein theoretischer Reflex des modernen Staates auch die Lehre von der Staatsräson,

100 Siehe Machiavelli (1990: Kapitel XVII.–XIX.). Sehr oft wird in der Literatur Machiavellis Bewunderung für Cesare Borgia Bezug genommen, der rücksichtslos seine Condottiere liquidieren ließ, als es ihm dienlich erschien. 101 Ausführlich dazu siehe Münkler (1995, S. 243 f.): „Mehr als moralisch verwerfliches hat er politisch ineffizientes oder gar falsches Handeln kritisiert und verurteilt, und man kann ihn mit einem gewissen Recht als den geistigen Vater jenes Satzes bezeichnen, wonach Irrtum und Versehen die der Politik eigentümlichen Verbrechen seien“ (Münkler 1990, S. 36).

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„d.h. einer über den Gegensatz von Recht und Unrecht sich erhebenden, nur aus den Notwendigkeiten der Behauptung und Erweiterung politischer Macht gewonnenen soziologisch-politischen Maxime“ (DD 12).

Der Imperativ der Staatsräson ist die politische Selbsterhaltung des neuen Staatstypus, dessen Kern eine die Staatsziele umsetzende Exekutive ist (DD 12).102 Es ist aber festzuhalten, dass für Machiavelli, dem der Staat das höchste und allumfassende Gut war, die Notwendigkeiten und Erfordernisse des Staatswesens keiner Rechtfertigung bedurften, das zugespitzte Problem der Staatsräson sich ihm eigentlich nicht stellte.103 Schmitt befasst sich im Anschluss mit einem Theoretiker der Staatsräson intensiver, dem Bremer Juristen Arnold Clapmar. 4.3. Arnold Clapmar.104 Arnold Clapmars bedeutendste und posthum erschienene Schrift De Arcanis Rerumpublicarum wurde eines der wichtigsten Werke der sog. Arcanliteratur und der politischen Publizistik des 17. Jahrhunderts.105 In ihr wurden die Aspekte der Staatsklugheit und Herrschaftspraxis – im Anschluss an Machiavelli und Bodin – als arkane (geheime) Wissenschaft vermit-

102 Der Exekutive, so Schmitt, sei es gleichgültig, „in welchem Dienst sie funktioniert“, weil die Regeln guten Funktionierens auf einer „soziologisch-praktischen Sachtechnik beruhen“, die Eigenart des Auftraggebers mithin gleichgültig sei (DD 12/13). 103 Friedrich (1961, S. 35). Carl Schmitts „Principe-lastige“ Begegnungen mit Machiavelli, so Saracino, seien insgesamt „flüchtig“ gewesen. Die Diktatur bilde insoweit eine Ausnahme: „Schmitt möchte sich als der missverstandene Machiavelli der Gegenwart verstanden wissen“ (Saracino 2013, S. 41). Er habe auch beabsichtigt, den Vorwurf des Machiavellismus abzuwehren, den die Alliierten im Ersten Weltkrieg Deutschland machten: „Schmitt betont den Techniker der Macht, den Realisten und die tragische rezeptionsgeschichtliche Gestalt in Machiavelli. Seinen Republikanismus nimmt er – wenn auch am Rande – zur Kenntnis“ (Saracino 2013, S. 42). 104 Arnold Clapmar oder Clapmarius wurde 1574 in Bremen geboren und in calvinistischem Geiste erzogen. Nach dem Studium der Rechte übernahm er mit sechsundzwanzig Jahren eine Professur für Politik und Geschichte an der Universität Altdorf (Nürnberg), veröffentlichte mehrere Bücher und verstarb 1604 mit nur dreißig Jahren. 105 Siehe Münkler (1987, S. 285).

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telt.106 „Geheim“ sind diese Ratschläge107, weil sie an Wirkung verlieren würden, wären sie publik und somit ein Gegenstand der öffentlichen Diskussion. In der Auslegung Clapmars sind diese Arcana Ratschläge zur Herrschaft und zur Sicherung des Gemeinwohls sowie zur Sicherstellung des Friedens.108 Clapmar definiert: „Staatsgeheimnisse sind meiner Definition nach innerste und geheime Mittel und Ratschläge derer, die im Staat die Herrschaft innehaben, und dienen teils der Erhaltung der Ruhe und demselben, teils aber auch der bestehenden Staatsverfassung bzw. dem öffentlichen Wohl“.109

Die Arcantheoretiker zielten auf pragmatische, am Zweck orientierte, Lösungen: „Der Gegensatz zwischen der mitunter amoralischen Politik der Regierung und dem moralischen Leben der Bürger, das durch diese Politik ermöglicht werden sollte, war, so der Arcanismus, nur zu überwinden, indem die amoralischen Praktiken der Politiker dem Blickfeld der Bürger entzogen wurden, damit sie durch die Kenntnis der politischen Methoden moralisch nicht korrumpiert würden“.110

Das Spezifische bei Clapmar ist die Unterbauung dieser Arcana mit Rechtsgrundlagen sowie ihre Methodisierung und Systematisierung. Er entwickelte ein System, mit dem das Instrumentarium zur Herrschaftsausübung in erlaubte und unerlaubte Praktiken eingeteilt werden konnte, „wobei kräftig gegen Machiavelli, den Propagandisten der verbotenen, polemisiert wird. So kann, wie bereits in den Staatsraison-Theorien, die utilitaristische Politikauffassung Machiavellis rezipiert werden, ohne daß man gezwungen ist, seine politische Theorie im ganzen gutzuheißen“.111

Innerhalb der Arcana wird zwischen den arcana imperii, und den ancara dominationis unterschieden. Zu den arcana imperii gehören die verschiedenen Staatsformen und darauf abgestellt die Techniken zur Sicherung des 106 Im Übrigen, habe jede Wissenschaft, die Theologie, die Jurisprudenz, der Handel, die Malerei, die Kriegführung, die Medizin ihre Arcana“ (D 14). 107 „Ich definiere Staatsgeheimnisse (arcana rerum publicarum) als die innersten und geheimsten Mittel und Ratschläge derer, die im Staat die Herrschaft innehaben, und sie dienen teils zur Aufrechterhaltung der Ruhe (tranquilitas), teils zur Erhaltung der bestehenden Staatsverfassung und zwar des öffentlichen Wohle wegens“ (De Arcanis I, 1, S. 9, zit. nach Münkler 1987, S. 285). 108 Siehe Llanque (2008, S. 196). 109 Clapmar, zit. n. Hausteiner (2017, S. 91, Anm. 1). 110 Münkler (1987, S. 291). 111 Ebd. S. 284.

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innerstaatlichen Friedens, wie es etwa in Monarchie und Aristokratie die Rede- und die Pressefreiheit sind. „Der ganze durch Machiavelli inaugurierte Katalog von Rezepten, wie man es anzufangen hat, um sich im Besitz der politischen Macht zu erhalten, fehlt hier ebenso wenig wie die Vorstellung von dem Volk als dem großen, bunten Tier, das mit bestimmten Praktiken behandelt werden muß“ (DD 15).

Die arcana imperii und die arcana dominationis werden begrifflich den jura imperii und jura domiationis entgegengestellt (DD 15).112 Unter den jura imperii werden in der Nachfolge von Bodin113 die verschiedenen öffentlichen und unveränderlichen staatlichen Souveränitätsrechte gefasst, insbesondere das Recht Gesetze zu erlassen; die Souveränitätsrechte sind die Grundlage der Arcana. Die jura dominationis hingegen sind das öffentliche Ausnahmerecht, das vom Machthaber zur Verteidigung seiner Herrschaft und im Interesse der staatlichen Existenz in außergewöhnlichen Situationen – Krieg und Aufruhr – ausgeübt werden kann; es darf vom jus commune abweichen und hat nur noch das jus divinum zu respektieren. Erst das jura dominationis, so Schmitt, offenbart die ganze Fülle der Staatsgewalt (DD 16).114 Aber Carl Schmitt hat offensichtlich wenig Vertrauen in die Rechtsbeziehung von arcana und jura, weil die außerordentlichen Souveränitätsrechte rechtlich letztlich nicht zu binden sind. Denn die Weisung, dass der Herrscher das jus commune nur zur Selbstverteidigung in Extremsituationen verletzen darf, stelle zwar eine Begrenzung dar – nur für durchführbar hält Schmitt sie nicht. Wenn jura dominiationis aufgezählt werden, sei dies der Versuch, die unbegrenzte Machtvollkommenheit auf einzelne Beziehungen zu begrenzen, es bleibe aber die allgemeine Befugnis, alles zu tun, was nach Sachlage erforderlich ist. Scheinbar, so Schmitt, sei das Ausnahmerecht noch Recht, weil es eine Begrenzung zu haben scheine,

112 Wir müssen an dieser Stelle im Rahmen einer Einführung die Schmittschen Ausführungen etwas vereinfacht und geraffter darstellen. 113 Der französische Jurist Jean Bodin (1530–1596) hatte die Souveränität zum Wesensmerkmal des Staates erklärt (Bodin o.J.: I Kap. 1). Angelpunkt war für ihn das Recht, „allen Untertanen ohne deren Zustimmung Gesetze aufzuerlegen“ (Bodin o.J.: I Kap. 8). 114 Siehe auch Münkler (1987, S. 285/286). Der Raub der Sabinerinnen half dem Frauenmangel ab, unter dem die Römer seit der Staatsgründung litten. Dieser Raub erfolgte wegen einer dringenden öffentlichen Lage (publica necessitas) und fiel somit unter das jus dominationis, „während ein aus „privata libido“ begangener Frauenraub ein Kapitalverbrechen bleibt“ (Münkler 1987, S. 286;

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„in Wahrheit ist die Frage nach der Souveränität dieselbe wie die nach den jura extraordinaria. Der von Stände- und Klassenkämpfen erschütterte Staat ist seiner Konstitution nach in einem fortwährenden Ausnahmezustand und sein Recht bis ins letzte Element Ausnahmerecht. Wer den Ausnahmezustand beherrscht, beherrscht daher den Staat, denn er entscheidet darüber, wann dieser Zustand eintreten soll, und darüber, was alsdann nach Lage der Sache erforderlich ist. So endet alles Recht in dem Hinweis an die Lage der Sache“ (DD 17/18).115

Derart aber werde das Recht diffus: „Wo alles auf die konkrete Sachlage und den zu erreichenden konkreten Erfolg ankommt, wird die Unterscheidung von Recht und Unrecht eine unbrauchbare Formalität (…)“ (DD 18).

Die Arcana systematisieren das Thema der Staatsräson nach der Staatsformenlehre des Aristoteles. Diese mit Bodins Souveränitätslehre verbunden zu haben, ist das Besondere bei Clapmar. Die mit ethischen Argumenten unterfütterte Staatsräsondebatte wurde so systematisiert „und ansatzweise auch juridifiziert“.116 Im Ergebnis ist die Unterscheidung von jura arcana und jura dominationis keine befriedigende Antwort auf das Problem der Machtvollkommenheit und Souveränität des modernen Staates, weil einmal die Rechtsbindung des Herrschers leerläuft und zweitens, die Frage der Rechtmäßigkeit hinsichtlich der ausschließlich am Sacherfolg ausgewählten Machtmittel unbeantwortet bleibt.117 Insoweit scheitert letztlich auch der Versuch der Arcanliteratur und der Vertreter der Staatsräson, den bei ihnen erkennbaren Impetus der Herrschaftstechnik normativ einzubinden.118

115 Wir finden hier eine Vorwegnahme des berühmten Satzes aus der Politischen Theologie: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (PT 13). 116 Stolleis (1988, S. 100). 117 Habfast (2010, S. 83). 118 Münkler (1987, S. 289).

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4.4. Monarchomachen.119 Die Ideen der Monarchomachen120 – der „Königsbekämpfer“ – entstammen vorwiegend den hugenottischen, calvinistischen Kreisen121 in Frankreich Mitte des 16. Jahrhunderts, die sich nach der Bartholomäusnacht formiert hatten.122 Sie formulierten ein Widerstandsrecht der Stände und, falle diese aus, der unteren Magistrate gegen Entscheidungen des Monarchen, wenn sie zu der Auffassung gekommen waren, dass dieser seine Rechte und Befugnisse überschritten habe. Im Brennpunkt standen Fragen der Glaubensfreiheit im grausam-harten französischen Bürgerkrieg, in dem sich die Römische Kirche und der französische Hof sowie der calvinistische Protestantismus gegenüberstanden. Dieser vertrat die theologische Auffassung: hindere die weltliche Herrschaft einen Christen an der Ausübung seines Glaubens im Sinne der Gebote Gottes, mache sie ihm gar sein Eigentum streitig, dann könne Gottes Willen nicht mehr gut und richtig sein. Diese calvinistische These123 zwingt den Gläubigen in die

119 Grundsätzlich s. Ottmann (2006, S. 90-93); s. Reinhard, in: Fenske et al. (2003, S. 276-281; 285-287); 120 Ihre bedeutendsten Vertreter sind die Franzosen Francois Hotman, Theodor Beza (eigentlich Theodore de Beze und der Anonymus Brutus)sowie die schottischen Reformatoren George Buchanan und John Knox (Schwan 1993, S. 174; Höntsch 2013, S. 82). 121 Es finden sich aber auch katholische Vertreter beispielsweise unter den spanischen Jesuiten. Unter den entsprechenden Umständen galt: War ihr Bezugspunkt ein katholischer Monarch, vertraten sie in der Regel eine monarchische Position und die Protestanten eine monarchomachische – und vice versa (s. Reinhard 1996, S. 281). 122 Der Begriff „Monarchomachen“ ist ein politischer Kampfbegriff und geht zurück auf den politischen Schriftsteller William Barclay (1546-1608), der ihn zuerst im Titel einer 1600 erschienenen Schrift verwendete. Diese war insoweit eine polemische, weil die Monarchomachen keine Könige, sondern Tyrannen bekämpfen (s. Höntsch 2013, S. 82). 123 Für Calvin hat ein Herrscher sein Amt nur inne, um das Reich Gottes auf Erden zu errichten und zu verteidigen. Kommt er diesen Verpflichtungen nicht nach, ist er ein ungerechter Herrscher, ein Räuber und Tyrann. An diese Auffassung schließt die Widerstandstheorie der Monarchomachen an. Zudem preist Calvin die reformierte Kirche als „staatserhaltend“ an (Münkler 1987: 98). Für Friedrich hat Calvin damit die Staatsräson geheiligt (Friedrich 1961, S. 66; 72). (Zur Theologie Calvins s. Friedrich 1961, S. 66-84).

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Entscheidung für die Herrschaft Gottes oder für den weltlichen Herrscher, den Monarchen.124 Diese Zwangslage führte „zwangsläufig zu einer generellen Problematisierung der Legitimität der bestehenden politischen Ordnung. Das Recht auf Widerstand wird so zum konstitutiven Element der Herausbildung moderner Staatlichkeit“.125

Für Carl Schmitt sind die Monarchomachen zuvörderst Gegner der „absolutistischen Staatsraison“, der sie mit „rechtsstaatlichen Argumenten“ entgegentraten, auch um den nach eigenem Verständnis „machiavellistischen Geist“ zu bekämpfen (DD 19). Die Mittel hierzu waren das Recht auf aktiven Widerstand und im äußersten Fall das Recht auf den Tyrannenmord, der theologisch begründet wurde. Nur die Repräsentanten des Volkes, nicht das Volk selbst, schließen einen Bund (foedus) mit dem omnipotenten Herrscher analog zum alttestamentlichen Bundesschluss Gottes mit dem Volk Israels und seinen Königen. Diesem Bund ist der Herrscher verpflichtet und verantwortlich, womit er alle angemaßte absolute Souveränität verliert. Seine Friedenspflicht und -funktion rührt stattdessen aus den bestehenden Bindungen von Bund und Vertrag (foedus und pactum).126 Da das Widerstandsrecht aus obiger Begründung auf die Stände beschränkt bleibt, schätzt Schmitt deren Widerstand als vergeblich ein, weil er dem sachtechnischen Machtvolumen in Händen der Herrscher schlicht nicht gewachsen ist. Seine Auffassung erschließt er vor allem aus den Vindiciae contra tyrannos (1579) des pseudonymen Protestanten Junius Brutus127. Dieses Werk richte sich eigentlich – wie die verwandte Literatur auch – vor allem gegen die pestifera doctrina („verpestete Lehre“), obgleich, so Schmitt, die Diktatur im Gegensatz zur Arcanliteratur in diesen Schriften kaum erwähnt werde (vgl. DD 19). Brutus, der den absoluten Herrscher als Tyrannen bezeichnet, stellt die Frage nach den Bedingungen, die den Widerstand gegen einen Herrscher rechtfertigen und klassifiziert zu diesem Zweck zwei Typen der Tyrannis: „Der Tyrann wird nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten definiert: Tyrann ist derjenige, der entweder mit Gewalt oder bösen Künsten die Herrschaft an sich

124 Siehe Münkler 2014, S. 147 Anm. 20; s. Bermbach 1985, S. 107-124; s. Hartmann u.a. (2002, S. 50). 125 Bermbach (1985, S. 104; Herv. im. Original.). 126 Schwan (1993, S. 174). 127 Schwan vermutet zwei führende Hugenotten – Hubert Languet (1518-1581) und Philippe Du Plessis-Mornay (1549-1623) – hinter diesem Pseudonym (Schwan 1993, S. 174).

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reißt (tyrannus absque titulo) oder die ihm rechtmäßig übertragene Herrschaft unter Verletzung des Rechts und der von ihm beschworenen Verträge mißbraucht (tyrannos ab exercitio)“ (DD 20).

Die Amtsführung des Herrschers ist rechtmäßig, wenn er Gesetze, die von das Volk repräsentierenden Ständen erlassen sind, beachtet. Hieraus resultiert eine einfache Teilung der Gewalten in die legislativen Stände und den exekutiven Herrscher, der dadurch zum ersten Diener des Staates wird. Aber selbst diese schon begrenzte Herrschermacht soll noch unter der Kontrolle eines Senats stehen. Unter allen ständischen Beauftragten („officiarii Regni“), die zusammen mehr sind als der Herrscher, ist dieser nur der Erste (vgl. DD 20). „Die unrechtmäßige Machterweiterung des Fürsten beginnt gewöhnlich damit, daß sie diese ständischen Beauftragten beiseite schieben und nur noch zu außerordentlichen Versammlungen einberufen“ (DD 20).

Ein weiterer Schwerpunkt der Auseinandersetzung Monarchomachen vs. Herrscher ist der Gegensatz zwischen absolutistischer Bürokratie und ständischen Beauftragten. Der Herrscher soll nach den Vindiciae ebenfalls officiarii haben, deren Auftrag aber mit dem Tod des Herrschers erlischt, während die officiarii Regni bleiben. Sie sind bloße Diener des Herrschers. Aber Schmitt hebt hervor: „Damit haben die Vindiciae in der Tat einen entscheidenden Punkt getroffen, aber nicht erkannt: gerade diese servi haben, wie in den nächsten Kapiteln gezeigt werden soll, als fürstliche Kommissare den ständischen Rechtsstaat beseitigt“ (DD 20).

Ein weiterer Problempunkt stellt dar, dass die Vindiciae das Volk als den dominus und den Herrscher als den officiarius ansehen, der König soll also herrschen, „aber das heißt für das allgemeine Wohl sorgen“ (DD 21). Schmitt insistiert: „Stillschweigend und als etwas von selbst Verständliches wird vorausgesetzt, daß das öffentliche Interesse ebenso wie das Recht etwas Eindeutiges, keinem Zweifel Unterliegendes und allgemeiner Übereinstimmung Gewisses ist“ (DD 21).

Dem ist aber nicht so, weil ja gerade strittig ist, was rechtens ist, und sich, zweitens, letztlich zwei unterschiedliche Naturrechtsauffassungen gegenüberstehen. Gingen die Monarchomachen davon aus, dass es ein inhaltlich vorgegebenes Recht als vorstaatliches Recht gibt, macht Hobbes klar, dass es vor dem Staat und außerhalb des Staats kein Recht gibt und der Wert

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des Staates ja gerade darin liegt, dass er das Recht schafft, weil er den Streit um das Recht entscheidet (DD 21): „Der Staat kann kein Unrecht tun, weil irgendeine Bestimmung nur dadurch Recht werden kann, daß der Staat sie zum Inhalt eines staatlichen Befehls macht und nicht dadurch, daß sie irgendeinem Gerechtigkeitsideal entspricht. Autoritas, non Veritas facit Legem (Leviathan, cap. 26). (…) Der Unterschied zwischen den beiden Richtungen im Naturrecht wird am besten dahin formuliert, daß das eine System (…) von einem Inhalt der Entscheidung ausgeht, während bei dem andern ein Interesse nur daran besteht, daß überhaupt eine Entscheidung getroffen wird“ (DD 21; 22)128.

So lässt sich fazitieren, dass Carl Schmitt das Problem der Machtvollkommenheit weder von der Handlungstheorie „machiavellistischer Technizität“ noch vom „monarchomachischen Rechtsstaat“ angemessen gelöst sieht: „Das schwierige Problem des öffentlichen Rechts, das im Begriff der Souveränität und seiner Verbindung von höchstem Recht und höchster Macht liegt, konnte weder mit den Mitteln einer politisch-technischen Theorie gelöst werden, noch war es damit erledigt, daß man es, wie die Monarchomachen, ignoriert“ (DD 25).

Auch aus juristischer Sicht versagen beide Ansätze. Die Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern fürstlicher Machtvollkommenheit und denen des ständischen Rechtsstaats haben die ersteren für sich entschieden. Denn Schmitt sieht am Anfang des neuzeitlichen Staates die arcan-sachtechnisch geschulte Macht der Herrscher gegenüber der noch naturrechtlich geprägten ständischen Opposition klar im Vorteil. Realpolitisch wie politiktheoretisch hat sich eine sachtechnische Handlungslehre durchgesetzt. Mit der Souveränitätslehre ist ein Mittel der Schmittschen Diktatur in die Staatslehre eingezogen. Das Recht aber hatte sich in dieses Umfeld erst noch zu integrieren.129

128 Herv. im Original. 129 Siehe a. Habfast (2010, S. 86).

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4.5. Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Jean Bodin.130 Mit dem 1576 im Kontext der Religionskriege erschienenen Werk: Les six livres de la republique hat der französische Staatsrechtler Jean Bodin den modernen Souveränitätsbegriff grundgelegt und steht damit an der Schwelle zum neuzeitlichen Staat.131 Bodin gehörte einer Gruppierung von Juristen und Politikern an, die – meist gemäßigte Katholiken – im französischen Bürgerkrieg zwischen den Katholiken und den Hugenotten standen und nach Mitteln und Wegen suchten, diesen zu beenden.132 Ihre Grundüberlegung war es, die Monarchie zur absoluten Gewalt zu erheben, um es dem Monarchen zu erlauben, unabhängig von seiner eigenen Konfession über den Religionsparteien zu stehen. Als einen weiteren Bestandteil ihrer Lehre sahen sie eine „Politik der Toleranz“ als eine pragmatische Notwendigkeit an: „Der Frieden soll Vorrang haben vor erzwungener Homogenität“.133 Dies fügt sich in das Gesamtbild von Bodins Staatszweck, den er in erster Linie in der Sicherung von Leib, Leben, Freiheit, Eigentum und der „Sicherung der Voraussetzungen einer glücklichen Existenz“ sieht.134 Für Carl Schmitt steht Bodin „politisch als Gemäßigter“ („politicien“), zwischen „der machiavellistischen Technizität und dem monarchomachischen Rechtsstaat“ (DD 25): „Demgegenüber hat Bodin nicht nur den Verdienst, den Souveränitätsbegriff des modernen Staates begründet zu haben, er hat auch den Zusammenhang des Problems der Souveränität mit dem der Diktatur erkannt und – freilich nur durch die Beschränkung auf eine kommissarische Diktatur – eine Definition gegeben, die auch heute noch als grundlegend anerkannt werden muss“ (DD 25).

130 Siehe. dazu (Mayer-Tasch 2011); Ottmann (2006, S. 213-230); Reinhard, in: Fenske et al. (2003, S. 296-301). 131 Er glaubte zugleich an Dämonen und den Einfluss der Planeten, was – wie Ottmann betont – seine Leser oftmals verwirrt (Ottmann 2006, S. 215 f.). 132 1588 vollzieht er eine überraschende Wendung und schließt sich der vom Adelsgeschlecht der Guise geführten Liga an, vermutlich um sich weiterer Verfolgung zu entziehen. 1593 wendet er sich wieder von der Liga ab und stellt sich auf die Seite Heinrichs IV. (vgl. Ottmann 2006, S. 215 f.). 133 Ottmann (2006, S. 214). 134 Mayer-Tasch (2011, S. 26).

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Diese berühmte Formulierung lautet: „Der Begriff Souveränität beinhaltet die absolute und dauernde Gewalt eines Staates, die im Lateinischen majestas heißt (…) Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt“ 135.136

Das Wesen der Souveränität zeigt sich in der absoluten Machtkonzentration und Machtvollkommenheit des Staates, die einfach festgestellt, aber nicht begründet und legitimiert wird – nicht naturrechtlich, nicht vertragsrechtlich und nicht theologisch. Bodins Souveränität ist kein „Gegenstand konstitutiver Akte, sondern empirisch-rationaler Feststellungen und deren juristische Subsumption“.137

Derart gerät das traditionelle Problem der Rechtfertigung von höchster Gewalt erst gar nicht in den Diskurs und auch die Frage, welche substantiell souveränen Rechte diese Machtvollkommenheit denn ausmachten, entfällt.138 Der Begriff der Souveränität wird aber auch juristisch gefüllt; so beinhaltet er das Recht zur Gesetzgebung: „Aus all dem wird deutlich, daß das Hauptmerkmal der souveränen Majestät und absoluten Gewalt vor allem darin besteht, allen Untertanen ohne deren Zustimmung Gesetze auferlegen zu können. (…) Der souveräne Fürst muß die Gesetze nach seinem Ermessen und gemäß den jeweiligen Umständen ändern können“.139

Aus diesem hierarchisch an der Spitze stehenden Recht sind alle anderen Souveränitätsrechte ableitbar: „Diese Gewalt, Gesetze zu machen oder aufzuheben, umfaßt zugleich alle anderen Rechte und Kennzeichen der Souveränität, so daß es streng genommen nur dieses eine Merkmal der Souveränität gibt. Alle anderen Souveränitätsrechte sind darunter subsumierbar“.140

135 In der lateinischen Fassung lautet sie: „Majestas est summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas“. Aus ihr leitet sich die Epochenbezeichnung „Absolutismus“ ab (Bodin 1976, S. 19; Anm. 9). 136 Bodin (1976: 19 [205]). Wir zitieren aus dem Reclam-Auswahlband Über den Staat (1976), weil er leicht verfügbar ist. In [ ] finden Sie die zitierte Stelle in der genutzten Ausgabe Sechs Bücher über den Staat (München 1981). Diese Ausgabe verwenden wir auch für Textstellen, die im Auswahlband nicht enthalten sind. 137 Quaritsch (1970, S. 253). 138 Siehe ebd., S. 260. 139 Bodin (1976, S. 31/32; [222]). 140 Ebd. S. 43, [294].

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Die wichtigsten Hoheitsrechte, die erfasst werden, sind: das Recht der Kriegserklärung und des Friedensschlusses, das Recht, die höchsten Beamten einzusetzen, die höchstrichterliche Entscheidungsgewalt, das Begnadigungsrecht u.a..141 Ein weiteres wichtiges Kriterium des Souveräns ist es, dass er delegierte Aufgaben „auf jeden Fall“ zurücknehmen und in ihre Behandlung eingreifen kann. Bodin schließt daraus, dass aus diesem Grund der Diktator des klassischen Roms kein Souverän war, sondern nur „Kommissar“ mit begrenzter Aufgabe, etwa um Krieg zu führen. Gleiches gilt für die Decemvirn, die zwar „die absolute Vollmacht hatten, eine neue Verfassung einzuführen“, ihre Macht aber mit der Erledigung dieses Auftrags erloschen war (DD 25/26). Kurz: nicht souverän ist auch der, dessen delegierte Aufgabe und dessen Macht einer zeitlichen Begrenzung unterliegen, „denn sie leitet sich von einer anderen ab, und der wahre Souverän erkennt keinen anderen über sich als Gott.142 Der noch so mächtige Beamte oder Kommissar einer demokratischen Republik oder eines Fürsten hat immer nur abgeleitete Befugnisse, souverän ist das Volk oder in der Monarchie der Fürst“ (DD 26).

Bodin macht keinen Unterschied zwischen der Souveränität des Staates und der des Trägers der Staatsgewalt. In seiner Souveränität fallen die faktische und die rechtliche höchste Gewalt zusammen und bilden eine Einheit: „Wer die absolute Macht hat, ist eben der Souverän, und wer das ist, muß im einzelnen Fall festgestellt werden, aber nicht auf Grund bloß tatsächlicher Feststellung des politischen Einflusses (…). Eine Rechtsbeziehung, nämlich Ableitbarkeit der tatsächlich noch so starken Macht, ist das Entscheidende. Damit ist für ihn die Frage nach der Diktatur beantwortet“ (DD 27).143

141 Siehe ebd. S. 43-46; [295-313]. 142 „Die Staatsgewalt ist dann absolut und souverän, wenn sie nur dem göttlichen Gebot und dem Naturrecht unterworfen ist“ (Bodin 1976, S. 22 [129]). Und: „Was allerdings die Gesetze Gottes und der Natur betrifft, so sind alle Fürsten dieser Erde an sie gebunden“ (Bodin 1976, S. 26 [133]). 143 Dagegen macht Hugo Grotius keinen wesentlichen Unterscheid zwischen Diktatur und Souveränität. Er gesteht dem Volk das Recht zu, seine Souveränität übertragen zu können. Diese Übertragung sei bei der Diktatur gegeben, so dass es für ihn unerheblich ist, auf welche Zeitspanne sich diese beläuft. Für diese wäre der Diktator dann Souverän und nicht nur Magistrat, wie Bodin meint. Für Grotius darf der Diktator in der gewährten Zeitspanne allerdings nicht beliebig abberufen werden können. Zum Kern der Debatte wird dann die Frage, wieweit der Diktator ein Recht an seinem Amt hat: „Wird das bejaht, kann der Diktator nicht mehr wie

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Diese These setzte aber eine Debatte darüber in Gang, ob die Diktatur wirklich kein Fall der Souveränität sei (nachst. s. DD 29 ff.). Das Problem der zeitweiligen Übertragung der vollen politischen Gewalt hat für Schmitt Thomas Hobbes klar beantwortet. Überträgt die Gesamtheit des Volkes einem Einzelnen die Herrschaft, ist eine Monarchie gegründet. Wird die Herrschaft nur auf Zeit übertragen, bemisst sich der rechtliche Charakter der so entstandenen politischen Gewalt danach, ob der populus – d.i. die als staatsrechtliches Subjekt handelnde Gesamtheit der Bürger – während der zeitlich begrenzten Herrschaft das Versammlungsrecht hat. Kann es sich ohne oder gegen die Zustimmung des Inhabers der politischen Gewalt versammeln, „so ist dieser kein Monarch, sondern nur primus populi minister“ (DD 30).144 In seinem Leviathan (1651) nennt Hobbes den Diktator einen „zeitweiligen Monarchen“, weil der Machtumfang beider gleich sei. Hinzugefügt wird aber umgehend, der Diktator sei gleichwohl nur „Minister“ einer herrschenden Demokratie oder Aristokratie, wenn er etwa nicht selbst seinen Nachfolger bestimmen könne. Schmitt erkennt in dieser Konstruktion „das Problem der souveränen Diktatur“: „Aber Hobbes unterscheidet zwischen der Souveränität selbst und ihrer Ausübung und entgeht dadurch der letzten Konsequenz. Er bemerkt, daß in der Demokratie häufig einem Minister oder Beamten die Ausübung der Souveränität übertragen wird, wobei das Volk nur die Autorität, nicht aber deren Ministerium hat und sich mit der Ernennung der Amtsträger begnügt“ (DD 31).

Namentlich im Kriege soll immer eine absolute Form der Herrschaftsausübung ausgeübt werden, „woraus (…) die Vorzüglichkeit der monarchischen Staatsform folgen soll, da ja nach Hobbes die Staaten im beständigen Natur-, d.h. Kriegszustand leben“ (DD 31).

Die Kontroverse, ob der Diktator als nur zeitweiliger Gewaltinhaber ein Monarch ist, habe, so Schmitt, in Wahrheit den Gegensatz von kommissarischer und souveräner Diktatur betroffen (s. DD 32). Bodin beschränkte sich auf die kommissarische Diktatur als einen Fall der kommissarischen Erledigung öffentlicher Aufgaben145, die er auf die Unterscheidung des ein Kommissar (im Gegensatz zum ordentlichen Amtsträger) beliebig zurückgerufen werden, so wird die Gleichstellung mit dem Souverän diskutabel, was sie sonst allerdings nicht ist“ (DD 29). 144 Dies gilt wieder für den römischen Diktator, der jederzeit durch das Volk, das immer Souverän bleibt, abberufen werden kann (DD 30). 145 Bodin (Buch III, Kapitel II).

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Beamten (officier) vom Kommissar (commissaire) gründete, sei doch die Diktatur durch die Existenz der souveränen Gewalt quasi zu einem faktisch wie rechtlich abhängigen, nicht jedoch zu einem normalen Staatsamt,mutiert.146 „Der ordentliche Beamte ist eine mit gesetzlich umschriebenen Aufgabenkreis betraute ‚öffentliche Person‘(…); der Kommissar ist ebenfalls öffentliche Person, hat aber eine außerordentliche, nur durch Auftrag bestimmte Aufgabe. (…) Beide haben eine öffentliche Funktion, (…) im Gegensatz zum Privatmann, aber der Kommissar ist für Bodin kein Magistrat; diesen bezeichnet er (...) immer als officier“ (DD 32/33).147

Es gibt also ganz allgemein betrachtet zwei Arten staatlicher Machtausübung, die sich „als ordentlich-amtliche oder kommissarische Tätigkeit bezeichnen lassen“ und sich durch folgende Merkmale unterschieden lassen: (1) Die Tätigkeit des Beamten beruht auf Grundlage eines Gesetzes und ist durch die Dauer und ein Recht auf das Amt charakterisiert; überdies hat er einen gewissen Ermessens- und Interpretationsspielraum. (2) Der Kommissar wird durch Ordonnanz für einen bestimmten Auftrag eingesetzt, hat keinen Ermessens- und einen ganz engen Interpretationsspielraum, ist immer und in allen Einzelheiten vom Willen des Auftraggebers abhängiges „Werkzeug“ und seine Ordonnanz endet mit der Erledigung des Auftrags (s. DD 33/34: 35; 36).148 Die rechtlichen Grundlagen von Magistraten und Kommissaren sind also in Gegensatzpaaren „Gesetz auf der einen, Ordonnanz auf der anderen Seite“ (DD 34), „ordentlich und außerordentlich, dauernd und vorübergehend“ (DD 35). Nun benennt Bodin eine ganze Anzahl verschiedener Begriffe des Kommissars (DD 37/38), ohne sie nach Arten zu differenzieren, weil für ihn unterschiedslos alles auf dem jederzeit widerrufbaren Auftrag (commission) beruht. Schmitt präzisiert in der Folge Bodin, indem er nach dem Dienstverhältnis und dem Inhalt der amtlichen Tätigkeit unterscheidet (DD 35).149 Für Schmitt sind der „Geschäfts- oder Verhandlungskommissar“ und der bei Bodin selbst nicht fassbare „Aktionskommissar“ von Bedeutung. Während ersterer ein nur mit speziellen Vollmachten ausgestatte-

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Siehe Habfast (2010, S. 88.) Siehe Bodin (1981: 428). Siehe Bodin (1981, S. 430, 433, 441). Für das Dienstverhältnis gilt: „Nach außen hin kann die Befugnis des Kommissars noch so groß sein, er bleibt immer das unmittelbare Werkzeug eines konkreten fremden Willens“ (DD 36).

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tes „Werkzeug“ für festgelegte Geschäfte sei, wäre der Diktator „ein absoluter Aktionskommissar“ (ebd.). Die Unterschiede zu anderen Kommissarsarten beginnen bei der Vollmacht. Es rückt hier der angestrebte Erfolg der Aktion derart stark in den Fokus, dass sich der Diktator mit seiner Vollmacht – nach Lage der Sache und eigenem Entscheid – zur Zielerreichung über die Rechte Dritter hinwegsetzen darf (s. ebd.). Der Diktator nach Bodin, könne also „begriffsnotwendig“ nur Kommissar sein (DD 39), weil der Souverän nicht mehr zwischen Gesetz und Ordonnanz, zwischen Beamtem und Kommissar, wählen kann. Ihre Grenzen findet die Diktatur nur in ihrem Auftrag, aber nie gelangt sie zu eigener Machtvollkommenheit durch ein Amt (s. ebd.). 5. Die Praxis der fürstlichen Kommissare bis zum 18. Jahrhundert. Schmitt spürt nunmehr dem von ihm präzisierten Begriff der „kommissarischen Diktatur“ in verschiedenen Institutionen und geschichtlichen Abschnitten nach. Der erste dieser Abschnitte umfasst den Kirchenstaat des 13. und 14. Jahrhunderts. Der Begriff der päpstlichen Amtsgewalt, der plenitudo potestatis, war Ausgangspunkt und Grundlage einer revolutionären Umgestaltung der kirchlichen Organisation (DD 42; nachst. s. 42 f.). Die päpstliche Souveränität innerhalb der Kirche hat für Schmitt den mittelalterlichen Lehnsstaat bereits im 13. Jahrhundert überwunden, indem sie die mittelalterliche Vorstellung einer feststehenden Ämterhierarchie auch vor der höchsten Instanz beseitigte und delegierte Kommissare des Papstes – für seine Gegner tyrannisch150 – in den wohlgegliederten Bau der Kirche und des wohlerworbenen Amtes eingriffen. So entsandte Papst Innozenz III. Spezialbevollmächtigte unabhängig von ihrer Rangstelle in der Kirchenamtshierarchie zur richterlichen Behandlung von Streitigkeiten an Ort und Stelle: „Wo der päpstliche Legat war, verfügte er über die Ämter, (…) entschied in Sachen des Glaubens und der Disziplin und erließ allgemeine Statuten“ (DD 44). Alles, was er tat, wurde als vom Papst selbst vorgenommen betrachtet – vorbehaltlich eines päpstlichen Widerrufs: „Der Papst ist durch den Legaten überall“ (ebd.). 150 Schmitt bezieht sich auf Marsilius von Padua, der in seiner Schrift Defensor Pacis heftig gegen die plenitudo potestatis des Papstes polemisiert hatte und von dem auch der „Tyrannei“-Vergleich stammt (s. DD 43).

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Gleichwohl beruht die Tätigkeit des rechtsprechenden und rechtsverwirklichenden Legaten auf einem Auftrag, einer commissio (DD 45).151 Da das Erkenntnisverfahren zu Maßnahmen führen kann, deren Umfang nicht vorherzusehen ist, kam es zu der Wendung, dass das Nähere des Vollzugs dem Exekutionskommissar überlassen blieb (DD 46). Der päpstliche Legat wird so zum kommissarischen Diktator im Sinne Schmitts. Danach kam es zu immer weiteren Ausdehnungen der kommissarischen Kompetenzen, alles Erforderliche nach Lage der Sache zu tun, und die Befugnis weitere Kommissionen – ausgenommen die hohe Gerichtsbarkeit – zu erteilen (s. ebd.).152 Schon beim kirchlichen Legaten ging die Tätigkeit teils weit über die Anwendung von Rechtssätzen hinaus, indem zusätzlich ein bestimmter Zweck das Ziel der commissio war. Deutlicher noch tritt dies auf weltlicher Staatsebene zutage, wenn Fürsten „Sendlinge mit besonderen Aufgaben und Befugnissen“ ausschicken (DD 47).Wie auch in England und Frankreich war es eine typische Entwicklung, dass aus den „Sendlingen“ Sesshafte werden und aus der Kommission ein ständiges Amt (DD 48). Im Italien des 14. Jahrhunderts treten dann spezielle „Heereskommissare“ auf – andere Länder folgen dieser Entwicklung, die den Heerführer zu kontrollieren und staatliche Funktionen auszuüben hatten, die man dem militärischen Führer aus welchen Gründen auch immer nicht überlassen wollte.153 Die Wandlung des frühen neuzeitlichen Staates zum absolutistischen Staat brachte dem Kommissarwesen gravierende Einschnitte (nachst. s. DD 73 f.). Die fürstlichen Kommissare waren von Geschäfts- zu Dienstkommissaren „degradiert“ und in eine bürokratische Organisation eingegliedert worden; der Kommissar wird zum „Staatsdiener“, zum abhängigen Funktionär mit einer geregelten Zuständigkeit. Wegen dieser funktio-

151 „Das Wort committere ist bereits im kanonischen Recht ein technischer Ausdruck und bezeichnet (…) die Übertragung einer Jurisdiktionsbefugnis an jemand, der sie sonst nicht haben würde, also an einen andern als den ordentlichen Richter“ (DD 46). 152 „Dem Legaten konnte allgemein eine Provinz zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und des Friedens der Bevölkerung (pax, quies populorum) und zur Säuberung von schlechten Elementen (purgare malis hominibus) übergeben werden“ (DD 46). 153 Zur Ausformungen der Heereskommission und deren Vollmachten s. (DD 49-54) zur Entwicklung des Heerkommissars zum Beamten in Deutschland s. (DD 66-72).

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nellen Abhängigkeit kann die Stellung eines Diktators nicht mehr – wie bei Bodin – mit der dieses „Staatsdiener“-Kommissars verglichen werden. Der einzelne Kommissar – Schmitt zeigt dies an der Entwicklung in Preußen – wird zum Mittel eines Systems mit einem bestimmten sachtechnischen Zweck: „der Souverän konnte seinen Absolutismus nur zugleich mit der Konsolidierung und Formierung seines Beamtenapparats einrichten. Dadurch wurde aus dem Kommissar ein ordentlicher Beamter. Mit der Souveränität des Fürsten stabilisiert sich seine Bürokratie“ (DD 74).

Zudem setzte Bodins Unterscheidung zweier Arten staatlicher Tätigkeit eine klare Trennung von „Gesetz“ und „Ordonnanz“ voraus. Wenn nun in einem absolutistischen Staatswesen jede staatliche Machtäußerung nur auf dem alleinigen und unabhängigen Willen des Fürsten beruht, wird diese Unterscheidung gegenstandslos: „Wegen der funktionellen Abhängigkeit kann aber nicht mehr, wie das Bodin tut, die Stellung eines Diktators mit der dieses Kommissars verglichen werden“ (DD 75).

6. Der Übergang zur souveränen Diktatur in der Staatslehre des 18. Jahrhunderts. 6.1. Die Kommissare der französischen Zentralregierung und die intermediären Gewalten. Der absolute König von Frankreich regierte durch Kommissare, und der Träger der königlichen Verwaltung, der Einheitlichkeit und der Zentralisation, der Intendant, war der jederzeit abberufbare Chef einer Generalität, einer Provinz oder eines Departements. 31 von ihnen gab es im 18. Jahrhundert, dazu kamen weitere 6 in den Kolonien, und ihre Aufgaben und Befugnisse waren durchaus verschieden (DD 95).154 Als Agent der Zentralgewalt stand der Intendant ohnehin in natürlichem Gegensatz zu den provinzialen und lokalen Körperschaften, die sich eine weitgehende Selbstständigkeit mit eigener Gerichtsbarkeit bewahrt hatten. Je stärker sich bestimmte Intendanturen verselbstständigten, desto größer wurde das Konfliktpotenzial, und die Beschwerden der intermediären In-

154 Zu den einzelnen Befugnissen s. (DD 96 f.).

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stanzen über „die dreißig Tyrannen“ häuften sich (DD 98; nachst. 98 f.). Wie die konziliare Theorie gegen die Machtvollkommenheit des Papstes und die deutschen Reichsstände, die die Auffassung vertraten, das Reich und nicht der Kaiser hätten die „majestas“, so argumentierten andererseits die französischen Parlamente, der König sei selbst nur ein Teil des Königsreichs. Schmitt verdeutlicht diese Gegensätze mit Montesquieu. Dessen Staatslehre sei nur verständlich, wenn man die Bedeutung des realpolitischen Streits zwischen der konservativen ständischen Selbstregierung, der intermediären Staatsgewalt also, und der jeden Punkt erfassenden zentralisierten Bürokratie beachte (DD 99), den Montesquieu dann auch theoretisch zum Ausdruck brachte. Er sah die „pouvoirs intermédiaires“ gleichsam als institutionelle Filter, „durch welche die Staatsgewalt hindurchfließt, so daß willkürliche und plötzliche Äußerungen des staatlichen Willens verhindert werden. Der Adel, die seigneuriale und patrimoniale Gerichtsbarkeit des Klerus und die (…) unabhängigen Gerichtshöfe, also die französischen Parlamente sind solche intermediären Hemmungen für die staatliche Allgewalt (…) (DD 100).

Montesquieu sah diese Konstruktion als eine „balance“, als ein System gegenseitiger Kontrolle, Hemmung und Bindung155 und steht damit „in größtem Gegensatz zur Aufklärung, zu Voltaire sowohl wie zu den Physiokraten, denen die überlieferten Korporationen und erblichen Ämter eine barbarische (…) Sinnlosigkeit und Störung ihres rationalen Schemas waren“ (ebd.).

Das Bild von der Balance steht für eine Einigung im Wege des Ausgleichs und gegen jede unverhältnismäßige politische Übermacht, und indem Montesquieu sie mit der Lehre von den intermediären Gewalten verbindet, stellt er sich in die Reihen der ständischen Tradition gegen die Übermacht des königlichen Absolutismus, „der mit einem Griff die ganze Maschine des Staates dirigieren kann“ (DD 102). Und so versteht denn Montesquieu unter „Despotismus“ einmal die Aufhebung der richtigen Balance, die – wenn intakt − die bürgerliche Freiheit schützt, und zum anderen das unmittelbare Auftreten der „staatlichen Allgewalt“ (DD 103). Das Wort

155 Schmitt präferiert das Bild der Balance gegenüber der gebräuchlicheren Wendung von der Teilung der Gewalten, die für ihn „nichts weniger als ein doktrinäres Schema“ ist (s. DD 100; 101). Noch besser wäre es, so Schmitt an anderer Stelle, von einer „Mediierung“ der plenitudo potestas“ zu sprechen (DD 102).

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„Diktatur“ hingegen ist als eine kommissarische an die Tradition der klassischen römischen Republik gebunden: „In Übereinstimmung mit der politischen Literatur des 17. Jahrhunderts (…) betrachtet er die Diktatur als den der aristokratischen Staatsform wesentlichen Ausnahmezustand: eine in ihrer Herrschaft bedrohte Minderheit überträgt einem einzelnen Mitbürger grenzenlose Befugnisse, une autorité exorbitante“ (DD 103/104).

Montesquieu empfiehlt, die Diktatur nach römischem Vorbild verfassungsmäßig vorzusehen, der Gefahr einer drohenden Tyrannis, mit einer kurzen Amtszeit zu begegnen und er lobt die hemmende kluge Verteilung der öffentlichen Gewalten in Rom, die bekanntlich unter Sulla und Pompejus endete. Als Beispiele für Usurpationen führt er Ludwig XIII., und Ludwig XIV. von Frankreich, Cromwell in England und den Absolutismus der deutschen Fürsten nach dem Dreißigjährigen Krieg an (s. DD 104). Als zweite Schiene erwächst eine Oppositionsbewegung gegen die Souveränität, die nicht die Machtvollkommenheit an sich attackiert, sondern sie – allerdings in entpersonalisierter Form – erhalten will, um eine natürliche und moralische Ordnung zu entwickeln und zu etablieren. Zu dieser Bewegung zählt Schmitt Voltaire, weitere Vertreter der philosophes, die Physiokraten und vor allem die politische Philosophie Jean Jacques Rousseaus. 6.2. Die Physiokraten und die Anfänge einer souveränen (Revolutions-) Diktatur bei Gabriel Bonmot de Mably. Voltaire steht – auch wenn er „die Lehre von der Diktatur der aufgeklärten Vernunft noch nicht konsequent entwickelt“ (DD 107) – im Kampf des königlichen Absolutismus gegen die Parlamente auf der Seite der Zentralgewalt. Das Bild von einer zentral gesteuerten „Verwaltungsmaschine“ passte zu seinem deistischen Weltbild, obgleich er schon um die guten Seiten einer Demokratie wusste und deshalb kein „bedingungsloser Absolutist“ mehr sein konnte (DD 107).

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Die Physiokraten156 eint die Gegnerschaft gegen die historischen intermediären Gewalten und der Glaube an die Macht einer aufgeklärten Bürokratie sowie der Grundgedanke (DD 107 f.): „durch natürliches, d.h. rationalistisch-abstraktes Denken läßt sich eine allgemein gültige politische und soziale Ordnung und Gerechtigkeit entwickeln, die von Staats wegen durchgeführt werden muß“ (DD 108).

Schmitt rezipiert vor allem zwei Punkte: Die Physiokraten verstanden ihre Wissenschaft als eine physikalische und die Wirtschaft damit als in die natürliche Ordnung integriert, und sie setzten das Axiom, dass diese Ordnung – durch Vernichtung der intermediären Gewalten – von der Staatsmacht herbeigeführt werden müsse.157 Die Herrschaft einer aufgeklärten Autorität sei solange nötig, bis die Menschen diese natürliche Ordnung erkannt hätten. Die Mittel hierfür seien Aufklärung und Bildung. Am konsequentesten sieht Schmitt die physiokratischen Leitlinien durch Le Mercier de la Rivière ausformuliert, auch weil er das System eines legalen Despotismus – „despotisme légal“ – aus allgemeinen Vernunftprinzipien entwickelt und diese Leitlinien mit der Theorie einer absoluten Staatsmacht verschmolzen habe (DD 109; nachst. ebd.). Der größte Gegner einer Herrschaft der Vernunft sind die menschlichen Leidenschaften, die notfalls mit Gewalt zu unterjochen seien; die Gesetze seien ohne physische Gewalt nicht durchzusetzen. Jede Teilung der Gewalten von Legislative und Exekutive diente nur der Schwächung der Staatsmacht und sei deshalb verwerflich. Auch die Lehre von der Balance „ist eine Chimäre“: „Im Interesse einer durchgreifenden Aktion werden alle entgegenstehenden Hemmungen beseitigt und wird eine unwiderstehliche Macht (…) geschaffen. Das große Wort dieser Gedankenwelt ist Einheit, (…) eine Einheit von Evidenz, Macht und Autorität, deren Despotismus auf der Erkenntnis der wahren Gesetze sozialer Ordnung beruht, bei dem infolgedessen das wahre Interesse des Souveräns mit dem wahren Interesse der Beherrschten gleich ist (…)“ (DD 109).

156 Die Physiokraten gelten als die Begründer einer eigenständigen Wirtschaftstheorie (s. Pribram 199, S. 205-225). In dem von Francois Quesnay konstruierten Wirtschaftskreislauf – tableau économique (1758) – rangiert die allein produzierende Klasse der Bauern und Pächter vor den Grundeigentümern; danach folgt die sterile Klasse der nur konsumierenden Zweige von Industrie, Handwerk und Handel (ebd. S. 208). 157 Dabei hat sich der Staat der wirtschaftlichen Entwicklung zu unterwerfen (DD 108).

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„Legaler“ bezeichnet hier nicht einen an positive Gesetze gebundenen Despotismus, sondern meint einen Zustand äußerst konzentrierter politischer Macht (ebd.). Hinter diesem Gedankengebäude steht der Glaube an den allmächtigen „Pädagogen“ Staat und an die unbegrenzten Möglichkeiten politischer Mittel. Gabriel Bonmot de Mably hingegen setzt auf eine Theorie der „Gegengewichte“, um der absoluten Machtvollkommenheit der Fürsten zu begegnen.158 Den starken Staat aber will er benutzen, um das Privateigentum abzuschaffen. Das Mittel dafür erkennt er gegen de la Rivière nicht in der Diktatur. Denn – zweifelnd an der philosophischen Evidenz – sieht er in den schlechten Affekten der menschlichen Natur die Kraft, die den Verstand der Menschen verwirren und letztlich das Privateigentum stützten. Schmitt resümiert Mablys anthropologischen Pessimismus: „Der Mensch ist kein Engel, der darauf wartet, die Wahrheit zu hören“ (DD 111). Daraus zieht Mably die Folgerung, und kehrt so die traditionelle Ansicht um, dass auch die Regierenden von diesen Affekten beherrscht werden, und setzt deshalb auf institutionelle politische Hemmnisse: „Aus der Umkehrung, wie sie sich bei Mably ausspricht, folgt die Auffassung, daß Regierung und Staat notwendige und daher auf ein Minimum zu beschränkende Übel sind“ (DD 111).

Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive sieht er als Lösung an und erkennt im Bereich der Exekutive ein weiteres Problem, weil diese in der Lage sei, die anderen Gewalten zu überwältigen (DD 112): „Die Exekutive muss immer wieder geteilt werden nach den verschiedenen Zweigen der Verwaltung, weil sonst eine Anhäufung der Kräfte entsteht, (…) ein Despot. Regelmäßige Kontrolle der Regierung durch besondere Kommissionen der Legislative ist notwendig: Es wird sogar ein periodisch wiederkehrendes ‚Reformjahr‘ empfohlen, in dem eine besonders strenge Kontrolle durchgeführt wird“ (DD 113).159

158 Der Abbé Gabriel Bonnot de Mably (1709-1785) ist Kommunist, für den die Verschmelzung von Tugend und Politik in Platons Staat und dem antiken SpartaMythos verwirklicht ist. Den Bürgerkrieg als Mittel der Befreiung bejahend zieht er gleichwohl einen Weg der Reformen vor und präferiert – anders als Rousseau – zum Repräsentativsystem (Reinhard, in: Fenske et al. (2003, S. 347). 159 Natürlich hat Schmitt Recht, wenn er insistiert, dass in dem Augenblick, in dem die Kontrolle zu einer effektiven Zweckkontrolle wird, sie selbst zur Exekutive wird und wiederum eine despotische Machtanhäufung eintritt, was sich in der Französischen Revolution, wie Schmitt zeigt, beweisen wird (DD 113).

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Mably sieht den Diktator machtvoller als einen König, weil mit seinem Amt die Funktionen der Magistrate enden. So sieht Schmitt bei Mably den Anfang eines neuen Begriffes der Diktatur: „Sie wird zu einer absoluten Vollmacht, vor der alle bestehenden Zuständigkeiten verschwinden“ (DD 114). Somit erübrigen sich Einzelaufzählungen diktatorischer Befugnisse. Mably verortet die Notwendigkeit einer Diktatur wegen der Abnutzung von Gesetzen und einer Zunahme der Korruption: „Ihm erscheint der Diktator offenbar als eine Art Reformationskommissar mit unbegrenzten Vollmachten gegenüber der gesamten konstituierten staatlichen Organisation. Verbindet man das mit der Äußerung Mablys, daß während der Revolution die Repräsentanten des Volkes die Exekutive selbst in die Hand nehmen müssen, so ist das bereits die neue im Namen des Volkes ausgeübte Diktatur des Nationalkonvents, d.h. keine kommissarische Reformdiktatur mehr, sondern eine souveräne Revolutionsdiktatur“ (DD 114).

6.3. Die Diktatur bei Jean-Jacques Rousseau.160 Jean-Jacques Rousseau hat der Diktatur in seinem Buch Vom Gesellschaftsvertrag (Contrat social)161 ein eigenes Kapitel eingeräumt (IV. Buch, Kap. 6), das aber, so Schmitt, erst bei systematischer Untersuchung und in Verbindung mit der ganzen Schrift einen neuen Diktaturbegriff andeute: „An dem widerspruchsvollen Buch läßt sich am besten zeigen, wie kritisch die Situation des kontinentalen Individualismus war und wo der Punkt ist, an dem er in den Staatsabsolutismus und seine Forderung der Freiheit in die des Terrors umschlägt“ (DD 114).

Rousseau stelle „mit großer Geste“ die Beantwortung einer bisher nie beantworteten Frage in Aussicht: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt, wie zuvor“ (I, 63; 17).

160 Siehe dazu. Ottmann (2006, S. 462-510); Reinhard, in. Fenske et al. (2003, S. 339-346). 161 Wir zitieren Buch, Kapitel und Seite, die kleine hochgestellte Ziffer bei der Kapitelangabe bezeichnet den Abschnitt des Kapitels (I, 6; 17); die Seitenangabe wird nach Rousseau (2011) angegeben.

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Die Antwort ist, für Schmitt, nicht überraschend: Wenn jeder sich nur aufgrund seines freien Einverständnisses mit anderen vereinige, seien die genannten Bedingungen erfüllt (s. DD 115; nachst. ebd.). Wesentlich sei immer, dass der Einzelne nur sich selbst gehorcht, weshalb der Grundvertrag nur einstimmig geschlossen werden kann (IV, 27; 119).162 „In der Konstruktion des Staates formuliert sich das so, daß der Staat nicht mehr durch die Unterwerfung unter irgendeine Macht und einen Vertrag mit dieser Macht, den Herrschaftsvertrag, begründet wird, sondern der pacte social enthält nur eine Einigung“ (DD 115).

Der Wille des Volkes kann dabei nicht repräsentiert werden, weshalb das durch Parlament regierte englische Volk in den Augen Rousseaus keineswegs frei ist. In Rousseaus Individualismus lösen sich alle Bindungen in ständischen oder intermediären Körperschaften vollständig auf und der Einzelne „steht nur und unmittelbar dem Gemeinwillen gegenüber“ (ebd.). Diese individuelle Staatsableitung betrifft auch die Bedeutung des Einzelnen im Staat (DD 116; nachst. ebd.). Rousseau formuliert sein Prinzip: „Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen als Körper jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf“ (I, 610; 18).

So wird deutlich, dass es bei allem Individualismus doch darauf ankommt, was aus dem von den Einzelnen gebildeten Ganzen, dem gemeinsamen „Ich“,163 wird. Saugt es alle soziale Inhaltlichkeit auf, verbleibt dem Individuum noch eine konkrete Substanz? Zunächst absorbiert dieses „Ich“ alles, was der Einzelne besitzt, gibt es ihm aber zurück, damit er es dadurch zu Recht besitzt (I, 6): „Entschieden wird die Frage, ob das gemeinsame staatliche Ich eine die Individuen absorbierende Bedeutung erhält, mehr als durch solche Äußerungen durch die Idee der volonté générale, deren Träger kein Einzelner, sondern die umfassende Einheit ist“ (DD 117).

„Volonté générale“ ist der zentrale Begriff in der Staatsphilosophie Rousseaus. Als der Wille des Souveräns konstituiert sie den Staat als eine Ein-

162 Ansonsten aber verpflichtet die Mehrheit die Minderheit (IV, 27; 119). 163 Das gemeinsame „Ich“, diese öffentliche Person, trug früher den Namen Polis, heute Republik, „die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, Souverän, wenn sie aktiv ist, und Macht im Vergleich mit ihresgleichen“ (I, 79; 19).

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heit. Ihre begriffliche Qualität unterscheidet sie von jedem partikulären Einzelwillen, denn „bei ihr fällt das, was ist, mit dem, was richtigerweise sein soll, immer zusammen“ (DD 117/118). Sie ist durch ihre bloße Existenz, was immer schon ist (I, 75; 21), „der Gemeinwille ist immer richtig“ (II, 610; 43) und kann nicht irren (II, 3; 31-33), sie ist die Vernunft selbst, denn es „geschieht nichts ohne Grund, ebenso wenig wie unter dem der Natur“ (II, 44; 34) und sie ist unvergänglich, unveränderlich und rein (IV, 1; 115-117). Jeder Einzelwille (volonté particulière), jeder partikuläre Akt ist vor ihr an sich bedeutungslos, wird die volonté générale doch „zu göttlicher Würde erhoben und vernichtet jeden Sonderwillen und alles Sonderinteresse“ (DD 118).164 Damit, so Schmitt, stelle sich die Frage nach den unveräußerlichen Rechten des Individuums und einer Freiheitssphäre, die der volonté générale entzogen ist, nicht mehr: „Sie wird durch die einfache Alternative beseitigt, daß das Individuelle entweder mit dem Generellen übereinstimmt und dann wegen dieser Übereinstimmung einen Wert hat oder daß es nicht übereinstimmt und dann eben null und nichtig, böse, korrupt und überhaupt kein beachtlicher Wille im moralischen oder rechtlichen Sinne ist“ (ebd.).

Womit der Gesellschaftsvertrag die Freiheit des Einzelnen letztendlich doch beseitigt hat. Unter der allumfassenden Ägide der volonté générale kann die Exekutive gar nichts anderes sein als der Vollzug der volonté générale; eine Teilung der Gewalten oder eine Ausbalancierung wird – obwohl Rousseau den Begriff mehrfach verwendet – davor sinnlos. Souveränität ist nichts anderes als Ausübung des allgemeinen Willens (II, 12; 28). Die Regierung hat die Gesetze zu vollziehen, sie ist der Arm des Gesetzes. Ist die Gesetzgebung (volonté générale) immer die unveräußerliche Sache des ganzen Volkes, kann dagegen die Exekutive einem Einzelnen, mehreren oder auch der Gesamtheit zustehen, und die Regierungsform mithin eine Monarchie, eine Aristokratie oder eine Demokratie sein (vorst. s. DD 118 f.). Die bereits genannten Attribute der volonté générale verbinden sich mit anderen notwendigen Voraussetzungen und verleihen ihr eine vielfältige Bedeutung (DD 119; nachst. ebd.) Sie ist hinsichtlich ihres Subjekts allgemein, geht als Wille der Gesamtheit von allen aus, die Summe aller Privatwillen ist sie nicht. Vielmehr ist der Gesamtwille etwas, das jeder als Bürger, nicht als Privatmann, hat. Der Gesamtwille bezweckt das Allgemeine,

164 Weitere Attribute der volonté générale führt Schmitt auf Seite (DD 119) auf.

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das – bei vergleichbaren Lebenslagen – mit dem Interesse aller Einzelnen gewöhnlich zusammenfallen wird. Durch Parteiungen und Gruppeninteressen wird der Gesamtwille entstellt. Der Gesamtwille ist generell, kann keinen Einzelfall betreffen und erkennt keine Sonder- und Ausnahmefälle an. Liegen diese Eigenschaften vor, „ist der Wille sowohl in seinem Subjekt wie seinem Objekt und seinem Tatbestand generell, so ist er damit als Recht begründet“ und er ist „das Prinzip, das den Rechtscharakter einer Anordnung erst konstituiert und aus einem bloß tatsächlichen Befehl einen Rechtssatz mit Rechtsverbindlichkeit schafft“ (DD 119).

Fehlen die genannten Eigenschaften, gibt es kein Recht, das Ziel, die Macht zum Recht zu erheben, ist nicht erreicht (ebd.) und auch durch eine Repräsentation des Gesamtwillens nicht erreichbar (DD 120; nachst. ebd.). Denn die volonté générale hat eben bestimmte vorhandene Wertqualitäten, oder sie hat sie nicht. „Die Konsequenz dieses Satzes kann die Demokratie vernichten“, ist doch die volonté générale unabhängig von einer bestimmten Regierungsform (DD 120). Und sie ist zwar der Wille der Gesamtheit, das Individuum aber kann sich über seinen eigenen Willen täuschen und er kann von Leidenschaften beherrscht und deshalb kein freier Wille sein. Da dies auch eine Mehrheit betreffen kann, kann eine Minderheit oder auch nur ein Einziger allein den richtigen Willen haben. Für die ideale Regierungsform der unmittelbaren Demokratie gelten nach Rousseau Voraussetzungen – einfache Übersichtlichkeit aller Verhältnisse, einfache Sitten und Bedürfnislosigkeit – die so selten anzutreffen seien, dass „diese vollkommene Regierungsform sich für ein Volk von Göttern, aber nicht von Menschen eignet (III 48)“ (DD 120). Die ganze Missverständlichkeit von Rousseaus Contrat social beruhe darauf, expliziert Schmitt, dass „vom Willen aller und der Einstimmigkeit die Rede ist (IV 28), vom Willen der Mehrheit und von einem Gesamtinteresse, welches man durch eine Ausbalancierung der gegensätzlichen Interessen ermitteln soll (II 32), daß aber trotzdem der Wille, das Interesse, das Volk, moralische und nicht einfach tatsächliche Größen sind. In einem sklavischen Volk beweist auch die Einstimmigkeit nicht, daß eine volonté générale vorhanden ist (IV 23)“ (DD 120).

Die Freiheit bei Rousseau, so Schmitt, trage „das moralische Pathos der vertu“, und nur wer dieses trage, dürfe in politischen Dingen mitentscheiden (DD 121; nachst. ebd.). Sei die Mehrheit korrupt, könne die „tugendhafte Minorität alle Gewaltmittel anwenden, um der vertu zum Siege zu verhelfen“ (ebd.). Der ausgeübte Terror ist derart nicht Zwang, sondern le257

Erstes Kapitel: Die Diktatur (1921).

diglich Mittel, um dem unfreien Egoisten zu seinem wahren Willen zu verhelfen: „Die Rechtfertigung liegt in dem Satz, den Rousseau selbst ausgesprochen hatte: unter Umständen muß man den Menschen zwingen, frei zu sein: on la forcera d’être libre“ (I 78).

Diese Herrschaft nennt Rousseau nicht Diktatur, denn er reserviert den Begriff unter Verwendung aller bekannten Begrifflichkeiten und unter Rückgriff auf das römische Institut für eine verfassungsmäßig vorgesehene, nur für kurze Zeit erteilte außerordentliche Ermächtigung zur Beseitigung eines staatlichen Notstands (s. DD 121). Die Ausführungen Rousseaus im Diktatur-Kapitel (IV, 6; 138-142) zeigen, dass er von zwei Arten der Diktatur ausgeht: einer eigentlichen Diktatur, bei der die Gesetze schweigen, und eine zweite, in der alle Zuständigkeiten der Exekutive zusammengefasst und konzentriert werden (s. DD 122; nachst. ebd.). Der letztere Fall belässt die Rechtslage und die volonté générale ohnehin, während „nur innerhalb der Exekutive eine Beschleunigung und Verstärkung der nach wie vor dasselbe Gesetz vollziehenden Kraft eintritt“ (DD 122). Die echte Diktatur beruht dagegen auf einer zeitweiligen Suspendierung des ganzen Rechtssystems, auf welcher Rechtsgrundlage die Ermächtigung für sie beruht, bleibt unklar, eine Suspension der volonté générale steht nicht zur Debatte. So schließt Schmitt, dass die Ernennung des Diktators ein Akt der Exekutive sei, und dass Rousseau die Formulierung „intention du peuple“ wohl die Bedeutung der volonté générale habe und dahin gehe, die Existenz des Staates zu sichern: „Weil nach Rousseau der Inhalt der Tätigkeit des Diktators etwas rein Faktisches ist, so hat sie mit der Gesetzgebung nichts zu schaffen. Ihre rechtliche Grundlage wird nicht konstruiert, es ist aber wichtig, daß sie als eine ‚Kommission‘ bezeichnet wird“ (DD 123).

Die Diktatur bezeichnet Rousseau als eine „importante commission“. Schmitt erhebt den Begriff der Kommission in der Staatslehre Rousseaus in den Rang einer „Fundamentalvorstellung“, die ausdrückt, dass der Einzelne gegenüber dem Staat nur Pflichten aber keine Rechte habe „und daß namentlich jede Betätigung staatlicher Hoheitsrechte nur kommissarisch geschehen kann“, dürfe doch in einer wahren Demokratie das Amt weder Recht noch Vorteil gewähren (DD 123). Zudem könne der Amtsinhaber jederzeit abberufen werden: „Nichts beweist den Staatsabsolutismus Rousseaus so sehr wie diese, alle seine Vorstellungen beherrschende Verwandlung der gesamten staatlichen Or-

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gantätigkeit in ein beliebig widerrufliches, unbedingt abhängiges, kommissarisches Funktionieren“ (DD 125).

In Rousseaus Staatstheorie sind der Fürst, der Abgeordnete des Volkes und der Diktator Kommissare und so völlig von der volonté générale abhängig:165 „Der Diktator diktiert nach außen, aber weil er Kommissar ist, muß ihm (im Innenverhältnis) selbst wieder diktiert werden“ (ebd.).

An dieser Stelle gilt es, auf eine weitere zentrale Figur bei Rousseau einzugehen, den „législateur“ (II, 7; 44-49). Rousseaus Verdikt partikulärer Einzelwillen kommt auch in der Wahl einer besonderen Art dieses Legislators zum Ausdruck: „Der Gesetzgeber ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Mann im Staat“; Eingang in die Verfassung findet er gleichwohl nicht (II, 74; 45), steht er doch außerhalb und vor der Verfassung, ist kein Kommissar und der Name „Gesetzgeber“ führt eigentlich irre (DD 125). Er hat nämlich nur ein Gesetzesinitiativrecht für ein „weises Gesetz“; „Die Entscheidung liegt beim Volk, und zwar nicht nur in einem äußerlich juristischen Sinne, sondern auch die Entscheidung darüber, ob eine volonté générale mit allen ihren konstitutiven Qualitäten vorliegt“ (ebd.).

Da die Menschen im Allgemeinen egoistisch und auf ihren pekuniären Vorteil bedacht sind, sollen sie durch das weise Gesetz erst gut werden, über das sie aber abstimmen. Deshalb kann sich der Legislator bei Rousseau auf eine „göttliche Mission“ berufen, das den Erfolg und die Dauer seines Gesetzes garantiert. Von einer Volksabstimmung ist nun keine Rede mehr. Diesen Widerspruch löst Rousseau nicht (s. DD 126). „Der Inhalt der Tätigkeit des Legislators ist Recht, aber ohne rechtliche Macht, machtloses Recht; die Diktatur ist Allmacht ohne Gesetz, rechtlose Macht“ (ebd.).

Der Gegensatz zwischen machtlosem Recht und rechtloser Macht, dessen Rousseau sich, so Schmitt, selbst nicht bewusst war, sei hier so extrem, dass er umschlagen müsse: „Der Legislator steht außerhalb des Staates, aber im Recht, der Diktator außerhalb des Rechts, aber im Staat. Der Legislator ist nichts als noch nicht konstituiertes Recht, der Diktator nichts als konstituierte Macht. Sobald sich eine Verbindung einstellt, die es ermöglicht, dem Legislator die Macht des

165 Siehe Habfast (2010, S. 101).

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Diktators zu geben, einen diktatorischen Legislator und einen verfassunggebenden Diktator zu konstruieren, ist aus der kommissarischen die souveräne Diktatur geworden“ (ebd.).

Diese Verbindung bewirkt die volonté générale – auch wenn sie den Contrat social noch nicht als eine besondere Gewalt nennt (ebd.). 7. Der Begriff der souveränen Diktatur. Die Allmacht des Diktators bei Rousseau beruht auf der Ermächtigung durch ein bestehendes, verfassungsmäßig konstituiertes Organ. Das ist die kommissarische Diktatur, die von ihm als ein Regierungs- nicht als ein Souveränitätsproblem behandelt wird (DD 127). Sie hebt die Verfassung in concreto auf mit dem Ziel, dieselbe Verfassung in ihrem Bestand zu sichern. Sie schützt eine bestimmte Verfassung gegen einen Angriff, der sie aufzuheben droht. Hier zeige sich am deutlichsten die „methodische Selbstständigkeit des Problems der Rechtsverwirklichung als eines rechtlichen Problems“ (DD 133). Der Diktator muss einen Zustand schaffen, in dem Recht verwirklicht werden kann, weil jede Rechtsnorm einen normalen Zustand als homogenes Medium voraussetzt, in dem sie gilt: „Infolgedessen ist die Diktatur ein Problem der konkreten Wirklichkeit, ohne aufzuhören, ein Rechtsproblem zu sein. Die Verfassung kann suspendiert werden, ohne aufzuhören zu gelten, weil die Suspension nur eine konkrete Ausnahme bedeutet“ (DD 134)166.

Die souveräne Diktatur beseitigt hingegen die bestehende Ordnung, um eine neue zu schaffen: „Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht. Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Verfassung“ (ebd.).167

Die beiden Diktaturformen unterscheiden sich also in der Art der Rechtsordnung, auf die sie sich jeweils berufen: eine bestehende im Fall der kommissarischen, eine ideelle, noch zu verwirklichende, im Fall der souveränen Diktatur. Und doch beruhen beide Arten auf derselben juristi-

166 Herv. im Original. 167 Herv. im Original.

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schen Grundstruktur, sind beide Aktionskommissionen, die mittels einer bestimmten Sachtechnik einen bestimmten Zweck verfolgen, nämlich im ersten Fall die Beseitigung einer Gefahr für die Rechtsordnung bzw. im zweiten Fall die Beseitigung einer Rechtsordnung, die als Gefahr wahrgenommen wird, um eine neue zu installieren. Im Fall der kommissarischen Diktatur liegt ihre Ermächtigung in einer Instanz der zu verteidigenden Rechtsordnung selbst. Das Problem liegt in der Frage, wie sich die souveräne Diktatur durch eine Rechtsordnung ermächtigen lassen kann, die noch gar nicht existiert. Ist die Entscheidung zwischen der alten und der neuen Rechtsordnung so nur eine bloße Machtfrage? Nein, so Schmitt, denn dies sei „dann nicht der Fall, wenn eine Gewalt angenommen wird, die, ohne selbst verfassungsmäßig konstituiert zu sein, trotzdem mit jeder bestehenden Verfassung in einem solchen Zusammenhang steht, daß sie als die begründende Gewalt erscheint, auch wenn sie selbst niemals von ihr erfaßt wird, so daß sie infolgedessen auch nicht dadurch negiert werden kann, daß die bestehende Verfassung sie etwa negiert. Das ist der Sinn des pouvoir constituant“ (DD 134).

Die souveräne Diktatur sieht sich also durch den „nichtkonstituierten und niemals konstituierbaren“ (DD 135) pouvoir constituant168 des Volkes ermächtigt, der durch keine entgegenstehende Verfassung beseitigt werden kann (DD 136). Die Vorstellung eines pouvoir constituant ist durch den Abbé und politischen Theoretiker Emmanuel Joseph Sieyès und seiner vorrevolutionären Schrift Qu'est-ce que le tiers état?169 (Sieyès 1988) aufgekommen.170 Der pouvoir constituant fungiert in ihr als der Kernbestandteil einer Dreistufentheorie, die die Gründung jeder politischen Gemeinschaft – Sieyès spricht von der „Nation“ – entschlüsselt. Am Beginn jeder Gemeinschaft steht in der naturrechtlichen Epoche eine bestimmte Anzahl von Menschen, von Einzelwillen, die sich vergemeinschaften wollen. In der nächsten Epoche ist die Gemeinschaft gegründet und aus den Einzelwillen ist die Einheit des gesellschaftlichen Willens entstanden: das Bürger-Ganze.171 Als Drittes formiert sich durch die Übertragung des gemeinschaftli-

168 Pouvoir constituant = verfassunggebende Gewalt. 169 Qu'est-ce que le tiers état? = Was ist der Dritte Stand? 170 Grundsätzlich zu Sieyès s. Fenske, in: Fenske et al. Hg. (2003, S. 383-386). Siehe nachst. Habfast (2010. S. 104-107). 171 Siehe Sieyès (1988, S. 78).

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chen Willens auf eine kleinere Zahl von Mitgliedern die Regierung. Das verfassungsorganisatorische Prinzip der Repräsentation wird für Sieyès notwendig, weil die Anzahl der Gemeinschaftsmitglieder und die Fläche, die sie bewohnen, schlicht zu groß geworden sind. Dies geschieht durch die Übertragung des nationalen Willens, d.h. der nationalen Macht auf einige wenige.172 Die konkrete Ausgestaltung relativiert das Gewaltenteilungsprinzip, weil Sieyès eine organisierte Einheit der drei Gewalten verlangt, die als gemeinsames Ziel die Glückseligkeit der Menschen verfolgen.173 Im Dreistufenmodell bestehen auch nach Erreichung der dritten alle drei Stufen mit ihren Rechten weiter. Sieyès kennt wie Rousseau keinen Herrschaftsvertrag, die verfassunggebende Gewalt und deren verfasste Repräsentation bestehen nebeneinander. Die Nation, zitiert Schmitt Sieyès, sei immer im Naturzustand. Dabei handelt es sich „um das Verhältnis der Nation zu ihren eigenen verfassungsmäßigen Formen und allen in ihrem Namen auftretenden Funktionären. Die Nation ist einseitig im Naturzustande, sie hat nur Rechte, keine Pflichten, der pouvoir constituant ist an nichts gebunden, die pouvoirs constitués haben umgekehrt nur Pflichten und keine Rechte“ (DD 140).

Hiermit wird die notwendige Zulässigkeit einer Repräsentation verbunden (s.o.), auch weil die Arbeitsteilung im modernen Staat dazu führe, dass sich mangels Zeit und Fähigkeit nur wenige mit Politik beschäftigen können und die anderen „einfach Arbeitsmaschinen“ geworden sind (ebd.). Daraus entstehe eine „seltsame Beziehung zu der Allmacht des konstituierenden Willens“, weil der Repräsentant von dem erst durch die Repräsentation zu konstituierenden Willen kommissarisch abhängig und in einem prekären Status bleibt. Denn Sieyès betont, „daß alle staatliche Organtätigkeit nur kommissarischer Natur ist und die staatliche Substanz, die Nation, jederzeit in der Unmittelbarkeit ihrer Machtfülle auftreten kann. Die Korrelation von größter Macht nach außen und größter Abhängigkeit nach innen bleibt demnach bestehen, aber nur formal“ (DD 141).

Denn der Wille betreffe nur die Person des Repräsentanten und die Entscheidung, ob eine Repräsentation bestehen soll, dürfe aber keineswegs

172 Ebd. S. 78 f.. 173 Fenske, in: Fenske et al. Hg. (2003, S. 385). .

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präzise sein, „denn sobald er sich irgendwie formiert hat, hört er auf konstituierend zu sein und ist selber konstituiert“ (ebd.). Die im Namen des pouvoir constituant beauftragten Repräsentanten sind also, so Schmitt, formal unbedingte Kommissare, deren Auftrag inhaltlich nicht zu begrenzen ist. Eigentlicher Inhalt ist „die allgemeinste, grundlegende Formierung des konstituierenden Willens, also der Entwurf einer Verfassung“, die sie – je nach Auslegung ihres Auftrags – selbst beschließen oder dem Volk als Referendum vorlegen können (ebd.). Für die Fälle, dass die Ausübung des pouvoir constituant des Volkes zunächst die Beseitigung eines Hindernisses verlangt, oder der freie Wille durch irgendein äußeres Ereignis unfrei geworden ist, gilt: „Die Aufgabe, den Weg freizumachen durch die revolutionäre Beseitigung der bestehenden Ordnung, würde sich dann ebenfalls auf den pouvoir constituant berufen und von ihm abhängig machen. In beiden Fällen liegt eine Aktionskommission vor, wie bei der kommissarischen Diktatur, und in beiden Fällen bleibt der Begriff funktionell abhängig von der Vorstellung einer richtigen Verfassung (…). Aber während die kommissarische Diktatur von einem konstituierten Organ autorisiert wird und in der bestehenden Verfassung einen Titel hat, ist die souveräne (…) aus dem formlosen pouvoir constituant abgeleitet. Sie ist eine wirkliche Kommission, (…) appelliert an das immer vorhandene Volk, das jederzeit in Aktion treten und dadurch auch rechtlich unmittelbare Bedeutung haben kann. Ein ‚Minimum an Verfassung‘ ist immer noch da, solange der pouvoir constituant anerkannt ist“ (DD 142).

Diese diktatorische Macht ist souverän, aber nur für einen Übergang: „Die kommissarische Diktatur ist der unbedingte Aktionskommissar eines pouvoir constitué, die souveräne Diktatur die unbedingte Aktionskommission eines pouvoir constituant“ (DD 142).

Und sowohl die kommissarische wie die souveräne Diktatur haben einen rechtlichen Zusammenhang (DD 136).174 8. Die Diktatur in der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung (Der Belagerungszustand). In diesem Kapitel geht es Schmitt darum, die Diktatur durch positiv-rechtliche Bestimmungen in den liberalen Verfassungsstaaten – wie sie sich

174 Wir verzichten auf Schmitts vorwiegend historische Darstellung Die Praxis der Volkskommissare während der Französischen Revolution (DD 150-167).

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nach der Französischen Revolution konstituiert hatten – zu erfassen. Er eröffnet die Darstellung dieser Problematik mit einem historischen Rückgriff auf das englische Martial Law.175 Das eigentliche rechtliche Problem war, wie bei Unruhen durch das notwendige Eingreifen des Militärs die unmittelbaren Verletzungen von Leib und Leben sowie von Eigentum der Aufrührer und unbeteiligter Dritter rechtlich zu erklären sind. Die Unversehrtheit persönlicher Freiheitsrechte war ja durch die Bill of Rights staatlich garantiert. Für diesen ganzen Komplex tatsächlicher und sachlich orientierter, militärischer Aktionen trat das Martial Law ein: „Es ist eine Art gesetzlosen Zustandes, bei dem die Exekutive, das heißt das eingreifende Militär ohne Rücksicht auf gesetzliche Schranken so vorgehen darf, wie es die Sachlage im Interesse der Unterdrückung des Gegners erfordert“ (DD 169).

Es handelt sich – trotz des Begriffes Kriegsrecht – um ein Verfahren, das von einem tatsächlichen Zweck beherrscht ist. Rechtsgrund ist, dass die anderen staatlichen Gewalten wirkungslos geblieben sind und das Gerichtswesen außer Kraft gesetzt ist. Die deshalb zulässige und einzig wirksame staatliche Gewalt, das sachorientierte Handeln des Militärs, ist „eine Art Ersatz (…) und seine Aktion soll Urteil und Vollstreckung in einem sein“ (DD169/170). Auf dem Kriegsschauplatz sind alle Maßnahmen vom martial law beherrscht, die Teilung der Gewalten ist aufgehoben und durch den militärischen Befehl ersetzt (DD 170): „Das martial law bezeichnet demnach einen der sachtechnischen Durchführung einer militärischen Operation freigegebenen Raum, in dem geschehen darf, was nach Lage der Sache notwendig ist“ (DD 171).

Der wahre Kern des martial law, so Schmitt, zeige sich im Ernstfall, als eine von allen rechtlichen Rücksichten befreite, zweckgerichtete Tathandlung: „Diese ist in ihrer effektiven Tatsächlichkeit, also in ihrem Kern, einer Rechtsförmigkeit nicht zugänglich“ (DD 172). Aus rechtlichem Interesse seien für das martial law Formvorschriften gesucht worden, wenn auch nur im Staatsinneren, im Kampf gegen die eigenen Bürger. Diese hätten aber immer nur die Voraussetzungen, nie die Aktion selbst betroffen. Denn, stellt Schmitt klar: „Jede rechtliche Normierung bedeutet gegenüber der unbedingten Zweckmäßigkeit eine Ein-

175 Das Martial Law zählt man zum innerstaatlichen Kriegsrecht. Mit der Militärgerichtsbarkeit hat es nichts zu tun. (s. DD 169).

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schränkung“ (DD 175). Schiebe man Machtmittel gegen die eigene Bevölkerung immer weiter hinaus, bis der Ernstfall wirklich eingetreten ist, und komme es dann zur Anwendung äußerster Mittel, hört die rechtliche Regelung des Inhalts der Aktion auf. Deshalb müsse eine Normierung genau angeben, unter welchen tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der Ernstfall eintritt, oder es werde analog einer Gewaltenteilung eine weitere Kraft neben dem Militär geschaffen, die über die Voraussetzungen des Ernstfalls entscheidet. Doch diese Teilung versagt nach Schmitt im Notfall, weil dann der Angriff zweckorientiert mit allen Mitteln abzuwehren ist. Es kann in diesem Falle derjenige, der die Nothandling ausführt, nicht von dem unterschieden werden, der darüber entscheidet, ob der Notfall vorliegt (DD 176).176 Zur weiteren Erforschung der rechtsstaatlichen Diktatur zieht Schmitt das Institut des Belagerungszustandes heran. Der Belagerungszustand – eine militärische Institution – ist der tatsächliche Zustand einer dringenden Notlage mit tatsächlich umschriebenen Voraussetzungen: „sobald der befestigte Platz von allen Verbindungen nach außen abgeschlossen ist (das Gesetz gibt die tatsächlichen Einzelheiten an), ist der Belagerungszustand ipse facto vorhanden“ (DD 181).

Später kann auch für andere zivile Orte außer den befestigten der Belagerungszustand im Sinne einer rechtlichen Fiktion „erklärt“ werden (DD 182). Der formale Akt einer Regierungserklärung ersetzt die tatsächliche Notlage: „Der Begriff erhält einen politischen Sinn, das militärtechnische Verfahren wird in den Dienst der inneren Politik gestellt“ (DD 183).

Napoleon hat dann den Inhalt der Institution des Belagerungszustands per Dekret vom 24. Dezember 1811 erweitert. Er wird bestimmt durch ein kaiserliches Dekret oder eine Belagerung oder einen gewaltsamen Angriff oder einen Überfall oder inneren Aufruhr oder unerlaubte Ansammlungen im Bereich eines Festungsgebiets: „Wichtig ist an dieser Regelung, daß die formale Erklärung durch Dekret als Entstehungsgrund neben die faktische Sachlage (Belagerung, Angriff) tritt“ (DD 185).

176 Schmitt behandelt den gleichen Problemkomplex auch am französischen loi martiale, worauf wir hier nicht eingehen.

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Das Dekret schafft folgende Lage: „Der Belagerungszustand (…) bewirkt, daß der Militärbefehlshaber Vorgesetzter aller Zivilbehörden wird, welche eine Tätigkeit ausüben, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Polizei in Betracht kommt, und daß er ferner die gesamte diesen Behörden zustehende Autorität für sich selber erhält“ (DD 186).

Im Ergebnis soll der Militärbefehlshaber den gesamten Dienst der militärischen wie der zivilen Stellen regeln – berücksichtigen muss er bei seinen Entscheidungen nur „seine geheimen Instruktionen, die Bewegungen des Feindes und die Tätigkeit des Belagerers“. Er wird kommissarischer Chef der gesamten Behörden. Der Übergang der Exekutivgewalt ist kein Recht, sondern nur ein verwaltungstechnisches Mittel. Deshalb gehen auch die richterlichen Befugnisse auf ihn über: an die Stelle ordentlicher Gerichte rücken Militärgerichte (ebd.). Anno 1815 bis in den Verfassungsrang aufgerückt (DD 187), durfte der Belagerungszustand gegen eigene Staatsbürger nur durch Gesetz, also unter Einbeziehung des Parlaments in Kraft gesetzt werden (DD 188). In der Verfassung vom 14. August 1830 ist der Belagerungszustand nicht mehr erwähnt, wird aber während der Unruhen von 1832 trotzdem durch königliche Ordonnanz mehrfach in Kraft gesetzt, am 6. Juni 1832 in Paris. In der Instruktion hieß es, der Kommandant könne alle Befugnisse der Zivilbehörden, administrative wie richterliche, ausüben. In den Geschäftsgang der ordentlichen Behörden solle aber nicht eingegriffen werden. Die Zielsetzung war, „den Ausnahmezustand auf den Aufruhr zu beschränken (DD 193). „Hier ist deutlich zu erkennen, daß aus dem Mittel unbedingter militärischer Aktion, aus der kommissarischen Diktatur, das Rechtsinstitut des Belagerungszustandes werden sollte. Entsprechend dem rechtsstaatlichen Charakter des Bürgerkönigtums wurde versucht, die Zuständigkeit des Militärbefehlshabers nicht nur nach ihrem Inhalt rechtlich zu beschränken“ (ebd.).

Die Beeinträchtigung des Rechtsschutzes der Bürger enthielt die offensichtlichste Beseitigung eines verfassungsmäßigen Rechts und der Kassationshof erklärte die Auffassung, dass nunmehr eben der militärische Richter der gesetzliche sei, als nicht verfassungsgemäß: „Ein verfassungsmäßig garantiertes Recht erscheint hier als unbedingtes Hindernis der militärischen Aktion. Die Konsequenz mußte dazu führen, ihr auch andere verfassungsmäßige Rechte entgegenzuhalten“ (DD 194).

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Die revolutionären Ereignisse von 1848 führten dann zu einer endgültigen Regelung des – sog. politischen oder fiktiven – Belagerungszustandes. Zwei Fragen wurden behandelt: die Zuständigkeit und die Voraussetzung seiner Erklärung (Parlament oder Regierung) und der Inhalt der Befugnisse des Militärbefehlshabers (DD 195; nachst. s. 195 f.). Als zentrale Frage wurde die Aufhebung verfassungsmäßiger Freiheiten gesehen. Einmal sollte aufgezählt werden, welche Rechte suspendiert sind. Die rechtliche Regelung geht aber über diese bloße Negation hinaus und beschreibt die Befugnisse des Militärbefehlshabers auch positiv. Bei der hoch umstrittenen Frage der Militärgerichtsbarkeit kann der verfassungsmäßig garantierte natürliche Richter weiterhin suspendiert werden, aber für die Zusammensetzung und die Zuständigkeit der Militärgerichte ergehen nähere Bestimmungen. Ebenso werden die weiteren Befugnisse des Militärbefehlshabers aufgezählt: Haussuchungen vorzunehmen, verdächtige Personen auszuweisen, Waffen und Munition zu beschlagnahmen, gefährliche Veröffentlichungen und Versammlungen zu verbieten. Zulässig sind Eingriffe in die persönliche Freiheit, die „Preßfreiheit“, die Versammlungsfreiheit, und hinsichtlich Waffen und Munition auch in das Privateigentum durfte eingegriffen werden. In andere durch die Verfassung von 1848 gewährleistete Freiheitsrechte wie Privateigentum, Gewissen- und Kulturfreiheit, Freiheit der Arbeit und Steuerbewilligungsrecht durfte der Militärbefehlshaber nicht eingreifen. Mit diesem Gesetz, so Schmitt, ist die Entwicklung der grundlegenden Gesichtspunkte abgeschlossen: „Entscheidend ist, daß an die Stelle einer Ermächtigung zu der nach Lage der Sache erforderlichen Aktion eine Reihe von umschriebenen Befugnissen tritt und nicht mehr die Verfassung als Ganzes suspendiert wird, sondern eine Anzahl bestimmter verfassungsmäßiger Freiheitsrechte und auch diese nicht schlechthin, sondern unter Angabe der zulässigen Eingriffe“ (DD 196).

Im Ergebnis werden dem Militärbefehlshaber einige weitgehende sicherheitspolitische Befugnisse zugestanden, „die im Übergang der vollziehenden Gewalt noch nicht enthalten waren. Die unmittelbare Aktion ist dagegen nicht erfaßt“ (ebd.).

Der politische Belagerungszustand war als fiktiv bezeichnet worden, um zu verdeutlichen, dass er – entgegen der militärischen Operation – keine unbedingte Aktionsfreiheit einräumt. Man nahm deshalb in Konsequenz zuerst das „juge naturel“, dann persönliche Freiheit und Pressefreiheit he-

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raus, ohne in Rechnung zu stellen, dass die Aktion des Militärbefehlshabers von der des Gegners abhängt „und in Leben und Eigentum der politischen Gegner eingreift, die doch nach der heutigen Rechtsauffassung mit der Erklärung des Belagerungszustands nicht aufhören, Staatsbürger zu sein und verfassungsmäßig garantierte Freiheitsrechte zu haben, dass er ferner auch unbeteiligte Bürger (…) in ihren Freiheitsrechten beeinträchtigen muß“ (ebd.).

Bemängelt wird, dass von diesen „oft furchtbaren Eingriffen“ in die Freiheitsrechte keine Rede sei, die Befugnis, eine Zeitung zu unterdrücken, hingegen ausführlich erörtert werde (DD 196/197). Zudem sei versucht worden, die Befugnisse des Militärbefehlshabers einzuhegen, die Befugnisse der verfassunggebenden Versammlung, des Trägers der pouvoir constituant, aber „grenzenlos und auch an verfassungsmäßig garantierte Freiheiten nicht gebunden waren“ (DD 197). Es existierte so eine Stelle, an der eine prinzipiell grenzenlose Macht auftreten konnte, und wofür der pouvoir constituant die Grundlage bildete. Ihr Träger konnte sie einem Militärbefehlshaber mittels Auftrag übertragen: „Die Diktatur, von der man so viel sprach, war keine Diktatur des Militärbefehlshabers, sondern ein Fall der souveränen Diktatur einer konstituierenden Versammlung. Der Militärbefehlshaber war ihr kommissarischer Beauftragter“ (ebd.).

Beginnend mit dem römischen Recht und weiter über Locke war die wichtigste Ausprägung einer grenzenlosen Befugnis immer das Recht über Leben und Tod. Werde im 19. Jahrhundert von Diktatur gesprochen, verstehe man darunter den fiktiven Belagerungszustand. Man erörtert die Preßfreiheit und schweigt über die – keineswegs fiktiven – Toten: „Der Grund hierfür liegt in der eigenartigen Unfähigkeit, den Inhalt einer Aktionskommission von einem rechtlich geregelten Verfahren zu unterscheiden“ (ebd.).

Als Beispiel expliziert Schmitt den in Art. 48 WRV geregelten Ausnahmezustand, „den durchaus klaren Fall einer kommissarischen Diktatur“ (DD 198). Diesen Problemkreis haben wir an anderer Stelle dieser Arbeit behandelt.177 Betont sei hier nur, dass für Schmitt das Problem in Abs. 2 im Verhältnis der Sätze 1 und 2 liegt – eine für ihn „sonderbare Regelung“

177 Siehe hier das Kapitel Die Diktatur des Reichspräsidenten.

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(ebd.).178 Erteilt Satz 1 eine grenzenlose Befugnis, begrenzt Satz 2 aber die Befugnis, indem er Grundrechte aufzählt, die suspendiert werden dürfen „Das Recht über Leben und Tod wird implicite, das Recht zur Aufhebung der Preßfreiheit explicite erteilt“ (DD 200).

Diese Widersprüche in der deutschen Verfassung seien nicht auffällig, weil sie auf der Kombination einer souveränen und einer kommissarischen Diktatur beruhen und der ganzen Entwicklung entsprechen. Für Habfast ist nicht zu übersehen, „dass Schmitt die kommissarische Diktatur für das eigentliche Meisterstück juristischer Arbeit hält . Die souveräne Diktatur hingegen, die in einer Mischung aus Faszination und Schaudern vorgestellt wird, verbleibt in einem eigentümlichen Zwielicht“.179

Jedenfalls ist Ottmann zuzustimmen, dass Schmitt 1921 die Gefahr im Blick hatte, was einen kommissarischen Diktator eigentlich daran hindere, sich zu einem souveränen zu wandeln: „In manchem ist der Caesar schon angelegt“.180

178 Art. 48 Absatz 2 WRV: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Mahnahmen treffen, erforderlichenfalls mithilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“. 179 Habfast (2010, S. 115). 180 Ottmann (2010, S. 229).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

I. Ein Karriereintermezzo. 1. Das ungeliebte Greifswald. Zum Wintersemester 1921/22 wechselt Carl Schmitt von München ins ostpommersch-protestantische Greifswald an die damals kleinste Universität Preußens, 1456 gegründet, und als Einstiegsuniversität zum Start einer wissenschaftlichen Karriere – es ist seine erste ordentliche Professur – offensichtlich eine gute Wahl. Nicht aber für Schmitt. Er fühlt sich in Greifswald nicht wohl181 und betrachtet es als „eine möglichst schnell zu überwindende Zwischenstation“182. Im Oktober 1921 trennt sich Schmitt von seiner ersten Frau und legt seinen – allerdings nie formalisierten – Doppelnamen „Schmitt-Dorotic“ ab. Schon im August desselben Jahres hatte er eine Liaison mit der australischen Studentin Kathleen Murray begonnen, die er bei ihrem Promotionsverfahren wohl mehr als erlaubt unterstützt: „ein sehr weitreichender autorschaftlicher Einfluss Schmitts ist nicht auszuschließen“183. Er beendet die Beziehung im November 1921, weil er annimmt, dass Kathleen ihm untreu gewesen ist, per Brief – trifft sie aber weiterhin, bis Murray, noch vor Erhalt der Promotionsurkunde, nach Australien zurückkehrt.184 Ganz los von ihr – er erwägt sogar ihre Heirat nach seiner Scheidung – kommt er nicht, wie sie nicht von ihm.185

181 Vgl. Mehring (2009, S. 129). Unterstützung erhält er durch ein Empfehlungsschreiben des Staatsrechtlers Rudolf Smends (ebd. S. 130). 182 Noack (1993, S. 55). 183 Mehring (2009, S. 133; vgl. ebd. S. 130). 184 Vgl. ebd. S. 133 u. 136. Ihre Dissertation, die sie Schmitt widmet, wird 1924 bei Duncker & Humblot verlegt (ebd. S. 137). 185 Ebd. (S. 139). Sie erkundigt sich noch 1971 über das Pfarrhaus von Plettenberg nach ihm (ebd.).

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II. Die Bonner Jahre.

2. Erlösung von Greifswald. Die Erlösung von Greifswald jedoch erfolgt schnell. Als Schmitt am 1. April 1922 die Nachfolge von Rudolf Smend mit Beginn des Sommersemesters in der Bonner Universität antritt 186, der nach Berlin gewechselt war, ist er als ein das Recht auslegender Staatsrechtswissenschaftler kaum hervorgetreten aus dem Kreis der etwa 50 Professoren des Öffentlichen Rechts in Deutschland, von denen die meisten „Unpolitische“ waren, weil man zwischen politischer Meinung und Rechtsauslegung strikt zu trennen hatte. Unter dem Eindruck der ökonomischen wie politischen Verwerfungen nach „Versailles“ entwickelte sich eine „allgemeine Nationalisierung der Fragestellung“187, die eine politische Abstinenz des Staats- und Verfassungsrechts nicht länger zuließ. Auch Schmitt politisiert sich wegen der national bedeutenden Streitfragen um den Versailler Vertrag und seine Auswirkungen erst in seiner Bonner Zeit, und wird zu dem Autor, der das Recht des Staates zunehmend auch als ein politisches begreift. Auch darin sieht Maschke einen Grund für die Verfolgung, der jeder politische Denker von Rang ausgesetzt sei. Schmitt habe eine allgemeine Theorie des Politischen formuliert, mit dieser aber zugleich in die konkrete Politik eigegriffen.188 Bereits seine Schrift Die Diktatur war ja ein starker Reflex auf eine Reallage, die revolutionären Ereignisse in München. II. Die Bonner Jahre. 1. Schmitt politisiert sich. Schmitts Bonner Jahre, er liest Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Politik und politische Ideengeschichte, gelten als seine fruchtbarste und ertragreichste Zeit. Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre,

186 Zu Rudolf Smend, der eine wichtige Rolle im Weimarer Staatsrechtsstreit besetzte, siehe den einführenden Überblicksaufsatz in: (Hartmann/Meyer (2005, S. 39-45). 187 Michael Stolleis, zit. nach Mehring (2009, S. 140). 188 Maschke (2012, S. 53).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

die Ausarbeitung seiner Verfassungslehre und seine öffentliche Positionierung als Katholik fallen in diese produktive und erfolgreiche Zeit.189 „Mit der ‚Politischen Romantik‘ hatte er sich freigeschrieben. Mit ‚Der Diktatur‘ hatte er einem Denken vom Ausnahmezustand her Eingang in die Staatsrechtslehre verschafft. Diesen Schriften folgten im Jahre seines Amtsantritts in Bonn seine ‚Politische Theologie‘ und ein Jahr darauf – 1923 – das Hohelied auf die katholische Kirche, ‚Römischer Katholizismus und politische Form‘, sowie ‚Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus‘ – nach dem Sollen also das Sein“ (N 64).190

Die steigende Hoffnung auf eine Beruhigung der politischen Lage stand im Einklang mit Schmitts persönlicher – durch seine Verbeamtung erstmals auch monetär sichereren – Lage, so Noack, und attestiert ihm eine synchrone Entwicklung „seines persönlichen Befindens, seiner Produktion und der politischen ‚Lage‘“, ein Symptom, das auch zu anderen Zeiten beobachtbar gewesen wäre.191 Über die Beziehung zwischen „Zeitbezogenheit und überzeitlichem Denken“ bei Schmitt lasse sich zwar streiten, nicht aber über das Faktum, dass Schmitts Beurteilungen der politischen Lagen Weimars für „eine ganze Generation“ faszinierend gewesen seien, abzulesen an den Neuauflagen seiner ja fachspezifischen Schriften:192 „Among the most attractive aspects of Schmitt’s writings and lectures was their relevance to the contemporary political situation. Schmitt was one of the few law professors involved in studying politics; most of the courses he taught at Bonn were not in jurisprudence but in what would today be called political science”. 193

So gründet Schmitt, Benderskys Urteil bestätigend, ein „Politisches Seminar“ neben dem bereits bestehenden „Seminar für wissenschaftliche Politik“ von Erich Kaufmann, die aber 1923 einvernehmlich „fusionieren“.194

189 190 191 192 193 194

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Vgl. Mehring (2009, S. 142). Noack (1993, S. 64). Ebd. S. 65. Ebd. Bendersky (1983, S. 54).. Vgl. Mehring (2009, S. 141).

II. Die Bonner Jahre.

2. Katholizismus als Lebensmaxime. Nach seinem Wechsel nach Bonn exponiert sich Schmitt als Katholik in einer Zeit, in der der Katholizismus um eine Neubestimmung seines Verhältnisses zur Moderne und um die Integration der literarischen Moderne ringt. Der Einfluss Søren Kierkegaards erfasste auch Schmitt und seinen Bekanntenkreis aus Münchner Zeiten, u.a. Theodor Haecker195, Franz Blei196 und Konrad Weiß197. Ziel war eine Überwindung des Ästhetizismus und eine erneuerte religiöse Bindung, die aber vornehmlich außerhalb der klerikalen Organisationen gesucht wurde.198 Starke Einflüsse aus der französischen Bewegung Renouveau catholique beeinflussten den diskursierenden deutschen Katholizismus: „Im breiten Strom katholischer Publizistik wurde damals Verschiedenes vertreten: Laienreligiosität und Mystik am Rande der Kirche ebenso, wie Ästhetizismus, autoritärer Etatismus und Anarchismus“.199

Die Hinwendung Schmitts zum ist zugleich eine – manchmal sogar zweifelnde – Wegsuche im Katholizismus, der sich zu dieser Zeit so vielfältig präsentiert.200 Ein katholizismusspezifisches Phänomen dieser Zeit ist dies nicht, „denn auch die protestantische Theologie radikalisierte sich damals“.201 Adolf von Harnacks antijudaistische Ablehnung des Alten Testaments als ein „Buch des minderwertigen jüdischen Gottes“202 wurde von Papst Benedikt XVI. als Vollstreckung der Häresie Marcions verstanden, der das Christentum vom Alten Testament zu trennen suchte203.

195 Haecker (1879-1954) war Schriftsteller, Kulturkritiker und Übersetzer, der Werke und Tagebücher von Søren Kierkegaard und des engl. Kardinals John Henry Newman übertrug. 196 Blei (1871-1942) war ein österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Literaturkritiker und Herausgeber der Zeitschrift Summa. 197 Weiß (1880-1940) war ein deutscher Dichter und Teil der Münchner Kulturszene, der zum Umfeld des politischen Katholizismus gerechnet wurde. In seinem Traktat Der christliche Epimetheus (1933) berief er sich auch auf Carl Schmitt. 198 Mehring (2009, S. 143). 199 Ebd. 200 Siehe dazu Mehring (2009, S. 144 f.). 201 Ebd. S. 144. 202 Ebd. 203 Benedikt XVI. (2007, S. 80 ff.). Dass Schmitt sich mit dem Marcionismus beschäftigte, sehen wir bei der Erörterung seiner Römischer-Katholizismus-Schrift.

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

III. Politische Theologie (1922). „Recht ist dort, wo entschieden wird; wo inappelativ entschieden wird, ist der Souverän, und wo Entscheidungen des Souveräns hervortreten, ist der Ausnahmezustand.“ Hugo Ball.204

Carl Schmitt hat die Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität im Jahr 1922 als Monographie veröffentlicht. 1923 wird diese – gekürzt um das vierte Kapitel Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution (De Maistre, Bonald, Donoso Cortés) – als Beitrag einer Erinnerungsgabe205 für Max Weber, jetzt unter dem Titel Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politische Theologie erneut veröffentlicht.206 Beruhend auf einer Sammelrezension von fünf Neuerscheinungen zur Staatslehre207 lasse bereits der Obertitel erkennen, dass Schmitts Schrift eine Antwort auf die Herausforderung Kelsens ist, der die Verwendung theologischer Begrifflichkeiten und Denkfiguren kritisiert hatte208. Schmitt wendet diese Kritik: „Nur ein theologisch inspiriertes Denken, findet Zugang zu zentralen staatsrechtlichen Begriffen wie Souveränität, Staat und Recht“.209

1. Politische Theologie: Begriff und Inhalt. 1.1. Zum Begriff der Politischen Theologie. Der Begriff „Politische Theologie“ scheint eine Schöpfung des römischen Gelehrten Terentius Varro (116-127 v.Chr.) zu sein. Varro unterschied drei abzugrenzende Theologietypen: „die theologia fabulosa der Dichter, welche Mythen und Geschichten erfinden, die theologia naturalis der Philosophen, die sich auf Vernunft gründet,

204 Ball (1924, S. 281). 205 Siehe Palyi (2010). 206 Wir zitieren nach der zugänglicheren zweiten Ausgabe von 1934 (2009). Zu Abweichungen gegenüber der Erstauflage siehe Neumann (2015, S. 42 FN 196). 207 Einzelheiten siehe Neumann (2015, S. 42 FN 194). 208 Kelsen (1922). 209 Neumann (2015, S. 42).

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III. Politische Theologie (1922).

und die theologia civilis, die ‚bürgerliche‘ oder ‚politische‘ Theologie, die eine Stadt oder ein Reich prägt“.210

Der Begriff der theologia civilis wurde dann im deutschen Sprachraum gewöhnlich mit Politische Theologie wiedergegeben. Sie weist über das Römische Reich bis in die griechische Polis zurück, die durch einen bestimmten Kultus – etwa den Kult der Stadtgöttin Athene – Identität und Legitimität gewannen. Das Christentum füllte den Begriff mit einem anderen Sinngehalt, zumal es als Universalreligion „von vorneherein reichskompatibel“ war.211 Schon mit dem Lukas-Evangelium wurde versucht, die Pax Romana mit Bezug auf die Geburt Christi als ein universales Friedensreich zu bestimmen. Mit der Konstantinischen Wende im Jahr 313 wurde das Christentum Reichsreligion. Mit Augustinus wird die Unterscheidung zweier Reiche – civitas terrena und civitas divina – für die politische Theologie zentral, was Luther mit seiner Zwei-Reiche-Lehre fortführte.212 „Bis zum Beginn der Neuzeit wird Politik immer in irgendeiner Form theologisch gedeutet“. Mit dem tiefen Einschnitt der Reformation wird die Frage nach der einen Religion virulent – und wird mit den schrecklichen konfessionellen Bürgerkriegen beantwortet. Sie belegen, „dass die Religion nicht mehr nur der Befriedung, sondern auch der Zerstörung der Gemeinschaft dienen konnte“213.

Als Mittel der Befriedung sollten einmal das Cuius-regio-eius-religioPrinzip oder die Entwicklung einer Zivilreligion helfen, deren Dach verschiedenen Konfessionen Platz böte. Letztere Alternative wählten Hobbes und Rousseau.214 Eigentlich, so zumindest Schmitt, sollte seine Schrift nur eine „Soziologie“ der Begriffe leisten. Sie enthält aber darüber weit hinausgehend auch „eine Theologie der Politik und eine Säkularisierungsgeschichte der Neuzeit“.215

210 211 212 213 214 215

Ottmann (2010, S. 229); s. a, Hartmann/Offe (2011, S. 283 f.). Ottmann (2010, S. 229). Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Ottmann (2015, S. 230). Ebd.

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1.2. Inhalt und Bedeutung. Vier Kapitel gilt es zu durchwandern in einer Abhandlung, die um die Beziehungen von Theologie, Politik, Jurisprudenz und Soziologie oszilliert. Teil I und II erörtern die Definitionen und die Probleme der „Souveränität“, Teil III trägt die titelgebende Überschrift „Politische Theologie“. Teil IV, eine ursprünglich selbstständige Abhandlung, reflektiert die „Staatsphilosophie der Gegenrevolution“ mit ihren Vertretern de Maistre, de Bonald und Donoso Cortés. Schmitt fasst, wie wir sehen werden, die Souveränität als Entscheidungsmonopol oder Monopol der Dezision (vgl. PT 19). Es geht ihm in der Politischen Theologie um die Gewinnung der Bedingungen, die Staat oder Staatlichkeit sichern können, bzw. um deren Rückgewinnung da, wo sie ausgehöhlt werden oder gar schon sind. Politische Theologie ist bei Schmitt ein durchaus säkulares Programm, welches das Religiöse – wie auch in Römischer Katholizismus und politische Form – ausschließt, weil es das Theologische in den politischen Diskurs einbringt.216 2. „Definition der Souveränität“. Carl Schmitt stimmt mit dem berühmten, apodiktischen Satz an: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (PT 13). „Souveränität“ ist ihm ein „Grenzbegriff“, dem allein seine eigene Definition gerecht werden kann (PT 13). Dieser Grenzbegriff217 ist zudem ein „Begriff der äußersten Sphäre“, woraus zu schließen ist, dass eine Definition der Souveränität am „Grenzfall“ oder „Ausnahmefall“ anknüpfen muss. Der Ausnahmefall – ein allgemeiner Begriff der Staatslehre – entzieht sich der geltenden Rechtsordnung, da er tatbestandsmäßig nicht umschrieben werden kann und inhaltlich leer ist. Er bezeichnet unbestimmt den „Fall äußerster

216 Vgl. Adam (1992, S. 24 u. 26). 217 Zu dem Themenkomplex: „Carl Schmitt als Sprachdenker“ siehe Michaela und Thilo Rissing (2009; insb. S. 35-50). Sie rekurrieren dabei „auf das sprachtheoretisch und metaphysikkritisch ansetzende Denken von Jacques Derrida. Ihre Ausgangsthese: „Das politisch-theologische Denken von Carl Schmitt ist wesentlich geleitet von einer Reflexion auf Sprache und die sprachliche Konstitution von Welt“ (ebd.). Wir können auf diesen Ansatz im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingehen.

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III. Politische Theologie (1922).

Not“ oder der „Gefährdung der Existenz des Staates“ (PT 13 f.):218 Im Ausnahmefall geraten Ordnung und Rechtsordnung in Konflikt.219 In einem solchen Moment höchster Gefährdung bedarf es, um handlungsfähig zu bleiben, einer Entscheidung, die sich nicht durch Rechtsnormen legitimieren kann. Doch sind „Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz (…) notwendig unbegrenzt“ (PT 14),220 ist doch im Ausnahmezustand die gesamte Rechtsordnung durch den Staat „kraft eines Selbsterhaltungsrechts“ suspendiert (PT 18/19).221 Die im Ausnahmezustand zu treffenden bzw. getroffenen Entscheidungen sind frei von jeder normativen Gebundenheit. Der Souverän allein entscheidet, ob ein Ausnahmefall vorliegt, und er allein entscheidet über die Maßnahmen, die für die Wiederherstellung der Normalität ergriffen werden müssen: „Die Entscheidung über die Ausnahme ist nämlich im eminenten Sinne Entscheidung. Denn eine generelle Norm, wie sie der normal geltende Rechtssatz darstellt, kann eine absolute Ausnahme niemals erfassen“ (PT 13).

218 Vgl. Neumann (2015, S. 42 f.). Bielefeldt sieht im Schmittschen Ausnahmefall ein „Grundphänomen“, das die politische Lebenswirklichkeit als Ganzes beleuchtet (Bielefeldt 1994, S. 24; Herv. im Original), Hofmann eine Entsprechung zum Begriff der „Grenzsituation“ bei Jaspers, in der sich der Mensch schlagartig des Grundes seiner Existenz bewusst wird (Hofmann 1964, S. 66). 219 Adam (1992, S. 3). 220 In der historischen Entwicklung des Souveränitätsbegriffs, so Schmitt, habe sich schon Bodin am Ausnahmefall orientiert (PT 14 f.; ausführlicher dazu siehe Campagna (2004, S. 67 ff.). Die Vordenker Bodin – wie auch Hobbes – vereinen alle Hoheitsrechte und Herrschaftsbefugnisse in einer einzigen Position, die zudem tendenziell eine unbegrenzte Handlungsvollmacht hat (Münkler/Straßenberger 2016, S. 127) und von allen gesetzlichen Bindungen und gewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen frei ist, wenn kein Verstoß gegen das göttliche und das natürliche Recht vorliegt (Münkler/Straßenberger 2016, S. 129). Für Schmitt liegt Bodins Bedeutung darin, dass er die Souveränität als eine unteilbare Einheit auffasste „und die Frage nach der Macht im Staate endgültig entschied. Seine wissenschaftliche Leistung und der Grund seines Erfolges liegen also darin, daß er die Dezision in den Staatsbegriff hineingetragen hat“ (PT 15). Das mag an dieser Stelle genügen (näher dazu s. das Kapitel: Die Diktatur). 221 Es kann die Rechtsordnung „wenn es hart auf hart kommt, gegenüber dem Souverän keine verbindliche Kompetenzschranke mehr darstellen. Vielmehr werden sie nun auch ihrerseits möglicher Gegenstand souveräner Entscheidung und erweisen sich damit als ein nur sekundäres Phänomen. (…) Er (Schmitt, w.a.m.) betont das dezisionistische Moment des Rechts, stellt es den abstrakten Regeln entgegen und behauptet zugleich den Vorrang der Dezision gegenüber der Norm, weil letztere nur durch Entscheidung entsteht und aufrechterhalten wird“ (Bielefeldt 1994, S. 25/26).

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Im Ausnahmefall der Staatskrise erweist sich der Souverän als Souverän:222 „Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann“ (PT 14).

Während Max Weber den neuzeitlichen Staat durch das Gewaltmonopol bestimmt sieht, erfasst ihn Schmitt durch das Monopol der Dezision (vgl. PT 19).223 Es ist die Dezision „in absoluter Reinheit“ (PT 19), die sich im Ausnahmefall bewährt,224 der in „absoluter Gestalt“ dann eingetreten ist, „wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können“ (ebd.). Denn jede Norm – „Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre.“ (ebd.) – bedarf zu ihrer Geltung des Vorliegens normaler Lebensverhältnisse, und eine Rechtsordnung macht nur dann Sinn, wenn Ordnung herrscht bzw. wiederhergestellt ist (ebd.). Es gibt mithin Ordnung ohne Recht, nie aber Recht ohne eine tatsächliche Ordnung,225 denn „auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm“ (PT 16).

Das Außerkraftsetzen der Rechtsordnung im Ausnahmezustand führt nicht zu chaotischen Zuständen, denn der Staat bleibt bestehen und der Souverän ist mit seinem Entscheidungsmonopol der Herr über die Krise: „Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autorität beweist, daß sie um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht“ (PT 19).

222 Rissing (2009, S. 54; Herv. w.a.m.) 223 Für Hofmann hat sich der Inhalt des Dezisionsbegriffs verändert, da die Dezision, die als ein „voluntaristisches Element“ der richterlichen Rechtsprechung begann, „dann zu einem determinierenden Moment allen Rechtes wuchs, nunmehr frei von jeder normativen Gebundenheit (…) im eigentlichen Sinne absolut“ ist (Hofmann 1964, S. 68). 224 Aber es ist eben nicht der Nominalismus Kelsens, der die Verfassung als ein geschlossenes Normensystem betrachtet (Ottmann 2010, S. 230/231). 225 Vgl. Hofmann (1964, S. 63.)

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III. Politische Theologie (1922).

Diese offensichtliche Überlegenheit des Staates beruht „auf seiner bloßen Existenz als faktische Machtorganisation“226 und bestätigt Hobbes Diktum: Auctoritas, non veritas facit legem. Die besondere Bedeutung des Ausnahmezustands im Denken Carl Schmitts, der für ihn eben keineswegs nur heuristischer Natur ist, zeigen folgende Sätze: „Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur dir Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.“ (PT 21).

Es geht Schmitt auch um mehr, denn nur um die Enthüllung der Struktur eines Staates.227 Weil in Carl Schmitts Philosophie der Rechtsverwirklichung die Priorität eindeutig auf der Erhaltung der faktischen Normalität liegt, wird in Konsequenz die Frage der Diktatur zum eigentlich kritischen Punkt des Problems der Rechtsverwirklichung: „Das ursprünglich polemisch gegen den Normativismus Kelsenscher Prägung gerichtete Interesse Schmitts am Ausnahmefall beginnt, sich selbstständig zu machen und die Ausgangsproblematik weit überschreitende Konsequenzen zu zeitigen“.228

Schmitt besteht darauf, dass der Ausnahmefall der juristischen Erkenntnis zugänglich und die Norm wie auch die Entscheidung im Feld des Juristischen verbleiben (PT 19). Die Ausnahme, generell zwar nicht fassbar, behält juristische Bedeutung, denn „gleichzeitig offenbart sie ein spezifischjuristisches Formelement, die Dezision“ (PT 19). Was die Frage aufwirft, woraus sich dieses Formelement ergeben soll. Die „Zuständigkeit“ – was nahe läge229 – kann es nicht sein, da sie sich im Ausnahmezustand aus dem ja suspendierten positiven Recht nicht ergeben kann. „Und doch soll der Rechtswert der Entscheidung aus der Zuständigkeit des Subjekts der

226 Ebd. S. 68: „An dieser Stelle deutet sich erstmals klar der existenz-philosophische Vorrang der Existenz- vor der Essenzfrage an“. 227 Ebd. S. 67. 228 Ebd. S. 66. In den Entwicklungen des modernen Rechtsstaats, bedauert Schmitt, wiesen alle Tendenzen auf die Beseitigung eines derartigen Souveräns (PT 14). 229 Für Kelsen ist eine Rechtsnorm gültig, wenn sie von der zuständigen Stelle erlassen wurde (Neumann 2015, S. 43).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

Souveränität folgen“230. So zeigt sich das problematische Verhältnis von Recht und Staat im Ausnahmefall.231 3. „Das Problem der Souveränität als Problem der Rechtsform und der Entscheidung“. Carl Schmitt untersucht im zweiten Kapitel die Umgestaltung staatsrechtlicher Begriffe und Theorien unter dem Eindruck realpolitischer Verhältnisse (PT 25).„Von allen juristischen Begriffen ist der Begriff der Souveränität am meisten von aktuellen Interessen beherrscht“, diktiert Schmitt, obwohl diese Begrifflichkeit seit Bodin keine logische Entwicklung oder Fortbildung erfahren habe (ebd.). Vielmehr werde immer wieder nur die alte Definition variiert: „Souveränität ist höchste, rechtlich unabhängige, nicht abgeleitete Macht“ (PT 26). Derart definiert, ist sie auf die „verschiedensten politisch-soziologischen Komplexe“ anwendbar, für die „verschiedensten politischen Interessen“ brauchbar und „unendlich vieldeutig“ und ist situationsabhängig „außerordentlich brauchbar oder gänzlich wertlos“ (ebd.). Eine „höchste Macht“ als Bezeichnung einer realen Größe, so Schmitt, gebe es nicht: „die Macht beweist nichts für das Recht (…)“ (ebd.).232 In der Verbindung der faktischen und der rechtlich höchsten Macht problematisiert sich der Begriff der Souveränität: „Hier liegen alle seine Schwierigkeiten, und es handelt sich darum, eine Definition zu finden, die nicht mit allgemeinen tautologischen Prädikaten, sondern durch die Präzisierung des juristisch Wesentlichen diesen Grundbegriff der Jurisprudenz erfaßt“ (ebd.).

Die Lösung dieses Problems durch Kelsen ist für Schmitt ungenügend. Dieser habe eine „einfachere Lösung“ versucht, indem er das „Entweder“ einer reinen Soziologie dem „Oder“ einer reinen Rechtswissenschaft gegenüberstellte. Er habe derart das Ziel angestrebt, „alle soziologischen Elemente (…) aus dem juristischen Begriff fernzulassen“ und so mit

230 Siehe Neumann (2015, S. 43/44). 231 Ebd. 232 Schmitt hatte bereits 1917 ausgeführt, dass Recht nicht aus der Macht abgeleitet werden darf: Die beiden Welten (von Recht und Macht, w.a.m.) stehen einander gegenüber; daß der Satz, alles Recht sei Macht, genau umgekehrt werden kann in die These, alle Macht sei nur Recht, beweist nicht einen Zusammenhang und eine Ableitbarkeit, sondern die Unvereinbarkeit“ (Summa I (1917) 37-52, S. 46/47).

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einem „simplistischen Entweder-Oder“ eine „Disjunktion: Soziologie – Jurisprudenz“ aufgestellt (PT 26). Nach der Liquidierung alles Soziologischen wird so unverfälscht und rein „ein System von Zurechnungen und Normen auf eine letzte einheitliche Grundnorm“ gewonnen (PT 26). So verfahrend komme Kelsen „zu dem keineswegs überraschenden Resultat, daß für die juristische Betrachtung der Staat etwas rein Juristisches sein müsse, etwas normativ Geltendes, also nicht irgendeine Realität oder ein Gedachtes neben und außer der Rechtsordnung, sondern nichts anderes als eben diese Rechtsordnung selbst, freilich (…) als Einheit“ (PT 27).

Nach Kelsens normativistischer Auffassung vom Staat ist dieser nicht Urheber und nicht Quelle der Rechtsordnung, sondern „der Staat, das heißt, die Rechtsordnung, ist ein System von Zurechnungen auf einen letzten Zurechnungspunkt und eine letzte Grundnorm. (…) Der Staat ist der Endpunkt der Zurechnung“ und „zugleich eine ‚nicht weiter ableitbare Ordnung‘“ (PT 27). Es besteht, cum grano salis, ein durchgehend hierarchisches Normensystem. Jedem wissenschaftlichen Einwand werde dasselbe Argument entgegengestellt: „der Grund für die Geltung einer Norm kann wiederum nur eine Norm sein; der Staat ist daher für die juristische Betrachtung identisch mit seiner Verfassung, das heißt der einheitlichen Grundnorm“ (PT 27).

Die Einheit der Rechtsordnung, d.h. der Staat, verbleibt im Rahmen des Juristischen rein von allem Soziologischen (PT 28). „Kelsen löst das Problem des Souveränitätsbegriffs dadurch, daß er es negiert“, und fordert: „Der Souveränitätsbegriff muß radikal verdrängt werden“ (PT 29). Die liberale Verneinung des Staates, so Schmitt, negiere den Staat gegenüber dem Recht und blende aus, dass das Recht auch verwirklicht werden muss (ebd.). „Die ‚eigentliche Schwierigkeit‘ (…) ist das selbständige Problem der Rechtsverwirklichung“.233 Denn die Rechtsidee kann sich selbst nicht durchsetzen und bedarf „einer besonderen Gestaltung und Formung“, damit sie Rechtswirklichkeit werden kann (vgl. PT 35).234

233 Neumann (2015, S. 45). 234 „Die Rechtsform wird beherrscht von der Rechtsidee und der Notwendigkeit, einen Rechtsgedanken auf einen konkreten Tatbestand anzuwenden, das heißt von der Rechtsverwirklichung im weitesten Sinne“ (PT 35).

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Zugleich sind die Vertreter einer liberalen Staatsauffassung bemüht den Souveränitätsbegriff zu entpersonalisieren. Krabbe,235 für den nicht der Staat, sondern das Recht „souverän“ ist, ersetzt den persönlichen oder institutionalisierten Souverän durch eine „geistige Macht“.236 Sein Staat produziert nur noch Recht, wendet es aber nicht mehr an. Gierke237 wiederum wertet Staat und Recht als „ebenbürtige Mächte“ (PT 32), sieht aber den Staat wie den Herrscher nicht mehr als die letzte Quelle des Rechts an, sondern das vom Volksleben hervorgebrachte Rechtsbewusstsein (PT 31). Der Staat besiegele das gesetzte Recht nur noch. Für Krabbe wie Gierke gilt Schmitts Urteil: „Wird der Staat auf diese Weise in die Rolle des bloß deklarierenden Herolds gedrängt, so kann er nicht mehr souverän sein“ (PT 32).238

Wolzendorff239geht davon aus, dass der Staat das Recht und das Recht den Staat braucht, aber „das Recht als das tiefere Prinzip hält letzten Endes den Staat in Banden“ (PT 32). Der Staat wird ihm zu einer reinen Ordnungsmacht, und so kommt dieser Ansatz – gegen die Intention seines Schöpfers – einer „autoritären Staatsidee“ sehr nahe (vgl. PT 33). Insgesamt sieht Schmitt in der modernen Staatslehre das Bestreben, die Form aus dem Subjektiven ins Objektive zu verlegen. Für Kelsen aber erschöpfe sich diese Objektivität darin, „daß er alles Personalistische vermeidet und die Rechtsordnung auf das Gelten einer unpersönlichen Norm zurückführt“ (PT 35), also auf ein „reines“ abstrakt-normatives Rechtssystem. Für Kelsen ist deshalb das persönliche Befehlsrecht der eigentliche

235 Hugo Krabbe (1857-1936) war ein niederländischer Staatsrechtler. 236 „Wir leben jetzt nicht mehr unter der Herrschaft von Personen, seien es natürliche oder konstruierte (Rechts-)Personen, sondern unter der Herrschaft von Normen, geistigen Kräften. Darin offenbart sich die moderne Staatsidee“ (Krabbe 1919: Die moderne Staatsidee, hier zit. nach PT 30). 237 Otto von Gierke (1841-1921) war ein deutscher Rechtshistoriker und Politiker, der vor allem wegen seiner Konzeption eines Genossenschaftsrechts und seiner Theorie von der realen Verbandspersönlichkeit bekannt ist. 238 Das genossenschaftlich von unten aufgebaute Gemeinwesen ist für seine Protagonisten bei geeigneter Organisation in der Lage, ohne Herrschaftsmonopol und ohne Souveränität auszukommen, die mit der Genossenschaftstheorie als ein „Residuum des Obrigkeitsstaates“ verworfen werden kann (vgl. PT 32). 239 Kurt Wolzendorff (1882−1921) war ein deutscher Staatsrechtler.

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Irrtum der Souveränitätslehre (PT 36).240 Schmitt hält konsequent dagegen: „Alle diese Einwendungen verkennen, daß die Persönlichkeitsvorstellungen und ihr Zusammenhang mit der formalen Autorität einem spezifischen juristischen Interesse entsprungen ist, nämlich einem besonders klaren Bewußtsein dessen, was das Wesen der rechtlichen Entscheidung ausmacht“ (ebd.; Herv. w.a.m.).

Denn der „Eigenwert der Form“ (PT 33) und damit das Wesen der rechtlichen Entscheidung zeigt sich für Schmitt gerade in der Personalität und im Befehl, überführt dieser doch die Rechtsidee – die niemals in ihrer Reinheit wirklich werden kann – „in einen anderen Aggregatzustand und fügt ein Moment hinzu, das sich weder aus dem Inhalt der Rechtsidee“ noch aus dem Inhalt einer positiven Rechtsnorm entnehmen lässt (PT 36). Es liegt also bei jeder juristischen Entscheidung eine Transformation vor: „In jeder Umformung liegt eine auctoritatis interpositio“ (PT 37).241 Eine Eigenumsetzung der Rechtsidee scheitert auch, weil sie nichts über die Zuständigkeit aussagt. Denn es muss die je „zuständige“ Stelle sein, welche die Entscheidung trifft. Die Konsequenz: Erst die „Zuständigkeit“ für die Entscheidung macht diese „relativ, unter Umständen auch absolut, unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhalts und schneidet die weitere Diskussion darüber, ob noch Zweifel bestehen können, ab“ (ebd.).

240 Krabbe fasst die zwei gegensätzlichen Ansichten bereits 1906 prägnant: „Die Theorie der Staatssouveränität hat ihren Grund in der Vorstellung, daß die Gewalt in einem persönlichen Befehlsrecht wurzelt. Die Theorie der Rechtssouveränität beruht auf dem Gedanken einer unpersönlichen, den Rechtsnormen, eben weil sie Rechtsnormen sind, eigene Gewalt. Letztere Theorie ist die Frucht einer höheren Kultur und setzt die Fähigkeit abstrakten Denkens voraus“ (Krabbe, zit. n. Neumann 2015, S. 46 FN 207). 241 Für das Verständnis der richterlichen Entscheidung gibt es zwei Thesen, fassbar unter den Begriffen Kognition und Dezision. Einmal wird das richterliche Urteil als eine Erkenntnis aufgefasst, die aus den Rechtsquellen abzuleiten ist. Die zweite, „von u.a. Carl Schmitt der juristischen Elite vorbehaltene Alternative entscheidet sich dafür, die Entscheidung als Willensakt zu konzipieren, dessen Inhaltsbestimmung normativ einer creatio ex nihilo entspricht“ (Fischer-Lescano/ Christensen 2007, S. 2). In diesem Sinne gilt für Schmitt die auctoritatis interpositio: „Es ist in der Eigenart des Normativen begründet und ergibt sich daraus, daß ein konkretes Faktum konkret beurteilt werden muß, obwohl als Maßstab der Beurteilung nur ein rechtliches Prinzip in seiner generellen Allgemeinheit gegeben ist“ (PT 37).

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Damit sind wir wieder zum Ausgangspunkt von Schmitts Überlegungen zurückgekehrt. Durch die Zuständigkeit erhält die Entscheidung einen „selbständigen Wert“ und ist „normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren“. „Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung. Es wird nicht mithilfe einer Norm zugerechnet, sondern umgekehrt; erst von einem Zurechnungspunkt aus bestimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist“ (PT 37/38).

4. Politische Theologie. 4.1. Säkularisierung und Strukturanalogie. „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“ (PT 43).242

Für seine Kernthese gibt Schmitt zwei Begründungen: Einmal, weil die Begriffe historisch von der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden – der „allmächtige Gott“ wurde zum „omnipotenten Gesetzgeber“ – und zweitens, wegen ihrer systematischen Struktur, deren Kenntnis für die von Schmitt angestrebte soziologische Betrachtung243 unerlässlich ist (PT 43). So habe der Ausnahmezustand für die Rechtswissenschaften eine „analoge“244 Bedeutung, wie es das Wunder für die Theologie habe. Erst das Erkennen dieser analogen Systematiken offenbare, welche Entwicklung die staatsphilosophischen Ideen in den letzten Jahrhunderten genommen hat (ebd.).245

242 Schmitt betont, dass er seit Langem „auf die fundamentale systematische und methodische Bedeutung solcher Analogien hingewiesen habe“ und benennt als Belege Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914), Politische Romantik (1919) und Die Diktatur (1921) (PT 43). 243 Hugo Ball beschreibt die soziologische Betrachtung der Rechtsbegriffe so: „Es ist das Bestreben, die geschichtlichen Formen der Rechtsbegriffe zu ihrer Herkunft zurückzuverfolgen und daraus Schlüsse zu ziehen auf die absolute Rechtsform. Es ist der Versuch, von der geschichtlichen Wirklichkeit aus und nicht abstrakt, zum Absoluten zu gelangen“ (Ball 1924, S. 281). 244 Als Bürgen dieser spezifischen Analogie benennt Schmitt den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, der die systematische Verwandtschaft von Jurisprudenz und Theologie betont hatte (PT 44). 245 Kritisch zum Analogiemodell Kodalle (1973, S. 44-48, insb. S. 45).

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III. Politische Theologie (1922).

Die Idee des modernen Rechtsstaats setzte sich mit dem Deismus durch, der mit seiner Theologie bzw. Metaphysik eines Gottes aus Verstandesgründen das Wunder, als die ausnahmsweise Durchbrechung eines Naturgesetzes, aus der Welt verwies, so wie er analog einen unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung abgelehnt hatte. Der Rationalismus der Aufklärung habe den Ausnahmezustand dann in jeder Form verworfen (ebd.). Schmitt betont, wer die staatsrechtliche Literatur der positiven Jurisprudenz auf ihre letzten Begriffe und Argumente untersuche, erkenne, dass an allen Stellen der „Staat“ eingreift: „immer dieselbe unerklärliche Identität, als Gesetzgeber, als Exekutive, als Polizei, als Gnadeninstanz, als Fürsorge (…)“ (PT 44). Dies zeige, dass die Omnipotenz des modernen Gesetzgebers staatsrechtlicher Lehrbücher nicht nur sprachlich aus der Theologie rührt (vgl. PT 44 f.). Werde mit theologischen Reminiszenzen argumentiert, geschehe dies aber meist in polemischer Absicht, werde doch dem wissenschaftlichen Widerpart gerne unterstellt, „Theologie oder Metaphysik“ zu betreiben (PT 45).246 4.2. Berufstypologie oder Strukturidentität. Bevor Schmitt seine Methodologie weiterführt, gilt es für ihn, noch Missverständnisse auszuräumen, die wir hier in knapper Form nachzeichnen, auch weil sie Schmitts Ansichten zum marxistischen Materialismus erhellen. Zunächst, führt Schmitt ein, sei zu bedenken, dass jede Soziologie juristischer Begriffe eine „konsequente und radikale Ideologie voraussetzt. Es wäre ein arges Mißverständnis, zu glauben, darin liege eine spiritualistische im Gegensatz zu einer materialistischen Geschichtsphilosophie“ (PT 47/48).

Max Weber habe aber recht, wenn er argumentiere, dass man einer radikal materialistischen eine ebenso radikale spiritualistische Geschichtsphilosophie gegenüberstellen könne (PT 48). Gemeinsam sei beiden, dass sie ursächliche Zusammenhänge ermitteln wollen. Die Spiritualisten führen realpolitische Verwerfungen auf Philosophien und Weltanschauungen zurück, wie dies die gegenrevolutionären Schriftsteller taten, die für den

246 Weiterführend s. Neumann (2015, S. 47 f.).

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Ausbruch der Französische Revolution die Philosophie der Aufklärung als ursächlich betrachteten, während „radikale Revolutionäre“ für politische Umbrüche die ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse zur Erklärung heranziehen, wie dies die marxistische Geschichtsphilosophie tut (vgl. PT 48). Die materialistische Erklärung, die alles Denken als „Funktion und Emanation vitaler Vorgänge“ auffasst, laufe aber Gefahr, sich zu einer isolierten Betrachtung ideologischer Konsequenzen als unfähig zu erweisen, weil sie „überall nur ‚Reflexe‘, ‚Spiegelungen‘, ‚Verkleidungen‘ ökonomischer Beziehungen sieht, also konsequent mit psychologischen Erklärungen, Deutungen und, wenigstens in ihrer vulgären Fassung, mit Verdächtigungen arbeitet“ (ebd.).

Für Schmitt komme es weiterhin einer „Karikatur“ gleich, wenn auf der Suche nach den obigen ursächlichen Zusammenhängen die spiritualistische Theorie die Wirklichkeit aus der Idee und die materialistische Theorie die Idee aus der Wirklichkeit gewinnen. Beide Male würde zunächst der Gegensatz zweier Sphären konstruiert, um ihn dann „durch die Reduzierung des einen auf den anderen wieder in ein „Nichts“ aufzulösen“ (vgl. PT 48/49). Aber auch die soziologische Methode Max Webers erfährt nicht die ungeteilte Zustimmung Schmitts. Die Zurückführung von bestimmten Ideen, Ansichten und intellektuellen Gestaltungen auf einen berufstypischen Personenkreis – Schmitt wählt als Beispiel geschulte Rechtskundige als Träger der Rechtspflege – ist für Schmitt zwar ein soziologisches Problem, aber keine Soziologie eines juristischen Begriffes in seinem Sinne (PT 49). Wenden wir uns seiner Methodik etwas näher zu. Schmitts Soziologie juristischer Begriffe greift tiefer: Er setzt die staatsrechtlichen Begriffe einer bestimmten Epoche mit den theologischen und philosophischen Begriffen derselben Epoche in Beziehung. Denn es geht ihm darum, „zwei geistige, aber substantielle Identitäten nachzuweisen“ (ebd.). Deshalb habe die Soziologie des Souveränitätsbegriffs der Monarchie im 17. Jahrhundert zu zeigen, „daß der historisch-politische Bestand der Monarchie der gesamten damaligen Bewußtseinslage der westeuropäischen Menschheit entsprach und die juristische Gestaltung der historischen-politischen Wirklichkeit einen Begriff finden

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III. Politische Theologie (1922).

konnte, dessen Struktur mit der Struktur metaphysischer Begriffe übereinstimmte“ (ebd.).247

Hier wird auch deutlich, dass sich die Legitimität einer bestimmten Staatsform aus seinem theologischen Hintergrund bestimmt.248 In Schmitts Systemdenken finden die metaphysische und die politische Ordnung einer Epoche in einem strukturgemäßen Weltbild zusammen:249 „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet. Die Feststellung einer solchen Identität ist die Soziologie des Souveränitätsbegriffs“ (PT 50/51).

Dies ist eine wichtige, dem historischen Materialismus konträre, Erkenntnis. Denn politische Theologie bedeutet nun: Die Metaphysik ist „der intensivste und klarste Ausdruck einer Epoche“ (PT 51). Sie ist somit der Schlüssel zum Verständnis des – in heutiger Diktion – gesellschaftlichen und politischen Systems einer Epoche. Und dieser Schlüssel böte die Möglichkeit zum Wiedereintritt Gottes in das politisch-theologische Denken – „als politischer Personalismus“.250

4.3. Die Entwicklung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs. Die rekonstruierte Kongruenz von politischer und theologischer Ordnung, so fazitieren wir an dieser Stelle Schmitts Methodik, zeichnet das Bild einer Epoche. Dies wird demonstriert anhand der neuzeitlichen Entwicklung des Souveränitätsbegriffs, indem er staatliche und metaphysische Begriffe gegenüberstellt.251

247 Herv. w.a.m. 248 Vgl. Rissing (2009, S. 41 f.). 249 Vgl. ebd. S. 58. Rissing erkennt auch hier das Denken eines „radikalen Ideologen“, „insofern er konsequent in politisch-theologischen Sinnbildern bzw. Konstellationen denkt“ (ebd.). 250 Vgl. Adam (1992, S. 24). 251 Siehe dazu Habfast (2010, S. 130 ff.).

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4.3.1. Theismus und Monarchie. Das erste systematische Analogon bilden die Begriffe Theismus und Monarchie. Im 17. und 18. Jahrhundert sieht Schmitt ein einheitliches Nebeneinander des epochalen Weltbildes mit der politischen Realität des Staates, weil er im vormodernen Repräsentationsdenken metaphysisch durch die Theologie legitimiert war.252 Es habe, so Neumann, „die Monarchie der gesamten damaligen Bewusstseinslage der westeuropäischen Menschheit entsprochen (…)“.253 Denn die Staatslehre des 17. Jahrhunderts identifiziert den Monarchen mit Gott und positioniert ihn genau an der Stelle des Staates, „die dem Gott des kartesianischen Systems in der Welt zukommt“ (PT 51). Die Weltsicht dieses Zeitalters begriff auf der weltlichen Seite „den Souverän als eine persönliche Einheit und letzten Urheber“ und glaubte auf der religiösen Seite an eine strenge Gottesherrschaft: „ein einziger Gott regiert die Welt“ (ebd.). Der Weltbaumeister ist Urheber wie auch Gesetzgeber, er ist die legitimierende Autorität – bis zur Französischen Revolution (vgl. PT 52). 4.3.2. Repräsentations- und Immanenzdenken. Die zweite Analogie findet sich im 19. Jahrhundert, als die Naturwissenschaften eine Welt proklamierten, die nur nach rein sachlichen Gesetzen funktionierte. Das bisherige Repräsentations- hatte einem Immanenzdenken zu weichen, in dem transzendentale und theistische Vorstellungen keinen Platz mehr hatten. Auch wird die „generelle Geltung eines Rechtssatzes (…) mit der ausnahmslos geltenden Naturgesetzlichkeit identifiziert“ und das juristisch-ethische Denken der Aufklärung damit verdrängt (PT 52). Die Parallelität offenbart sich hier in der Vorstellung eines Staatswesens, das mittels unpersönlicher Rechtsprinzipien alleine funktioniert: „Die generelle Geltung eines Rechtssatzes wird mit der ausnahmslos geltenden Naturgesetzlichkeit identifiziert. Der Souverän, der im deistischen Weltbild, wenn auch außerhalb der Welt, so doch als Monteur der großen Maschine geblieben war, wird radikal verdrängt. Die Maschine läuft jetzt von selbst“ (PT 52).

252 Vgl. Rissing (2009, S. 56). 253 Neumann (2015, S. 49). .

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4.3.3. Deismus und konstitutionelle Monarchie. Das theistische Weltbild verfällt mit der Französischen Revolution zu einer Theologie des Deismus, die Gott „radikal“ aus der Welt drängt und jedes Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen negiert. Der staatsrechtlich analoge Begriff zum Deismus ist für Schmitt die konstitutionelle Monarchie. Sie versuche, „den König durch das Parlament zu paralysieren, ihn aber doch auf dem Thron zu lassen, also dieselbe Inkonsequenz, die der Deismus begeht, wenn er Gott aus der Welt ausschließt, aber doch an seiner Existenz festhält“ (PT 64).

Diese tiefgreifende parlamentarische Entsouveränisierung des Monarchen eröffne durch das rechtlich zulässige Eingreifen Dritter den Weg zum Rechtsstaat: „Denn die Idee des modernen Rechtsstaats setzt sich mit dem Deismus durch, mit einer Theologie und Metaphysik, die das Wunder aus der Welt verweist und die im Begriff des Wunders enthaltene, durch einen unmittelbaren Eingriff eine Ausnahme statuierende Durchbrechung der Naturgesetze ebenso ablehnt wie den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung“ (PT 43).

Mit dem Rationalismus der Aufklärung verschwindet jede denkbare Form des Ausnahmezustandes und damit der wesentliche Bestandteil des Begriffs der echten Souveränität im Sinne Schmitts. Bei Rousseau sei zwar die volonté générale identisch mit dem Willen des Souveräns, jedoch wird dieser quantitativ neu bestimmt. Souverän ist jetzt das Volk: „Dadurch geht das dezisionistische und personalistische Element des bisherigen Souveränitätsbegriffs verloren. Der Wille des Volkes ist immer gut (…)“ (PT 52).

Aber, wendet Schmitt ein, die Richtigkeit einer Entscheidung des Volkes entspricht nicht der Richtigkeit, die einem persönlichen Befehl des persönlichen Souveräns innewohne (vgl. ebd.). Die absolute Monarchie begründete durch die dezisionistische Lösung von Konflikten die staatliche Einheit. Hingegen fehlt der organischen Einheit des Volkes gerade dieser dezisionistische Charakter. Das Volk stellt sich als eine organische Einheit dar, das mit wachsendem Nationalismus die Vorstellung von einem „organischen Staatsganzen“ entwickelt (PT 53). Dadurch werde der theistische wie der deistische Gottesbegriff „für die politische Metaphysik unver-

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ständlich“ (ebd.). Wegen dieser Entwicklung im 19. Jahrhundert könne ein Staatsphilosoph wie Kelsen „die Demokratie als den Ausdruck relativistischer, unpersönlicher Wissenschaftlichkeit auffassen“ (ebd.). 4.3.4. Sozialismus und Anarchismus. Das vierte und letzte systematische Analogon macht Schmitt in den revolutionären Bewegungen des Sozialismus und Anarchismus aus. Im 19. Jahrhundert wird die Dominanz der Immanenzvorstellungen immer größer. Alle Identitäten in der politischen und staatsrechtlichen Doktrin dieser Zeit gründen auf ihnen, „die demokratische These von der Identität der Regierenden mit den Regierten, die organische Staatslehre und ihre Identität von Staat und Souveränität (…)“ (PT 53).

Für Schmitt waren die Schriftsteller der Restaurationszeit die ersten politischen Theologen. Sie hätten „mit Analogien aus einer theistischen Theologie versucht, die persönliche Souveränität des Monarchen ideologisch zu stützen“254 Aber der Kampf der Radikalen gegen jegliche Ordnung und den Gottesglauben, als „dem extremsten fundamentalen Ausdruck des Glaubens an eine Herrschaft und eine Einheit“, wurde immer substantieller (PT 53/54). Pierre Joseph Proudhon begann unter dem Einfluss Auguste Comtes den Kampf gegen Gott, den der Anarchist Michail Alexandrowitsch Bakunin „mit einer skythischen Wucht“ fortgesetzt habe (PT 54). Beide sind im Verständnis Schmitts extrem radikale politische Theologen, die auf der Grundlage eines konsequenten Atheismus prophezeiten, dass sich die Menschheit an die Stelle Gottes setzen und selbstbewusst zur anarchistischen Freiheit drängen werde. Marx und Engels hätten dies klar erkannt. Schmitt zitiert den hier „intuitiven jungen“ Engels: „Das Wesen des Staates wie der Religion ist die Angst der Menschheit vor sich selbst“ (PT 54.). Die staatstheoretische Entwicklung des 19. Jahrhunderts ist also durch zwei Momente charakterisiert: die Tilgung aller theistischen und transzendenten Vorstellungen und die Herausbildung eines neuen Legitimitätsbegriffs, da der traditionelle monarchistische alle Evidenz verloren hatte (vgl. PT 54/55). Es wird, zweitens, seit der Revolution von 1848 die

254 Neumann (2015, S. 49).

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Staatslehre positiv und an die Stelle des monarchistischen ist der demokratische Legitimitätsgedanke getreten.255 Der für Schmitts Denken wichtige katholische Staatsphilosoph und Gegenrevolutionär Donoso Cortés, der den metaphysischen Kern aller Politik geradezu verinnerlicht habe, hätte mit der Revolution von 1848 sofort erkannt, „daß die Epoche des Royalismus zu Ende ist. Es gibt keinen Royalismus mehr, weil es keine Könige mehr gibt. Es gibt daher auch keine Legitimität im überlieferten Sinne. Demnach bleibt für ihn nur ein Resultat: die Diktatur“ (PT 55).

Der Ausweg der Diktatur habe sich aus denselben Konsequenzen eines dezisionistischen Denkens auch Hobbes eröffnet: „Auctoritas, non veritas facit legem“ (PT 56). 5. Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution. Die Französische Revolution von 1789 wurde weit radikaler und bedrohlicher wahrgenommen, als die Glorreiche Revolution in England oder die Amerikanische Revolution von 1776. Sie änderte die Gesellschaftsordnung, setzte die Etablierung eines radikal neuen Systems der politischen Ordnung ins Werk und brach mit der Kontinuität der Vergangenheit – all dies im Zentrum Europas, das von Frankreich auch noch mit den Revolutionskriegen überzogen wurde.256 Diese Revolution war für Schmitt die Konsequenz der im 16. und 17. Jahrhundert einsetzenden Säkularisierung, des aufklärerisch-individualistischen Denkens, das Verfassungen nach dem Vernunftprinzip und damit gegen die göttliche Ordnung entwarf: „(…) wohl aber hat der Konservatismus seine moderne, bis heute weiterreichende Ausprägung erst als antirevolutionäre Gegenbewegung erhalten, vornehmlich und zuallererst gegenüber der Französischen Revolution von 1789“.257

255 Hinter dem Wort Positivismus verstecke die Staatsrechtslehre ihre „Verlegenheit“, oder sie gründe alle Gewalt auf den pouvoir constituant des Volkes (PT 55). 256 Vgl. Göhler/Klein (1993, S. 279). 257 Ebd. S. 317.

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Die gegenrevolutionäre Staatsphilosophie – in Person von de Maistre, de Bonald und bei Schmitt vor allem Donoso Cortés258 – habe vor allem das zwischen den beiden Revolutionen 1789 und 1848 gewachsene Bewusstsein ausgezeichnet, dass die Zeit nach einer Entscheidung verlange, weil sie eine Vermittlung für ausgeschlossen und das „ewige Gespräch“ der Romantiker Novalis und Adam Müller „wohl eher für ein Phantasieprodukt von grausiger Komik“ hielten (PT 59). Auch in der katholischen Philosophie des 19. Jahrhunderts rücke der Begriff der Entscheidung immer stärker in den Mittelpunkt (ebd.). Das gegenrevolutionäre Denken wollte die Revolutionserrungenschaften einfach rückgängig machen:259 „Alle formulieren ein großes Entweder-Oder, dessen Rigorosität eher nach Diktatur klingt, als nach einem ewigen Gespräch“ (PT 59).

Die Philosophie de Bonalds260, des Begründers des Traditionalismus, ist der französischen Restauration (1814–1838) zuzuordnen.261 Schmitt sieht ihn nicht als einen Traditionalisten, doch sei der Begriff der Tradition „für ihn die einzige Möglichkeit, den Inhalt zu gewinnen, den der metaphysische Glaube des Menschen akzeptieren kann, weil der Verstand des Einzelnen zu schwach und elend ist, um von sich aus die Wahrheit zu erkennen“ (PT 60).

De Bonalds Geschichtsphilosophie zeichne den Weg der Menschheit durch die Geschichte als den einer Herde von Blinden, angeführt von einem Blinden, der sich selbst an einem Stock weitertastet. Auch für ihn gelte: „Es sind die Gegensätze von Gut und Böse, Gott und Teufel, zwischen denen auf Leben und Tod ein Entweder-Oder besteht, das keine Synthese und kein ‚höheres Drittes‘ kennt“ (ebd.).

Für de Maistres Denken sei der Begriff der Souveränität zentral, „die bei ihm wesentlich Entscheidung bedeutet“ (ebd.). Den Wert des Staates sieht 258 Die genannten katholischen Staatsphilosophen (vgl. Göhler/Klein 1993, S. 279) wurden, da sie konservativ und reaktionär waren, in Deutschland als Romantiker angesehen (PT 59) – eine für Schmitt irrige Ansicht. Bereits in seiner Politischen Romantik (1919) hatte er die Theoretiker der Gegenrevolution von den deutschen Romantikern insbesondere von Novalis, Müller und Schelling strikt geschieden. 259 Im Gegensatz dazu versuchte das nachrevolutionäre Denken, die Revolution und ihre Neuerungen zu reflektieren, wenngleich auch hier die Kritik überwog (Göhler/ Klein 1993, S. 279). 260 Zu de Bonald grundsätzlich siehe Spaemann (1998) und Langendorf (2002). 261 Spaemann (1998, S. 13 f.).

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er darin, dass er entscheidet, den Wert der Kirche darin, dass sie die letzte inappellable Entscheidung ist, deren Wesen die Infallibilität ausmacht: „(…) die beiden Worte Unfehlbarkeit und Souveränität sind ‚parfaitement synonymes“ (du Pape, ch. 1) (…). Jede Souveränität handelt, als wäre sie unfehlbar, jede Regierung ist absolut (…)“ (PT 60).262

Dieser Satz, so Schmitt, hätte – wenn auch in anderer Absicht – ebenso von einem Anarchisten ausgesprochen werden können, weil in ihm die „klarste Antithese, die in der ganzen Geschichte der politischen Idee überhaupt auftritt“, enthalten sei (ebd.). Denn alle Theorien des Anarchismus – „von Babeuf bis Bakunin, Kropotkin und Otto Groß“ – beruhten auf dem Axiom, dass die Menschen gut, der Magistrat aber verdorben ist263, während de Maistre in totaler Entgegensetzung die Obrigkeit allein ihrer Existenz wegen als „gut“ proklamiert264 (PT 60/61). Begründet wird diese provozierende These mit dem Postulat, dass in der bloßen Existenz einer obrigkeitsstaatlichen Autorität eine Entscheidung liege, die wertvoll sei, „weil es gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, daß entschieden werde, als wie entschieden wird. (…) In der Praxis ist es für ihn dasselbe: keinem Irrtum unterworfen zu sein und keines Irrtums angeklagt werden zu können; das Wesentliche ist, daß keine höhere Instanz die Entscheidung überprüft“ (PT 61).

Die Entscheidungen der Obrigkeit dürfen nicht weiter hinterfragt werden, sie haben inappellabel zu sein. Schmitt sieht in der „proletarischen Revolution von 1848“ einen tieferen und konsequenteren revolutionären Radikalismus, als in der „Revolution des dritten Standes von 1789“ (PT 61). Parallel radikalisiere sich die gegenrevolutionäre „Intensität der Entscheidung“ von de Maistres „Legitimität“ zu Donoso Cortés „Diktatur“, belegbar mit der steigenden Bedeutung der Ansicht über die gute oder böse Natur des Menschen, die jede politische Theorie voraussetzt (ebd.).265 Pädagogische oder ökonomische Ausweicherklärungen machen für Schmitt die Beantwortung dieser Frage nicht obsolet. Gilt der Mensch der rationalistischen Aufklärung als potenziell gut und „von Natur dumm und roh, aber erziehbar“, ist er

262 263 264 265

Siehe auch Gross (2005, S. 137-181; hier S. 171). (…): „le peuple est bon et le magistrat corruptible” (PT 60). (…): „tout gouvernement est bon lorsqu‘il est établi” (PT 61). Siehe hier das Kapitel Der Katholizismus des Carl Schmitt sowie das Kapitel Der Begriff des Politischen (Kernthese 8).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

„für die bewußt atheistischen Anarchisten der Mensch entschieden gut und alles Böse die Folge theologischen Denkens und seiner Derivate, zu denen alle Vorstellungen von Autorität, Staat und Obrigkeit gehören“ (ebd.)

So steht dem atheistischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon266 der Gegenrevolutionär Donoso Cortés gegenüber, der seine Ansichten auf das Dogma der katholischen Erbsündenlehre267 gründete, die er zudem – so konzediert Schmitt zunächst – in dogmatisch zu kritisierender Weise polemisch radikalisiert habe, um sogleich mildernd fortzufahren, dass dies Kritik übersehe „daß es sich für Cortés um eine religiöse und politische Entscheidung von ungeheurer Aktualität handelte, nicht um die Ausarbeitung eines Dogmas“ (PT 62).268

Diese nun als strategisch zu fassende Aussage Donosos,269 so verstehen wir Schmitt, unterscheide sich von der Martin Luthers nur noch, weil er eine andere Haltung zur weltlichen Herrschaft einnehme als der Reformator, „der sich jeder Obrigkeit beugt; er (Cortés, w.a.m.) behält auch hier die selbstbewußte Größe eines geistigen Nachfahren von Großinquisitoren“ (ebd.).270

Die Auffassung Donosos, so Schmitt, „ist schrecklicher als alles, was jemals eine absolutistische Staatsphilosophie zur Begründung eines strengen Regiments vorgebracht hat“ (ebd.), kenne doch seine Verachtung des Menschen keine Grenzen mehr (PT 63).271 In Donosos „Geschichtsphilosophie ist der Sieg des Bösen selbstverständlich und natürlich und nur ein Wunder Gottes wendet ihn ab“ (ebd.).

266 „Die höchste Vollkommenheit der Gesellschaft findet sich in der Vereinigung von Ordnung und Anarchie“ (Proudhon 1840 in: Was ist Eigentum). 267 Ausführlicher hierzu s. Der Großinquisitor Dostojewskijs und Der Katholizismus des Carl Schmitt und das Kapitel Der Begriff des Politischen (Kernthese 8). 268 Kodalle schließt daraus: „Theologische Inhalte also sind total fungibel, ihre Formulierung orientiert sich am politischen Bedürfnis, d.h. an der konkreten FreundFeind-Auseinandersetzung. Sie ist die anthropologische Konstante“ (Kodalle 1973, S. 47; Herv. im Original). 269 Vgl. Rissing (2009). 270 Siehe hier das Kapitel Der Katholizismus des Carl Schmitt. 271 Schmitt zitiert Donoso: „Wäre Gott nicht Mensch geworden – das Reptil, das mein Fuß zertritt, wäre weniger verächtlich als ein Mensch“ (PT 63).

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Das typische Bild seines objektivierten Eindrucks der menschlichen Geschichte ist „die blutige Entscheidungsschlacht, die heute zwischen dem Katholizismus und dem atheistischen Sozialismus entbrannt ist“ (ebd.). Donosos Hauptvorwurf gegen den Liberalismus brandmarkt die Bourgeoisie als eine „diskutierende Klasse“, die für Schmitt deshalb auch sofort „gerichtet“ ist (ebd.). Das Lavieren und Balancieren des Liberalismus unterliegt der Kritik Donosos, wie 60 Jahre später der Schmitts.272 Wir haben die Vorwürfe gegen den Liberalismus wie gegen die Inkonsequenzen des liberalen Konstitutionalismus bereits erörtert und zitieren hier Donoso, der für Schmitt von de Bonald die „unermeßlich fruchtbare Parallele von Metaphysik und Staatstheorie“ übernommen habe (PT 64), in den Worten Schmitts, dessen Bourgeoisiekritik, um sie mit derjenigen Schmitts – teils auf Hegel rückbezogen – im Begriff des Politischen vergleichen zu können:273 „Die liberale Bourgeoisie will also einen Gott, aber er soll nicht aktiv werden können; sie will einen Monarchen, aber er soll ohnmächtig sein; sie verlangen Freiheit und Gleichheit und trotzdem Beschränkung des Wahlrechts auf die besitzenden Klassen, als ob Bildung und Besitz ein Recht gäben, arme und ungebildete Menschen zu unterdrücken; sie schafft die Aristokratie des Blutes und der Familie ab und läßt doch die unverschämte Herrschaft der Geldaristokratie zu, die dümmste und ordinärste Form einer Aristokratie; sie will weder Souveränität des Königs noch die des Volkes. Was will sie also eigentlich“ (PT 64)?

Schmitt betont mit Recht, dass die Widersprüche dieses Liberalismus nicht nur Reaktionären oder Revolutionären wie Marx und Engels aufgefallen seien (ebd.). Selbst F. J. Stahl hatte für diese Ungereimtheiten eine einfache aber prägnante Erklärung: der Hass gegen die Monarchie und die Aristokratie treibe den liberalen Bourgeois nach links, die Angst um seinen Besitz wiederum „nach rechts zu einem starken Königtum, dessen Militär ihn schützen kann; so schwankt er zwischen seinen Feinden und möchte beide betrügen“ (PT 65).

Der Liberalismus der „Rede- und Preßfreiheit“ sowie der ökonomischen Handels- und Gewerbefreiheit sind für Schmitt „nur Derivate eines metaphysischen Kerns“, für Donoso nur ein kurzes Interim,

272 Schindler/Scholz (1983, S. 163). . 273 Siehe hier das Kapitel Der Begriff des Politischen (Kernthese 9).

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„in dem es möglich ist, auf die Frage: Christus oder Barrabas, mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission zu antworten“ (ebd.).

Die Überbetonung der Preßfreiheit sei nur eine weitere Methode der Liberalen, sich der Entscheidung zu entziehen und „auch die metaphysische Wahrheit“ mittels Diskussion aufzulösen (PT 67): „Sein Wesen (des Liberalismus, w.a.m.) ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutig Entscheidungsschlacht, könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch eine ewige Diskussion ewig suspendieren“ (ebd.).

Dieser ewig diskutierenden Entschlussfeindlichkeit setzt Donoso die Diktatur entgegen, auch weil der Apokalyptiker und Dezisionist – extrem denkend − stets das Jüngste Gericht erwartet: „Darum verachtet er die Liberalen, während er den atheistisch-anarchistischen Sozialismus als seinen Todfeind respektiert und ihm eine diabolische Größe gibt. In Proudhon glaubt er einen Dämon zu sehen“ (ebd.).274

Die Position einer Auswechslung Gottes für den Satan (s. FN) aber war, so Schmitt, nicht zu halten und Proudhon sei ohnehin nur ein „moralisierender Kleinbürger“ gewesen (ebd.). Erst Michail Alexandrowitsch Bakunin, der wohl nachdrücklichste und einflussreichste Theoretiker und Ideologe des Anarchismus erreicht in der Wahrnehmung Donosos wie Schmitts den personalen Status eines wahren Feindes. Zwar sah auch er in der Verbreitung des Satanismus „die einzig wirkliche Revolution“ (PT 68), seine intellektuelle Bedeutung aber „beruht doch auf seiner Vorstellung vom Leben, das kraft seiner natürlichen Richtigkeit die richtigen Formen von selbst aus sich selbst schafft“ (ebd.).

274 Schmitt betont, dass der Satanismus zur Zeit Donosos als ein „starkes, intellektuelles Prinzip“ galt. Literarisch wurde es u.a. von Baudelaire – Les fleurs du mal/Die Blumen des Bösen – als die Thronbesteigung Satans, des Ziehvaters jener, die Gottvater in schwarzem Zorne aus dem irdischen Garten Eden geworfen hat (Les Litanies de Satan/ Die Satans-Litaneien), und die des Brudermörders Kain, während Abel den Bourgeois verkörpert – umgesetzt (vgl. PT 67). Schmitt zitiert nur das französische Original (ebd.): „Race de Cain, au ciel monte, Et sur la terre jette Dieu!“ (Schwinge zum Himmel dich auf, Stamm Kains, Zur Erde schmettere Gott!) – Wir ergänzen zum besseren Verständnis die kontrastierende Charakterisierung Abels: „Race d’Abel, chauff ton ventre, À ton foyer patriarcal.“ (Stamm Abels, wärm deinen Bauch, In deinem Patrizierhaus. (Aus Baudelaire’s Fleurs du mal: Abel et Cain/Abel und Kain Übersetzung: w.a.m.). Der Vers „Race d’Abel (…)“ steht im Original vor „Race de Cain (…)“.

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III. Politische Theologie (1922).

Negativ sei für ihn nur die theologische Lehre von Gott und der Sünde, die den Menschen als Bösewicht brandmarkt und eine Theologie, die von außen das natürliche und wahre Leben „künstlich oktroyiert“ (ebd.). Wenn hingegen Anarchisten das Patriarchat durch das urzuständliche Matriarchat ersetzen wollen, zeige sich dadurch ein starkes Bewusstsein für tiefe Zusammenhänge, wie die Auflösung der Familie durch den Verlust der väterlichen Autorität belegt. Dessen sei sich Donoso bewusst gewesen, sehend, „daß mit dem Theologischen das Moralische, mit dem Moralischen die politische Idee verschwindet und jede moralische und politische Entscheidung paralysiert wird in einem paradiesischen Diesseits unmittelbaren, natürlichen Lebens und problemloser „Leibhaftigkeit“ (ebd.).

„Heute ist nichts moderner als der Kampf gegen das Politische“ (ebd.), beklagt Schmitt, wolle doch eine große liberalistische, technizistische, marxistische, sozialistische und anarcho-syndikalistische große Koalition „die unsachliche Herrschaft der Politik über die Sachlichkeit des wirtschaftlichen Lebens“ beseitigen (vgl. ebd.). So scheine der Staat wirklich ein „Großer Betrieb“ geworden zu sein, wie dies Max Weber sehe (PT 69). Die Konsequenz aus all den vorstehend genannten Anwürfen gegen das Politische ist, dass dessen Kern: „die anspruchsvolle moralische Entscheidung“, umgangen wird. Die Konsequenz der Gegenrevolutionäre sei die starke Zuspitzung des Moments der Dezision, die „schließlich den Gedanken der Legitimität, von dem sie ausgegangen sind, aufhebt (ebd.). Für Donoso hieß dies, seinen Dezisionismus in dem Moment zu vollenden und die politische Diktatur bzw. eine ex nihilo getroffene Entscheidung zu verlangen, als er sah, dass auch die konstitutionelle Monarchie an ihr Ende gelangt war.275 „Das ist aber wesentlich Diktatur, nicht Legitimität“ (ebd.). So teilen Revolution und Gegenrevolution die Erkenntnis, dass jede Regierung notwendig absolut ist, nur dass ein Anarchist daraus auf der Basis seines „Der-Mensch-ist-gut-die-Regierung-ist-korrupt-Axioms“ die Folgerung zieht, „daß eben jede Regierung bekämpft werden müsse, weil jede Regierung Diktatur ist“ (ebd.). So ergebe sich für Bakunin

275 „Jetzt gab es für ihn nur noch einen Weg zur Rettung: die Diktatur. Das war ein Begriff, dessen sich der romanische Geist des Spaniers schnell bemächtigen konnte und der seinem Dezisionismus entsprach, dessen eigentliche Energie aber in der Sphäre eines revolutionären Demokratismus liegt und der in ein System konservativer Ideen und Gefühle nur als fremdes Element von außen eintritt"(PB 85, Donoso Cortez in Berlin.).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

„die seltsame Paradoxie, daß er theoretisch der Theologe des Anti-Theologischen und in der Praxis der Diktator einer Anti-Diktatur werden mußte“ (PT 70).

Carl Schmitt stand mit seiner Meinung keineswegs alleine, wenn er schlussfolgerte: „Eine Klasse, die alle politische Aktivität ins Reden verlagert, in Presse und Parlament, ist einer Zeit sozialer Kämpfe nicht gewachsen“ (PT 64).

Aus dieser Ansicht entwickelte sich die Suche nach einer antiliberalen Theorie, nach einem Gegenkonzept der Begründung des Politischen. Fündig wurde man in Konzeptionen autoritativen Inhalts, weil die Formalität des parlamentarischen Entscheidungsverfahrens „als schwächliche Kapitulation des politischen Willens vor der Rechenhaftigkeit von Ökonomie und Technik galt“.276 Von Schmitt wurde die „Politische Theologie“ Donosos, die sich gegen die bürgerliche Revolution des 19. Jahrhunderts richtete, mittels staatsrechtlicher Termini aktualisiert und so zu einer bürgerlichen Abwehrtheorie gegen eine proletarische Revolution formiert.277 6. Katholizismus als politisches Credo. 278 Seit seinem Wechsel nach Bonn exponiert sich Schmitt als Katholik in einer Zeit, in der der Katholizismus um eine Neubestimmung seines Verhältnisses zur Moderne überhaupt und um die Integration der literarischen Moderne im Besonderen ringt. Der Einfluss Søren Kierkegaards erfasste auch Schmitt und Teile seines Bekanntenkreises aus Münchner Zeiten, wie Theodor Haecker279, Franz Blei280 und Konrad Weiß281. Ein Ziel war die

276 Schindler/Scholz (1983, S. 164). 277 Ebd. 278 Mehring formuliert für die nähere Zukunft Schmitts treffend: Katholizismus als politisches Credo (Mehring 2009: 142). 279 Haecker (1879-1954) war Schriftsteller, Kulturkritiker und Übersetzer, der Werke und Tagebücher von Søren Kierkegaard und des engl. Kardinals John Henry Newman übertrug. 280 Blei (1871-1942) war ein österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Literaturkritiker und Herausgeber der Zeitschrift Summa. 281 Weiß (1880-1940) war ein deutscher Dichter und Teil der Münchner Kulturszene, der zum Umfeld des politischen Katholizismus gerechnet wurde. In seinem Traktat Der christliche Epimetheus (1933) berief er sich auch auf Carl Schmitt.

298

III. Politische Theologie (1922).

Überwindung eines bloßen Ästhetizismus und eine erneuerte religiöse Bindung, die aber vornehmlich außerhalb der klerikalen Organisationen gesucht wurde.282 Starke Einflüsse aus der französischen Bewegung des Renouveau catholique und der Action française beeinflussten den diskursierenden deutschen Katholizismus und Carl Schmitt: „Im breiten Strom katholischer Publizistik wurde damals Verschiedenes vertreten: Laienreligiosität und Mystik am Rande der Kirche ebenso, wie Ästhetizismus, autoritärer Etatismus und Anarchismus“.283

Schmitt verkehrt in Kreisen des Jungkatholizismus284, seine Schriften erscheinen vor allem in katholischen Zeitschriften und Zeitungen wie dem Hochland, der Germania oder der Kölnischen Volkszeitung. Politisch steht er dem Zentrum nahe und hält Vorträge auf Parteiversammlungen, ohne sich vom politischen Katholizismus vereinnahmen zu lassen. Schon am 11.06.1922 erkennt er: „Ich gehöre wirklich nicht in dieses Zentrumsmilieu“,285 – was nichts daran ändert, dass er inzwischen als ein katholischer Staatsrechtslehrer wahrgenommen wird. Nunmehr in Bonn allein lebend, muss Schmitt sein Leben neu gestalten. Über die juristischen Kreise hinaus, sucht er neue Bekanntschaften und findet sie vor allem bei Theologen.286 Eine neue Bekanntschaft mit einer jungen Münchner Ärztin ist Anfang 1923 schon wieder beendet. Ebenfalls Anfang 1923 lernt er die 19 Jahre junge Philosophiestudentin Dušanka (Duška) Todorović kennen, die serbokroatische Unterlagen seiner Scheidungspapiere übersetzt. Sie treffen sich bereits am nächsten Abend wieder. Als er aber Kenntnis davon bekommt, Kathleen Murray gehe es in ihrer australischen Heimat schlecht, verfasst er vom Gewissen geplagt Liebesbriefe und denkt sogar wieder an Verehelichung. Hart trifft ihn, dass in München seine Noch-Ehefrau Cari seine Möbel verkauft und sich ins

282 Mehring (2009, S. 143). 283 Ebd. 284 Aus Schmitts Beschäftigung mit Fragen der Theologie und des Kirchenrechts ergaben sich vielfältige Kontakte. Wichtig wurden insbesondere seine Freundschaft – bis 1933 – mit dem evangelischen Theologen Erik Peterson, der später – angeblich unter dem Einfluss Schmitts (Noack 1993, S. 40) – zum Katholizismus konvertierte (siehe dazu nur Mehring 2009, S. 182 ff.) und dem Fundamentaltheologen Karl Eschweiler (s. Mehring 2009, S. 180 f.; 254 f.). 285 Mehring (2009, S. 145). 286 Zu Einzelheiten s. ebd. S. 152 f..

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

Ausland abgesetzt hat. Anfang April 1923 erscheint der Katholizismus-Essay, während Schmitt schon an seiner Parlamentarismusschrift arbeitet.287 IV. Das Krisenjahr 1923. „Kein Volk der Welt hat etwas erlebt, was dem deutschen ‚1923‘-Erlebnis entspricht. Den Weltkrieg haben alle erlebt, die meisten auch Revolution, soziale Krisen, Streiks, Vermögensumschichtungen, Geldentwertungen. Aber keins die phantastische, groteske Übersteigerung von alledem auf einmal, die 1923 in Deutschland stattfand.“ Sebastian Haffner 288

Die Erinnerungen Sebastian Haffners unterstreichen, warum man von einem Krisenjahr geradezu sprechen muss. Aufstände, Putschversuche, wachsende politische Gewalt von Extremisten, Reparationsforderungen und Inflation – die junge Republik verliert dramatisch an Legitimität. Wer sehen wollte, konnte sehen, dass trotz des erreichten Zahlungsaufschubs die vorgesehenen Reparationsleistungen von Deutschland nicht mehr zu leisten sein würden. Es muss nicht näher ausgeführt werden, wie stark Schmitt von diesem Katastrophenszenario beeinflusst war. 1. Szenarium einer Staatskrise. Die Ermordung des Erfüllungspolitikers Rathenau war ein tiefer Schock mit weltweiten Auswirkungen für die Republik.289 Es setzte umgehend ein rapider Verfall der Währung ein. Ein Dollar kostete im August 1922 tausend Papiermark, im Oktober dreitausend und im Dezember siebentausend. Die Regierung ersuchte deshalb ein zweites Mal um Stundung der 1922 fälligen Beträge und um Aussetzung der Barzahlungen 1923 und 1924, erreichte aber nur einen vorläufigen Zahlungsaufschub, die laufenden Zahlungen mussten weiter geleistet werden. Da ein erhoffter Auslandskredit nicht zustande kam, war die notwendige Bereitstellung von

287 Vgl. Mehring (2009, S. 153 ff.). 288 Haffner (2001, S. 53). 289 Nachstehend s. Longerich (1995, S. 127-130).

300

IV. Das Krisenjahr 1923.

320 Mio. Goldmark für den Zeitraum vom 15. Juli bis 15. Dezember illusorisch.290 Mit der Reparationsnote vom 14. November 1922 ersuchte man um ein Moratorium für drei bis vier Jahre und sagte rigide Sparmaßnahmen sowie eine Erhöhung der Produktivität zu, um Haushalt und Handelsbilanz sanieren zu können. Dazu sollte auch das Arbeitszeitrecht neu geregelt und der Achtstundentag festgeschrieben werden – eine hochpolitische Zeitbombe, handelte es sich um „eine der wichtigsten sozialen Errungenschaften des November 1918“291. Sicherheitspolitisch wurden die alte und die neue Verordnung zum Schutz der Republik in ein entsprechendes Gesetzt überführt und mit gleichem Ziel ein Staatsgerichtshof eingerichtet. Das antipreußische wie antisozialistische Bayern aber schlug erneut einen Sonderweg ein, der letztlich in einem zweiten – nur mit süddeutschen Richtern besetzten – Senat nur für süddeutsche Angelegenheiten bei diesem Staatsgerichtshof führte. In Bayern, aber eigentlich in München, hatte sich eine breite Front rechtsextremer Agitatoren gegen das Republikschutzgesetz formiert. Ihr Hauptvorwurf ließ sich unter dem Titel eines Ausverkaufs bayerischer Interessen bündeln und führte zum Rücktritt des Ministerpräsidenten v. Lerchenfeld. Ihm folgte der weiter rechts stehende Eugen Ritter v. Knilling nach. Höhepunkt der rechten Aktionen war eine machtvolle Kundgebung im August 1922, an der ein großes Kontingent der NSDAP teilnahm. Der Konflikt mit dem Reich schuf einen guten Nährboden für einen Agitator wie Adolf Hitler, dessen Reputation nun auch in etablierten rechten Kreisen zu steigen begann.292 Bolschewismus, Internationalismus, die Versailler Siegermächte und „die Juden“ waren die Hauptdrohungen in ihrer Agitation. Damit unterschieden sie sich wenig von den diffusen völkischantisemitischen Prägungen anderer rechtsextremer Gruppierung. Strukturell aber waren sie der nationalsozialistischen Partei schon jetzt unterlegen. Longerich fasst dies prägnant in drei Strukturelementen. Hitler, der unumschränkte „Führer“293 der NSADP, war, erstens, zugleich Hauptinhalt der Parteipropaganda, präsentiert als Lichtgestalt und Werbeikone in dunkelgrauer Gegenwart. Die Propaganda, zugeschnitten auf Hitler, orientierte sich, zweitens, an den Methoden der Geschäftsreklame: Auffallen

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Kraus (2014, S. 53). Winkler (2000, S. 433). Zum Aufstieg der NSDAP siehe hier nur Evans (2005; insb. S. 239-326). Der Ruf nach einem Führer war seit dem Ersten Weltkrieg unter nahezu allen rechten Gruppierungen verbreitet.

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

durch provokantes Auftreten, die Signalfarbe „Rot“ als Parteifarbe, ständige Wiederholung der Kernpunkte, inhaltlich reduziert auf Propagandaparolen, direkter Appell an die Massen und antielitäres Auftreten. Letzteres wurde, drittens, propagandistisch wirksam umgesetzt durch die nationalsozialistische Sturmabteilung, die SA294, die als paramilitärischer Verband von der Reichswehr unterstützt wurde. Parteiintern wurde sie zum Machtelement Hitlers, auf den sie eingeschworen war, nach außen hatte sie Stärke, Geschlossenheit und Gewaltbereitschaft zu demonstrieren. Sie schien „durch ihren zielgerichteten Einsatz im Auftrag einer politischen Bewegung einen entschlossenen politischen Willen zu verkörpern“.295

Das Parteienspektrum änderte sich. Im Juli 1922 bildete sich die „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Reichstagsfraktionen“, im September schloss man sich zur „Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ zusammen. Den Weg dazu hatte schon Ende 1920 die Abspaltung des linken Flügels der USPD bereitet. Im Gegenzug und als Gegengewicht verbanden sich Zentrum und DDP mit der DVP und der BVP zur „Arbeitsgemeinschaft der verfassungstreuen Mitte“. Hier hatte sich die DVP der Regierung im Oktober 1922 angenähert; sie stimmte dem Republikschutzgesetz und der verfassungsändernden Verlängerung der Amtszeit des Reichpräsidenten bis 1925 zu. Sie wäre im Dezember 1922 ausgelaufen. 2. Die Regierung Cuno: Unvorbereitet und ratlos. Die SPD lehnte in dieser Situation eine Erweiterung der Weimarer Koalition um die DVP ab, womit auch das Regierungsbündnis am Ende war. Der Reichspräsident ernannte in dieser Lage den parteilosen Generaldirektor Wilhelm Cuno zum Reichskanzler und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung. Die Minderheitsregierung aus überwiegend rechts stehenden „Fachleuten“ und Politikern des bürgerlichen Blocks (Zentrum, BVP,

294 Die SA entstand im Oktober 1921 aus der „Turn- und Sportabteilung“ der NSDAP, der sich im August 1921 die ehemaligen Mitglieder der zwangsweise aufgelösten Brigade „Erhard“ anschlossen. Vermittelt hatte dies Ernst Röhm, der spätere Chef der SA. Röhm verfügte über beste Kontakte zur Reichswehrführung, zu den höheren Kreisen der bayerischen Politik und zu den anderen paramilitärischen Wehrverbänden (s. Evans 2005, S. 270 f.). 295 Longerich (1995, S. 129).

302

IV. Das Krisenjahr 1923.

DDP und DVP) war, da es keine Koalitionsvereinbarung gab, auf die Tolerierung durch die Sozialdemokraten oder Deutschnationale angewiesen.296 Die Regierung Cuno hatte sich als Erstes dem immer akuter werdenden Reparationsstreit zu stellen. Das deutsche Ersuchen um ein Moratorium für drei bis vier Jahre und eine Neufestsetzung der Reparationsleistungen vom 14. November 1922 war von Frankreich abschlägig beschieden worden. Zudem forderte Frankreich „produktive Pfänder“, weil man den deutschen Willen zur Erfüllung der Reparationsleistungen grundsätzlich anzweifelte.297 Dies ist durchaus vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Reich die „Finanzpolitik einer rücksichtslosen Staatsverschuldung“ nach 1918 ungebremst fortführte, um den wirtschaftlichen und sozialen Folgelasten des Krieges überhaupt begegnen zu können. Das sich steigernde Missverhältnis von Einnahmen zu Ausgaben – „die nur zum kleineren Teil von Versailler Lasten verursacht wurde“ – hatte dazu geführt, dass spätestens seit 1921 die Notwendigkeit einer drastischen Währungsreform feststand, weil ein konventioneller Budgetausgleich nicht mehr durchführbar war.298 Diese inflationstreibende Finanzmalaise ließe sich, wie man glaubte, strategisch gegen die Höhe der Reparationsleistungen instrumentalisieren – erfolglos. Die Alliierten forderten eine Stilllegung der Notenpresse und einen Etatausgleich nötigenfalls durch drastische Steuererhöhungen.299 Am 26. Dezember 1922 wurde ein schuldhafter Rückstand bei den Sachlieferungen festgestellt, am 9. Januar bei den Kohlelieferungen. Dieser „vorsätzliche Bruch der Reparationsverpflichtungen“300 lieferte Frankreich – gegen die Stimme Großbritanniens – den Grund für eine Handhabung der „produktiven Pfänder“: Am 11 Januar marschierten französische und belgische Truppen im Ruhrgebiet, Deutschlands wichtigste Industrieregion, ein.301 Es gibt nicht den Grund für die französische Rigidität, aber das Geschehen lässt sich sicher mit dem französischen Primärziel titulieren: für Frankreichs Sicherheitsinteressen muss Deutschland entscheidend

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Longerich (1995, S. 131). Ebd. Siehe Kolb/Schumann (2013, S. 45). Ebd. Ebd. S. 51. Longerich (1995, S. 131). „Poincarés Maxime lautete: ‚Keine Moratorien ohne Pfänder‘“ (Kolb/Schumacher 2013, S. 51).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

geschwächt werden und schwach bleiben.302 Ein logischer Schritt wäre sicher auch in der Autonomisierung der Rheinregion nach saarländischem Modell gewesen. Oder wollte Frankreich Deutschland schlicht in Chaos und Bürgerkrieg versinken lassen, um sich dann als die kontinentale Ordnungsmacht darstellen zu können?303 Winkler fazitiert: „Hinter dem Sicherheitsinteresse aber stand mehr: die Untermauerung des französischen Anspruchs auf die Vormachtstellung in Kontinentaleuropa.“304

Das Reich reagierte „mit einem nahezu einmütigen Aufschrei nationaler Empörung“305, die Reaktionsmöglichkeiten aber waren begrenzt. Erneut dachte man eine Überprüfung der deutschen Leistungsfähigkeit durch eine unabhängige Expertenkommission an, verwarf diesen Plan aber angesichts eines sich steigernden und wütender werdenden Nationalismus306 als unangemessen weich. Die Regierung setzte im Inneren auf „Burgfrieden“ und „Einheitsfront“. Sie stellte mit großer Mehrheit im Reichstag und mit Unterstützung der Gewerkschaften die Reparationszahlungen ein, die man allerdings ohnehin nicht hätte leisten können, rief die Bevölkerung zu schärfstem passivem Widerstand gegen die französisch-belgischen Gewaltmaßnahmen auf, wies die Beamten dazu an, nicht für die Besatzer tätig zu werden und den Zechen verbat man Kohlelieferungen nach Frankreich; die Besatzer unterbanden dafür die Kohlelieferungen ins Reichsgebiet. Eine extreme Haltung präsentierten die Nationalsozialisten. Hitler bezeichnete seine Bewegung als die „Rachearmee des Vaterlandes“ und gab die Parole aus: „Nieder mit den Novemberverbrechern“.307 Bis März 1923 konnten die Besatzer keine Reparationen erzwingen, jetzt aber antworteten sie mit der Schließung von Zechen und Kokereien, übernahmen den Eisenbahnverkehr – die Löhne und Gehälter aber hatte das Reich zu bezahlen. Ebenso mussten der Eisen- und Stahlindustrie hohe Darlehen für die Lohnfortzahlung gewährt werden. Dadurch wurde das Ruhrgebiet finanziell zu einem Fass ohne Boden, die Hyperinflation ging

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Siehe ebd. S. 132. Siehe Kraus (2014, S. 56). Winkler (2000, S. 435). Kolb/Schumacher (2013, S. 51). Siehe Herbert (2014, S. 207). Winkler (2000, S. 435; nachst. vgl. ebd.).

IV. Das Krisenjahr 1923.

ins Crescendo über und der Außenwert der Mark implodierte förmlich.308 Die vage Hoffnung, in diesem Abwehrkampf die Unterstützung Londons zu gewinnen, erfüllten sich trotz aller Kritik an Frankreich nicht. Man riet diskret zur Aufgabe des Widerstands und zu neuen Verhandlungen.309 Das offensichtliche Scheitern des Konzeptes eines passiven Widerstandes verstärkte auf der radikalen Rechten den Drang zum aktiven Widerstand in Form der Sabotage. Insbesondere Sprengstoffattentate auf Eisenbahnanlagen – von der deutschen Regierung anfangs toleriert – wurden verübt. Bei einem dieser Anschläge konnte der Unteranführer und Nationalsozialist Leo Schlageter verhaftet werden. Er wurde von einem französischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt und am 26. Mai erschossen. Der Ruhrwiderstand hatte seinen Märtyrer.310 Der Deutschlandexperte der Komintern, Karl Radek, unternahm den Versuch, mithilfe der Person des „Faschisten“311 Schlageter die nationalrevolutionäre in eine sozialrevolutionäre Bewegung zu wandeln. Um dies zu erreichen, hätten aber die nationalistischen Massen ihren Führern entfremdet werden müssen. In Moskau und bei der Komintern sah man die Chance, bei einem Befreiungskrieg Deutschlands gegen Frankreich die gesamte Nachkriegsordnung umzuwälzen und die Durchbruchsschlacht der Weltrevolution zu gewinnen, sollten sich die faschistisch verführten nationalen Massen zu einer Aktionseinheit mit und unter den Kommunisten bewegen lassen. Diese Bemühungen waren zwar erfolglos, unter den Arbeitern aber hatte die KPD größeren Erfolg bei Betriebsratswahlen, Mitgliederzuwachs und Wahlen.312 In Sachsen trug die Einheitsfronttaktik der KPD erste Früchte; sie stützte die rein sozialdemokratische Regierung, was sie freilich nur als Zwischenschritt auf dem Weg zu einer revolutionären Situation sah.313

308 Die Reichsbank konnte durch Stützungskäufe – finanziert durch den Verkauf von Devisen und Goldreserven – von Februar bis April den Wert der Mark zum Dollar bei etwa 21.000 Mark stabilisieren. Ende Mai fiel der Wert auf 48.000, im Juni auf 110.000 Mark (Winkler 2000, S. 435 f.). 309 Siehe Kraus (2014, S. 57). 310 Siehe Longerich (1995, S. 133); siehe Winkler (2000, S. 436). 311 Seit Mussolinis Marsch auf Rom und insbesondere seit der Machtübernahme war es bei der kommunistischen wie der sozialdemokratischen Linken üblich geworden, die extreme Rechte der kapitalistischen Länder als „Faschisten“ zu bezeichnen (Winkler 2000, S. 436). 312 Vgl. Winkler (2000, S 436 f.; zu Einzelheiten ebd.). 313 Siehe Longerich (1995, S. 134 f.).

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Zweites Kapitel: Politische Theologie (1922).

Während des Ruhrkampfes gab es Versuche von verschiedensten Seiten, die Reichsregierung weiter zu schwächen. Zu nennen sind: die Unterstützung separatistischer Bewegungen durch Frankreich; das Ausbrechen – insbesondere Hitlers – aus der „Einheitsfront“; die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände“ in Bayern (radikal-völkische Kräfte mit der nationalsozialistischen SA), die in die versteckten Mobilmachungsvorbereitungen der Reichswehr einbezogen war, wodurch die SA den Charakter eines Wehrverbandes erhielt.314 Im Sommer 1923 begann das Kollabieren der Wirtschaft, denn die grassierende Hyperinflation hatte die Inflationskonjunktur zum Versiegen gebracht, die immer schlimmere Geldentwertung war kontraproduktiv geworden. Der Einzelhandel begann Waren zu horten, Hungerdemonstrationen wurden organisiert, Hamsterkäufe und Plünderungen mehrten sich. Die Regierung bekämpfte in ihrer Ratlosigkeit Zweitsymptome wie Alkoholmissbrauch, Wucher und das Zurschaustellen von Luxus – der augenscheinliche Beweis einer immer stärker werdenden Ungleichheit, der Gesellschaftsspaltung und des Sinnverlustes.315 Die einsetzende Verzweiflungsstimmung schaffte sich mit den sog. „Cuno“-Streiks Luft. Die Regierung trat am 13. August 1923 zurück. 3. Scherben einer Ehe. Schmitt hat weiterhin Klärungsbedarf mit Mietanteil und Lebensunterhalt von Cari, die er jetzt nur noch „die Dame“ nennt. Ein offizielles Scheidungsverfahren ist freilich immer noch nicht eingeleitet. Noch immer fehlen tragfähige Beweise. Sein Privatszenario präferiert zu dieser Zeit die Scheidung von Cari und die Hochzeit mit Kathleen. Es ist schon Herbst, als amtlich wird, dass Schmitt einer Hochstaplerin aufgesessen ist. Die adelige Herkunft und das Geburtsdatum sind Erfindungen. Wir wissen, dass alarmierende Verdachtsgründe schon seit Frühjahr 1920 vorlagen. Nachvollziehbar ist aber auch die Deutung, dass Schmitt erst 1922 den wissenschaftlichen Status hatte, einen Skandal zu überstehen. Für seine Heiratspläne mit der katholischen Irin Kathleen Murray wäre eine Nichtigkeitserklärung der Ehe über die Scheidung hinaus von großer

314 Ebd. 315 Vorst. vgl. ebd. S. 136.

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3. Scherben einer Ehe.

Bedeutung gewesen, weil dies ihm gestattet hätte, erneut kirchlich zu heiraten. Dreh- und Angelpunkt des erforderlichen kirchenrechtlichen Verfahrens wird dabei die Frage, ob das Eheversprechen nicht gegeben worden wäre, wenn Cari von nur einfacher Herkunft gewesen wäre, Schmitt also nur eine Adelige hätte heiraten wollen. Der Prozess, inzwischen nach Bonn verwiesen, zieht sich.316 In Bonn sucht Schmitt von Anfang an Kontakte über die eigene Fakultät hinaus.317 Der Musikwissenschaftler Arnold Schmitz wird ihm ein Freund fürs Leben. Im Lehrbetrieb stellen sich erste Promovenden bei ihm vor. Er pflegt verwandtschaftliche Kontakte in der Nähe Bonns, trifft auch alte Bekannte, beispielsweise aus Münchner Tagen Georg von Schnitzler, und er besucht Eislers in Hamburg.

316 Siehe vorst. Mehring (2009, S. 151 f.). 317 Zu Einzelheiten s. ebd. S. 152.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form318 (1923).

I. Einführung. 1923 erscheint Carl Schmitts 1922 verfasstes vielbeachtetes Essay Römischer Katholizismus und politische Form, das von dem Kirchenhistoriker und Schmitt-Freund Hans Barion in den Rang einer „Bekenntnisschrift“ erhoben wird, und jedenfalls in katholischen Kreisen – unterschiedlich gedeutet „als eine Zustandsbeschreibung, ein Idealbild oder als eine Handlungsvorschrift für katholische Politiker“ – weite Beachtung findet.319 Ohne Frage hat Schmitt mit dieser kleinen Schrift die katholische Flagge gehisst und eine eminent politische Stellungnahme abgegeben, „die der katholischen Kirche als Institution und formbildende Kraft in einem Augenblick gerecht zu werden sucht, in dem die politische Form als Wert verschwindet“320.

In dieser Schrift über die „politische Idee“ (RK 14) des Katholizismus, die er, so Mehring, „mit der Brille der Gegenrevolutionäre schreibt“,321l legt Schmitt sein Katholisch-Sein offen.322 Dabei lehnt er sich an de Maistres Preisung der „obrigkeitlichen Autorität“ der Kirche an (ebd.).323 Bereits 1917 hatte Schmitt den Aufsatz Die Sichtbarkeit der Kirche (SdK) publiziert, in dem Hernández-Arias bereits den Kern des Katholizismus-Essays

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Sigle = RK. Vgl. Noack (1993, S. 72). Ebd. S. 73. Mehring (2009, S. 14) Seinen privaten Glauben, so Mehring, vertraut er seinem Liebestagebuch an. Persönlicher Hintergrund ist seine Beziehung zu Kathleen Murray (ebd.). 322 Wir vertreten den Standpunkt, dass es sich bei der Katholizismus-Schrift primär um eine juridische und idealtypische Beschreibung der hierarchisch organisierten katholischen Kirche handelt, die auf seinem katholischen Selbstverständnis basiert, und vermeiden deshalb bewusst die Klassifizierung als „Bekenntnisschrift“ (so Eichhorn 1994, S. 57, mit weiteren Nachweisen). 323 De Maistre hatte letztlich einen „Cäsaro-Papismus“, die Einheit von Kirche und Staat, und die Vereinigung der Kirchen unter der Führung des Papstes angestrebt (so v. Beyme 2002, S. 235).

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I. Einführung.

ausmacht.324 Die „Sichtbarkeit“ der Institution der katholischen Kirche rechtfertige sich aus dem Glauben an die Menschwerdung Gottes, die Christologie wird zum Ausgangspunkt des institutionellen Denkens. Auch für Schmitt ist das Mysterium der Menschwerdung Gottes zentral.325 „Weil Gott in Wirklichkeit sichtbarer Mensch geworden ist, darf kein sichtbarer Mensch die sichtbare Welt ihr selbst überlassen“ (SdK 79). Diese beiden Schriften stützen die These von Mathias Eichhorn, „daß der Katholizismus entscheidenden Einfluß auf Carl Schmitt ausgeübt hat, und zwar in jeder Phase seines Denkens“.326

Akzeptiert man diese Ansicht, widerspricht man zugleich dem Irrationalismusverdacht, unter den Schmitt u.a. von v. Krockow (1958), Sontheimer (1983) und Löwith (schon in 1930er Jahren) gestellt worden war.327 Schmitt selbst beschreibt seine Verwurzelung im Katholizismus so: „Für mich ist der katholische Glaube die Religion meiner Väter. Ich bin Katholik nicht nur dem Bekenntnis, sondern auch der geschichtlichen Herkunft, wenn ich so sagen darf, der Rasse nach“ (GL 131).328

Dem Katholizismus bleibt er sein Leben lang treu, auch als ihm die Kirche die Annullierung seiner ersten Ehe versagt und er deshalb von seiner Wiederheirat 1926 bis zum Tod seiner zweiten Frau 1950 von der Sakramentengemeinschaft ausgeschlossen ist. Eine Abwendung erfolgte zwar, so Motschenbacher, aber kein totaler Bruch mit der Kirche und damit seiner Grundorientierung.329 Jedoch folgt seinem Lob des Katholizismus und seiner politischen Idee kein Engagement für den politischen Katholizismus330 (ebd.).

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Hernández-Arias (1998, S. 217). Mehring (1988, S. 57). Eichhorn (1994, S. 48); siehe dazu auch Breuer (2012, S. 34). Vgl. Eichhorn (1994, S. 48 ff.); siehe die Ausführungen von Quaritsch (1991, S. 25- 35; hier, S. 25). 328 Dies hieß für den katholischen Denker Schmitt aber nicht, sich automatisch für den politischen Katholizismus zu engagieren (Motschenbacher 2000, S. 47). Für Günter Maschke war Schmitt nie ein „Vertreter des politischen Katholizismus“, sondern immer dessen Gegner (Maschke 1987, S. 123). 329 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 47). Für diese Position siehe Noack (1992, S. 42-46). Andere Interpretationsansätze bieten Mehring (1989) und Meier (1994). 330 Das Zentrum wurde 1878 als katholische Partei gegründet und verkörperte die religiösen und konfessionellen Konflikte der deutschen Gesellschaft. Die Katholiken standen nicht nur abseits der preußisch-protestantischen Vorherrschaft im

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

Will man diese stark katholische Lebensphase Schmitts von 1917 bis 1926 objektiv einwerten, darf die allgemeine Lage der Katholiken bis zur und in der Weimar Republik nicht ausgeklammert werden.331 Die Katholiken waren bis 1918 im kulturellen wie im politischen Leben eine ausgegrenzte, unterrepräsentierte, weitgehend in sich geschlossene Religionsgemeinschaft, die in ihrer großen Mehrheit nach wie vor vom Kulturkampf Bismarcks geprägt war.332 Mit Blick auf Schmitt persönlich ist zu konstatieren, dass auch die Universitätswelt ausschließlich protestantisch geprägt war.333 Angesichts dieser Minderheitenlage wurde Schmitt von manchen als der Repräsentant einer neuen katholischen Staatslehre angesehen, den es für den Katholizismus zu vereinnahmen galt, so dass sich ihm die repräsentativen katholischen Zeitschriften Hochland und Abendland als Publikationsorgane anboten.334 II. Römischer Katholizismus und politische Form. „Gott kann nicht mehr zum Vater haben, wer die Kirche nicht zur Mutter hat.“ Cyprian335

Carl Schmitts theologische Problemstellung ist ekklesiologisch ausgerichtet, sie fragt: Was ist Kirche?336

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Kaiserreich, sondern wurden auch im „Kulturkampf" unterdrückt und verfolgt. Dieser Druck von außen ließ die junge Partei aus allen Klassen und Schichten besonders eng zusammenhalten, auch mithilfe eines verzweigten Vereins- und Verbandssystems. Bis in die Weimarer Republik hinein war das Zentrum das stabilste Element im Parteiensystem. Und sie wäre durchaus als die erste deutsche Volkspartei zu bezeichnen, wenn sie sich nicht nur allein auf den katholischen Bevölkerungsteil beschränkt hätte (umfassend Morsl. Vgl. Lönne (1994, S. 11). Die soziale Benachteiligung schwand in der Weimarer Republik nur allmählich, das Kultur- und Minderheiten-„Trauma“ prägte bis in das Dritte Reich hinein – auch eine Folge der zahlreichen katholischen Schulen und Vereine, in denen die katholische Jugend neben der Familie mit diesen Zeit- und Lebenserfahrungen sozialisiert wurde (siehe dazu auch die positivere Darstellung bei Büttner (2010, S. 276-282). Motschenbacher (2000, S. 48, mit weiterem Nachweis). Hollerbach (2004, S. 118). Cyprian, zit. nach Adam (1992, S. 18). Adam (1992, S. 17).

II. Römischer Katholizismus und politische Form.

„Man kann nicht glauben, daß Gott Mensch geworden ist, ohne zu glauben, daß es, solange die Welt bestehen wird, auch eine sichtbare Kirche gebe“ (SdK 75).

Für Carl Schmitt ergibt sich die Sichtbarkeit der Kirche, die „Einbürgerung der Gemeinde in (die) Welt“,337 aus ihrem Wesen, das wesentlich Vermittlung von oben ist. 1. Der antirömische Affekt. „Es gibt einen antirömischen Affekt. Aus ihm nährt sich der Kampf gegen Papismus, Jesuitismus und Klerikalismus, der einige Jahrhunderte europäischer Geschichte bewegt, mit einem riesenhaften Aufgebot von religiösen und politischen Energien“ (RK 5).

Gewohnt markant eröffnet der Impresario der ersten Sätze sein berühmtes Katholizismus-Essay, mit dem er gegen eben jenen „antirömischen Effekt“ anschreibt. Schmitt erläutert 1970 im Rückblick die Zielsetzung seiner Katholizismus-Schrift: „Mein Essay spricht nicht von einer Affinität der Kirche zu bestimmten Formen praktischer Einheit (Monarchie oder Demokratie); er verteidigt die einzigartige politische Form der Römischen Kirche als die weltgeschichtlich sichtbare Repräsentation des in geschichtlicher Wirklichkeit Mensch gewordenen Christus, die sich in drei Formen ihrer Öffentlichkeit manifestiert: als ästhetische Form in ihrer großen Kunst, als juristische Form in der Ausbildung ihres kanonischen Rechts und als ruhm- und glanzvolle weltgeschichtliche Machtform“ (PT II 27-28; Herv., w.a.m.).

Somit zeigt sich expressis verbis, dass Carl Schmitt die katholische Kirche 1922 als eine – im Wesen politische338 – Weltmacht ansieht.339 Weiterhin eröffnet das Zitat, dass sich der antirömische Affekt gegen drei Formelemente richtet bzw. richten kann: die ästhetische Form der Kirche, ihre Rechtsform sowie ihre weltliche Machtform.340 Der Kern der antirömischen Opposition „bleibt aber immer die Angst vor der unfaßbaren politischen Macht des römischen Katholizismus“ mit seiner ungeheuren – das

337 Harnack, zit. nach Adam (1992, S. 17). 338 „Der Katholizismus ist aber im eminenten Sinne politisch, zum Unterschied von dieser absoluten ökonomischen Sachlichkeit“ (RK 27). 339 Hernández-Arias (1998, S. 218). 340 Ottmann (2010, S. 235).

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

religiöse Leben kontrollierenden – hierarchischen und zölibatären Bürokratie (RK 6). 2. Die katholische Kirche als eine complexio oppositorum. Ein Hauptvorwurf des „parlamentarischen und demokratischen“ 19. Jahrhunderts gegen die Kirche war der eines „grenzenlosen Opportunismus“ der katholischen Politik, die es erlaube, mit den verschiedensten Regierungen und Parteien Koalitionen zu schließen, einerseits das monarchische Bündnis von Thron und Altar zu predigen und andererseits in den schweizerischen Bauerndemokratien und in Nordamerika fest auf dem Boden der Demokratie zu stehen (RK 6 f.): „Mit jedem Wechsel der politischen Situation werden anscheinend alle Prinzipien gewechselt, außer dem einen, der Macht des Katholizismus“ (RK 7/8).

Der politischen Idee des Katholizismus fehlt demnach eine bestimmte Zielvorstellung, besser geschrieben, darf sie eine solche gar nicht haben, wenn sie der institutionellen Fassung der katholischen Kirche als einer complexio oppositorum nicht des Fundaments und damit ihrer Macht berauben will.341 So stellt Hans Barion knapp und unzweideutig klar: „Die Kirche kennt und hat kein politisches Bekenntnis“.342 Und Schmitt befindet: „Unter dem Gesichtspunkt einer Weltanschauung werden alle politischen Formen und Möglichkeiten zum bloßen Werkzeug der zu realisierenden Idee“ (RK 9)

Die Fähigkeit, ob ihres „politischen Universalismus“ (RK 9) alle Gegensätze in sich vereinigen zu können, ist für Schmitt der wesentliche Stützpfeiler der kirchlichen Macht: „Ich glaube, der Affekt (antirömische, w.a.m.) würde sich noch unendlich vertiefen, wenn man es in seiner ganzen Tiefe begriffe, wie sehr die katholische Kirche eine complexio oppositorum ist. Es scheint keinen Gegensatz zu geben, den sie nicht erfaßt“ (RK 11).

Ermöglicht wird diese integrierende Kraft der katholischen Kirche, die Kraft der Einheit der Vielheit zu sein, durch das zentrale theologische

341 Vgl. Eichhorn (1994, S. 58). 342 Barion (1965, S. 161).

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Prinzip der dogmatischen Akkommodation, worunter – weit und allgemein gefasst – eine Anpassung der Kirche an eine bestimmte zeitgeschichtliche Kultur zu verstehen ist, in der sie sich artikulieren muss.343 Schmitt wende dieses Prinzip, so Eichhorn, wohl ohne es zu kennen, mit „sicherem Instinkt“ an.344 Im Text folgt nun die Aufzählung der kirchlich vereinigten Gegensätze, – jedoch: „Carl Schmitt führt alle Vorurteile ad absurdum, die gegen die katholische Kirche von ihren Feinden aufgestellt worden sind und verwandelt sie in Tugenden.“345

So walte auch in der Theologie selbst eine complexio oppositorum. Schmitt benennt für diese These den Marcionismus (RK 12), der zwischen einem guten Gott der Liebe im Neuen Testament, wie Jesus ihn verkündete, und einem bösen Gott des Alten Testaments, der für die mangelhafte – „in materieller Grobheit wahrgenommene“ – Schöpfung346, das Gesetz und das Gericht verantwortlich war. Deshalb weist der Marcionismus das Alte Testament vollständig zurück, weil er – gnostisch – den Demiurgen als einen bösen Gott auffasst und für das Schlechte und das Leid dieser Welt verantwortlich macht.347 Die Berufung auf eine „natürliche Theologie“ beruhe so auf einer theologischen Zurückweisung des marcionistischen „Entweder-Oder“ zugunsten eines „Sowohl-Als-Auch“, das aber keineswegs auf einer dialektischen Synthese beruhe. Im Ergebnis gelten so Altes und Neues Testament nebeneinander (RK 13).348 Der Kirche gelingt sogar die Vereinigung kontradiktorischer anthropologischer Ansätze,

343 Vgl. dazu Motschenbacher (1994, S. 59 ff.) „Hintergrund ist die Vorstellung von der Dynamik der christlichen Selbstentfaltung der christlichen Offenbarung. Auch wenn diese als eine überzeitliche Größe betrachtet werden müsse, sei der Vollzug der Wahrheitserkenntnis immer geschichtlich“ (Eichhorn 1994, S. 59/60). 344 Eichhorn (1994, S. 61). Schmitt: „Zu jedem Weltreich gehört nun ein gewisser Relativismus gegenüber der bunten Menge möglicher Anschauungen, rücksichtslose Überlegungen und zugleich opportunistische Toleranz in Dingen, die keine zentrale Bedeutung haben“ (RK 9/10). 345 Hernández-Arias (1998, S. 218). 346 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Marcion: „inter urinas et faeces nascimur“ („zwischen Urin und Kot werden wir geboren“). 347 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Marcion. 348 Eichhorn (1994, S. 61).

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aber keinesfalls in Form einer romantischen „Synthese“ (vgl. RK 14/15).349 Diese Fähigkeit führt, so Schmitt, zu einer wirklichen Überlegenheit der Kirche, „wie sie bisher kein Imperium gekannt hat“: Gelungen sei dies durch „eine substantielle Gestaltung der historischen und sozialen Wirklichkeit (…), die trotz ihres formalen Charakters in der konkreten Existenz bleibt, lebensvoll und doch in höchstem Maße rational ist. Diese formale Eigenart des römischen Katholizismus beruht auf der strengen Durchführung des Prinzips der Repräsentation“ (RK 14).

Die complexio oppositorum ist ein Mittel des römischen Katholizismus, seine Weltorganisation zu sichern bzw. auszubauen. Laufend infrage gestellt ist sie „Prämisse zugleich für die Steigerung von Katholizität“.350 Das zweite Mittel ist der Mechanismus der Entfaltung mittels Repräsentation „von oben“.351 3. Das Prinzip der Repräsentation. Die substantielle Gestaltung der Wirklichkeit, so Schlee prägnant, gründet auf der Antithetik von Form und Materie, wobei die Form sich über der Materie der menschlichen Existenz behauptet. Diese Überlegenheit der Form – die Gestaltung der Existenz nach Ideen und Prinzipien – beruht auf dem Prinzip der Repräsentation.352 Repräsentation meint dabei in der Katholizismusschrift zunächst: Stellvertretung. „Der Papst ist nicht der Prophet, sondern der Stellvertreter Christi“ (RK 23/24). Da er es qua Amt ist und somit vom Charisma unabhängig, „erhält der Priester eine Würde, die von seiner konkreten Person ganz zu abstrahieren scheint“ (RK 24). Das Amt geht in ununterbrochener Reihe auf den persönlichen Auftrag und die Person Christi selbst zurück. Keineswegs aber ist er

349 350 351 352

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Schlee (2015, S. 94/95); siehe auch Schindler/Scholz (1983, S. 169). Grünberger (1989, S. 37). Ebd. S. 36. Schlee (2015, S. 95). Die Repräsentation setzt wie jede Darstellung drei Dinge voraus: eine darstellende Person, ein darzustellendes Thema und ein Publikum, das bei der Darstellung anwesend ist (ebd.).

II. Römischer Katholizismus und politische Form.

„der Funktionär oder Kommissar des republikanischen Denkens und seine Würde nicht unpersönlich wie die des modernen Beamten. Das ist wohl die erstaunlichste complexio oppositorum“ (ebd.).353

Der Begriff der Repräsentation ist für Schmitts Argumentation von großer Bedeutung, da er zugleich ein prägender seiner Staatslehre ist. So definiert er in seiner Verfassungslehre: „Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen“ (VL 269).354

Für Armin Adam ist bei Schmitt die Problematik der politischen Einheitsbildung zentral, weil diese Einheit – nach dem Vorbild der römisch-katholischen Kirche – erst durch Repräsentation hergestellt wird. Nur wenn der Staat als der Status eines Volkes gefasst werde, gelänge wegen der personalen Qualität des Volkes die Repräsentation.355 Die politische Macht des Katholizismus ist weder ökonomisch noch militärisch begründet, die Kirche ist eine „konkrete persönliche Repräsentation konkreter Persönlichkeit“ und zudem – unbestritten – die wahre Erbin der römischen Jurisprudenz (RK 31). Zwei zentrale Prinzipien tragen also die politische Idee des Römischen Katholizismus: die Repräsentation und die Kraft zur juristischen Form: „Aber sie hat die Kraft zu dieser wie zu jeder Form nur, weil sie die Kraft zur Repräsentation hat. Sie repräsentiert die civitas humana, sie stellt in jedem Augenblick den geschichtlichen Zusammenhang mit der Menschwerdung und dem Kreuzesopfer Christi dar, sie repräsentiert Christus selbst, persönlich, den in geschichtlicher Wirklichkeit Mensch gewordenen Gott“ (RK 31/32).

Es ist diese Kraft zur Repräsentation, die die Überlegenheit der katholischen politischen Idee im Zeitalter des ökonomischen Denkens sichert, es ist die katholische Kirche mithin die einzig verbliebene Kraft, die fähig

353 Vgl. Schindler/Scholz (1983, S. 170). 354 Zu den Unterschieden der Repräsentation des Staates gegenüber der der Kirche vgl. nur Eichhorn (1994, S. 64 ff.). In der Verfassungslehre wird Schmitt 1928 explizieren: „Repräsentation ist kein normativer Vorgang, (…) sondern etwas Existentielles. Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen“ (…) „In der Repräsentation kommt eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung“(VL 209; 210). 355 Vgl. Adam (1994, S. 93 f.) „Die Annäherung, die die politische Einheit an den Begriff der Kirche erfährt, bildet ein Zentrum der Schmitt‘schen Argumentation“ (ebd. S. 94). Ausführlich dazu siehe hier M. Verfassungslehre.

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zur Repräsentation ist (vgl. RK 31 f.).356 Hat doch die bürgerliche Gesellschaft ihr Vermögen zur Repräsentation verloren und entfaltet dualistisch ihre zwei Polaritäten: den Bourgeois und den Bohemien (vgl. RK 34). Für Carl Schmitt kennt das ökonomische Denken nur ein Formprinzip: die technische Perfektion, „und das ist die weiteste Entfernung von der Idee des Repräsentativen“ (ebd.), weil das ökonomisch-technische Amalgam die Realpräsenz der Dinge erfordert (vgl. RK 35). Der Moderne ging der Sinn für das Transzendentale verloren, sie kann nur noch materielle Surrogate schaffen und als Ersatz anbieten, um diesen Verlust zu verschleiern.357 Mit der fortlaufenden Ökonomisierung des Denkens entschwindet den Menschen dieser Moderne „auch das Verständnis für jede Art der Repräsentation“ (RK 42/43) – eine These, die sich bereits in der Politischen Romantik wie in der Politischen Theologie findet.358 Das Repräsentationsprinzip des heutigen Parlamentarismus entspricht nicht dem der Kirche, denn: „Sie repräsentiert konsequent‚ von oben‘“ (RK 43). Schon in dem frühen Aufsatz Die Sichtbarkeit der Kirche hatte Schmitt ausgeführt: „Der Mittler steigt hernieder, weil die Vermittlung nur von oben nach unten, nicht von unten nach oben erfolgen kann, die Erlösung liegt darin, daß Gott Mensch (nicht daß der Mensch Gott) wird“ (SdK 75).

„Von oben“ zu repräsentieren, verleiht dem notwendig personalen Repräsentanten Autorität, und die in ihm personifizierte Idee ist es, die der Macht erst ihre Autorität verleiht359 und die gegenwärtige Einmaligkeit der katholischen Kirche als weltliche Institution begründet360. Das Wesen des Katholizismus unterscheidet nicht zwischen der Kirche im religiösen Sinn und der Kirche im Rechtssinn: „In Römischer Katholizismus wird die Macht des Katholizismus auf die Überlegenheit dieser Tatsache begründet“.361

Ein wesentliches Element der Repräsentation ist die Sprache: „Denn die Fähigkeit zur Form, auf die es hier ankommt, hat ihren Kern in der Fähigkeit zur Sprache einer großen Rhetorik“ (RK 37/38).

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Vgl. Hernández-Arias (1998, S. 218). Vgl. Motschenbacher (2000, S. 53). Siehe (PT 82) und (PR 20). Motschenbacher (2000, S. 54); siehe Mehring (1988, S. 54 f.). Vgl. Hernández-Arias (1998, S. 218). Ebd.

II. Römischer Katholizismus und politische Form.

Die „repräsentative Rede“, die auf einen Diskurs verzichtet, eine „nichtdiskutierende und nichträsonierende“ Predigt, ist in den Augen Schmitts das Entscheidende (vgl. RK 39). Lebendig gestaltet soll sie durch Antithesen werden, die aber zur complexio gefasst werden. Möglich ist eine Predigt als Repräsentationsmittel nur „vor dem Hintergrund einer imponierenden Autorität“ (RK 40). Diese wieder ist nur denkbar in einer hierarchischen Ordnung, „denn die geistige Resonanz der großen Rhetorik kommt aus dem Glauben an die Repräsentation, die der Redner beansprucht“ (ebd.). Dass die repräsentative und anpassungsfähige Rhetorik eine wesentliche Funktion im Rahmen der complexio oppositorum einnimmt, steht außer Frage.362 4. Autorität und politische Form. Die Figur der – Autorität verleihenden – personifizierten politischen Idee verweist auf den „Gedanken persönlicher Autorität“, der uns in Schmitts Verfassungslehre wieder begegnen wird und der für Armin Adam „zur Basis seiner politischen Formenlehre“363 wird.364 Das Element der personalen Repräsentation in der Kirche365 wirkt im Staatsverständnis Schmitts, indem es einen Weg zur politischen Einheit aufzeigt.366 Um ein politisches System auf Dauer zu stellen, reicht eine reine Technik der Machtbehauptung – im Sinne Machiavellis etwa – nicht aus. Es kann nur bestehen, wenn es der Ausdruck eines geistigen Prinzips bzw. einer Idee ist: „Zum Politischen gehört die Idee, weil es keine Politik gibt ohne Autorität und keine Autorität ohne ein Ethos der Überzeugung“ (RK 28).

Schon Hugo Ball hatte 1924 in seiner essayistischen Monographie Carl Schmitts politische Theologie erkannt, dass Carl Schmitt sein „persönli-

362 Siehe Grünberger (1989, S. 36). 363 Adam (1992, S. 100). 364 Eichhorn (1994, S. 2) macht darauf aufmerksam, dass er den Katholizismus Schmitts auf die Kirche und ihr Formprinzip beschränkt. 365 Selbst die Würde des Priesters ist im Gegensatz zu einem Beamten nicht unpersönlich, „sondern sein Amt geht, in ununterbrochener Kette, auf den persönlichen Auftrag und die Person Christi zurück. Das ist wohl die erstaunlichste complexio oppositorum“ (RK 24). 366 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 55).

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ches, fast ein privates System“ auf Dauer stellen will und deshalb seine ganze Erfahrung um die eine Grundüberzeugung gruppiert, „daß Ideen das Leben beherrschen; daß das Leben niemals nach seinen Bedingungen, sondern nur nach freien, unbedingten, ja bedingenden Einsichten, eben nach Ideen, geordnet und aufgebaut werden kann“.367

Denn wird der Staat technizistisch nur als eine „große Maschine“ (RK 33) aufgefasst, „so ist er aus der Welt des Repräsentativen verschwunden“ (RK 36). Transzendenz und Tradition sind Elemente, die der katholischen Kirche Macht und Autorität verleihen. Orientiert sich – der Kirche analog – ein Staat ebenso an der Transzendenz und bezieht aus dieser Autorität Macht und Wahrheit, kann er kein negatives Verhältnis zur Macht haben.368 Weil das Christentum die weltliche Macht anerkennt, hat es dieser „eine neue Grundlage unterschoben“ (SdK 74). Da die katholische Kirche eine machtbewusste Haltung einnimmt, ist es für Schmitt nur natürlich, dass sie diese auch anzuwenden sucht (RK 53): „In der Geschichte der römischen Kirche steht neben dem Ethos der Gerechtigkeit auch das der eigenen Macht. Es ist noch gesteigert zu dem von Ruhm, Glanz und Ehre. Die Kirche will die königliche Braut Christi sein; sie repräsentiert den regierenden, herrschenden, siegenden Christus. Ihr Anspruch auf Ruhm und Ehre besteht im eminenten Sinne auf dem Gedanken der Repräsentation“ (ebd.).

Dass die Kirche Christus und das Christentum als sichtbare Institution inszeniert und nicht im Raum des Privaten belässt, „das ist der große Verrat, den man der römischen Kirche zum Vorwurf macht“ (RK 53). Ob man diesen „Sündenfall“ in der rechtlichen Organisation der Kirche, in ihrer Form, erblickt, wie Rudolf Sohm,369 oder in dem Drang des Katholischen zur Weltherrschaft, bleibt sekundär, denn: „Die Kirche wird, wie jeder weltumfassende Imperialismus, wenn er sein Ziel erreicht, der Welt den Frieden bringen, aber darin erblickt eine formfeindliche Angst den Sieg des Teufels“ (RK 54).

367 Ball (1924, S. 263). 368 Motschenbacher (2000, S. 56). Der Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff formuliert 1933: „Autorität ist nur aus der Transzendenz möglich“ (Forsthoff 1933, S. 30). 369 Siehe Adam (1992, S. 15).

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II. Römischer Katholizismus und politische Form.

5. Katholische Kirche und Kapitalismus. Wir hatten bereits konstatiert, dass mit Einfall und Ausbreitung des ökonomischen Denkens „das Verständnis für jede Art von Repräsentation schwindet“ (RK 42/43). Dem Kapitalismus fehlt im Gegensatz zur Kirche die Fähigkeit zur Form ebenso wie „jenes Pathos der Autorität in seiner ganzen Reinheit“ (RK 31); er ist in seiner ganzen Rechenhaftigkeit nicht dazu in der Lage, eine Idee zu erfassen.370 Denn die instrumentelle Vernunft – bei Schmitt: das „ökonomische Denken“ – kennt nur seine eigene Sachlogik, es kennt nicht Zweck und Norm außerhalb dieser Eigenlogik des Erwerbs von Geld und immer noch mehr Geld371. „Kein großer sozialer Gegensatz lässt sich ökonomisch lösen. Wenn der Unternehmer den Arbeitern sagt: ‚Ich ernähre euch‘, so antworten ihm die Arbeiter: ‚Wir ernähren dich‘, und das ist kein Streit um Produktion und Konsumption, es ist gar nichts Ökonomisches, sondern entsteht aus einem verschiedenen Pathos moralischer und rechtlicher Überzeugung“ (RK 30).

Hingegen ist die Rationalität des Zwecks ein wesentliches Element der katholischen politischen Idee.372 Die Rationalität der Kirche akzeptiert „die moralische, psychologische und soziologische Natur des Menschen“, dem sie eine Richtung gibt und nicht nur auf Manipulation und Nutzbarmachung abstellt.373 Ergo sind Kapitalismus und politische Idee der römischkatholischen Kirche inkompatibel: „Eine Vereinigung der katholischen Kirche mit der heutigen Form des kapitalistischen Industrialismus ist nicht möglich. Der Verbindung von Thron und Altar wird keine von Büro und Altar folgen, auch keine von Fabrik und Altar“ (RK 40/41).

Der Kapitalismus wird von der complexio oppositorum der Kirche nicht erfasst374, sie opponiert im Gegenteil gegen das kapitalistische System375, eben weil der Kirche ihr spezieller Rationalismus eigen ist (vgl. RK

370 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 53). „Die heute herrschende Art ökonomischtechnischen Denkens vermag eine politische Idee gar nicht mehr zu perzipieren. Der moderne Staat scheint wirklich das geworden zu sein, was Max Weber in ihm sieht: ein großer Betrieb“ (PT 69). 371 Siehe Weber (2005, S. 41); vgl. Schlee (2015, S. 96). 372 Vgl. Eichhorn (1994, S. 68). 373 Schlee (2015, S. 96/97). 374 Siehe dazu auch ebd. S. 94 ff. 375 Vgl. Mehring (2009, S. 147).

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23 ff.).376 An kaum einer anderen Stelle, so v. Waldstein, werde klarer, dass Schmitts „Fronstellung gegen den Kapitalismus auf der einen Seite in seiner tiefen Katholizität, auf der anderen Seite in seiner Überzeugung wurzelt, daß der Herrschaft des Geldes jegliche politische Stiftungskraft abgehe“.377

In der Tat sind der Katholizismus und die katholische Kirche der ökonomischen Sachlichkeit gegenüber unvermeidlich politisch, für Schmitt eine Folge des „In-der-Welt-Seins“ der Kirche aber auch ihres Ethos der Gerechtigkeit. Sie muss auch politisch bleiben, will sie überleben, denn gelänge es dem ökonomischen Denken, den Staat zu entpolitisieren,378 verbliebe nur noch die katholische Kirche als eine gleichsam asylbietende Institution, die das politische Denken und die politische Form aufnehmen und tragen kann.379 Die Kirche hätte in diesem Falle „ein ungeheuerliches Monopol, und ihre Hierarchie wäre der politischen Weltherrschaft näher als jemals im Mittelalter. Nach ihrer eigenen Theorie und ideellen Struktur dürfte sie freilich einen solchen Zustand nicht wünschen, weil sie den politischen Staat, eine ‚societas perfecta‘ und nicht einen Interessenten-Konzern neben sich voraussetzt. Sie will mit dem Staat in der besonderen Gemeinschaft leben, in der zwei Repräsentationen sich als Partner gegenüberstehen“ (RK 42).

Zum Feind der Kirche erhebt sich somit jedes System, das einen herrschaftslosen Zustand herbeiführen will, das alles zur Privatsache degradieren will und in dem nichts mehr repräsentativ ist. Dann herrschen die „Gesetze des Marktes“, es zählen nur noch die Beziehungen der Dinge zueinander und es gibt keine Idee mehr, die mit ihrem unbedingten Geltungsanspruch eine substantielle Gestaltung der Existenz erlaubt:380 „Solange nämlich ein Rest von Idee besteht, herrscht auch die Vorstellung, daß vor der gegebenen Wirklichkeit des Materiellen etwas präexistent ist, transzendent, und das bedeutet immer eine Autorität von oben“ (RK 45).

376 „Dieser Rationalismus liegt im Institutionellen und ist wesentlich juristisch; seine große Leistung besteht darin, daß er das Priestertum zu einem Amte machte (…)“ (RK 23). 377 v. Waldstein (2008, S. 148/149). 378 Aus der Sicht des ökonomischen Denkens sind politische und juristische Form nur Störfaktoren, wenn es auch noch Residuen (privat)rechtlicher Begriffe bedarf, wie Besitz und Vertrag (vgl. RK 46 f.). 379 Vgl. Hernández-Arias (1994, S. 221). 380 Schlee (2015, S. 96).

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Geschichtlich fängt für Schmitt die „Privatisierung“ beim Fundament, der Religion an, war doch das Individualrecht der Religionsfreiheit das erste „im Sinne der bürgerlichen Gesellschaftsordnung“, war Anfang und Prinzip (RK 47). Das hat Konsequenzen: „Aber wohin man immer das Religiöse stellt, es zeigt überall seine absorbierende, verabsolutierende Wirkung, und wenn das Religiöse das Private ist, so ist infolgedessen auch umgekehrt das Private religiös geheiligt. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Das Privateigentum ist also heilig, gerade weil es Privatsache ist“ (RK 47/48).

Die juristische Formierung der katholischen Kirche ist dagegen ob ihres repräsentativen Wesens publizistisch. 6. Autorität und Anarchismus. Anarchie – das Thema ist uns schon und wird uns wieder begegnen – leuchtet für Schmitt bereits in dem Verlangen der großkapitalistischen Industriemagnaten auf, einen freien und unbeschränkten Markt zu schaffen. Gleiches gilt für den Liberalismus, der den Staat in ein Nichts auflösen will, indem er ihn aus dem Gesellschaftlichen verbannt und „wenn man den Mechanismus des ökonomischen und Technischen seiner immanenten Gesetzmäßigkeit überläßt“ (RK 60). Angesichts dieser Bedrängnis von allen Seiten, denen Politik und Autorität ausgesetzt sind, erscheint Schmitt der größte Anarchist des 19. Jahrhunderts, Bakunin, nur als ein „naiver Berserker“, der gegen Religion, Politik, Theologie und Jurisprudenz „mit skythischer Wucht“ (RK 61) wütet (vgl. RK 60 f.) und, wie wir schon sahen, im Glauben an den einen Gott den Ursprung aller Knechtschaft und allen Übels ausmacht (RK 61).381 Für Schmitt ist es Bakunins „barbarisch ungebrochener Instinkt“ (RK 62), der ihn den „fabelhaften Mut“ (RK 63) aufbringen lässt, gerade das – begrifflich stigmatisierte – „Lumpenproletariat“382 als den eigentlichen Träger eines revolutionären Sozialismus auszumachen:

381 Siehe hier das Kapitel Politische Theologie. 382 Der Begriff, von Karl Marx geprägt, ist vielschichtig und umstritten und partiell vom Vorurteil geschwängert. Er umfasst eine Vielfalt von unproduktiven Menschen mit unterschiedlicher Klassenherkunft, meistens aber Proletarier, die auf der untersten Stufe der Gesellschaftsschichtung existieren. Das Pariser Lumpenproletariat von 1848, mit dem Bonaparte gegen die Republik revoltierte, be-

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„Ich verstehe unter der Blüte des Proletariats gerade jenes ewige Kanonenfutter der Regierungen, jene große Kanaille, die von der bürgerlichen Zivilisation noch fast unberührt ist und in ihrem Inneren, in ihrem Inneren und Instinkten alle Keime des Sozialismus der Zukunft trägt“ (RK 63).

Das wendet sich explizit auch gegen Karl Marx und dessen Intellektualismus, der im Kommunistischen Manifest das Lumpenproletariat „durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert“ sieht, es aber für bereitwilliger hält, „sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen“ (MEW 4, 472). Dieses „klassenkämpferische Proletariat“ nun steht der westeuropäischen Tradition und Bildung genauso fremd gegenüber wie „das von Europa sich abwendende Russentum“, die in der russischen Räterepublik – für Schmitt „eine tiefe ideengeschichtliche Richtigkeit“ – zusammenfanden (RK 63 f.). Mit dem Gottesglauben werden auch die traditionelle westeuropäische Bildung und die Tradition geschliffen. Zwar könne „in dem russischen Haß gegen die westeuropäische Bildung mehr Christentum liegen“, als im Liberalismus oder im deutschen Marxismus, der Liberalismus aus katholischer Sicht ein schlimmerer Feind sein kann als der atheistische Sozialismus „und daß in der Formlosigkeit potentiell die Kraft zu einer neuen, auch das ökonomisch-technische Zeitalter gestaltenden Form liegen könnte“ (RK 64). Dank ihrer alles überlebenden Dauer brauche sich die Kirche in der Frage: Barbarentum oder Liberalismus, nicht zu entscheiden, weil sie auch hier die complexio alles Überlebende sein wird: „Sie ist die Erbin“ (RK 65). Aber dann wird Schmitt zunächst kryptisch: Auch wenn sie sich nicht für eine der kämpfenden Parteien erklären könne, müsse die katholische Kirche gleichwohl „tatsächlich“ auf einer Seite stehen, so wie sie einst auf

schreibt Marx wie folgt: „Neben zerrütteten Lebeherren mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen (…) dieser Auswurf Abfall Abhub aller Klassen (…)“ (Karl Marx: 18. Brumaire. MEW 8, 106 f.). Schmitt versteht darunter „ein ‚Proletariat‘, zu ihm gehören aber auch der Bohemien des bürgerlichen Zeitalters, der christliche Bettler und alle Erniedrigten und Beleidigten“ (RK 62).

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II. Römischer Katholizismus und politische Form.

der gegenrevolutionären Seite gestanden habe. In für Schmitt moderater Diktion macht er aber doch deutlich, „daß sich die Kirche in dem grundlegenden Konflikt zwischen der Aufrechterhaltung des Politischen als Wahrung von Idee und Gedanke gegenüber der Verabsolutierung des Politischen einer Parteinahme nicht enthalten könne“.383

Dann bezieht Schmitt Position: Zwei großen Massen, „zwei große Ströme, die an ihre Dämme stoßen“, sieht er die westeuropäische Tradition und Bildung bedrohen: „das klassenkämpferische Proletariat der großen Städte und das von Europa sich abwendende Russentum. Von der überlieferten westeuropäischen Bildung aus gesehen sind beide Barbaren“ (RK 63/64).

Indem er seine Verteidigung des Politischen mit der katholischen Kirche in Relation setzt, fordert er vom Weimarer Katholizismus zugleich, sich den grundlegenden politischen Fragen zu stellen.384 Carl Schmitt geht es in seiner Katholizismus-Schrift primär um den Staat. Am Beispiel des Katholizismus und dessen Fähigkeit zur Repräsentation und zur Form, die ihm Würde und Autorität verleihen, gemahnt er die gegenwärtige Politik und den Staat an die Kraft zur politischen Einheitsbildung und zur Dezision. Die Kritik, Schmitt habe nur die Institution der katholischen Kirche im Blick gehabt, dabei aber die Religion vergessen, verweisen wir auf die An- und Einsicht von Mathias Eichhorn: „Diese Autorität der Idee des römischen Katholizismus beruht aber nun nicht alleine auf der göttlichen Einsetzung des Petrusamtes und damit auf der Repräsentation Christi. Damit soll auf das zurückgekommen werden, was der römische Katholizismus im eigentlichen Sinne – man ist versucht zu sagen: unabhängig von Christus, dessen Repräsentation eine dogmatische Angelegenheit ist, die im Zusammenhang mit der Sakramentenlehre zu erörtern wäre und Schmitt hier nicht interessiert – was er also noch repräsentiert: Es ist die Kontinuität von katholischer Kirche und römischem Imperium“.385

383 Lönne (1994, S. 14). 384 Ebd. 385 Eichhorn (1994, S. 69) Näher dazu siehe hier Der Großinquisitor Dostojewskijs und der Katholizismus des Carl Schmitt.

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts. „Verachtet ihr die Menschheit oder achtet ihr sie, ihr, die ihr ihre künftigen Erretter sein wollt?“ Fjodor M. Dostojewskij386

Ziehen wir zunächst mit Reinhard Mehring ein kleines Zwischenfazit des Frühwerks von Carl Schmitt.387 Es „bot drei Orientierungsanker und Institutionen auf, die zu bestimmten Zeiten – in geordneter Normallage oder chaotisch-unmittelbaren Zeiten – ihre je eigene Ausgabe und Berechtigung haben: Staat, Kirche und den Einzelnen“.388

Der Wert des Einzelnen und die Bedeutung des Staates (1914) hatte noch vor dem Großen Krieg für den Staat als einen „Diener“ des Rechts plädiert. Die mittel- wie unmittelbaren Auswirkungen des Krieges, vor allem der Tod seines Freundes Fritz Eisler, der ihn zuerst Gott, Mensch und Welt verwerfen ließ, bewirkten letztlich – wie das Nordlicht zeigt – eine Neubesinnung auf die katholische Kirche. Davon zeugen seine Schriften Die Sichtbarkeit der Kirche (1917), Politische Romantik (1919), Politische Theologie (1922) und Römischer Katholizismus und politische Form (1923). In Die Sichtbarkeit der Kirche, seine „einzige explizit theologische Veröffentlichung“389, bekennt er: „Wer die Sünde der Menschen noch so tief erkennt, wird durch die Menschwerdung Gottes wieder zu dem Glauben gezwungen, dass der Mensch und die Welt ‚von Natur gut‘ sind. Denn Gott will nichts Böses (SdK 451)“.

Dieses Wiederaufleben des Religiösen beeinflussten Schriftsteller wie Theodor Haecker und Franz Blei.390 Sein „Katholisch-Sein“391 gab Schmitt nie auf, aber unter dem Eindruck seines gescheiterten Antrags auf Annullierung seiner ersten Ehe ist eine gewisse Entfremdung von bzw. Reserviertheit gegenüber der amtskirchlichen Lehre auszumachen, jedoch

386 Brief Dostojewskijs vom 11.6.1879, hier zitiert nach Motschenbacher (2000, S. 314.) 387 Mehring (2009, S. 218 f.) 388 Ebd. S. 218. 389 Ebd. S. 96. 390 Ebd. S. 97. 391 Vgl. hier das Kapitel Römischer Katholizismus und politische Form.

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

„institutionelles Unrecht war für die Generation Schmitts kein Grund, an der Kirche zu zweifeln, eher wurde der Glaube gestärkt“392.

Unter dem Einfluss der radikalen Staats- und Kirchenkritik der Freunde Franz Blei und Hugo Ball allerdings näherte er sich einem religiösen Individualismus an. Mehring hält sogar Schmitts „Sprung in den religiösen Individualismus und Anarchismus, in die gnostische Verwerfung des Gesamttableaus“ für möglich.393 Diese Möglichkeit war real, hatte sich Schmitt doch bereits vor seinen Münchner Jahren (Februar 1915 bis Oktober 1921) ab 1912 laut seiner Tagebücher – im Zuge seiner schwärmerischen Beschäftigung mit Däublers Das Nordlicht – mit mystischer Literatur, Astrologie, Okkultismus, Theosophie, Mithraskult und eben auch mit der Gnostik befasst.394 Überhaupt und grundlegend ist davon auszugehen, dass sich Carl Schmitt auf Sinnfragen z.B. mit den üblichen „Priesterphrasen“395 kaum zufriedengeben konnte, denn „die religiöse Auseinandersetzung konzentrierte sich ihm auf Literatur und Dichtung“396, wie sein Befasstsein mit Däubler und Dostojewski zeigen. Seine Neigung zum religiösen Pessimismus überwindet er mit Kierkegaard, weil er sich überzeugen lässt, „dass die Frömmigkeit auch im Zweifel besteht“.397 1. Der Großinquisitor Dostojewskijs. 1.1. Einführung. Die Inquisition war ein kirchenrechtliches Verfahren zur Ermittlung von Häretikern, das sich in Spanien der Folter bediente. Ziel waren dort vor allem die zum Christentum konvertierten Juden, von denen man annahm, im Geheimen weiterhin die jüdischen Bräuche auszuüben. Um sie von öffentlichen Ämtern fernzuhalten, erließ man Statuten zur Reinhaltung des Blutes, die zu einer Trennung von Christen und Juden im sozialen Zusammenleben führen sollten. Diese Blutreinheitsstatuten lehnte sogar der Jesuit

392 393 394 395 396 397

Lauermann (1994, S. 305.) Mehring (2009, S. 218/219.) Siehe Breuer (2012, S. 17 ff.) mit Nachweisen; siehe hier D. Das Nordlicht. Mehring (2009, S. 96). Ebd.; nachstehend ebd. S. 97. Ebd.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

Ignatius von Loyola ab. Königin Isabella von Kastilien wandte sich tief besorgt an Rom, um eine Erlaubnis für die Errichtung einer speziellen Inquisition zu erbitten. Geleitet wurde diese durch einen vom König ernannten, vom Papst bestätigten und bevollmächtigten „Großinquisitor“. Der Einfluss der staatlich-weltlichen Monarchen auf die neue Institution war entsprechend groß, wenn der Großinquisitor seine Jurisdiktion auch nur vom Papst empfing. Praktisch war die Inquisition ein Werkzeug des Staates.398 Der Großinquisitor, dessen Geschichte Dostojewskij ein Jahr vor seinem Tod im 5. Kapitel des 5. Buches seines Romans Die Brüder Karamasow durch den Mund seines Protagonisten Iwan erzählen lässt, beschäftigt Carl Schmitt in seinen Schriften immer wieder. Jacob Taubes sieht die Figur des Großinquisitors – Schmitt charakterisierend – gar in dessen Person inkarniert,399 oder, so Mathias Eichhorn, „literarisch auf den Leib geschneidert“400. Wir kennen die Figur u.a. aus der Politischen Theologie, aus der Römischer-Katholizismus-Schrift und sie wird uns etwa im Der Begriff des Politischen erneut begegnen. Welche Bedeutung ihm Schmitt zumisst, zeigt sich in einem Eintrag vom 24.5.1949 in seinem Glossarium: „Der wichtigste Satz des Thomas Hobbes bleibt: Jesus is the Christ. Die Kraft eines solchen Satzes wirkt auch dann, wenn er im Begriffssystem des gedanklichen Aufbaus an den Rand, ja scheinbar sogar außerhalb des Begriffskreises geschoben wird. Diese Abschiebung ist ein der Verkultung Christi analoger Vorgang, wie ihn der Großinquisitor Dostojewskis vornimmt. Hobbes spricht aus und begründet wissenschaftlich, was Dostojewskis Großinquisitor tut: die Wirkung Christi im sozialen und politischen Bereich unschädlich machen; das Christentum ent-anarchisieren, ihm aber im Hintergrunde eine gewisse legitimierende Wirkung zu belassen und jedenfalls nicht darauf zu verzichten. Ein kluger Taktiker verzichtet auf nichts, es sei denn restlos unverwertbar. Soweit war es mit dem Christentum noch nicht“ (GL 243).

1.2. Die Figur des Großinquisitors in Dostojewskijs Roman Die Brüder Karamasow. Bevor wir uns der Frage zuwenden können, welche Ansichten des Großinquisitors in Schmitts politisch-theologisches Denken eingeflossen sind,

398 Siehe Gross (2005, S. 145 f.). 399 Taubes (1987, S. 15). 400 Eichhorn (1994, S. 83).

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

müssen wir uns mit diesem Stück der Weltliteratur selbst befassen.401 Ausgangspunkt des Romans Die Brüder Karamasow, Familienchronik und Kriminalroman zugleich, ist der Mord an dem habgierigen und Orgien feiernden Fjodor Pawlowitsch Karamasow.402 Verdächtigt werden seine drei Söhne: Iwan, ein an sich selbst zweifelnder, seinen Vater hassender, rationaler Intellektueller, Aljoscha, tiefgläubiger Novize in einem Kloster, und der sinnliche und leidenschaftliche Dimitri. Ihre Charaktere spiegeln verschiedene Lebensphasen und Seiten der Persönlichkeit Dostojewskijs.403 In einem Indizienprozess wird Dimitri zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt – der Mörder aber war er nicht. Die eigentliche Legende oder das Poem vom Großinquisitor steht im Mittelpunkt eines Gespräches zwischen den zwei Brüdern Iwan und Aljoscha. Um der Persönlichkeit und der Rolle Iwans gerecht werden zu können, müsse das 4. Kapitel des 5. Buches: „Empörung“, mitgelesen werden. Romano Guardini – vor einer isolierten Betrachtung der Legende warnend – sieht sogar einen Direktzusammenhang. Wir beziehen es in unsere Betrachtung ein.404 Iwan wirft das religionsphilosophische Problem der Theodizee auf, der Rechtfertigung Gottes angesichts allen Übels und Leidens in der Welt, des Leides Unschuldiger, vor allem des Leides von Kindern. „Alt ist die philosophisch-theologische Frage der Theodizee. Aber vielleicht wurde sie nie so eindringlich gestellt wie hier“.405

Wenden wir uns zunächst Iwans Legende zu.406 Sevilla im 16. Jahrhundert, es herrscht strengste Inquisition. Am Vortag waren auf Geheiß des Kardinal-Großinquisitors fast hundert schändliche Ketzer zum Ruhme Gottes „In den Flammen prächtigen Autodafés Böse Häretiker verbrannte“ (Dos 11).

401 Die Brüder Karamasow sind der großartigste Roman, der je geschrieben wurde, die Episode des Großinquisitors eine der Höchstleistungen der Weltliteratur, kaum zu überschätzen“ (Freud 1928, Kap. 15, Abs. 2; Herv. im Original). 402 Siehe dazu grundsätzlich Goes (2010). 403 Roth (2012, S. 2). 404 Vgl. Doerne (1962; hier, S. 68). 405 Roth (2012, S. 3). 406 Wir zitieren aus Dostojewskij/Müller 1985). Sigle = Dos.

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Da taucht „Er“407, Christus der Erlöser, plötzlich auf dem Domplatz auf, 1500 Jahre nach seiner Geburt in Nazareth, und wandelt in derselben menschlichen Gestalt wie damals schweigend „mit einem stillen Lächeln unendlichen Mitleids“ (Dos 12) durch die Gassen der mittelalterlichen Stadt.408 „Er ist still, unauffällig erschienen, und siehe, alle – seltsam ist das – erkennen Ihn“ (Dos 12).

Er streckt die Hände zu den Menschen aus, segnet sie, und es geschehen Wunder. Ein Greis wird sehend, ein verstorbenes siebenjähriges Mädchen erweckt er auf flehentliche Bitten der Mutter zum Leben (s. Dos 12 f.). Aus der Ferne wurde die inzwischen jubelnde Volksprozession vom Großinquisitor beobachtet: „Das ist ein fast neunzigjähriger Greis, von hohem Wuchs und ausrechtem Gang, mit vertrocknetem Gesicht, mit eingefallenen Augen, aus denen aber noch wie ein feuriger Funke Glanz leuchtet“ (Dos 13).

Alles hatte er gesehen, und mit einem Finger auf Ihn zeigend befiehlt er seien Schergen, Ihn festzunehmen. So groß ist seine Macht, und schon „so sehr abgerichtet, unterwürfig und ihm zitternd gehorsam ist das Volk“, dass sich dieses augenblicklich vor dem greisen Inquisitor bis zum Boden neigt; „der segnet schweigend das Volk und geht vorüber“ (Dos 13/14). Der Gefangene wird von der Wache in den Kerker gebracht, wo er vom Großinquisitor – „Die Luft duftet nach Lorbeer und Zitrone“ – tief in der Nacht besucht wird (Dos 14). In dem nachfolgenden Gespräch, das verbal nur ein Monolog ist, offenbart der Kardinal-Großinquisitor sein Geheimnis. Iwan spricht: „Hier geht es nur darum, daß der Greis sich aussprechen muß, daß er sich endlich – ein Mal in all den neunzig Jahren – ausspricht und laut das sagt, worüber er die ganzen neunzig Jahre lang geschwiegen hat“ (Dos 15).

Alles habe Er, Petrus und nachfolgend dem Papst übergeben, folglich liege alles beim Papst, „und komm Du jetzt überhaupt nicht mehr, störe wenigstens nicht vor der Zeit“ (ebd.)! So schrieben auch die Jesuiten.

407 „Er“ – wie auch „Ihn“ und „Ihm“ – bezeichnen Jesus, der vom Großinquisitor nie mit Namen angesprochen wird. 408 „Er“ war aber zuvor schon öfter herabgestiegen und hatte manche Gerechte, Märtyrer und heilige Anachoreten zu ihren Lebzeiten besucht, wie diese in ihren Viten berichten (Dos 11).

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Hast Du das Recht, fragt der Großinquisitor, den Menschen Geheimnisse aus der Welt zu verkünden, aus der Du kommst? und antwortet selbst: „Nein, Du hast es nicht.“ – „Alles, was Du von neuem verkünden würdest, wäre ein Anschlag auf die Glaubensfreiheit der Menschen (…). Hast Du nicht damals so oft gesagt: ‚Ich will euch frei machen“ (ebd.).

Teuer zu stehen sei sie dies gekommen, aber nach jetzt fünfzehn Jahrhunderten sei diese Freiheit zu Ende gebracht, und zwar dauerhaft (Dos 16). Jetzt, erläutert Iwan Aljoscha, rechnen es sich der Großinquisitor und die Seinen als Verdienst an, die Freiheit besiegt zu haben. Mit der Inquisition „ist es möglich geworden, zum ersten Mal an das Glück der Menschen zu denken. Der Mensch ist als Empörer gemacht worden; können Empörer etwa glücklich sein“ (ebd.)?

Du bist gewarnt worden, fährt der Großinquisitor fort, aber hast nicht darauf gehört, und hast so den einzigen Weg verworfen, „auf dem man die Menschen hätte glücklich machen können, aber zum Glück hast Du, als Du fortgingst, die Sache uns übergeben. Du hast uns das Recht zu binden und zu lösen versprochen (…) und kannst natürlich überhaupt nicht mehr daran denken, uns dieses Recht jetzt wegzunehmen“ (Dos 16).

Auf Aljoschas Frage, was es mit besagter Warnung auf sich habe, betont Iwan, dass dies die eigentliche Hauptsache sei, über die der Greis sich aussprechen müsse. Diese „Warnungen und Hinweise“ habe „der furchtbare und kluge Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins“ ausgesprochen, als Jesus in der Wüste fastete. Drei Fragen habe der „schreckliche und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins“ (ebd.) ihm gestellt, Fragen, „die nicht nur der Größe des Ereignisses entsprächen, sondern überdies auch in drei Worten, in nur drei menschlichen Sätzen die ganze zukünftige Geschichte der Welt und der Menschheit ausdrückten“ (Dos 17),

und zugleich drei Bilder gezeigt, „in denen alle unlösbaren historischen Widersprüche der menschlichen Natur auf der ganzen Erde zusammenkommen“ (ebd.).

Entscheide doch selbst, fragt der Großinquisitor rhetorisch, wer recht hatte: Du oder jener, der Dir die drei Fragen vorlegte. Die erste lautete, wenn auch nicht buchstäblich:

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„Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit irgendeinem Versprechen der Freiheit, daß sie in ihrer Einfalt und in ihrer angeborenen Aufsässigkeit nicht einmal begreifen können, vor dem sie sich fürchten und ängstigen; – denn nichts und niemals gab es etwas, was für den Menschen und für die menschliche Gesellschaft unerträglicher gewesen wäre als die Freiheit“ (Dos 17/18)!

Der Freiheit, die Du ihnen einst übereignetest, sind die Menschen nicht gewachsen und lebten darob im Elend. Du selbst hättest das ändern können, hättest Du befolgt, was der Satan, Dir anempfohlen hatte. Die Steine der Wüste hätten in Brot verwandelt werden können, vom Tempel Jerusalems zu springen wäre Dir unbeschadet möglich gewesen, zum Herrn der ganzen Welt hätte Satan Dich gemacht, wenn Du ihn nur angebetet hättest. Verwandle Steine in Brot, und die Menschheit wird Dir nachlaufen. Du aber verschmähtest diesen Vorschlag, und wandtest ein, der Mensch lebt nicht vom Brot allein, aber weißt Du, „daß gerade im Namen eben dieses irdischen Brotes der Geist der Erde gegen Dich aufstehen und mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird. (…). Gib zu essen, dann erst verlange von ihnen Tugend!‘ – das ist es, was man auf das Banner schreiben wird, das man gegen Dich erheben und durch das Dein Tempel einstürzen wird. (…) Gib ihnen zu essen, dann erst verlange von ihnen Tugend“ (Dos 18)?

Jahrhunderte werden vergehen, wirft Ihm der Großinquisitor vor, und die Menschheit verkündet, es gebe keine Sünde, keine Verbrechen nur hungernde Menschen gebe es (ebd.). Deshalb, so der Großinquisitor, werden die Menschen an die Stelle von Jesus Tempel einen zweiten Babylonischen Turm erbauen und deswegen 1000 Jahre leiden. Dann wird die Kirche ihn zu Ende bauen, weil sie den Menschen zu essen gibt, und lügend erzählt, dass es in Deinem Namen sei. Das himmlische Brot, das Du ihnen versprichst, kann sich mit dem irdischen Brot für die plebejische Masse des Menschengeschlechts nicht messen. Deshalb werden wir uns an ihre Spitze stellen und einwilligen, „die Freiheit zu ertragen und über sie zu herrschen – so furchtbar wird es ihnen am Ende werden, frei zu sein! Aber wir werden sagen, wir seien Dir gehorsam und herrschten in Deinem Namen. Wir werden sie wieder betrügen, denn Dich werden wir nicht mehr zu uns lassen. In diesem Betrug wird dann unser Leiden bestehen, denn wir werden lügen müssen“ (Dos 19).

Das hat die erste Frage in der Wüste bedeutet, Du hast es im Namen der Freiheit verworfen. Hättest Du das Brot erwählt, hättest Du auch die Frage der ganzen Menschheit beantwortet: „Wen anbeten“ (Dos 20). Nichts, so

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der Inquisitor, quält den Menschen mehr als die Freiheit, nicht zu wissen, wen er anbeten soll, und zwar in der Gemeinschaft mit allen zusammen. Deshalb schufen sie sich Götter und um der gemeinsamen Anbetung willen, begannen sie, sich mit dem Schwert selber auszurotten, und so wird es sein bis ans Ende der Welt: „Du kanntest dieses Grundgeheimnis der menschlichen Natur (…), aber Du hast das einzig absolute Banner verworfen, das Dir vorgeschlagen wurde, mit dem Du alle hättest zwingen können, widerspruchslos Dich anzubeten – das Banner des irdischen Brotes, und Du hast es verworfen im Namen der Freiheit und des himmlischen Brotes“ (ebd.).

Du gibst Brot und der Mensch betet Dich an, wenn aber zur gleichen Zeit jemand anders die Gewalt über sein Gewissen gewinnt, dann wird er sogar sein Brot hinwerfen und dem folgen, der sein Gewissen verführt (Dos 20 f.): „Es gibt nichts Verführerischeres für den Menschen als die Freiheit seines Gewissens, aber es gibt auch nichts Quälenderes. (…) Und was hast Du getan? (…) Anstatt Gewalt zu gewinnen über die Freiheit der Menschen, hast Du diese Freiheit vermehrt“ (Dos 21),

fährt der Großinquisitor fort. Aus freier Liebe sollten die Menschen Dir nachfolgen, „freien Herzens selbst entscheiden, was gut und böse sei, und nur Dein Bild als Richtschnur vor sich haben. (…) Auf diese Weise hast Du ja selbst den Grund gelegt zur Zerstörung Deines Reiches, und so gib niemand anderem mehr die Schuld daran. Aber war es denn dies, was Dir vorgeschlagen wurde?“ (ebd.).

Drei Kräfte gibt es einzig und allein auf Erden, insistiert der Inquisitor, die auf ewig das Gewissen der schwachen Menschheit besiegen und fesseln: „Wunder, Geheimnis und Autorität“ – und alle drei hast Du verworfen (Dos 22). Weiter sagte der schreckliche und hochweise Geist, als er Dich auf die Zinne des Tempels stellte: „Wenn Du erkennen willst, ob Du Gottes Sohn bist, so stürze Dich hinab“, denn geschrieben steht, dass Engel Dich auffangen und Du nicht zerschmettert wirst, lehntest Du ab „stolz und großartig“ als Gott ab – aber sind die Menschen etwa Götter (ebd.)? Ist denn, fragt der Greis weiter, die Natur des Menschen so beschaffen, dass er das Wunder ablehnt, konntest Du hoffen, der Mensch werde in Deiner Nachfolge bei Gott bleiben,

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„ohne des Wunders zu bedürfen. Aber Du wußtest nicht, daß der Mensch, sobald er das Wunder ablehnt, sofort auch Gott ablehnt, denn der Mensch sucht nicht so sehr Gott als vielmehr Wunder“ (Dos 22/23).

Da der Mensch nicht die Kraft hat, ohne Wunder auszukommen, wird er sich seine eigenen bei Zauberern und Hexen suchen, „mag er auch hundertmal ein Aufrührer, Häretiker und Gottloser sein“ (Dos 23). Selbst vom Kreuz bist Du nicht herabgestiegen, weil Du „den Menschen nicht durch ein Wunder knechten wolltest. Du dürstetest nach freier Liebe: „Aber auch hier hast Du über die Menschen zu hoch geurteilt, denn natürlich sind sie Sklaven, mögen sie auch als Aufrührer geschaffen sein. (…) Indem Du ihn so hoch geachtet hast, hast Du gehandelt, als hättest Du aufgehört mit ihm Mitleid zu haben (ebd.).(…) Also Unruhe, Verwirrung und Unglück – das ist das jetzige Los der Menschen, nachdem Du so viel erduldet hast für ihre Freiheit“ (Dos 24).

Nach ihrem Gewissen zu leben, wir fassen hier zusammen, hielten nur wenige Auserwählte aus (s. Dos 24). „Bist Du etwa wirklich nur zu den Auserwählten und um der Auserwählten willen gekommen?“ – Dann, so der Greis, liegt darin ein Geheimnis, das wir nicht verstehen können. Wenn es aber ein Geheimnis ist, waren wir im Recht, dieses Geheimnis zu predigen und zu lehren, „daß nicht die freie Entscheidung ihrer Herzen wichtig ist und nicht die Liebe, sondern das Geheimnis, dem sie blind gehorchen müssen, sogar gegen ihr Gewissen. Das haben wir denn auch getan“ (ebd.).

„Wir haben Deine Tat verbessert und sie auf das Wunder, das Geheimnis und die Autorität gegründet“ (Dos 24409). Und, fährt der Inquisitor fort, die Menschen freuten sich, dass sie geführt wurden und die schreckliche Qual der Entscheidung von ihnen genommen war (ebd.). Sogar die Sünde erlaubten wir, wenn sie nur mit unserer Erlaubnis geschah. Vielleicht – was sollte ich vor Dir verbergen – willst Du unser Geheimnis aus meinem Munde hören, so höre: „Wir sind nicht mit Dir, sondern mit ihm, das ist unser Geheimnis! Lange schon sind wir nicht mehr mit Dir, sondern mit ihm, schon acht Jahrhunderte lang. Es ist genau acht Jahrhunderte her, daß wir von ihm das nahmen, was

409 Herv. im Original.

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

Du mit Unwillen zurückgewiesen hast, jene letzte Gabe, die er Dir anbot, nachdem er Dir alle Reiche der Welt gezeigt hatte“ (Dos 25410).411

Hättest Du den dritten Rat des mächtigen Geistes angenommen, fährt der Großinquisitor fort, hättest Du alles erfüllt, was der Mensch auf Erden braucht: „wen er anbeten soll, wem er sein Gewissen anvertrauen soll und auf welche Weise sich schließlich alle zu einem unbestreitbaren allgemeinen und einträchtigen Ameisenhaufen vereinigen können, denn das Bedürfnis nach universaler Vereinigung ist die dritte und letzte Qual der Menschen“ (ebd.).

Immer hat die Menschheit erstrebt, sich universal einzurichten, und hättest Du die Welt und den Purpur des Kaisers angenommen, hättest Du das universale Reich gegründet (Dos 25 f.). So aber nahmen wir das Schwert des Kaisers, indem wir Dich verwarfen und ihm gefolgt sind, enthüllt der greise Inquisitor.412 Aber noch ist das Werk nicht vollendet, Jahrhunderte des Aufruhrs des freien Geistes werden noch vergehen, aber dann wird für die Menschen das Reich der Ruhe und des Glücks anbrechen – für alle, nicht nur für Deine Auserwählten. Wir werden sie überzeugen, dass sie wirklich frei nur sind, wenn sie ihrer Freiheit zu unseren Gunsten entsagen (s. Dos 26): ‚„Ja, ihr hattet recht, ihr allein besaßet Sein Geheimnis, und wir kehren zu euch zurück, rettet uns vor uns selbst“ (Dos 27).

Wenn sie von uns Brot erhalten, werden sie sehen, dass wir ihnen das Brot ihrer eigenen Hände Arbeit wegnehmen, um es wieder an sie auszuteilen – „ohne jedes Wunder“ – und sie werden froh sein, dass sie es aus unseren Händen bekommen, denn früher wurde das Brot in ihren Händen zu Stein, dass aber, das Stein wieder zu Brot wurde, als sie zu uns zurückkehrten:

410 Herv. im Original. 411 Siehe (Dos 86 f.); s. Motschenbacher (2000, S. 325). Da die Legende Mitte des 16. Jahrhunderts datiert, beziehe sich Dostojewskij „offenkundig“ auf die Pippinische Schenkung des Jahres 755/56. Mit ihr übergab der Vater Karls des Großen dem Papst die weltliche Herrschaft über Rom und Teile des späteren Kirchenstaates. Der Großinquisitor erläutert den Sündenfall der Kirche: „Wir nahmen von ihm (dem Satan, w.a.m.) Rom und das Schwert des Kaisers und erklärten, daß wir allein die Herren der Welt seien, die einzigen Herren der Welt (…)“ (Dostojewskij/Müller 1985, S. 25). 412 Herv. im Original.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

„Zu sehr, zu sehr werden sie zu schätzen wissen, was es heißt, sich ein für allemal unterzuordnen! Und solange die Menschen dies nicht begriffen haben, werden sie unglücklich sein“ (ebd.).

Sag, fordert der Inquisitor rhetorisch, wer hat die Herde versprengt? Aber die zerstreute Herde wird sich wieder sammeln, sich von neuem unterwerfen ein für allemal, und wir werden ihnen ein stilles, demütiges Glück geben. Du hast sie erhöht, wir werden beweisen, dass wir nur bemitleidenswerte Kinder sind, dass aber das Kinderglück süßer ist als jedes andere Glück“ (ebd.). „Oh wir werden ihnen auch die Sünde gestatten“, werden ihnen sagen, „daß jede Sünde gesühnt werden könne, wenn sie mit unserer Erlaubnis begangen ist“ (…), „die Strafe aber für diese Sünden, werden wir sagen, nehmen wir auf uns“ (Dos 28).

Und alle werden glücklich sein, nur wir, die wir das Geheimnis bewahren, werden unglücklich sein, „die den Fluch der Erkenntnis von Gut und Böse auf sich genommen haben“; still werden die Menschen sterben „und jenseits des Grabes nur den Tod finden. Aber wir werden das Geheimnis bewahren, und um ihres eigenen Glückes willen werden wir sie mit himmlischer und ewiger Belohnung locken“ (Dos 28/29).

Wir aber, so der Inquisitor, die wir ihre Sünden um ihres Glückes willen auf uns genommen haben – man sagt, Du kommst wieder – werden vor Dich hintreten und sagen: „‚Richte uns, wenn Du es kannst und wagst‘. Wisse, daß ich Dich nicht fürchte“ (Dos 29). Wisse, auch ich gehörte einst zu den Jüngern deiner Botschaft, kam aber zur Besinnung, habe dem Wahnsinn nicht mehr dienen wollen, „bin fortgegangen von Stolzen und umgekehrt zu den Demütigen um des Glückes dieser Demütigen willen“ (ebd.).

Was ich Dir sage, wird in Erfüllung gehen, und unser Reich wird erbaut werden. Morgen wirst Du die gehorsame Herde sehen, droht der Großinquisitor, die auf einen Wink von mir die Kohlen zu Deinem Scheiterhaufen trägt, auf dem ich Dich verbrennen werde: „Denn wenn es jemanden gegeben hat, der unseren Scheiterhaufen mehr verdient hat als alle anderen, dann bist Du das. Morgen werde ich Dich verbrennen. Dixi (ebd.)!413

413 „Dixi“, „Ich habe gesprochen“, bekräftigt noch einmal den westlichen, römischen Charakter des Großinquisitors (Dos 99 FN 29, 34.).

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

Als der Inquisitor verstummt, wartet er einige Zeit auf Antwort. Aber Er schweigt, und das Schweigen bedrückt den Großinquisitor, der wahrgenommen hatte, dass Er ihn die ganze Zweit schweigend zugehört und in die Augen geblickt hatte. Immer noch wartet der Greis auf Antwort. Aber Er nähert sich plötzlich schweigend dem Greis und küsst ihn sanft auf seine blutleeren Lippen. Das ist die ganze Antwort. Dabei hat sich etwas gerührt an den Mundwinkeln des Greises. Dieser geht zur Tür, öffnet sie uns spricht: „Geh und komm nicht wieder … komm überhaupt nicht mehr wieder … niemals, niemals“, (Dos 33).

Und er lässt ihn hinaus auf die dunklen Plätze der Stadt. Der Gefangene geht. 2. Der Katholizismus des Carl Schmitt. 2.1. Der Katholik. Helmut Quaritsch erklärt die „entschiedene Katholizität des jungen Carl Schmitt“ als unbestreitbar414, auch wenn sich diese „gewiß nicht im Rahmen der sonntäglichen Predigt, bischöflicher Hirtenbriefe und den Verlautbarungen der Zentrumspartei“ bewegte, weil er Schmitt „zur intellektuellen Garde des katholischen Renouveau“ zählte, zudem von den Schriften eines Donoso Cortés und Léon Bloy fasziniert war 415. Schmitts geistige Habe wie auch sein Habitus416 erfuhren eine altsprachliche und humanistische Prägung, „er hatte Weisheit und Poesie der Antike ungefiltert aufgenommen“417. Hinzu kam eine kritische, aber nicht religiös filtrierte Vertrautheit mit der europäischen Kultur der Neuzeit – im Ergebnis unterschied sich Schmitts Vorbildung von jener der meisten katholischen Theologen. An dem gezeichneten Idealtypus seiner Katholizismus-Schrift

414 Quaritsch (1991 (S. 25). 415 Ebd. (S. 26.) 416 „Habitus“ ist hier – in Abgrenzung zum bloßen Begriff der „Gewohnheit“ – als soziologischer Begriff i.S. Pierre Bourdieus zu verstehen (siehe nur Schwingel 1998, S. 53-75). 417 Quaritsch (1991, S. 27.)

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

konnte sich der Katholizismus in der Zeit Weimars418 schwerlich messen:419 „Schmitts (stumme) Enttäuschung und Kritik an dieser Wirklichkeit berührten indes niemals sein Bekenntnis zu Glaube und Dogma. Für den Katholiken aber sind Glaube und Dogma untrennbar mit Kirche und Klerus verbunden; (…).“420

So fasst denn auch Günter Maschke prägnant zusammen, dass der Katholizismus Schmitts sich aus drei Quellen speiste: „der gegenrevolutionären politischen Philosophie von Joseph de Maistre, Louis de Bonald und Juan Donoso Cortés; aus der anti-liberalen Polemik von Papst Pius IX, und dessen ‚Syllabus‘ von 1864, der eine langdauernde Tradition begründete; schließlich aus dem französischen und deutschen Renoveau catholique nach der Jahrhundertwende“.421

Hinzutrete seine scharfe Kritik der Moderne422, die sich durch die Begriffe der Säkularisierung, der Selbstinthronisation des Menschen, die Leugnung des Sündenfalls und die Ansicht des Liberalismus, der Mensch sei „gut“, zumindest aber perfektibel, auszeichnet.423 Im Ergebnis kommt Maschke zu der Ansicht, dass allen politischen und politiktheoretischen Schriften Schmitts theologische Überlegungen über- und vorgeordnet sind, und zwar nicht nur im Sinne einer Analogie.424 Carl Schmitt hatte zudem ein „tieferes, weitergehendes Verhältnis zur Kirche“, so Mathias Eichhorn, „m.a.W. er war auf seine Weise ein frommer Mann gewesen“.425 Genügt dafür die Schmitt zugeschriebene Marienverehrung, in der sich die katholische Frömmigkeit vornehmlich zeigt?426 Prüft man seine Marienverehrung – ohne ihm diese als eine religiöse abzusprechen – auf ihren politischen Gehalt, ist zu bedenken, dass in der Toskana die Mutter Gottes auch als politisches Symbol für pax et concordia

418 419 420 421 422 423 424 425 426

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Siehe dazu Lönne (1994.) Vgl. Quaritsch (1991, S. 26 f.) Quaritsch (1991, S. 28.) Maschke (2012, S. 156). Wir haben sie vornehmlich anhand Schmitts Arbeit Das Nordlicht dargestellt. Siehe Maschke (2012, S. 156). Ebd. S. 156 f. Eichhorn (1994, S. 82 f.). Schmitt habe immer wieder seine Studenten in sein Heim eingeladen, wo er sie großzügig bewirtete und diese Gesellschaft sei nie auseinandergegangen, ohne ein Marienlied zu singen – meist „Meerstern ich dich grüße“ (siehe Eichhorn 1994, S. 83; vgl. Motschenbacher 2000, S. 361).

III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

dargestellt wird.427 Und in der Katholizismus-Schrift fragt Schmitt – die „wunderbare Verbindung des Patriarchalischen mit dem Matriarchalischen“ (…) den „Respekt vor dem Vater und der Liebe zur Mutter“ bewundernd – rhetorisch: „(…) gibt es eine Rebellion gegen die Mutter“ (RK 13)? Mit Mehring u.a. gehen wir im Ergebnis davon aus, dass Schmitt „ein religiöser Mensch“ war, aber kein „treuer Sohn der Kirche“, der sonntäglich die Messe besuchte und der sich überdies „das Recht souveräner Definition seines Christentums“ herausnahm.428 2.2. Carl Schmitt, Donoso Cortez und die spanische Inquisition. Dass Carl Schmitt sich auch auf Donoso Cortés berufen hat, haben wir bereits erfahren. Aber was bedeutet es genau, wenn Schmitt in der Politischen Theologie diesem Gegenrevolutionär „die selbstbewußte Größe eines geistigen Nachfahrens von Großinquisitoren“ (PT 62) bescheinigt? Die Formulierung steht textlich in Zusammenhang mit dem lutherischen Dogma von der natürlichen Bosheit des Menschen und seiner Lehre, dass der Mensch sich jeder Obrigkeit zu beugen habe.429 Hernàndez-Arias hält – was Donoso betrifft – zwei Deutungen für möglich. Die erste stellt auf die spanische Inquisition als geschichtlich einmalige politisch-theologische Institution und die politische wie geistige Bedeutung ihrer Großinquisitoren in der Geschichte Spaniens ab430, eine These, die Hernàndez-Arias für „viel überzeugender“ hält.431 Denn das Ziel der Inquisition, die Häresien radikal auszumerzen, sei erfolgreich gewesen: Spanien kannte keine konfessionellen Bürgerkriege und konnte seine – auf religiösem Prinzip fußende – Einheit erhalten432 – auch weil für die Großinquisitoren theologische Fragen immer auch politische waren. In dieser Tradition stehend, war Donoso für Schmitt ein geistiger Nachfahre von Großinquisitoren.433

427 428 429 430 431

Münkler (1987, S. 92 ff.). Mehring (2009, S. 96). Vgl. hier das Kapitel Politische Theologie. Vgl. Hernàndez-Arias (1998, S. 224/225). Ebd. S. 226 Die andere Auslegung stützt sich auf die Legende oder das Poem Der Großinquisitor von Dostojewskij (ebd). 432 „(…) um welchen Preis ist eine andere Geschichte“ (Hernàndez-Arias 1998, S. 228). 433 Ebd.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

Und Carl Schmitt, war er selbst ein geistiger Nachfahre von Großinquisitoren, bzw. dachte er als ein solcher? „Vieles deutet darauf hin“, erläutert Mathias Eichhorn, Jacob Taubes zustimmend, man müsse in Schmitt weniger einen gläubigen Christenmenschen als vielmehr einen Großinquisitor sehen.434 „Schon früh hatte ich in Carl Schmitt eine Inkarnation des Dostojewskischen ‚Großinquisitors‘ vermutet. In der Tat in einem stürmischen Gespräch in Plettenberg 1980 sagte mir Carl Schmitt, wer nicht einsehe, daß der ‚Großinquisitor‘ schlechthin Recht hat gegenüber all den schwärmerischen Zügen einer jesuanischen Frömmigkeit, der habe weder kapiert, was Kirche heißt noch was Dostojewski – gegen seine eigene Gesinnung – ‚durch die Gewalt der Problemstellung gezwungen, eigentlich vermittelt‘ habe“.435

Insbesondere die Schlussworte des Großinquisitors bei der Freilassung Jesus werden für Schmitt bedeutsam gewesen sein – „Geh und komme nie wieder (…) komme überhaupt nicht mehr … nie wieder, nie wieder!“436 – verweisen sie uns doch auf ein weiteres, wichtiges Element seiner Religiosität: den Katechon. Aber auch der Großinquisitor ist keine monolithische Figur, lässt er doch Jesus ohne weitere Begründung fliehen, und auch seine Abschiedsworte, „komme niemals wieder“, sind wohl mehr hoffender Erwartung denn kategorischer Sicherheit geschuldet. So sieht Eichhorn den Großinquisitor „nicht ohne Humanität“ – „die complexio oppositorum hat am Ende auch Platz für ihn“.437 Einfacher ausgedrückt: Die katholische Kirche bietet auch Platz für Großinquisitoren. 2.3. Der Großinquisitor in den Schriften Carl Schmitts. Schmitt setzt die Figur des Großinquisitors vor allem in Beziehung zur Macht der Institution „Kirche“. In seiner Katholizismus-Schrift greift er an zwei wichtigen Stellen auf diese Figur zurück. Erstens, weil sich der „antirömische Affekt“ im 19. Jahrhundert mit Dostojewskijs kurzem Poem

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Eichhorn (1994, S. 83); siehe oben Taubes (1987, S. 15). Taubes (1987, S. 15). Dostojewskij (1985, S. 33.) Eichhorn (1994, S. 83 f.)

III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

nochmals zu einer „säkularen Größe“ erhoben habe.438 Und zum Zweiten, wandelt er die Figur des Großinquisitors „in ein affirmatives Symbol für den kirchlichen Willen zur Weltherrschaft“:439 „Dostojewskis Großinquisitor bekennt, den Versuchungen des Satans gefolgt zu sein, in vollem Bewußtsein, weil er weiß, daß der Mensch von Natur aus böse und niedrig ist, ein feiger Rebell, der seines Herrn bedarf, und weil nur ein römischer Priester den Mut findet, die ganze Verdammnis auf sich zu nehmen, die zu solcher Macht gehört“ (RK 54).

Da Schmitt die Legende vom Großinquisitor immer wieder argumentativ heranzieht, ist zu fragen, wie Schmitt sie – vermutlich – interpretierte und wo er seine Ansichten durch sie bestätigt sah, oder auch nicht. So attestiert Schmitt Dostojewskij einen „anarchistischen – und das ist immer atheistischen – Instinkt“, der ihn in „jeder Macht etwas Böses und Unmenschliches“ sehen lässt (RK 54). Zwar konzediert er, dass jede Macht die Versuchung zum Bösen in sich berge, doch wäre es „die schlimmste Unmenschlichkeit“, jeder irdischen Macht abzuschwören (ebd.), sei doch der Römische Katholizismus in der Lage, Notwendigkeit „wie auch Gefahr der Macht zu erkennen und mit seinem Prinzip der Repräsentation zu erfassen (…)“440. Wer derart „Dostojewskis gestaltlose Weite als wahres Christentum“ ansehe, könne nicht einmal erkennen, „wie unchristlich die Vorstellung ist, daß Christus zwischen seinem Erdendasein und seiner glorreichen Wiederkunft am jüngsten Tage noch ein oder mehrere Male, sozusagen experimentierend, unter den Menschen erscheinen könne“ (RK 55).

Übereinstimmung hingegen besteht unstrittig in der Auffassung einer – in der Erbsündenlehre wurzelnden – pessimistischen Anthropologie des Menschen, die die Notwendigkeit von Herrschaft begründet. Diese Herrschaftstheorie wird durch die Elemente der „Autorität“ und des „Wunders“ komplettiert.441 Schmitt hatte schon in Der Wert des Staates das ius divinum im Kirchenrecht ob seiner eindeutigen Bestimmtheit als ein höchst probates Mittel bewertet, den Menschen Klarheit und Sicherheit für seine Entscheidungen zu geben. Seine Begründung:

438 „Nur bei einem russischen Orthodoxen, bei Dostojewski, erhebt sich das anti-römische Entsetzen noch einmal zu der säkularen Größe seiner Schilderung des Großinquisitors“ (RK 5/6). 439 Scholz (1983, S. 159.) 440 Motschenbacher (2000, S. 331). 441 Siehe ebd. S. 331.

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„Wenn nämlich einmal Rücksicht genommen wird auf den Menschen und seine Leiblichkeit, dann muß auch berücksichtigt werden, daß diese Schwachen vor allem wissen müssen und wissen wollen, woran sie sind“ (WdS 82).442

Wie gesehen, finden wir das Motiv der an ihrer Freiheit verzweifelnden, schwachen Menschen, die mit der Aufgabe moralisch zwischen Gut und Böse zu entscheiden, überfordert sind, und die ihre Freiheit zurückgeben würden, wenn sie nur wüssten, woran sie sind, auch an mehreren Stellen im Großinquisitor.443 2.4. Die drei Fragen des Versuchers. Mit den drei Fragen des Versuchers Jesu in der Wüste lassen sich nach Motschenbacher die Hauptpunkte der Politischen Theologie Schmitts bezeichnen.444 Abgelehnt werden Lehren, die sich materialistisch allein auf die Versprechungen „irdischen Brotes“ stützen, sei dies die kapitalistisch-liberalistische oder die marxistische-sozialistische Theorie. Der Weg materialistischer Versprechungen allein ist ein unzureichender Ansatz für die Begründung von Herrschaft über Menschen. Für den Großinquisitor wie auch Schmitt gilt, dass für diese Herrschaft das Gewissen des Menschen nicht außer Acht bleiben darf, was heißt, dass neben dem äußerlichen auch ein innerer Gehorsam erreicht werden muss. Diese Einheit kann nur erreicht werden, wenn Religion und Politik bzw. Staat in einer Hand vereinigt sind. Dies abgelehnt zu haben – „Hättest Du die Welt und den Purpur des Kaisers angenommen, so hättest Du das universale Reich gegründet (…) (Dos 26) – wirft der Inquisitor Jesus vor. So aber musste die Kirche Rom und das Schwert des Kaisers annehmen. Schmitt, voll und ganz „Römer“, lobt die Vereinigung der Kirche mit der Idee Roms schon in seiner Katholizismus-Schrift, der „orthodoxe“ Dostojewskij verurteilt den Abfall der Westkirche von ihrem Stifter.

442 Vgl. dazu Habisch (1994, S. 109 f.); siehe Motschenbacher (2000, S. 331). 443 „Statt sich nach einem festen alten Gesetz zu richten, mußte nun der Mensch mit freiem Herzen selbst entscheiden, was gut und was böse ist, und hatte bei der Wahl nur Dich zum Vorbilde“, dann ist dies eigentlich auch „das Glaubensbekenntnis von Dostojewskij selbst“ (Nikolai Berdjajew, hier zitiert nach Motschenbacher 2000, S. 324). 444 Motschenbacher (2000, S. 332; nachst. s ebd.).

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Den Liberalismus wie den Marxismus bekämpft Schmitt, weil sie eine Welt ohne Repräsentation anstreben und Politik wie das ganze Leben auf rein technische und materielle Fragen beschränken wollen. Für noch gefährlicher freilich hält Schmitt bekanntlich den Anarchismus in der Person Bakunins.445 Zentral ist zudem, dass die geforderte Autorität sich nicht auf rein äußerlichen Gehorsam beschränkt, sondern suchen muss, auch die Seele des Menschen zu dominieren. Was die geforderte Einheit von Staat und Kirche, von Religion und Politik voraussetzt. Insoweit steht Schmitt näher bei der Person des Großinquisitors als bei Jesus.446 Parallelen finden sich bei Dostojewskij und Schmitt bei ihrer Behandlung des Freimaurertums. Iwan spricht: Ihm scheine, die Katholiken hassten das Freimaurertum so, weil sie etwas Ähnliches wie das Geheimnis der Kirche besäßen, „weil sie in ihnen Konkurrenten sehen, eine Zersplitterung der Einheit der Idee, während es doch eine Herde und ein Hirt sein soll“ (Dos 32).

Und Schmitt benennt die Freimaurer in Römischer Katholizismus als den letzten europäischen Gegner der Kirche von Bedeutung (RK 59), und eine Seite vorher lässt sich Schmitt über Geheimnisse und Arcana aus (RK 58), die dem greisen Großinquisitor neben dem Wunder als Mittel dienen, die Herrschaft über die Menschen zu stärken, die ja wiederum für das Glück der Menschen nötig ist, wie wir in Iwans Erzählung erfahren haben. Insoweit hat die Religion bei Schmitt eine dem Staat dienende Funktion.447 2.5. Apokalyptische Geschichtsphilosophie: der Katechon. Der Begriff und die Funktion des Katechons448 sind für die Geschichtsphilosophie Carl Schmitts von weit größerer Bedeutung als für die katholische Glaubenslehre selbst. Er sieht den Katechon als den unabdingbaren Grund einer kirchlichen Geschichtsphilosophie. Für Motschenbacher tritt an die Stelle des Reichsgedankens bei Schmitt der Katechon, den er ab 1942 immer wieder thematisiert.449 Damit würde diese Thematik außer445 Siehe hier das Kapitel Politische Theologie. 446 Zu einer tiefer gehenden theologischen Deutung s. Motschenbacher (2000, S. 332 f.). 447 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 333 f.). 448 Grundlegend Meuter (1994). 449 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 187).

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halb unseres Betrachtungszeitraums liegen. Allerdings datiert Schmitt selbst seine Theorie des Katechons bereits auf das Jahr 1932 (GL 80).450 Da diese Theorie im Zeitlauf gewachsen ist, sich nicht als plötzliche Eingebung einfand und zudem wichtige Blicke auf Schmitts Weltbetrachtung freilegt, rechtfertigt ihre Bedeutung – für den Katholiken Schmitt wie für dessen Interpreten – die Behandlung dieser Thematik. 2.5.1. Der theologische Hintergrund. Theologischer Hintergrund der Rede vom Katechon ist der zweite Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher (2 Thess 2,1-12), insbesondere (2 Thess 2, 5-7). Paulus warnt vor dem und wendet sich gegen den Glauben der urchristlichen Thessalonicher, dass das Jüngste Gericht bzw. die Apokalypse – „der Tag an dem der Herr kommt“ – unmittelbar bevorstehe. Denn erst müsse der Abfall von Gott kommen und der „Mensch der Gesetzwidrigkeit“ bzw. der „Sohn des Verderbens“ erscheinen, wenn die Zeit, die der Christ jedoch nicht kennt, reif ist. Zwar sei „die Macht der Gesetzwidrigkeit“ bereits am Werk, der Antichrist aber könne erst auftreten, wenn der Katechon, der Aufhalter, nicht mehr existiert:451 „5Erinnert ihr euch nicht, dass ich dies schon gesagt habe als ich bei euch war? 6Ihr wisst auch, was ihn jetzt noch zurückhält, damit er erst zur festgelegten Zeit offenbar wird.7 Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk; nur muss erst der beseitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält“ (2 Thess 2,5-7; Herv. w.a.m.).452

Dieses katechontische Denken bringt den Christen in eine durchaus paradoxe Lage. Denn einerseits ersehnt er die Wiederkunft des Herren, den Jüngsten Tag mit der erhofften Erlösung. Dem steht aber der Katechon im Wege, der ihn andererseits vor dem Bösen im Chaos der Endzeit bewahrt 453, das er bekämpfen soll, wissend, dass dessen vorläufiger Sieg

450 Ebd. 451 Vgl. zum theologischen Komplex und zur historischen Entwicklung von Begriff und Bedeutung Motschenbacher (2000, S. 188-205). 452 Bibleserver.com (Einheitsübersetzung). 453 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 205).

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und die folgende ewige Verstoßung des Bösen bereits feststehen und trotzdem Voraussetzung für die Erlösung bleiben.454 Auch die Kirche muss sich dieser Paradoxie in dreifacher Weise stellen. Sie muss den Glauben an den Jüngsten Tag bestärken, ohne eine apokalyptische Massenhysterie zu befördern und sie muss das Ausbleiben der Parusie mit ihrem Gnadengehalt erklären: „Die Antwort (…) ist die Institutionalisierung der christlichen Religion als Kirche“.455 2.5.2. Das katechontische Geschichtsdenken Carl Schmitts. Schon mit der frühen Kirche rückte der Aspekt der Verhinderung der Endzeitwirrnisse durch das Auftreten des Antichristen zunehmend in den Vordergrund. Deshalb lag es nahe, die katechontische Kraft im Römischen Reich zu sehen.456 Erst das Beten um Aufschub der Apokalypse ermöglicht überhaupt eine christliche Geschichte, wie Schmitt anmahnt: „Die lebendige Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Endes scheint aller Geschichte ihren Sinn zu nehmen und bewirkt eine eschatologische Lähmung“ (DShS 929).

Diese Lähmung aber kann überbrückt werden, obwohl die Frage, ob eschatologischer Glaube und Geschichtsbewusstsein miteinander möglich sind, meist verneint wird: „Die Brücke liegt in der Vorstellung einer Kraft, die das Ende aufhält und den Bösen niederhält. Das ist der Katechon der geheimnisvollen Paulus-Stelle des 2. Thessalonicher-Briefes“ (DShS 929).

454 Vgl. die schöne Zusammenfassung: „Katechon“ in wikipedia.org. Siehe das letzte Buch der Bibel „Die Offenbarung des Johannes“. 455 Adam (1992, S. 9). 456 „Wir wissen, daß die gewaltige Katastrophe, die dem Erdkreis droht, daß das Ende der Welt, das entsetzliche Leiden heraufbeschwört, nur durch die dem römischen Reich gewährte Frist aufgehalten wird. Daher wollen wir dies nicht erleben, und indem wir um Aufschub beten, tragen wir zum Fortbestand Roms bei“ (Tertullian: Apologeticum 32, 1, hier zitiert nach Motschenbacher (2000, S. 205). Tertullian (150 – 220 n.Chr.) war ein früher christlicher Schriftsteller, der als erster auf Lateinisch schrieb. Ob er gegen Ende seines Lebens zu den Montanisten konvertierte, ist umstritten.

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Gegen Nietzsches zyklisches Geschichtsbild einer ewigen Wiederkehr setzt Schmitt sein christliches Geschichtsdenken mit seiner linearen Zeitvorstellung. Er sieht sich mit Karl Löwith457 in der Auffassung einig, „daß das Heidentum keines geschichtlichen Denkens fähig ist, weil es kyklisch (gemeint wohl „zyklisch“, w.a.m.) denkt. In den Kreisläufen einer ewigen Wiederkehr verliert das Geschichtliche seinen spezifischen Sinn“(DShS 928).

Die Christenheit selbst ist für Schmitt „ein geschichtliches Ereignis von unendlicher, unbesitzbarer, unokkupierbarer Einmaligkeit. Es ist die Inkarnation in der Jungfrau“ (DShS 930). Carl Schmitts Geschichtsdenken ist durchwirkt von christlicher Eschatologie und Linearität und somit von einem langen Interim zwischen der Geburt Jesus und seiner Wiederkehr zum Jüngsten Gericht. Da diese Dauer ungewiss und nicht bestimmbar ist, stellt sich die Frage nach einem „Aufhalter“ bzw. „Verzögerer“, andererseits auch nach einem möglichen „Beschleuniger“.458 Da der apokalyptisch denkende Carl Schmitt das Chaos des Weltenendes als Drohung ansah, rückte für ihn die Frage nach dem Katechon in den Vordergrund, der das Erscheinen dieses endzeitlichen Feindes aufhalten kann.459 So steht gegen das Erscheinen des Antichrist, der auch das alles entscheidende Politische auflösen und somit Staat und Autorität auslöschen will, nur noch der Katechon. Das hat mit der Weltsicht der Urchristen vermutlich wenig gemein, wie Motschenbacher gegen Schmitt opponiert. Und es mag – theologisch gedacht – auch angehen, dass für die um ihr Auserwähltsein Wissenden, die ihr Heil nicht von dieser Welt erwarten, alle irdischen Ordnungen relativiert sind.460 Obwohl wir zu beachten haben, dass der Mensch gleichwohl in eine bestimmte weltliche Ordnung hineingeboren wird und im Laufe seines irdischen Daseins möglicherweise gute wie schlechte Ordnungen zu erleben hat, wird er trotz seiner Heilserwartung höchstwahrscheinlich eine gute Ordnung bevorzugen – eine Haltung, die Carl Schmitt nicht teilen kann. Selbstverständlich nicht, möchte man hinzufügen, denn Schmitt war in erster Linie Staatsrechtswissenschaftler und ein primäres Interesse zielte darauf, „daß

457 Löwith (1953). 458 Motschenbacher (2000, S. 208). Die Verleihung der Kaiserwürde durch den Papst an ein Königtum begreift er so als einen katechontischen Auftrag für einen Christen, den Antichrist mit weltlich-militärischen Mitteln aufzuhalten (ebd.). 459 Eichhorn (2000, S. 222.) 460 So Motschenbacher (2000, S. 222.)

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[die Partei]461, das Chaos nicht nach oben kommt, daß Staat bleibt. Um welchen Preis auch immer“.462 Taubes zeigt für diese Haltung Verständnis, weil für den Juristen gelte: „solange auch nur eine juristische Form gefunden werden kann, mit welcher Spitzfindigkeit auch immer, ist es unbedingt zu tun, denn sonst regiert das Chaos. Das ist es, was er später das Katechon nennt: Der Aufhalter, der das Chaos, das von unten drängt, niederhält“.463

Eigentlich müsste man den Katechon in den Plural setzen, denn so Schmitt: „Man muß für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den katechon nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden“ (G 63).

2.5.3. Antichrist und Apokalyptik. Die Figur des Antichristus dient Schmitt schon in Däublers Nordlicht und in der Katholizismus-Schrift zur Charakterisierung der Gegenwart. Später findet er ihn – „Der Geist der Technizität (…) ist Geist, vielleicht böser und teuflischer Geist“ (BP 93) – in seiner Schrift Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen – und er sieht ihn hinter dem absoluten Rationalismus, dem radikal-kapitalistischen, den Staat negierenden, Ökonomismus und hinter allen mechanisch-technizistischen Theorien, die nur der Vollendung der Säkularisierung dienen. Am entschiedensten aber

461 Motschenbacher (2000, S. 223) lässt in der teilweisen Wiedergabe dieses Zitats von Jacob Taubes, auf den er sich argumentierend bezieht „die Partei“ – gemeint sind primär die NSDAP und wohl auch die KPD – unter den Tisch fallen. Diese Auslassung ist jedoch u.a. wichtig für die Bewertung der Rolle, die Schmitt in der Endphase Weimars eingenommen hat. Taubes führt vor dem obigen Zitat aus: „Aber ich kann Ihnen nur sagen, wenn wir jetzt zum Politischen kommen, daß Schmitt 32 gewarnt hat. Er wollte die Kommunisten und die Nazis ausschließen und ein Präsidialregime für vier Jahre, nach dem § 48 usw. durchhalten, bis diese radikalen Kräfte, die die Republik unterminieren, verschwinden, oder mindestens ins Abseits geraten. Wissen Sie, also, wenn ich zwischen Demokratie und der Regierung mit dem § 48 um die Nazis zu verhindern zu wählen hätte, da wär ich mir nicht im Zweifel gewesen“ (Taubes 1987, S. 72). 462 Taubes (1987, S. 72; Herv. w.a.m.). 463 Ebd. S. 72/73.

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zeigt sich der Endzeitgegner Gottes im Anarchismus, personifiziert in seinem Hauptvertreter Bakunin.464 2.6. Anthropologisches Glaubensbekenntnis und das Dogma der Erbsünde. Auffallend und zu beachten ist, dass das Gesamtwerk Schmitts – und damit auch diese Darstellung – ein Zwiespalt durchzieht: „Schmitt entscheidet sich nämlich nicht deutlich, ob der Mensch in erster Linie ‚böse‘ oder ‚gefährlich‘ ist. Zwar ist er, wenn er ‚böse‘ ist, auch ‚gefährlich‘, doch der theologische Ansatz könnte dann die Vernichtung des Feindes, als des Vertreters des ‚Bösen‘ nahelegen“.465

Die extrem pessimistische Deutung der Erbsündenlehre übernimmt Schmitt von den Gegenrevolutionären de Maistre, de Bonald und Donoso Cortés wird dann in enge Verbindung zu einer pessimistischen Anthropologie gebracht.466 Wir schicken also voraus und halten fest, dass in Schmitts Schriften die Einschätzung der wahren Natur des Menschen schwankt. 2.6.1. Die Natur des Menschen: böse oder gut? Es war Heinrich Meier, der in seiner Abhandlung Carl Schmitt, Leo Strauss und Der Begriff des Politischen. Zu einem Dialog unter Abwesenden (1988) herausgearbeitet hat, dass das katholische Dogma der Erbsünde ein wesentlicher Bestandteil der politischen Theologie Schmitts ist.467 Die Erbsünde ist für ihn „Dreh- und Angelpunkt des anthropologischen Glaubensbekenntnisses von Carl Schmitt“.468 So macht denn Schmitt gerade die Entwicklungen in der Staatsphilosophie der Gegenrevolutionäre – eine Steigerung der Intensität der Entschei-

464 465 466 467

Siehe hier das Kapitel Politische Theologie. Maschke (2012, S. 160). Siehe hier die Kapitel Politische Theologie und Der Begriff des Politischen. Man dürfe, so Ottmann, im Hintergrund der Anthropologie vermuten, was bisher verdeckt blieb: die Andeutung von Schmitts religiösem Weltbild (Ottmann 2010, S. 247). 468 Siehe (BP 58); vgl. Quaritsch (1991, S. 38) mit weiteren Nachweisen.

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dung und eine Entwicklung von der Legitimität zur Diktatur – an der „steigenden Bedeutung der axiomatischen Thesen über die Natur des Menschen“ (PT 61) fest, die für ihn dichotomisch angelegt ist: „Jede politische Idee nimmt irgendwie Stellung zur ‚Natur‘ des Menschen und setzt voraus, daß er entweder ‚von Natur gut‘ oder ‚von Natur‘ böse ist“ (PT 61).

Daraus entwickelt Schmitt ein anthropologisches Glaubensbekenntnis, wie es am deutlichsten – wir greifen vor – in Der Begriff des Politischen zum Ausdruck kommen wird und in Der Diktatur bereits angestimmt war: „In jeder Argumentation, die den politischen oder staatlichen Absolutismus rechtfertigt, ist die natürliche Bosheit des Menschen ein Axiom, um die staatliche Autorität zu begründen, und so verschieden die theoretischen Interessen von Luther, Hobbes, Bossuet, de Maistre und Stahl (…) sind, dieses Argument tritt bei allen entscheidend hervor“ (DD).

Für die Dichotomie von guter oder böser menschlicher Natur gebe es zwar zahllose Modifikationen und Varianten, entscheidend aber sei, dass politische Theorien ein problematisches oder unproblematisches Wesen des Menschen „als Voraussetzung jeder weiteren politischen Erwägung“ unterstellen und dass sie stillschweigend voraussetzen, der Mensch ist gefährlich und riskant oder harmlos und nichtriskant (BP 59). Schmitt diktiert ausgrenzend, alle echten politischen Theorien setzten den Menschen als „böse“ voraus (BP 61).469 Maßgeblicher Grund für diese These ist das katholische Dogma von der Erbsünde.470 2.6.2. Das Dogma von der Erbsünde. Das Erbsündendogma beruht auf der Annahme von der „natürlichen Bosheit“ des Menschen. Schmitt orientiert sich an der radikalen Auslegung der Erbsündenlehre von Donoso Cortés, dessen Verachtung des Menschen keine Grenzen mehr kenne.471 Cortés steht damit allerdings gegen die

469 Zur Begründung dieser These vgl. hier das Kapitel Der Begriff des Politischen, Kernthese 8. 470 Man dürfe, gibt Ottmann theologischer Interpretation Raum, im Hintergrund der Anthropologie vermuten, was bisher verdeckt blieb: die Andeutung von Schmitts religiösem Weltbild (Ottmann 2010, S. 247). 471 Siehe hier in Politische Theologie den Abschnitt Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution.

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Auffassung des Konzils von Trient (1545-1563), das die Erbsünde durch Christus in der Taufe als vollkommen getilgt sieht. Zudem habe die Kirche „immer wieder und zu allen Zeiten den die Sünde übersteigenden universalen Heilswillen Gottes betont, der bei Carl Schmitt freilich keinen Platz hätte“.472

Motschenbacher weist rückblickend darauf hin, dass Schmitt in dem Essay Das Nordlicht und in dem Aufsatz Die Sichtbarkeit der Kirche von der natürlichen Güte des Menschen gesprochen habe: „Darum ist für die christliche Auffassung die Gesetzmäßigkeit der sichtbaren Welt ebenfalls von Natur gut; die christliche Regelung menschlicher Beziehungen war vor der Bosheit und der Sünde da und ist nicht ihre Folge“ (DSdK 78; Herv. w.a.m.).

Die Vorgängigkeit der Rechtsordnung vor der Sünde habe sich über eine ganze Hierarchie von Mittelbarkeiten institutionalisiert und dann in der juridischen Form der Kirche verfestigt. Endlich würden nur noch die Institutionen als gut angesehen, hingegen der Mensch als „von Natur aus böse“ und in der Erbsünde verharrend. Diese Sichtweise macht Schmitt auch für den Staat geltend. Auch er geht dem Sündenfall vor, ist nicht etwa die Schöpfung sündhafter Menschen und damit selbst ein Ausfluss der Sündhaftigkeit. Im Gegenteil: Da er vor dem Sündenfall bereits existent, „wird er mehr oder minder indirekt zu einer Stiftung göttlichen Willens. Einem Denken, das den Staat solchermaßen sakralisiert, kann die Säkularisierung und der damit verbundene Wandel der Legitimitätsvorstellungen dann nur als Abfall vom rechten Glauben erscheinen“.473

2.6.3. Die Instrumentalisierung der Kirche zum Kampf gegen den Anarchismus. Für Motschenbacher ist Schmitts Verweis auf das Erbsündedogma kein Ausdruck seines Glaubens.474 In seinem Kampf gegen den Anarchismus folge er diesem auf dessen ureigenstes Schlachtfeld: Dem anarchistischen Grundaxiom: der Mensch ist radikal gut, stellt er das radikalisierte Dogma der Erbsünde mit dem Ziel entgegen, die staatliche Autorität zu begrün-

472 Motschenbacher (2000, S. 87). 473 Ebd. 474 Ebd. S. 88.

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den.475 Wenn Motschenbacher insistiert, Schmitts Argumentation mit der Erbsündenlehre sei „rein taktischer Natur“ und besitze „rein instrumentellen Charakter“, oder – wie in der Katholizismus-Schrift – zwar auf die Menschwerdung Christi verweise, zuvörderst aber die zur autoritären Entscheidung fähige, institutionell verfasste Hierarchie der katholischen Kirche bewundere, mag im Grundsatz recht haben. Aber deshalb kann die Anwendung des kirchlichen Instrumentariums zwar taktischer Natur sein und trotzdem Ausdruck des Glaubens, auch wenn die religiöse Seite „arg zurückgedrängt“476 wirkt. Carl Schmitts politische Theologie dient vor allem der Begründung und Aufrechterhaltung von Herrschaft und Ordnung. Sie agiert gegen Bakunins Theoreme der Anarchie, die, setzten sie sich denn durch, den Tod jeder Ordnung und Autorität mit sich brächten. Wie zentral diese Gefahr für Schmitt zu diesem Zeitpunkt ist, zeigt die Entwicklung seines Denkens von der Politischen Romantik über die Politische Theologie zu seiner Katholizismus-Schrift.477 Dafür betätigte Schmitt sich weniger als Theologe, sondern explizierte eine „Ordnungstheologie“478. 2.6.4. Carl Schmitt, der französische Katholizismus, Charles Maurras und die Action française. In Carl Schmitts Politischer Theologie ist eine prioritäre Befassung mit dem französischen Katholizismus auffällig. Nicht zu Unrecht wird deshalb gefragt, durch welchen Katholizismus Schmitt geprägt ist.479 Für den – von Schmitt bevorzugten – französischen Katholizismus dieser Zeit spricht, dass dieser sich mit dem Liberalismus, der nach den Revolutionen von 1789 und 1848 bestimmend wurde, nie identifiziert hat und den künftigen und wirklichen Feind im atheistischen Sozialismus ausmacht.480 So wird einerseits beklagt, dass Schmitt den deutschen Katholizismus weitgehend beiseitelässt481, andererseits aber, dass in nahezu allen Arbeiten über 475 Vgl. ebd.; s. (DD 9). 476 Motschenbacher (2000, S. 89). 477 Siehe dazu (ebd.). Wir behandeln bzw. haben dieses Problemfeld in den jeweiligen Kapiteln zu den o.g. Schriften behandelt. 478 Begriff bei Kodalle (1973, S. 116). 479 Siehe nur Motschenbacher (2000, S. 91). 480 Ebd. S. 90. 481 Ebd. S. 91.

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den Katholizismus der Weimarer Republik Schmitt nicht oder nur am Rande erwähnt wird482. Für Manfred Lauermann ist es der antideutsche Katholizismus der Action française, den Schmitt in Stil und Gestus „imitiert“ und der sich in Leon Daudet, Maurice Barrès, Charles Maurras bzw. im Renouveau catholique Leon Bloys oder Charles Péguy personifiziert.483 Seine offensichtliche Präferenz für den romanischen Katholizismus zeigt sich in der wiederholten Befassung mit seinen Vertretern de Bonald, de Maistre und Donoso Cortés. Zwei Bewegungen sind es, die in Frankreich zwischen den Weltkriegen reüssieren und nach Deutschland einwirken: der Renouveau Catholique und die Action française. 2.6.4.1. Renouveau Catholique. Die katholische Kulturtradition erlebt am Ende des 19. Jahrhunderts ein Aufblühen katholisch-christlicher Kunst. Kirchliche Architektur, Sakralmusik, liturgische Handlungen und vor allem religiöse Literatur werden als Renouveau Catholique, als katholische Erneuerung, gefeiert. Das Fin de Siècle oder der Dekadentismus hatten das dekadent-morbide Existenzgefühl dieser Generation zur Kunstform gegen den Positivismus der Naturwissenschaften und den Naturalismus in der Literatur erhoben. Die Zeit von 1890 bis zum Beginn des Weltkriegs wiegte zwischen Zukunftseuphorie und Weltuntergangsphobie, zwischen Todessehnsucht und leichtlebigfrivoler Dekadenz, war also nicht zuletzt auch ein Lebensgefühl, das auf einem großen Stilpluralismus gründete.484 Die Hauptimpulse des Renouveau gingen bei aller gesamtgesellschaftlichen Fundierung von der Literatur aus, die neben dem Naturalismus auch vom – aus der Dekadenzstimmung schöpfenden – Symbolismus geprägt war. Er stellt Letztfragen der menschlichen Existenz, deckt die sozialen und kulturellen Probleme des ausgehenden Jahrhunderts auf und diagnostiziert das nationale Leben der Republik als malade, noch immer leidend unter dem verlorenen Krieg 1870/71, dem Sturz der Monarchie und dem Aufstand der Pariser Kommune. Eine hohe Selbstmord- und Verbrechensrate, Krankheiten und Epi-

482 Lauermann (1994, S. 301). 483 Ebd. S. 305. 484 Vgl. Lindhorst (1995, S. 9); zu den Wurzeln des Renouveau catholique (ebd. S. 12-16).

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

demien zeugen zudem „vom morbiden Zustand des Landes“.485 Aus diesem gesellschaftlichen Gesamt geht ein neuer – „oft ins Mystisch-Theosophische abschweifender“ – Katholizismus hervor.486 Vor allem der Literat Léon Bloy, vom Nihilisten zum fanatischen Katholiken und Apokalyptiker konvertiert, erregte Schmitts Aufmerksamkeit. Dieser „große Buchhalter des Absoluten“ (GL 39) setzte dem Optimismus auf eine positivistische Zukunft beständig seine Warnungen vor der drohenden Katastrophe entgegen.487 Mit der zunehmenden internationalen Krisenlage und dem Ausbrechen des Ersten Weltkriegs wächst im Renouveau catholique die Gruppe derer, die aus einer chauvinistischen, nationalistisch-konservativen Haltung heraus auch eine militärische Lösung befürworten. Sie sammeln sich in der Action française.488 2.6.4.2. Action française und Charles Maurras. Die Action française489 war im Zuge der Dreyfus-Affäre490 im April 1898 als eine nationalistische, republikanische, antisemitische und populistische politische Bewegung in Frankreich gegründet worden, um dann unter dem maßgeblichen Einfluss des deutschlandfeindlichen Publizisten und Schriftstellers Charles Maurras491 den Antisemitismus, einen militanten Katholizismus sowie einen integralen Nationalismus – der Begriff stammt von ihm selbst – zu vertreten. Gegner sind der Anarchismus, das Judentum und Deutschland: „‚Der Barbar aus der Tiefe, der Barbar aus dem Osten, unser Demos flankiert von seinen beiden Freunden, dem Deutschen und dem Juden.‘ Sie sind die Protagonisten einer europäischen und planetarischen Verschwörung gegen den Katholizismus und Frankreich, in ihrem Zusammenspiel verwirklicht sich ein ‚teuflischer Plan‘“.492

485 Ebd. (S. 18). 486 Hauptvertreter sind Jules-Amédéé Barbey d’Aurevilly, Léon Bloy und Joris-Karl Huysmans. 487 Vgl. Motschenbacher (S. 91). 488 Vgl. Lindhorst (1995, S. 19). 489 Grundsätzlich Nolte (1984; insb. S. 59-190). 490 Ebd. S. 90 ff.. 491 Ebd. S. 91-102. 492 Ebd. S. 168;inneres Zitat Charles Maurras.

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Drittes Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (1923).

Ziel des integralen Nationalismus, der sich chauvinistisch, protofaschistisch, antiparlamentarisch und antidemokratisch gebärdete, war die Rückkehr zur Erbmonarchie. Carl Schmitt kannte die Schriften Maurras und das Organ der Bewegung, L‘Action française, wäre ihm laut Zeitzeugen, die interessanteste Zeitung gewesen, die es heute gibt (LFCS 89).493 Es gibt zwischen Maurras und Schmitt (und Cortés) in einigen Punkten gemeinsame Ansichten. So ist das demokratisch-liberalistische Bürgertum für alle eine „diskutierende Klasse“.494 Ob zwischen beiden aber eine „starke Affinität“ bestand, was sich aus einem Brief Walter Gurians an den Theologen Erik Peterson erschließen könnte,495 bleibt n.u.A. offen. Auch dass Schmitt Gurian zu einer Dissertation über „Die politischen und sozialen Ideen des französischen Katholizismus 1789/1914“ angeleitet hatte, zeigt das vorhandene Interesse Schmitts an dieser Thematik, bleibt für weiterreichende Überlegungen aber nur ein Indiz. Für Maurras rührten alle Übel der Moderne aus der Revolution von 1789. Als ein Ordnung strukturierendes Mittel gilt ihm der Katholizismus – die von ihm idealisierte französische Nation aber ist der eigentliche Zweck aller Politik,496 die für Maurras „zur äußersten und notwendigen ‚Synthese‘“ wurde und aus ihrem Zusammenhang mit Theologie, Metaphysik und Ästhetik nicht herausgelöst werden könne.497 Was aber nichts daran änderte, dass Maurras den Katholizismus zu einer Organisationsform säkularisierte und über sich sagte: „Je suis athée, mais je suis catholique“. „‚Dieser „agnostische Katholizismus von Maurras‘498 kann die Kirche nur als hilfreiches Instrument erfassen, nicht jedoch in ihrem ureigensten Verständnis als Institution der Heilsvermittlung mit der Aufgabe, das Evangelium auszubreiten. Ähnlich urteilt auch Nolte über Maurras: ‚sein Katholizismus ist antichristlich‘499.“

493 Siehe Mehring (2009, S. 143 f.); vgl. Motschenbacher (2000, S. 91 f.); siehe Quaritsch (1989, S. 61). 494 Motschenbacher (2000, S. 95). 495 So Motschenbacher (2000, S. 92). 496 Siehe Nolte (1984, S. 100). 497 Ebd. (S. 102). 498 Gurian zit. in Motschenbacher (2000, S. 97). 499 Nolte (1984, S. 168); s. a. Motschenbacher (2000, S. 97).

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III. Der Großinquisitor Dostojewskijs im Katholizismus Carl Schmitts.

Motschenbacher resümiert: „Die Ähnlichkeit, ja mehr noch die Übereinstimmung der Gedanken Maurras‘ mit denen Carl Schmitts in den zentralen Punkten ist frappant und erlaubt es, von Maurras als einem radikaleren Bruder Schmitts zur konservativen Seite hin zu sprechen“.500

Für ihr Ordnungsdenken, für die Bestimmung des gemeinsamen Feindes im anarchistischen Individualismus und anarchistischen Sozialismus und für die Berufung auf die Tradition des römischen Katholizismus mit seiner Hierarchie mag dieser Vergleich – lässt man den „Bruder“ beiseite – angehen. Aber war Carl Schmitt Agnostiker oder gar Atheist, ein „gottloser Kleriker“501? Für Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung. trifft, so völlig zu Recht Mehring, „eher das Gegenteil zu: der christliche Vorbehalt gegen die Kirche“.502

500 Motschenbacher (2000 S. 110). 501 Franz Blei, zit. in Mehring 2009, S. 145). 502 Mehring (2009, S. 145).

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Dritter Teil: Im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles.

Erstes Kapitel: München vor dem Putsch. Über München, wo er erfahren muss, dass Cari seine Möbel verkauft hat und außer Landes gegangen ist, reist Schmitt Ende März 1923 nach Bad Tölz. Während sein Katholizismus-Essay erscheint, arbeitet er an seiner Parlamentarismusschrift und liest Reden Mussolinis; im Mai beginnt er, zu schreiben.1 Aus dieser Zeit rührt auch eine der ersten Einschätzungen des deutschen Rechtsextremismus: „Schmitt setzt darauf, dass diese Bewegung letztlich im Rahmen der staatlichen ‚Autorität‘ bleibt und als Antidot gegen ein Versagen des Parlamentarismus vor der Fundamentalaufgabe der Regierungsbildung heilsam sein könnte“.2

Privat schwanken seine Gedanken heftig zwischen Murray und Duska, zumal letztere ihn bis Ende Juli um sich werben lässt.3 Im Herbst reist Schmitt erneut nach München, wohnt bei seinem jüdischen Lektor und Freund Feuchtwanger – all dies wenige Wochen vor dem Münchner Putsch. Es ist ihm eine „sensationelle Situation, der berufsmäßige Beobachter des heutigen politischen Schauspiels zu sein“.4 Es ist insbesondere das von ihm konstatierte Scheitern des Parlamentarismus, mit dem er seinen „Kampf mit Weimar – Genf – Versailles“ einleitet, wie verschiedene Aufsätze zeigen. Bedeutungsvoll ist – wir greifen vor – insbesondere der Aufsatz Reichspräsident und Weimarer Verfassung, der zur Präsidentenwahl 1925 publiziert wird. Schmitt warnt vor einer übergroßen Machtfülle des Reichspräsidenten, die selbst in einer konstitutionellen Monarchie kaum möglich sei, sieht die Gefahr einer verfassungsmäßigen Diktatur. Zwar habe der verstorbene Reichspräsident Ebert sich auf das Präsidentenamt als eine pouvoir neutre verstanden, danach gehandelt und damit sogar einen aus-

1 2 3 4

Siehe Mehring (2009, S. 155). Ebd. S. 156. Ebd. S. 157. Aus dem Briefwechsel Schmitt – Feuchtwanger, hier zit. n. Mehring (2009, S. 162).

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Erstes Kapitel: München vor dem Putsch.

gleichenden neuen „Typus eines republikanischen Staatspräsidenten“ geschaffen (SGN 26). Mit einem neuen Präsidenten aber könne die Verfassung ein völlig neues Gesicht erhalten (SGN 27). „Er [Schmitt; w.a.m.] redet nicht den Diktator herbei, sondern warnt vor seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeit“.5 Ende Oktober 1923 erscheint die Parlamentarismusschrift. Den Jahreswechsel 1923/24 verbringt er mit Duska, die Anfang Januar 1924 zu ihren geschiedenen Eltern reist und erst Anfang Mai lebensbedrohlich erkrankt zurückkehrt. Schmitt selbst hat Angst vor ihrer schweren Tuberkulose. Am 21. Januar erfährt er erfreut, dass die zuständigen Behörden seine Ehe mit Cari für „nichtig“ erklären. Umgehend strengt er auch die kirchliche Nichtigkeitserklärung seiner Ehe an. Caris falsche Identität und die Lüge über ihre adelige Herkunft sind die zentralen Begründungen seines Antrags; sie seien sine qua non-Bedingungen der Heirat gewesen. Das Kirchengericht wird diese beiden Gründe – als nicht überzeugend bewiesen – zurückweisen. Im März 1924 lehnt er die Kandidatur auf einem für die Reichstagwahl sicheren Listenplatz der Zentrumspartei ab und „emigriert“ für einige Zeit nach Berlin, wo er sein Referat für die Staatsrechtslehrertagung verfasst. Die Benennung als Referent stärkte die Position Carl Schmitts in der Zunft der Staatsrechtsprofessoren weiter 6

5 Mehring (2009, S. 162). 6 Siehe ebd. S. 163 ff.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923).7

„Das Wesentliche des Parlaments ist also öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion, Parlamentarisieren, wobei zunächst noch nicht nach Demokratie gedacht zu werden braucht.“ Carl Schmitt8

I. Einführung und Werkgeschichte. Klaus v. Beyme stellte einmal pragmatisch fest, dass die Kritik am Parlamentarismus so alt sei wie der Parlamentarismus selbst.9 Für die Verfechter parlamentarischer Systeme beweist er somit eine beruhigende Dauerhaftigkeit, wie er zugleich – da nicht naturgegeben – Gegenstand kritischer Analyse war und ist. Die kritischen Perspektiven sind zeitgebunden, weil sie sich in aller Regel auf die Manifestationen des gerade geltenden parlamentarischen Systems beziehen. Die Kritik wird derart schnell „historisch“. Dies gilt auch für die Kritik von Carl Schmitt, die sich am Parlamentarismus der Weimarer Republik und der politischen Kultur und dem politischen System entzündet, in die der eingebettet ist. Die Parlamentarismusschrift Carl Schmitts – nach Der Begriff des Politischen seine wohl bekannteste Publikation – erschien 1923 zunächst als Aufsatz für eine Festschrift. Die erste Buchfassung folgte im selben Jahr, die zweite Auflage 1926. Sie unterscheidet sich von der Erstauflage vor allem durch stilistische Neuerungen und einige erläuternde Weiterungen, die aber den Strang der Argumentation und den Inhalt der Erstauflage nicht veränderten. Neu ist die erweiternde Einfügung des Aufsatzes Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie als

7 Sigle = GLP. Wir zitieren nach dem Nachdruck der zweiten Auflage von 1926. 8 (GLP 43). In dem Zitat sind die beiden Strukturprinzipien: „Öffentlichkeit“ und „Diskussion“ benannt. 9 v. Beyme, hier zit. in Marschall (2017, S. 217; s. nachst. ebd.).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

Vorwort zur Zweitauflage (GLP 5-23), der als Erwiderung auf die Kritik von Richard Thoma (1925) an Schmitts Parlamentarismusschrift zu lesen ist.10 Schmitt verlässt mit der Parlamentarismusschrift das thematische Umfeld der Diktatur und wendet sich der juristischen und politischen Analyse der Weimarer Verfassung zu. Zu Recht wird n.u.E. von einigen Interpreten eine partielle inhaltliche Fortsetzung der Politischen Romantik gesehen, weil Schmitt die – nach seiner Ansicht inzwischen degenerierte – Debatten„kultur“ des Parlaments mit dem unendlichen Gespräch der Romantik analogisiert, das zu keiner Entscheidung mehr fähig ist. Da Schmitt das letzte Kapitel in seine 1940 aufgelegte Aufsatzsammlung Positionen und Begriffe – unter dem Titel Die politische Theorie des Mythus – aufgenommen hatte, folgert Mehring, Schmitt habe damit seinen Kampf gegen Weimar – Genf – Versailles auf das Krisenjahr 1923 festgelegt.11 Vorwärtsschauend wird es interessant werden, die ParlamentarismusSchrift mit Schmitts Broschüre Legalität und Legitimität von 1932 in Beziehung zu setzen, in der der spannungsreiche und gegensätzliche Dualismus von Demokratie und Liberalismus in seiner Wirkung auf die Weimarer Verfassung untersucht wird.12 Mehrings Urteil trifft ins Volle, wenn er der Schrift attestiert: „Schon für sich genommen wirft sie mit ihrer Überfülle an Aspekten und starken Thesen zahlreiche Fragen auf“.13

Schmitt misst im ersten Schritt seiner Betrachtung den Parlamentarismus an dessen eigenem „Wesensgehalt“: kann der Parlamentarismus halten, was er selbst von sich erwartet? Im zweiten Schritt misst er den real existierenden Parlamentarismus an seinen eigenen Vorstellungen von Demokratie und Politik. Damit betätigt sich Schmitt sowohl als Kritiker wie als Theoretiker des Parlamentarismus.14 Dieser stellt sich ihm als „Prozeß der Auseinandersetzung von Gegensätzen und Meinungen dar, aus dem sich der richtige staatliche Wille als Resultat ergibt“ (GLP 43).

Wir werden sehen, dass Schmitt die sich selbst gestellte Frage, ob denn die existierenden Parlamente dieser ursprünglichen Bestimmung nachkommen

10 11 12 13 14

358

Siehe Neumann (2015, S. 55 f.). Siehe Mehring (2017, S. 57). Ebd. S. 66. Ebd. Siehe Marschall (2017, S. 219).

II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

könnten, verneint.15 So seien die Parlamentarier keine „Träger der Vernunftbruchstücke“ mehr, sondern nur noch Parteiagenten. „Öffentlichkeit“ der Diskussion als Wesensmerkmal sei ebenso nicht mehr gewährleistet, weil die Entscheidungen in Partei- und Fraktionszirkeln bereits gefallen sind. Wicht zu wissen ist, dass Schmitt die parlamentarische Gegenwart am Ideal eines „Honoratiorenparlaments“ misst und so letztlich zu einer Verfallstheorie des Parlamentarismus gelangt. Dass der Dezisionist Schmitt in der „Ewigkeit“ parlamentarischer Diskussion – womöglich noch ohne oder in Hinterzimmern bereits getroffener Entscheidungen – ein Verfallsmerkmal ausmacht, ist nahezu zwangsläufig. Das Wesensmerkmal der öffentlichen Diskussion ist den Parlamenten so entzogen worden. Hinzu tritt als ein weiteres Negativum der Verlust der Entscheidungseffizienz. II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).16 Dass die zweite Auflage im Wesentlichen unverändert aufgelegt worden sei, bedeute keineswegs, so Schmitt einleitend, dass sie sich über jede Kritik, die es gegeben habe, erhaben stelle (GLP 5; nachst. GLP 5 ff.). Er fürchte vielmehr, dass eine streng wissenschaftliche, propagandafreie Veröffentlichung auf mangelnde Resonanz stoßen werde. „Vielleicht geht die Epoche der Diskussion überhaupt zu Ende“ (GLP 5), sinniert er, auch im Hinblick auf seine Parlamentarismusschrift. Eine sachliche Kritik missachte er keineswegs, insbesondere wenn sie von einem hervorragenden Juristen wie Richard Thoma stamme.

15 Marschall (2017, S. 219; nachst. s. S. 219 f.). 16 Wir behandeln diese Vorbemerkung ausführlicher, als gemeinhin zu erwarten wäre, weil sie zentrale demokratietheoretische Probleme und Ansichten Carl Schmitts behandelt bzw. vorwegnimmt. Sie erleichtern das Verständnis der chronologisch folgenden Schriften, bis dann u.a. die Verfassungslehre diese Fragen im Detail bespricht.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

1. Grundprinzipien des Parlamentarismus: Öffentlichkeit und Diskussion. Thoma hatte Schmitt vorgehalten, er habe seine Schlüsse auf der Basis eines veralteten Parlamentarismuskonzepts gezogen, das immer noch „Diskussion“ und „Öffentlichkeit“ für seine wesentlichen Prinzipien halte. Schmitt hält dem entgegen, er sehe nicht, worauf eine neue Parlamentarismustheorie sich gründen könne, wenn diese beiden geistigen Grundlagen entfielen, die auf Burke, Bentham, Guizot und J. St. Mill zurückgingen. Neuerungen seien nur aus Zweckmäßigkeitsgründen, nicht aus prinzipiellen Erwägungen erfolgt. Schmitt konzediert, dass dies kaum bemerkt worden sei, weil sich Parlamentarismus und Demokratie im Gleichschritt vorwärtsentwickelt hätten und nur unzureichend unterschieden worden seien: „Heute aber, nach dem gemeinsamen Siege, tritt der Gegensatz zutage und kann der Unterschied von liberal-parlamentarischen und massendemokratischen Ideen nicht länger unbeachtet bleiben“ (GLP 6).

Nur aus der Beschäftigung mit diesen Denkern ist für Schmitt die geistige Grundlage der besonderen Institution „Parlamentarismus“ erschließbar. Dass der Parlamentarismus gegenüber der unmittelbaren Demokratie, dem Bolschewismus wie dem Faschismus eine geistige Überlegenheit wahren kann, besser oder das kleinere Übel oder als Regierungsmethode und politisches System schlicht praktikabler ist, seien geistesgeschichtlich nichtrelevante Nützlichkeitserwägungen, die sich nicht in der Sphäre eines prinzipiellen Interesses bewegen. „Alle spezifischen parlamentarischen Einrichtungen und Normen erhalten erst durch Diskussion und Öffentlichkeit ihren Sinn“ (GLP 7; nachst. s. GLP 7 ff.).17

Es gibt, so Schmitt, eine „Heterogonie der Zwecke“ und einen Bedeutungswandel in der Praxis, aber man kann nicht, einer Institution beliebig neue Prinzipien verordnen oder einfach durch andere ersetzen, denn eine „Heterogonie der Prinzipien“ (GLP 7/8) gibt es nicht, auch wenn dies der eigentliche Grundgedanke der Einwände Thomas sei. Neue Prinzipien des Parlamentarismus biete Thoma nicht und beschränke sich darauf, nur auf die Schriften von Weber, Preuß und Naumann, somit nur auf deutsche demokratische Liberale, zu verweisen.18 Diese hätten sich vom Parlamenta-

17 Siehe auch (PR 10). 18 Thoma verweise nur auf die Schriften von Max Weber, Hugo Preuß und Friedrich Naumann aus den Jahren 1917 ff.

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

rismus die Beseitigung von Dilettantismus versprochen und eine Elitenbildung erhofft. Eine elitensoziologische Rechtfertigung des Parlamentarismus als Instrument der politischen Führungsauslese19 hielt Schmitt allerdings für illusionär. In manchen Staaten habe es der Parlamentarismus bereits geschafft, „daß sich alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute- und Kompromißobjekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik, weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist“ (GLP 8; nachst. s. GLP 8 f.).

Die These der Elitenbildung mittels Parlament muss nach Schmitt umgehend aufgegeben werden, wenn sie sich nicht bewährt. Wenn sich andererseits die Überzeugung, der Parlamentarismus garantiere eine politische Elitenbildung mit dem Glauben an die Prinzipien von Diskussion und Öffentlichkeit verbindet, dann gehört sie zur prinzipiellen Argumentation des Parlamentarismus. Aber das Kriterium der öffentlichen Diskussion entspricht hier nicht einfach der üblichen Bedeutung von Verhandeln in einem ökonomischen Zusammenhang. In der modernen parlamentarischen Praxis meint „Diskussion“ einen Meinungsaustausch mit dem Anspruch, den Gegner rational von der Richtigkeit der eigenen Meinung zu überzeugen mit dem Ziel, dass die Gesetze aus einem Kampf der Meinungen – nicht der Interessen20 – hervorgehen. Dies setzt die Bereitschaft des politischen Gegners voraus, sich überzeugen zu lassen, sich von Parteiinteressen und egoistischen Interessen frei zu machen, was die meisten Beobachter heute kaum mehr für möglich halten.21 Schmitt bewertet für seine Zeit den Zustand des Parlamentarismus wegen der modernen Massendemokratie äußerst kritisch. Deren Einflüsse haben eine rationale und argumentative öffentliche Diskussion wie auch die geforderte Unabhängigkeit des Abgeordneten „zu einer leeren Formalität“ (GLP 10; nachst. s. GLP 10 ff.) entwertet. Die Parteien stehen sich als soziale oder wirtschaftliche Machtgruppen gegenüber, die sich in der Berechnung von Marktchancen üben. Es geht nur noch darum, die Wählerstimmen der Masse zu gewinnen und dann zu herrschen. Die Prinzipien

19 Mehring (2017, S. 64). 20 Herv. durch Verf.. 21 Zu Einzelheiten siehe (GLP 9 f.). Somit kann Schmitt den Satz von Bentham satirisch zurückweisen: „Im Parlament treffen sich die Ideen, die Berührung der Ideen schlägt Funken und führt zur Evidenz“ (GLP 12).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

und Beweisgründe der Burke, Bentham, Guizot und J. St. Mill sind also veraltet, die Definition des Parlamentarismus als „government by discussion“ muss als „verschimmelt“ (Thoma) gelten, die bloßen Verweise auf Weber, Preuß und Naumann reichen nicht mehr aus und ihre soziologische Elitentheorie ist erschüttert. Nahezu vernichtend kritisch resümiert Schmitt seine bisherigen Befunde zu den Prinzipien des Parlamentarismus und deren Abgrenzung von reinen technischen Nützlichkeitserwägungen (GLP 12 f.; nachst. vgl. GLP 13). Und er beharrt darauf, dass auch die tieferen Gründe für diese Malaise freigelegt werden müssen: „Wird das Parlament aus einer Institution von evidenter Wahrheit zu einem bloß praktisch-technischen Mittel, so braucht nur in irgendeinem Verfahren, nicht einmal notwendigerweise durch eine offen sich exponierende Diktatur, via facti gezeigt zu werden, daß es auch anders geht, und das Parlament ist dann erledigt“ (GLP 13; Herv. im Original).

2. Parlamentarismus, Liberalismus und Demokratie: Demokratie als Identität. Es gibt immer wieder Stellen und Gedankengänge bei Schmitt, die man am besten als wörtliches Zitat an den Leser weitergibt. Die nachstehende Jerichonade ist eine solche: „Der Glaube an den Parlamentarismus, an ein government by discussion, gehört in die Gedankenwelt des Liberalismus. Es gehört nicht zur Demokratie. Beides, Liberalismus und Demokratie, muß voneinander getrennt werden, damit das heterogen zusammengesetzte Gebilde erkannt wird, das die moderne Massendemokratie ausmacht“ (GLP 13; nachst. GLP 13 ff.).

Schmitt setzt seine demokratietheoretischen Erwägungen fort. Jede „wirkliche Demokratie“ hat sich für ihn auf das Faktum zu stützen, dass Gleiches gleich und – „mit unvermeidlicher Konsequenz“ (GLP 13/14) – Nichtgleiches nicht gleich behandelt wird. Und weiter: Die Gleichheit bzw. die Identität von Regierenden und Regierten macht die Demokratie aus, nicht etwa die Freiheit, auch wenn die Kämpfe um die politische Freiheit seit jeher im Namen der Demokratie geführt worden waren:22

22 Wir greifen an dieser Stelle zur Verdeutlichung vor. In der Verfassungslehre (VL) von 1927 definiert Schmitt: „Demokratie ist eine dem Prinzip der Identität (nämlich des konkret vorhandenen Volkes mit sich selbst als politischer Einheit) entsprechende Staatsform“ (VL 223).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

„Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“ (GLP 14; nachst. GLP 14 f.).

Die „politische Kraft einer Demokratie“ zeigt sich in der Schaffung von Homogenität (ebd.). Als Beispiele dienen Schmitt die „Türkisierung“ der Türkei mit ihrer radikalen Aussiedlung der Griechen sowie Australien mit seiner restriktiven Einwanderungsgesetzgebung. „Gleichheit“ ist dabei ein substantieller Begriff und nur auf einem solchen kann eine Demokratie begründet werden (ebd.; s. auch VL 226). Zu finden ist diese Substanz in bestimmten staatsbürgerlichen und physischen sowie moralischen Tüchtigkeiten, religiösen Überzeugungen und „vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, in der nationalen Homogenität“ (ebd.).23 Schmitt wird gegen Ende der Parlamentarismus-Schrift die Überlegenheit des Nationalen postulieren. Nur die materiale Auffüllung des Gleichheitsbegriffs macht politische Unterscheidungen wie die Unterscheidung von Freund und Feind überhaupt möglich.24 Dass Gleichheit immer mit Ungleichheit einhergeht und ein Staat Teile der Bevölkerung von der politischen Gewalt ausschließen kann, beseitigt nicht seinen Status als Demokratie. Historisch, so Schmitt, zeige dies die athenische Stadtdemokratie, modern der englische Imperialismus. Letzterer übt Herrschaft über eine heterogene Bevölkerung aus. Er macht diese nicht zu Staatsbürgern und trotzdem gelingt es, sie „vom demokratischen Staate abhängig zu machen und doch gleichzeitig von diesem Staate fernzuhalten“ (GLP 15). Mittel zum Zweck sind Institutionen wie Kolonien, Protektorate u.a. Diese Einwürfe Schmitts gelten erneut Thoma, für den jeder Staat eine Demokratie ist, in dem das allgemeine und gleiche Wahlrecht „zum Fundament des Ganzen“ gemacht ist – was ja für das englische Weltreich gerade nicht gilt; eine Demokratie sei England gleichwohl (GLP 16; nachst. vgl. GLP 16 f.) Schmitt vertritt keinen formalen Gleichheitsbegriff. Nicht jeder erwachsene Mensch soll als Mensch jedem anderen Menschen politisch gleichge-

23 „Die politische Demokratie kann daher nicht auf der Unterschiedslosigkeit aller Menschen beruhen, sondern nur auf der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, wobei diese Zugehörigkeit durch sehr verschiedene Momente (Vorstellungen gemeinsamer Rasse, Glauben, gemeinsames Schicksal und Tradition) bestimmt sein kann“ (VL 227). 24 Siehe dazu Neumann (2015, S. 58). Näher zu dieser Thematik siehe hier die Kapitel Verfassungslehre und Der Begriff des Politischen.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

stellt sein: „Das ist ein liberaler, kein demokratischer Gedanke“ (GLP 16). Die auf substantieller Gleichheit und Homogenität fußende Demokratie mutiert für ihn zur „Menschheitsdemokratie“, die es schon deswegen nicht gibt, weil die Erde in „national homogene Staaten“ (GLP 16) aufgeteilt ist und folglich keineswegs jeden Menschen als gleichberechtigten Bürger behandelt. Im Übrigen hat es noch nie eine Demokratie gegeben, die nicht auch den Begriff des Fremden gekannt hätte. Insbesondere stehen sich die Menschen auf dem Gebiet der Politik als Staatsbürger, Regierende oder Regierte, Verbündete oder Gegner gegenüber, „also jedenfalls in politischen Kategorien“ (GLP 17). In jeder Annäherung an die absolute Menschengleichheit liegt für Schmitt eine Entwertung der politischen Gleichheit und begibt sich so auf den Weg zum Gleichgültigen. Was bleibt, ist eine politische Scheingleichheit, weil sich die substantielle Ungleichheit unvermeidlich auf ein anderes Gebiet – z.B. das ökonomische – verlagern wird; in ihm wird die Ungleichheit dann mit rücksichtsloser Kraft zum Ausbruch drängen.25 „Die Gleichheit aller Menschen als Menschen ist also keineswegs Demokratie, sondern nur eine bestimmte Art Liberalismus, ist auch nicht Staatsform, sondern individualistisch-humanitäre Moral und Weltanschauung. Auf der unklaren Verbindung dieser beiden beruht die moderne Massendemokratie“ (GLP 18/19; nachst. vgl. GLP 19 f.).

Wie gesehen, ist für Schmitt Gleichartigkeit bzw. Homogenität die Voraussetzung für Demokratie. Unterfüttert wird diese These mit Rousseaus Lehre vom Gesellschaftsvertrag, also der Begründung des wahren Staates – „Die Fassade ist liberal“ (GLP 19). – auf freiem Vertrag, in dem die Einzelwillen mit dem Gemeinwillen verschmelzen.26 Die Homogenität des Volkes muss so groß sein, dass im Wesentlichen Einstimmigkeit herrscht. Nach dem Contrat social darf es keine Parteien, kein Sonderinteressen, keine Religionsunterschiede, nicht einmal ein Finanzwesen geben, habe doch Rousseau geäußert, ein Finanzwesen sei etwas für Sklaven. Interessant ist, dass der Begriff des Sklaven bei Rousseau den Heterogenen, den nicht zum Volk gehörenden abstrakten Menschen meint, „der an der allge-

25 „Das ist ganz unvermeidlich und für eine staatstheoretische Betrachtung der wahre Grund der vielbeklagten Herrschaft des Ökonomischen über Staat und Politik“ (GLP 18). 26 Neumann (2015, S. 61; nachst. vgl. ebd.). Wir fassen hier unsere Ausführungen knapp, da Rousseau hier schon intensiv erörtert wurde (s. hier das Kapitel Die Diktatur).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

meinen Homogenität nicht teilnimmt und deshalb mit Recht ausgeschlossen wird“ (GLP 19). Die geforderte Einmütigkeit und Übereinstimmung der Willen hat so tief zu wurzeln, dass die Gesetze ohne Diskussion Gültigkeit erlangen: „(…) kurz, in der bis zur Identität gesteigerten Homogenität versteht sich alles von selbst“ (ebd.). Damit gewinnt die von Schmitt selbst aufgeworfene Frage natürlich Berechtigung, wozu es bei einer derart umfassenden Einigkeit noch eines Gesellschaftsvertrags bedarf, der doch gerade wegen der ursprünglichen Verschiedenheiten und Gegensätzlichkeiten geschlossen werden muss. Die Antwort: „Die volonté générale, wie Rousseau sie konstruiert hat, ist in Wahrheit Homogenität. Das ist wirklich konsequente Demokratie. (…) Aus ihr ergibt sich die demokratische Identität von Regierenden und Regierten“ (GLP 20).27

Nun erschöpft sich der Begriff der demokratischen Gleichheit nicht in der formalen Staatsangehörigkeit. Er bezieht sich vielmehr auf das inhaltliche Substrat der substantiellen Gleichheit, auf der die Staatsangehörigkeit aufruht. Substantielle Gleichheit, so Böckenförde, meint „eine vorrechtliche Gleichartigkeit. Diese begründet die relative Homogenität (…)“.28 Diese Gleichartigkeit kann sich aus gemeinsamen Werten wie Religion, Sprache, Kultur und politischem Bekenntnis ergeben. Schwerlich, skeptiziert Schmitt, kann die politische Substanz in der Sphäre des Ökonomischen liegen, denn eine ökonomische Gleichheit zieht nicht automatisch politische Homogenität nach sich. Allerdings können große ökonomische Ungleichheiten eine bestehende Homogenität aushebeln (s. GLP 14).29 Wir werden sehen, dass das gesuchte materiale Substrat für Schmitt seit der Französischen Revolution mit der nationalen Homogenität gefunden ist.30 Die Probleme des Parlamentarismus verortet Schmitt – ein Zwischenfazit ziehend – in den Zuständen der modernen Massendemokratie, die sich zunächst zu einer Krise der Demokratie selbst auswächst, weil die Grundbedingungen der Demokratie – substantielle Gleichheit und Homogenität – mit dem Konstrukt einer Menschengleichheit nicht zu lösen sind (nachst. s. GLP 21 ff.). Die Auswirkungen der Massendemokratie verstärken ande-

27 Wir gehen auf dieses demokratietheoretisch schwierige Problem im Kapitel Verfassungslehre näher ein:. 28 Böckenförde (1992, S. 332; nachst. vgl. S. 332 f.). 29 Vgl. Neumann (2015, S. 61). 30 Siehe vorerst nur (VL 231). Zum Begriff der Nation in verschiedenen Kulturen und seiner Fundierung s. Neumann (2015, S. 62).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

rerseits die Krise des Parlamentarismus, die von der Demokratie begrifflich und tatsächlich zu unterscheiden ist. Gleichzeitig auftretend aber verschärfen sie sich gegenseitig. Die moderne Massendemokratie trifft auf ihrem Weg zur Identität von Regierenden und Regierten auf die veraltete Institution des Parlaments. Herrscht nämlich demokratische Identität, gibt es kein Verfassungsorgan, das sich im Ernstfall gegen den „geäußerten, unwidersprochenen Willen des Volkes“ (GLP 21) durchsetzen kann. „Ihm gegenüber hat insbesondere eine auf der Diskussion von unabhängigen Abgeordneten beruhende Institution keine selbständige Existenzberechtigung, um so weniger, als der Glaube an die Diskussion nicht demokratischen, sondern liberalen Ursprungs ist“ (ebd.).

Demokratie und Liberalismus sind eine Zeit verbunden gewesen, aber „diese Liberal-Demokratie“ muss sich – einmal an die Macht gelangt – zwischen seinen beiden Elementen entscheiden.31 Da es in der Demokratie nur die Gleichheit der Gleichen gibt und den Willen der zu den Gleichen gehörenden, verwandeln sich alle anderen Institutionen „in wesenlose sozial-technische Behelfe, die nicht imstande sind, dem irgendwie geäußerten Willen des Volkes einen eigenen Wert und ein eigenes Prinzip entgegenzusetzen“ (GLP 22).

So beruht die Krisis des modernen Staates für Schmitt auf dem Faktum, dass eine Massen- und Menschheitsdemokratie, keine – auch keine demokratische – Staatsform realisieren kann. „Bolschewismus und Fascismus dagegen sind wie jede Diktatur zwar antiliberal, aber nicht notwendig antidemokratisch: „In der Geschichte der Demokratie gibt es manche Diktaturen, Cäsarismen und andere Beispiele auffälliger, für die liberalen Traditionen des letzten Jahrhunderts ungewöhnlicher Methoden, den Willen des Volkes zu bilden und Homogenität zu schaffen“ (GLP 22).

Es gehört zu den undemokratischen – nur aus der Vermischung mit liberalen Elementen – entstandenen Vorstellungen, das Volk könne seinen Willen nur einzeln, isoliert und unbeobachtet abgeben, also in einer Wahlkabine. Die Staatslehre hat für Schmitt elementare Wahrheiten vergessen und dabei übersehen, dass „Volk“ ein Begriff des öffentlichen Rechts ist und

31 Gleiches gilt, so Schmitt auch für die „Sozial-Demokratie“, die wegen der Häufung der liberalen Elemente in der modernen Massendemokratie „in Wahrheit eine Social-Liberale-Demokratie ist“ (GLP 21/22).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

„nur in der Sphäre der Publizität“ existiert (ebd.). In demokratischerer Weise kann das Volk seinen Willen durch Akklamation äußern: „Je stärker die Kraft des demokratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß Demokratie etwas anderes ist als ein Registriersystem geheimer Abstimmungen“ (ebd.).

Das Parlament vergleicht sich dazu „als eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und cäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Substanz und Kraft sein können“ (GLP 23).

Auch wenn man konzediert, der Parlamentarismus habe Bolschewismus und Faschismus verhindert, ändert daran nichts, denn die Krisis des heutigen Parlamentarismus ist bereits vorher existent gewesen. Der tiefere Grund dieser Krise ist für Schmitt: „Es ist der in seiner Tiefe unüberwindliche Gegensatz von liberalem Einzelmensch-Bewußtsein und demokratischer Homogenität“ (ebd.).

3. Einleitung. Schmitt erzählt einleitend eine kleine Geschichte der Kritik des Parlamentarismus (nachst. s. GLP 27-30). Erhoben von den Vertretern reaktionärer und restaurativer Kreise und aus praktischer Erfahrung rührend wurden die Irrungen und Mängel der Parteiherrschaft rasch publik gemacht. Diese Frontstellung einte rechte wie linke, konservative, syndikalistische und anarchistische Kritik ebenso wie sie monarchistische, aristokratische und demokratische Aspekt verband. In Deutschland war schon wegen seiner berufsständischen Traditionen die Parlamentarismuskritik in sinusartig schwankenden Stärke- und Schwächephasen immer gegenwärtig. Seit 1919 wuchs aber ob der offensichtlichen oder vermeintlichen schweren Mängel des liberalen Parlamentarismus eine umfangreiche Literatur. Als solche Mängel seien nur die Parteienherrschaft, eine amateurhafte Parlamentspraxis und die geheimbündlerische Verlagerung von Entscheidungen in Ausschüsse oder Sitzungen der Fraktionsführer sowie der Fraktions-

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

zwang genannt.32 Als Bild bleibt eine Diffusion der Verantwortlichkeiten, so dass „das ganze parlamentarische System schließlich nur eine schlechte Fassade vor der Herrschaft von Parteien und wirtschaftlichen Interessenten ist“ (PR 29).

Die ganze Parlamentarismusdiskussion ist also auf das Engste mit den Auseinandersetzungen über die Rolle der modernen Massenparteien verknüpft. Die wissenschaftliche Avantgarde mit dem Parteienforscher Moissei Ostrogorski und dem politischen Soziologen Robert Michels an der Spitze dient auch Carl Schmitt als Referenz. Auf ihr Konto können sie die Dekonstruktion bzw. Demontage zahlreicher parlamentarischer und demokratischer Illusionen buchen (vgl. GLP 30). 4. Demokratie und Parlamentarismus. „Siegeszug der Demokratie“ – so ist die Geschichte der politischen und staatstheoretischen Ideen des 19. Jahrhunderts in Westeuropa zu betiteln (GLP 30; nachst. s. GLP 30 ff.). Demokratische Institutionen zu propagieren und zu installieren war fortschrittlich und meliorativ, sich zu widersetzen und das Überlebte zu verteidigen war rückständig und von pejorativem Ruf. Wenig bis nichts schien seit 1789 dieser Entwicklung widerstehen zu können. Was aber ist das für eine so unwiderstehliche Demokratie? Schmitt notiert zunächst, dass die demokratische Verwirklichung vor allem verdeutlicht habe, „daß sie vielen Herren diente und keineswegs ein inhaltlich eindeutiges Ziel hatte“ (GLP 32; nachst. vgl. GLP 32 ff.). Das änderte sich, als sie begann, sich zunächst als ein wesentlich polemischer Begriff gegen die herrschende monarchistische Staatsform zu definieren. Mit dem Niedergang ihres monarchischen Antipoden verlor zugleich die Demokratie an Sinn wie inhaltlicher Präzision. Diese inhaltliche Leere brachte aber die Freiheitsgrade, um Verbindungen sowohl mit Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus aber auch der Reaktion einzugehen. Ein Negati-

32 Wir verzichten an dieser Stelle auf eine vollständige Aufzählung der Kritikpunkte (s. GDP 28 f.), da sie uns im Detail im weiteren Verlauf der Parlamentarismusschrift noch begegnen werden. Viele von ihnen finden sich auch noch in der heute geübten Parlamentarismuskritik.

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

vum bleibt: Eine Demokratie ohne Inhalte degeneriert zu einer bloßen Organisationsform.33 Versuche, diese Leerstelle mit ökonomischen Inhalten zu füllen, ohne die Anschlussfähigkeit aufs Spiel zu setzen, war für Schmitt ex nunc zum Scheitern verurteilt: „Eine politische Organisationsform hört aber auf politisch zu sein, wenn sie, wie die moderne Wirtschaft, auf privatrechtlicher Basis aufgebaut wird“ (GLP 33).

Was bleibt also von der Demokratie, fragt Schmitt, und befindet selbst: „Für ihre Definition eine Reihe von Identitäten. Es gehört zu ihrem Wesen, daß alle Entscheidungen, die getroffen werden, nur für die Entscheidenden selbst gelten sollen“ (GLP 34; Herv. w.a.m.).

Das sich dadurch auftuende Problem – die Ignorierung der überstimmten Minderheit – ist für Schmitt kein, und wenn, dann nur ein theoretisches Problem. Denn auch dieser Vorgang, Schmitt beruft sich auf Rousseau, beruht in Wirklichkeit auf der Identität, wenn man sich der wesentlich demokratischen Logik nicht verschließt, „daß der Wille der überstimmten Minderheit in Wahrheit mit dem Willen der Mehrheit identisch ist“ (ebd.).34 Diese Einsicht ist für das demokratische Denken des Contrat social fundamental: Das Gesetz ist die volonté générale, die volonté générale ist der Wille der freien Bürger, woraus folgt: „der Bürger gibt also eigentlich niemals einem konkreten Inhalt seine Zustimmung, sondern in abstracto dem Resultat, dem aus der Abstimmung sich ergebenden Generalwillen, und er gibt diese Stimme nur ab, um die Kalkulation der Stimmen, aus der man diesen Generalwillen erkennt, zu ermöglichen. Weicht das Resultat von dem Inhalt der Abstimmung des Einzelnen ab, so erfährt der Überstimmte, daß er sich über den Inhalt des Generalwillens geirrt hat“ (GLP 34).

Weil der Generalwille bei Rousseau der wahren Freiheit entspricht, waren die Überstimmten bei ihrer Entscheidung also nicht frei. Diese „Jakobiner-

33 „Eine Demokratie kann militaristisch oder pazifistisch sein, absolutistisch oder liberal, zentralistisch oder dezentralisierend, fortschrittlich oder reaktionär, und alles wieder zu verschiedenen Zeiten verschieden, ohne aufzuhören, Demokratie zu sein. Daß man ihr durch eine Übertragung auf das ökonomische Gebiet keinen Inhalt geben kann, sollte sich bei diesem einfachen Sachverhalt von selbst verstehen (GLP 34). 34 Diese Argumentation findet sich bereits bei John Locke. Der Bürger stimme in einer Demokratie auch dem Gesetz zu, das gegen seinen Willen Geltung erlangt (s. GLP 34).

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logik“ rechtfertigt „bekanntlich“ gar die Herrschaft einer Minderheit über eine Mehrheit, weil die Identität von Gesetz und Volkswille und damit der Kern des demokratischen Prinzips gewahrt bleiben (GLP 34/35; nachst. vgl. GLP 35 f.). Unter diesem Aspekt ist die Ausdehnung des Wahlrechts auf immer mehr Bevölkerungsgruppen ein Symptom für das Ziel, die Identität von Staat und Volk zu verwirklichen. Überhaupt, fährt Schmitt fort, beruhen alle demokratischen Argumente logisch auf Identitäten: „Identität von Regierenden und Regierten, Herrscher und Beherrschten, Identität von Subjekt und Objekt staatlicher Autorität, Identität von Staat und jeweilig abstimmenden Volk, Identität von Staat und Gesetz, letztlich Identität des Quantitativen (ziffernmäßige Mehrheit oder Einstimmigkeit) mit dem Qualitativen (Richtigkeit des Gesetzes)“ (GLP 35).35

Bei diesen Identitäten handelt es sich nicht juristisch, nicht politisch und nicht soziologisch um greifbare Wirklichkeiten, sondern um Identifikationen. „Ausdehnung des Wahlrechts, Abkürzung der Wahlperioden, Einführung und Ausdehnung von Volksentscheiden, kurz alles, was man als Tendenzen und Einrichtungen der unmittelbaren Demokratie bezeichnet“ (ebd.), sei vom Gedanken der Identität beherrscht und konsequent demokratisch – eine permanente „in realitate präsente Identität“ (ebd.) könne sie nie erreichen. Zwischen der realen Gleichheit und dem Resultat der Identifikation besteht für Schmitt immer eine Distanz (GLP 35/36; nachst. s. GLP 36 f.). Für den Willen des Volkes hängt alles davon ab, „wie der Wille g e b i l d e t wird“ (GLP 36; Herv. im Original). Dieses „wie“ aber, die uralte Dialektik vom Willen des Volkes steht ungeklärt bei Tatbeständen wie: der wahre Wille des Volkes liegt bei einer Minderheit, das Volk kann – durch eine propagandistisch gesteuerte öffentliche Meinung – getäuscht werden, wie dies seit den Anfängen der Demokratie der Fall war und nicht erst seit Rousseau und den Jacobinern. Schon mit Beginn der demokratischen Bewegung hätten die wahren Demokraten ihre radikale Lehre zu einem Auswahl- und damit Absonderungskriterium erhoben. Es entstand so eine neue, exklusive, radikaldemokratische und damit tief undemokratische Aristokratie.36 Schon die puritanischen Levellers, die ersten Demokraten der Neuzeit, zollten dieser Problematik Tribut. Nur Gutgesinnte

35 Siehe auch (VL 234). 36 Diese Aristokratieformierung ist für Schmitt soziologisch betrachtet ein Tatbestand jeder Revolution (GLP 36).

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hatten das Wahlrecht, nur die von diesen gewählten Vertreter hatten das Gesetzgebungsmonopol und nur die Gutgesinnten hatten die Verfassungsurkunde zu unterzeichnen. „Es scheint also das Schicksal der Demokratie zu sein, sich im Problem der Willensbildung selbst aufzuheben“ (GLP 37; nachst. s. GLP 37 f.), fürchtet Schmitt. Denn für den radikalen Demokraten hat die Demokratie – unabhängig von ihrem Inhalt – einen Wert an sich. Droht aber die Demokratie die Demokratie selbst zu beseitigen, muss der radikale Demokrat auch gegen eine Mehrheit Demokrat bleiben, weil er sich ansonsten selbst aufgibt: „Sobald die Demokratie den Inhalt eines in ihr selbst ruhenden Wertes bekommt, kann man nicht mehr (im formalen Sinne) Demokrat um jeden Preis sein“ (GLP 37).

Seien die Demokraten in der Minderheit, was oft eintrete, so Schmitt, habe die Stunde einer richtigen „Volkserziehung“ geschlagen. Sie habe das Volk in die Lage zu versetzen, seinen eigenen Willen zu erkennen, zu bilden und schließlich zu äußern. Der Erzieher bestimmt, was das Volk wollen wird. „Die Konsequenz dieser Erziehungslehre ist die Diktatur, die Suspendierung der Demokratie im Namen der wahren, erst noch zu schaffenden Demokratie. Das hebt die Demokratie theoretisch nicht auf. Es ist aber wichtig, darauf zu achten, weil es zeigt, daß Diktatur nicht der Gegensatz zu Demokratie ist. Auch während einer solchen vom Diktator beherrschten Übergangszeit kann die demokratische Identität herrschen und der Wille des Volkes allein maßgebend sein“ (ebd.).

Für Schmitt entscheiden über den politischen Inhalt der Demokratie nunmehr die Inhaber der Definitionsmacht. Überragende Bedeutung komme dabei den Massenmedien zu.37 Freilich zeigt sich dann auch in besonders auffälliger Weise, daß die allein praktische Frage die Identifikation betrifft, nämlich die Frage, wer über die Mittel verfügt, um den Willen des Volkes zu bilden: militärische und politische Gewalt, Propaganda, Herrschaft über die öffentliche Meinung durch Presse, Parteiorganisationen, Versammlungen, Volksbildung,

37 Dies geht aus Schmitts Bemerkungen zur bolschewistischen Regierung Sowjetrusslands hervor: „was in den Staaten westeuropäischer Kultur heute an Demokratie herrscht, ist für sie nur ein Betrug der ökonomischen Herrschaft des Kapitals über Presse und Parteien; d.h. der Betrug eines falsch gebildeten Volkswillens; der Kommunismus soll erst die wahre Demokratie herbeiführen“ (GLP 39).

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Schule. Insbesondere kann die politische Macht den Willen des Volkes, aus dem sie hervorgehen soll, selber erst bilden“ (GLP 37/38). Schmitt zitiert einen royalistisch eingestellten Schriftsteller, der verächtlich äußert, die Dummheit der öffentlichen Meinung sei so groß, dass sie sich bei geschickter Beeinflussung selbst entmachten würde (vgl. nachst. GLP 38 f.). Der bolschewistische Theoretiker suspendiert die Demokratie im Namen der wahren Demokratie und setzt so die Richtigkeit ihrer Prinzipien voraus. Der Feind der Demokratie hingegen sucht, sie zu düpieren und geht dabei von der tatsächlichen Herrschaft demokratischer Prinzipien aus. Diese Gemengelage zeigt für Schmitt, dass das demokratische Prinzip unbestritten und allgemein anerkannt ist. Nur der italienische Faschismus legt keinen Wert darauf, als „demokratisch“ zu gelten. Dieser Theoriestand ist für das öffentliche Recht von Bedeutung. Weder die Demokratietheorie noch das Staats- und Völkerrecht können ohne einen Begriff von „Legitimität“ (GLP 39; Herv. im Original) auskommen. Wenn dem aber so ist, ist es wichtig, dass die heute herrschende Art der Legitimität „tatsächlich demokratisch ist“ (ebd.): „Die Entwicklung von 1815 bis 1918 läßt sich darstellen als die Entwicklung eines Legitimitätsbegriffes: von der dynastischen zur demokratischen Legitimität. Das demokratische Prinzip muß heute eine analoge Bedeutung beanspruchen, wie früher das monarchische“ (ebd.).

Schmitt unterscheidet zwischen „dynastischer“ und „demokratischer“ Legitimität. Letztere hatte trotz der Restaurationsversuche für die dynastische Legitimität durch den Wiener Kongress 1815 längst ihren Siegeszug angetreten.38 Der Begriff der Legitimität kann nicht sein Subjekt wechseln, ohne dass er sich inhaltlich und strukturell verändert. Zu unterscheiden sei eine staatsrechtliche von einer völkerrechtlichen Legitimität; weder Staats- noch Völkerrecht könnten ohne diesen Begriff auskommen. Staatsrechtlich, so Schmitt, müsse jede Regierung durch eine nach demokratischen Grundsätzen zustande gekommene konstituierende Versammlung sanktioniert sein. Jede nicht auf diesen Grundsätzen basierende Macht ist Usurpation. Völkerrechtlich sei relevant, wie eine Intervention in Verfassungsangelegenheiten eines Staates zu beurteilen ist, wenn der Legitimitätsbegriff staatsrechtlich auf einer konstituierenden Versammlung beruht (GLP 39/40). Ohne dies hier näher zu erörtern, hält Schmitt eine Intervention – auch unter der Ägide und den Regeln des Völkerbun-

38 Mehring (2017, S. 60).

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des – für gerechtfertigt, wenn das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes wiederhergestellt werden soll, weil dem Volk vorher eine Verfassung unter Missachtung demokratischer Prinzipien oktroyiert wurde (vgl. GLP 40; nachst. vgl. GLP 40 f.). So kommt Schmitt zu dem Ergebnis, dass viele juristische Untersuchungen demokratische Prinzipien anerkennen, ohne alle Identifikationen vornehmen zu müssen. Kommt es zu einer Identifikation der Minderheit mit dem Volk, steht die Demokratie ohnmächtig vor dem jakobinischen Argument, vor dem Umschlag des Quantitativen ins Qualitative und das Interesse gilt der Bildung und der Formierung des Volkswillens. Der „Glaube“ (Schmitt), alle Gewalt geht vom Volk aus, erlangt dann einen ähnlichen Nimbus wie der Satz, alle obrigkeitliche Gewalt kommt von Gott. „Jeder dieser Sätze läßt für die politische Wirklichkeit verschiedene Regierungsformen und juristische Konsequenzen zu. Eine wissenschaftliche Betrachtung der Demokratie wird sich auf ein besonderes Gebiet begeben müssen, das ich als politische Theologie bezeichnet habe“ (GLP 41).

Diese demokratietheoretischen Vorbemerkungen wurden notwendig, weil im 19. Jahrhundert Parlament und Demokratie als gleichrangig verbunden waren, was sie für Schmitt nicht sind: „Es kann eine Demokratie geben ohne das, was man modernen Parlamentarismus nennt und einen Parlamentarismus ohne Demokratie; und Diktatur ist ebensowenig der entscheidende Gegensatz zu Demokratie wie Demokratie der zu Diktatur“ (GLP 41).

Die Diktatur, so Mehring, erscheine so als Wirklichkeit der demokratischen Verheißung: „Diktatur als Wirklichkeit der Demokratie“.39 5. Die Prinzipien des Parlamentarismus. Das zweite Kapitel der Parlamentarismusschrift greift tief in die Ideengeschichte, um die Begriffe „Öffentlichkeit“ und „Diskussion“ als Prinzipien des Parlamentarismus zu erörtern. Im Kampf zwischen Volksvertretung und Monarchie benannte man eine maßgeblich vom Parlament (Legislative) beeinflusste Regierung (Exekutive) eine „parlamentarische Regierung“ (GLP 41; nachst. vgl. GLP 41 ff.). Dadurch verändert sich aber für Carl Schmitt der Begriff des „Parlamenta-

39 Ebd. S. 62.

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rismus“. Denn wer eine solche Regierung fordere, setze das Parlament als vorhanden voraus. Diese Annahme gerierte erweiterte Befugnisse. Konstitutionalistisch gesprochen soll die Legislative die Exekutive beeinflussen. Die Beteiligung des Parlaments an der Regierung und die hieraus resultierenden Implikationen können für Schmitt zum Problem des parlamentarischen Prinzips kaum beitragen: „Hier handelt es sich um die letzte geistige Grundlage des Parlamentarismus selbst, nicht um die Erweiterung der Macht des Parlaments“ (GLP 41/42).

Und so fragt er, worauf der Glaube an das Parlament letztlich beruht, warum es für Generationen ein ultimatum sapientiae gewesen war. Denn auf diesem Glauben beruht die parlamentarische Kontrollfunktion. Schmitt geht in zwei Schritten vor: Einmal konfrontiert er die Praxis des Parlamentarismus mit seinem eigenen Wesensgehalt, d.h. er untersucht, ob der Parlamentarismus der auf ihm lastenden Erwartungshaltung, aber auch seinen eigenen Anforderungen, gerecht werden kann. Zweitens misst Schmitt ihn an seinen Vorstellungen von Demokratie und Politik.40 Die älteste Rechtfertigung des Parlamentarismus liegt, führt Schmitt aus, in der Erwägung einer äußerlichen „Expeditivität“41. Das Volk muss in seiner wirklichen Gesamtheit in einer Versammlung entscheiden, was aber – wie auch die Methode der Einzelbefragung – wegen der bekannten praktischen Probleme heute unmöglich sei. Wegen dieser Dilemmata wird ein Ausschuss von Vertrauensleuten gewählt: das Parlament. Dieses wiederum wählt einen Ausschuss von Vertrauensleuten: die Regierung. Dadurch erscheine der Parlamentarismus als etwas wesentlich Demokratisches (GLP 42) – was er für Schmitt aber nicht ist. Denn auch ein einziger Vertrauensmann könne für das Volk entscheiden, was zwar ein antiparlamentarischer, nicht aber undemokratischer Cäsarismus und damit „der Idee des Parlamentarismus nicht spezifisch“ (ebd.) sei. Dass das Parlament ein mit Vertrauensvorschuss ausgestattetes Organ des Volkes ist, „ist nicht das Wesentliche“ (ebd.).

40 Siehe Marschall (2016, S. 219). 41 Der Begriff findet sich, so Schmitt, bei: Egon Zweig, in der Schrift die „Lehre vom pouvoir constituant“, Tübingen 1909 (GLP, S. 42 FN 1).

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5.1. Die öffentliche Diskussion. Die ratio des Parlaments liegt im „Dynamisch-Dialektischen“. Schmitt zitiert diesen Begriff von Rudolf Smend, der den prozessualen Charakter des Parlamentarismus hervorhebt, und er fasst die für ihn maßgeblichen Strukturprinzipien in eine bekannte Formulierung: „Das Wesentliche des Parlaments ist also öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion, Parlamentieren, wobei zunächst noch nicht an Demokratie gedacht zu werden braucht. (GLP 43).

Schmitt bezieht sich auf Francois Guizot, wenn er ausführt, das Parlament sei der Ort, in dem sich die ungleich verteilten Vernunftpartikel der Menschen sammeln und zur öffentlichen Herrschaft bringen. Diese Hoffnung stützt sich auf die Theoreme von „der freien Konkurrenz und der prästabilierten Harmonie, die allerdings in der Institution des Parlaments, wie überhaupt in der Politik, oft in kaum erkennbaren Verkleidungen auftreten“ (GLP 45; nachst. s. GLP 45 ff.).

Schmitt verortet den Parlamentarismus im Liberalismus, der notwendig „als konsequentes, umfassendes, metaphysisches System“ (GLP 45) angesehen werden muss. Ihn auf seine ökonomischen Formeln und Schlussfolgerungen zu beschränken, hieße den geistigen Kern seines Denkens zu verfehlen, und damit auch sein Verhältnis zur Wahrheit, die „zu einer bloßen Funktion eines ewigen Wettbewerbs der Meinungen wird. Der Wahrheit gegenüber bedeutet es den Verzicht auf ein definitives Resultat“ (GLP 46).

Dieser Analogie zum ewigen Gespräch der politischen Romantik stehen die Strukturprinzipien des wahren Parlamentarismus konträr, institutionell verfasst „in einem Prozeß der Auseinandersetzung von Gegensätzen und Meinungen, aus dem sich der richtige staatliche Wille als Resultat ergibt“ (GLP 43). Schmitt betont also die zentrale Stellung der Diskussion im liberalen System, dem zwei politische Forderungen inhärent sind: „das Postulat der Öffentlichkeit des politischen Lebens“ und „die Lehre von der Balancierung entgegengesetzter Kräfte, aus welcher Balancierung sich das Richtige als Gleichgewicht von selbst ergeben soll“42 (GLP 46).

42 Bekannter in der Formulierung „Lehre von der Gewaltenteilung“ (s. GLP 46).

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5.2. Die Öffentlichkeit der Meinung. Die große Wichtigkeit der öffentlichen Meinung im liberalen Denken zeigt sich Schmitt weniger in der öffentlichen Meinung, denn in der Öffentlichkeit der Meinung (GLP 47; nachst. s. GLP 47 ff.). Die Forderungen nach Öffentlichkeit erwuchsen gegen die im 16./17. Jahrhundert herrschenden Theorie von den Staatsgeheimnissen oder Arkanpolitik („Arcana rei publicae“), die – beginnend bei Macchiavelli – im Zuge des Diskurses über die Staatsraison aufkam. Staat und Politik wurden hier unter dem technischen Gesichtspunkt von Machtbehauptung und Machterweiterung analysiert.43 Dagegen erhob sich eine antimacchiavellistische Lehre, die Politik auf ein moralisches und rechtliches Ethos stützte, wie dies im Ergebnis auch die Monarchomachen taten. Letztlich erwuchsen aus dieser Strömung die Forderungen nach Öffentlichkeit und Gewaltenteilung. Die Öffentlichkeit erhält dann in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts den Status eines Kontrollorgans und die geübte Kabinettspolitik hinter verschlossenen Türen gilt ex nunc als böse, so wie die Öffentlichkeit mit der Pressefreiheit im Gefolge als gut reüssierte, denn „wo Preßfreiheit herrscht, ist ein Mißbrauch der Macht undenkbar“ (GLP 49).44 Die Freiheit der Meinung sei aber eine Freiheit des Privaten, schränkt Schmitt ein. Wo aber die Öffentlichkeit Zwang wird, wie bei der Ausübung des Wahlrechts, wo das Private ins Öffentliche wechsle, erhebe sich die der Öffentlichkeit entgegenstehende Forderung nach dem Wahlgeheimnis (vgl. GLP 50; nachst. vgl. GLP 50 ff.). 5.3. Die Teilung (Balancierung) der Gewalten. Den öffentlichen Wettbewerb der Meinungen begleitet im Parlamentarismus das Prinzip der Gewaltenbalancierung, bei dessen Theoretisierung das liberale Konkurrenzprinzip ebenfalls mitgedacht wird. Seit dem 16. Jahrhundert finden sich Balancen auf allen Gebieten menschlichen Geisteslebens.45 Im Zuge der Ausbalancierung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion habe man für die Parlamentsspezifik vernachlässigt, dass das Parla-

43 Vgl. hier Kapitel Die Diktatur. 44 Schmitt bezieht sich hier auf Condorcet. 45 Siehe die Beispiele in (GLP 50 f.).

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ment in sich, eben weil es Legislative ist, selbst ausbalanciert sein soll. Als geeignete Elemente sah man ein Zweikammersystem, föderalistische Institutionen und natürlich die Opposition in einer Kammer selbst an – „und es gibt tatsächlich eine Metaphysik des Zweiparteiensystems“ (GLP 51; nachst. s. GLP 52 f.). Die ersten Theorien zur Problematik der Gewaltenteilung erwuchsen aus den Erfahrungen, die man 1640 in England mit der Machtkonzentration beim sog. Langen Parlament machte. Mit der Entstehung eines konstitutionellen Gesetzesbegriffs, so Schmitt, gilt auch für Kant und Hegel der Satz als Selbstverständlichkeit, dass eine Verfassung mit Gewaltenteilung identisch ist. In solchem Denken sei eine Diktatur nicht der Gegensatz zu einer Demokratie, „sondern wesentlich Aufhebung der Teilung der Gewalten, d.h. Aufhebung der Verfassung, d.h. Aufhebung der Unterscheidung von Legislative und Exekutive“ (GLP 52).46 „Es sind die beiden Prinzipien47, auf denen in einem überaus konsequenten und umfassenden System konstitutionelles Denken und Parlamentarismus beruhen. Dem Gerechtigkeitsgefühl einer ganzen Epoche erschienen sie wesentlich und unumgänglich“ (GLP 61; nachst. vgl. GLP 61 ff.). Aus dieser Verbindung habe man den Sieg des Rechts über die Macht erwartet. Von dieser Überzeugung sieht Schmitt die Realität des politischen Lebens weit entfernt. Die wichtigen Entscheidungen resultieren keineswegs aus der Balancierung eines öffentlichen Diskurses von Meinungen und parlamentarischer Debatte. Auch wenn Schmitt konzediert, dass die Möglichkeiten einer idealen parlamentarischen Regierung restriktiver Praktikabilitätsrestriktionen unterliegen, müsse man „wenigstens so viel Bewußtsein der geschichtlichen Situation haben, um zu sehen, daß der Parlamentarismus dadurch seine geistige Basis aufgibt und das ganze System von Rede-, Versammlungs- und Preßfreiheit, öffentlichen Sitzungen, parlamentarischen Immunitäten und Privilegien seine ratio verliert“ (GLP 62; Herv. im Original).

Es sei der Glaube an den modernen Parlamentarismus, der mittels Öffentlichkeit und Diskussion aus der Empörung der Menschen gegen die Arkanpraxis absoluter Fürsten erwachsen, „die in geheimen Beschlüssen über das Schicksal der Völker entschied“ (GLP 62/63). Seien aber Öffent-

46 Siehe auch (DD 149). 47 Öffentlichkeit und Diskussion (w.a.m).

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lichkeit und Diskussion – wie geschehen – zu leerer und nichtiger Formalität geworden, „so hat auch das Parlament, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren“ (GLP 63). 6. Die Diktatur im marxistischen Denken.48 Guizot, auf den Schmitt sich des Öfteren bezieht, erkannte im Zeitalter des Bürgerkönigs Louis Philippes nach der Julirevolution von 1830 die richtige Mitte zwischen den Antipoden Monarchie und Demokratie in einem konstitutionell-parlamentarischen Bürgerkönigtum, in dem das Parlament soziale und politische Problemlagen öffentlich behandelt und löst (GLP 63). Stütze dieses Regierungsmodells war das liberale Großbürgertum („juste milieu“). Gegenüber diesem parlamentarischen Konstitutionalismus „nicht gegenüber der Demokratie, wird der den Parlamentarismus aufhebende Begriff der Diktatur wieder aktuell“ (GLP 63).

So wird für Schmitt 1848 zugleich ein Jahr von Demokratie und Diktatur, weil beide den bürgerlichen Liberalismus der parlamentarischen Theorie ablehnen (s. GLP 64; nachst. vgl. GLP 64 ff.). 6.1. Die Wissenschaftlichkeit des Marxismus ist Metaphysik. Dass der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft ab 1848 reüssierte, hat aber nicht zur Folge, dass er damit der Diktatur abschwört, setzt Schmitt einleitend als These. Der wissenschaftliche Sozialismus sah sich nunmehr im Besitz einer untrüglichen Einsicht und damit im Recht, die soziale und politische Wirklichkeit – auch mit Gewalt – in ihren wissenschaftlich fundierten Notwendigkeiten, nicht aber nach naturwissenschaftlichen Methoden, zu gestalten und zu beherrschen. Schmitt sieht das „philosophisch-metaphysisch Faszinierende der Marxistischen Geschichtsphilosophie und Soziologie“ eben nicht in den Naturwissenschaften, sondern im Festhalten an dem Hegelschen Gedanken der dialektischen Entwicklung der Menschheitsgeschichte

48 Siehe auch (DD XV f.). Grundlegend Gurland (1981).

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„und diese als einen konkreten, einmaligen, durch immanente organische Kraft sich aus sich selbst produzierenden antithetischen Prozeß betrachtet“ (GLP 66; nachst. GLP 66 ff.).

Die Menschheit wird sich im Marxismus ihrer selbst bewusst, weil sie die soziale Wirklichkeit richtig erfasst. Dadurch gewinnt das Bewusstsein einen absoluten Charakter. „Die Marxistische Wissenschaftlichkeit will den kommenden Dingen nicht die mechanische Sicherheit eines mechanisch berechneten und mechanisch gemachten Erfolges geben, sondern läßt sie im Strom der Zeit und in der konkreten Wirklichkeit des sich aus sich selbst produzierenden geschichtlichen Geschehens“ (GLP 67).

6.2. Diktatur und dialektische Entwicklung. Wie steht nun die Diktatur zur dialektischen Geschichtsphilosophie, deren Fortgang sie doch offensichtlich unterbricht? Nein, so Schmitt, die Entwicklung gehe ununterbrochen weiter, weil der sich in Gegensätzen entwickelnde Weltgeist seinen eigenen Gegensatz, eben die Diktatur, in sich einbezieht „und ihr dadurch ihr Wesen, die Entscheidung“ (GLP 68) nimmt. Sie unterbricht die unbeirrt weitergehende Entwicklung nicht, weil sie eine – dialektische und damit logische – Negation bleibt, solange „niemals von außen her, außerhalb der Immanenz der Entwicklung, eine Ausnahme eintritt“ (ebd.). Der dialektische Prozess Hegels kenne nicht Gut und Böse und habe keine Ethik; gut sei, was in jedem Stadium das Vernünftige und damit Wirkliche ist. „Das Sollen ist ohnmächtig. Was berechtigt ist, macht sich auch geltend (…)“. (GLP 69), auch „im Recht zur Diktatur“ (GLP 71; nachst. vgl. PLG 71 ff.). Hegels Philosophie kann mit seiner praktischen Seite, so Schmitt, zur Diktatur führen; das gelte auch für den Marxismus. Das eigentlich Wesentliche im Marxismus finde sich schon im kommunistischen Manifest, nicht etwa in der materialistischen Geschichtsauffassung oder der Erkenntnis, die Geschichte sei eine von Klassenkämpfen: „Neu und faszinierend war am kommunistischen Manifest etwas anderes: die systematische Konzentrierung des Klassenkampfes zu einem einzigen, letzten Kampf der Menschheitsgeschichte, zu dem dialektischen Höhepunkt der Spannung: Bourgeoisie und Proletariat. Die Gegensätze vieler Klassen werden zu einem letzten Gegensatz vereinfacht. An die Stelle der früheren zahlreichen Klassen, selbst an die Stelle der von Marx in den nationalökonomischen Ausführungen des ‚Kapitals‘ noch anerkannten drei Klassen Ricardos

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(Kapitalisten, Grundbesitzer, Lohnarbeiter) tritt ein einziger Gegensatz. Die Vereinfachung bedeutet eine gewaltige Steigerung der Intensität“ (GLP 71; nachst. vgl. GLP 72 ff.).

Diese logische Vereinfachung birgt die äußerste Steigerung des wirklichen Kampfes wie des gedanklichen Gegensatzes. Der Klassengegensatz muss der absolute Gegensatz werden, damit es zum dialektischen Umschlagen kommt und alle Gegensätze überwunden werden. „Der ungeheuerste Reichtum muß dem ungeheuersten Elend gegenüberstehen, die alles-besitzende Klasse der nichtsbesitzenden, der Bourgeois, der nur besitzt, nur hat und nichts Menschliches mehr ist, dem Proletarier, der nichts hat und nur noch ein Mensch ist. Ohne die Dialektik der Hegelschen Philosophie ließe es sich nach den bisherigen Erfahrungen der Geschichte durchaus denken, daß der Zustand der Verelendung jahrhundertelang besteht und schließlich die Menschheit in allgemeiner Dumpfheit untergeht oder eine neue Völkerwanderung das Antlitz der Erde ändert. Die kommunistische Gesellschaft der Zukunft, die höhere Stufe einer klassenlosen Menschheit, ist also nur dann evident, wenn der Sozialismus die Struktur Hegelscher Dialektik beibehält. Dann allerdings muß die Unmenschlichkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung notwendig ihre eigene Negation aus sich selbst produzieren“ (ebd.).

Nach Schmitt ist es die Existenzfrage des Sozialismus, die Bourgeoisie analytisch richtig zu fassen. Deshalb habe sich Marx so intensiv mit der bürgerlichen Ökonomie befasst. Der Grund dafür sei aber durch und durch metaphysischer Natur, denn erst das richtige Bewusstsein ermöglicht es, die Bourgeoisie zu erfassen, und dieses Erfassen ist der Beweis, dass ihre Zeit zu Ende geht und die Stunde des Proletariats geschlagen hat: „Die Bourgeoisie kann das Proletariat nicht begreifen, wohl aber das Proletariat die Bourgeoisie. Darum bricht über die Epoche der Bourgeoisie die Dämmerung herein; die Eule der Minerva beginnt ihren Flug, und das soll hier nicht heißen, daß Kunst und Wissenschaft gedeihen, sondern daß die untergehende Epoche das Objekt historischen Bewußtseins einer neuen Epoche geworden ist“ (GLP 75).

So lieferte denn Hegel das intellektuelle Instrumentarium, die Parteien des letzten Kampfes aber „mußten eine konkrete Gestalt bekommen, wie es für einen wirklichen konkreten Kampf notwendig war“ (GLP 76). Gegen den Rationalismus stand nunmehr eine Philosophie des unmittelbaren, konkreten Lebens, eine Theorie unmittelbarer Gewaltanwendung, die nicht nur den Parlamentarismus, sondern „auch die in der rationalistischen Diktatur theoretisch immer noch bewahrte Demokratie war damit in ihrem Fundament angegriffen“ (GLP 77).

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7. Irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung. Wir sahen, dass für Schmitt die marxistische Diktatur des Proletariats die Möglichkeit einer rationalistischen Diktatur bot (nachst. s. GLP 77 ff.). Dagegen stützten sich die modernen Lehren direkter Aktion und Gewaltanwendung auf eine Irrrationalitätsphilosophie. Obwohl die Bolschewiki die Anarchisten unterdrückt und gar ausgerottet hatten, fanden sich in ihren Argumentationen anarcho-syndikalistische Gedankengänge. In dieser Ideen-Infiltration liegt für Schmitt auch der Grund, warum gerade in Russland das Industrieproletariat zur Herrschaft gelangte. Irrationalistische Motive wie der Glaube an Intuition und Instinkt seien zur Geltung gekommen – „eine neue Bewertung rationalen Denkens überhaupt“ (GLP 78). 7.1. Sorel und die Entdeckung des Mythos. Schmitt stützt sich für seine folgenden Ausführungen auf George Sorels „Réflexions sur la violence“ („Über die Gewalt“). Die Schrift ist gegen den sozialdemokratischen Revisionismus insbesondere in Frankreich gerichtet und erörtert Sorels Vision der proletarischen Revolution.49 In ihr werde nicht nur der geistesgeschichtliche Zusammenhang am deutlichsten erkennbar, sondern sie zeichnet auch Sorels geistige Ahnen Proudhon, Bakunin und Bergson: „Die Grundlage jener Reflexionen über die Gewalt ist eine Theorie unmittelbaren konkreten Lebens, die von Bergson übernommen und unter dem Einfluß von zwei Anarchisten, Proudhon und Bakunin, auf Probleme des sozialen Lebens übertragen wird“ (GLP 79).

Mit Sorel, der uns bei Schmitt schon begegnet ist und noch begegnen wird, treffen wir eine Person auf schillerndem ideengeschichtlichem Parcours: „vom Sozialismus über den Syndikalismus zur nationalen Rechten“.50 Zur Entstehungszeit seines Buches „Über die Gewalt“ war er auf der Seite eines dezidiert revolutionären und antiparlamentarischen Syndikalismus in

49 Kracht (2008, S. 167); Deppe (1999, S. 226). 50 Deppe (1999, S. 216). Überblicke zu Sorel s. Kracht (2008), s. Deppe (1999).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

der Tradition Proudhons51, einem der Begründer des Anarchismus positioniert.52 Sorel entdeckte den Sozialismus mit den Schriften von Marx und zeigte zunächst auch große Sympathie für den Sozialistenführer Jean Jaurès, mit dem er aber ebenso wie dem ganzen Linksliberalismus Ende der 90er Jahre brach, weil er den Klassenkampf des revolutionären Marxismus für einen staatserhaltenden sozialen Reformkurs aufgegeben habe. Die Idee des Klassenkampfes greift Sorel nun mit seiner Theorie vom Generalstreik auf. Jetzt hängt er dem revolutionären Syndikalismus oder Anarchosyndikalismus an. Sein Buch „Über die Gewalt“ versteht sich als dessen ideologische Fundierung (vgl. Deppe 1999, S. 219). Sie übernimmt von Bergson eine Theorie unmittelbaren konkreten Lebens,53 die von den Anarchisten Proudhon und Bakunin auf soziale Problemlagen übertragen wird (GLP 79; nachst. siehe GLP 79 ff.). An diesem ideologischen Lebensabschnitt Sorels setzen Schmitts Reflexionen an. Anarchismus bedeutet Kampf gegen jede systematische Einheit (GLP 79), jede Form menschlicher Organisation mit deren Hilfe ideologischer, politischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Zwang ausgeübt werden kann54. Dies gilt für den Einheitsfanatismus der Aufklärung, die Religion ebenso, wie für die Einheit und die Identität der modernen Demokratie. Bakunin weitet diesen Kampf gegen Gott und Staat auf Intellektualismus, Bildung und Wissenschaft aus, weil „sie (…) die individuelle Fülle des Lebens auf dem Altar ihrer Abstraktion [opfert]“ (ebd.). Für das Leben des Menschen ist die Kunst wichtiger. Das sind starke Anleihen Bakunins bei Bergson. Mit ihrer Hilfe entwickelte man aus dem konkreten Leben der Arbeiterschaft die Bedeutung der Gewerkschaften im Allgemeinen und die Bedeutung des Streiks im Besonderen:

51 Pierre-Joseph Proudhon wollte das Eigentum – Was ist Eigentum? (1840) – breiter verteilen, nicht abschaffen. Eine Gemeinschaft der Gleichen lehnte er als stupide Einförmigkeit ab, da sie den Menschen Fesseln anlege. Ökonomisch strebte er eine Art Industriedemokratie an, in der die Arbeiter ihren Arbeitsplatz selbst gestalten würden. In seinen Vorstellungen waren Wirtschafts- und Gesellschaftsaufbau stark dezentralisiert, ein klassisches anarchistisches Anliegen (s. Priestland 2010, S. 49; Ottmann 2008, S. 202-206; s. Deppe 1999, S. 218). Sein Antipode im französischen Sozialismus war Louis Auguste Blanqui, der die Errichtung einer revolutionären Diktatur anstrebte. 52 Kracht (2008, S. 166). 53 Sorel (1969, S. 36 ff.) bekennt sich in „Über die Gewalt“ ausdrücklich zu dessen lebensphilosophischen Denken. 54 Peter Lösche in: Nohlen/Grotz (2015, S 8.).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

„So wurden Proudhon und Bakunin die Väter des Syndikalismus und schufen die Tradition, auf welcher, durch Argumente Bergsonscher Philosophie gestützt, die Gedanken von Sorel beruhen. Ihren Kern bildet eine Theorie vom Mythus, die den stärksten Gegensatz zum absoluten Rationalismus und seiner Diktatur bedeutet (…) (GLP 80).

Aber gerade auch der relative Rationalismus im Ideenkomplex von Parlamentarisierung, öffentlicher Diskussion und Ausbalancierung von Gegensätzen gerät in stärkste Opposition zur Idee unmittelbarer aktiver Entscheidung. Die Kraft zum Handeln und zum Heroismus, ja alle weltgeschichtliche Aktivität, so Schmitt, liege für Sorel in der Kraft zum Mythos. Sorel selbst versteht Mythen als Leitideologien, die – unbeschadet ihres Wahrheitsgehaltes – die Massen mobilisieren sollen, wie der Mythos des Generalstreiks das Proletariat.55 Diesen stellt er gegen die politisch-sozialen Gesellschaftsentwürfe der konventionellen sozialistischen Denker: „Mit dem Generalstreik aber verschwinden alle diese schönen Dinge; die Revolution erscheint als eine einfache und reine Empörung, und kein Platz bleibt mehr vorbehalten, weder für die Soziologen noch für die den sozialen Reformen freundlich gesinnten Männer der Gesellschaft, noch auch für die Intellektuellen, die es zu ihrem Beruf gemacht haben, für das Proletariat zu denken“.56

Schmitt formuliert: „In unmittelbarer Intuition schafft eine begeisterte Masse das mythische Bild, das ihre Energie vorwärts treibt und ihr sowohl die Kraft zum Martyrium wie den Mut zur Gewaltanwendung gibt. Nur so wird ein Volk oder eine Klasse zum Motor der Weltgeschichte“ (GLP 80).

Wo aber ist eine solche Masse, fähig zum Mythos, heute57 zu finden? Die verkommene, moralisch zerrüttete Bourgeoisie ist es jedenfalls nicht. Für Sorel sei es die Masse des Industrieproletariats mit ihrem Mythos des Generalstreiks, entstanden aus „der Unmittelbarkeit industriepolitischen Lebens“ (GLP 81), nicht aus einer Utopie, die rationalistischem Geist entspringe. So erscheint eine Philosophie friedlicher Verständigung, parlamentarischen Ausbalancierens als Verrat am Mythos, weshalb ihr „die kriegerische Vorstellung einer blutigen, definitiven, vernichtenden Entscheidungsschlacht“ (ebd.)

55 Vgl. Sorel (1969, S. 30 f.). 56 Ebd. S. 160; Herv. im Original). 57 Heute = zur Zeit Schmitts.

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

entgegengestellt werde. Deshalb ist der parlamentarische Konstitutionalismus 1848 von beiden Seiten unter Beschuss geraten: von der konservativ tradierten Ordnung in Gestalt von Donoso Cortes und vom Anarchosyndikalismus Proudhons. Beide drängen nach einer Entscheidung, beide verachten den Liberalismus, beide sind die eigentlichen Gegner, „alles andere provisorische Halbheit“ (GLP 83; nachst. GLP 83 ff.).

Die neue Moral ist – Männer kämpfen, ohne zu klagen – soldatisch und sie berechtigt zu neuem Glauben an das höchste moralische Ideal der Menschheit: den Sozialismus.58 Kampf, Schlacht, Krieg – Sorel bestimmt sie als die wahren Impulse intensiven Lebens, „aus denen eine moralische Dezision hervorgeht“ (ebd.). Der Antrieb dazu muss aus der Masse selbst kommen. Die Gewaltanwendung der Irrationalitätsphilosophie, die schöpferische Gewalt der enthusiasmierten Massen sei für Sorel keine Diktatur, die für ihn Zwang, Unterjochung und eine „militärisch-bureaukratisch-polizeiliche Maschine“ (GLP 84) im Gefolge habe. Für das Proletariat droht nur Gefahr, wenn es sich auf den Boden der parlamentarischen Demokratie ziehen lässt, weil es dann, so Sorel, sich seiner eigenen Kampfmittel berauben lässt (GLP 85). In der Diktatur des Proletariats sah Sorel eine Wiederholung der Jacobinischen Diktatur von 1793, die an die Stelle der alten bürokratisch-militärischen Institutionen nur neue gesetzt hätten. Dies wäre aber eine neue Herrschaft von Intellektuellen und Ideologen. So finden sich bei Sorel drei Grundmotive: ein intellektueller Antiintellektualismus und zweitens eine fundamentale Ablehnung aller Formen parlamentarischer Entscheidungsfindung.59 Zum dritten war er ein „Todfeind des Liberalismus“ (Georg Lichtheim)60, dessen Krise er an den Dekadenzerscheinungen seiner Epoche festmachte.61 Bei dieser Ideenkonstellation nimmt es nicht Wunder, dass Schmitt in seiner Parlamentarismus-Schrift mit diesen Gedanken Sorels arbeitet und konstatiert: „Die Theorie vom Mythus ist der stärkste Ausdruck dafür, daß der relative Rationalismus des parlamentarischen Denkens seine Evidenz verloren hat (GLP 89; nachst. s. GLP 89 f.).

Die Entdeckung des Mythos durch anarchistische Denker habe aber gegen deren Willen die Grundlage für eine neue Autorität gelegt, „eines neuen

58 59 60 61

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Deppe (1999, S. 226). Kracht (2008, S. 169). Hier zit. nach Deppe (1999, S. 222). Ebd.

II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

Gefühls für Ordnung, Disziplin und Hierarchie“ (ebd.; s. hier 7.2). Freilich bestehe immer die ideelle Gefahr eines nicht mehr überschaubaren Mythenpluralismus, Polytheismus für die politische Theologie. Unabhängig davon sei eine starke Tendenz gegenwärtig. Schmitt schließt aber nicht aus, dass ein parlamentarischer Optimismus diese Bewegung aussitzen könne, bis zur Wiederaufnahme der Diskussion. Die Gegenfrage „Parlamentarismus, was sonst?“ reiche aber nicht mehr aus. „Das wäre ein hilfloses Argument und nicht imstande, das Zeitalter der Diskussion zu erneuern“ (GLP 90). 7.2. Die Energie des Nationalen. Die neue Autorität und ordnende Kraft, die Schmitt durch den Mythos geschaffen sieht (s.o.), ist das Nationale62. Dessen Energie sei in neuerer Zeit größer als die des Klassenkampfmythos (GLP 88).63 Die Begeisterung für das Nationale erläutert Schmitt anhand des italienischen Faschismus.64 In Italien sei es zur offenen Konfrontation zwischen beiden Mythen gekommen, der nationale Mythos – verkörpert im Faschismus – habe obsiegt. Schmitt zitiert Mussolini vor dessen Marsch auf Rom: „Wir haben einen Mythus geschaffen, der Mythus ist ein Glaube, ein edler Enthusiasmus, er braucht keine Realität zu sein, er ist ein Antrieb und eine Hoffnung, Glaube und Mut. Unser Mythus ist die Nation, die große Nation, die wir zu einer konkreten Realität machen wollen“ (GLP 89)."

Insbesondere die demokratische und parlamentarisch konstitutionelle Vergangenheit Italiens auf dem Gedankengut des angelsächsischen Liberalismus unterstreiche die Kraft des Mythos des Nationalen (vgl. ebd.). Die Gleichsetzung der Mythentheorie Sorels mit dem Experiment des italieni-

62 Im Nationalgefühl sind verschiedene Elemente auf höchst verschiedenartige Weise bei den verschiedenen Völkern wirksam: die mehr naturhaften Vorstellungen von Rasse und Abstammung, ein anscheinend mehr für kelto-romanische Stämme typischer „terrisme"; dann Sprache, Tradition, Bewußtsein gemeinsamer Kultur und Bildung, Bewußtsein einer Schicksalsgemeinschaft, eine Empfindlichkeit für das Verschiedensein an sich − alles das bewegt sich heute eher in der Richtung zu nationalen als zu Klassengegensätzen. 63 So habe die proletarische Gewaltanwendung Russland gegen eine Oberschicht, die das eigene Land verachtet, wieder russisch gemacht (GLP 88). 64 Weitere Belege findet Schmitt in den revolutionären Kriegen Frankreichs, den deutschen Freiheitskriegen gegen Napoleon (GLP 88).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

schen Faschismus ist für Kracht „konkretistisch verengt(e)“65. Im Ergebnis setzt sich die Idee „Mussolini“ gegen den Parlamentarismus und den Bolschewismus durch.66 8. Resümee. Carl Schmitts erklärte Absicht seiner Parlamentarismus-Schrift war primär nicht wissenschaftlicher Natur, ihre Absicht war, „den letzten Kern der Institution des modernen Parlaments zu treffen“ (GLP 30). Der Gegenwartsbezug und die politische Absicht der Schrift liegen somit offen. Zwei zentrale Angriffspunkte macht Schmitt aus. Einmal sei die Vorstellung eines government by discussion mit der „Transzendenz des Souveräns“67 inkompatibel. Und zweitens sei selbst das Prinzip einer rationalen überzeugenwollenden Diskussion unter den Bedingungen der Massendemokratie (s. GLP 21) und dem Ansturm von Interessengruppen und Interessenparteien zur Fassade degeneriert. Damit besteht für Schmitt die – auch anderenorts beschworene – grundsätzliche Gefahr, dass das Ökonomisch-Technische das Politische ablöst und die Welt zu einem großen Betrieb (M. Weber) umformt.68 Im Konzert mit dem ewigen Gespräch der occasionalistischen und dezisionsunfähigen Romantik ist so das Politische, als die Fähigkeit, Freund und Feind zu scheiden, nach einem schleichenden Verfallsprozess erloschen.69 Wir erinnern: Es war eine der wesentlichen Einsichten Carl Schmitts in der Politischen Theologie, dass eine Staatslehre ohne Staat70 das maßgebliche Kriterium von Staatlichkeit verneint: die Entscheidung über den Not65 Kracht (2008, S. 170). Kracht gewinnt diese These aus einem Vergleich der Argumentation Carl Schmitts, mit der Walter Benjamins, der ebenfalls ein erklärter Kritiker des Parlamentarismus seiner Zeit war (Benjamin 2009). Benjamin sei in seiner Abhandlung „Zur Kritik der Gewalt“ (1921) der eschatologischen Zielrichtung des Sorelschen Gewaltbegriffs wesentlich nähergekommen, weil er ihn aller Funktionalität entkleidet und als reine Form begriffen habe (vgl. Kracht 2008, S. 169 f.). 66 Mehring (2017, S. 67). 67 Brokoff (2001, S. 42). 68 Siehe nur (PT 68 f.). 69 So Brokoff (2001, S. 42 f.). Siehe auch „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ (BP 79-95). 70 „Die reine Rechtstheorie vom Staat, die den Begriff eines vom Recht verschiedenen Staates auflöst, ist eine Staatlehre – ohne Staat“ (Kelsen 1923, S. 283).

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II. Vorbemerkung (über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie).

und Ausnahmezustand. Diese Haltung führt letztlich zu einer Aushöhlung des Kerngehalts der souveränen Entscheidung an sich. Nun werde gar geleugnet, dass in der Situation des Ausnahmezustandes eine Entscheidung überhaupt notwendig ist (vgl. PT 63 ff.). Diese Negation der Entscheidung wirkt par excellence in der Praxis von Liberalismus und Parlamentarismus. Schmitt hatte in klassischer Polemik formuliert, der Liberalismus würde auf die Frage: „Christus oder Barrabas, mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission antworten“ (PT 66). Und, fährt Schmitt fort, der Liberalismus diskutiere und transagiere jede politische Einzelheit und möchte selbst die metaphysische Wahrheit in eine Diskussion auflösen. „Sein Wesen ist Verhandeln, abwartende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutige Entscheidungsschlacht, könnte in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch eine ewige Diskussion ewig suspendieren“ (PT 67).

Das aber ist nicht die Art von Diskussion, wie sie in der originären Idee des Parlamentarismus grundgelegt war. Eine rationale Diskussion musste dies sein, mit dem Ziel, auf dem Markt der politischen Meinungen zu überzeugen und der Bereitschaft sich überzeugen zu lassen. Gelingen kann dies – nach Schmitt – nur, wenn auch die Gewalten geteilt sind. Ein so verabschiedetes Gesetz erscheint dann als rationales Produkt einer parlamentarischen Diskussion bei geteilten bzw. gleichgewichtigen Gewalten. Vervollständigt man die Prinzipien des Parlamentarismus mit dem Element der Öffentlichkeit der parlamentarischen Handlungen, nimmt man die Rechte der Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit hinzu, so kann man mit Ottmann cum grano salis von einem liberalen System der Politik71 sprechen – was Schmitt dem Liberalismus der Idee nach auch gar nicht abspricht.72 Allein, Schmitt misst die geübte parlamentarische Praxis an seiner eigenen idealtypischen Rekonstruktion des klassischen Liberalismus73 und kommt so prima facie zu einem vernichtenden Urteil – nach

71 Nicht aber von einem „Politischen System“ in modernem Sinne (s. nur Andersen/ Woyke 2003, S. 532-538). 72 Vorst. vgl. Ottmann (210, S. 237); s. auch Brokoff (2001, 41 ff.). 73 Mehring (2017, S. 66).

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Zweites Kapitel: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

Meinung Ottmanns „geistreich formuliert“74, doch „maßlos überspitzt“.75 Die Verwerfung des liberalen Parlamentarismus ist aber, so Mehring, nicht automatisch eine Absage an „die zivilisierende und pazifizierende Kraft öffentlicher Debatten und politischer Öffentlichkeiten“.76 Zwar gerät Schmitt – alternativ zu Idealismus und Rationalismus – gelegentlich in die Sphäre unmittelbarer Gewaltanwendung, bekennt sich aber ausdrücklich zu den Prinzipien einer rationalen Politik. Über Schmitts Klassiker-Interpretationen von Rousseau, Marx oder Sorel lässt sich ideengeschichtlich trefflich disputieren, insbesondere seine Rousseau unterlegte antiliberale und nationalistische Ausrichtung der volonté générale hat zum Widerspruch gereizt.77 Spannend ist Schmitts eigene Deutung der bolschewistischen und faschistischen Bewegung im Jahr 1923.78 Er erkennt in ihnen in unterschiedlichen Graden marxistische, anarchistische aber auch nationalistische Elemente, die es für ihn rechtfertigen, sie unter die Kriterien einer irrationalistischen Philosophie „unmittelbaren konkreten Lebens“ (GLP 79) zu subsumieren.

74 Ottmann (2910, S. 238; nachst. Zit. ebd.). 75 Das kann man in der Sache sicher für begründet halten, aber man kann sich n.u.A des Eindrucks manchmal nicht erwehren, dass die Kritik an Schmitt etwas milder ausgefallen wäre, hätte er seine Argumente – unabhängig seiner polemischen Absicht – nicht so geistreich oder nicht so stilistisch geschliffen präsentiert. Es gibt in der Sekundärliteratur und selbstverständlich nicht nur bei Ottmann, dem ein ausgewogenes Urteil über Schmitt und sein Werk in keinster Weise abgesprochen wird, mehrere dieser Stellen, an denen sich dieser Eindruck einstellt. 76 Mehring (2017, S. 67; nachst. vgl. S. 68 f.). 77 Siehe ebd. mit Nachweis. 78 Ebd. S. 67.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

I. Die Regierung Stresemann: Wege aus der Krise. Der Regierung Cuno folgte die „Große Koalition“ – SPD, DDP, Zentrum und DVP als ein „Zusammenschluß aller den demokratischen Staatsgedanken bejahenden Kräfte“ – Gustav Stresemanns.79 Sie stand vor einer unentwirrbar scheinenden Problemgemengelage. Der Beendigung des unfinanzierbaren Ruhrkampfs hatte die Ablösung der französischen Besatzung durch ein Arrangement über die Reparationen zu folgen. Ohne dieses hatte Deutschland keine Aussicht auf die dringend benötigten Auslandskredite. Die Lösung der Reparationsfrage wiederum setzte eine Beendigung der Hyperinflation voraus, der unvermeidlich soziale Verteilungskämpfe folgen mussten.80 Und über allem bedrohten politisch radikale Bewegungen in Bayern, Mitteldeutschland und im Rheinland die junge unsichere Demokratie.81 Am 26. September 1923 brach Stresemann den passiven Widerstand ab und nahm die Reparationszahlungen und Besatzungskosten wieder auf. Am 24. Oktober stellte die Regierung den Antrag, eine Untersuchung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands aufzunehmen. Im November wurde mit der Schaffung der Deutschen Rentenbank und der „Rentenmark“ endlich die Basis für eine stabile Währung gelegt und so auch der Weg zu Verhandlungen über das Reparationsproblem geöffnet. Aufstands- und Putschversuche von links und rechts hielten die Republik in Atem.82 In Sachsen und Thüringen war die KPD taktische Regierungskoalitionen mit der SPD eingegangen, um sich eine bessere Basis für die geplanten revolutionären Erhebungen zu verschaffen. In Überschätzung der Kampfbereitschaft ihrer Anhänger und die schnelle und entschlossene Aktion der Reichsregierung – Verhängung des Ausnahmezu-

79 Kolb/Schumann 2013, S. 53. 80 Heftig wurde über die Frage von Arbeitszeitverlängerungen debattiert, s. dazu Longerich(1995, S. 138 ff.). 81 Longerich (1995, S. 137). 82 Zu den einzelnen Aktionen s. Kolb/Schumann 2013, S. 53-56.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

stands und Reichsexekution gegen Sachsen – hatte die KPD-Führung schon Ende September den Rückzug angetreten. Zeitgleich spitzte sich die Auseinandersetzung Bayerns mit dem Reich zu. In Bayern hatten die Aufgabe des Ruhrwiderstandes und die Bildung linker Regierungsbündnisse in Mitteldeutschland eine nervöse Spannung ausgelöst. Die bayerische Regierung verhängte den Ausnahmezustand und berief den eigentlich „starken Mann“, Ritter v. Kahr, zum „Generalstaatskommissar“, „also zu einer Art Landesdiktator“.83 Im Oktober widersetzte sich die 7. Reichswehrdivision unter General von Lossow Befehlen der Reichsregierung. Die von Ebert am 3. November gewünschte Reichsexekution erklärte der Chef der Heeresleitung Seeckt für unmöglich, da Reichswehr nicht gegen Reichswehr marschiere – die von Seeckt gewünschten Diktaturvollmachten verweigerte Ebert. Seeckt richtete aber auch eine eindringliche Warnung an Kahr und Lossow, „sich von den völkischen und nationalistischen Extremisten nicht zu sehr ins Schlepptau nehmen zu lassen“, die nicht ohne Wirkung blieb: Kahr und Lossow verhielten sich nunmehr gegenüber einem selbstständigen Losschlagen reserviert. Die rechtsextremen Organisationen, Hitler und Ludendorff voran, entschieden sich dazu, den Staatsstreich zu erzwingen. Sie funktionierten eine vom „Triumvirat“ Kahr, Lossow und Seißer84 veranstaltete Versammlung im Bürgerbräukeller um. Hitler umstellte mit SA-Leuten den Versammlungsort, zwang das „Triumvirat“ auf seine Linie, erklärte die bayerische Regierung für abgesetzt und proklamierte die provisorische Reichsregierung Ludendorff-Hitler-Lossow-Seißer. Die reguläre bayerische Regierung hatte aber schon nach einigen Stunden ihre Handlungsfähigkeit wiedergewonnen und widerrief umgehend ihre Beteiligung. Überspielt setzen Hitler-Ludendorff alles auf eine Karte und ziehen mit ihren Anhängern durch die Münchner Innenstadt. An der Feldherrnhalle wird die „nationale Revolution“ aufgehalten und beschossen, der Putschversuch ist gescheitert. Auch Seeckt, von Ebert mit der vollziehenden Gewalt im Reich und mit dem Oberbefehl der Wehrmacht ausgestattet, nutzt seine „diktatorischen“ Vollmachten nicht. Die NSDAP und die rechtsextremistischen Organisationen wie auch die KPD werden im gesamten Reichsgebiet verboten.

83 Longerich (1995, S. 141). 84 Seißer war der Kommandeur der bayerischen Polizei.

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II. Das Völkerrecht in Weimar.

Die Republik hat sich in der Zerreißprobe des Herbstes 1923 behauptet. Die Inflation war durch die Währungsreform gestoppt worden und die außenpolitische Konfliktlage entspannte sich. Die äußerste Linke spielte bis 1930 kaum mehr eine Rolle, nur vorläufig gedämmt allerdings waren die Rechtsextremen, denn nach wie vor „existierte – in einzelnen Bevölkerungskreisen wie in den Funktionseliten – ein massives antirepublikanisch-antidemokratisches Potential“.85 Auf nur dünnem Boden zeichnete sich gleichwohl die Chance einer Konsolidierung der Republik ab. „Die relativ glatte Lösung der äußerst verwickelten, mehrschichtigen Krisensituation von 1923 durch die Große Koalition unter Stresemann ist wohl das stärkste Argument gegen die These, die Weimarer Republik sei von Anfang an zum Scheitern gewesen“.86

II. Das Völkerrecht in Weimar. 1. Das Völkerrecht der Zwischenkriegszeit in Deutschland. Die Völkerrechtswissenschaft in Deutschland war um 1900 ein akademisches Randgebiet.87 Das Machtstaatsdenken bestärkte die Völkerrechtsleugnung mindestens aber seine Deutung als „Außenstaatsrecht“. Die Zunahme der internationalen Spannungen rückte das bellizistische Völkerrechtsdenken in den Vordergrund, während die Vertreter der Friedensbewegung Randfiguren blieben. Erst 1914 und erst recht nach Versailles wurde die völkerrechtliche Lücke im System der Rechtswissenschaften offenbar. Erst jetzt gelang die Gründung eines Instituts für Internationales Recht in Kiel, das während des Krieges das eigentliche Zentrum des Völkerrechts in Deutschland war. Eine stärkere Hinwendung der deutschen Staatsrechtslehre zum Völkerrecht erfolgte während des Weltkrieges.88 Der Vertrag von Versailles und die neue Institution des Völkerbundes waren schließlich mit den vielfältigen Fragen, die sie aufwarfen, die Initialzündung für das Völkerrecht in Deutschland.

85 86 87 88

Siehe Kolb/Schumann (2013, S. 55 f.). Longerich (1995, S. 144). Stolleis (2002, S. 88; nachst. s. S. 88 f.). 1917 wurde die Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht gegründet.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

Für die politische Verortung Carl Schmitts ist es wichtig zu wissen, dass es einen wirklich neutralen Standort in diesen Fragen in Deutschland nicht gab. Ohnehin waren die deutschen Wissenschaftler in der Mehrzahl politisch im Spektrum von DVP und DNVP positioniert. Sie sahen sich zum Patriotismus nachgerade verpflichtet und suchten bei der Interpretation des Völkerrechts nach den für Deutschland günstigsten Lösungen. Darüber bestand freilich die Gefahr, „nur noch als Rechtsdisziplin gegen die Sieger und den Völkerbund verstanden zu werden“.89 Aber es gab als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg auch eine internationale Bewegung für eine friedliche Weltordnung. In ihr sollte die Souveränität des Staates gerade nicht mehr zentral gesetzt sein. Als Vertreter der pazifistischen Völkerrechtslehre sind zu nennen Walther A. Schücking und Hans Wehberg.90 und die Wiener Schule mit ihrem Doyen Hans Kelsen. 2. Biographische und werkgeschichtliche Vorbemerkungen. Erst in seinen Bonner Jahren geraten die Problemkreise der internationale Beziehungen und des internationalen Rechts in den Fokus des zusehends politisierten Carl Schmitt.91 Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Besetzung des Rheinlandes durch französische und belgische Truppen der konkrete Anlass hierfür war. Mehring datiert Schmitts Franzosenhass und die Mobilisierung seines Nationalismus auf diese Zeit.92 So trat zum Kampf gegen Weimar nunmehr der Kampf gegen den Friedensvertrag von Versailles, den völkerrechtlichen Endpunkt des Weltkriegs, und den Genfer Völkerbund hinzu. Schmitt stand, wie dargelegt, damit keineswegs alleine. Sein Bonner Kollege, der Staatsrechtler Philipp Zorn resümierte: „Der Friedensvertrag ist ein furchtbarer und schreiender Widerspruch zur Rechtsidee“.93 In Bonn lag das Lehramt für Völkerrecht bei Erich Kaufmann. Dieser war aber als völkerrechtlicher Berater des Auswärtigen Amtes und als Vertreter des Reichs vor internationalen Schiedsgerichten so ausgelas89 Stolleis (2002, S. 88). Dieselbe Gefahr bestand für die Geschichtswissenschaften, die sich nur der Widerlegung der Kriegsschuldthese – und partiell einem Nachweis der „Dolchstoßlegende“ – verpflichtet sahen (ebd.). 90 Siehe ebd. S. 88 f. 91 Nachst. s. Neumann (2015, S. 419). 92 „Seinen alten Hass auf den preußischen Militarismus überträgt er damals auf die Franzosen“ (Mehring 2009, S. 158). 93 Zit. n. Stolleis (2002, S. 87).

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II. Das Völkerrecht in Weimar.

tet, dass Schmitt die Völkerrechtsvorlesungen übernahm und schon bald begann, auf diesem Rechtsgebiet zu publizieren. 3. Carl Schmitts völkerrechtliche Grundposition. Schmitts völkerrechtliche Grundposition, wir müssen hier vorgreifen94, folgt aus seiner Bestimmung des Staates: „Staat ist (…) der politische Status eines in seiner territorialen Geschlossenheit organisierten Volkes“ (BP 20). Das Politische ist bei Schmitt als die Unterscheidung von Freund und Feind bestimmt (s. BP 26). Aus der Freund-Feind-Unterscheidung folgt für ihn der Pluralismus der Staatenwelt, also die Existenz mehrerer Staaten: „Es gibt deshalb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden Welt‚staat‘ geben. Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum“ (BP 54).95

Die Anerkennung des Pluriversum-Axioms schließt folglich Entwicklungen, die zu einer Verdrängung des Staates aus seiner zentralen Stellung im Völkerrecht führen ebenso aus, wie Entwicklungen, die auf „die Institutionalisierung einer Weltrechtsordnung, auf einen Universalismus hinaus laufen“.96 „Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das ius belli (…)“ (BP 45)97. Einer der wesentlichen Kritikpunkte Schmitts am Genfer Völkerbund und an der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen sind völkerrechtliche Ansätze, die den Staaten das ius ad bellum entziehen wollen.98

94 Siehe hier Der Begriff des Politischen, Sigle = BP. 95 „Menschheit“ ist keine politische Kategorie, sie kann keinen Feind – wenigstens nicht auf diesem Planeten (BP 54) – unterscheiden und folglich nicht Krieg führen. Kriege, die trotzdem im Namen der Menschheit geführt werden, sind in Wahrheit Kriege zwischen Staaten. „Menschheit“ bedeute dann nur, so Schmitt, dass dem Feind die Qualität des Menschen abgesprochen wird; solche Kriege verlaufen dann besonders unmenschlich. Denn: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ (BP 55). 96 Neumann (2015, S. 421). 97 Herv. im Original. 98 Siehe Neumann (2015, S. 421).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

III. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925). Rede gehalten zur Jahrtausendfeier der Rheinlande in Köln am 14. April 1925. Einer der ersten und wichtigsten völkerrechtlichen Arbeiten und der erste große politische Auftritt Carl Schmitts ist die Rede Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik.99 Der Vortrag beschäftigt sich mit dem völkerrechtlichen Status der Rheinlande (PuB 26-33). Den Rheinlande-Aufsatz ergänzt 1928 der Aufsatz Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet (PuB 97-108) ebenso wie die Schrift Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (PuB 162-179) von 1932. 1. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik. Schmerzlich sei es, leitet Schmitt ein, von den Rheinlanden als einem „Objekt internationaler Politik“ zu sprechen, jedoch sei diese Gefahr – siehe den Herbst 1923 – immer latent, auch wenn das Schlimmste überwunden scheine (vgl. PuB 26; nachst. s. ebd.). Vorsicht also sei geboten, auch – so Schmitts Hauptthese – weil es heute andere Pläne und Kombinationen gebe, aus den Rheinlanden ein Objekt fremder internationaler Politik zu machen. Denn man höre von Bestrebungen, das in der Folge des Versailler Vertrages entmilitarisierte Gebiet durch besondere Einrichtungen und Kontrollen vom übrigen Deutschland zu trennen, zwischen beiden eine „völkerrechtliche Verschiedenheit“ herbeizuführen und so ein „besonderes Regime zu errichten“, das die deutsche Staatsgewalt beseitige, um „aus den Rheinlanden ein Objekt internationaler Politik zu machen und den Objektcharakter zu organisieren und zu legalisieren, nachdem diese Länder infolge der Besetzung schon zu einer Art Pfandobjekt geworden sind“ (PuB 26).

Mit herkömmlichen völkerrechtlichen Begriffen wie Protektorat100 oder Annexion seien diese anderen Formen und Methoden der Beherrschung nicht mehr zu fassen. Die Vorsicht aus Deutschlands tausendjähriger Geschichte gebiete es bei der althergebrachten Annexion, von der heute nach

99 Mehring (2009, S. 192). 100 Näher dazu (PuB 28).

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III. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925).

vier Jahren Krieg niemand mehr spricht (PuB 27), darüber nachzudenken, ob es sich vielleicht um andere Formen der Beherrschung handelt, „die gerade eine offene politische Unterwerfung vermeiden, und das Land, das beherrscht werden soll, als Staat bestehen lassen, ja, wenn es notwendig ist, einen neuen unabhängigen Staat schaffen, dessen Freiheit und Souveränität ausdrücklich proklamiert wird, so daß scheinbar das Gegenteil dessen geschieht, was man als Herabwürdigung eines Volkes zum Objekt fremder Politik bezeichnet könnte“ (PuB 28).

So sei zwischenzeitlich die Form des Protektorats veraltet und folglich durch ein neues Verfahren ersetzt worden, wie Schmitt am Beispiel des Verhältnisses zwischen England es mit Ägypten expliziert (s. PuB 28 f.). Die Herrschaft Englands beruhe rechtlich auf vier Vorbehalten, die England zur Intervention berechtigen: Verteidigung und Schutz des Suezkanals durch England; Schutz der fremden Interessen in Ägypten durch England; Schutz Ägyptens gegen fremde Angriffe durch England; Verwaltung des Sudans, d.h. des oberen Nillaufes durch England.101 „Ein Begriff wie ‚Schutz fremder Interessen‘ ist wegen seiner Unbestimmtheit besonders geeignet, einem auf ihm aufgebauten Interventionsrecht den Charakter einer wirklichen Herrschaft zu geben“ (PuB 29).

Im Falle der althergebrachten Annexion behielt die Bevölkerung eines beherrschten Gebietes die Staatsangehörigkeit des beherrschenden Staates und der annektierende Staat musste die Verbindlichkeiten des annektierten Staates übernehmen (Staatensukzession). Zudem bestand das Problem, dass die Bevölkerung des beherrschten Gebietes die Staatsangehörigkeit des beherrschenden Staates erwirbt. Insbesondere für demokratisch verfasste Staaten sei hier Vorsicht geboten, „weil man nicht jeder beliebigen Bevölkerung gleiche Staatsbürgerrechte verleihen kann“ (PuB 30). In juristischer Diktion sollen i.d.R. die rechtlichen Folgen einer Staatensukzession vermieden werden (PuB 30). Nunmehr sichern offene Begriffe wie Kontrolle dem imperialistischen Staat alle wirtschaftlichen Vorteile einer Beherrschung, ohne diese mit dem Beherrschten teilen zu müssen und Begriffe wie Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung verlieren ihre tradierte Bedeutung (s. PuB 30).102 Neben zahlreichen anderen Vorteilen politischer wie wirtschaftli-

101 Gleiches gelte im Ergebnis für das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika zu Kuba, Haiti, San Domingo und Panama (vgl. PuB 29). 102 Vgl. Neumann (2002, S. 428).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

cher Art genieße das System der Kontroll- und Interventionsverträge noch den moralischen Vorteil, „daß es sich auf die Heiligkeit der Verträge und den Satz pacta sunt servanda berufen und auf diese Weise den Unterworfenen moralisch paralysieren kann“ (PuB 106).

Als Folgen dieser Methode verlieren Begriffe wie Unabhängigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung, Souveränität ihren alten Sinn, die politische Gewalt des kontrollierten Staates verfällt und er kann im Konfliktfall sein eigenes politisches Schicksal nicht mehr selbst bestimmen: „Entscheidend ist, daß der beherrschte und kontrollierte Staat nicht mehr in seiner eigenen Existenz die maßgebliche Norm seines politischen Handelns findet, sondern in den Interessen und in der Entscheidung eines Fremden“ (PuB 30).

Dieser Fremde wird dann intervenieren, wenn es in seinem politischen Interesse geboten scheint. Dazu werden in aller Regel offene Begriffe gewählt, die der Fremd inhaltlich selbst ausfüllt; Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Schutz fremder Interessen und des Finanzkapitals, Einhaltung internationaler Verträge. Die Unbestimmtheit dieser Begriffe sichert ihm letztlich „eine grenzenlose Macht“ und „das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes verliert dadurch seine Substanz“ (PuB 31). Bei der politischen Annexion alten Stils war der Annektierte noch inkorporiert worden. „Der Sieger übernahm mit dem Land und seiner Bevölkerung auch eine politische Verantwortung und eine Repräsentation. Das annektierte Gebiet hatte sogar die Möglichkeit, ein Teil des neuen Staates zu werden, mit ihm zusammenzuwachsen und dadurch der entwürdigenden Situation eines bloßen Objekts zu entgehen“ (PuB 31).

Mit den neuen Methoden zerfällt all dieses, der kontrollierende Staat sichert sich alle militärischen und wirtschaftlichen Vorteile einer Annexion, aber ohne alle Lasten, und was als staatliche Autorität auftritt, ist abhängig von den Interessen und der Entscheidung des Fremden (s. ebd.). Schmitt verknüpft seine bisherigen Ausführungen nunmehr mit dem Vertrag von Versailles. Er wolle nicht sagen, dass dieser die Souveränität Deutschlands aufgehoben habe: „Aber wenn das nicht der Fall ist, wenn Deutschland in einem bescheidenen Rahmen immer noch die Möglichkeit einer deutschen Politik hat, so liegt das

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III. Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925).

an der Zahl der Gegner, denen es sich unterwirft, und ferner an der Entwicklung der letzten Jahre, aber nicht an dem Vertrage selbst“ (PuB 32).

Die Gefahr für Deutschlands Souveränität sieht Schmitt in der Verwendung von gefährlichen unbestimmten Begriffe,: „Sie können ganz Deutschland in ein politisches Objekt verwandeln“ (ebd.). Schmitt benennt derer vier: Reparation, Sanktion, Investigation und Okkupation. Der Umfang der Reparationen, lange Zeit unbestimmt, gestatte nach dem nun geltenden Dawes-Plans wenigstens einen Überblick über das Ausmaß der Leistungspflicht (PuB 32; nachst. 32 f.). Das Sanktionsrecht gestatte nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages – bei einseitiger und willkürlicher Auslegung – eine immer neue Unterwerfung Deutschlands. Das Investigationsrecht (Nachforschungsrecht) des Völkerbundes berge ebenfalls die Gefahr unabsehbarer Auslegungen, weil es die ganze Industrie und Wirtschaft des Landes umfasst. Für die Okkupation deutschen Gebietes sei weder die Stärke der Besatzungstruppen noch seien die Befugnis der Besatzungsbehörden geregelt. Der unbestimmte Begriff laute hier: „Sicherheit und Würde der Besatzungstruppen“. Auch die Besetzungsfristen unterlägen einseitiger Auslegung, und hätten nach Poincarés Auffassung noch nicht einmal zu laufen begonnen: „Sie zeigt den ganzen Abgrund von Unbestimmtheit, dessen Opfer Deutschland nach diesem Vertrag werden kann. Die Folgen all dieser systematischen Unbestimmtheiten ist furchtbar. Denn ein Friedensvertrag hat doch wohl den Sinn und den Zweck, den Krieg zu beendigen und den Zustand des Friedens zu begründen“ (PuB 33).

So aber bleiben in der Argumentation Schmitts die elementaren Begriffe Krieg und Frieden unbestimmt, verlieren damit ihren einfachen Sinn und lösen sich in einen „quälenden Zwischenzustand“ auf (ebd.). 2. Die moralisierende „pacta-sunt-servanda“-These. Wir hatten bereits erwähnt, dass mit dem heutigen System der Interventionsverträge moralisch auf die Heiligkeit der Verträge – pacta sunt servanda – gepocht werden kann (PuB 106). Diese „pacta-sunt-servanda“-These findet sich in weiteren Beiträgen Schmitts, auf die im Einzelnen einzugehen nicht nötig ist. Schmitt sieht selbst bei sympathischen und vertrauenserweckenden Namen wie Vergleich, Verständigung und Versöhnung die

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

Gefahr, dass sie wenig über die Sache aussagen, sondern vielmehr „als Mittel einer justizförmigen Verschleierung“103 eingesetzt werden und „daß schöne und sogar heilige Worte im politischen Kampf gebraucht werden, um den Gegner durch moralische Suggestion zu lähmen (…). Eine Vergleichs- und Verständigungspolitik kann trotz ihres Namens sehr einseitigen politischen Zwecken dienen“ (PuB 103).

Schmitt belegt dies anhand einer eigens für das entmilitarisierte Gebiet eingesetzten Vergleichskommission, die der Entscheidung des Völkerbundrates jedenfalls vorgreift. Sie sei eine internationale Instanz, die für ein abgegrenztes Gebiet des Deutschen Reiches zuständig ist, was heiße: „das entmilitarisierte Gebiet ist bei einer solchen Kommission nicht nur der im Versailler Vertrag vorgesehenen Sonder r e g e l u n g, sondern auch einer Sonder o r g a n i s a t i o n unterworfen. (…) Denn damit ist erreicht, daß ein bestimmter Teil des Deutschen Reiches, und zwar gerade die Rheinlande, geradezu eine besondere Verfassung erhalten“ (PuB 103).104

Damit hätten vierzehn Millionen Deutsche nicht mehr die deutsche Regierung, sondern eine internationale Kommission als höchste Autorität über sich, die den Kompromissinteressen Englands und Frankreichs diene und nicht denen des ganzen Völkerbundrates (PuB 104). Derartige justizförmige Verschleierungen „verdecken eine harte und grausame Art Politik und verschaffen einem ruheund gerechtigkeitsbedürftigen Volk für kurze Zeit den Eindruck einer Stabilisierung und Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Verhältnisse“ (PuB 104/105).

Diese Argumentationsfigur findet sich bei Schmitt noch öfter: „(…) und die Verrechtlichung ist in Wirklichkeit nur eine Methode justizförmiger Politik, die der Ausbeutung und Unterdrückung legale Formen leiht“ (PuB 105).

Den Status quo der Rheinlande sieht Schmitt durch Okkupation (PuB 34) und Entmilitarisierung (PuB 35) und durch die Folgen des Vertrages von Versailles bestimmt, die Idee des Genfer Völkerbundes nichts weiter als den gescheiterten Versuch, den Status quo zu legitimieren.105

103 Neumann (2015, S. 429). 104 Herv. im Original. 105 Siehe Neumann (2015, S. 429). Huber kommentiert die Ausführungen Schmitts: Der Völkerbund sei nur ein Instrument im Dienst der westlichen Großmächte gegenüber den schwachen und entwaffneten Staaten, d.h. hinter der Maske der uni-

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IV. Der Genfer Völkerbund.

IV. Der Genfer Völkerbund. 1. Der Genfer Völkerbund: Werkgeschichtliche Vorbemerkungen. Eine völkerrechtliche Befassung mit der Problematik der Rheinlande muss mit einer Behandlung des Genfer Völkerbundes einhergehen. Die erste völkerrechtliche Publikation hierzu ist eine Sammelrezension von fünf neueren Schriften, die Schmitt 1924 unter dem Titel Die Kernfrage des Völkerbundes (1924) 106 veröffentlichen lässt. Diese erweitert Schmitt 1926 erheblich. Sie erscheint ebenfalls unter dem Titel Die Kernfrage des Völkerbundes (1926), nach der wir zitieren. Die Aktualität und Problematik dieses Problemkreises waren sicherlich der Grund für zwei weitere Aufsätze Schmitts: Völkerbund und Europa (1928)107 – in dem vor allem die Stellung der USA zum Völkerbund und zu Europa erörtert werden – und Der Völkerbund (1931)108, der sich vornehmlich mit der Institution des Völkerbundes selbst befasst.109 Bei der Frage der Entstehung des Völkerbundes schließt sich Schmitt der Auffassung an, „der Völkerbund sei nichts anderes als die Fortsetzung des Bundes der alliierten Mächte des Weltkriegs, „eine Namensänderung des Feindbundes“, wie ein deutscher Kritiker geschrieben hatte (s. KdV 1926, S. 97).110 Anderer Ansicht war Schmitts Kollege Richard Thoma, der zwar ebenfalls die Härten und moralisierende Gehässigkeit im Versailler Vertrag beklagte, aber auch die Mitwirkungsrechte und Ansprüche für Deutschland konzedierte. 2. „Die Kernfrage des Völkerbundes“. 2.1. Die Ausgangsfrage. Die Schrift, leitet Schmitt ein, soll den Kern dieser Genfer Einrichtung erkennen, die für viele Völker, am meisten aber für Deutschland, „zum

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versalen Völkergemeinschaft sei der westlich-demokratische Imperialismus verborgen (Huber ZgStW 101 (1941) S. 28; hier zit. n. Neumann 2015, S. 429 FN 73). Sigle = (KdV 1926). Abgedruckt in PuB S. 88-97. Sigle = DV; abgedruckt in FoP S. 35-47. Vgl. Neumann (2015, S. 403 f.). Ebd. S. 431; nachst. s. ebd.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

Schicksal werden kann“ (KdV 1926, S. 74).Die Kernfrage dazu formuliert Schmitt so: „Die Kernfrage des Völkerbundes betrifft aber gerade die Frage nach der Eigenart der in ihm verkörperten rechtlichen Ordnung. Es ist die Frage, ob er überhaupt als die Verkörperung einer, den status quo von Versailles zur Grundlage nehmenden, rechtlichen Ordnung angesehen werden kann, oder nur als ein politisch-praktisches Zweckgebilde“ (KdV 1928, S. 84).

Daran schließe sich die Frage an, ob der Genfer Völkerbund ein wirklicher Bund ist und so eine besondere Art von Legitimität begründet (KdV 1926, S. 86).111 „Das eben ist entscheidend für die Kernfrage des Völkerrechtes: Ob er mehr ist als ein Büro, auch mehr als ein Bündnis, ob er als ein wirklicher Bund betrachtet werden kann. Ist er ein echter Bund, so legitimiert er den status quo von Versailles – eine folgenreiche, unabsehbare Konsequenz“ (KdV 1926, S. 82).

Die Frage ist, wie Neumann urteilt, in der Tat „brisant“.112 Wäre der Völkerbund nämlich ein Bund, dann wäre er nur ein Instrument zum Schutz der Sieger von Versailles und der Legalisierung ihrer Beute (KdV 1926 S. 97).113 Welches sind nun die Kriterien, die einen wirklichen Bund ausmachen? Schmitt gibt eine klare Antwort: „Das Kennzeichen des echten Bundes liegt in einem Mindestmaß bestimmtgearteter Garantie und einem bei allen Mitgliedern vorausgesetzten Mindestmaß von Gleichartigkeit“ (KdV 1926, S. 86).114

Wären diese beiden Kriterien – Garantie und Gleichartigkeit – erfüllt, wäre der Völkerbund ein echter Bund und es wäre der für Deutschland negative Status quo von Versailles legitimiert (s.o.).

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Herv. w.a.m. Neumann (2015, S. 431). Ebd., S. 431/432. Für „Gleichartigkeit“ wird im Text auch das Synonym „Homogenität“ verwendet.

IV. Der Genfer Völkerbund.

2.2. Die Garantie gegen gewaltsame Gebietsänderungen. Schmitt prüft einleitend zu diesem Kapitel eine ganze Anzahl möglicher Gegenstände einer Garantie, und fragt, ob sie unter Art. 10 der Völkerbundsatzung fallen. Er lautet: „Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren. Im Falle eines Angriffs, der Bedrohung mit einem Angriff oder einer Angriffsgefahr nimmt der Rat auf die Mittel zur Durchführung dieser Verpflichtung Bedacht“.115

Diese Garantie sei allerdings viel umstritten gewesen (s. KdV 1926, S. 93 f.), wohingegen es heute überwiegende Meinung sei, „daß Artikel 10 nur eine Garantie gegen gewaltsame Besitzänderungen ausspricht“ (KdV 1926, S. 95).116 Zum Hintergrund der Regelung dürfe nicht vergessen werden, dass bei der Formulierung „der Affekt gegen Deutschland und den preußischen Militarismus wirksam gewesen ist“ (ebd.). Deutsche oder preußische Methode sei es, Gebietsänderungen mit Waffengewalt und militärischen Zwang herbeizuführen. Hingegen seien „weniger deutsche Methoden, z.B. wirtschaftlicher oder finanzieller Zwang, Aushungerung und dergleichen [keineswegs verboten]“ (KdV 1926, S. 96).

Erneut macht hier Schmitt die Methoden des modernen Neoimperialismus geltend, die es den Großmächten erlauben, mit ihrer Finanz- und Wirtschaftsmacht indirekte Herrschaft über schwächere Staaten auszuüben. Damit schwächt Schmitt freilich seine eigene These, die Völkerbundsatzung verewige den Status quo der Friedensverträge nach dem Weltkriege.117 Andererseits stützt Schmitt seine These, indem er anführt, insbesondere französische und belgische Juristen hätten der Garantie des Verbots gewaltsamer Gebietsänderungen durch Art. 10 eine „Garantie der Legitimität des status quo“ abgerungen (KdV 1926, S. 98). Damit sei, so Bülow, die Garantie des Art. 10 lediglich die Kundgebung der Sieger, an ihrem Raubgut festzuhalten – eine in der Literatur äußerst strittige Auslegung.118

115 116 117 118

www.versailler-vertrag.de. Herv. im Original. So Neumann (2015), S. 432). Ebd. S. 433, mit weiteren Nachweisen.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

In der – von Schmitt hoch eingeschätzten – Garantie der Legitimität des Status quo sieht er einen weiteren Schritt zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen: „Die legitimierende Wirkung ist umso stärker, je mehr das Verfahren sich formalisiert und einem Idealzustand allgemeiner Rechtsförmigkeit nahekommt“ (KdV 1926, S. 100).

Ein echter Bund setze es als selbstverständlich voraus, dass der Besitzstand der Mitglieder rechtmäßig ist. Dieser Zustand müsse als „normal“ betrachtet werden: „Ein Bund kann nicht damit beginnen, daß er den Besitzstand eines seiner Mitglieder als unrechtmäßig und dessen politische Situation als abnorm behandelt“ (KdV 1926, S. 100).

Die Voraussetzung von Normalität und Legitimität gehöre schon deshalb zu einem echten Bund, „weil zu jedem echten Bund eine rechtliche Ordnung gehört und (…) diese Vorstellung von der normalen Situation aller rechtlichen Logik wesentlich ist“ (ebd.).

Es frage sich allerdings, wie man in einen „Zustand unbedingter Herrschaft des Rechts“ gelangt, wer also darüber urteilt, was Recht und was Unrecht ist (KdV 1926, S. 101) Die Antwort: in einem die Objektivität garantierenden Verfahren durch eine unparteiische und objektive Instanz des Rechts – wenn es sie denn gebe (ebd.). Dies ändere aber nichts daran, expliziert Schmitt, dass mit geltendem Recht „immer der vertragsmäßig bestehende Besitz als legitim angesehen werden [muss] (KdV 1962, S. 101). Soll ein Besitzstand geändert werden, gebe es zwei Möglichkeiten: Die Änderung erfolgt freiwillig, dann brauche es letztlich keinen Völkerbund.119 Oder, der andere Staat sei zu einer Einwilligung nicht bereit, dann helfe auch kein Richter weiter, denn dieser dürfe nur Recht sprechen und der Besitzende stehe eben im Recht. Es handelt sich also um keine Rechtsfrage, denn ein Richter darf gar nicht tätig werden (vgl. KdV 1926, 101). Gleiches gelte für einen Vermittler. Schmitt folgert: „Die Herrschaft des Rechts ist hier gerade das Gefährliche und die summa injuria“ (ebd.).120

119 Ausgenommen, so Schmitt, dass er die Verhandlungen praktisch erleichtert (KdV 1926, S. 101). 120 Herv. im Original.

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IV. Der Genfer Völkerbund.

Die Konsequenz sei: Je stärker man eine Garantie der Legitimität in Art. 10 verankere, umso stärker fixiere man den bestehenden Status quo. Schmitt verdeutlicht: Wäre der Völkerbund schon 1913 mit Deutschland und Österreich-Ungarn geschlossen worden, wäre die polnische, tschechische und jugoslawische Frage eine interne Angelegenheit dieser Großmächte und keine völkerrechtliche Frage (s. KdV 1926, S. 102). Das Recht bliebe also beim Besitzenden: „Und es wird in Ewigkeit bei ihm bleiben“ (ebd.). „Wenn also Art. 10 den territorialen Besitzstand auf der Grundlage des Versailler Vertrags legitimieren sollte, dann läge die Frage nach Ausnahmen von dieser Legitimationswirkung nahe“.121

Da die Freiwilligkeit eines Besitzverzichts sehr unwahrscheinlich sei, müssten in der Satzung des Völkerbunds Bestimmungen gefunden werden, „wie man unfreiwillige und doch nicht gewaltsame Änderungen ermöglicht“ (KdV 1926, S. 104). Im Schrifttum rekurrierte man deshalb auf den Art. 19 der Völkerbundsatzung: „Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte“.122

Diese Bestimmung hatte die grundsätzliche – nicht spezifisch auf Versailles abgestellte – Diskussion über die friedliche Revision von Völkerrecht („peaceful change“) aufgeworfen.123 Schmitt befragte den Art. 19 darauf, ob „wirklich jene gefährliche Konsequenz, die sich aus der Legitimierung des territorialen Besitzstandes nach Art. 10 ergeben könnte, wenn nicht beseitigt, so doch gemildert und korrigiert“ werde (KdV 1926, S. 104).

Während Thoma dies bejaht, verneint Schmitt dies aus drei Gründen. Das Wort „auffordern“ müsse in der richtigen Übersetzung „einladen“ lauten, zweitens, müsse die Entscheidung wohl einstimmig erfolgen, weshalb auch der betroffene Staat zustimmen müsste. Die Chance auf eine Revision der Friedensverträge 1919/1920 tendiere deshalb gegen null.124 Schmitts drittes Argument geht wieder vom Bund-Charakter des Völker-

121 122 123 124

Neumann (2015, S. 433). www.versailler-vertrag.de. Neumann (2015, S. 434). Siehe Neumann (2015, S. 434).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

bundes aus. Ein echter Bund müsse rechtliche Ordnungsprinzipien bereithalten, nach denen die Notwendigkeit einer Änderung beurteilt werden könne. Für das Vorhandensein solcher Prinzipien fehlten aber die Anhaltspunkte (KdV 1926, S. 107; nachst. s. ebd.). Damit verblieben zwei Alternativen: Sei der Status quo − wie er insbesondere in Versailles festgelegt ist – legitim, wäre jede Änderung Unrecht, stimmte nicht der Betroffene freiwillig zu. Erfolge die Änderung gegen den Willen des Betroffenen, bedarf es eines klaren Prinzips, nach welchem die konkrete Änderung berechtigt ist, sonst herrschte „trotz aller schöner Reden im Völkerbund die tatsächliche geschichtliche Entwicklung und das politische Interesse der Stärkeren“ (KdV 1928, S. 107). Die Gültigkeit dieser zwei einfachen Alternativen zeige jeder Einzelfall (s. KdV 1926, S. 107/108). Würde proklamiert, „daß es von heute nur noch Recht und nicht mehr Gewalt gebe, enthielte eine solche Proklamation den sinnlosen Versuch, „einen status quo dauernd zu legitimieren, oder einfach im Dienst eines Imperialismus stehen, dem seine ökonomischen Machtmittel genügen, und der nun die Anwendung seiner ökonomischen Mittel als Recht und alle anderen Mittel als Gewalt bezeichnet (…)“ (KdV 108).

Die Gewalt, die er selbst ausübe, wäre dabei nur rechtmäßig, bloße Exekution und friedliche Maßnahme (ebd.).125 2.3. Homogenität. Das zweite Kriterium für das Vorliegen eines echten Bundes ist ein Mindestmaß von Gleichartigkeit oder Homogenität seiner Mitglieder (s. KdV 1926, S. 115 ff.).126 Diesem Erfordernis weiche die völkerrechtliche Literatur aber mit zwei Argumenten aus. Ein Völkerbund müsse, erstens, universal angelegt sein und möglichst alle Staaten der Erde umfassen. Zweitens, zeige das Beispiel der Schweiz, die als idealer Zeuge bestätigen könne, „daß trotz nationaler und konfessioneller Verschiedenheiten eine dauernde Staatenverbindung, ein fester Bund möglich ist“ (KdV 1926, S. 115).

125 A. A. Kunz (s. Neumann 2015, S. 435), der die angesprochene Problematik als politische begreift und nicht als juristische. 126 Siehe a. (KdV 1926, S. 86.).

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IV. Der Genfer Völkerbund.

Gegen die These der Universalität wendet Schmitt ein, dass eine Staatenverbindung „auf der Grundlage verschiedener Kulturkreise, Rassen und Religionen zu unüberbrückbaren Gegensätzen führen müsse“.127 Die Lage der Schweiz sei hingen eine besondere, wie schon ihre Verpflichtung zu außenpolitischer Neutralität zeige. Keines dieser zwei Beispiele könne genügen, um es zu rechtfertigen, dass man das Problem der Homogenität ignoriert (KdV 1926, S. 116). Schmitt greift dann nochmals das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika auf. Diese hielten am Prinzip der Nicht-Intervention fest, beanspruchten aber zugleich aufgrund der Monroedoktrin das Recht, „sich für die innerstaatlichen Zustände in den übrigen amerikanischen Staaten zu ‚interessieren‘. Man kann sagen, daß auf der Grundlage dieser Monroelehre der amerikanische Kontinent zu einer völkerrechtlichen Gemeinschaft geworden ist, die einem echten Bunde viel näherkommt als der heutige Genfer Völkerbund § (KdV 1926, S. 121).

Für Schmitt zeigt dies, dass auf dem amerikanischen Kontinent der Zusammenhang von internationaler und innerstaatlicher Ordnung und damit das Prinzip der Homogenität längst anerkannt sind: „Die Praxis der Monroedoktrin zeigt also, daß internationale Ordnung und innerstaatliche Ordnung nicht voneinander getrennt werden können“ (KdV 1926, S. 122).

Schmitt meint damit, auch das Kriterium für eine Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund ausgemacht zu haben (s. KdV 1926, S. 123 f.). Heute stünden die Sowjetunion und der Völkerbund nicht nur aus außenpolitischen Gründen im „schärfsten Gegensatze“ (KdV 1926, S. 125; nachst. s. S. 125 f.). Die Sowjetunion sieht, für Schmitt, klar, „daß eine bundesmäßige Beziehung zwischen Staaten durch ihre innenpolitische Struktur bestimmt ist“ (KdV 1926 S, 125; nachst. s. S. 125 f.).

Mit der innenpolitischen Konstruktion von 1917 bis 1926 sei der Sowjetstaat „kein normaler Staat“. Für die Sowjetunion seien aber die Völkerbundstaaten in einem „abnormen Zustand“, weil sie nur politische Fassade vor der Macht des Kapitals seien und der Völkerbund die Fassade vor diesen Fassaden. Ihm setze die bolschewistische Theorie die Universalität der proletarischen Weltrevolution und des proletarisch-bäuerlichen Sowjetbundes entgegen:

127 Neumann (2015, S. 436).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

„In größter Klarheit zeigt sich hier das Problem der sachlichen Universalität und der Gleichartigkeit innerstaatlicher Verhältnisse. Einem Weltpostverein, einer bloß administrativ-technischen Organisation könnte auch ein bolschewistisches Rußland angehören“ (KdV 1926, S. 126).

In einem wirklichen Bund mit bürgerlich demokratischen Verfahren würde der Sowjetstaat die Institution, an der er sich beteiligt, „mit vollem Bewußtsein dazu benutzen, um ihre Grundlagen aufzulösen und zu beseitigen“ (ebd.). 2.4. Das Doppelgesicht des Genfer Völkerbundes. Wenden wir uns den Einwänden zu, die insbesondere Volker Neumann formuliert.128 Schmitt selbst, führt er aus, sehe die Gefahr, selbst zirkelschlüssig zu werden. Neumann: „Zum einen macht er die Eigenschaft eines Bundes von der Auslegung des Art. 10 der Völkerbundsatzung abhängig, zum anderen die Auslegung eben dieses Art. 10 von dem Bundescharakter des Genfer Völkerbundes“

Um diesen Zirkelschluss zu vermeiden, lasse Schmitt die Frage nach dem Bundescharakter des Völkerbundes offen und die Garantie der Legitimität unbewiesen. Doch habe, so Neumann, Schmitt die Antworten eigentlich schon gegeben. Das Kapitel I Die Garantie (KdV 1926, S. 87-114) führe zu dem Ergebnis, der Völkerbund kenne weder in seiner Satzung noch sonst irgendwo ein konkretes Prinzip, das rechtmäßige Änderungen des Status quo nach Art. 19 Völkerbundsatzung ermöglicht. Der Garantie des Versailler Vertrags nach Art. 10 ist folglich durch Art. 19 Satzung nicht gefährdet. Damit wäre das erste Anforderungskriterium für einen echten Bund erfüllt. Die Argumentation Schmitts für das Kapitel II Die Homogenität (Art. 1926, S. 115-126) lasse keinen Schluss darauf zu, ob die Homogenität auf die Staatsorganisation ziele oder auf die Bürger der Mitgliedsstaaten. Schmitts Ausführungen zur Sowjetunion ließen aber den Schluss zu, „dass der Völkerbund über so etwas wie Homogenität verfügt“.129 Damit wäre auch das zweite, das Homogenitätskriterium, eines Bundes erfüllt,

128 Siehe nachst. Neumann (2015, S. 436-439). 129 Ebd. S. 437.

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IV. Der Genfer Völkerbund.

woraus folgt: Der Genfer Völkerbund schreibt den Status quo des Versailler Vertrages fest. Nun präsentiert Schmitt im Schluss (KdV 1926, S. 127-128) folgendes Ergebnis: Die Kernfrage des Genfer Bundes sei, ob er den Status quo von Versailles legitimiere, was wiederum davon abhängig sei, ob dieser ein echter Bund ist: „Fragt man nach dem Kennzeichen des wirklichen Bundes, nach Garantie und Homogenität, und nach den konkreten Prinzipien für diese Garantie und für das Mindestmaß von Gleichartigkeit, so erhält man keine Antwort“ (KdV 1926, S. 127).

Der Völkerbund trage insofern einen Januskopf, weil „er absichtlich im unklaren läßt, wieweit er ein echter Bund ist oder nicht und wieweit infolgedessen die unvermeidlichen Konsequenzen des Bundescharakters zur Anwendung kommen“(ebd.).

Daraus resultierten die abweichenden Auslegungen der Art. 10 und 19 Völkerbundsatzung (s.o.). Der Völkerbund zeige den verschiedenen Staaten von Fall zu Fall diesen Januskopf. Den westlichen Großmächten gegenüber präsentiert er sich, so Schmitt, als dienstbereites, bescheidenes Zweckgebilde, vorsichtig und unverbindlich, „während er einem schwachen und entwaffneten Staat das hoheitsvolle Antlitz strengen Rechts zeigt“ (ebd.). Das lockere Gefüge Völkerbund könne die Haltung eines wirklichen Bundes annehmen mit all seinen Konsequenzen, aber auch nur als brauchbare Konferenz- und Vermittlungsgelegenheit. In dieser Lage trete Deutschland nun dem Völkerbund bei, von dem einige viel Nützliches erwarten, andere Schändliches befürchten. Schmitt sieht es als Problem, dass die Kernfrage noch offensteht, der Bundescharakter somit noch nicht bestimmt ist, ein Zustand, der sich schnell zu einem straffen System verändern könne. Als Mitglied müsse Deutschland in der Lage sein, an solchen fundamentalen Veränderungen gleichberechtig mitzuwirken: „Sonst bedeute seine Mitgliedschaft im Völkerbund die Verewigung seiner Niederlage, und sein Eintritt in den Bund wäre nur die Ergänzung zu der horrenden und beispiellosen Ablieferung seiner Waffen: die weniger sinnfällige aber nicht weniger folgenreiche Ablieferung seiner Rechte“ (KdV 1926, S. 128).

1927 wird Schmitt in Der Begriff des Politischen diesen Standpunkt vertiefen und in der Auflage 1932 unverändert wiederholen:

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

„In Art. 31 wird das Deutsche Reich gezwungen, seine „Verantwortlichkeit“ für alle Kriegsschäden und -verluste anzuerkennen, wodurch die Grundlage für ein rechtliches und moralisches Werturteil geschaffen ist. Politische Begriffe wie ‚Annexion‘ werden vermieden; die Abtretung Elsaß-Lothringens ist eine ‚désannexion‘, also Wiedergutmachung eines Unrechts; die Abtretung polnischer und dänischer Gebiete dient der idealen Forderung des Nationalitätsprinzips; die Wegnahme der Kolonien wird in Art. 22 sogar als ein Werk selbstloser Humanität proklamiert. Den wirtschaftlichen Gegenpol dieses bürgerlichen Idealismus bilden die Reparationen, d.h. eine dauernde und unbegrenzte wirtschaftliche Ausbeutung des Unterlegenen. Das Ergebnis: ein solcher Vertrag konnte einen politischen Begriff wie ‚Frieden‘ gar nicht realisieren, so daß immer neue Friedensverträge notwendig wurden: das Londoner Protokoll vom August 1924 (Dawes-Plan), Locarno vom Oktober 1925, der Eintritt in den Völkerbund, September 1926 – die Reihe ist noch nicht zu Ende“ (BP 72).130

In dieser humanistisch-idealistisch verbalisierten Entpolitisierung eines ursprünglichen Freund-Feind-Gegensatzes und dessen Ende in einem wirklichen Friedensvertrag sieht Schmitt eine große Gefahr, sollte Deutschland in seiner damaligen Lage diesen „Schleier der Worte und Begriffe, der Juridifizierungen und Moralisierungen“ nicht durchschauen. Die dienstfertige Unterwerfung „unter fremde Begriffe und Forderungen ‚moralischer Abrüstung‘ seien nichts weiter „als Instrumente fremder Macht“. Auch Denkweisen und Begriffe sind für Schmitt Angelegenheiten einer politischen Entscheidung (s. PuB 179). Denn der liberale, ökonomisch-ethische Imperialismus, so Maschke, wie er sich in Genf und Versailles, begleitet von heftigen Diffamierungen der Gewalt und des Krieges, darstellte, „war nur der Terminologie nach unkriegerisch“.131 3. Völkerbund und Vereinigte Staaten von Amerika. In dem Aufsatz Der Völkerbund (1931)132 stellt Schmitt das Völkerbundmitglied „Deutschland“ dem Status-quo-„Deutschland“ gegenüber. Er erklärt: „Ich halte es für gut, daß Deutschland Mitglied dieses Völkerbundes ist, weiß aber auch, daß damit irgend eine wesentliche Änderung der Situation für Deutschland nicht eingetreten ist“ (DV 46).

130 Wir zitieren aus der Buchausgabe von 1962 (1932). 131 Maschke (2012, S. 178). 132 Sigle = DV.

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IV. Der Genfer Völkerbund.

Zugleich wäre aber, führt er aus, die Mitgliedschaft eine Abnormität und ein aufreizender Widerspruch, wenn Deutschland kein gleichberechtigtes Mitglied wäre, sondern weiterhin restlos entwaffnet, entmilitarisiert, dem Einmarsch der Franzosen offenstehend, kontrolliert und reparationspflichtig bliebe (s. DV 46 f.). „Die Beseitigung dieses negativen Zustandes wird nicht als ein in ferner Zukunft zu erreichendes Fernziel formuliert, sondern liest sich als Bedingung für eine gedeihliche Mitarbeit in der Gegenwart“.133

Was aber, fragt Neumann, wäre dann eine Alternative zum Völkerbund für die deutsche Außenpolitik?134 Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten die Gründung des Völkerbundes mit Wilsons 14-Punkte-Programm mit initiiert, waren ihm aber selbst nicht beigetreten. Sie hatten auch den Vertrag von Versailles nicht unterzeichnet, sondern mit Deutschland einen Sonderfrieden geschlossen. Damit, so Schmitt, seien sie in Europa anwesend und abwesend zugleich – das sei nun allerdings alles andere als ein kurioser Zufall. Vielmehr ergebe sich dies aus dem Verhältnis der Monroe-Doktrin zur Satzung des Völkerbundes. Die Verbindung Nordamerikas mit seinen lateinamerikanischen Nachbarstaaten sei, wie wir sahen, durch Interventionsverträge bestimmt und gehörte nach den vorliegenden völkerrechtlichen Verträgen zum politischen System der Vereinigten Staaten. Gleichwohl ragten sie als Mitglieder in das Genfer System des Völkerbundes hinein: „die kontrollierten Staaten sind anwesend, der kontrollierende Oberstaat ist abwesend“ (PuB 91). Ein Weiteres bestimme den Völkerbund von Amerika her, die MonroeDoktrin, der sich der Völkerbund in Art. 21 seiner Satzung ausdrücklich unterwerfe. Er lautet: „Internationale Abreden wie Schiedsgerichtsverträge und Abmachungen über bestimmte Gebiete, wie die Monroedoktrin, welche die Erhaltung des Friedens sicherstellen, gelten nicht als mit einer der Bestimmungen der gegenwärtigen Satzung unvereinbar“.135

Die Monroe-Doktrin geht also der Völkerbundsatzung vor, womit der Völkerbund auf „jede ernsthafte Einwirkungsmöglichkeit gegenüber den amerikanischen Staaten verzichtet“ (PuB 92);

133 Neumann (2015, S. 439). 134 Ebd. 135 www.versailler-vertrag.de.

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

„Die Entscheidungen des Genfer Völkerbundes sind durch die Beteiligung der amerikanischen Mitglieder beeinflußt, während umgekehrt ein Einfluß des Völkerbundes auf amerikanische Verhältnisse infolge der Monroe-Doktrin ausgeschlossen ist“ (ebd.).

Anwesend seien die Vereinigten Staaten von Amerika auch bei den wichtigsten Fragen der Nachkriegszeit, also in Fragen der Reparationen wie der interalliierten Schulden, obwohl sie offiziell nicht in den Reparationskommissionen vertreten sind (s. PuB 93 f.): „Aber jene wirtschaftlichen Fragen haben eine unvermeidlich politische Bedeutung, und so wird eine wirkliche Abwesenheit doch wieder undurchführbar“ (PuB 93).

Das Verhältnis der USA zu Europa wie zum Völkerbund zeichne sich also durch eine Mischung von Abwesenheit und Anwesenheit aus, dem aber eine „klare geschichtlich-politische Ursache“ zugrunde liege (PuB 94). So hätte der Eintritt der USA den Ersten Weltkrieg entschieden, wie die USA auch bei der Pariser Friedenskonferenz eine „Art schiedsrichterlicher Stellung“ eingenommen habe, die bis heute weiterexistiere. Die Frage nach dem Verhältnis von Völkerbund und Europa finde hier bereits ihre Antwort: „Nicht der Genfer Völkerbund ist der Schiedsrichter der fundamentalen europäischen Fragen, sondern die Vereinigten Staaten, und was der Besiegte des Weltkrieges an Gerechtigkeit und Billigkeit noch zu erwarten hat, das erwartet er nicht vom Genfer Völkerbund, sondern von den Vereinigten Staaten“ (PuB 94).

Damit aber scheide der Völkerbund als unparteiische Instanz für das Gesamtproblem Europas aus, die letztlich die Teilung Europas in Sieger und Besiegte zu überwinden habe (ebd.; s. a. PuB 96). Diese These werde durch die Tatsache gestützt, dass das wenige, was Deutschland an Gerechtigkeit und Objektivität bekommen habe, von den USA gekommen sei (DV 47). An dieser Gemengelage, so lässt sich Schmitt zusammenfassen, hat die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund nichts geändert, und die USA, nicht der Völkerbund, ist der wirkliche Schiedsrichter Europas: „Man kann dieses Ergebnis ‚negativ‘ nennen, aber es ist sicher nicht wertlos. Für das Interesse intellektueller Redlichkeit ist jede zerstörte Illusion ein großer Gewinn“ (PuB 97).

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IV. Der Genfer Völkerbund.

4. Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1932). Schmitt geht es auch in seinen außenpolitischen und völkerrechtlichen Analysen um die klare Zuständigkeit und Verantwortlichkeit (potestas directa), „um die konturierte politische Form, um den deutlichen Unterschied zwischen Krieg und Frieden“.136 Der Imperialismus der Vereinigten Staaten von Amerika gelte, so Schmitt, als der moderne Imperialismus, weil er ein vor allem ökonomischer Imperialismus sei. Das Ökonomische stehe dabei derart stark im Vordergrund, dass das Vorliegen eines Imperialismus grundsätzlich geleugnet worden sei, indem man Wirtschaft und Politik gegenüberstellte und die These vertrat, das Wirtschaftliche sei etwas wesensmäßig Unpolitisches und das Politische als etwas wesensmäßig Nicht-Wirtschaftliches. Dieses Argumentationsmuster wurde umso öfter und verstärkter angeführt, je mehr von einem amerikanischen Imperialismus gesprochen wurde. So bemerkte man zur Monroe-Doktrin: „ein europäische Staat darf in Amerika Handel treiben so viel er will, er darf nur nichts Politisches tun“ (PuB 162).137 Wann das Handeltreiben politisch wird, entscheide aber allein Amerika: „Der amerikanische Imperialismus ist allerdings ein ökonomischer Imperialismus, darum aber nicht weniger imperialistisch“ (ebd.).

Amerika entscheide auch über die Anerkennung von neuen Regierungen in den Staaten Lateinamerikas, zu denen es in diesen reichlich durch Revolution, Staatstreichen und Putschen komme. Man verfahre nach dem einfachen Prinzip, revolutionäre Regierungen nicht anzuerkennen und nur legale gelten zu lassen: „Diese sind infolgedessen heute imstande, über das Schicksal der Regierung fast jedes amerikanischen Staates zu befinden „(PuB 173).

Zugrunde liege dem amerikanischen ökonomischen Imperialismus als Legitimationsprinzip die Unterscheidung von Gläubigern und Schuldnern (s. PuB 163 ff.). Ökonomisches Ziel des amerikanischen Imperialismus ist die Expansion seiner kapitalistischen Anlage- und Ausbeutungsmöglichkeiten

136 Maschke (2012, S. 179). 137 Die nach dem damaligen US-amerikanischen Präsidenten benannte Monroe-Doktrin von 1823 wandte sich gegen Interventionen der europäischen Großmächte, sich in die Freiheitskämpfe der lateinamerikanischen Staaten gegen Spanien einzumischen (Stein/v. Buttlar 2012, S. 227 RN 631; zu Einzelheiten s. ebd.).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

(PuB 173). Zur Durchsetzung dieser Interessen ist an die Stelle der Monroe-Doktrin das System der Interventionsverträge getreten, definiert als „eine juristisch formulierte Abmachung, die es dem einen Staat erlaubt, unter typischen Voraussetzungen mit typischen Mitteln in die Angelegenheiten eines anderen Staates einzugreifen“ (PuB 170).

Gesichert wird das Interventionsrecht – die politische Kontrolle und Herrschaft beruht auf dem Recht zur Intervention – „durch Flotten- und Kohlestationen, militärische Besetzung, Landpachtungen usw. (PuB 91). Ein zentraler Kritikpunkt Schmitts an der internationalen Politik der Vereinigten Staaten von Amerika ist das Faktum, kein Mitglied in Genf zu sein, aber den dort selbstetablierten Völkerbund über seine Vasallenstaaten und sein Machtpotenzial als Gläubigerstaat zu dominieren.138 Als Basisbeispiel seiner Kritik erörtert er das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu den lateinamerikanischen Staaten. Kennzeichen dieser Beziehung ist ein ganzes System von Interventionsverträgen (s. PuB 172; s. nachst. ebd.). Aus diesem System sticht der Interventionsvertrag mit Panama heraus. Cum grano salis ist nach ihm der militärische Schutz des Kanals Sache der Vereinigten Staaten, Panama hat das dafür nötige Land abgetreten. Panama hat sich aber weiter verpflichtet, für den Fall, dass die Vereinigten Staaten einen Krieg führen, ganz gleich wo auf der Erde, sich selbst als kriegführende Partei aufseiten der Vereinigten Staaten zu betrachten – auch wenn Panama nicht selbst oder der Panamakanal angegriffen werden. Dies führe, konstatiert Schmitt, zu einer „besonders intensiven Form der Unterwerfung eines anderen Staates“, die juristische Ausgestaltung dieser Beziehung beruhe aber so auf den Elementen Recht und Koordination, dass der abhängige Staat in dem Spielraum, der ihm bleibt, außenpolitischen Verkehr und außenpolitische Beziehungen unterhalten kann, wie jeder andere souveräne Staat, „und daß sie vor allen Dingen Mitglieder des Genfer Völkerbundes sind, obwohl nach der Völkerbundsatzung nur freie und sich selbst regierende Staaten Mitglied des Völkerbunds sein dürfen“ (PuB 172):

Diese Ausführungen Schmitts, so Neumann zu Recht, hätte auch ein marxistischer Theoretiker schreiben können; sie nehmen Elemente vorweg, wie sie die Theorien des Neokolonialismus bzw. Neoimperialismus formulierten. Danach haben die früheren Kolonialstaaten zwar die direkte Herr-

138 Siehe Maschke (2012, S. 179).

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IV. Der Genfer Völkerbund.

schaft über die Länder der Dritten Welt aufgegeben. Diese konnten im Ergebnis aber nur eine De-Jure-Unabhängigkeit erreichen, weil die Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas ein vielfältiges System indirekter Abhängigkeiten und Herrschaft auf militärischem, politischem, kulturellem, technologischem und finanziellem Gebiet errichtet hätten, insbesondere aber über die Spielregeln des kapitalistischen Weltmarktes entscheiden.139 Die Konsequenzen einer undeutlichen oder fehlenden Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden demonstriert Schmitt anhand des Kellogpaktes von 1928, der bekanntlich die „Ächtung des Krieges“ enthält. Es heißt: der Krieg werde „verdammt“ (to condemn) (PuB 176; s. nachst.).140 Schlechthin „verurteilt“ oder „abgeschafft“ werde er nicht. Verurteilt werde der Krieg nur „als Instrument der nationalen Politik“, womit sich die Frage erhebe, wann denn Kriege ein Mittel der nationalen Politik und was dann die anderen Kriege seien. Briand habe gegenüber Kellog formuliert: „ein Krieg ist dann ein Instrument nationaler Politik, wenn er aus Willkür, Eigennutz und Ungerechtigkeit geführt wird. Dabei wird ausdrücklich betont, daß Kriege, die ein Instrument internationaler Politik sind, eo ipso gerecht sind“ (PuB 176/177).

Schmitt sieht hier typische Formen verschiedener Imperialismen. Der Imperialismus führe keine nationalen Kriege, da geächtet; er führe höchstens Kriege, die einer internationalen Politik dienen; er führe keine ungerechten, nur gerechte Kriege: „ja wir werden noch sehen, daß er überhaupt nicht Krieg führt, selbst wenn er mit bewaffneten Truppenmassen, Tanks und Panzerkreuzern das tut, was bei einem andern selbstverständlich Krieg wäre“ (PuB 177; s. nachst. ebd.).

Vom Standpunkt Deutschlands aus könne jetzt gefragt werden, welche Art von Kriegen jetzt die gerechtere sei, imperialistisch-internationale oder nationale; nach dem Wortlaut des Kellogpaktes wäre es aber schon ein Irrtum, der Pakt enthalte eine Ächtung aller denkbaren Kriege: „Nach den Erfahrungen der Nachkriegszeit müssen wir vielmehr eine andere Frage stellen: wenn wirklich der Krieg, sei es auch nur der als ‚Instrument

139 Vgl. Neumann (2015, S. 430); s. Ziai (2012). 140 Fast alle Staaten der Erde – auch die Sowjetunion und die Türkei sowie andere Nichtmitglieder des Völkerbundes – hatten sich dem Kellogpakt angeschlossen (PuB 176).

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Drittes Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen.

einer nationalen Politik dienende Krieg‘ geächtet und verdammt wird, was ist dann überhaupt ein Krieg“ (ebd.)?

Schmitt erinnert am Beispiel der Vorgänge in China daran, dass eine solche Frage leider sehr naheliegt, Jahr für Jahr fänden große Truppenlandungen, große militärische Zusammenstöße, Beschießungen von Küsten, Landungen von italienischen Schiffen in Korfu, Landungen amerikanischer Marinetruppen in Panama, Nikaragua usw., Invasionen der Franzosen und Belgier ins deutsche Ruhrgebiet usw. statt: „Das alles galt nicht als Krieg und war daher auch nicht ‚geächtet‘. Was also ist eigentlich Krieg?“

Eine Antwort liefere der Genfer Pazifist und Professor Hans Wehberg in der Zeitschrift Die Friedenswarte (Januar 1932): „Nach geltendem Recht kann man im Falle des chinesisch-japanischen Konflikts nur von einer militärischen Besetzung, nicht von einem Kriege sprechen. An diesem Ergebnis kann auch die Tatsache nichts ändern, daß die sogenannte ‚friedliche Besetzung‘ (occupatio pacifica), mag sie nun als bewaffnete Intervention zum Schutz von Leben und Eigentum japanischer Staatsbürger oder als Repressalie gegenüber chinesischen Völkerrechtsverletzungen begründet werden, von Bombardements, ja sogar von Schlachten größeren oder kleineren Umfanges begleitet war“ (PuB 177; nachst. s. ebd.).

Wie sei, fragt Schmitt entrüstet, eine Jurisprudenz möglich, die angesichts blutiger Kämpfe, angesichts der Zehntausende von Toten immer noch von ‚friedlicher Besetzung zu sprechen wage und dadurch das Wort und den Begriff des ‚Friedens‘ dem grausamen Hohn und Spott ausliefert? Der Gedankengang sei folgender: „entweder ist etwas Krieg oder es ist Frieden. Was ist Krieg? Was nicht friedliches Mittel ist. Was ist ein friedliches Mittel? Was nicht Krieg ist. Ein Zwischending gibt es nicht. Nun ist aber eine friedliche Besetzung, wenn sie auch von Schlachten kleineren und größeren Umfangs begleitet wird, nicht Krieg, ergo ist sie ein friedliches Mittel, ergo hat die Angelegenheit mit dem Kellogpakt nichts zu tun“ (ebd.).

Der Genfer Völkerbund, folgert Schmitt, sehe seine Leistung anscheinend darin, die internationalen Beziehungen zu juridifizieren, d.h. diese Art von Begriffsbildung zu bewirken. Für sich sei die Sache juristisch in bester Ordnung, und sie werde es immer bleiben: „Es sind also grausame Repressalien möglich, menschmörderische Beschießungen, sogar blutig Kämpfe und Schlachten; das alles ist nicht Krieg im juristischen Sinne, und der Friede, auf den die gequälte Menschheit mit Sehn-

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IV. Der Genfer Völkerbund.

sucht wartet, ist ihr längst beschieden; sie hat es nur, mangels juristischen Scharfsinns, nicht bemerkt“ (ebd.).

Wir werden bei Der Begriff des Politischen erneut auf die angesprochene Problematik stoßen, so dass wir hier schließen können.

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung der Weimarer Republik 1924-1929.

Carl Schmitt hatte sich selbst ab 1923 in den „Kampf mit Weimar – Genf – Versailles“ (PuB) gestellt. Diese Selbsteinschätzung wurde in großen Teilen der Literatur gerne aufgenommen, um Schmitt zum Verfassungsfeind und Zerstörer der Weimarer Demokratie zu erklären, der von der Parlamentarismusschrift (1923) über den Hüter der Verfassung und Legalität und Legitimität (1932) gleichsam als Präfaschist dem Nationalsozialismus den Weg bereitet habe.141 Auch die Betrachtung der Geschichte vom Ende des Kaiserreiches bis zum Ende der Weimarer Republik orientiert sich gerne an den gängigen verfassungsrechtlichen Daten. Bedeutsam für Staatswie Völkerrecht sind sie gleichwohl irreführend. Begann Weimar am 9. November 1918 bzw. mit der Verfassung vom 11. August 1919, und datiert sich ihr Ende auf den 30. Januar 1933, so war diese Wegstrecke „eben keine Einbahnstraße, die notwendig zum Nationalsozialismus führen mußte. (…) Das ‚Verhängnis‘, auf das für die Nachgeborenen alles zuzulaufen scheint, wurde meist gar nicht, jedenfalls aber anders wahrgenommen als heute. Das ist methodisch trivial, bedarf jedoch gesonderter Erwähnung (…). Leicht wurde vergessen, daß die geistigen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik vor einem offenen Horizont geführt wurden, an dem (noch) nicht der Flammenschein des Holocaust erschien“.142

Diese These von der Zielgerichtetheit des Schaffens Schmitts lässt sich n.u.E. nicht halten. Schmitt zeigte sich in dieser Phase durchaus als ein Verteidiger der Weimarer Reichsverfassung, der sie allerdings lautstark und teils auch polemisch auf Schwachstellen abklopfte. Wir waren auf seinen Aufsatz Reichspräsident und Weimarer Verfassung und Mehrings Fazit zu diesem – „Er redet nicht den Diktator herbei, sondern warnt vor seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeit“.143 – als ein Beispiel bereits eingegangen. Schmitt selbst habe sich als Freund der Verfassung verstanden, die er zu verteidigen und zu stabilisieren suchte:

141 So u.a. (Fijalkowski 1958); (Schneider 1957), (Krockow 1958); (Koenen 1995); a.A. (Roth 2005, S. 141, mit weiteren Nachweisen). 142 Stolleis (2002, S. 153). 143 Mehring (2009, S. 162).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

„Das ist der Grund, weshalb er 1928 seine Verfassungslehre erscheinen ließ. Er sah in der – rechtverstandenen – Verfassung ein geeignetes Instrument, um der aufgewühlten Massengesellschaft Form, d.h. Struktur und Ordnung zu vermitteln. Dafür mussten aber ihre Antinomien und Paradoxien aufgelöst werden. Schmitt hat sie deshalb in einem eigenwilligen Sinn interpretiert, der vor allem gegen die liberale und sozialdemokratische Lesart gerichtet war“.144

Schauen wir uns den Weg Schmitts zu seiner Verfassungslehre an, eine Zeit, „die in der Schmitt-Diskussion ein wenig unterbelichtet geblieben ist“, die Blütezeit der Weimarer Republik in der Zeit ihrer relativen Stabilisierung.145 Halten wir zunächst nur fest: Der von 1918 bis 1923 tobende Bürgerkrieg war beendet, die ökonomischen Verhältnisse waren wieder handhabbar geworden und Weimar erlebte eine kulturelle Blüte nicht gekannten Ausmaßes. Ein Zusammentreffen günstiger innen- und außenpolitischer Bestimmungsfaktoren führte in der zu Ende gehenden unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer raschen Konsolidierung im Inneren und zum Abbau der außenpolitischen Isolierung.146 1. Sozial- und innenpolitische Folgen der Stabilisierung. Zunächst aber führte die Stabilisierungspolitik innenpolitisch zu erheblichen sozial- und finanzpolitischen Verwerfungen vor allem und zum Teil ausschließlich für die Arbeitnehmer und den Mittelstand.147 Im Inneren wurden drastische Ausgabenkürzungen durchgesetzt, was sich in der weitgehenden Abwehr von Inflationsentschädigungen zeigte. Die Arbeitnehmer sahen sich einem breiten sozialpolitischen Rollback gegenüber, das weitgehend über Arbeitszeitverlängerungen – Untertagearbeit von 7 auf 8 Stunden, in der Eisen- und Stahlindustrie von 48 auf 59 Stunden – erfolgte. Ein weiteres wichtiges Instrument war die Einführung der staatlichen Zwangsschlichtung, mit der die Tarifautonomie durchbrochen wurde, aber auch als Versuch gesehen werden kann, sie in dieser wirtschaftlich desaströsen Lage wenigstens im Prinzip zu erhalten.

144 145 146 147

Roth (2005, S. 142). Ebd. Kolb/Schumann (2013, S. 57). Siehe dazu Longerich (1995, S. 145-153).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

Am 23. November 1923 wurde über einen Misstrauensantrag der SPD die Regierung Stresemann gestürzt, blieb jedoch bis zu seinem Tod am 3.10.1929 in allen folgenden Kabinetten Außenminister und prägte sie.148 Ihm folgte eine Minderheitsregierung unter dem Zentrumspolitiker Wilhelm Marx, die von Zentrum, DVP, DDP und BVP getragen wurde. Die Regierung verlangte, um die Stabilisierungsvorhaben durchführen zu können, ein Ermächtigungsgesetz, das ihr nach heftigen Auseinandersetzungen am 8. Dezember für die Dauer von zwei Monaten erteilt wurde. Sie erließ auf dieser Grundlage etwa 70 Verordnungen. So wurde die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst von 48 auf 54 Stunden angehoben und die Beamtenbesoldung wurde auf 40 Prozent der Besoldung von 1913 gekürzt. Die durchgeführten Steuernotverordnungen belasteten vornehmlich die Verbraucher und den Mittelstand, begünstigt wurden die Besitzer in Industrie und Landwirtschaft: „Dieser Allianz gelang es nicht nur, die Entschädigungsansprüche der Inflationsverlierer zu minimalisieren, sondern auch eine breite Belastung der ‚Inflationsgewinner‘, also derjenigen, die ihre Schulden mit Pfennigbeträgen hatten ablösen können, zu verhindern“.149

Schließlich gelang es Anfang 1924 auch, die Konfliktlage zwischen Reich und Bayern zu bereinigen.150 2. Außenpolitische Folgen der Stabilisierung. Die Bekanntgabe des Dawes-Plans am 9. April 1024 war die Antwort auf die von der Regierung im November 1923 erbetene Überprüfung der Reparationsfrage.151 Das diesen erarbeitende Komitee entwarf einen umfassenden Reparationsplan, für die Gesamthöhe sowie die Dauer der Reparationszahlungen sollten die Londoner Beschlüsse von 1921 weiterhin gel148 Siehe Kolb/Schumann (2013; S. 65). Die Urteile über Stresemann als Politiker und Staatsmann – war er Nationalist oder Europäer, Opportunist oder Idealist, aufrichtiger Verständigungspolitiker oder doppelzüngiger Machtpolitiker – waren konträr. „Nach nahezu einhelliger Auffassung der neueren Forschung war Stresemann ein kühl kalkulierender Realpolitiker und ein nationaler Machtpolitiker“ – wie die anderen europäischen Staatsmänner dieser Zeit auch (Kolb/Schumann 2013, S. 250 f.). 149 Longerich (1995, S. 150). 150 Einzelheiten s. (Longerich (1995, S. 151 f.). 151 Nachst. s. ebd. S. 153 ff.; s. Kolb/Schumann (2013, S. 67 ff.).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

ten. Empfohlen wurden Annuitäten, die sich binnen fünf Jahren von 1 Milliarde Mark auf 2,5 Milliarden steigern sollten. Ein Reparationsagent sollte die Umwandlung der Leistungen in die Währung der Gläubigerstaaten übernehmen. Stünden Devisen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung, sollten die Reichsmarkbeträge zunächst auflaufen und die Annuitäten entsprechend sinken. Diese „Devisenklausel“ bedeutete in der Praxis, dass die deutschen Leistungen von einem Exportüberschuss abhängig waren, der allerdings nicht zu erwarten stand. Somit würde die Höhe der Annuitäten von 2,5 Millionen nicht erreicht werden. Vorgesehen war vom Reparationskomitee eine regierungsunabhängige, vor Missbrauch geschützte Notenbank. Die Rentenmark sollte durch eine neue Währung – die spätere Reichsmark – ersetzt und durch Gold und Devisen gedeckt werden. Im Ergebnis wurde auf Betreiben der USA in der Reparationsfrage erstmals die deutsche Leistungsfähigkeit zugrunde gelegt: „Die USA als Hauptgläubiger der Entente mußten ein vitales Interesse danach haben, sowohl die deutschen Reparationsleistungen an ihre Schuldner sicherzustellen als auch einen stabilen Absatzmarkt für ihre Exporte zu schaffen“.152

Der Dawes-Plan wurde am 29.8.1924 mit den Stimmen von DDP, Zentrum, DVP, SPD und – überraschend − etwa der Hälfte der DNVP-Stimmen verabschiedet. 3. Außenpolitische Wegmarken: „Nationale Revisionspolitik als internationale Versöhnungspolitik“.153 Stresemann betrieb eine nationale Außenpolitik und verfolgte eine revisionistische Politik unter dem Leitbild: „Wiederherstellung der früheren Größe eines zu neuer Geltung zwischen Ost und West emporsteigenden souveränen deutschen Nationalstaats“. 154

Diesem Ziel legte er aber eine realistische Einschätzung der europäischen Kräfteverhältnisse zugrunde. Das Ziel der Rückgewinnung der deutschen Machtstellung konnte unter diesem politischen Realismus nur in einem

152 Longerich (1995, S. 154). 153 Karl Dietrich Erdmann, hier zit. in Kolb/Schumann (2013, S. 65). 154 Kolb/Schumann (2913, S. 65).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

vielstufigen Prozess der kleinen Schritte erreicht werden.155 Für den Wiederaufstieg musste und konnte das entmilitarisierte Deutschland nur sein Wirtschaftspotenzial in die Waagschale werfen: „Ich glaube, die Benutzung weltwirtschaftlicher Zusammenhänge, um mit dem Einzigen, womit wir noch Großmacht sind, mit unserer Wirtschaftsmacht, Außenpolitik zu machen, ist die Aufgabe, die heute jeder Außenminister zu lösen hätte“.156

Eine Revision des Friedensvertrages war nur dann zu erreichen, wenn im Weg einer konsequenten Politik der Aussöhnung dem französischen Sicherheitsbedürfnis Rechnung getragen wurde. Dazu musste die deutschfranzösische Zusammenarbeit intensiviert werden, und auch an eine Revision der deutsch-polnischen Grenze konnte nur gedacht werden, wenn sich im Gegenzug das französisch-polnische Bündnis lockerte.157 Die Überwindung des Vertrages von Versailles sollte auch die innenpolitischen Verhältnisse stabilisieren.158 Schon 1925 zeigte sich das neue Klima in den internationalen Beziehungen. Stresemann ließ Frankreich ein Memorandum zur Sicherheitspolitik überreichen, sicher auch eine Reaktion auf einen möglichen englischbelgisch-französischen Garantiepakt. Eine reale Drohung war die Ankündigung der Alliierten, die Räumung der Kölner Besatzungszone auszusetzen, weil Deutschland gegen die Entwaffnungsbestimmungen verstoßen habe. Ein deutsch-französisches Sicherheitsabkommen würde der französischen Politik die Stoßkraft nehmen, weshalb Frankreich auch zögerte. England und die USA intervenierten zugunsten der deutschen Vorschläge. Nach intensivem Notenaustausch kam es zum Treffen der europäischen Staatsmänner in der Konferenz von Locarno (5.–16.10.1925) und zum Abschluss der sog. Locarno-Verträge. Deutschland, Frankreich und Belgien verzichteten auf eine gewaltsame Änderung der bestehenden Grenzen, England und Italien übernahmen ihre Garantie. Ergänzend wurden Schiedsverträge Deutschlands mit Frankreich, Belgien, Polen und der Tschechoslowakei vereinbart:

155 156 157 158

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Siehe den „Stufenplan“ der Revisionsziele in Longerich (1995, S. 155). Stresemann, hier zit. in Kolb/Schumann (2013, S. 66). Kolb/Schumann (2013, S. 66); s. Longerich (1995, S. 155). Longerich (1995, S. 154).

Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

„Das Deutsche Reich anerkannte im Garantiepakt von Locarno die durch den Versailler Vertrag fixierte Westgrenze, es behielt sich aber den Anspruch auf eine Revision der Ostgrenze vor“.159

Mit den Locarno-Verträgen war die politische wie moralische Isolierung der unmittelbaren Nachkriegsjahre beendet, Deutschland war wieder zurück in den Kreis der europäischen Mächte. Für die neue deutsche Außenpolitik war es konsequent, auf der neuen Basis am 10.9.1926 Mitglied im Völkerbund zu werden. Die Locarno-Papiere wurden von Stresemann durch einen Freundschaftsvertrag (Berliner Vertrag vom 24.4.1926) mit der Sowjetunion ergänzt. Der Sowjetunion wurde im Falle eines Krieges mit Dritten Deutschlands Neutralität zugesichert. Stresemann: „Zuerst der Westen“, hatte mit Polen den ersten Verlierer, und für Deutschland selbst rechnete Stresemann mit schnellen positiven Rückmeldungen, die sich – wenn auch nicht in dem erwarteten Ausmaß – auch zeigten. So wurde die erste Zone des Rheinlands noch 1925 geräumt, die interalliierte Militärkommission abgezogen. Bemerkenswert war vor allem die wirtschaftliche Zusammenarbeit der deutschen mit der französischen Schwerindustrie. In den Verhandlungen, die zum Briand-Kellogg-Pakt (27.8.1928) führten, konnte die deutsche Diplomatie schon wieder zwischen den USA und Frankreich vermitteln.160 Am 17.9.1926 fand in Thoiry ein Gespräch zwischen Briand und Stresemann statt, in dem die Chancen über eine Gesamtlösung für die deutsch-französischen Beziehungen erörter wurden. Das Problem der Rheinlandräumung sollte mit der vorzeitigen Ablösung der deutschen Reparationsschulden an Frankreich gekoppelt werden. Die Widerstände in Frankreich waren letztlich zu groß.161 Eine große Belastung für die deutsche Volkswirtschaft brachten 1928/29 die nunmehr laut Dawes-Plan zu zahlenden hohen „Normal“-Annuitäten. Während Deutschland im Völkerbund eine vorzeitige RheinlandRäumung ohne Gegenleistung forderte, bestanden Frankreich und England auf einem Junktim. Letztlich wurde eine neue Expertengruppe von Finanzfachleuten gebildet, die als Ergebnis den Young-Plan präsentierten. Die neue Reparationssumme wurde auf 112 Milliarden festgelegt, die neue Durchschnittsannuität betrug ca. 2 Milliarden (zuvor 2,5 Milliarden). Außerdem wurde die Aufsicht für die deutsche Wirtschafts- und Finanzpoli159 Kolb/Schumann (2013, S. 70; nachst. s. ebd.). 160 Ebd. S. 71. 161 Ebd. S. 71 f.; s. nachst. ebd. S. 72 f..

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

tik beendet. Bei Annahme des Young-Plans wurde zugesichert, bis zum 30.6.1930 – fünf Jahre früher, als im Vertrag von Versailles vorgesehen – das ganze Rheinland zu räumen. Was eigentlich zu einer ruhigeren Innenpolitik hätte führen müssen, weil es sich in der Tat um einen Erfolg deutscher Außenpolitik handelte, beschwor im Gegenteil neue heftige Auseinandersetzungen herauf: „Soviel jedenfalls ist deutlich: Bereits gegen Ende der Ära Stresemann und noch vor Anbruch der Weltwirtschaftskrise zogen drohende innenpolitische Sturmwolken auf; die zügellose nationalistische Agitation der politischen Rechten erzeugte eine aggressiv-revisionistische Welle (…).162

Dies war eine klare Absage an eine auf Verständigung setzende Außenpolitik. 4. Der Young-Plan als Motor der Republikfeinde: Kooperation von NSDAP und DVP. Das vorteilhafte Ergebnis des Young-Plans wurde von der radikalen Rechten als Aufhänger für ihren immer heftiger werdenden Kampf gegen Weimar missbraucht. Im Mittelpunkt der Hetze stand die generationenlange Dauer der finanziellen Belastungen. Der propagandistisch am besten nutzbare Weg, waren die plebiszitären Voten von Volksbegehren und Volksentscheid. Kurz nach Bekanntwerden der Vertragsmodalitäten gründete die von Hugenberg radikalisierte DNVP zusammen mit dem „Stahlhelm“ einen „Reichsausschuß für das deutsche Volksbegehren“, dem sich umgehend die NSDAP anschloss. Hitler konnte als gleichberechtigter Partner Hugenbergs in einer zentralen Frage deutscher Politik politische Reputation erwerben; „die Hemmungslosigkeit der nationalsozialistischen Propagandamethoden und die Brutalität ihrer Kampfesweise wurden für die Bürger salonfähig gemacht und gleichsam akkreditiert“.163

Die Sache an sich endete mit einem völligen Fehlschlag, denn dem mit größter Mühe noch erreichten Volksentscheid stimmten nur 13,8% der Wahlberechtigten zu, die NSDAP aber profitierte. Im Gefolge der Hugen-

162 Kolb/Schumacher (2013, S. 73). 163 Karl Dietrich Erdmann, zit. in Kolb/Schumann (2013, S. 122; nachst. s. S. 122 f.).

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Viertes Kapitel: Carl Schmitt und die Phase der Konsolidierung.

bergschen Propagandamaschinerie konnte die NSDAP zum Nürnberger Parteitag 200.000 Anhänger, nebst 20.000 SA-Männern aufbieten, die an Hitler vorbeidefilieren. Auch an den Wahlurnen profitierten die Nationalsozialisten: In Thüringen etwa erzielten sie im Dezember 1929 11,3% und kamen wegen einer Patt-Situation dank der Koalitionsbereitschaft der bürgerlichen Parteien erstmals zu einer Regierungsbeteiligung. Die NSDAP hatte den Ruf einer radikalen aber isolierten Splitterpartei schlagartig abgelegt. Ihr Wähleranteil stieg von da ab kontinuierlich.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung. Viele Ausführungen Carl Schmitts lassen sich – nicht nur in seiner Verfassungslehre164 – erst bzw. leichter verstehen, wenn man sie an den Positionen und Entwicklungen der Staatsrechtslehre seiner Zeit misst. 1. Konstitutionelle Monarchie und Rechtsstaat. Das 19. Jahrhundert ist für Deutschland die Zeit der konstitutionellen Staatsform mit ihrem Dualismus zwischen monarchischer und parlamentarischer Gewalt und ihren Verfassungen von 1808 und 1818 bis zum Parlamentarisierungserlass vom 30. September und den Verfassungsänderungen vom 28. Oktober 1818. Das monarchische Prinzip galt, war aber auf dem Rückzug während die politischen Parteien an Bedeutung kontinuierlich zunahmen165 Ob die deutsche konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts eine selbstständige politische Form oder nur ein Kompromiss und eine Übergangserscheinung war und ob gar ein wesenhafter Unterschied zwischen deutscher konstitutioneller und „welscher“, also undeutscher parlamentarischer Monarchie bestand, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet.166 Wir halten hier nur fest, dass Carl Schmitt zuerst in seiner Verfassungslehre (1928) den angeblich wesenhaften Unterschied kritisch infrage stellt. Die konstitutionelle Monarchie ist ihm ein Zwischenzustand, ist ihm der Versuch, „der Entscheidung zwischen Monarchie und Volkssouveränität durch Kompromisse und juristische Konstruktionen auszuweichen“.167 Das 19. Jahrhundert war in Deutschland beherrscht von dem Kampf um „Freiheit“ und „Einheit“, also von der konstitutionellen und nationalen Frage. Der politische Liberalismus hatte sich in Deutschland nur ver-

164 165 166 167

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Sigle = VL. Stolleis (2002, S. 42 f.). Siehe dazu Böckenförde (2013, S. 273-305). Ebd. S. 275/276.

I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung.

gleichsweise schwach ausgebildet und musste sich – da deshalb überfordert – für eine der zwei Aufgaben, die Schaffung eines Nationalstaates einerseits und seine liberale Formierung andererseits, entscheiden. Am Ende war die nationale Frage gelöst, für die durch die siegreichen Kämpfe Preußens mit Dänemark, Österreich und Frankreich die Grundlage geschaffen worden war.168 Mit der Lösung der nationalen Frage war endlich auch die lange ersehnte Rechtseinheit erreicht.169 Das Kaiserreich war ein hochentwickelter gewaltenteiliger Rechtsstaat geworden. Die Grundrechte waren auf gesetzlicher Ebene und in den meisten Landesverfassungen garantiert und Staats- und Verwaltungsrecht erlebten ihre erste universitäre Blüte.170 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der wilhelminische Rechtsstaat obrigkeitsstaatliche Strukturen behalten hatte. Die politische Partizipation der Staatsbürger war nur schwach ausgebildet, das Misstrauen gegen Parteien und Parlamente war erhalten. Aber der sog. Wilhelminismus hatte die Anerkennung der Staatsrechtslehre. Zu beobachten war, dass die Aufgabenverteilung zwischen dem regierenden Reichskanzler und dem repräsentierenden Kaiser unter dem „persönlichen Regiment“ Wilhelms II. fragil geworden war und – verstärkt nach der Daily Telegraph Affaire von 1908 – das Parlament gestärkt war, ohne dass von einer Parlamentarisierung der Regierung gesprochen werden konnte.171 Der Übergang zum parlamentarischen System kann auf die Ernennung des Kabinetts Graf Hertling (1.11.1917) datiert werden. Zum Verschwinden des monarchischen Prinzips hatten neben dem Parlament auch die Oberste Heeresleitung, die Parteien der Linken und die bürgerlichen Liberalen beigetragen.172 Die ungeheuer dynamische wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit einer rasch anwachsenden Bevölkerungszahl stellte das System des Rechts dann vor neue Herausforderungen und der Weltkrieg veränderte die Staatsrechtslehre dann endgültig: „Die vom Positivismus erarbeitete Abdichtung des Rechts gegen politische und wirtschaftliche Zwecke schien im Lichte des Zieles, den Krieg zu gewinnen, plötzlich sinnlos“.173

168 169 170 171 172 173

Mehring (2012, S. 40). Stolleis (2002, S. 43). Ebd. S. 43. Ebd. S. 57. Ebd. S. 59. Ebd. S. 67.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

2. Verfassungsänderungen und Staatsrechtslehre im Krieg. Verfassungsänderungen im Kriege konnten weitgehend positivrechtlich und ohne methodische Grundsatzdebatten vollzogen werden. Neu traten Phänomene des stillen Verfassungswandels und des ungeschriebenen Verfassungsrechts auf. Es gab in der Tat zahlreiche Verfassungsänderungen wie Verfassungsmissachtungen, die aber unter den extremen Bedingungen des Kriegszustandes als „Normalität“ angesehen wurden. Es galt schließlich, nur den Krieg zu gewinnen und so scheiterten scheinbar formale Argumente bereits am patriotischen Argument.174 Grundrechte wurden teils drastisch beschnitten. Betroffen waren die persönliche Bewegungsfreiheit durch die Möglichkeit der Verhängung von „Schutzhaft“, die Einschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Zensur und des Briefgeheimnisses. Schmitt hatte an solchen Maßnahmen ja in seiner Münchner Militärzeit – mit teils schlechtem Gewissen – an verantwortlicher Stelle mitgewirkt. Dass in den Zeiten des „Burgfriedens“ Öffentlichrechtler wie Hans Wehberg und Walther Schücking in ihrem Engagement für den bürgerlichen Pazifismus an den Rand gedrängt wurden, überrascht da nicht.175 Von großer Bedeutung für die Verfassungsordnung war § 3 des KriegsErmächtigungsgesetzes vom 4. August 1914.176 Aber auch hier wurde die tiefgehende Verfassungsänderung dieser Ermächtigung in diesen Anfangstagen der Kriegseuphorie nicht im Ansatz gesehen. Im Gegenteil handelte man nach dem Motto: „inter armis silent leges“ bzw. „necessitas frangit legem“. Insgesamt wurden mit dieser Ermächtigung 825 Bundesratsverordnungen auf allen Gebieten des Rechts erlassen: „Die Staatsrechtslehre interpretierte den Vorgang damals und auch nach Kriegsende eher als Abweichung vom rechten Wege denn als Beginn einer neuen Zeit“.177

Überraschen kann kaum, dass sich um Heinrich Triepel ein Kreis von Öffentlichrechtlern verstärkt dem Völkerecht zuwandte, waren doch alle Kriegshandlungen völkerrechtlich relevant, wobei der nationalistischen

174 Siehe ebd. S. 57. 175 Siehe ebd. S. 58. 176 Mit vollem Titel: Gesetz über die Ermächtigung des Bundesrats zu wirtschaftlichen Maßnahmen und über die Verlängerung der Fristen des Wechsel- und Scheckrechts im Falle kriegerischer Ereignisse, Reichsgesetzblatt 345. 177 Siehe Stolleis (2002, S. 59).

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I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung.

Perspektive der Vorzug gegeben wurde. Auch setzte sich die Einsicht durch, dass die Zeit der Monarchie sich dem Ende näherte, ohne dass man sich umgehend der Republik verschrieb, ausgenommen eine wichtige Gruppe um H. Preuß, E. Jacobi, F. Stier-Somlo und G. Anschütz. Der linke Flügel des politischen Spektrums war wie der nationalistische verweist: „Der größte Teil der Professoren des öffentlichen Rechts verstand sich wohl aufrichtig als ‚unpolitisch‘. Das Engagement ‚politischer Professoren‘ hatte sich in den letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs ständig vermindert. Die ‚nationale‘ und die ‚bürgerliche‘ Position waren so selbstverständlich geworden, daß sie kaum noch als politische Optionen wahrgenommen wurden“.178

Das Ende der Monarchie verlangte wohl einen Neuansatz, die Einstellung zum Parlamentarismus und zum Träger der Souveränität konnte freilich umgangen werden, „als man das Problem auf den Wechsel der Staatsform reduzierte. In Wahrheit war jedoch der während des ganzen 19. Jahrhunderts umkämpfte Dualismus der Verfassungsstruktur beendet. Einen prinzipiellen Antagonismus von Exekutive und Parlament gab es theoretisch nicht mehr, da nun alle Staatsgewalt vom Volke ausging“.179

3. Die Gültigkeit der neuen Verfassung und ihre Legitimität. Seit Beginn der Verfassungsberatungen wusste die Staatsrechtslehre, dass sie sich auf ein neues staatsrechtliches Fundament einzustellen hatte und die neue Verfassung den Rahmen künftiger Politik bilden werde.180 Die neue Verfassung war eine „politische Entscheidung“ (VL 23).trotz ihres vielfach beklagten Kompromisscharakters, der an der Struktur der Verfassung abzulesen war, „an der Mischung liberaler und sozialistischer Elemente im Grundrechtsteil oder am potentiellen Gegeneinender von Parlamentarismus und präsidentieller Diktatur. Für die Revolutionäre war die Verfassung das Sigel des Scheiterns der Revolution und des Verrats der Mehrheitssozialisten, für die Monarchisten das Symbol der verhaßten, von den Alliierten aufgezwungenen ‚Republik‘. Die extreme Rechte lehnte das parlamentarische Modell generell ab. Die Föderalisten tadelten die so stark gewordenen unitarischen Tendenzen. Die Unitaristen beklagten den wieder mächtig gewordenen Partikularismus

178 Vorst. s. ebd. S. 63 f.. 179 Ebd. S. 64. 180 Ebd. S. 90.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

und die ungelösten Probleme der Reichsreform. Das Bürgertum sah sich in einer fatalen Zwangsehe mit den Mehrheitssozialisten. Vor die Alternative ‚Räteverfassung oder parlamentarische Demokratie‘ stehend, wählte man selbstverständlich letztere“.181

Hinzu traten innere Vorbehalte gegen die Idee der demokratischen Republik, die auf den Restbeständen monarchischen Legitimitätsdenkens gleichsam aufsaßen, beruhigt nur von der Vorstellung, „der Staat sei ein normatives, prinzipiell unpolitisches Gerüst“. Zudem hatte der Parlamentarismus über ein Rätesystem russischen Vorbilds obsiegt. Kaufmann wählte das Bild, der Parlamentarismus sei eine Planke gewesen, an den sich das deutsche Volk geklammert habe, um nicht zu ertrinken.182 Die Staatsrechtslehre wie die Rechtsprechung akzeptierten fast ausnahmslos die rechtstechnische Gültigkeit der neuen Verfassung. So erkannte das Reichsgericht das Recht der gelungenen Revolution mit dem Satz an: „Die Rechtmäßigkeit der Begründung [ist] kein wesentliches Merkmal der Staatsgewalt“.183 M.a.W.: Die revolutionäre Begründung der Staatsgewalt ist juristisch irrelevant. Tragender Grund dieser Feststellung ist, dass die Rechtfertigung staatlicher Macht kein juristisches Problem ist, dass die effektive und dauerhafte Beherrschung eines bestimmten Gebietes die einzigen Kriterien der Staatsgewalt sind.184 Diese Judikatur des Reichsgerichts vertrat auch die herrschende – aber nicht unangefochtene – Theorie des Rechtspositivismus. Der Rechtsbruch mittels Revolution konnte so zur Rechtsquelle werden, es reichte aus, die Staatsgewalt und die Gewalt zur Verfassungsgebung in Händen zu haben: „Legitimität ist kein Wesensmoment der Staatsgewalt“.185 Diese Position wurde zudem durch die Autorität des Völkerrechts gestützt, das für die Anerkennung eines neuen Staates traditionell die faktische Durchsetzung und Anerkennung der neuen Staatsgewalt als ausreichend ansah.186 Diese Ansicht teilte in § 9 seiner Verfassungslehre auch Carl Schmitt: Eine Verfassung sei als faktischer Zustand und als rechtmäßige Ordnung dann legi-

181 182 183 184 185

Ebd. S. 90. Ebd. S. 91. RGZ Bd. 100 S. 25/28 (27) vom 8. Juli 1920. Hofmann (1964, S. 24). Hans Pohl, zit. n. Stolleis (2002, S 92 FN 112). Anschütz hielt noch 1933 an diesem Satz entschieden fest (Hofmann 1962, S. 24). 186 Stolleis (2002, S. 92).

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I. Staatsrechtslehre und neue Verfassung.

tim, wenn die Macht und die Autorität der verfassunggebenden Gewalt, auf deren Entscheidung sie beruhe, anerkannt ist187 − und konstatiert: „Die Legitimität der Weimarer Verfassung beruht auf der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes“ (VL 92/93).188

Dass ein revolutionärer Verfassungsbruch zur Installierung einer neuen und somit zu einem neuen Staat führen müsse, vertraten erst recht Kelsen und seine Schule.189 4. Die „geistesgeschichtliche Wende“ der Staatsrechtswissenschaft und der „Methodenstreit“. Mit dem Tatbestandsmerkmal der „Anerkennung“ hielt ein subjektives Element Einzug in die Staatsrechtslehre. Die Geltung einer Norm war keine reine Machfrage mehr, sie bedurfte nunmehr der Untermauerung durch objektiv-idealistische Prinzipien: „Das war die vieldiskutierte ‚Wendung zur geisteswissenschaftlichen Methode‘, deren negative Seite, die Stoßrichtung gegen den staatsrechtlichen Positivismus, klarer war, als die positive. (…) die Rechtsordnung müsse zurückgeführt werden ‚auf die Rechtsauffassung der Gesamtheit (…) eingebettet und erklärt aus einer einheitlichen Summe psychologischer, soziologischer, ethischer Wertvoraussetzungen objektiver Art, dem ‚Volksgeist der historischen Schule‘ als einer über und jenseits des positiven Rechts stehenden Gesamtheit‘“.190

Kritisiert wurde dieser Ansatz von den Positivisten als ein „Schrei nach Metaphysik“, der schon vor dem Methodenstreit von 1926 ertönte und unterschwellig auf die Ungültigkeit der Reichsverfassung anspielte. Was dann später gemeinhin „Methoden- oder Richtungsstreit“ genannt wird,

187 „Die über Art und Form der staatlichen Existenz getroffene politische Entscheidung, welche die Substanz der Verfassung ausmacht, gilt, weil die politische Einheit, um deren Verfassung es sich handelt, existiert und das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt Art und Form dieser Existenz bestimmen kann“ (VL 87). 188 Schmitt bejahte sogar die Kontinuitätsfrage zwischen dem Reich von 1871 und der Republik. 189 Stolleis (2002, S. 93). 190 Ebd. S. 93/94; näher dazu ebd. 94 f.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

„war also im Grunde eine Generaldiskussion um den Standort des Faches in einem politisch aufgewühlten Jahrzehnt. Die Teilnehmer waren sich einig, daß es um die Existenz der Republik ging“.191

Seit der Jahrhundertwende hatten sich zwei alternative Ausgangspunkte zur Fortentwicklung der Staatsrechtswissenschaft herauskristallisiert. Die eine strebte an, die Staatsrechtslehre zu einem streng wissenschaftlichen Arbeitsfeld zu entwickeln, indem man es von allen nichtjuristischen Elementen befreite. Die Gegenposition forderte, dass sich die Staatsrechtswissenschaft gegenüber den Sozial- und Geisteswissenschaften zu öffnen habe. Das Staatsrecht fand sich seit 1919 in einer ohnehin offenen Situation: Es gab eine neue Verfassung, aber noch keine Verfassungsrechtsprechung als Wegweiser. Und auch die politische Praxis bewegte sich auf unbekanntem – demokratischem – Terrain. In Teilen der Staatsrechtslehre vollzieht sich nach und nach die Wendung zu einer politischen Betrachtungsweise, einer „geisteswissenschaftlichen Wende“ oder einer „soziologischen“ bzw. „politikwissenschaftlichen“ Wendung zu einer „Wirklichkeitswissenschaft“. Erste Vertreter neben Carl Schmitt sind Erich Kaufmann, Rudolf Smend und Hermann Heller.192 Mitte der 1920er Jahre ist der „Methoden- oder Richtungsstreit“ dann voll und offen im Gange. Durch Gerhard Anschütz‘ bedeutenden positivistischen Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung und vor allem durch Kelsens Allgemeine Staatslehre sah sich das Fach zusätzlich herausgefordert. Diese zusätzliche Motivation hat die Entstehung von Carl Schmitts Verfassungslehre (1928), von Smends Verfassung und Verfassungsrecht (1928) und Hellers Staatslehre (1934) zweifellos gefördert, um nicht zu sagen – von Verlegerseite (Feuchtwanger) – angeheizt: drei Werke, die noch das Staatsrechtsdenken der jungen Bundesrepublik schulen sollten.193 Ein durchaus erstaunliches und unerwartetes Schicksal wiederfuhr der Verfassungslehre Carl Schmitts Ende der 1940er Jahre in Israel. Der damalige israelitische Justizminister hatte es zurate gezogen, um verfassungsrechtliche Probleme des neu gegründeten jüdischen Staates zu lösen.194

191 Ebd. S. 155. 192 Siehe Mehring (2011, S. 41). 193 Siehe Mehring (2002, S. 42). Siehe Stolleis (2002, S. 157). Auch die Nachbardisziplinen – Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaften, Geschichtswissenschaften – hatten ihre Streite (s. Stolleis 2002, S. 157). 194 Siehe Taubes (1987, S. 18 f.).

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II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

„Diktatur ist ebensowenig der entscheidende Gegensatz zu Demokratie wie Demokratie der zu Diktatur“ Carl Schmitt195

1. Einführung. Die Verfassungslehre Carl Schmitts beschränkt sich – so ist vorauszuschicken – keineswegs auf das positive Recht der Weimarer Verfassung, denn „Verfassungslehre“ ist für Schmitt nur ein besonderer Teil der Lehre des öffentlichen Rechts (VL XII).196 Zudem behandelt Schmitt mit einem starken Seitenblick auch die französische Entwicklung.197 Neben rechtstechnischen Überlegungen finden sich in der Verfassungslehre rechtsphilosophische, rechtshistorische, rechtssoziologische, politische und staatsphilosophische Ausführungen.198 All dies entfaltet sich unter dem Spannungsbogen der demokratischen Logik des ersten Hauptteils und der liberalen Logik des zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung.199 Carl Schmitt sieht seine Verfassungslehre, wie er in seinem Vorwort von 1927 betont, als den „Versuch eines Systems“ (VL XI) in einem Deutschland, dem es gegenwärtig an „systematischem Bewußtsein zu fehlen scheint“ (VL XII).200 Für unsystematisch hält er eine Sammlung von Bemerkungen zu einzelnen Artikeln der Verfassung, eine kommentierende oder glossierende Methode aber auch nur einzelproblemzentrierte Darstellungen. Demgegenüber soll in Schmitts Verfassungslehre ein „systematischer Rahmen gegeben werden“ (ebd.). Dies könne durch eine „idealtypische Konstruktion der Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaates“201 ge-

195 196 197 198

(GLP 41). Näher dazu Neumann (2015, S. 100). Pilch (1994, S. 13). Diese können wir natürlich bei Weitem nicht alle berücksichtigen. [Wir versuchen die Charakteristika des Schmitt‘schen Textes zusammenfassend aber dem Aufbau folgend, wiederzugeben.]? 199 Siehe Campagna (2004, S. 53). 200 In der Vorbemerkung zur Auflage von 1954 erklärt sich Schmitt die Nachfrage nach seiner Verfassungslehre mit eben dieser „überzeugenden Systematik“ einer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung (VL Vorbemerkung). 201 Hofmann (1964, S. 125).

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

lingen, „denn diese Art Staat ist heute im allgemeinen noch vorherrschend und die Weimarer Verfassung entspricht durchaus diesem Typus“ (VL XIII). Damit legt Schmitt offen, dass er weder eine „Allgemeine Staatslehre“ noch eine „Allgemeine Verfassungslehre“ aufbereiten wollte. Weil er zudem den Staat immer an eine bestimmte geschichtliche Epoche gebunden sieht, entwickelt sich seine Verfassungslehre am bürgerlichen Rechtsstaat Weimars als einem Idealtypus, jedoch nicht an der Verfassungswirklichkeit Weimars.202 Die Verfassungslehre Schmitts verstehe sich, so Mehring, als eine „Staatslehre ohne Staat“, weil sie gegen die Krisenhaftigkeit der Staatsidee in Weimar die Idee mobilisiert, dass die Ordnung des Staates durch seine Verfassung wiederhergestellt werden könne:203 „In der Krise des Staates emanzipiert Schmitt die Begriffe des Politischen204 und der Verfassung, um die Idee des Staates zu retten. Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus (…)“.205

Derart werde wieder ein politisches Moment – „die demokratische Legitimität als Geltungsgrund der Legalität“ – in das Staatsrecht eingeführt, was die Weimarer Republik aber auch grundsätzlich zur Disposition stelle.206 Das politische Verfassungsverständnis Carl Schmitts muss aus dem systematischen Zusammenhang seiner Schrift Der Begriff des Politischen und seinem „Begriff der Verfassung“ entwickelt werden. Böckenförde sieht Schmitts Bekenntnisschrift als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts“.207 Diese Aufeinanderbezogenheit äußert sich in zwei Thesen. Einmal in der These vom Vorrang des Politischen: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“ (BP 20). Und zum Zweiten in der These vom Kriterium der Unterscheidung von „Freund und Feind“, als „den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung“ (BP 27). Aus diesen Thesen entwickelt Schmitt den Begriff des Staates „als der politischen Einheit eines Volkes“ (VL 3):

202 Mehring (1989, S. 123). 203 Ebd. 204 Die erste Fassung von Der Begriff des Politischen (1927) ist ungefähr gleichzeitig mit der Verfassungslehre verfasst worden. 205 Mehring (1989, S. 124). 206 Ebd. 207 Böckenförde (2013, S. 344; Überschrift).

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II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

„Es sind dies die Voraussetzungen für den positiven Verfassungsbegriff der Verfassungslehre, die Verfassung als eine positive ‚Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit (VL § 3)‘ auszulegen“.208

2. Die Verfassungsbegriffe. Schmitt leitet seine Verfassungslehre mit einer ganzen Reihe von Begriffsbestimmungen ein. Wir zeichnen kurz nach. 2.1. Absoluter und relativer Verfassungsbegriff. Der absolute Verfassungsbegriff des (§ 1 VL) stellt auf die Verfassung des Staates – bestimmte als die politische Einheit eines Volkes209 – als Ganzes ab. Sie bezeichnet den konkreten Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates oder ein geschlossenes System von Normen, letzteres gedacht als eine ideelle Einheit (VL 3).210 Hingegen zielt der relative Verfassungsbegriff nicht auf die Verfassung als Ganzes, sondern auf das einzelne Verfassungsgesetz, das „nach äußerlichen und nebensächlichen, sog. formalen Kennzeichen bestimmt wird“ (VL 11), wie es z.B. die Schriftform oder Kriterien der erschwerten Abänderbarkeit von Verfassungsnormen sind.211 2.2. Der positive Verfassungsbegriff. Ein Begriff von Verfassung sei nur möglich, eröffnet Schmitt den zentralen „§ 3 Der positive Verfassungsbegriff“ seiner Verfassungslehre, wenn Verfassung und Verfassungsgesetz unterschieden würden (VL 20): „Für die Verfassungslehre ist die Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz vielmehr der Anfang jeder weiteren Erörterung“ (VL 21).

208 Mehring (2011, S. 43 f.). 209 „Staat ist ein bestimmter Status eines Volkes, und zwar der Status politischer Einheit“ (VL 205; s. auch BP 20). Wir werden auf diese Definition noch zurückkommen. 210 Zu dieser Variante des Verfassungsbegriffes und den Gegensätzen von Schmitt und Kelsen s. Neumann (2015, S. 101-103). 211 Herv. im Original.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

2.2.1. Staat und Verfassung und die Verfassung als Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt. Der positive Verfassungsbegriff ist der Verfassungsbegriff Schmitts, er „wird der Ausgangs- und Kernpunkt der ganzen Lehre“.212 Denn in der Ansicht Schmitts gelten die Verfassungsgesetze nicht aufgrund ihrer normativen Richtigkeit und nicht aufgrund ihrer systematischen Geschlossenheit, sondern nur aufgrund der Verfassung im positiven Sinne, d.h. aufgrund einer bewussten Fundamentalentscheidung über „Form und Art der politischen Einheit, deren Bestehen vorausgesetzt wird“ (VL 21). Die positive Verfassung wiederum „gilt kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt“ (VL 22). 213 „Das Wort ‚Wille‘ bezeichnet – im Gegensatz zu jeder Abhängigkeit von einer normativen oder abstrakten Richtigkeit – das wesentlich Existentielle dieses Geltungsgrundes“ (VL 76).214

Der politische Wille ist da, oder er ist nicht da. Und Existenzialität des Geltungsgrunds der Verfassung besagt, dass das Recht auf keinen tieferen Grund zurückgeführt werden kann „und bezeichnet damit seine prinzipielle historische Bedingtheit und politische Zufälligkeit“.215 Anders ausgedrückt: der politische Wille einer bestimmten historischen Phase ist kontingent. Dieser politische Wille wird als „politisches Sein“ umschrieben (VL 76), das aber verfassunggebende Gewalt nur „ist“, wenn „dessen Macht oder Autorität imstande ist, die konkrete Gesamtentscheidung über Art und Form der eigenen politischen Existenz zu treffen, also die Existenz der politischen Einheit im ganzen zu bestimmen“ (VL 75/76).216

Carl Schmitt weist dem Staat die Fähigkeit der Selbsterzeugung zu, nicht der Verfassung.217 Der Staat, über dessen politische Form zu entscheiden ist, wird dabei als existent vorausgesetzt. Das politische Apriori der Staatstheorie Schmitts ist die naturhafte politische Einheit.218 Keinesfalls

212 213 214 215 216 217 218

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Hofmann (1964, S. 125). Siehe ebd. S. 142. Herv. im Original. Hofmann (1964, S. 142). Herv. im Original. Pilch (1994, S. 28). Adam (1992, S. 85).

II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

kann nach Schmitt die Verfassungsgebung als konstitutiver Vorgang erst den Staat erzeugen.219 In der klaren Diktion Böckenfördes: „Für Carl Schmitt ist es eine nicht weiter begründete Prämisse, daß der Staat der Verfassung voraus liegt, nicht die Verfassung dem Staat“.220

Wo bei Kelsen die „Grundnorm“ Einheit und Geltung der Verfassung begründet, „erscheint bei Schmitt der Verfassungsbefehl eines autoritativ entscheidenden Willens. Im Akt des Verfassungsbefehls fallen absolute und relative Bedeutung der Verfassung zusammen, die Gesetze erhalten ihren verbindlichen Geltungsgrund, die politische Einheit erhält ihre bewußt gewählte Form“221.

Die Vorgängigkeit des Staates vor der Verfassung hat eine wichtige Konsequenz. Sie ermöglicht staatliche Kontinuität auch dann, wenn eine bestehende Verfassung beseitigt wird. Auch eine fundamentale Änderung der Verfassung führt nicht dazu, dass der Staat, „d.h. die Einheit des Volkes aufhört“, (VL 21): „Wo eine verfassunggebende Gewalt besteht, ist daher immer auch ein Minimum von Verfassung vorhanden, welches von Durchbrechungen der Verfassungsgesetze, Revolution und Staatstreichen nicht berührt zu werden braucht, wenn nur die Grundlage der Verfassung, die verfassunggebende Gewalt, sei es des Königs, sei es des Volkes, bleibt“ (VL 92).

Wo eine verfassunggebende Gewalt besteht, ist immer ein Minimum von Verfassung vorhanden (VL 92).222 Dieses Theorem soll sogar gelten, wenn eine Demokratie zur Diktatur wechselt, weil sie auf den Willen der verfassunggebenden Gewalt einer konkreten politischen Einheit zurückgeführt werden kann, „welcher Art auch immer die Regierung, d.h. die Form der Ausübung dieses Willens sei“ (VL 94 f.): „Immer aber gehört zu dieser Verfassunggebung ein handlungsfähiges Subjekt, das sie mit dem Willen gibt, eine Verfassung zu geben. Eine solche Verfassung ist eine bewußte Entscheidung, welche die politische Einheit durch den Träger der verfassunggebenden Gewalt für sich selber trifft und sich selber gibt“ (VL 21).223

219 Siehe Pilch (1994, S. 29). 220 Böckenförde (1988, S. 288). 221 Pilch (1994, S. 29). Siehe auch Mehring (1988, S. 126). Bei Kelsen ist „Staat“ nur ein anderer Ausdruck für die Rechtsordnung (Neumann 2015, S. 104). 222 Neumann (2015, S. 105). 223 Herv. im Original.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

Dass eine Verfassung „sich selber gibt“, ist für Schmitt „offenbar unsinnig und absurd“, weshalb er kategorisch festlegt: „Die Verfassung gilt kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt. Jede Art rechtlicher Normierung, auch die verfassungsgesetzliche Normierung, setzt einen solchen Willen als existierend voraus“ (VL 22).

Diesem Diktum folgend, können Verfassungsgesetze erst aufgrund einer Verfassung gelten und setzen eine Verfassung voraus. Sie bedürfen zu ihrer Gültigkeit im letzten Grund einer vorhergehenden politischen Entscheidung einer politisch existierenden Macht (s. VL 22):224 „Jede existierende politische Einheit hat ihren Wert und ihre ‚Existenzberechtigung‘ nicht in der Richtigkeit oder Brauchbarkeit von Normen, sondern in ihrer Existenz. Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert. Daher ist ihr ‚Recht auf Selbsterhaltung‘ die Voraussetzung aller weiteren Erörterungen, sie sucht sich vor allem in der Existenz zu erhalten, ‚in suo esse perseverare‘ (Spinoza); sie schützt „ihre Existenz, ihre Integrität, ihre Sicherheit und ihre Verfassung‘ – alles existentielle Werte“ (VL 22).225

Es ist also nicht irgendeine Macht wert, dass sie existiert, sondern nur die Größe, die „politisch“ existiert. Das aber heißt, dass besagte Größe zur Fähigkeit der Freund-Feind-Unterscheidung in der Lage war und so das Monopol des Politischen errungen hat.226 Stellt sich also die Frage nach der Legitimität der Staatsgewalt nicht mehr?227 Aus dem vorstehenden Zitat wird deutlich, dass es nur noch um die Existenzerhaltung der politischen Einheit geht, die da ist oder nicht da ist. Schmitt selbst lehnt es ab, von einer Legitimität der Staatsgewalt oder des Staates zu sprechen, wie er in der Kommentierung des (RGZ Bd. 100, S. 25) ausführt: „Von Legitimität eines Staates oder einer Staatsgewalt kann man nicht sprechen. Ein Staat, d.h. die politische Einheit eines Volkes, existiert, und zwar in der Sphäre des Politischen; er ist einer Rechtfertigung, Rechtmäßigkeit, Legitimität usw. so wenig fähig, wie in der Sphäre des Privatrechts der einzelne lebende Mensch seine Existenz normativ begründen müßte oder könnte“ (VL 89).

224 225 226 227

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Herv. w.a.m. Herv. im Original. Neumann (2015, S. 106). Zur Entwicklung der unterschiedlichen Legitimitätsbegriffe siehe (Hofmann 1964, S. 129).

II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

Alleine durch seine faktische Existenz ist der Staat für Schmitt schon im Recht, „weil der Staat für Schmitt jetzt mit der politischen Einheit eines Volkes identisch ist und, weil ihm das Dasein einer kämpferischen Gesamtheit von Menschen als letzte, unüberholbare Wahrheit des höheren, nämlich des politischen Lebens erscheint“.228

Fassen wir mit Neumann zusammen: Eine Verfassung kommt ausschließlich durch eine Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt zustande, der Geltungsgrund der Verfassung muss ein politischer Wille sein und das Politische muss im Sinne der Freund-Feind-Theorie verstanden werden.229 2.2.2. Rechtsbindung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt. Der Träger der verfassunggebenden Gewalt in einer Demokratie ist für Schmitt das Volk, in einer echten Monarchie der Monarch (VL 23).230 Die verfassunggebende Gewalt erschöpfe sich nicht durch einmalige Ausübung, sondern bleibe neben und über der Verfassung bestehen: „Die politische Entscheidung, welche die Verfassung bedeutet, kann nicht gegen ihr Subjekt zurückwirken und dessen politische Existenz aufheben. Neben und über der Verfassung bleibt dieser Wille bestehen“ (VL 77).

Das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt bleibe, so Schmitt weiter, der Urgrund allen politischen Geschehens, „die Quelle aller Kraft, die sich in immer neuen Formen äußert, immer neue Formen und Organisationen aus sich herausstellt, selber jedoch niemals ihre politische Existenz einer endgültigen Formierung unterordnet“ (VL 77).

Nach Sieyès neuer Theorie des pouvoir constituant, erläutert Schmitt, sei für diesen die „Nation“ – da prägnanter und weniger missverständlich – das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt, bezeichne es doch

228 Hofmann (1964, S. 130). 229 Siehe Neumann (2015, S. 107 f.). 230 Anders Böckenförde, für den die verfassunggebende Gewalt nicht auf den Monarchen übertragen werden kann. Als Träger der verfassunggebenden Gewalt komme nur das Volk in Betracht (Böckenförde 2011, S. S. 101 f.).

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

„das Volk als politisch-aktionsfähige Einheit mit dem Bewußtsein seiner politischen Existenz“ (VL 79).231

Das nicht als Nation bestehende Volk ist hingegen „nur eine irgendwie ethnische oder kulturell zusammengehörige, aber nicht notwendig politische Verbindung von Menschen: „Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes setzt den bewußten Willen zur politischen Existenz, also eine Nation voraus“ (VL 79).

Auch für das Hervorbrechen der verfassunggebenden Gewalt gebe es kein geregeltes Verfahren, das Volk betätige sie „durch irgendeinen erkennbaren Ausdruck seines unmittelbaren Gesamtwillens, der auf eine Entscheidung über Art und Form der Existenz der politischen Einheit gerichtet ist“ (VL 82).

In Die Diktatur hatte Schmitt schon früher den pouvoir constituant als das „unorganisierbar Organisierende“ bezeichnet (DD 142). Kann die Verfassung vor irgendwelchen nicht zu kalkulierenden Aktionen der verfassunggebenden Gewalt geschützt werden?232 Im System Schmitts nicht, ist ihm doch die verfassunggebende Gewalt „prinzipiell unbegrenzt und vermag schlechthin Alles, denn sie ist nicht der Verfassung unterworfen, sondern gibt selbst die Verfassung“ (DD 140).

Irgendein Zwang oder auch eine Selbstbindung seien „völlig undenkbar“ (ebd.). 2.2.3. Die materiellen Schranken der Verfassungsrevision. 2.2.3.1. Die Verfassung als Kompromiss (Verfassungsgesetze). Die Weimarer Verfassung ist eine Verfassung, weil sie die oben angeführten politischen Fundamentalentscheidungen des deutschen Volkes enthält. In den Verfassungsgesetzen hingegen fänden sich, erläutert Schmitt, insbesondere im zweiten Teil unter der Überschrift „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“

231 „Volk“, so Adam, bedeute selbst immer schon ein „individualisiertes Volk“. Der Begriff der Nation funktioniere bei Schmitt „als Überhöhung gegenüber den soziologischen Residuen im Begriff des Volkes (Adam 1992, S. 69). 232 Siehe dazu Böckenförde (2011, S. 105-108).

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II. Die Verfassungslehre Carl Schmitts.

„ein Nebeneinander von Programmen und positiven Bestimmungen, dem die verschiedenartigsten politischen, sozialen und religiösen Inhalte und Überzeugungen zugrunde liegen. Bürgerlich-individualistische Garantien von persönlicher Freiheit und Privateigentum, sozialistische Programmsätze und katholisches Naturrecht sind in einer oft etwas wirren Synthese miteinander vermengt“ (VL 29 f.).

Kompromisse und Unklarheiten, die etwa wegen der unterschiedlichen Haltung von Koalitionsparteien bewusst nicht entschieden wurden oder entschieden werden, können freilich nicht umgangen werden, weil sonst keine Verfassung vorläge. Fälle eine „verfassunggebende“ Versammlung keine Entscheidung, so falle sie außerhalb dieser, notfalls auf gewaltsamen Weg. Grundlegende Gegensätze wie sie bei echten Klassengegensätzen und den letzten Gegensätzen echter religiöser Überzeugungen wirkten, seien nur kompromissfähig, wenn der Wille zur politischen Einheit diese Gegensätze stark und entscheidend überwiegt (VL 30; nachst. VL 30 f.). Die grundlegenden politischen Fragen des Revolutionsjahres 1919: Monarchie oder Republik, konstitutionelle Demokratie oder Rätediktatur mussten also entschieden werden und sie wurden es (s.o.).233 Schmitt macht aber geltend, dass trotzdem nicht alle grundlegenden politischen Fragen des Jahres 1919 in die Verfassung eingegangen seien. Als Folge werde deshalb behauptet, dass der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung einen „Mischcharakter“ aus bürgerlichen und sozialistischen Anschauungen aufweise – eine irrige Ansicht für Schmitt, weil spezifisch politische Folgerungen aus sozialistischen Prinzipien nicht gezogen worden seien: „Die fundamentale Entscheidung ist durchaus für den bürgerlichen Rechtsstaat und die konstitutionelle Demokratie gefallen“ (VL 30). Die Muss-Entscheidung zwischen bürgerlichem Rechtsstaat oder proletarischem Klassenstaat war für Schmitt 1919 unumgänglich für den bürgerlichen Rechtsstaat entschieden worden (VL 31). Die Weimarer Verfassung enthalte weiterhin „unechte Kompromisse“ oder „Scheinkompromisse“, deren Grundzug es sei, Entscheidungen hinauszuzögern (VL 31) und den Streit um unvereinbare Inhalte unentschieden zu halten (VL 32; nachst s. VL 32 f.). Schmitt bezeichnet eine solche

233 A.A. Anschütz, für den die Weimarer Verfassung ein „mit achtunggebietender, ja imponierender Mehrheit beschlossener Kompromiss zwischen großen staatsbildenden Kräften, zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft ist“ (zit. In Neumann 2015, S. 111).

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Übereinkunft als „dilatorischen Formelkompromiß“ (VL 32). Im Sommer 1919 sei es wegen der starken kirchlichen und sozialen Gegensätze234 geboten gewesen, diese mithilfe dilatorischer Formelkompromisse offenzulassen. Aber gleichwohl wäre es ein Ausdruck mangelnder juristischer Unterscheidung, sie mit echten Sachkompromissen zu verwechseln und anzunehmen, sie könnten auf Dauer gestellt sein. Alle Verfassungsnormen, die keine Entscheidung treffen, nennt Schmitt Verfassungsgesetze; aber nicht alle Verfassungsgesetze haben Kompromisscharakter.235 Für den Linksschmittianer Otto Kirchheimer ist die Weimarer Verfassung nicht der Ausdruck eines echten Kompromisses, weil es sich um eine bisher einzigartige Nebeneinanderordnung und Anerkennung verschiedener Wertsysteme handle. Das Fehlen eines inhaltlichen Organisationssystems mache aus der Verfassung eine bloß „formelle Spielregel“, über die der sozial Mächtigere verfügen könne.236 War also die Alternative zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaftsordnung nur ein dilatorischer Formelkompromiss? Schmitt rigoros: „Die Entscheidung musste für den bisherigen status quo, d.h. für die Beibehaltung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung fallen, weil die andere Entscheidung, eine konsequent durchgeführte sozialistische Revolutionierung nach Art einer Sowjetverfassung, auch von den Sozialdemokraten ausdrücklich abgelehnt wurde“ (VL 30 f.).

Spezifisch politische Folgen aus den Prinzipien des Sozialismus seien nicht gezogen worden. Verfassungsrechtlicher Ausdruck dieser Entscheidung sei: „Das Deutsche Reich ist eine konstitutionelle Demokratie“ (VL 35). 2.2.3.2. Inhalte der positiven Verfassung. Schmitts positiver Verfassungsbegriff suche, so Hofmann, die letzte Realität, von der aus sich eine Verfassung einheitlich konstruieren lässt. Dies sei für den Idealisten und Ideologen Carl Schmitt etwas Geistiges:

234 Siehe dazu die Erörterungen zu den Beziehungen von Staat u. Kirche sowie Staat u Schule (VL 32-34). 235 Siehe Neumann (2015, S. 111 u. 111 FN 172). 236 Widersprechend s. Neumann (2015, S. 111 f.).

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„die prinzipiierende, bewußte und bewußt einheitliche (d.h. in sich widerspruchsfreie) Gesamt-Entscheidung eines – freilich sehr individualistisch gedachten – Kollektivs über Art und Form der eigenen politischen Einheit“237

Für die Weimarer Reichsverfassung sind dies (nachst. s. VL 23 f.): • die Entscheidung für die Demokratie,238 die Entscheidung für die Republik und gegen die Monarchie, • die Entscheidung für die Beibehaltung der Länder,239 • die Entscheidung für eine grundsätzlich parlamentarisch-repräsentative Form der Gesetzgebung und Regierung, • die Entscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat mit seinen Prinzipien: Grundrechte und Gewaltenunterscheidungen.240 Eine andere Qualität denn Gesetzesqualität zeichnet folgende Aussagen aus: • „Das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben.“ • „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ • „Das Deutsche Reich ist eine Republik“. Diese Feststellungen sind für Schmitt weit bedeutender als Gesetze. Sie sind „nämlich die konkreten politischen Entscheidungen, welche die politische Daseinsform des deutschen Volkes angeben und die grundlegenden Voraussetzungen für alle weiteren Normierungen, auch diejenigen der Verfassungsgesetze, bilden. (…) Sie machen die Substanz der Verfassung aus“ (VL 24).

Die wichtigste politische Entscheidung der Weimarer Verfassung ist für Schmitt in den Sätzen – „Das deutsche Volk hat sich diese Verfassung gegeben“, und „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“. – enthalten: „Diese Sätze bezeichnen als konkrete politische Entscheidungen die positivrechtliche Grundlage der Weimarer Verfassung, nämlich die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes als einer Nation, d.d. einer ihrer politischen Existenz bewußten, handlungsfähigen Einheit“ (VL 60).

237 Hofmann (1964, S. 126/127). Siehe (VL 23). 238 „… die das deutsche Volk kraft seiner bewußten politischen Existenz als Volk getroffen hat“ (VL 23). 239 „… also einer bundesstaatlichen (wenn auch nicht bündischen) Struktur des Reichs“ (VL 24; Herv. im Original). 240 „Dadurch charakterisiert sich das Deutsche Reich der Weimarer Verfassung als eine konstitutionelle Demokratie, d.h. als ein bürgerlicher Rechtsstaat in der politischen Form einer demokratischen Republik, mit bundestaatlicher Struktur“ (VL 24).

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Schmitt bezeichnet sie an anderer Stelle auch als „existentielle(n) Totalentscheidungen des deutschen Volkes“ (ebd.), die überdies bewirkten, dass die Verfassung keine Summe zusammenhangloser Einzelbestimmungen ist. Ihre wahre Bedeutung und Wirkung habe die Staatslehre der Vorkriegszeit, die diese Totalentscheidungen als bloße Proklamationen behandelt habe, völlig verkannt. Alle weiteren Normierungen seien ihnen gegenüber nur mehr relativ und sekundär (vgl. VL 24/25). Ersichtlich sei dies auch daran, dass für sie die erschwerten Abänderungsregeln des Art. 76 WRV gälten. 2.2.3.3. Rechtsfolgen der Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz. Die Rechtsfolgen aus Schmitts Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz sind erheblich. Wir gehen auf die wichtigsten kurz ein.241 Die Verfassung selbst ist unantastbar änderungsfest. Hingegen sind Verfassungsgesetze im Wege der Zwei-Drittel-Mehrheit in Reichstag und Reichsrat veränderbar: „Das ist die Lehre von den materiellen Schranken der Verfassungsrevision, die untrennbar mit seinem Namen verbunden ist“.242

Ein Gegenargument bietet der Wortlaut der Verfassung in Art. 76 Abs. 1 S1 WRV: „Diese Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden.“ Dagegen wendet Schmitt ein, dass das Deutsche Reich auch nicht mit Zwei-Drittel-Mehrheit in eine absolute Monarchie oder eine Sowjet-Republik verwandelt werden könne. Dagegen wendet Neumann ein: Es gebe, wenn die von der WRV erforderlichen Mehrheiten erreicht seien, im Verfassungsrecht kein einziges Argument, das sich dagegen anführen ließe.243 Auch für den Reichspräsidenten ist die Verfassung unantastbar. Verfassungsgesetze aber darf er suspendieren und durchbrechen. Verfassungsgesetze können aber während eines Ausnahmezustandes vom Reichspräsi-

241 Vgl. nachst. Neumann (2015, S. 113 f.). 242 Ebd. S. 113. Zu Kritik und Rezeption dieser Lehre und ihre mögliche Auswirkung auf Art. 79 Abs. 3 GG s. ebd., S. 114-118). 243 Ebd., S. 113 f.).

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denten gem. Art 48 WRV suspendiert bzw. durchbrochen werden.244 Die darin aufgeführten Maßnahmen stehen dabei gerade im Dienste der Sicherung der grundlegenden politischen Entscheidungen, der politischen Existenzform (s. VL 26 f.). Die Verfassung gewährt eine Reihe von sog. Grundrechten. Die verfassungsgesetzliche Einzelregelung solcher grundrechtlichen Garantien sei von der Garantie selbst zu unterschieden. Durch verfassungsrechtliche und gesetzliche Normierungen können weitgehende Eingriffe in die garantierten Grundrechte zugelassen werden, die Vernichtung eines Grundrechts hingegen verletzt die Verfassung (VL 27). 3. Der bürgerliche Rechtsstaat. Der politische Kampf bringe es mit sich, dass jede der kämpfenden Parteien nur die Verfassung als „wahr“ oder „echt“ anerkenne, die ihrem politischen Programm entspricht. Sind die Gegensätze zu stark, kann der Verfassung von den oppositionellen Gruppen ihr Name gänzlich abgesprochen werden. Insbesondere das liberale Bürgertum habe aus seiner Frontstellung gegen die absolute Monarchie einen bestimmten „Idealbegriff von Verfassung aufgestellt und ihn mit dem Begriff der Verfassung schlechthin identifiziert“ (VL 36). Diesen bürgerlichen Rechtsstaat sah Schmitt als den Idealbegriff einer Verfassung seiner Zeit (VL 40 f.). Allerdings ist er für ihn „keine Staatsform, sondern enthalte nur Schranken und Kontrollen des Staates im Interesse des Schutzes bürgerlicher Freiheiten“ (VL 36).

244 Art. 48 Abs. 2 WRV besagt: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Mahnahmen treffen, erforderlichenfalls mithilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen“.

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3.1. Die rechtsstaatlich-unpolitischen Bestandteile der Verfassung. Der bürgerliche Rechtsstaat ist auf die Zurückdrängung des Politischen und auf die rechtliche Begrenzung der ganzen Staatsverfassung ausgerichtet und macht deshalb nur den rechtsstaatlich-unpolitischen Teil der Staatsverfassung im Ganzen aus, während der andere Teil die positive Entscheidung über die Form der politischen Existenz enthält, und in dem die eigentliche Staatsform – Monarchie, Aristokratie, Demokratie oder ein status mixtus245 – bestimmt ist: „In der Verbindung dieser beiden Bestandteile liegt die Eigenart der heutigen bürgerlich-rechtstaatlichen Verfassungen. Diese Doppelheit bestimmt ihre Gesamtstruktur (…)“ (VL 41).

Diese Doppelheit rechtstaatlich-unpolitischer mit politischen Bestandteilen in gemischten Verfassungen ist für Schmitt also die Eigenart der heutigen bürgerlich-rechtlichen Verfassungen. Trotz aller Rechtlichkeit und Normativität bleibe der Rechtsstaat doch Staat, weil er immer noch einen „spezifisch politischen Bestandteil“ enthält: „Das Politische kann nicht vom Staat – der politischen Einheit eines Volkes – getrennt werden, und das Staatsrecht entpolitisieren, hieße nichts anderes als das Staatsrecht zu entstaatlichen (VL 125).246.

Zum rechtsstaatlichen Bestandteil jeder modernen Verfassung gehören das Verteilungs- und das Organisationsprinzip. Das Verteilungsprinzip, das die Freiheitssphäre des Einzelnen als etwas vom Staat Gegebenes voraussetzt: „und zwar ist die Freiheit des einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist“ (VL 126).247

Das Organisationsprinzip dient der Durchführung dieses Verteilungsprinzips: „die (prinzipiell begrenzte) staatliche Macht wird geteilt und in einem System umschriebener Kompetenzen erfaßt“ (VL 126).248

245 246 247 248

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In Anlehnung an die Staatsformenlehre von Platon und Aristoteles. Herv. im Original. Herv. im Original. Herv. im Original.

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Das Verteilungsprinzip findet seinen Ausdruck in einer Reihe von Grundoder Freiheitsrechten, das Organisationsprinzip in der Lehre von der sog. Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Justiz (s. VL 126 f.): „Grundrechte und Gewaltenteilung bezeichnen demnach den wesentlichen Inhalt des rechtsstaatlichen Bestandteils der modernen Verfassung“ (VL 127).

Das grundlegende Verteilungsprinzip des bürgerlichen Rechtsstaats ist anerkannt, weil die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen im zweiten Hauptteil der Weimarer Verfassung aufgezählt sind (VL 128). Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, also der Vorbehalt und der Vorrang des Gesetzes, das Prinzip der Messbarkeit aller staatlichen Machtäußerungen und ihre Kontrollierbarkeit sowie die Unabhängigkeit der Richter, sind weitere Bestandteile des Rechtsstaats (VL 131 f.). „Das vollendete Ideal des bürgerlichen Rechtsstaates gipfelt in einer allgemeinen Justizförmigkeit des ganzen staatlichen Lebens“ (VL 133).

Dies bedeute, dass es für jede Art von Differenzen und alle Streitigkeiten ein justizförmiges Verfahren geben müsse, und dass die wichtigste Voraussetzung solcher Verfahren geltende, generelle Normen und die Bindung des Richters an sie sind (VL 133). In dem zeitgleich mit der Verfassungslehre publizierten Aufsatz Der bürgerliche Rechtsstaat wird zum Rechtsstaat ausgeführt, er sei ein „status mixtus“, der entgegengesetzte Prinzipien im Interesse der individuellen Freiheit ausbalanciere und dafür die Zerstörung der Substanz des Politischen in Kauf nehme. Wegen dieser rechtsstaatlichen Methoden bleibe die wichtigste Aufgabe der Zeit, die Integrierung des Proletariats in den neuen Staat, unerledigt. 3.2. Die Gewaltenunterscheidung. Die Unterscheidung der Gewalten – die sich historisch an den Ausführungen Lockes, Bolingbrokes und Montesquieus orientiert (s. VL 183 ff.) – enthält das zweite Prinzip des rechtsstaatlichen Bestandteils einer modernen freiheitlich-bürgerlichen Verfassung, nämlich „das organisatorische Prinzip, dessen Durchführung die Meßbarkeit und Kontrollierbarkeit aller staatlichen Machtbefugnisse sichern soll“ (VL 182).

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Weiterhin spricht Schmitt von einer „Unterscheidung der Gewalten“, nicht von „Trennung“ bzw. der „sog. Teilung“.249 Denn es kämen bei der Unterscheidung der Gewalten, erläutert Schmitt, zwei Gesichtspunkte zur Geltung: einmal, die Durchführung einer Trennung der obersten staatlichen Behörden und ihrer Zuständigkeiten und zweitens, die gleichzeitige Verbindung, gegenseitige Einwirkung und Ausbalancierung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion (VL 186). Dem folgend warnt Schmitt vor einer zu streng praktizierten Trennung der drei Gewalten und damit ihrer Absonderung und Inkompatibilität. Es könnten dann legislative Körperschaften keinen Einfluss auf die Regierung nehmen, was eine parlamentarische Regierung ausschließen würde, eine richterliche Kontrolle der Legislative müsste unterbleiben (Kasuistik u. Ausnahmen s. VL 187-199). Schmitts Ergebnis in den Worten Thomas: Die Gewaltenteilung ist „weder praktisch noch auch nur logisch restlos durchführbar“.250 Vieles von den Ausführungen Schmitts wird von Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre noch heute so gesehen. 4. Das allgemeine Gesetz. Der bürgerliche Rechtsstaat beruht auf der Herrschaft des Gesetzes und ist somit ein Gesetzesstaat (VL 138). Schmitt unterscheidet zwischen formellem, materiellem und rechtsstaatlichem Gesetz. 4.1. Formelles und materielles Gesetz. Auf Laband zurückführend, stellt das formelle Gesetz auf das Zustandekommen des Staatswillens ab, das materielle auf den Gesetzesinhalt.251 Da ohne größere Bedeutung, mag dies genügen.

249 Nachst. s. Neumann S. 120 f. 250 Thoma zit. n. Neumann (2015, S. 121). 251 Siehe Neumann (2015, S. 121).

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4.2. Das rechtstaatliche Gesetz. Schmitt vermeidet in der Verfassungslehre den Begriff „materiell“ und spricht vom „rechtsstaatlichen Gesetz“. Ein Gesetz muss bestimmte Qualitäten aufweisen, um als „rechtsstaatlich“ bezeichnet werden zu können: „Richtigkeit, Vernünftigkeit, Gerechtigkeit“, Eigenschaften also, die voraussetzen, „daß das Gesetz eine generelle Norm ist“ (VL 122) und nicht etwa so konkret und individuell wie ein Verwaltungsakt.252 Ein zweiter Begründungsstrang stellt auf den Vorbehalt des Gesetzes ab: „Der Eingriff in Freiheit und Eigentum geschieht nicht durch Gesetz, sondern auf Grund eines Gesetzes“ (VL 152)253. Der dritte Begründungsstrang setzt beim Bundesstaatsprinzip an. Da die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen im Bundesstaat sehr unterschiedlich verteilt seien, würde es das verfassungsmäßige System zerstören, wenn „der Reichsgesetzgeber die Form des Gesetzes zu beliebigen Einzelmaßnahmen, Verwaltungsakten, Entscheidungen usw. mißbrauchen könnte“ (VL 154).

Die vierte Begründung argumentiert mit dem Grundrecht der Gleichheit des Art. 109 WRV. Weil es vor einem Einzelbefehl keine Gleichheit geben könne, müsse der rechtsstaatliche Begriff des Gesetzes die Generalität einschließen (s. VL 154).254 Die h.M. spricht dem Art. 109 WRV nur Rechtsanwendungsgleichheit zu, eine starke Mindermeinung geht davon aus, dass der Gleichheitssatz auch den Gesetzgeber bindet. Ein fünfter Begründungsansatz soll anhand von Einzelfällen nachweisen, „dass jede weitere Ausgestaltung des Rechtsstaats und jede spezifische rechtsstaatliche Garantie den generellen Charakter des Gesetzes voraussetze (VL S. 155 f.)“.255

Für Neumann hat Schmitts allgemeines Gesetz den Vorzug, weil „es unter allen staatsrechtlichen Definitionsversuchen und Umschreibungen des materiellen Gesetzes die klarste Aussage ist“.256

Es sei allerdings, schränkt Neumann ein, zugleich „die angreifbarste“.257

252 253 254 255 256 257

Neumann (2015, S. 123). Herv. im Original. Neumann (2015, S. 123; nachst. s. VL 124). Ebd. S. 124; Herv. im Original. Ebd. S. 124). Ebd.; ausführlich zu Kritik und Rezeption s. ebd. S. 124-127.

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4.3. Der politische Gesetzesbegriff. Nach dem rechtsstaatlichen Gesetz und dem juristisch-technischen sog. formellen Gesetzesbegriff führt Schmitt noch den politischen Gesetzesbegriff ein, „den keine Rechtsstaatlichkeit zu beseitigen vermag“ (VL 147): „‚Politisch‘ bedeute hier im Gegensatz zum Rechtsstaat einen aus der politischen Existenzform des Staates und der konkreten Gestaltungsweise der Herrschaftsorganisation sich ergebenden Begriff von Gesetz“ (VL 146).

Der Begriff schließt an den politischen Bestandteil der Verfassung des bürgerlichen Rechtstaats an. Sei für die rechtsstaatliche Auffassung das Gesetz wesentlich Norm mit bestimmten Qualitäten, „eine rechtliche (richtige, vernünftige) Regelung generellen Charakters“, sei Gesetz im politischen Sinne „konkreter Wille und Befehl und ein Akt der Souveränität“, des Monarchen oder des Volkes (VL 146)258. Wesentlich für die Einführung des politischen Gesetzesbegriffs ist wohl, dass er die Instanz anzeigt, die über den Gesetzesbegriff verfügt und damit souverän ist, denn: „Die rechtsstaatliche Garantie richtet sich gegen jeden Absolutismus und setzt jedem politischen Gesetzesbegriff, mag es nun der monarchische oder der demokratische sein, sachliche Schranken (…)“ (VL 150).

Da das rechtsstaatliche Gesetz und die souveräne Diktatur unvereinbar seien, folgert Neumann, benötige Schmitt den politischen Gesetzesbegriff. Denn der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff liefere das Gesetz mit hoher Wahrscheinlichkeit der Volksvertretung aus. Damit wären Anordnungen eines Monarchen oder Diktators keine Gesetze. Der politische Gesetzesbegriff zeige hingegen die Instanz an, die über den Gesetzesbegriff verfüge und damit souverän sei, was heißt, sie treffe die Freund-Feind-Unterscheidung. Der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff aber verhindere die Entfaltung jeder reinen politischen Form. 259 5. Die Grundrechte. Die deutsche Staatsrechtslehre hatte bereits in der Kaiserzeit mit der Behandlung von Grundrechten ihre Schwierigkeiten, und in Weimar war

258 Herv. im Original. Zur Argumentationsführung Schmitts s. Neumann (2015, S. 129 f.). 259 Neumann (2015, S. 130).

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nunmehr die Interpretation des zweiten Hauptteils der Verfassung ein neues Feld. Er erschien als ein Novum: „Er enthielt nebeneinander klassische Elemente des bürgerlichen Liberalismus, Restbestände des Rätegedankens, Sozialisierungsversprechen, Gesetzgebungsaufträge, objektive Garantien und Elemente von Staatsethik“.260

In einer ersten Phase (1919 bis etwa 1924) erfuhren die Grundrechte Kritik und Nichtbeachtung und wurden noch nicht als Rechtssätze, sondern als bloß nichtjuristische, unsystematische und politische Verlautbarungen verstanden.261 Nach dem Krisenjahr 1923 wurden sie in einer zweiten Phase „als klassische subjektiv-öffentliche Rechte erhöhter Geltungskraft“ wahrgenommen, „und zwar durch Anschütz und Thoma einerseits, Carl Schmitt andererseits, besonders aber durch die beiden Tagungen der Staatsrechtslehrer über den Gleichheitssatz und die Meinungsfreiheit. (..) Nun unterschied man zwischen Abwehr- und Leistungsgrundrechten, institutionellen Garantien und Gesetzgebungs- bzw. gesetzlichen Konkretisierungsaufträgen. Insbesondere Hans Carl Nipperdeys Kommentarwerk der Grundrechte und Carl Schmitts Verfassungslehre haben insoweit klärend gewirkt“.262

In der dritten Phase vom ersten Präsidialkabinett Brünings bis zur Außerkraftsetzung der Grundrechte durch die Nationalsozialisten mittels der Notverordnungen des Reichspräsidenten vom 4. und 28. Februar 1933 dienten sie als Kampfmittel gegen die Notverordnungen auf der einen und als „verächtliche Restbestände des bourgeoisen 19. Jahrhunderts“, die zu verschwinden hätten, auf der anderen Seite.263

260 Siehe Stolleis (2002, S. 109 f.; s. Neumann (2015, S. 130). 261 Laband vertrat die Auffassung, Grundrechte seien genau genommen überhaupt keine Rechte, denn sie hätten kein Objekt. Dagegen argumentierte Gierke, Grundrechte seien wirkliche Rechte von staatsrechtlichem Inhalt, die den Staat zur Respektierung von Freiheitssphären verpflichteten. Einigkeit hingegen herrschte bei der Auffassung, Grundrechte würden formell der souveränen Verfügung des Staates unterliegen, seien also keine dem Staat vorgängigen naturrechtlichen Traditionen (Neumann 2015, S. 130 f.). 262 Stolleis (2002, S. 110). Siehe Neumann (2015, S. 130-132). 263 Stolleis (2002, S. 110).

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5.1. Verteilungsprinzip und Eingriffsabwehr. Im 25 Seiten umfassenden § 14 seiner Verfassungslehre (VL 157-182) ist Carl Schmitt einer der ersten deutschen Staatsrechtler, der eine systematische Erfassung und Einteilung der Grundrechte anbietet.264 Im modernen Rechtsstaat enthält der Gedanke der Grundrechte das „fundamentale Verteilungsprinzip, auf dem der bürgerlich-freiheitliche Rechtsstaat beruht“ (VL 158). Verteilungsprinzip bedeute, dass die Freiheitssphäre des einzelnen prinzipiell unbegrenzt, die Befugnisse des Staates prinzipiell begrenzt sind. Damit sei das fundamentale Freiheitsprinzip aufgestellt: „der einzelne als solcher ist Träger eines absoluten Wertes und bleibt mit diesem Wert in seiner privaten Sphäre; seine private Freiheit ist infolgedessen etwas prinzipiell Unbegrenztes: der Staat ist nur Mittel und daher relativ, abgeleitet und in jeder seiner Befugnisse begrenzt und von Privaten kontrollierbar“ (VL 159).

Die im zweiten Hauptteil der Weimarer Verfassung aufgestellten Prinzipien, führt Schmitt weiter aus, hätten für das Verfassungs- und Staatsrecht des Deutschen Reiches grundlegende Bedeutung. Sie enthielten die politische Gesamtentscheidung des deutschen Volkes über die Art seiner Existenz. Gegenwärtig sei dies eine konstitutionelle Demokratie, „d.h. eines auf dem demokratischen Prinzip beruhenden, aber durch Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaats modifizierten Verfassungsstaates. Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung erhalten dadurch ihre maßgebenden Richtlinien“ (VL 162/163).

Diese Prinzipien können, manifestiert Schmitt, ausschließlich durch einen neuen Akt der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes beseitigt werden (VL 163). Man war sich in Staatsrechtkreisen überwiegend einig, dass eine rein formelle Betrachtung des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung mit dem Titel „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ unmöglich sei. Denn nicht alle dort aufgeführten Normierungen könnten Grundrechte

264 Neumann (2015, S. 133; nachst. s. ebd.). Dem Thema widmet sich Schmitt weiter in einer kleinen Broschüre von 1931 mit dem Titel Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung und in einem Beitrag zu Anschütz/Thomas Handbuch des deutschen Staatsrechts (ebd.).

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sein. Für einen wissenschaftlichen brauchbaren Begriff müsse daran festgehalten werden, „daß Grundrechte im bürgerlichen Rechtsstaat nur solche Rechte sind, die als vor- und überstaatliche Rechte gelten können, die der Staat nicht nach Maßgabe seiner Gesetze verleiht, sondern als vor ihm gegeben anerkennt und schützt und in welche er nur in einem geregelten Verfahren eingreifen darf“ (VL 163).

Gelten Grundrechte unabhängig vom parlamentarischen Gesetzgeber, handele es sich um absolute. Relative Grundrechte hingegen – z.B. die Handels- und Gewerbefreiheit (Art 151 Abs. 3 WRV) – gelten nur „nach Maßgabe der Reichsgesetze“ (VL 166). Das Verständnis der Grundrechte als vorstaatliche Rechte unterscheidet Schmitt von der vorherrschenden Meinung, namentlich von Laband, Gierke und Giese.265 Aus dem materialen Kriterium der Vor- und Überstaatlichkeit folgt die erste und wichtigste Grundrechtsfunktion: „[Grundrechte] sind also ihrer Substanz nach keine Rechtsgüter, sondern Sphären der Freiheit, aus der sich Rechte, und zwar Abwehrrechte, ergeben“ (VL 163), „die (…) Eingriffe des Staates in die grundrechtliche Freiheit abwehren. Die dergestalt geschützte Freiheit ist Freiheit zu Beliebigem und nicht etwa zu Wesentlichem“266.

Daraus resultiert eine ungleiche Verteilung von Rechtfertigungslasten: Der Freiheitheitsgebrauch bedarf keiner Rechtfertigung, die Begrenzung der Freiheit durch den Staat aber sehr wohl. Er trägt „die Argumentationslast für die Geeignetheit und Erforderlichkeit des Eingriffs zur Erreichung eines legitimen Zwecks“.267

Zu den Grundrechten als den wesentlichen Rechten des freien Einzelmenschen (s. VL 164) zählen insbesondere die Gewissensfreiheit, die persönliche Freiheit, das Briefgeheimnis und das Privateigentum.268

265 266 267 268

Neumann (2015, S. 134). Ebd. S. 134. Ebd. Siehe ebd. S. 135. Zu Reichweite und Stärke des Grundrechtsschutzes s. ebd.

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5.2. Rechte des Einzelnen in Verbindung mit anderen Einzelnen. „Aber auch die Rechte des einzelnen in Verbindung mit anderen einzelnen müssen noch als echte Grundrechte betrachtet werden, solange der einzelne nicht aus dem unpolitischen Zustand des bloß Gesellschaftlichen heraustritt“ (VL 165).

Schmitt, so Neumann, teile diese Auffassung nur mit „langen Zähnen“. Trete der Einzelne aber aus dem unpolitischen Gesellschaftlichen heraus, ist der individualistisch-unpolitische Charakter der Grundrechte verloren: „Sobald die Vereinigungsfreiheit zu Koalitionen führt, d.h. zu Vereinigungen, die einander bekämpfen und mit spezifischen, sozialen Machtmitteln wie Streik oder Aussperrung einander gegenüberstehen, ist der Punkt des Politischen erreicht und ein individualistisches Grund- und Freiheitsrecht infolgedessen nicht mehr vorhanden. Koalitionsrecht, Streikrecht oder Stillegungsrecht sind keine Freiheitsrechte im Sinne des liberalen Rechtsstaats“ (VL 165).

Mit einem Vorausblick auf Der Begriff des Politischen: Solange diese Konflikte und Gegensätze die politische Einheit Staat nicht gefährden, sind sie nur sog. „sekundäre Begriffe von Politisch“ und stünden auch unter dem Schutz der Grundrechte der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Sobald diese Konflikte jedoch die Intensität eines antagonistischen Freund-Feind-Gegensatzes annehmen, ist der Punkt des Politischen erreicht (s. BP 30). Das Recht vermag ein Freund-Feind-Verhältnis nicht mehr zu fassen.269 5.3. Demokratische Staatsbürgerrechte. Schmitt erfasst unter der Bezeichnung „Grundrechte“ auch die demokratischen Staatsbürgerrechte: die Gleichheit vor dem Gesetz, das Petitionsrecht, das Wahl- und Stimmrecht und den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern, obgleich sie eigentlich nicht zum rechtsstaatlich-unpolitischen Bestandteil der Verfassung gehören, sondern zum demokratisch-politischen, sei doch ihr Träger nicht das Individuum im außerstaatlichen Zustand seiner Freiheit, sondern der im Staat lebende Bürger, der citoyen (s. VL 168 f.).

269 Vorst. vgl. Neumann (2015, S. 135 f.).

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Mit Neumann ist festzuhalten, dass Schmitt Freiheitsrechte wie die Versammlungsfreiheit von vornherein nicht zu den demokratischen Grundrechten zählt. Er spricht ihnen den Grundrechtscharakter ab, sobald sie in politischen Auseinandersetzungen in Anspruch genommen werden. Grund hierfür ist, dass für Schmitt die Demokratie auf Homogenität und Einheit angelegt ist und nicht auf Pluralität und Konflikt. Neumann fazitiert: „Dadurch verbaut er sich den Zugang zu einer demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie“.270 5.4. Soziale Leistungsrechte. Eine vierte andere Art sind die von Schmitt sogenannten „wesentlich sozialistischen Rechte des einzelnen auf positive Leistungen des Staates“, wie da sind ein Recht auf Arbeit oder ein Recht auf Fürsorge und Unterstützung. Bei dieser Art von Rechten könne kein prinzipiell unbegrenztes Recht gemeint sein (VL 169). Schmitt lehnt es mit Hinweis auf die geringe Bindungswirkung solcher Rechte ab, hier von Grundrechten zu sprechen. 5.5. Institutionelle Garantien. 5.5.1. Schutz von Verfassungsnormen gegen den Gesetzgeber. Über seine Lehre von den institutionalisierten Garantien der Verfassung ist Schmitt noch heute in der Grundrechtsdogmatik präsent. Diese Garantien zählt er nicht zu den Grundrechten, weil sie vor allem durch verfassungsrechtliche Regelungen gebildet und anerkannt werden:271 „Die institutionelle Garantie ist ihrem Wesen nach begrenzt. Sie besteht nur innerhalb des Staates und beruht nicht auf der Vorstellung einer prinzipiell unbegrenzten Freiheitssphäre, sondern betrifft eine rechtlich anerkannte Institution, die als solche immer etwas Umschriebenes und Umgrenztes (…) ist (…)“ (VL 170/171).

Institutionelle Garantien werden auch dann nicht zu einem Grundrecht, wenn sie mit einem subjektiven Recht verbunden sind, weil sie der Ge-

270 Siehe ebd. S. 136 f.; nachst. s. ebd. 271 Siehe ebd. S. 138.

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währleistung der Institution untergeordnet sind.272 Der Zweck ihrer rechtlichen Anerkennung ist die Verhinderung der Beseitigung ihrer Institutionen im Wege der einfachen Gesetzgebung (s. VL 180). Beispiele sind die gemeindliche Selbstverwaltung, das Berufsbeamtentum und die Ehe. Schmitt begründet ihre Aufnahme in die Verfassung einmal aus der historischen Kenntnis von bestimmten Gefährdungspotenzialen, und zweitens, würden nicht Einzelpersonen, sondern Gemeinschaften geschützt.273 5.5.2. Besonderheiten der Eigentumsgarantie. Die Eigentumsgarantie des Art. 153 WRV bringt Schmitt in juristische Kalamitäten, weil ein Vorgänger mit der Institutsgarantie des Eigentums einen besonderen Schutzgehalt verbunden hatte, der zu Schmitts Ansatz quer steht.274 Entgegen Schmitts Ansatz – entweder Grundrecht oder institutionelle Garantie – hatte Martin Wolff im Wortlaut des Art. 153 Abs. 1 S. 1 WRV sowohl die Gewährleistung eines konkreten individuellen Privatrechts (Grundrechts) als auch eine Garantie des Privateigentums als Rechtsinstitut ausgemacht. Wir beschränken uns hier auf die Lösung, „[dass an den] körperlichen Sachgütern ein Privatrecht möglich bleiben soll, das den Namen Eigentum verdient, bei dem also Beschränkungen des Herrschaftsbeliebens Ausnahmen sind“.275

Carl Schmitt hat in den Augen Neumanns zu den Grundrechten „einen seiner verfassungsrechtlich konstruktivsten Beiträge“ geschrieben. Er konnte dabei hinsichtlich der Grundrechte im unpolitischen Bestandteil der Weimarer Verfassung „mit seinem wachen Interesse für klassische Texte“ auf die klassische liberale Theorie des John Locke zurückgreifen.276 Für die „Nicht-Grundrechte“ im zweiten Hauptteil hatte Schmitt die Kategorie der institutionellen Garantie entwickelt. Was Böckenförde in Bezug auf den Rechtsstaat gesagt habe, gelte, so Neumann, auch für Schmitts Beitrag zu

272 Ebd. 273 So sieht Neumann Schmitts Lehre von den institutionellen Garantien zugleich als „Rettung seines individuellen Grundrechtsverständnisses“ (Neumann 2015, S. 139; Begründung s. ebd.). 274 Neumann (2015, S. 141; nachst. s. ebd.). 275 Wolff, hier zit. n. Neumann (2015, S. 141). 276 Neumann (2015, S. 150; nachst. s. ebd.).

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den Grundrechten: er habe „eine Dogmatik geschrieben, an die er selbst nicht geglaubt hat“.277 6. Bürgerlicher Rechtsstaat und politische Form. 6.1. Die Verfassung des modernen bürgerlichen Rechtsstaats ist immer eine gemischte Verfassung. Rekapitulieren wir kurz. Der bürgerliche Rechtsstaat Carl Schmitts ist keine Staatsform, sondern ein Staat, der kontrolliert werden soll. Diese Kontrolle basiert auf einer Reihe „von Schranken und Kontrollen des Staates, ein System von Garantien der bürgerlichen Freiheit und der Relativierung staatlicher Macht“ (VL 200).

Der Staat ist weiterhin der Verfassung vorgängig, d.h. das Bestehen der politischen Einheit „Staat“ ist die Voraussetzung für den Akt der Verfassungsgebung (VL 21). Die Staatsformen, die den politischen Bestandteil des Staates bilden: Monarchie, Aristokratie und Demokratie, sind allerdings meist als Mischformen ausgebildet (s. VL 202): „Die Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaats kann also in zweifacher Weise eine Mischverfassung sein: Erstens besteht sie aus dem unpolitischen und dem politischen Bestandteil und zweitens kann der politische Bestandteil aus einer Mischung der drei klassischen Staatsformen bestehen“.278

Was aber ist nun der Staat bei Schmitt? – In seinen eigenen Worten: „Staat ist ein bestimmter Status eines Volkes, und zwar der Status politischer Einheit. Staatsform ist die besondere Art der Gestaltung dieser Einheit. Subjekt jeder Begriffsbestimmung des Staates ist das Volk. Staat ist ein Zustand, und zwar der Zustand eines Volkes“ (VL 205).

Staat ist, so Schmitt an anderer Stelle, „ein besonders gearteter Zustand eines Volkes“, nämlich „der im entscheidenden Fall maßgebende Zustand“, ist „der Zustand schlechthin“ (BP 20).

277 Böckenförde, zit. n. Neumann (2015, S. 150). 278 Neumann (2015, S. 150).

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6.2. Zwei Prinzipien politischer Form: Repräsentation und Identität. Mit Hegel rekurriert Schmitt „auf das Volk als Subjekt und Substanz des Staates“.279 Den Zustand der politischen Einheit kann das Volk auf verschiedene Weisen erreichen. Schmitt unterscheidet zwei Prinzipien politischer Form: die Identität und die Repräsentation280. Das Volk könne, eröffnet Schmitt, bereits in seiner unmittelbaren Existenz politisch aktionsfähig sein, was einige unmittelbare Gegebenheiten voraussetze: zu nennen sind eine starke und bewusste Gleichartigkeit, infolge fester natürlicher Grenzen oder anderer Gründe: „Dann ist es als realgegenwärtige Größe in seiner unmittelbaren Identität mit sich selbst eine politische Einheit“ (VL 205)281.

Dieses Prinzip der Identität – das politische Formprinzip der Demokratie – beruhe darauf, führt Schmitt aus, dass es keinen Staat ohne Volk geben könne, ein Volk daher immer real anwesend sein müsse (ebd.). Kraft eigenen politischen Bewusstseins und nationalen Willens müsse es die Fähigkeit haben, Freund und Feind zu unterscheiden (VL 214; s. BP). Das zweite, der Identität entgegengesetzte Prinzip, das Repräsentationsprinzip, geht hingegen von der Vorstellung aus, daß die politische Einheit eines Volkes niemals in realer Identität anwesend sein könne und folglich immer durch Menschen „repräsentiert werden muß“ (VL 205)282: „Alle Unterscheidungen echter Staatsformen, welcher Art sie auch sein mögen, Monarchie, Aristokratie und Demokratie, Monarchie und Republik,

279 Adam (1992, S. 68). 280 Den Begriff der Repräsentation hat Schmitt erstmals für den kleinen, aber wichtigen Aufsatz Die Sichtbarkeit der Kirche (SdK 1917) fruchtbar gemacht und sechs Jahre später in der Schrift Römischer Katholizismus und politische Form (1923) wieder aufgegriffen und erweitert. Diese Sichtbarkeit ergibt sich aus dem Wesen der Kirche, das wesentlich Vermittlung von oben ist. Kirche wird zu einer durch die Menschwerdung Gottes vermittelten Institution, die ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar macht (vgl. Breuer (2012, S. 33 f.); s. a. Neumann (2015, S. 151). Die Sichtbarkeit der Kirche sei aber nicht für alle Zeit gegeben, sondern verbleibe als eine dauernde Aufgabe, durch deren Erfüllung die konkrete erst zur sichtbaren Kirche werde. 281 Herv. im Original. 282 Herv. im Original. So ist der Abgeordnete „Vertreter des ganzen Volkes“ und Art. 21 WRV führt aus: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes“, also Repräsentanten (VL 206 f.).

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Monarchie und Demokratie usw. lassen sich auf diesen entscheidenden Gegensatz von Identität und Repräsentation zurückführen“ (VL 205).283

Realiter aber gebe es keinen Staat, der puristisch entweder auf alle Strukturelemente des Identitätsprinzips oder der Repräsentation verzichten könnte. Deshalb schlössen sich diese beiden Prinzipien nicht aus, sondern seien nur „zwei entgegengesetzte Orientierungspunkte für die konkrete Gestaltung der politischen Einheit“, auch wenn das eine oder das andere Prinzip überwiegen sollte (VL 206). Selbst im Idealfall einer unmittelbaren Demokratie sei kein Zustand erreichbar, in dem alle anwesenden Staatsbürger mit der politischen Einheit eines Volkes identisch wären, sondern repräsentierten diese nur:284 „Die Grenzen der absoluten Durchführung des demokratischen Prinzips der Identität ergeben sich daraus, daß die einseitige und ausschließliche Durchführung eines der beiden Formprinzipen – Identität und Repräsentation – überhaupt unmöglich ist und kein Staatswesen restlos ohne jede Repräsentation nach dem Prinzip der Identität gestaltet werden kann“ (VL 276).

An der Unmöglichkeit eines puren Formprinzips „findet die Demokratie ihre erste natürliche Grenze“ (VL 277). „Repräsentation ist kein normativer Vorgang, kein Verfahren und keine Prozedur, sondern etwas Existentielles. Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar [zu] machen und [zu] vergegenwärtigen“ (VL 209).

Repräsentation bedarf also der Sphäre der Öffentlichkeit, im Geheimen oder unter vier Augen – gleichsam privatim – kann sie nicht stattfinden (VL 208). Repräsentation ist auch keine Vertretung. Private Interessen können folglich nur vertreten, in einem spezifischen Sinn nicht repräsentiert werden. Das Unsichtbare ist – dialektisch gedacht – abwesend und anwesend zugleich. Repräsentation setze zudem eine gesteigerte Art von „Sein“ voraus, etwas Totes, Minderwertiges oder Wertloses ist nicht repräsentationsfähig (VL 210) Organ einer Repräsentation kann auch nur sein, wer das geistige Prinzip der politischen Existenz darstellt, und das ist die Regierung:285 „Nur wer regiert, hat Teil an der Repräsentation“ (VL 212).

283 Herv im Original. 284 Neumann (2015, S. 151). 285 Ebd. S. 152.

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Zum Merkmal der Öffentlichkeit tritt damit das Merkmal der Personalität.286 „Repräsentiert wird die politische Einheit als Ganzes“, also die „politische Einheit eines Volkes – nicht das Volk in seinem natürlichen Vorhandensein (…)“ (VL 212)287. Der empirische Wille des Volkes im Sinne einer Mehrheit der Einzelwillen kann nicht repräsentiert werden, auch wenn das meistens uneinige Volk, ausnahmsweise einmal einig sein sollte.288 „Durchführung des Prinzips der Identität bedeutet Tendenz zu dem Minimum von Regierung und persönlicher Führung“ (VL 214). Je größer der Anteil der Identität, desto mehr vollziehe sich die Erledigung der politischen Angelegenheiten „von selbst“, „dank einem Maximum natürlich gegebener oder geschichtlich gewordener Homogenität. Das ist der Idealzustand einer Demokratie, wie ihn Rousseau im ‚Contrat social‘ voraussetzt“ (VL 214)289.

Dass alles sich von selbst ergebe, sei aber nur eine „gedankliche Idealkonstruktion“, nicht aber „geschichtliche und politische Wirklichkeit“ (VL 215). Eine große Gefahr sieht Schmitt darin, dass die substantielle Gleichartigkeit des Volkes nur fingiert werde: „Das Maximum an Identität ist dann nicht wirklich vorhanden, wohl aber das Minimum an Regierung. Die Folge ist, daß ein Volk aus dem Zustand politischer Existenz in den unterpolitischen Zustand zurücksinkt, ein bloß kulturelles, bloß ökonomisches oder bloß vegetatives Dasein führt und einem fremden, politisch aktiven Volke dient“ (VL 215).

Umgekehrt erforderte ein Maximum an Repräsentation ein Maximum von Regierung. Solange diese Konstellation wirksam vorhanden sei, bedürfe sie nur eines Minimums von Homogenität des Volkes und könne trotz nationaler, konfessioneller oder klassenmäßiger Verschiedenheiten der Menschen eine politische Einheit formen. Werde in dieser Situation aber das

286 Siehe ebd. 287 Herv. im Original. Repräsentiert wird etwas Ideelles, „also die politische Idee der Einheit des Volkes“. Dies könne auch nicht anders sein, so Neumann, da Repräsentation bei Schmitt ja gerade kein demokratisches Prinzip sei, wozu es aber würde, wäre das reale Volk repräsentiert (Neumann 2015, S. 153; Herv. im Original.). 288 Siehe Neumann (2015, S. 152 f.). 289 Herv. im Original.

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Volk ignoriert, verbliebe ein Staat ohne Volk. Denn nie ist Staat etwas anderes als ein Volk im Zustand politischer Einheit (vgl. VL 215). Das Problem innerhalb einer Demokratie sei es, „daß Regierenden und Regierte sich nur innerhalb der gleichbleibenden Gleichartigkeit des Volkes differenzieren dürfen“, weil die Verschiedenheit von Regieren und Regiertwerden bestehen bleibe (VL 236; nachst. s. 236 f.). Solange die Regierenden und die Regierten in der Gleichartigkeit des Volkes verblieben, könne gerade in der Demokratie die die Form der Regierung „in der Sache ungeheuer verstärkt und gesteigert werden“. Erst die Verbindung der spezifisch liberalen, rechtsstaatlichen Bestandteile mit dem demokratischen Element einer Verfassung führt zu einem System von Kontrollen und Hemmungen, die die Macht des Staates mildern oder schwächen: „Der Demokratie als politischer Form ist diese Tendenz nicht wesentlich, vielleicht sogar fremd“. „Eine Diktatur insbesondere ist nur auf demokratischer Grundlage möglich, während sie den Prinzipien liberaler Rechtsstaatlichkeit schon deshalb widerspricht, weil es zur Diktatur gehört, daß dem Diktator keine tatbestandsmäßig umschriebene, generell normierte Kompetenz gegeben wird, sondern Umfang und Inhalt seiner Ermächtigung von seinem Ermessen abhängig sind, so daß eine Zuständigkeit im rechtsstaatlichen Sinne überhaupt nicht vorliegt“ (VL 237).

Halten wir fest: Die beiden Formprinzipien von Identität und Repräsentation sind – wie dargestellt – voneinander abhängig, wie Schmitt dies bereits in seiner Römischer-Katholizismus-Schrift ausgeführt hatte: „Kein politisches System kann mit bloßer Technik der Machtbehauptung auch nur eine Generation überdauern. Zum Politischen gehört die Idee, weil es keine Politik gibt ohne Autorität und keine Autorität ohne ein Ethos der Überzeugung“ (RK 28).

Im Volk muss also ein Minimum an politischer Form vorhanden sein damit es den Regierenden gelingen kann, die politische Einheit zu erwirken und Loyalität und Gehorsam notfalls auch mit Zwang einzufordern.290 Aus dem Gezeigten wird klar, dass es für Schmitt nur dann eine Verfassung geben kann, wenn in ihr beide Formprinzipien wirken. Die besondere Struktur des verfassungsrechtlichen Sachverhalts bestehe hier darin, dass sich zwei entgegengesetzte Prinzipien die Waage hielten und einen eigen-

290 Siehe Neumann (2015, S. 154).

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tümlichen Spannungszustand erzeugten, in dem keine Entscheidung fällt.291 7. Das Urphänomen der Demokratie: Die Akklamation. Wie ist demokratische Souveränität denkbar, fragt nach der Politischen Theologie auch die Verfassungslehre, „wenn Souveränität als Entscheidungsmonopol gedacht wird“292.Werde das Volk zum Souverän, „geht das dezisionistische und personalistische Element des bisherigen Souveränitätsbegriffs verloren“ (PT 52). Mit dem Begriff der Akklamation293, so Adam, versuche Schmitt, die Rückgewinnung der Entscheidung. Das personalistische Element sei nunmehr von der Einzelperson auf das „corps politique“ übertragen worden.294 7.1. Volk und Akklamation. Wir haben uns nun der Frage zuzuwenden, wie der Wille des Volkes zur Herrschaft gelangt, was das Volk ist und was es kann oder nicht kann.295 Jede Verfassung, leitet Schmitt seinen „§ 18 Das Volk und die demokratische Verfassung“ ein, beruhe nach demokratischer Auffassung auch in ihrem rechtsstaatlichen Teil auf der konkreten politischen Entscheidung des politisch handlungsfähigen Volkes. Jede demokratische Verfassung setze ein handlungsfähiges Volk voraus (VL 238). Das souveräne Volk wird von Schmitt nicht mehr als eine Assoziation freier und gleicher Bürger begriffen, sondern – antirepräsentativ und antiliberal – substantiell:296 „Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“ (GLP 13 f.).

291 Ernst-Rudolf Huber, hier zit. in Neumann (2015, S. 154). Zur Rezeption s. ebd. S. 155 f. 292 Adam (1992, S. 77). 293 Zu den Quellen des Akklamationsbegriffs s. Adam (1992, S. 79-82). 294 Ebd. 295 Neumann (2015, S. 156). 296 Siehe neu Wildt (2017, S. 67).

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In dieser Aufgabe zeige sich die „politische Kraft einer Demokratie“ (GLP 14). „Volk“, so Schmitt, habe neben anderen Bedeutungen den besonderen Sinn, Gegenbegriff von Behörde und Magistratur zu sein: „Volk sind diejenigen, die nicht regieren, nicht repräsentieren, nicht behördenmäßig organisierte Funktionen auszuüben“ (VL 241).297

Die demokratische Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes positioniere das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt „außer und über jeder verfassungsgesetzlichen Normierung“ (VL 242). Sind ihm bestimmte verfassungsgesetzliche Zuständigkeiten − Wahlen und Abstimmungen – übertragen, seien seine politische Handlungsfähigkeit und seine Bedeutung in einer Demokratie keineswegs erschöpft und erledigt.298 Gestellt ist hier die Frage nach dem Fortbestand des pouvoir constituant, die Schmitt mit Rousseau gegen Hobbes beantwortet. Die prinzipielle Aufgabe des Gedankens des Herrschaftsvertrages in der politischen Theorie Rousseaus garantiert – gegen Hobbes – den Fortbestand des pouvoir constituant.299 Neben allen Normierungen bleibe das Volk „als unmittelbar anwesende (…) wirkliche Größe vorhanden“ (ebd.). Volk sei damit auch ein Begriff, „der nur in der Sphäre der Öffentlichkeit existent wird. Das Volk erscheint nur in der Öffentlichkeit, es bewirkt überhaupt erst die Öffentlichkeit. Volk und Öffentlichkeit bestehen zusammen; kein Volk ohne Öffentlichkeit und keine Öffentlichkeit ohne Volk. Und zwar bewirkt das Volk die Öffentlichkeit durch seine Anwesenheit. Nur das anwesende, wirklich versammelte Volk ist Volk und stellt die Öffentlichkeit her“ (VL 243)300.

Derart sei das Volk in der reinen Demokratie mit dem möglichen Höchstmaß von Identität vorhanden. Auf seiner Existenz in der Sphäre der Öffentlichkeit beruhe die berühmte These Rousseaus, dass das Volk nicht repräsentiert werden könne, denn kein Anwesendes, sondern nur ein Abwesendes kann repräsentiert werden (s. VL 243):

297 „Gerade in einer Demokratie kann das Volk nicht zur Behörde und zum bloßen Staatsorgan‘ werden. Es ist immer mehr als eine zuständigerweise funktionierende Stelle zur Erledigung von Amtsgeschäften (…)“ (VL 242). 298 Siehe dazu Adam (1992, S. 74 f.). 299 Ebd. 75. 300 Herv im Original.

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„Damit bestätigt Schmitt einmal mehr, dass die Regierung nicht das Volk, sondern die Idee der politischen Einheit des Volkes repräsentiert“.301

Das Volk in einer Demokratie, „die Herrschaft einer von Leidenschaften und Interessen getriebenen Masse“ (VL 315), muss sich nicht zwingend in einem geordneten Verfahren auf einem festgelegten Platz versammeln. Es genügt, wenn es wirklich versammelt ist, um zu tun, was spezifisch zur Tätigkeit dieses Volkes gehört: „es kann akklamieren, d.h. durch einfachen Zuruf seine Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken, Hoch oder Nieder rufen, einem Führer oder einem Vorschlag zujubeln, den König oder irgendeinen anderen hochleben lassen oder durch Schweigen oder Murren die Akklamation verweigern. (…) Oft genug hat sich die Erfahrung bestätigt, daß jede, auch eine scheinbar zunächst unpolitische Volksversammlung unerwartete politische Möglichkeiten in sich enthält“ (VL 243 f.).

Da das Volk nur mit „Ja“ oder „Nein“ antworten kann, komme der Fragestellung maßgebliche Bedeutung zu.302 Der eigentliche Grund jener Abhängigkeit von der Fragestellung liegt für Schmitt aber darin, „daß der größte Teil der Stimmberechtigten im allgemeinen das Bestreben hat, sich der Entscheidung gegenüber passiv zu verhalten und sich der Entscheidung zu entziehen“ (VL 297/280).

Das Volk selbst kann nicht diskutieren – nach Montesquieu der große Nachteil der Demokratie −, „es kann nur akklamieren, wählen und zu den ihm vorgelegten Fragen Ja oder Nein sagen“ (VL 315). Die Überlegenheit des bürgerlichen Parlaments beruhe auf seiner Möglichkeit zu vernünftiger Diskussion (ebd.). Der für die moderne Demokratie wesentliche Begriff der „Öffentlichkeit“, fordert Schmitt, müsse wieder in seine Rechte eingesetzt werden. Die Willensbildung des Volkes in einer Demokratie könne jedenfalls nicht mittels geheimer Einzelabstimmung und Einzelwahl erfolgen, denn dies seien lediglich nicht-demokratische Methoden aus dem Gedankenkreis des liberalen Individualismus, personalisiert in dem Liberalen Jeremias Bentham (VL 244). Die konsequente Durchführung dieser liberalen Methoden verwandle den Staatsbürger – Rousseaus citoyen, „also die spezifisch de-

301 Neumann (2015, S. 157; Herv im Original). 302 Siehe a. (VL 278 f.). „In einer kurzen These zusammengefaßt läßt sich sagen: das Volk kann akklamieren; in geheimer Einzelabstimmung kann es nur ihm präsentierte Kandidaten wählen, und auf eine ihm vorgelegte, genau formulierte Frage mit Ja oder Nein antworten“ (VL 277; Herv. im Original).

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mokratische, d.h. politische Figur“ – in einen Privatmann, den Bourgeois, der seine Privatmeinung im Dienste ökonomischer oder persönlicher Interessen in Form seiner Wahlstimme isoliert in einer Wahlkabine abgibt (s. VL 245):303 „(…) die noch so übereinstimmende Meinung von Millionen Privatleuten ergibt keine öffentliche Meinung, das Ergebnis ist nur eine Summe von Privatmeinungen. Auf diese Weise entsteht kein Gemeinwille, keine volonté générale, sondern nur die Summe aller Einzelwillen, eine volonté de tous“ (VL 246).

Der Bourgeois gebe seine Stimme also als Funktionär einer Partei, einer Gewerkschaft oder einer Kirche ab: „Würde diese These konsequent und radikal vertreten, so würde das heißen: das in der Wählerschaft unter den Prinzipien des allgemeinen und geheimen Wahlrechts organisierte Volk ist nicht das wirkliche Volk. Die Organisation und die Prinzipien dieser Organisation zerstören gerade das, was zur Qualität des eigentlichen Volkes gehört: die elementare Einheitlichkeit“.304

Schon bald nach Erscheinen der Verfassungslehre wurde gegen Schmitts Auffassung eingewendet, dass die völlige Isolation des Wählers von allen Einflüssen der öffentlichen Meinung dafür sorge, dass nur noch das reine Privatinteresse abstimme, sei bloße Fiktion. Weiterhin ignoriere Schmitt zudem die Gefahr, dass öffentliche Akklamationen eine Art „Rauschstimmung“ erzeugen könnten, die den Wähler verführte, sich auf die Seite der regieführenden Versammlungsleitung zu schlagen. Wichtig ist sicher der Hinweis, dass die Wahl einer geheimen Wahlhandlung bedarf, weil nur so soziale und wirtschaftliche Machtunterschiede neutralisiert werden könnten.305 7.2. Öffentliche Meinung als moderne Akklamation. Es bedarf keiner längeren Ausführungen, um einzusehen, dass Schmitts Konstrukt der Akklamation nur als ein theoretisches Sinn bekommen kann. Trotzdem überraschen Ort und Art folgender theoretischer Wende:

303 „Die Methode geheimer Einzelabstimmung verwandelt den stimmberechtigten Bürger in einen isolierten Privatmann und ermöglicht es ihm, seine Meinung zu äußern, ohne die Sphäre des privaten zu verlassen“ (VL 280/281). 304 Schneider (1957, S. 148). 305 Siehe Neumann (2015, S. 158).

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„Die öffentliche Meinung ist die moderne Art der Akklamation“ (VL 246).306 In dieser Deutung als Akklamation lägen ihr Wesen und ihre politische Bedeutung, denn es gebe keine Demokratie und keinen Staat ohne öffentliche Meinung, wie es keinen Staat ohne Akklamationen gebe (VL 247). Seine eigenen Ausführungen über die Zusammenhänge von Volk und Öffentlichkeit würden es rechtfertigen, nimmt Schmitt Anlauf, von der Demokratie „als Herrschaft der öffentlichen Meinung“ zu sprechen. Gegen den Pluralismus der Interessenverbände, gegen die Bedrohung des Staates durch widerstreitende Loyalitäten könne nur der Rückbezug auf das Volk helfen, sei doch „das Volk neben und über der Verfassung (…) das Volk als öffentliche Meinung“:307 „Volk ist ein Begriff, der nur in der Sphäre der Öffentlichkeit existent wird. Volk erscheint nur in der Öffentlichkeit, es bewirkt überhaupt erst die Öffentlichkeit“ (VL 243; s. a. GLP 20).308

Schmitt ist nicht der Erfinder des Problemkreises „öffentliche Meinung“ (s. VL 248-250), doch war ihm das Thema so wichtig wie staatsrechtlich relevant, dass er es auf der siebten Staatsrechtslehrertagung referiert hat.309 Dem Parlament des Liberalismus, so wissen wir, ist für Schmitt in seinem Zustand von Weimar das Kriterium der Öffentlichkeit längst verlustig gegangen. Schmitt kann die öffentliche Meinung deshalb auch schwerlich als Korrektiv bzw. als meinungsbildend im positiven Sinne ansehen, die auf das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren zurückwirkt, wie Kelsen dies tut. Für Schmitt aber ist die öffentliche Meinung die moderne Art des demokratischen Urphänomens Akklamation.310 Der Satz: „Mehrheit entscheidet“, ist für Schmitt „vieldeutig und unklar“ (VL 278; nachst. s. 278 f.). Der Grund ist, dass die öffentliche Meinung im Allgemeinen von der aktiven und politisch interessierten Minderheit des Volkes getragen werde, die Mehrheit der Stimmberechtigten hingegen nicht notwendig politisch interessiert sei: „Es ist nun keineswegs demokratisch und wäre überhaupt ein merkwürdiges politisches Prinzip, daß diejenigen, die keinen politischen Willen haben, ge-

306 307 308 309 310

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Kursiv im Original. Adam (1992, S. 75). Herv. im Original. Siehe dazu Neumann (2015, S. 159). Neumann (2015, S. 159 f.).

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genüber den anderen, die einen solchen Willen haben, entscheiden sollen“ (VL 279).

Dass die Masse der Stimmberechtigten oft nicht hinreichend unterrichtet sei und ihr die nötige Sachkunde und Urteilskraft fehle, dürfe in einer Demokratie keineswegs „als etwas Maßgebendes vorgebracht werden, weil das Volk nach den Voraussetzungen eines demokratischen Staatswesens zu jeder politischen Entscheidung imstande ist“ (VL 279).

Das nötige Detailwissen müsse „von den zuständigen und verantwortlichen technischen Sachverständigen behandelt werden“ (ebd.). Wenn Mehrheit nur das Ergebnis einer Addition geheimer Einzelabstimmungen sei, könne man ebenso gut sagen: „Mehrheit entscheidet nicht“ (VL 281)311. Die Methode einer statistischen Mehrheitsfeststellung sei ein nur begrenzt wirksames politisches Mittel, „alle Staatsbürger am staatlichen Leben zu beteiligen“ (VL 282). Für Carl Schmitt ist es Charakteristikum der öffentlichen Meinung, dass sie „unfaßbar“ und „unorganisiert“ sei und niemals eine amtliche Funktion ausübe.312 Aus einem Nichts entstehe sie allerdings nicht, sie werde von Parteien oder Gruppen beeinflusst und auch gemacht, entziehe sich aber einer restlosen Normierung. Es bestehe deshalb immer die Gefahr, „daß unsichtbare und unverantwortliche soziale Mächte die öffentliche Meinung und den Willen des Volkes dirigieren“ (VL 247). Die Gefahr der Manipulation sei jedoch gering, „solange die demokratische Gleichartigkeit der Substanz noch vorhanden ist und das Volk politisches Bewußtsein hat, d.h. Freund und Feind unterscheiden kann (…)“ (VL 247).

Gegen eine dirigierte bzw. manipulierte öffentliche Meinung setzt Schmitt auf Kernelemente seiner Demokratietheorie: Gleichartigkeit und Homogenität.313 Wie aber steht es um den Bestand der öffentlichen Meinung, „wenn ein Begriff wie ‚Klasse‘ mit dem Begriff des Volkes ernsthaft konkurriert und die Homogenität gefährdet. Der Träger der öffentlichen Meinung, der eine immer etwas mythische aber darum nicht weniger wichtige Figur bleibt, verliert dann nämlich sein Wesen und wird problematisch“ (VL 249).

311 Herv. im Original. 312 Neumann (2015, S. 160); Adam (1992, S. 83). 313 Siehe Neumann (2015, S. 160).

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Man habe früher mit dem „Mann auf der Straße“ sprechen können, der jedoch seine Natur ändere, sobald er Klassenbewusstsein entwickelt hat und Proletarier geworden ist (ebd.). Der Staat müsse deshalb selbst zu den neuen technischen Mitteln der Massenbeherrschung und Meinungsbildung greifen und dürfe diese nicht seinen Gegnern überlassen.314 Die Verfassungslehre schließt mit einem kurzen vierten Abschnitt unter dem Titel „Verfassungslehre des Bundes“ (VL §§ 29 u. 30). Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bestimmende Diskussion um die sog. Rechtsnatur des Kaiserreiches als Staatenbund bzw. Bundesstaat wurde auf der Grundlage der neuen Weimarer Verfassung zunächst noch fortgeführt.315 In ihr wurde versucht, offene Stellen der Reichsverfassung von 1871 möglichst zu vermeiden, was zu dem Ergebnis führte: „Der unitarische Tenor war stark genug, den Ländern die Souveränität zu nehmen, aber er beließ ihnen die Qualität als Staaten, die dem Reich eingeordnet waren. Immerhin durften sie nach herrschender Ansicht Konkordate mit der Kurie abschließen, und sie taten dies auch. Das entsprach der allgemeinen Linie, den Souveränitätsbegriff nicht mehr zum Angelpunkt der Staatlichkeit zu machen“.316

Bei Schmitt ist der Begriff des „Bundes“ zentral, der ohne Rücksicht auf die gängige Unterscheidung von Staatenbund und Bundesstaat entwickelt wurde.317 Das Grundproblem eines Bundes sei, dass ein Beitritt immer eine Verfassungsänderung des Beitretenden bedeute (s. VL 367). 8. Schluss. Mit der Verfassungslehre (VL) – und mit der Parlamentarismusschrift (GLP) – finden Carl Schmitts Ansichten und Aussagen zu Rechtsstaat und Demokratie in seiner Weimarer Zeit ihren Höhepunkt. Ihre Basis ist die Weimarer Reichsverfassung. Aber nicht alleine, finden sich doch auch

314 Ebd. S. 161. 315 Stolleis (2002, S. 118 f.; nachst. s. S. 119 f.). Ausführlich siehe dazu Neumann (2015, S. 162-168). Wir gehen auf diesen Themenkomplex nur kurz ein. 316 Ebd. S. 119). 317 Er ist definiert als „eine auf freier Vereinbarung beruhende, dem gemeinsamen Zweck der politischen Selbsterhaltung aller Bundesmitglieder dienende, dauernde Vereinigung, durch welche der politische Gesamtstatus jedes einzelnen Bundesmitglieds im Hinblick auf den gemeinsamen Zweck verändert wird“ (VL 366).

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rechtstechnische Überlegungen, rechtsphilosophische, rechtshistorische, rechtssoziologische, politische und staatsphilosophische Ausführungen. Zudem werden die rechtsstaatlichen und demokratischen Elemente der modernen Verfassungen diskutiert und geprüft, weil alle modernen Verfassungen rechtsstaatliche und demokratische Elemente – in unterschiedlicher Gewichtung – enthalten. Wir haben gesehen, dass der Staat bei Schmitt die politische Einheit eines Volkes ist und die Verfassung die Form, die sich der politische Wille eines Volkes gibt; „Die Verfassung gilt kraft des existierenden politischen Willens desjenigen, der sie gibt“ (VL 22). Damit sind die Voraussetzungen für den „positiven“ Verfassungsbegriff der Schmittschen Verfassungslehre bestimmt. Verfassung ist die positive Fundamentalentscheidung über Art und Form der politischen Einheit318, sei es Republik wie in Weimar oder Monarchie. Der Akt der Verfassungsgebung bekundet als ein genuin politischer auch den Willen des Volkes, sich zwischen Freund und Feind zu entscheiden, weshalb Schmitt die Verfassung auch als „existentielle Totalentscheidung“ wertet (VL 24).319 Von der eigentlichen Verfassung zu trennen sind die einzelnen Verfassungsgesetze. Diese Unterscheidung zwischen der320 Verfassung (bzw. Substanz der Verfassung) und den einzelnen Verfassungsgesetzen, die systemkonform auszulegen sind, „ermöglicht gleichermaßen eine Verteidigung der ‚Substanz‘ gegenüber positivrechtlichen Inkonsequenzen wie eine Relativierung des Verfassungsrechts gegenüber dem hermeneutischen Konstrukt einer politischen Grundentscheidung und Substanz“.321

Eine existentielle Totalentscheidung in Gänze liegt beim Akt der Verfassungsgebung meist nicht vor, sind doch viele Fragen mangels Einigung oder weil sie mit anderen Normen konkurrieren noch ausgeklammert. Diese unechten Kompromisse oder dilatorischen Formeln können aber nicht dauerhaft offengehalten werden, weil sie ansonsten „außerhalb der verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren und Methoden“ getroffen würden (VL 35).

318 Siehe VL § 3: Der positive Verfassungsbegriff (Die Verfassung als Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit). 319 Vgl. Brodocz (2002, S. 293). 320 Herv. w.a.m. 321 Mehring (2011, S. 44).

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Um die existentielle Totalentscheidung normieren zu können, muss entschieden sein, wie die Wahl zwischen Freund und Feind zu treffen ist, wie politische Gleichheit und Ungleichheit geregelt ist: „Jede Gleichheit bekommt ihre Bedeutung und ihren Sinn durch das Korrelat einer möglichen Unterscheidung. Sie ist umso intensiver, je größer die Ungleichheit gegenüber denen ist, die nicht zu den Gleichen gehören“ (VL 227).

Die demokratische Gleichheit bei Schmitt „ist daher immer eine substantielle Gleichheit“ (VL 228)322 – gleicher Glaube, gleiche Art, gleiches Schicksal, gleiche Tradition – und in letzter Konsequenz „Gleichartigkeit, und zwar Gleichartigkeit des Volkes.“ (VL 234).323 Und diese Gleichartigkeit (Homogenität) ist das zentrale Kennzeichen von Demokratie: „Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidbarer Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“ (GLP 13 f.).

Die verfassungsrechtliche Normierung dieses Gleichheitsprinzips macht den politischen Bestandteil der Verfassung aus, der vom rechtsstaatlichen Bestandteil – hierher gehören die Freiheits- und Grundrechte, die Regulierung der Gewaltenteilung (§§ 14 u. 15 WRV) – unterschieden ist: „Denn in beiden Fällen wird der Staat als existent bereits vorausgesetzt, den die Normen des politischen Bestandteils erst in die Welt bringen. So wie dem Staat vor dem Recht gebührt demnach auch dem politischen Bestandteil einer Verfassung Vorrang vor ihrem rechtsstaatlichen Bestandteil“.324

Weiter wurde dargestellt, dass die Verfassungslehre mit den zwei Formprinzipien der Identität und der Repräsentation operiert.325 Politische Theorien lassen sich wesentlich danach unterscheiden, welchem dieser zwei Formprinzipien sie folgen. Das Identitätsprinzip und die ihm zugrunde liegende Gleichartigkeit sprechen einer politischen Einheit die Kraft zu einer „unmittelbaren Identität mit sich selbst“ zu (VL 205). Das Repräsen-

322 Herv. im Original. 323 Gesprochen wird von „Gleichartigkeit“ nicht von „Artgleichheit, Schmitt forderte 1928 keine „rassische Volkseinheit“ (Ottmann, 2010, S. 239; nachst. ebd.). Stoff der Gleichartigkeit seien in der Antike die Tugend, später die Religion und noch später das Nationalbewusstsein gewesen (s. VL 228). 324 Brodocz (2002, S. 294 f.). 325 Siehe nachst. Ottmann (2010, S. 240), s. nachst. Brodocz (2002, S. 295 f.).

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tationsprinzip hingegen, das Regierende und Regierte trennt, geht davon aus, „daß die politische Einheit des Volkes als solche niemals in realer Identität anwesend sein kann und daher immer durch Menschen persönlich repräsentiert werden muß“ (VL 205)326.

Es ist die Realität, die Schmitt in Richtung des Repräsentationsprinzips drängt. Eine restlose, absolute Identität des jeweils anwesenden Volkes mit sich selbst als politischer Einheit, gibt Schmitt zu, sei an keinem Ort in keinem Augenblick vorhanden, und jeder Versuch eine unmittelbare Demokratie zu verwirklichen, müsse diese Grenze der demokratischen Identität beachten: „Sonst würde unmittelbare Demokratie nichts anderes bedeuten als Auflösung der politischen Einheit. Es gibt also keinen Staat ohne Repräsentation, weil es keinen Staat ohne Staatsform gibt und zur Form wesentlich Darstellung der politischen Einheit gehört“ (VL 207)327.

Weiterhin ist zu beachten, dass sich der politische Wille einer Gemeinschaft mit der Verfassungsgebung nicht erschöpft hat, sondern immer „neben und über“ dem Verfassungstext existiert, der die Verfassung rechtlich normieren soll (VL 91; s. a. VL 15). Die verfassunggebende Gewalt der Nation geht in Weimar noch vom Idealbegriff des bürgerlichen-Rechtsstaats aus (VL § 4, §§ 12-16). Schmitt greift die Unterscheidung von Liberalismus und Demokratie anhand der Unterscheidung rechtsstaatlicher und politischer Bestandteile wieder auf (s. o.) und kommt im Kapitel der Verfassungslehre „§ 16 Bürgerlicher Rechtsstaat und politische Form“ zu dem Ergebnis, dass die rechtsstaatliche Verfassung „keine Staatsform“ sei, sondern diese lediglich konstitutiv beschränkt. Bereits im Kapitel Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus hatten wir gesehen, dass Schmitt den liberalen Parlamentarismus als eine gemischte Verfassung mit identitären und repräsentativen Elementen – als „status mixtus“ – begreift. Die Erörterung des parlamentarischen Systems in den §§ 23-27 schließt mit dem § 28 der Verfassungslehre: „Die Auflösung des Parlaments“ mittels „Auflösungsrecht des Präsidenten“. Womit Carl Schmitt, so Mehring, das Ende der Weimarer Demokratie prognostisch vorweggenommen hat. Verantwortlich für die

326 Herv. im Original. 327 Herv. im Original.

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Fünftes Kapitel: Verfassungslehre (1928).

Machtübergabe – und weniger die Machtergreifung – an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 war letztlich das Präsidialregime in der Person v. Hindenburgs328

328 Siehe Mehring (2011, S. 45 f.).

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Vierter Teil: Entscheidung für den starken Staat.

Erstes Kapitel: Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).1 I. Der Weg in den Brennpunkt: Berlin.

1. Carl Schmitts Bemühungen um einen Ruf nach Berlin. Werfen wir einen kurzen Blick zurück. War Schmitt ein Cunctator, ein Zauderer? Paul Noack kommt zu dem Schluss, dass er im wissenschaftlichen Bereich entscheidungsbereit aber vorsichtig gewesen sei.2 Schon die Politische Romantik hatte ja die große Bandbreite seiner Belesenheit und seines Wissens dokumentiert, ein Stilmittel, das er beibehalten hatte. Und so lieferte er fürderhin kaum eine Zeitanalyse und -diagnose ohne historische Bezugspunkte und Nachweise ab. Er will sich nicht alleine darbieten3, er tritt in seinen Schriften nur im Ensemble mit seinen historischen Kronzeugen auf, er ist nicht kühn, sondern vorsichtig, und, so sei hier summiert, er hat ein hohes Bedürfnis nach Anerkennung und Sicherheit.4 Ist solches Bemühen idealtypisch für einen Menschen, der sich als Außenseiter aber intellektuell als überlegen sah? An seine fast panische Furcht

1 Der Begriff des Politischen in seiner ersten Form von 1927 ist kurz vor der Verfassungslehre (1928) publiziert worden. Da wir in diesem Buch mit der gebräuchlichen Ausgabe von Der Begriff des Politischen von 1932 arbeiten, haben wir die Darstellung der Verfassungslehre vorgezogen. Dies ändert nichts daran, dass es zwischen den beiden Schriften Schmitts systematische Zusammenhänge gibt. 2 Nachstehend vgl. Noack (1993, S. 58 ff.; 95 f.) 3 Dies, so meinen wir, gilt jedenfalls für die Weimarer Zeit bis 1930. 4 „Dazu gehört auch der immer wieder erneuerte Beweis, daß er nicht allein steht, daß anerkannte Denker ebenso dachten wie er. Er wittert nicht nur; er läßt sich stets bestätigen, daß er Mitwisser und Mitwitterer hat. Im Grunde ist es ihm unbehaglich das Risiko des Beweises allein zu führen“ (Noack 1993, S. 59).

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Erstes Kapitel: Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).

vor dem soldatischen Frontdienst, aber auch die Angst um sein „Auskommen“ und „vor den Menschen“ überhaupt, sei kurz erinnert: In „Angst vor dem Kommunismus“, „Angst vor den Rechtsstaatlern, Thoma, Rothenbücher“ lebt er in den Jahren von 1930-1934.5 Auch sein Antisemitismus steigert sich in diesen Jahren.6 Schmitts Verleger Feuchtwanger erinnert sich eines Urteils von Ernst Bloch über Schmitts Politische Romantik: „Der Verfasser käme ihm vor wie einer, der nur schwer gewappnet und von Hellebarden geschützt über die Straße ginge. Bloch meinte damit ihre Art, um ihrer Unwiderlegbarkeit willen jeden Satz und jedes Wort abzuwägen (und) sprachlich und logisch aufs Schärfste zu schleifen“.7

Schmitt wollte sich auch auf dem öffentlichen Parkett der Politik, in das er drängte, nicht auf „Holzwegen“ ertappen lassen. Das war für den Bereich der rechtlichen wie der politischen Analyse mit der Absicherungsfunktion durch seine historischen Zeugen in seinen Schriften vergleichsweise unproblematisch, solange er nicht den richtigen „Zugang zum Machthaber“8 als Politikberater suchte. Denn auf staatsrechtlichem wie staatstheoretischem Terrain war er ob seines wissenschaftlichen Renommees inzwischen „voll satisfaktionsfähig“ und trug wichtige Dispute aus, ja er „positionierte sich gegen Größen der Weimarer Zeit“9. Und er konnte, wie seine Tagebücher zeigen, zornig werden, fühlte er sich denn ungerecht behandelt.10 Die wissenschaftliche Tätigkeit auf universitärem Feld ist jedoch mit der Ebene der praktischen Politikberatung nicht vergleichbar. Auch wenn diese „professoral“ erfolgt, vergrößert sich doch der öffentlichkeitswirksame Raum des politischen Feldes über die wissenschaftlichen Fachkreise

5 6 7 8

Neumann (2015, S. 7 f.). Vgl. Mehring (2009, S. 221 f.). Ludwig Feuchtwanger, zit. nach Noack (1993, S. 59). Die verwendete Formulierung ist Schmitts Buchtitel Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber (1954) entnommen. 9 Mehring (2009, S. 186). 10 Deutlich wird dies u.a. in der Weimarer Staatsrechtskrise aber auch in der Causa „Meinecke“: Für das angebliche Schweigen der Meinecke-Schule über seine Politische Romantik revanchiert sich Schmitt mit einer „geradezu vernichtenden Besprechung“ von Meineckes: Idee der Staatsräson, die er diesem mit einem höflichen Brief übermittelt – ein grandioser Irrtum, denn seine Romantik war besprochen und Meinecke hatte Schmitt sogar der Hochschule für Politik empfohlen (Mehring 2009, S. 197).

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I. Der Weg in den Brennpunkt: Berlin.

hinaus und stellt deshalb andere taktische und strategische wie schriftstellerische Anforderungen: „Wer sich als Publizist exponiert, kann seine diskrete und beobachtende Rolle als Fachmann und Berater nicht mehr unbefangen und unangreifbar spielen“.11

Mit anderen Worten: die Beziehung des Publizisten zum Publikum ist reflexiver Natur, die Reaktion des Publikums auf einen Artikel wirkt auf das Meinungsbild des Verfassers positiv wie negativ zurück. Warum also tauschte Schmitt seinen renommierten Lehrstuhl in Bonn gegen den an einer Handelshochschule, an der er nicht Juristen – und schon gar nicht Staatsrechtler – sondern Volks- und Betriebswirte zu unterrichten hatte?12 Sein Bekanntenkreis jedenfalls wie auch seine späteren Interpreten waren sich einig – das Zauberwort hieß: „Berlin“.13 Pointiert gesprochen ist es eben nicht mehr nur der wissenschaftliche Ehrgeiz eines renommierten Staats- und Völkerrechtlers, das ihn die dortige Position anstreben lässt, hinzu tritt verstärkt der politische Impetus, über seine wissenschaftliche Leistung hinaus Einfluss auf die Realpolitik nehmen zu wollen. Einer seiner bedeutendsten Schüler, Ernst Rudolf Huber, bewertet dies wie folgt: „Weshalb ging Schmitt nach Berlin? kann die Antwort nur lauten: Er suchte und fand in Berlin den Wirkungsort, der ihm die unmittelbare Verbindung zu den Zentralen der staatlichen Entscheidungsmacht öffnete. Er bedurfte dieses Zugangs, weil die Vertrautheit mit den Problemen und Notwendigkeiten des staatspolitischen Ernstfalls nur in der unmittelbaren Beziehung zu den Führungsschichten der zivilen und militärischen Exekutive zu gewinnen war“.14

Auch Wilhelm Bleek verortet in seinem Buch Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland Carl Schmitt deshalb in Berlin, „um dem Zentrum der deutschen Politik und des Geistes näherzurücken“15. Bonn war,

11 Mehring (2009, S. 268). 12 Sein renommierter Vorgänger war immerhin der jüdische Jurist Hugo Preuß, der Schöpfer der Weimarer Verfassung. 13 „Die Antwort besteht in einem kurzen Wort: Berlin. Sie besteht nicht in einem anderen kurzen Wort: Geld. Die Hauptstadt Preußens und des Reiches und vor allem dessen unbestreitbar geistiger Mittelpunkt – bei aller Wertschätzung Münchens – zog ihn unwiderstehlich an. Berlin war, wie seine Frau sagte, sein Schicksal“ (Krauss, zit. in Noack 1993, S. 99/100.). 14 Ernst-Rudolf Huber, zitiert bei Noack (1993, S. 100). 15 Bleek (2001, S. 214).

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Erstes Kapitel: Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).

so Blasius, nur „ein Intermezzo“ gewesen, Berlin bot ihm die große Bühne für die Rolle des „politischen Professors“.16 Mit dem Abschluss der Verfassungslehre ist als ein Weiteres festzuhalten, dass Schmitt den Boden einer reinen Jurisprudenz – die er „rein“, wenn das überhaupt möglich ist, nur selten betrieben hat – diskursspezifisch weiter hinter sich lässt und sich als Publizist für Tagespolitik exponiert: „Er drängt über die Juristerei hinaus“.17 Damit hatte er jetzt drei Rollen auszufüllen: die des Rechtswissenschaftlers mit Professur, die des juristischen und politischen Beraters und die als analysierender, kommentierender Publizist in den bisweiligen Niederungen der Tagespolitik.18 Das beißt sich. Insbesondere Politikberatung und politische Publizistik stehen in einem Spannungsverhältnis: „Wer sich als Publizist exponiert, kann seine diskrete und beobachtende Rolle als Fachmann und Berater nicht mehr unbefangen und unangreifbar spielen“.19

Schmitt hatte über seinen Münchner Förderer Moritz Julius Bonn, der selbst nach Berlin gewechselt war, schon 1924, bald nach seiner Bonner Berufung versucht, an die 1920 gegründete Berliner Hochschule für Politik zu wechseln. Die Verhandlungen, so deren damaliger Leiter, Theodor Heuß, seien an den unerfüllbaren Forderungen Schmitts gescheitert. Die später erfolgreiche Bewerbung für die Handelshochschule in Berlin, die sich geraume Zeit hinzog, war maßgeblich von Bonn und auch am Zehnhoff unterstützt worden, der sich so in die Riege vieler jüdischer Kollegen einreihte, die Schmitt gefördert hatten.20 Bleibt nur, erneut darauf hinzu-

16 Blasius (2001, S. 15) Schmitt schreibt später selbst, dass er „nur aus wissenschaftlichem Interesse einen Ruf als ordentlicher Professor an die Handelshochschule Berlin angenommen habe, um in der Reichshauptstadt den eigentlichen Gegenstand meines Faches, nämlich den Staat, aus nächster Anschauung kennen zu lernen“ (Schmitt, zit. in Mehring 2009, S. 204/205). Näher zu Schmitts Gründen siehe Mehring (2009, S. 201 ff., 267 ff.). 17 Mehring (2009, S. 267). 18 Vgl. Mehring (2009, S. 265 f.) 19 Mehring (2009, S. 268) Wir lassen diesen Themenkomplex aber zunächst mit Mehrings indirekter Frage ruhen, ob Schmitts publizistisches Wirken darauf zurückgeführt werden könne, „dass er hinter den Kulissen keine zentrale Rolle spielt oder spielen wollte“ (ebd.). 20 Vgl. Noack (1993, S. 98); vgl. Mehring (2009, S. 200 ff.). Trotz dieser Fürsprecher kommt die Wahl Schmitts nur durch Absagen zum Tragen: Radbruch, Kelsen, Koellreutter und Rothenbücher sagten ab (Mehring 2009, S. 204).

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I. Der Weg in den Brennpunkt: Berlin.

weisen, dass es eine der Arcana Schmitts bleibt, wie jüdische Protektion und persönliche Freundschaften mit Juden – schon vor 1933 – sich zu einem krankhaft anmutenden Antisemitismus auswachsen konnten.21 Schmitt nahm seine Vorlesungen an der Handelshochschule Berlin am 1. April 1928 auf. Damit war er der Nachfolger des ersten Inhabers dieser Professur, des Vaters der Weimarer Reichsverfassung, Hugo Preuß. Und er trat in Konkurrenz zu den Fachkollegen der Juristenfakultät, namentlich zu Smend, Triepel und Kaufmann, die den Status eines Handelshochschullehrers im Vergleich sicher eine Stufe tiefer ansiedelten. Dieser Abwertung bot aber Schmitts für Furore sorgende Verfassungslehre glänzend Paroli, die nicht zuletzt dafür sorgte, dass Schmitt der staatsrechtlichen Diskussion künftig Leitthemen vorsetzte.22 „Mit dem Einklang von persönlich ausgeglichener Existenz und prekärem Gleichgewicht der Politik war es damit vorbei. Und auch die Zeit seiner nur relativen Bekanntheit, in der er als eine Art Geheimtipp gehandelt wurde, neigte sich dem Ende zu“.23

2. Das historische Umfeld. 2.1. Das Parlament entmachtet sich: das Ende der Regierung Marx. Aber auch die sog. „goldenen Zeiten“ Weimars in den Jahren 1924 bis 1929 mit ihrer politischen Stabilisierung – für Grevelhörster nur eine „innenpolitische Scheinstabilität“24 – und ihrer wirtschaftlichen Prosperität neigten sich dem Ende zu. Festzuhalten bleibt, dass der Bürgerkrieg der Jahre 1918 bis 1923 beendet, dass die ökonomische Konsolidierung in einen Aufschwung übergegangen war, und dass die Republik eine kulturelle Blüte erlebt hatte.25 Die Wirtschaft hatte nicht zuletzt von dem erfolgreichen Dawes-Plan (1924) profitiert, der die Reparationszahlungen geregelt und der jungen Republik wieder die Kreditaufnahme über die Finanzmärkte ermöglicht

21 1934 wird ihm die Angst den Schlaf rauben: „Nachts Angst um Deutschland wegen der Rache der Juden“, zit. nach Neumann (2015, S. 8). 22 Vgl. Neumann (2015, S. 169 f.). 23 Noack (1993, S. 97). 24 Grevelhörster (2002, S. 118). 25 So Roth (2005: 143).

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Erstes Kapitel: Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).

hatte. Zwar hatten die Kabinette infolge der parteipolitischen Zersplitterung relativ schnell gewechselt, aber in einer für Weimarer Verhältnisse vergleichsweise unaufgeregten wie demokratischen Weise, denn es gab parlamentarische Mehrheiten und funktionstüchtige Regierungen.26 Wenn nötig, nutzte Reichspräsident Friedrich Ebert das machtvolle Instrument des Art. 48 WRV. Der Unterschied zu seinem Nachfolger Paul v. Hindenburg kann zu einem Satz verdichtet werden: Ebert stand auf dem Boden der Verfassung und versuchte sie, fortzuentwickeln und zu schützen. Außenpolitisch hatte Stresemann daran gearbeitet, Deutschlands Isolation zu beenden.27 Im Frühsommer 1927 aber geriet die Regierung Marx28, die am 29. Januar 1927 gebildet worden war, in schweres Wasser. In den Beratungen zum Gesetzesentwurf über ein christliches Reichsschulgesetz manövrierten sich der sog. „Bürgerblock“ von Zentrum, BVP und DNVP auf der einen und die DVP auf der anderen Seite in eine Konfliktsituation, die sich kontinuierlich verschärfte. Tragfähige Kompromisse kommen im Regelfall nicht zustande, wenn nicht alle Beteiligten das Gesicht wahren können;29 dem war hier nicht so. Am 15. Februar 1928 stellte der Koalitionsausschuss das Scheitern des Entwurfes fest, Hindenburg löste den Reichstag auf und bestimmte Neuwahlen zum 20. Mai 1928. Da im Herbst 1928

26 Roth hebt zu Recht hervor, dass sich die Deutschnationalen in dieser Zeit auf „republikanische Verhältnisse“ einließen: „Der Verfassungskonsens erweiterte sich entsprechend (Roth 2005, S. 143). 27 Vgl. Roth (2005, S. 142 f.) 28 Erstes und zweites Kabinett Wilhelm Marx (Zentrum) (30.11.1923-15.12.1924), Weiterführung der Amtsgeschäfte durch Marx bis 6.1.1925 in einem Minderheiten-Kabinett bei Tolerierung durch die SPD. Die Reichstagswahlen vom 4.5.1924 stärkten die radikalen Flügelparteien: DNVP und KPD. Es folgten zwei Kabinette Hans Luther (15.1.1925-12.5.1926) getragen von einer bürgerlich/rechten Minderheitenkoalition (Zentrum, DDP, DVP und DNVP). Es folgten: das dritte Kabinett Marx (17.5.-17.12.1926) (Zentrum, DVP, DDI, BVP), das vierte und fünfte Kabinett Marx (29.1.1927-12.6.1928 (Zentrum, DVP, DNVP, BVP). 29 Der vom Zentrum initiierte Gesetzentwurf, Bedingung für ihren Eintritt in die Regierung, sah die rechtliche Gleichstellung der katholischen und protestantischen Konfessionsschulen mit den konfessionsübergreifenden Gemeinschaftsschulen vor, wie dies der Art. 146 der Reichsverfassung vorsah. Das neue Gesetz hätte den darin enthaltenen „Schulkompromiss“ aufgehoben. Wo es bisher – wie in Baden, Hessen und Hamburg – nur Gemeinschaftsschulen gab, hätten folglich getrennte Konfessionsschulen gegründet werden müssen, was die liberale und antiklerikale, stets für die Trennung von Staat und Kirche eintretende DVP, ablehnte.

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I. Der Weg in den Brennpunkt: Berlin.

ohnehin Neuwahlen angestanden hätten,30 kann der Vorgang durchaus als erstes ernstes Vorzeichen der kommenden Krise gedeutet werden. Denn mit der Erhöhung und der Verlängerung der Agrarzölle, der Neuregelung der Arbeitszeit, der Einführung der Arbeitslosenversicherung, einer Reform der Beamtenbesoldung und der Senkung der Lohnsteuer war dieses Marx-Kabinett, bedenkt man die Kürze seines Bestehens, durchaus erfolgreich, sieht man von der Schieflage der öffentlichen Finanzen, die eine permanente war, einmal ab: „Die Innenpolitik stärker nach den Wünschen der rechten Mitte und der Rechten auszurichten war mißlungen. Diese Erfahrung beflügelte Phantasien – noch waren es keine konkreten Bestrebungen –, die Regierung unter Ausnutzung der Verfassung vom Parlament zu lösen.31

Die Wahl vom 20. Mai 1928 zeitigte für die Parteien des Bürgerblocks ein schlechtes Ergebnis: die DNVP fiel von 20,5 im Dezember 1924 auf 14,2 Prozent, die DVP von 10,1 auf 8,7 Prozent. Schwächere Verluste verbuchten die beiden katholischen Parteien: das Zentrum fiel von 13,6 auf 12,1 Prozent, die BVP von 3,7 auf 3,1 Prozent. Gewinner waren die Linksparteien, vor allem die SPD, die sich von 26 auf 29,8 Prozent – ein Zuwachs von 1,3 Millionen Wählern – steigerte. Die KPD legte von 9 auf 10,6 Prozent zu. Die mittelständischen Interessenparteien stiegen von 8,5 auf 14,7 Prozent.32 Alarmsignale waren das Absinken der Wahlbeteiligung auf 75,6 Prozent, die niedrigste bei Reichstagswahlen in den Zeiten der Republik und die Wahlerfolge der NSDAP zwar mit nur 2,6 Prozent auf Reichsebene aber bis zu 36 Prozent in einzelnen ländlichen Gebieten Norddeutschlands.33 Ein neuer Bürgerblock hätte nur unter der Einbeziehung aller Interessens- und Splittergruppen mit ihren sehr heterogenen Zielen eine knappe Mehrheit erreicht. Alles sprach folglich für eine Große Koalition mit Zentrum, DDP, DVP unter Führung der erstarkten SPD.34

30 31 32 33 34

Vgl. dazu Büttner (2010, S. 381 f.; vgl. Grevelhörster (2002, S. 131). Büttner (2010, S. 382; Herv. w.a.m.). Vgl. Grevelhörster (2002, S. 132). Vgl. ebd. S. 133. Büttner (2010, S. 383).

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Erstes Kapitel: Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).

2.2. Die Auflösung des Parteienstaates beschleunigt sich. Die Regierungsbildung – „ein republikanisches Lehrstück“35 – entwickelte sich medial zu einer antiparlamentarischen Parabel. Unter der Führung des SPD-Parteivorsitzenden Hermann Müller, vom Reichspräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt, strebten die Große Koalition ernsthaft nur SPD und DDP an. Die DVP machte ihre Mitwirkung von einer erneuten Vertretung im preußischen Staatsministerium abhängig, was der preußische Ministerpräsident Braun ablehnte, und das Zentrum forderte mehr Ministerposten, als ihr nach dem Wahlergebnis zustanden: „Die Fraktionen verhandelten miteinander wie feindliche Staaten um einen Friedensvertrag; von allen Seiten wurden politische Dogmen ins Treffen geführt, Bedingungen formuliert, Mindestprogramme vorgestellt, so daß sich die Gespräche in kürzester Zeit festliefen. Eine zunehmend angeödete Öffentlichkeit verfolgte das kleinkarierte und mühselige Tauziehen (…)“.36

Insbesondere die Programmatiken der SPD (mit ihrer Rücksichtnahme auf die Gewerkschaften) und von DVP (mit ihrer Rücksichtnahme auf Industrie und Gewerbetreibende) schienen kaum kompatibel. Erst der volle persönliche Einsatz und der Pragmatismus des DVP-Vorsitzenden und designierten Ministers für das Außenpolitikressort Stresemann führte zu einem kompromissfähigen Fortschritt. „Persönlichkeiten“ aus den Kreisen der künftigen Regierungsfraktionen sollten sich ohne Mitwirkung der Parteien auf ein Regierungsprogramm einigen und mit ihm vor den Reichstag treten, kenne doch die Reichsverfassung nur eine Verantwortlichkeit von Personen und keine von Fraktionen, wurde in antiparlamentarischer Diktion argumentiert. Am 28. Juni 1928 stand die Regierung Müller mit seinem „Kabinett der Persönlichkeiten“.37 Was größte Teile der Rechtsintelligenz und wohl auch die Mehrheit des Volkes dachten und was sie einte, nämlich die Ablehnung des ParteienParlamentarismus der Republik, hatte ja Carl Schmitt – aber keineswegs alleine – bereits im Jahr 1923 geistesgeschichtlich, politisch, rechtlich und polemisch in Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus an den Pranger gestellt.38 Die Entwicklung des Heilmittels – „Der

35 36 37 38

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Schulze (1982, S. 304). Ebd. S. 304. Siehe Büttner (2010, S. 384; zu Einzelheiten S. 384 ff.). Siehe hier das Kapitel Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.

I. Der Weg in den Brennpunkt: Berlin.

Weg zur Präsidialdiktatur“39 – gegen ein marodes System aber, wie die Gegner die Weimarer Republik in toto verunglimpften, war bereits weit fortgeschritten: Die Planungen einer plebiszitären Demokratie mit einem starken Reichspräsidenten an der Spitze, der eine Regierung seines Vertrauens mithilfe des Art. 48 WRV steuern und im Amt halten sollte, wurden nun noch energischer vorangetrieben.40 Das direkt gewählte Staatsoberhaupt sollte in diesem politischen Arrangement gleichsam die Rousseausche „volonté générale“, den Gemeinwillen des Volkes, verkörpern, während das Parlament nur die „volonté de tous“, die Summe der vielen verschiedenen Einzelwillen, versinnbildlichen würde.41 2.3. Ein Ausblick. Wir werden – hier greifen wir kurz vor – sehen, dass Carl Schmitt die ab 1930 zunehmend akuter werdenden politischen Problemlagen der Republik in seinen Schriften nach Ansicht Paul Noacks scheinbar warnend antizipiert, oder, wie andere interpretieren, den Republikfeinden den Boden bereitet hatte, indem er die Handlungsanleitung für die nachfolgende Diktatur geliefert habe: „Es war die persönliche Tragik Schmitts, daß die politische Entwicklung am Ende der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre sich ausnahm wie eine Folge von Anwendungsfällen der von ihm projektierten, formulierten und formalisierten Freund-Feind-Theorie, seiner antiliberalen Grundkonzeption und seiner Erwägungen zur Diktatur“.42

Am 29. März 1930 wird das erste Präsidialkabinett des Zentrumpolitikers Heinrich Brüning die letzte parlamentarisch legitimierte Regierung mit dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller ablösen, die Reichspräsident von Hindenburg nicht mithilfe des Art. 48 WRV im Amt halten wollte.43 Der Untergang der Weimarer Republik war eingeleitet, erfolge doch das Scheitern eines politischen Systems, so Hagen Schulze, nur sel-

39 40 41 42 43

So die betreffende Kapitelüberschrift bei Mommsen (2009, S. 483). Vgl. Noack (1993, S. 124). Vgl. Winkler (2000, S. 463). Noack (1993, S. 123). Büttner (2010, S. 393).

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Erstes Kapitel: Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).

ten revolutionär, „viel häufiger ist das langandauernde politische Siechtum, die unmerkliche Zunahme staatlicher Schwäche“.44 II. Der Begriff des Politischen (1927,1932, 1933).45 1. Das politische Zentrum im staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts. Schon in seinen Abhandlungen Römischer Katholizismus und politische Form und Politische Theologie hatte Schmitt das gegenwärtige Zeitalter als ein unpolitisches, ja ein politikfeindliches demaskiert. Der Begriff des Politischen wird ihm zur schärfsten Waffe in seinem Kampf um den Bestand und die Autonomie des Politischen. Den Urtext – wie auch die Verfassungslehre – hat Schmitt noch in Bonn verfasst, wo sich mit Studenten, Mitarbeitern und Doktoranden eine „Schmitt-Schule“ zu formieren begann.46 Hier probt er den Text in langen Seminarsitzungen47 und bringt ihn am 20.5.1927 an der Hochschule für Politik in Berlin zum Vortrag.48 Zu dieser Zeit arbeitet Schmitt simultan. Er ist sehr stark mit seinem Projekt einer Verfassungslehre befasst, die 1928 erscheinen wird und die als „konstruktives, rechtstheoretisches Gegenstück zu seinem Begriff des

44 Schulze (1982, S. 304). 45 Der Text liegt in vier unterschiedlichen Fassungen vor: 1927, 1932, 1933 und im Jahr 1963 als um ein Vorwort erweiterter Text der Auflage von 1932. Wir beziehen uns in dieser Arbeit grundsätzlich auf den Text der Ausgabe von 1932 (6. Auflage von 1996). Der ausnahmsweise Bezug auf andere Ausgaben ist kenntlich gemacht (zur Auflagengeschichte siehe Mehring 2007, S. 511, Hofmann 1964; S. 101; vgl. Neumann 2015, S. 79 f.). 46 Hierzu zählten laut Ernst Rudolf Huber: Werner Becker, Ernst Friesenhahn, Ernst Forsthoff, Karl Lohmann, die Brüder Adams und mit Waldemar Gurian und Otto Kirchheimer auch zwei Wissenschaftler jüdischer Herkunft. Der linke Sozialdemokrat Kirchheimer „war der erste in einer Troika linksintellektueller Juristen jüdischer Herkunft, die den wissenschaftlichen Kontakt zu Schmitt suchten, auch in der Absicht dessen Verfassungstheorie und politischer Theorie eine Wendung nach links zu geben“ (Neumann 2015: 78). 47 Mehring (2009, S. 202). 48 „Schnell umgekleidet; müde und nervös zur Hochschule, roter Koffer (Sombart war da, Blei mit einer schönen Frau), verlor die Übersicht, kein guter Vortrag, deprimiert. Abscheuliche Diskussion (der Assistent Bloch von Sombart, Paul Landsberg sehr schön, Heller verteidigt mich rührend)“ (20.5.1927 zit. in Mehring 2009, S. 203).

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II. Der Begriff des Politischen (1927,1932, 1933).

Politischen zu verstehen“ ist.49 Die Ausarbeitung der Verfassungslehre soll wenig mehr denn vier Monate gedauert haben, was aber nur vorstellbar ist, weil er auf seine staatsrechtlichen Vorlesungen und Einzelausarbeitungen zurückgreifen konnte und in das Werk letztlich „die ganze Gedankenarbeit der Bonner Jahre einging“. 50 Die endgültige Zusage für die Handelshochschule Berlin am 5. Oktober 1927 beschleunigt dann die Abfassung noch. Er will seinen Dienst mit dem fertigen Renommierprojekt antreten.51 Carl Schmitts Der Begriff des Politischen ist seine berühmteste, zugleich aber wohl auch strittigste und für Gegner Schmitts gar die berüchtigtste Schrift. Dieses Urteil gründet vor allem in dem Diktum: „Die spezifische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“ (BP 26).

Dieses Unterscheidungskriterium, so trefflich Heinrich Meier, habe Feindschaft gesät und Feindschaft geerntet, es habe aber genau der Intention entsprochen, von der Carl Schmitt sich in seinem Begriff des Politischen leiten ließ: „Einer Welt, die der Unterscheidung von Freund und Feind zu entkommen sucht, stellt er die Unausweichlichkeit eines radikalen Entweder-Oder vor Augen, (…) in einer Zeit, in der ‚nichts moderner ist als der Kampf gegen das Politische‘, geht es ihm darum, die ‚Unentrinnbarkeit‘ des Politischen, die ‚Unabweisbarkeit‘ der Feindschaft zur Geltung zu bringen, und sollte er es sein, der all jenen, die keine Feinde mehr kennen wollen, als Feind entgegentritt “.52

Zweifelsohne kann man dieses Werk als eine „Bekenntnisschrift“ begreifen. Aber wir werden auch zu beachten haben, dass Der Begriff des Politischen – neben seinem wissenschaftlichen Anspruch – zeitgeschichtlich als der Versuch angesehen werden muss, „dem besiegten und im Namen des Rechts und der Moral niedergehaltenen deutschen Volk“53, Mut und Selbstverständnis zurückzugeben, die es aus Schmitts Sicht braucht, um auf eine – notfalls auch gewaltsame – Änderung des Nachkriegs-Statusquo drängen und sich hinsichtlich der „Kriegsschuldlüge“ vollständig

49 50 51 52 53

Hofmann (1964, S. 124). Mehring (2009, S. 206.) Siehe ebd. S. 205. Meier (1988, S 12, Herv. im Original; inneres Zitat aus PT 55). Hofmann (1964, S. 110).

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Erstes Kapitel: Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).

exkulpieren zu können. Hofmann betont, dass Schmitts Auffassung des Politischen ein „konkreter Begriff einer konkreten Situation, für sie als Waffe geschaffen und nur aus ihr verständlich“ war.54 Das folgende Zitat lässt ersehen, dass Schmitt offensichtlich verstanden wurde: „Der Kampf gegen die Kriegsschuldlüge kann wirksam allein von dem grundsätzlichen Ausgangspunkt der grundlegenden Verneinung des Zusammenhanges von Politik und Moral geführt werden. Das heißt, es ist im Bereich der Wissenschaft eine Aufgabe der Staatsphilosophie und Staatslehre, nicht der Geschichte“55.

Der Begriff des Politischen gehört so für den Juristen Hasso Hofmann einerseits „zu seinen brillantesten und bedeutendsten Leistungen, obwohl sie eigentlich die sachlich-fachlich unzulänglichste ist“, und er attestiert ihr weiterhin, „Dürftigkeit“, „Undifferenziertheit“ und „Einsinnigkeit der sachlichen Aussage über das Wesen des Politischen“.56 Nicht nur für Ernst-Wolfgang Böckenförde hingegen ist der in dieser Schrift formulierte Begriff des „Politischen“ „ein, ja der Schlüssel zum Verständnis des staatsrechtlichen Werkes von Carl Schmitt“.57 Der „Wall von Mißverständnissen“ über diese Schrift Schmitts rührt für ihn einmal aus der geistig-politischen Situation der Zeit, in die die Entstehung der Schrift fällt, zum anderen auch aus „einem Mißverstehen-wollen“.58 Auch Schmitts Biograph Paul Noack versucht der Kritik manche Schärfe zu nehmen, wenn er argumentiert, diese Schrift gehöre in ihren adäquaten biographischen Zusammenhang gestellt, nicht nur, weil sie die Freundschaft Schmitts mit Ernst Jünger begründet habe und ein Symptom der Krise des Staatsrechts sei, sondern weil sie – wenn auch in Bonn entstanden – schon 1927 als Vortrag unter dem gleichen Titel in Berlin gehalten wurde:

54 Ebd. S. 114. Maschke konkretisiert schärfer: Der Begriff des Politischen sei eine Ideologie des Widerstandes gegen die so friedlich anmutenden Schlagworte und Begriffe des Völkerbundes, der aber vor allem „eine Organisation zur Sicherung der Beute der Sieger von 1918, zur Wahrung des durch Versailles geschaffenen, ungerechten und konfliktiven status quo, der ein Krieg im Frieden und eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln war“ (Maschke 2012, S. 186 f.). 55 Wilhelm Grewe, zit. in Hofmann (1964, S. 110) Das Zitat selbst stammt aus: „Der Begriff des Politischen – Politik und Moral“, in: Die junge Mannschaft – Blätter deutscher Wehrjugend, Berlin 1931, Heft 6, S. 2/6“ (vgl. Hofmann 1964, S. 110, FN 41). 56 Hofmann (1964, S. 102). 57 Böckenförde (2013, S. 344), zustimmend Neumann (2015, S. 80). 58 Böckenförde (2013, S. 345).

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II. Der Begriff des Politischen (1927,1932, 1933).

„Sie war also für ein Berliner Publikum bestimmt, bei dem es, um Aufmerksamkeit zu erregen, der gepfefferten Formulierungen bedurfte“.59

Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass Schmitt auch für ein Nicht-Berliner-Publikum „gepfefferte Formulierungen“ jederzeit parat hatte, was aber die Gefahr birgt, dass eine nur oberflächliche Betrachtung die wahre Bedeutung gerade der prägnantesten Formulierungen verkennt. Zudem ist bei Schmitt manchmal auch das von großer Bedeutung, was er nicht sagt. Die Auflagen der Schrift von 1927, 1932 und 1933 unterscheiden sich nicht unerheblich.60 Darauf kann im Rahmen dieser Arbeit systematisch nicht näher eingegangen werden.61 Wir halten aber fest, dass in der Erstauflage von 1927 das Politische noch als ein gleichberechtigtes Sachgebiet neben anderen positioniert war (Gebiets-Modell), was wir nachstehend zu klären suchen, während Schmitt es 1932 als den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation fasst (Intensitäts-Modell). 1933 zeigt sich dann nach Ottmann auch sein politischer Frontwechsel zur NSDAP in der Schrift: „Die diversen Auflagen und Umarbeitungen (1927, 1932, 1933) dokumentieren Schmitts Weg vom Berater der letzten Weimarer Kanzler zum ‚Kronjuristen‘ des Dritten Reiches. 1933 wird zum Schicksalsjahr Carl Schmitts. Er wird Nationalsozialist, und man rätselt bis heute, was die Gründe für diese Entscheidung gewesen sind“.62

Schmitt lehnt nun eine Auffassung der Politik als eine Form der Agonalität, des Wettbewerbs ab. Der Feind ist ihm kein Wettstreiter mehr, er ist ein anderer, ein Fremder, womit der Begriff sich theoretisch auch für die Qualifizierung des anderen als Rassenfeind öffnet, von Schmitt vor 1933 aber weder behauptet noch ausgeführt wird.63 In der Fassung von 1933 entfällt weiterhin das ganze erste Kapitel und mit ihm seine berühmte Eingangsformel: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“. Auch die Rede bzw. der Aufsatz über Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1927) fehlt. Reinhold Mehring konstatiert: „Schmitt fing 1933 neu an und übernahm so den revolutionären Anspruch des Nationalsozialismus“.64

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Noack (1993, S. 114). Zur Ausgabe von 1927 siehe Mehring (2009, S. 206- 214). Zu Einzelheiten siehe Meier (1988) und Neumann (2015). Vgl. Ottmann (2010, S. 220). Ebd. S. 241. Mehring (2007, S. 512).

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Zeitgeschichtlich zu bedenken ist, dass wir uns wie der überwiegende Teil der Literatur auf die Ausgabe von 1932 stützen, die von Schmitt auch als die endgültige Fassung betrachtet wurde. Zwischen erster und zweiter Fassung liegen – zeitgeschichtlich wie biographisch – aber immerhin dreieinhalb Jahre. Erst Mitte Oktober 1930 schlägt Carl Schmitt seinem Verleger Feuchtwanger, der zwischenzeitlich mit „tiefem Widerwillen“ die Popularisierung und Verliterarisierung von Schmitts Schriften in „radikalen Rechtskreisen“ beklagt, die Ausweitung des Urtextes vor, deren Publikation aber erst im Juni 1931 beschlossen wird und für die er Anfang Oktober 1931 die Druckfahnen abliefert. Schmitt selbst bezeichnet den Text als seine „wichtigste Publikation“.65 „Durch die Verbindung mit seinem spanischen Vortrag66 stellt er die Begriffsschrift in den Rahmen einer Epochendiagnose“.67

Auch feiert er seinen Schritt in die politische Publizistik als eine Befreiung aus „akademischen Manschetten“68: „Auf das Erscheinen meiner Abhandlung freue ich mich sehr. Es ist doch eine andere, würdigere Sache als das juristische Advokatengezänk und die Pseudowissenschaftlichkeit des heutigen Gutachtenbetriebes“ (LFCS 351).

Schmitt kommt es nun immer stärker auf die öffentliche Wirkung an. Er fokussiert sich bei seinen Schriften immer auch auf die Erwartungshaltung „seines“ Publikums und vertrat – „literaturwissenschaftlich“ gesprochen – eine „‚wirkungsästhetische‘ Orientierung am ‚Publikum‘“.69. Da das juristische Werk nur eine begrenzt öffentliche Breitenwirkung entfalten kann,

65 Vgl. Mehring (2009, S. 269 f.). 66 Gemeint ist die Abhandlung Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen. 67 Mehring (2009, S. 270). 68 Ebd. S. 273. 69 Ebd. S. 276 Dies beeinflusste natürlich die Auswahl seiner publizistischen Foren, wobei er schon früh die Qual der Wahl hatte und sich vor Zeitschriftenanfragen kaum retten konnte. Während seiner Jahre in Bonn ist als Zeitschrift das katholische und das politisch nicht festgelegte, seriöse Hochland zu nennen, zu dem ihm auch sein Verleger Feuchtwanger geraten hatte. Mit seiner Distanzierung von der Kirche wandte er sich auch von der katholischen Presse ab. In den Krisenjahren der Weimarer Republik orientiert sich Schmitt an jungkonservativen Kreisen, wo seine Schriften große Resonanz finden und er publiziert auch in deren Organen, im Ring und im Deutschen Volkstum. In diesen Kreisen sind Stichworte und „Formeln vom ‚Reich‘ und vom ‚autoritären‘ oder ‚totalen‘ Staat“ Begriffe politischer Hoffnungen (vgl. Mehring 2009, S. 268 f.).

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komme, so Mehring, der Schrift Der Begriff des Politischen eine „Schlüsselbedeutung für Schmitts Karriere als Stichwortgeber“ zu.70 Dessen war Schmitt sich bewusst. Der Begriff des Politischen begründete auch seinen näheren Umgang mit Ernst Jünger, dem er die Schrift von 1927 zugesandt hatte, und damit dem „Jünger-Kreis“.71 Jüngers Antwort vom 14. Oktober 1930 ist legendär: „Ich schätze das Wort zu sehr, um nicht die vollkommene Sicherheit, Kaltblütigkeit und Bösartigkeit Ihres Hiebes zu würdigen, der durch alle Paraden geht. Der Rang eines Geistes wird heute durch sein Verhältnis zur Rüstung bestimmt. Ihnen ist eine besondere kriegstechnische Erfindung gelungen: eine Mine, die lautlos explodiert. (…) Ich gedenke, Ihnen einige jener Leser zuzuführen, die heute ebenso selten wie Bücher sind“.72

2. Der Begriff des Politischen: Inhalt und Bedeutung. Wir stellen die Schrift anhand von Kernthesen73 dar, weil Carl Schmitt selbst ja seine Schriften – und für den Begriff des Politischen trifft dies in hohem Maße zu – oft mit pointiert-zugespitzten, thesenartigen Dikta einzuleiten pflegte. 2.1. Begriff des Staates. „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“ (BP 20). Dieses bekannte Diktum dient Schmitt als Quintessenz eines Argumentationsstranges, der zeigen soll, dass die gebräuchliche Gleichsetzung des Staatlichen mit dem Politischen nicht mehr haltbar ist: „Historisch markiert sie Anfang und Ende der neuzeitlichen ‚Epoche der Staatlichkeit‘“74. Dass das Politische meist mit dem Staatlichen gleichgesetzt worden sei und das Staatliche mit dem Poltischen, ist für Schmitt ein unbefriedigender aber wohl insofern gerechtfertigter Zirkel, solange der Staat – definiert als

70 Mehring (2009, S. 269). 71 Ebd. S. 269). Zu Schmitts Vernetzung in den Weimarer Rechtskreisen (ebd.); umfassend, aber umstritten, s. Koenen (1995). 72 Aus einem Brief Jüngers an Schmitt. 73 Wir folgen hier mit Abwandlungen Mehring (2007 u. 2009) und Ottmann (2010). 74 Mehring (2007, S. 513).

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der „politische Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes“ und zwar als „der Status schlechthin“ (BP 20)75 – als eine klare und bestimmbare Größe vorausgesetzt werden konnte (BP 23). So besaß der Staat in der 300-jährigen Epoche der neuzeitlichen europäischen Staatlichkeit bis zum 20. Jh. das Politikmonopol; der Staat war das Politische. Dieses Monopol entstand, weil dem Staat „etwas ganz Unwahrscheinliches gelungen“ war, nämlich „in seinem Inneren Frieden zu schaffen und die Feindschaft als Rechtsbegriff auszuschließen. Es war ihm gelungen, die Fehde, ein Institut des mittelalterlichen Rechts, zu beseitigen, den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts, die auf beiden Seiten als besonders gerechte Kriege geführt wurden, ein Ende zu machen und innerhalb seines Gebietes Ruhe, Sicherheit und Ordnung herzustellen“ (BP 10, Vorwort).

Im 18. Jh. hatte der Staat die Gesellschaft als einen Gegenspieler noch nicht anerkannt und stand während des 19. Jh. bis ins 20. Jh. hinein wenigstens als eine stabile und unterscheidbare Macht noch über der Gesellschaft (BP 23/24). Die „Gleichung: Staatlich = Politisch“ (BP 24) führt also in die Irre, weil sich die Grenzlinien zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Feldern und den staatlichen Angelegenheiten zunehmend verwischten: „Was den Staat fundamental verändert hat, ist nach Schmitt die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft“.76

Die Folge dieser Verschmelzung ist, dass sich das vordem aus der Scheidung von Staat und Gesellschaft gewonnene spezifische Unterscheidungsmerkmal des Politischen, das staatsunabhängig existent ist, nicht mehr gewinnen lässt (vgl. BP 24) und so eine intellektuelle Bezugnahme auf den Begriff des Staates nicht mehr zulässt.77 Denn das Politische in Beziehung zum Staat zu setzen war wissenschaftlich nur berechtigt, „solange der Staat wirklich eine klare, eindeutig bestimmte Größe ist und den nicht-staatlichen, eben deshalb ‚unpolitischen‘ Gruppen und Angelegenheiten gegenübersteht“ (BP 23).

Weil der Staat aber – bestimmt ja als die politische Einheit eines Volkes (s.o.) – das Politische unbedingt voraussetzt, muss er selbst nunmehr vom

75 Siehe dazu auch Kernthese 3. 76 Ottmann (2010, S. 242 f.) Siehe dazu u.a. auch in Der Hüter der Verfassung das Kapitel Die Konkrete Verfassungslage der Gegenwart (HdV 71-131, insb. 73 ff.). 77 Vgl. Vesting (1992, S. 13).

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Wesen des Politischen her neu bestimmt werden. Die Einführung und die Benennung des „Begriffs“ des „Politischen“ werden so zu einer unumgänglichen Notwendigkeit.78 Es muss, wie Hasso Hofmann treffend formuliert, das factum brutum des Politischen freigelegt und benannt werden.79 Denn jede Staatslehre habe nunmehr ihren Ausgangspunkt bei einer selbstständigen Definition des Politischen zu nehmen.80 Mit diesen Befunden greift Schmitts Position, dass der Staat das Politische voraussetzt. Und weil das Politische dem Staatlichen vorgeht, wird die „fundamentale Position“ des Politischen herausgehoben.81 Völlig und endgültig aber ist das „alte“ staatliche Politikmonopol für Schmitt noch nicht abgelöst oder überwunden.82 Noch bleibt der Staat die maßgebliche und wesentliche politische Einheit, die es aus seiner Sicht zu erneuern und zu stärken galt (BP 44; 46).83 2.2. Freund-Feind-These. „Die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“ (BP 26).84 Mit dieser berühmt-berüchtigten und umstrittenen Spezifikation politischer Kriterien ist Carl Schmitts factum brutum benannt: es ist die Unterscheidung von Freund und Feind.85 Sie ist das letzte und endgültige Unter78 79 80 81 82 83

Vgl. Neumann (2015, S. 81). Vgl. Hofmann (1964. S. 103/104). Mehring (2007, S. 513). Siehe Bielefeldt (1994, S. 31; Herv. im Original). Siehe dazu Schönberger (2003, S. 22 f.). „Daß der Staat eine Einheit ist, und zwar die maßgebende Einheit, beruht auf seinem politischen Charakter“ (BP 44; kursiv im Original). Und: „Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit, gehört das ius belli (…)“ (BP 45 kursiv im Original). Und: „Der Staat als die maßgebende politische Einheit hat eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert (…)“ (BP 46). Siehe dazu auch Ladwig (2003, S. 49). 84 Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind findet sich schon bei Thukydides (vgl. Münkler 1987, S. 43). 85 Dieses dual konstruierte Kriterium ist ein Analogismus, denn die Unterscheidung bezieht sich auf Gruppen von Menschen oder auf Völker (Assoziationen): „Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d.h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht“ (BP 29; Herv. im Original). Weiterhin gilt: Die Begriffe „Freund“ und „Feind“ sind existenziell zu nehmen, sie sind weder Metaphern noch Symbole, sie sind keine

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scheidungsmerkmal und der Urboden des Politischen, oder mit Böckenförde gesprochen, der „Aggregatzustand des Politischen“.86 Wichtig ist, an dieser Stelle zu vermerken, dass Schmitt keine normative Theorie der Politik oder des politischen Handelns vorlegt, auch gibt es keinen inhärenten Automatismus, der zu einer Freund-Feind-Unterscheidung und in letzter Konsequenz zum Kriege drängt.87 Der Krieg ist „nur“ eine permanent vorhandene Gefahr, eine „reale Möglichkeit“ (BP 34), die stete Wachsamkeit erfordert. „Die Erkenntnis dieses Kriteriums und das Wissen darum sind Voraussetzung für sinnvolles Handeln“.88

Aus dieser fundamentalen Einsicht heraus wird deutlich, dass das Politische kein gleichwertiges Sachgebiet neben anderen sein kann, wie es das Moralische, Ästhetische und Ökonomische usf. sind, die ihre je eigenen Unterscheidungsmerkmale haben (gut und böse, schön und hässlich, nützlich und schädlich), und mit denen es nicht „verwechselt oder vermengt“ werden darf (BP 28). So hat für Schmitt das Freund-Feind-Kriterium den Sinn, „den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen“ (BP 27), kann doch das Politische auf allen Feldern menschlichen Handelns hervorbrechen, wenn die Menschen sich assoziieren oder dissoziieren.89 Beispielhafter gesprochen: Konstituiert sich ein Volk als eine politische Einheit, dann ge-

86 87 88 89

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normativen und keine „rein geistigen“ Gegensätze. Sie werden durch Zuordnungen von Erläuterungen wie „moralisch“ oder „ökonomisch“ nicht gestärkt, nicht geschwächt, nicht vermischt und erst recht nicht „psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen“ ab- oder aufgewertet: „Sie sind keine normativen und keine ‚rein geistigen‘ Gegensätze.“ Und: „Hier handelt es sich nicht um Fiktionen und Normativitäten, sondern um die seinsmäßige Wirklichkeit und die reale Möglichkeit dieser Unterscheidung“ (BP 28 f.; Herv. w.a.m.). Schmitt betont weiterhin, der Feind sei hostis, nicht inimicus, sei also öffentlicher Feind, nicht privater Gegner. Böckenförde (2013, S. 346). Das Politische in dieser Schrift umfasst keineswegs all das, was man schlechthin als „politisch“ bezeichnen kann – Parteien, Parlamente, Wahlen usf. Vgl. Böckenförde (2013, S. 345 f.). Ebd. S. 346. Die Literatur fasst diese Vorgänge unter dem Begriff des „Intensitätskonzepts“ (vgl. Neumann 2015, S. 85), im Gegensatz zum „Gebietskonzept“. Schmitt hatte in der Fassung des Aufsatzes von 1927 das Politische wohl isoliert neben die anderen Sachgebiete menschlichen Wirkens gestellt, um später zu der Auffassung zu kommen, dass das Politische bei erreichtem Intensitätsgrad in jedem Sachgebiet durch-

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schieht dies immer gegen ein anderes Volk als politische Einheit, woraus umgehend die konkrete Möglichkeit von Feindschaft oder Krieg erwächst.90. Die Alleinstellung des so bestimmten Politischen manifestiert sich auch in seiner Unabhängigkeit von den Kriterien der anderen Sachgebiete, auf die es auch nicht zurückgeführt werden kann.91 Schmitt formuliert dies so: „Die seinsmäßige Sachlichkeit und Selbstständigkeit des Politischen zeigt sich schon in dieser Möglichkeit, einen derart spezifischen Gegensatz wie Freund – Feind von anderen Unterscheidungen zu trennen und als etwas Selbstständiges zu begreifen“ (BP 28).

Schmitt differenziert in der 2. Auflage 1932 unterschiedliche Intensitätsstufen des Politischen aus, die niedrigste davon ist „zum Parasitären und Karikaturhaften“ entstellt (BP 30) – gemeint ist damit vor allem das Taktieren, Intrigieren und Manipulieren in der Tages-„Politik“, das an das Politische nur noch durch eine Ahnung von dessen Gegensätzlichkeit erinnern kann (vgl. BP 30). Der höchste Intensitätsgrad ist mit der FreundFeind-Unterscheidung erreicht. Schmitt operiert also – wie am Ausnahmefall der Politischen Theologie – wieder am Grenzfall, um die Grundstruktur des Politischen freizulegen.92 Einen gegenständlich bestimmbaren Bereich des sozialen Lebens macht das Politische freilich nicht aus, es stellt vielmehr ein öffentliches Feld der Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen dar. Aber es ist fähig, Material und Kraft aus den Gegensätzen der anderen, nichtpolitischen Sachgebiete zu ziehen.93 Wenn mit dem Erreichen des äußersten Intensitätsgrads der Ausnahmefall bzw. der Ernstfall eintritt und damit die politische Einheit eines Volkes bedroht ist, dann kann auch nur diese gefährdete, souveräne politische

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brechen kann (siehe dazu Neumann 2015: 85 f.). Neumann betont aber: „Ein ‚Gebietskonzept‘ in dem Sinne, dass das Politische in einem eigenen Sachgebiet isoliert und ‚eingesperrt‘ sei, hat es in Schmitts Schriften nie gegeben“ (Neumann 2015, S. 86). Vgl. Campagna (2004, S. 80); vgl. Ottmann (2010, S. 244). Vgl. nachst. Böckenförde (2015, S. 346). Bielefeldt (1994, S. 32) „Man kann sagen, daß hier, wie auch sonst, gerade der Ausnahmefall eine besonders entscheidende und den Kern der Dinge enthüllende Bedeutung hat“ (BP 35). S. Böckenförde (2013, S. 346); s. Hofmann (1964, S. 105).

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Einheit das Vorliegen des Ernstfalls proklamieren,94 der sie zur Unterscheidung und zur Entscheidung im praktischen Vollzug zwingt95. Schmitt sucht also den Einfluss dritter Institutionen, wie konkret den des Völkerbunds, auszuschließen.96 Der nach der Freund-Feind-Formel einmal identifizierte Feind braucht zu seiner Rolle keine weiteren spezifischen Attribute, er braucht nicht etwa noch „böse“, „hässlich“ usw. zu sein, er muss nicht, um bei unserem obigen Beispiel zu bleiben, als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten97. Sachdifferenzen haben hinter die Feind-Bestimmung zurückzutreten, ja sie werden als unbedeutend verdrängt. Als Feind-Kriterium genügen die Fremdheit und die Andersartigkeit: „Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Falle Konflikte mit ihm möglich sind (…)“ (BP 27)98.

Der Feind ist also durch sein Dasein, durch seine bloße Existenz „Feind“, nicht aus ideologischen oder religiösen Gründen. Und es gilt, dass sich die Feindschaft nicht durch moralische und religiöse, nicht durch gesetzliche Normierung oder durch einen Schiedsspruch aufheben lässt: Wer Feind ist, bestimmt letztlich der Feind – auch der mögliche, der potenzielle Feind, ist zu ergänzen. Auch er kann nur von den potenziell künftigen souveränen Teilnehmern des dualen Freund-Feind-Systems identifiziert werden, um zu entscheiden, ob er zu bekämpfen ist, weil es gilt „die eigene seinsmäßige Art von Leben zu bewahren“ (BP 27).99 Das Politische liegt freilich nicht im Kampf, nicht in der Kriegführung als solcher, sondern in einem Verhalten, das sich der realen Möglichkeit des Ernstfalls bis zur

94 „Politisch ist jedenfalls immer die Gruppierung, die sich an dem Ernstfall orientiert. Sie ist deshalb immer die maßgebliche menschliche Gruppierung, die politische Einheit infolgedessen immer, wenn sie überhaupt vorhanden ist, die maßgebende Einheit und ‚souverän‘ in dem Sinne, daß die Entscheidung über den maßgebenden Fall, auch wenn das der Ausnahmefall ist, begriffsnotwendig immer bei ihr stehen muß“ (BP 39; Herv. im Original). 95 Norbert Campagna (2004, S. 81) formuliert: „Souverän ist demzufolge auch derjenige, der über den Kriegsfall entscheidet.“. 96 Vgl. Mehring (2007, S. 514). 97 „(…) und es kann sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen“ (BP 27). Im Übrigen gilt: Was moralisch böse, ästhetisch hässlich ist usw., figuriert deshalb nicht automatisch einen Feind (BP 28). 98 Herv. durch Verf. 99 Vgl. dazu Mehring (2007, S. 514).

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letzten Konsequenz des Kriegsfalls bewusst ist (vgl. BP 37). War Carl Schmitt also ein Bellizist, der eine Theorie der „Feindschaft als Selbstzweck“ vertritt? Diese Frage führt uns später zur Kernthese 4. 2.3. Qualifizierung als politischer Gegensatz. „Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ (BP 37). Carl Schmitt war vorgeworfen worden, er vertrete in seiner Urschrift von 1927 den Primat der Außenpolitik und habe das Feld der innerstaatlichen Einheitsbildung gar nicht gesehen (so Hermann Heller).100 Für Volker Neumann hingegen ist die innenpolitische Seite in der Auflage von 1927 bereits „kategorial angelegt“ und wird in der Ausgabe von 1932 nur deutlicher herausgearbeitet.101 Im Nachwort zu dieser Auflage (Oktober 1931) sind, so Schmitt selbst, Beispiele eingefügt und Umformulierungen vorgenommen worden, „aber keine Änderung und Weiterführung des Gedankenganges selbst“ (BP, Nachwort). Carl Schmitt selbst hat im Vorwort der Neuauflage des Begriffs des Politischen von 1963 neben der Freund-Feind-Unterscheidung eine zweite Kernaussage seiner Schrift expressis verbis ausgedrückt102, die bis dahin nur implizit, so Böckenförde, bereits gegeben war: der Staat ist die politische Einheit eines Volkes.103 Dies bedeutet „von diesem Begriff des Politischen her, daß der Staat eine in sich befriedete Einheit und eben deswegen das Politische umgreifende politische Einheit ist. Sie grenzt sich nach außen von anderen politischen Einheiten ab, innerhalb ihrer verbleiben alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen (…)“.104

100 101 102 103

Vgl. Neumann (2015, S. 89). Ebd. Vgl. (BP 10, Vorwort). „Die politische Einheit ist eben ihrem Wesen nach die maßgebende Einheit, gleichgültig, aus welchen Kräften sie ihre letzten psychischen Motive zieht. Sie existiert oder sie existiert nicht. Wenn sie existiert, ist sie die höchste, d.h. im entscheidenden Fall bestimmende Einheit“ (BP 43). 104 Böckenförde (2013, S. 346).

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Entscheidend ist nun, dass die verbleibenden innerstaatlichen Konflikte unterhalb der Ebene einer Freund-Feind-Gruppierung bleiben müssen, sonst wäre Bürgerkrieg die Konsequenz. Womit zu fragen ist, wie dies erreicht werden kann. Möglich wird dies, wenn wir Böckenförde recht verstehen, einmal, indem sich die Menschen in die innerstaatliche Friedensordnung einfügen, die vom staatlichen Gewaltmonopol gesichert wird. Voraussetzung dafür wiederum ist, dass die in einer relativen Homogenität zusammenlebenden Menschen durch ein Gefühl der „Zusammengehörigkeit“ geeint sind.105 Es wird zweitens möglich, weil die innerstaatliche Politik von anderer Art ist wie die Außenpolitik, sie ist „nur in einem sekundären Sinn politisch“106, denn, so Schmitt 1963: „Politik im großen Sinne, hohe Politik, war damals nur die Außenpolitik, die ein souveräner Staat als solcher, gegenüber anderen souveränen Staaten, die er als solche anerkannte, auf der Ebene dieser Anerkennung vollzog, indem er über gegenseitige Freundschaft, Feindschaft oder Neutralität entschied“ (BP 11, Vorwort).

Hingegen ist Schmitt die Innenpolitik „im klassischen Sinne Polizei, Sorge und Auseinandersetzung um die gute Ordnung des und innerhalb des Gemeinwesens, die den befriedeten Rahmen und das Eingebundensein in ihn nicht überschreitet und sprengt“.107

Der Zustand einer intakten Staatlichkeit herrscht, „solange die innerstaatliche Politik auf die ‚sekundären Begriffe von politisch‘ begrenzt ist“.108 Dies bleibt bei Schmitt aber ein labiler Zustand, solange es Parteien und Parteipolitik gibt: „Dann nämlich würden die ursprünglich auf ein Sachgebiet begrenzten Konflikte eine Dynamik und Intensität entwickeln, die das Sachgebiet sprengen und in Freund-Feind-Verhältnisse umschlagen, die dem Staat das Monopol des Politischen streitig machen“.109

Es ist also, so darf man aus dem bisher Dargelegten folgern, die originäre Aufgabe des das Primat des Politischen behauptenden Staates, die konträr

105 Ebd. 106 Böckenförde (2013, S. 347) Bei Schmitt heißt es: „Innerhalb des Staates als einer organisierten politischen Einheit, die für sich die Freund-Feind-Entscheidung trifft, außerdem neben den primär politischen Entscheidungen ergeben sich zahlreiche sekundäre Begriffe von „politisch“ (BP 30). 107 Ebd. 108 Neumann (2015, S. 89). 109 Ebd.

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und konflikthaft verlaufende Willensbildung innerhalb des politischen Systems zu ermöglichen und so zu moderieren, dass die staatliche Friedensordnung nicht gefährdet wird und die Fähigkeit der politischen Einheit gewahrt bleibt, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden (vgl. BP 46). Doch ist damit der innerstaatliche Zustand kein apolitischer, denn die innere Politik bleibt auf sekundärem Niveau eine politische im Sinne des Begriffs des Politischen und kann deswegen bei einem „Staatsversagen“ auch bis zur letzten Intensität eskalieren.110 Schmitt verdeutlicht dies am Beispiel der Ökonomie. Die Konkurrenzen auf dem gesellschaftlichen Feld der Ökonomie sind eo ipso zunächst keineswegs politischer Natur. Die Konkurrenz kann sich aber in einen politischen Gegenstand verwandeln, der stark genug werden kann, um „die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ (BP 37).111 Zu denken wäre – für die Weimarer Republik aktuell – an die Gefahr eines Bürgerkriegs, der sich an den verschärften ökonomiebasierten Klassengegensätzen entzündet. Denn eine Klasse, so Schmitt, hört auf, „etwas rein Ökonomisches zu sein und wird eine politische Größe, wenn sie mit dem Klassen-Kampf Ernst macht und den Klassengegner als wirklichen Feind behandelt und ihn, sei es als Staat gegen Staat, sei es im Bürgerkrieg innerhalb eines Staates, bekämpft“ (BP 38).

Jetzt ist aus einer ökonomischen Frage (z.B. Höhe der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung) eine politische Machtfrage geworden. Der Ansatz Schmitts ähnelt frappant der Klassenkampftheorie Lenins, dem es bekanntlich darum ging, das gewerkschaftliche Ringen um eine wirtschaftliche Verbesserung für die Arbeiterklasse, zu einem politischen Kampf zu steigern,112 der die Diktatur des Proletariats zum Ziel hat. Auch jetzt hängt die Existenz der politischen Einheit von der Bestimmung des – nun inneren – Feindes ab, soll der Zustand einer intakten, d.h. befriedeten Staatlichkeit gewahrt bzw. wiederhergestellt werden. Es gebe deshalb, doziert Schmitt, seit der Errichtung griechischer Republiken „schärfere oder mildere, ipso facto eintretende oder auf Grund von Sondergesetzen justizförmig wirksame, offene oder in generellen Umschreibungen ver-

110 Vgl. Böckenförde (2013, S. 347; Herv., w.a.m.). 111 „Die reale Freund-Feind-Gruppierung ist seinsmäßig so stark und ausschlaggebend, daß der politische Gegensatz in demselben Augenblick, in dem er diese Gruppierung bewirkt, seine bisherigen (…) rein wirtschaftlichen (…) Kriterien und Motive zurückstellt (…)“ (BP 39). 112 Vgl. Neumann (2015, S. 89/90.)

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steckte Arten der Ächtung, des Bannes, der Proskription, Friedloslegung, hors-la-loi-Setzung113, mit einem Wort, der innerstaatlichen Feinderklärung“ (BP 46/47).114

Natürlich mündet eine innerstaatliche Feinderklärung oft in einen Bürgerkrieg, dessen Verlierer dann wieder in sein unangetastetes Sachgebiet zurückverwiesen wird.115 Obsiegte etwa das Proletariat, wäre die alte politische Einheit zerfallen und das Proletariat konstituierte diese neu: ein proletarischer Staat wäre entstanden. 2.4. Krieg als Extrem der Feindschaft. „Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ (BP 33). Der Krieg116 ist der offene Ausbruch der Feindschaft, er ist die letzte Eskalationsstufe der Feindtheorie.117 Er ist zwar eine latent drohende reale Möglichkeit, die stete Wachsamkeit verlangt, aber er braucht deshalb nichts Normales oder Alltägliches zu sein, nichts Ideales oder Wünschenswertes. Dass die Schmittsche Definition nach seiner eigenen Auffassung weder „militaristisch, noch imperialistisch, noch pazifistisch“ ist (vgl. BP 33), wurde bereits ausgeführt.118 Der militärische Kampf, so Schmitt gegen Clausewitz, ist auch „nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, weil dieser Kampf als ein spezifizierter und definierter „Krieg“ seine eigenen taktischen und strategischen Regeln hat (vgl. BP 34). Der Krieg ist aber, so Schmitt,

113 Hors-la-loi-Setzung = Gesetz- oder Rechtloslegung. 114 Herv. im Original. 115 Dies meint, dass die Arbeiter nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg weiterhin für besseren Lohn oder bessere Arbeitsbedingungen kämpfen dürfen, nicht aber die politische Machtfrage stellen (Neumann 2015, S. 90). 116 „Krieg ist bewaffneter Kampf zwischen organisierten politischen Einheiten, Bürgerkrieg bewaffneter Kampf innerhalb einer (dadurch problematisch werdenden) organisierten Einheit“ (BP 33). Auch das Wort „Kampf“ ist „im Sinne einer seinsmäßigen Ursprünglichkeit zu verstehen“, so wie der Begriff des „Feindes“ (BP 33). 117 „Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten“ (BP 33). 118 Vgl. Roth (2005, S. 144).

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„die als reale Möglichkeit immer vorhandene Voraussetzung, die das menschliche Handeln und Denken in eigenartiger Weise bestimmt und dadurch ein spezifisch politisches Verhalten bewirkt“ (BP 34/35)119.

Wer einmal Feind war, so Schmitt, muss nicht ewig Feind bleiben, wer Freund war, nicht ewig Freund. Selbst eine neutrale Beziehung ist möglich und kann sogar sinnvoll sein, – nicht aber eine erdumfassende Neutralität. Denn auch „Neutralität“ ist ein politischer Begriff und unterliegt damit der letzten Konsequenz einer Freund-Feind-Beziehung. Waltete also nur noch Neutralität auf der Erde, wären der Krieg und die Neutralität selbst am Ende. Denn jede Politik ende, wenn die reale Möglichkeit des Kampfes entfällt: „Maßgeblich ist immer nur die Möglichkeit dieses entscheidenden Falles, des wirklichen Kampfes, und die Entscheidung darüber, ob dieser Fall gegeben ist oder nicht“ (BP 35).

Nicht etwa in den Motiven,120 sondern erst im wirklichen Kampf zeigt sich die äußerste Konsequenz einer realen Freund-Feind-Konstellation, und von diesem Extremfall her „gewinnt das Leben der Menschen seine spezifische politische Spannung“ (BP 35): „Nichts“, so Schmitt, „kann dieser Konsequenz des Politischen entgehen“ (BP 36), nicht durch Verschleierung und nicht durch Negation. 2.5. Recht zum Krieg. „Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das ius belli, d.h. die reale Möglichkeit im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen.“ (BP 45) Schmitt rekurriert hier ganz die Staatsanschauung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, für die das ius belli das Wesen des Staates ausmachte. Dieses Recht zur Kriegsführung realisiere sich, indem das politisch geeinte und einige Volk zum Kampf für seine Unabhängigkeit und Freiheit gerüstet ist und eigenständig entscheidet, worin diese bestehen (vgl. BP 45/46).

119 Herv. Im Original. 120 Auf die Gründe der Feindschaft kommt es nicht an. Abzustellen ist nur auf „die im Begriff des Realen liegende Eventualität eines Kampfes“, der „die reale Möglichkeit der physischen Tötung“ von Menschen einschließt (BP 33). Die Möglichkeit des Ernstfalls (BP 30) bestimmt insoweit den maßgeblichen Zustand des Volkes, also den handelnden Staat (BP 39).

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Schmitt formuliert mit diesem Satz eine seiner völkerrechtlichen Grundpositionen: Ein souveräner Staat hat das Recht Krieg zu führen, was zugleich bedeutet, dass die Lehre vom gerechten Krieg mit dem Völkerrecht unvereinbar ist:121 „Daß die Gerechtigkeit nicht zum Begriff des Krieges gehört, ist seit Grotius im allgemeinen anerkannt. Die Konstruktionen, die einen gerechten Krieg fordern, dienen gewöhnlich selbst wieder einem politischen Zweck“ (BP 50).

Durch das Recht zum Krieg hat der Staat eine „ungeheure Befugnis“; er entscheidet offen über das Leben von Menschen, weil er von seinem Volk Todes- wie Tötungsbereitschaft einfordern kann (BP 46). Dieses Recht ist aber nicht normativ begründet, wie es normativ auch nicht begründbar ist, sondern es hat einen rein existenziellen Sinn, der sich in der Situation eines wirklichen Kampfes gegen einen wirklichen Feind beweist (BP 49): „Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch so schönes Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig dafür töten“ (BP 49/50).

So kann „unter keinem denkbaren Gesichtspunkt verlangt werden“, dass in einer ökonomisch bestimmten Gesellschaft, „irgendein Mitglied der Gesellschaft im Interesse des ungestörten Funktionierens sein Leben opfere“ (BP 48; 49). Eine derart konstruierte Gesellschaft verfüge über genügend ökonomisches Machtpotenzial, so lesen wir Schmitt, um auf ökonomisch bedingte Störungen mit einem angemessenen ökonomischen Instrumentarium antworten zu können. Gerechtfertigt könne das staatliche Verfügungsrecht über das Leben von Menschen122 nur werden, wenn die seinsmäßige Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso

121 Neumann (2015, S. 88.) 122 Dieses ius vitae ac necis kann auch einer Gemeinschaft innerhalb der politischen Verbindung zustehen, nicht aber das ius belli oder die hostis-Erklärung. Auch ist etwa das Recht der Blutrache im Kriegsfall zu suspendieren, „wenn überhaupt eine politische Einheit bestehen soll. Ein menschlicher Verband, der auf diese Konsequenzen der politischen Einheit verzichten wollte, wäre kein politischer Verband, denn er würde auf die Möglichkeit verzichten, maßgebend darüber zu entscheiden, wen er als Feind betrachtet und behandelt. Durch diese Macht über das physische Leben von Menschen erhebt sich die politische Gemeinschaft über jede andere Art von Gemeinschaft oder Gesellschaft“ (BP 48). Erst nach der politischen Gemeinschaft können Subgemeinschaften mit eigenen Strafregelungen bestehen.

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seinsmäßigen Negation dieser Existenzform auf dem Spiel stehe, wenn also Existenz gegen Existenz steht.123 Rechtsdogmatisch zielt diese Rechtfertigung auf einen übergesetzlichen Notstand.124 Die technische Entwicklung von Kriegswaffen hat für Schmitt zwar dazu geführt, dass sich die Anzahl kriegerischer Auseinandersetzungen verringert habe, jedoch in vielleicht noch stärkerem Maße „an überwältigender totaler Wucht“ zugenommen hat (BP 35). Dies zeitigt Konsequenzen: Kleinere Völker, die nicht über das notwendige militärische Potenzial zur Kriegsführung verfügen, müssen letztlich auf ihr souveränes Recht, Krieg zu führen, verzichten, sofern es ihnen nicht gelingt, eine richtige Bündnispolitik zu kreieren, die ihre Selbstständigkeit gewährleistet (vgl. BP 45 f.). 2.6. Freund-Feind-Bestimmung. „Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, wenn auch nur für den extremsten Fall – über dessen Vorliegen es selbst entscheidet – die Unterscheidung von Freund und Feind selbst bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz.“ (BP 50) Das politisch existierende Volk ist für Schmitt das maßgebende Subjekt. Fehlt diesem die Fähigkeit und der Wille zur Primärunterscheidung von Freund und Feind, ist es politisch nicht mehr existent. Lässt es einen Fremden bestimmen, wer Feind ist, ist es politisch nicht mehr frei und hat sich einem anderen politischen System unterworfen. Die Konsequenz: „Ein politisch existierendes Volk kann also nicht darauf verzichten, gegebenenfalls Freund und Feind durch eigene Bestimmung auf eigene Gefahr zu unterscheiden“ (BP 51).

Zwar könne, so Schmitt, der Krieg für internationale Streitfälle oder ein Einzelprojekt geächtet werden. Dies ändere nichts daran, dass der Krieg als solcher damit weder verdammt und geächtet ist, noch dass auf den Krieg als ein „Werkzeug internationaler Politik“ generell verzichtet wird – was auch gelte, wenn das Volk proklamiert habe, auf den Krieg als ein „Werkzeug internationaler Politik“ zu verzichten. Der Kellogg-BriandPakt vom 27. August 1928, ein völkerrechtlicher Vertrag zur Ächtung des Krieges und zur Reintegration Deutschlands in die Völkergemeinschaft,

123 Hofmann (1964, S. 106 f.). 124 Roellecke (2003, S. 99).

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wird unter dem Schmittschen Argumentationsstrang, basierend auf dem Freund-Feind-Kriterium, ad absurdum geführt: Erstens stehe eine solche Erklärung – ausgesprochen oder unausgesprochen – unter ganz selbstverständlichen Vorbehalten wie dem der Sicherung der eigenen staatlichen Existenz und der Selbstverteidigung. Zweitens seien diese Vorbehalte keineswegs Ausnahmen von der Norm, sondern sie gäben der Norm erst ihren konkreten Inhalt: „(…) es sind keine Ausnahmen vorbehaltende peripherische Einschränkungen der Verpflichtung, sondern normgebende Vorbehalte, ohne welche die Verpflichtung inhaltlos ist“ (PT 52).

Drittens entscheide ein unabhängiger Staat, solange er existiert, eben kraft dieser Unabhängigkeit selbst, ob der Fall eines Vorbehalts gegeben ist. Viertens könne man den Krieg als solchen überhaupt nicht ächten, sondern nur Völker oder Staaten mittels Ächtung zum Feind erklären. Im Übrigen entschärfe der Kellog-Pakt, den Schmitt in toto als taktisches Manöver wertete, die Freund-Feind-Unterscheidung keineswegs, „sondern gibt ihr durch neue Möglichkeiten einer internationalen Hostis-Erklärung neuen Inhalt und neues Leben“ (BP 52).125 Was aber, wenn ein Volk meint, doch auf den existenziellen Akt einer Feindbestimmung verzichten zu können? Dann, so Schmitt, höre das politische Leben auf: Erkläre ein Teil des Volkes, keinen Feind mehr zu kennen, wechsele es automatisch auf die feindliche Seite, was aber die Feindbestimmung nicht aufhebe. Das gelte auch, wenn sich ein Volk freiwillig selbst entwaffnet und nur noch Freundschaftsbezeugungen proklamiert. Die Welt werde dadurch nicht entpolitisiert, „nicht in einen Zustand reiner Moralität, reiner Rechtlichkeit oder reiner Wirtschaftlichkeit versetzt“ (BP 53).

Fürchtet ein Volk gleichwohl die Mühen und das Risiko seiner eigenen politischen Existenz, „so wird sich eben ein anderes Volk finden, das ihm diese Mühen abnimmt, indem es seinen ‚Schutz gegen äußere Feinde‘ und damit die politische Herrschaft übernimmt; der Schutzherr bestimmt dann den Feind, kraft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam“ (BP 53).126

125 Die „Väter des Paktes“ sind „mit Sicherheit aus allen Wolken gefallen“, als sie die Schmittsche Interpretation lasen, die sie als „Feind-Erklärung“ verstehen mussten“ (Roellecke 2003, S. 99). 126 Herv. im Original.

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Schmitt benennt in aller Klarheit die letzte Konsequenz der Nicht-mehrOrientierung eines Volkes am Ernstfall. Es löscht sich durch Entpolitisierung aus bzw. es wird ausgelöscht – das Politische aber bleibt bestehen.127 2.7. Pluralismus der Staatenwelt. „Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der Staatenwelt“ (BP 54). Wir hatten gesehen, dass der Begriff des Staates den Begriff des Politischen und der Sinn des Politischen die Unterscheidung von Freund und Feind ist (BP 20). Folgt man dieser Auffassung Schmitts, ist es zwingend, dass der Begriff des Staates die Existenz anderer Staaten verlangt, weil nur daraus Freund-Feind-Beziehungen erwachsen können und dann innerhalb dieser Staatenkonstellation, die Schmitt als Pluriversum bezeichnet, das Politische überhaupt erst möglich ist. Deshalb kann es keinen die ganze Erde und die ganze Menschheit umfassenden „Weltstaat“ geben – und hat es noch nie gegeben (BP 54). „Die politische Einheit kann ihrem Wesen nach nicht universal in dem Sinne einer die ganze Menschheit und die ganze Erde umfassenden Einheit sein“ (BP 54).128

In einem qua definitionem entpolitisierten Weltstaat129 verblieben nur noch „eine politikreine Weltanschauung, Kultur, Zivilisation, Wirtschaft, Moral, Recht, Kunst, Unterhaltung usw., aber weder Politik noch Staat“ (BP 54).130 Ein Weiteres treibt Schmitt: Wenn Großmächte kriegerische 127 „Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk“ (BP 54). 128 Hofmann (1964, S. 110) zitiert Leopold von Ranke: „Die Idee des Staates würde vernichtet (…) werden, wenn er die Welt umfassen wollte: Staaten sind viele.“. 129 Gegen diese Argumentation Schmitts wendet Ottmann (2010, S. 247) ein, dass ein Weltstaat nicht zwingend unpolitisch sein müsse, weil ihm ein Feind fehle: „Aber der Mensch hat sich selber zum Feind“. Ein Weltbürgerkrieg könne deshalb nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. 130 Schmitt fährt fort: „Ob und wann dieser Zustand der Erde und der Menschheit eintreten wird, weiß ich nicht. Vorläufig ist er nicht da. Es wäre eine unehrliche Fiktion, ihn als vorhanden anzunehmen (…)“ (BP 54). Das sind Formulierungen, die sich zu der These von der „Konsequenz des Politischen“, der man nicht entrinnen könne, querstellen, so Hofmann (1964, S. 111): „Damit ist immerhin die Möglichkeit der (undialektischen) Aufhebung des Politischen eingeräumt.“ Schmitt postuliere nur das Problem: „Es liegt aber nahe, die Frage zu stellen, wel-

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Auseinandersetzungen vermieden, weil diese leicht zu einem „Weltkrieg“ eskalieren könnten, dann müsste dessen Beendigung den „Weltfrieden“ und so „jenen idyllischen Endzustand der restlosen und endgültigen Entpolitisierung darstellen“ (BP 54).131 Staaten können, wie gesehen, nach klassischem Völkerrecht jederzeit, prinzipiell und nach eigenem Ermessen das ius belli ausüben, die Menschheit, die kein Völkerrechtssubjekt ist – „Menschheit ist kein politischer Begriff (…), auch keine politische Einheit (…) und kein Status“ (BP 55) – folglich nicht. Die Menschheit habe auf diesem Planeten auch keinen Feind.132 Carl Schmitt warnt aber: Die Menschheit selbst könne keine Kriege führen, im Namen der Menschheit jedoch könnten Kriege geführt werden.133 Dies habe als ein Mittel der psychologischen Kriegsführung „einen besonders intensiven politischen Sinn“ (BP 55), der mit der Okkupation des Begriffs „Menschheit“ die moralische Überlegenheit für sich zu reklamieren sucht, um seine wahren Zwecke zu kaschieren.134 Die Beschlagnahme des Begriffs der „Menschheit“ kann nach Schmitt den „schrecklichen Anspruch“ manifestieren, „daß dem Feind, die Qualität des Menschen abgesprochen (…) und dadurch der Krieg zur äußersten Unmenschlichkeit getrieben werden soll“ (BP 55).

Schmitt, der dem Völkerbundkonstrukt misstraute, unterscheidet drei tragende Ideen dieser Institution: Erstens führt er den Völkerbund als einen polemischen Gegenbegriff gegen den des Fürstenbundes im 18. Jahrhundert an (BP 56). Ein Völkerbund könnte zweitens als ein „ideologisches

131 132 133 134

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chen Menschen die furchtbare Macht, die mit einer erdumfassenden, wirtschaftlichen und technischen Zentralisation verbunden ist, zufallen wird“ (BP 58; kursiv im Original). Das Problem lässt sich mit der Hoffnung auf eine selbstläufige Selbstverwaltung nicht abweisen, „und eine Regierung von Menschen über Menschen sei überflüssig geworden, weil die Menschen dann absolut ‚frei‘ sind; denn es fragt sich gerade, wozu sie frei werden“ (BP 58; Herv. im Original). Die Vermutungen laufen auf ein anthropologisches Glaubensbekenntnis hinaus (siehe Schlüsselsatz VII). Vgl. Hofmann (2003, S. 113). Siehe aber Ottmann (2010, S. 247). Hier kann letztlich derselbe Missbrauch vorliegen, wie bei der Instrumentalisierung der Begriffe Frieden, Gerechtigkeit, Fortschritt, Zivilisation für Kriegszwecke (BP 55). „‘Menschheit‘ ist ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen und in ihrer ethisch-humanitären Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus“ (BP 55).

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Instrument des Imperialismus eines Staates oder einer Staatenkonstellation“ sein, das gegen einen oder mehrere andere Staaten gerichtet ist (BP 56). Und ein die ganze Menschheit umfassender Völkerbund könne drittens „einen unpolitischen Idealzustand der Universal-Gesellschaft ‚Menschheit‘ organisieren“ − woraus nach Schmitt umgehend die völlige Entpolitisierung und damit die „Staatenlosigkeit“ des Universums resultieren würden (BP 56). All dies berücksichtigend bestehe der 1919 gegründete „Völkerbund“ als ein „widerspruchsvolles Gebilde“, als eine zwischenstaatliche, Staaten voraussetzende Organisation, die einige der staatlichen Beziehungen regelt „und sogar ihre politische Existenz“ auf der Basis des Status quo135 garantiert (BP 56), aber eben „nur“ auf der Basis eines – so ist mit Schmitts Blick auf Deutschland zu ergänzen – ungerechten und unhaltbaren Status quo, der sich selbst ja seit 1923 im „Kampf mit Weimar – Genf – Versailles“ sieht (s. PB).136 Streng genommen ist der Völkerbund – wie die UNO – juristisch nur eine „zwischenstaatliche Organisation“137 (BP 56). Der Völkerbund hebt für Schmitt ob seiner Basierung auf Staaten folglich auch die Möglichkeit von Kriegen nicht auf, im Gegenteil: „Er führt neue Möglichkeiten von Kriegen ein, erlaubt Kriege, fördert Koalitionskriege und beseitigt eine Reihe von Hemmungen dadurch, daß er gewisse Kriege legitimiert und sanktioniert“ (BP 57).

Tendenzen zur Universalität sah Schmitt auf humanitärer, nicht-politischer Ebene und zwischenstaatlicher Verwaltungstätigkeit; Beispiele sind etwa die Verwaltung des Saarlandes, der Minderheitenschutz und die Flüchtlingshilfe (BP 57). Ansonsten verblieben Widersprüche, denn: „Ein Völkerbund als konkret existierende universale Menschheitsorganisation dagegen müßte die schwierige Leistung vollbringen, erstens allen bestehenbleibenden menschlichen Gruppierungen das ius belli effektiv wegzunehmen und zweitens trotzdem selber kein ius belli zu übernehmen, denn sonst wären Universalität, Menschheit, entpolitisierte Gesellschaft, kurz alle wesentlichen Merkmale wieder entfallen“ (BP 57/58).

Ein Welt„staat“ bleibt bei Schmitts bekannter Argumentation ausgeschlossen und deshalb eine Redensart. Eine „unpolitische“ Welt„einheit“ hingegen sieht Schmitt im Bereich des Möglichen, als eine „nur wirtschaftliche

135 Ottmann (2010, S. 246). 136 Siehe (PuB) s. hier das Kapitel: Völkerrecht und internationale Beziehungen. 137 Zur Erläuterung auch in Bezug auf die UN siehe Hofmann (2003, S. 117 f.).

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und verkehrstechnische“ und möglicherweise sogar als eine „kulturelle, weltanschauliche oder sonst wie ‚höhere‘ Einheit (…)“ (BP 58). Heute würde man eine solche Einheit wohl als stark globalisiert bezeichnen. Allein fehlt auch ihr der Gegenpart, weshalb sie über den Status einer „sozialen Einheit“ nicht hinausreicht. Da sie zudem eine „unpolitische Einheit“ bildet, „wäre sie eine zwischen den Polaritäten von Ethik und Ökonomie einen Indifferenzpunkt suchende Konsum- und Produktivgenossenschaft“ (BP 58).

Schmitt sehe diese Genossenschaft als eine „mindere Form kollektiver Existenz“, so Hofmann, da sie des „nötigen existenziellen Ernstes zu entbehren scheint (vgl. BP 30, 35, 39 f., 43, 46, 49 f.)“,138 und die zudem „jeden politischen Charakter verloren“ hat (BP 58). Trotzdem räumt Schmitt „einer erdumfassenden wirtschaftlichen und technischen Zentralisation“ das Potenzial „furchtbare(r) Macht“ ein und stellt die Frage in den Raum, welchen Menschen sie denn zufalle (BP 58). Zu hoffen, alles werde von selbst gehen, die Dinge würden „sich selbst verwalten“ und Regierungen von Menschen über Menschen würden sich erübrigen, „weil die Menschen dann absolut ‚frei‘ sind“, beantworte diese Frage nicht, „denn es fragt sich gerade, wozu sie ‚frei‘ werden“ (BP 58).139. Gleich, ob man darauf optimistisch oder pessimistisch antworte, liefen alle derartigen Vermutungen auf ein „anthropologisches Glaubensbekenntnis“ hinaus (BP 58). 2.8. Politische Anthropologie. „Man könnte alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen ‚von Natur bösen‘ oder einen ‚von Natur guten‘ Menschen voraussetzen“ (BP59). Die Beantwortung der im Vorkapitel gestellten anthropologischen Frage erörtert Schmitt umgehend in einem Methodenkapitel, um sofort zu postulieren, dass man alle politischen Theorien und Ideen auf ihre Auffassung von der Natur des Menschen prüfen kann. Es ergebe sich, so Schmitt, eine Zweiteilung. Die eine Linie setzt einen „von Natur bösen“, die andere

138 Hofmann (2003, S. 120). 139 Herv. im Original.

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einen „von Natur guten“ Menschen voraus.140 Erst diese Dichotomie ermögliche, führt Schmitt aus, die Freund-Feind-Distinktion und schaffe so einen politischen Raum. Derart könnten alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie zurückgeführt werden, weshalb sie sich als „politische Anthropologien“141 qualifizieren. Auf den politischen Anthropologien gründeten dann Herrschaftstheorien mit der Grundthese: Je stärker man den Menschen als „gut“ betrachte, desto weniger Herrschaft müsse man ihm auferlegen – und umgekehrt.142 Weil Schmitts Sphäre des Politischen durch das Freund-Feind-Kriterium bestimmt ist, bleibt ihm letztlich keine Wahlmöglichkeit. Folgerichtig stellt er die These auf, „daß alle echten politischen Theorien den Menschen als ‚böse‘ voraussetzen, d.h. als keineswegs unproblematisches, sondern als ‚gefährliches‘ und dynamisches Wesen betrachten“ (BP 61).

Zur Fundierung seiner These benennt er einmal die Vertreter „echter politischer Theorien“ – Macchiavelli, Hobbes, Bousset, Fichte, de Maistre, Donoso Cortés, Taine und Hegel – als Kronzeugen, weiterhin Sorel, Maurras und Pareto.143 Schmitt beruft sich zweitens auf die philosophisch-anthropologische Sicht Helmuth Plessners (BP 60) und bezieht sich drittens theologisch auf das Dogma der katholischen Erbsündenlehre mit dem er seine Anthropologie theologisch unterbaut. 144, Erstens. Aus dem Kreis der politischen Denker, „so verschieden diese Denker nach Art, Rang und geschichtlicher Bedeutung sein mögen“, die von einer „problematischen Auffassung der menschlichen Natur“ (BP 61) ausgehen, hebt Schmitt nicht Hobbes, sondern Hegel heraus, weil dieser überall im größten Sinne politisch bleibe (BP 62). Insbesondere Hegels „polemisch-politische Definition des Bourgeois“ findet Schmitts Beifall (BP 62). Der Bourgeois sei ein Mensch, „der die Sphäre des unpolitisch risikolos Privaten nicht verlassen will, der im Besitz und in der Gerechtigkeit des privaten Besitzes sich als einzelner gegen

140 Ausführlicher s. hier das Kapitel Der Katholizismus des Carl Schmitt. Die anthropologische Unterscheidung zwischen „Gut“ und „Böse“ kann auch unbewusst getroffen werden (BP 59). 141 Vgl. Tietz (2003, S. 123). 142 Vgl. Ottmann 2010, S. 247). 143 Siehe Maschke (2012, S. 161). 144 Grundsätzlich dazu Hernández-Aria (1998); Heinrich Maier (1988 und 2009); siehe weiter Ruth Groh 1998 und Alfons Motschenbacher (2000).

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das Ganze verhält, der den Ersatz für seine politische Nullität in den Früchten des Friedens und des Erwerbes und vor allem ‚in der vollkommenen Sicherheit des Genusses derselben findet‘, der infolgedessen der Tapferkeit überhoben und der Gefahr eines gewaltsamen Todes entnommen bleiben will“ (BP 62145).

Auch die Hegel-These vom Umschlagen der Quantität in Qualität sieht Schmitt als eine politische an, weil Hegel erkannt habe, dass von jedem Sachgebiet aus das Politische und damit eine „qualitativ neue Intensität menschlicher Gruppierungen“ erreichbar ist (BP 62) 146. Schmitt bekräftigt, dass politische Theoretiker wie Machiavelli und Hobbes mit ihrem Pessimismus nur die „reale Wirklichkeit“ oder die „Unterscheidung von Freund und Feind“ voraussetzten (BP 64). Hobbes negatives Menschenbild, seine Auffassung, dass moralisierende Überzeugungen die schlimmsten Feindschaften begründeten, und seine These vom Krieg „Aller gegen Alle“ seien deshalb „als die elementaren Voraussetzungen eines spezifisch politischen Gedankensystems zu werten (BP 64 f.). Immer mit der realen Existenz eines Feindes kalkulieren zu müssen, erschrecke zwar „sekuritätsbedürftige Menschen“, die – sei sie auch bloße Illusion – ihre ungefährdete Ruhe liebten. Dieser Charakterzug bilde jedoch das Einfallstor für die Gegner einer klaren politischen Theorie (BP 65). Zweitens. Schmitt stützt sich in der zweiten Ausgabe seines Begriffs des Politischen von 1932 auf die philosophisch-anthropologische Sicht Helmuth Plessners und vor allem auf dessen Schrift Macht und menschliche Natur (1931), die Schmitt als „modern“ bewertet, weil sie – im Gegensatz zu Schmitt selbst – nicht von theologischen Voraussetzungen ausgeht.147 Schmitt wie Plessner versuchen mit ihrem politanthropologischen Ansatz, die Politik aus einem „existenzphilosophischen Begriff des menschlichen Wesens zu deuten“.148 Es gebe, so zitiert Schmitt Helmuth Plessner, keine Philosophie und keine Anthropologie ohne politische Relevanz, wie es umgekehrt auch keine philosophisch irrelevante Politik gebe (BP 60). Zentral in der Beziehung von Schmitt zu Plessner ist der Begriff der „Abstandnahme“: der Mensch sei als „ein primär Abstand nehmendes Wesen“

145 Zitat von Hegel. 146 Näher dazu, auch zum Feind-Begriff Hegels – „er ist die sittliche (…) Differenz als ein zu negierendes Fremdes in seiner lebendigen Totalität“ – siehe (BP 62 f.). 147 In der Ausgabe von 1933 entfällt der Bezug auf Ples sner wieder. 148 Sluga (2014, S. 224).

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(…) „unbestimmt und unergründlich“ und bleibe mithin eine „offene Frage“. Gerade deshalb gehöre die Freund-Feind-Unterscheidung zur Wesensverfassung des Menschen, der – in Gemeinschaft lebend – „eine Eigenzone gegen eine Fremdzone“ behaupten müsse; diese Form der menschlichen Abstandnahme gehöre notwendig zur Grundverfassung des Menschen.149 Die Frage, ob und inwieweit die politische Anthropologie Plessners im Zusammenhang mit Der Begriff des Politischen zu lesen ist, ist in der Literatur umstritten. Rüdiger Kramme will den Nachweis liefern, dass Plessners Versuch zur politischen Anthropologie – ausgeführt vor allem in Macht und menschliche Natur – tatsächlich geeignet sei, die „‚Leerstelle‘150 einer basalen Anthropologie in Schmitts politischer Theorie einzunehmen“151, die Schmitt versäumt habe, auszufüllen152. Grundlegung dieser These sind die herausgearbeiteten strukturellen Übereinstimmungen.153 Unter Bezugnahme auf Kramme pointiert Balke, dass Schmitts Begriff von der Gefährlichkeit des Menschen inhaltlich nur zu verstehen sei, wenn man die „Pointe“ des vorausgesetzten Begriffs des Politischen kenne, der nach Balke selbst eine implizite Anthropologie enthalte.154 In einer entzauberten Welt (Max Weber), in der alle Weltbilder durchrelativiert und alle natürliche Legitimität verlustig gegangen seien, sei der Mensch „wahrhaft auf nichts gestellt“ und wird sich so seiner Kontingenz

149 Vgl. Tietz (2003, S. 125). 150 In ihren Arbeiten hatten von Krockow (1958), Laufer (1962), Hofmann (1964) und Schmitz (1965) moniert, dass das „anthropologische Glaubensbekenntnis Schmitts“ nur unzureichend fundiert worden sei. Laufer hatte Schmitts politischer Anthropologie zudem die Wissenschaftlichkeit abgesprochen (siehe Balke 1990: 37 f.). 151 Kramme (1989, S. 159). 152 Balke (1990, S. 39). 153 Ebd. 154 Balke (1990, S. 38). Balke bezeichnet Schmitts anthropologischen Pessimismus als zu naiv und unergiebig, um die Fundierung des vorgeschlagenen Politikbegriffes leisten zu können, Schmitts Ausführungen seien zudem nur ein „zitativer Diskurs“ (ebd.). Nur dass es eben der Schmitt ist – Ruth Groh hat Recht – der den „ zitativen Diskurs“ nachgerade als eine rhetorische Kunstform handhabt, um eigene Positionen von Gewährsmännern vortragen zu lassen (vgl. Groh 1998, S. 210). Dies in Kürze, wir können im Rahmen dieser Arbeit die Argumentationen und Gedankenlinien nicht im Einzelnen entfalten. Siehe dazu Balke (1990), Kramme (1989), Groh (1998) und Tietz (2003) nebst der dort genannten Sekundärliteratur.

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bewusst. 155 Er hat sich deshalb dem Zwang zu unterwerfen, die Offenheit der Welt „wagnisbereit“ in seine eigene Umwelt einzuarbeiten: „Das Leben des Menschen wird grundsätzlich politisch, weil es sich in seinem konkreten Verlauf einzig noch normativ ungebundenen Entscheidungen verdankt, zu denen der Mensch – der dadurch erst Souveränität erlangt – sich je selbst ermächtigt“.156

Hingegen sucht und betont Bielefeld (1994) die strukturalen Differenzen von Plessner und Schmitt. Auch Tietz hebt eher die Unterschiede hervor: Die zweifellos vorhandenen „strukturellen Übereinstimmungen“ in beiden Schriften aber ließen eine Argumentation nicht zu, die eine umstandslose Übertragung von Plessners politischer Anthropologie auf Schmitts politische Theorie behaupte.157 Plessners Arbeit sei für Schmitt „hochwillkommen“ gewesen, betont Ruth Groh, weil sie seine eigene negative Anthropologie rein wissenschaftlich untermaure.158 Im Ergebnis liefen – trotz unterschiedlicher Begründung – beide Konzepte letztlich auf „dasselbe hinaus: auf eine ‚positive(n) Beziehung zur Gefahr und zum ‚Gefährlichen‘. Sie sind dem ‚Bösen‘ näher als dem ‚Guten‘“.159 Im Übrigen bedürften die Schmitt enttheologisierenden Darstellungen von Kramme (1989) und Balke (1990) angesichts der Arbeiten von Heinrich Meier und Günter Meuter ohnehin der Revision.160 Drittens. Mit dieser Kritik Ruth Grohs (1998) finden wir uns wieder auf dem Gebiet der theologischen Interpretationen der Werke Schmitts.161 Dieser begründet den „Zusammenhang politischer Theorien mit theologischen Dogmen der Sünde“ – auffällig hervortretend bei Bossuet, Maistre, Bonald, Donoso Cortés und F. J. Stahl – ob der Verwandtschaft ihrer Denkvoraussetzungen: „Das theologische Grunddogma von der Sündhaftigkeit der Welt und der Menschen führt (…) ebenso wie die Unterscheidung von Freund und Feind zu einer Einteilung der Menschen, zu einer ‚Abstandnahme‘ (sic!) und macht den unterschiedslosen Optimismus eines durchgängigen Menschenbegriffs unmöglich“ (BP 64).

155 156 157 158 159 160 161

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Plessner (1975, S. 293). Balke (1990: 40; Herv. im Original). So Tietz (2003, S. 126). Groh (1998, S. 210). Ebd. Ebd. Gemeint ist Grohs polit-theologischer Ansatz. Siehe hier die Kapitel Politische Theologie und Der Katholizismus des Carl Schmitt.

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Es war Heinrich Meier, der in seiner Abhandlung Carl Schmitt, Leo Strauss und ‚Der Begriff des Politischen‘, Zu einem Dialog unter Abwesenden (1988) herausgearbeitet hat, dass das katholische Dogma der Erbsünde ein wesentlicher Bestandteil der politischen Theologie Schmitts ist.162 Die Erbsünde sei „Dreh- und Angelpunkt des anthropologischen Glaubensbekenntnisses von Carl Schmitt“.163 Zu diesem Dogma zähle die „natürliche Bosheit“ des Menschen. Inwieweit sich Schmitt der radikalen Auslegung von Donoso Cortéz annähert, indem Schmitt u.a. konstatiert, dass die Verachtung des Menschen durch Cortéz keine Grenzen mehr kenne, muss hier offenbleiben.164 Cortéz Auslegung jedenfalls steht gegen die Auffassung des Konzils von Trient (1545-1563), das die Erbsünde durch Christus in der Taufe als vollkommen getilgt sieht. Zudem habe die Kirche „immer wieder und zu allen Zeiten den die Sünde übersteigenden universalen Heilswillen Gottes betont, der bei Carl Schmitt freilich keinen Platz hätte“.165

Maschke sieht einen das Gesamtwerk Schmitts durchziehenden Zwiespalt bei der Frage, ob der Mensch in erster Linie „böse“ oder nur „gefährlich“ sei. Zwar sei er, wenn „böse“, auch „gefährlich“, doch der theologische Ansatz könnte dann die Vernichtung des ‚Bösen‘ nahelegen. Ist er jedoch nur gefährlich, „steht dem Weg in den Liberalismus grundsätzlich nichts entgegen (…) So oder so wird hier eine wichtige These Schmitts deutlich: Die Feindschaft und ihre Anerkennung gehören zum Humanum, ja konstituieren es geradezu, – ihre Leugnung und Verdrängung führt aber mit Sicherheit in die Unmenschlichkeit und Barbarei des diskriminierenden Krieges, in die totale Feindschaft“.166

Als der eigentliche Gegner Schmitts und seiner negativen politischen Anthropologie ist in seinen Arbeiten aber letztlich der Anarchismus auszumachen, dessen „Überzeugung von der natürlichen Güte des Menschen“ er kurzweg als eine ‚anarchistische Lehre‘ behandelt“.167 Schmitt selbst er-

162 Man dürfe, so Ottmann, im Hintergrund der Anthropologie vermuten, was bisher verdeckt blieb: die Andeutung von Schmitts religiösem Weltbild (Ottmann 2010, S. 247).. 163 Quaritsch (1991, S. 38) mit weiteren Nachweisen. 164 Siehe hier in Politische Theologie den Teil Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution. 165 Motschenbacher (2000, S. 87). 166 Maschke (2012, S. 160). 167 Ball (1924, S. 274).

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klärt die negative anthropologische Position zu einem „Axiom, um die staatliche Autorität zu begründen“ (DD 9). Schon hier zeige sich, dass die politische Theologie Schmitts in erster Linie im Dienst der Herrschaft stehe.168 Schmitt resümiert diesen Themenkomplex selbst: An der Freund-FeindUnterscheidung haben sich politisches Denken wie politischer Instinkt zu bewähren. Die Feinde konkret zu identifizieren, sieht er als die „Höhepunkte der großen Politik“ an (BP 67).169 Die Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu dieser Unterscheidung ist bereits das „Symptom des politischen Endes“ (BP 67). 2.9. Liberalismuskritik. „Durch den Liberalismus des letzten Jahrhunderts sind alle politischen Vorstellungen in einer eigenartigen und systematischen Weise verändert und denaturiert worden“ (BP 68). Schmitt schließt seinen Gedankengang mit einer pointierten und fundamentalen Kritik der Theorie des Liberalismus170. Schon in seiner Parlamentarismus-Schrift hatte er die Notwendigkeit betont, „den Liberalismus als konsequentes, umfassendes, metaphysisches System zu sehen“ (GLP 45), um nunmehr die Frage zu stellen, „ob aus dem reinen und konsequenten Begriff des individualistischen Liberalismus eine spezifisch politische Idee gewonnen werden kann. Das ist zu verneinen“ (BP 69).

Schmitt lässt keinen Zweifel, dass die problematische Lage Weimars auf die „ideologische Verblendung der Akteure durch den Liberalismus“ zurückzuführen sei.171 Aus der Sicht Schmitts gilt es folglich, das ursprüngliche Wesen des Politischen wieder ins Recht zu setzen, negiere doch der schrankenlos-liberale Individualismus die Politik wie den Staat, was zu einer „Praxis des Mißtrauens gegen alle denkbaren politischen Mächte und

168 Motschenbacher (2000, S. 89) Näher dazu siehe hier das Kapitel Politische Theologie. 169 Der „mächtigste Ausbruch einer solchen Feindschaft“ in der Neuzeit ist für Schmitt der Kampf Cromwells gegen das papistische Spanien (BP 67; zu Cromwell siehe auch DD 135 f.). 170 Gusy weist darauf hin, dass Schmitt immer vom „Liberalismus“ schreibe, nicht von einzelnen liberalen Theoretikern oder Schulen. 171 Mehring (2007, S. 520).

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Staatsformen führt“ (BP 69). Der Liberalismus stelle den Staat gleichsam unter Missbrauchsverdacht. Es kann für Carl Schmitt mithin keine liberale Politik geben, sondern immer nur eine liberale Kritik an der Politik, weil es gilt, zum Schutz der individuellen Freiheit und des Privateigentums die Staatsgewalt zu hemmen und zu kontrollieren (s. BP 69). Der Platz des Liberalismus ist also die staats- und herrschaftsfreie Gesellschaft172, in der er sich „in einer typischen, immer wiederkehrenden Polarität von zwei heterogenen Sphären, nämlich von Ethik und Wirtschaft, Geist und Geschäft, Bildung und Besitz [bewegt]“ (BP 69).

Der ethische, konsequent individualistische Liberalismus habe seine Stärken auf den Feldern der Ethik, des Geistes und der Bildung (s. BP 69). Jede Gefährdung des Individuellen, von Privateigentum und freier Marktkonkurrenz „heißt ‚Gewalt‘ und ist eo ipso etwas Böses“ (BP 70). Todesbereitschaft, die die politische Einheit im Ernstfall von den Bürgern ja einfordern könne und müsse, sei unter liberal-individueller Prämisse als nicht begründbar ausgeschlossen (BP 70). Derart, so Schmitt, sei ein ganzes System entmilitarisierter und entpolitisierter Begriffe geschaffen worden: der politische Begriff des „Kampfes“ mutiere auf der wirtschaftlichen Seite zur „Konkurrenz“ und auf der geistigen Seite zur „Diskussion“, die Unterscheidung von „Krieg“ und „Frieden“ werde durch die Dynamik ewiger Konkurrenz und ewiger Diskussion ersetzt. Zu Recht spitzt Gusy zu: „ Sein (des Liberalismus, w.a.m.) Medium ist die Diskussion (BP 70 f.), sein zentrales Instrument das Pathos (BP 72)“173 Das Resultat diese Ansatzes ist: „Der Staat wird zur Gesellschaft, und zwar auf der einen, der ethisch-geistigen Seite zu einer ideologisch-humanitären Vorstellung von der „Menschheit“; auf der andern zur ökonomisch-technischen Einheit eines einheitlichen Produktions- und Verkehrssystems. (…) Aus Herrschaft und Macht wird an dem geistigen Pol Propaganda und Massensuggestion, an dem wirtschaftlichen Pol Kontrolle“ (BP 71)174.

Der Liberalismus ist in Schmitts Augen gleichsam der Türöffner für die ökonomischen und technologischen Kräfte, die immer stärker auf die politische Macht einwirken, weil er es darauf anlegt,

172 Gusy (2003, S. 140). 173 Ebd. S. 141. Siehe dazu auch die Darstellung in GLP 45 ff. 174 Herv. im Original.

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„Staat und Politik teils einer individualistischen und daher privat-rechtlichen Moral, teils ökonomischen Kategorien zu unterwerfen und ihres spezifischen Sinns zu berauben“ (BP 71).

Das Ergebnis ist eine „Ausdifferenzierung“175 der Gesamtheit des Politischen in spezialisierte, isolierte und autonome Sachgebiete (BP 71). Insbesondere die „Wendung zum Ökonomischen“ (BP 73), die Selbstständigkeit der Normen und Gesetze des Sachgebiets der „Ökonomie“, hätten sich, beklagt Schmitt, mit „unbeirrter Sicherheit“ durchgesetzt. Und Produktion und Konsum, Preisbildung und Markt hätten sich ihre eigene, nichtdiskutierte und unbezweifelbare Sphäre geschaffen – nicht dirigierbar von Ethik und Ästhetik, nicht von der Religion und am allerwenigsten von der Politik.176 Die politischen Gesichtspunkte selbst hingegen wurden „mit besonderem Pathos jeder Gültigkeit beraubt und den Normativitäten und ‚Ordnungen‘ von Moral, Recht und Wirtschaft unterworfen“ (BP 72). Mit dieser Parzellierung, der nachfolgenden Spezialisierung und der gänzlichen Isolierung aller Gebiete menschlichen Wirkens verschwinde für den ethischen Liberalismus das die autonomen Teilgebiete überwölbende Ganze aus dem Blickfeld. Das habe zur Folge, dass der Liberalismus keine allgemeingültigen ethischen Maßstäbe mehr kenne und deshalb auf einzelne Lebenssachbereiche verweisen müsse. So verbleibt für Schmitt nur ein Liberalismus des Wortes, charakterisiert fast in Gänze nur durch das „Pathos“: „Das so entstehende Dilemma aus pathetischem Anspruch und materialer Ergebnisarmut mündet in eine Aporie ein: Liberale Ethik postuliert, was sie selbst inhaltlich nicht konkretisieren kann“177.

Der ökonomische Liberalismus entsteht so für Schmitt aus der Kritik an der staatlichen und politischen Gewalt178, der er aber gerade die Forderung nach der Schaffung und Sicherung von Freiheit entgegenstellt (BP 70). Die „außerordentlich komplexe Koalition von Wirtschaft, Freiheit, Ethik und Parlamentarismus“ (BP 75) habe die Reste des absolutistischen Staates und die Feudalaristokratie beseitigt, zum Sieg des liberalen Wirtschaftsbürgertums geführt und die liberal organisierte, autonome Sphäre

175 Wir verwenden diesen Begriff im Sinne Luhmanns. 176 Diese Auffassung „galt als eines der wenigen wirklich undiskutierbaren Dogmen dieses liberalen Zeitalters“ (BP 71/72). 177 Gusy (2003, S. 142). 178 „Von Anfang an erhob das liberale Denken gegen Staat und Politik den Vorwurf der ‚Gewalt‘“ (BP 72).

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der „Gesellschaft“ geschaffen. Die Gesellschaft werde als eine Sphäre des Friedens postuliert und alle Attribute des Staatlichen: Krieg, Gewalt und Herrschaft, als immoralisch und fremd degradiert.179 Dieses gesellschaftliche Konstrukt positiv zu bestimmen, ist aber Schmitts Sache nicht, – die moralische und psychologische Bewertung von Staat und Gesellschaft erklärt er schlicht für nicht zulässig: „Die Rollen sind vertauscht, die Apotheose ist geblieben. Aber es ist eigentlich doch nicht zulässig und weder moralisch noch psychologisch, und am wenigsten wissenschaftlich in Ordnung, einfach mit moralischen Disqualifikationen zu definieren, indem man den guten, gerechten, friedlichen, mit einem Wort sympathischen Tausch der wüsten, räuberischen und verbrecherischen Politik gegenüberstellt. (…) Tausch und Täuschen sind oft nahe zusammen“ (BP 76).

Gleichheit, Gegenseitigkeit, Gerechtigkeit und Frieden – diesen vom Liberalismus postulierten Zielen steht die traurige Wirklichkeit entgegen, für Schmitt ein „furchtbarer Betrug“: „Der Begriff des Tausches schließt es keineswegs begrifflich aus, daß einer der Konkurrenten einen Nachteil erleidet und ein System von gegenseitigen Verträgen sich schließlich in ein System der schlimmsten Ausbeutung und Unterdrückung verwandelt. (…) Auf die Heiligkeit der Verträge und den Satz pacta sunt servanda berufen sich leider auch Wucherer und Erpresser“ (BP 76)180.

Die reale Entwicklung zur Unfreiheit erfolgt unter der pathetischen Parole der Freiheit. Dieses Paradoxon sei für den Liberalismus immanent nicht erkennbar und nicht vermeidbar, zur Selbstkritik und Selbstkorrektur aber sei er nicht in der Lage.181 Die Folge sei, dass die ökonomischen Verwerfungen Widerstand herausfordern, der ob der bestehenden Machtverhältnisse nur ein außerökonomisch-gewaltsamer sein könne, aber die Gegengewalt der Wirtschaftsmacht herausfordere: „An die Stelle des Vertrages trete der Konflikt, an die Stelle des Tausches der Kampf“, was die Konsequenz habe, dass „die – nicht liberal gedachten – Sphären von Staat und Politik ihr eigenes Recht (fordern)“182. So entfalten sich im Falle eines

179 Vgl. Gusy (2003, S. 142 f.). 180 Herv. im Original. Zur Anwendung dieser Interpretation des Liberalismus auf den Vertrag von Versailles und den Völkerbund siehe (BP 72; 77; Gusy 2003, S. 142, Fn. 7). 181 Gusy (2003, S. 144 f.). 182 Ebd., S. 145.

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Marktversagens Staat und Politik in einer Doppelfunktion als Garanten und als mögliche Korrektive eines ökonomischen Liberalismus, indem der Staat seiner Reservefunktion nachkommt.183 Ein starker Staat garantiert so paradoxerweise die liberale ökonomische Freiheit – und doch bleiben Staat und Politik Gegner, weil es nach Schmitt in der Logik des Liberalismus liegt, die liberalen Prinzipien auf den Staat auszudehnen. Dazu müsse der nicht-radikale „bürgerliche Liberalismus“ (BP 61) zur geistigen Basis dafür werden, den Staat in den Dienst der Gesellschaft zu stellen und ihn ihr unterzuordnen (BP 60). 3. Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929).184 3.1. Geschichtsphilosophie und Kulturverfall. Dieser Vortrag und spätere Aufsatz Carl Schmitts korrespondiert eng mit der Schrift Der Begriff des Politischen. Er vertieft in ihm einmal seine Geschichtsphilosophie der Neuzeit als Ganzes185 und seine These einer durchrationalisierten Welt. Zudem konstatiert er eine Krise der nationalen Kultur, die er mit seiner Nordlicht-Studie eingeleitet und in die Politische Theologie und in der Römischer Katholizismus und Politische Form fortgesetzt hatte. Gerade der Prozess der technischen Rationalisierung führt in diesem Argumentationsstrang zu einer Welt ohne Staat und Politik, wird doch in Schmitts zunächst nur negativer Deutung die Welt der modernen Zivilisation von einer „Antireligion der Technizität“ (BP 80) beherrscht, was in einen „Nihilismus der modernen, technisch-ökonomischen Welt“186 mündet und zu einem verflachten Leben eines nur mehr seichten und unterhaltenden Amüsements führt187. Die vermeintliche Beherrschung der

183 Ebd. S. 147. 184 Carl Schmitt hielt diesen Aufsatz 1929 in Barcelona zuerst als Rede. Er ist für seine Einwertung der Neuzeit bedeutungsvoll und steht in engem Zusammenhang mit seinem Der Begriff des Politischen, weist aber auch wichtige Berührungspunkte mit der Politischen Theologie I (1922) auf, worauf insbesondere Henning Ottmann nachdrücklich hingewiesen hat (Ottmann 2003; 2010). Der Vortrag wird heute der zweiten Auflage von Der Begriff des Politischen als Anhang beigegeben (BP 79-95), woraus wir auch zitieren. 185 Ottmann (2003, S. 159). 186 Maschke (1988, S. 201). 187 Vgl. Vesting (1992, S. 10 f.).

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Natur, so Der Begriff des Politischen, habe ja keineswegs zu einer „moralisch-praktischen Vervollkommnung geführt und der Sieg des (englischen) Kapitalismus nur die endgültige ‚Wendung zum Ökonomischen‘ bewirkt“.188 Schmitts Neutralisierungsschrift greift nunmehr seine Thesen zur Verfallsgeschichte des Staates wieder auf. Während Europa seit 1815 nur auf der „Legitimität des status quo“ verharre, leitet Schmitt seine Schrift 1929 realpolitisch ein, entwickelten sich anderenorts neue „Dinge“ rasant und ganz ungestört, wobei Russland mit der „Antireligion der Technizität“ schon Ernst gemacht habe. Faktum sei, „daß hier ein Staat entsteht, der mehr und intensiver staatlich ist als jemals ein Staat des absolutesten Fürsten (…) Das alles ist als Situation nur aus der europäischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte zu verstehen; es vollendet und übertrumpft spezifisch europäische Ideen und zeigt in einer enormen Steigerung den Kern der modernen Geschichte Europas“ (BP 80).

Dieser widmet sich Schmitt in der Folge. 3.2. Die Stufenlehre der wechselnden Zentralgebiete. Die moderne Geschichte Europas und die Entwicklung des europäischen Geistes stellt Schmitt als eine Stufenfolge wechselnder Zentralgebiete (Streitgebiete) dar. Diese beträfen nur die konkrete Tatsache, dass in vier Jahrhunderten europäischer Geschichte die führenden Eliten wechselten, sich die Evidenz ihrer Überzeugungen und Argumente fortlaufend ebenso änderten wie der Inhalt ihrer geistigen Interessen, das Prinzip ihres Handelns, das Geheimnis ihrer politischen Erfolge „und die Bereitwilligkeit großer Massen, sich von bestimmten Suggestionen beeindrucken zu lassen“ (BP 82).189 Der fünfstufige Prozess des Wechsels der Zentralgebiete setzt für Schmitt im 16. Jahrhundert ein und verläuft in vier großen, einfachen und säkularen Schritten. Schmitt zeichnet hier seine Genese der Moderne.190 Dem Zentralgebiet des „Theologischen“ im 16. Jahrhundert folgte im 17. Jahrhundert das „Metaphysische“, welches im 18. Jahrhundert vom „Humanitär-Moralischen“ abgelöst wurde, um schließlich im 19. Jahrhundert das Zentralgebiet des „Ökonomischen“ auszubilden (vgl. BP 80 f.). 188 Ebd. S. 8 f. 189 Siehe auch. Ottmann (2003, S. 159). 190 Siehe die einführende Darstellung bei Schaal/Heidenreich (2017, S. 37-44).

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Letzteres wird im 20. Jahrhundert von der Dominanz der Technik abgelöst, was mit einem „religiösen Glauben an die Technik“ einhergeht (BP 84).191 Am bedeutendsten und folgenreichsten wertet Schmitt die Neutralisierung der traditionellen christlichen Theologie und die Hinwendung zum „System einer ‚natürlichen‘ Wissenschaft“ (BP 88). Die Stufenfolge beschreibt Schmitt – hier verdichtet formuliert – als einen Wechsel des Zentralgebiets, der Eliten und der Streitfragen.192 Sehr deutlich zeige dies der Übergang von der Theologie zur Metaphysik vom 16. zum 17. Jahrhundert, „zu jener nicht nur metaphysisch, sondern auch wissenschaftlich größten Zeit Europas, dem eigentlichen Heroenzeitalter des okzidentalen Rationalismus“ (BP 82).

Alle neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse – namentlich durch F. Suarez, Bacon, Galilei, Kepler, Descartes, Grotius, Hobbes, Spinoza, Pascal, Leibniz und Newton – waren in ein großes metaphysisches oder „natürliches“ System integriert, so dass selbst der Aberglaube in der Gestalt der Astronomie sich zu einem kosmisch-rationalistischen System wandelte (vgl. BP 82). Es ist das Zeitalter, in dem Hobbes seinem „Leviathan“ eine neutrale Rolle im religiös begründeten Bürgerkrieg zuweist, damit das bisherige Zentralgebiet der Theologie verlassen werden kann und ihre umstrittenen Begriffe und Inhalte zur entpolitisierten Privatsache abgewertet werden können.193 Das 18. Jahrhundert ersetzte den christlichen Offenbarungsglauben durch einen Deismus kraft Verstandes. Im Übrigen ist es für Schmitt ein Zeitalter der „Vulgarisation großen Stils, Aufklärung, schriftstellerische Aneignung der großen Ereignisse des 17. Jahrhunderts, Humanisierung und Rationalisierung“ (BP 82)194. Kennzeichnend sei Kants Begriff von Gott, der zu einem „Parasit(en) der Ethik“ herabsinke (BP 82). Die scheinbar widersprüchliche Verbindung von „ästhetisch-romantischen und ökonomisch technischen Tendenzen“ des 19. Jahrhunderts wird dann erfassbar, wenn man berücksichtigt, dass Schmitt die Romantik des

191 Siehe hierzu die erläuternden, prägnanten, tabellarischen Übersichten bei Ottmann (2003, S. 159 u. 162 und 2010, S. 235). 192 Vgl. Ottmann (2010, S. 233). 193 Vgl. Motschenbacher (2000, S. 135). 194 Der Begriff „Vulgarisation“ ist wohl im Sinne einer raschen Verbreitung des Populärwissenschaftlichen zu verstehen. Ottmann formuliert: „Erst die Aufklärung popularisiert“ (Ottmann 2003, S. 159).

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19. Jahrhunderts nur als eine Zwischenstufe zwischen dem Moralismus des 18. und dem Ökonomischen des 19. Jahrhunderts betrachtet: „Denn der Weg vom Metaphysischen und Moralischen zum Ökonomischen geht über das Ästhetische, und der Weg über den noch so sublimen ästhetischen Konsum und Genuß ist der sicherste und bequemste Weg zur allgemeinen Ökonomisierung des geistigen Lebens und zu einer Geistesverfassung, die in Produktion und Konsum die zentralen Kategorien menschlichen Daseins findet“ (BP 83).

Der romantische Ästhetizismus dient „in der geistigen Weiterentwicklung“ als ein typisches Begleitphänomen dem Ökonomischen und das Technische ist im 19. Jahrhundert noch tief mit dem Ökonomischen im sog. „Industrialismus“ verbunden.195 Vesting betont, dass Schmitts Theorie der Stufenfolge in Verbindung mit seiner Romantikkritik durchaus als eine „Theorie des Kulturzerfalls gelesen werden kann“196. Mit der religiösen Entwurzelung des nunmehr als autonomes Individuum gedachten Menschen setze sich der Prozess der Säkularisierungen fort, „an deren Ende die Beseitigung aller Grundlagen bürgerlicher Sekurität, die ‚transzendentale Obdachlosigkeit‘ (Lukács) des modernen Menschen steht. Selbst ein Produkt bürgerlichen Denkens, führt die Romantik dazu, die Voraussetzungen des bürgerlichen Individualismus durch eine allgemeine ‚Ökonomisierung des geistigen Lebens‘ (BP 83) aufzuheben“.197

Dann setze aber, fährt Schmitt fort, eine derart rasante Entwicklung des technischen Fortschritts ein, die „alle moralischen, politischen, sozialen und ökonomischen Probleme“ erfasse, so dass „unter der ungeheuren Suggestion“ immer neuer und überraschender Erfindungen eine Religion des technischen Fortschritts“ entstehe (BP 83 f.).198 Das 20. Jahrhundert erscheint so – vorläufig – nicht nur als das Zeitalter der Technik, „sondern auch eines religiösen Glaubens an die Technik“ (BP 84). Es ist theoretisch unproblematisch, wenn hier neben dem Technischen auch das Ökonomische weiterwirkt, denn das frühere Zentralgebiet bleibt im je Neuen –

195 Als das bekannte Beispiel hierfür benennt Schmitt den Marxismus mit seinem Unter- und Überbautheorem, in dem das Ökonomische die Basis bildet (vgl. BP 83). Als primär ökonomisches System verbleibe der Marxismus im ökonomischen 19. Jahrhundert (BP 83). 196 Vesting (1990, S. 10). 197 Ebd. S. 11. 198 Siehe dazu nochmals die Liberalismuskritik im Begriff des Politischen (BP 71), der an die Stelle des Staates ein einheitliches Produktions- und Verkehrssystem setzt (s. auch Vesting (1990, S. 9 f.).

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wenn auch untergeordnet – erhalten. Primär und ausschlaggebend ist der Wechsel der „Zentralevidenz“, so wie der Gott der Reformation im Jahrhundert der Metaphysik zur Sache degradiert wird.199 Jede Stufenfolge, jeder Wechsel des Zentralgebiets geht mit einer Neutralisierung einher und entspringt „augenscheinlich einem Akt der Verabsolutierung des neuen Sachgebiets“200. Das bisher herrschende Zentralgebiet relativiert sich in seiner Bedeutung, weil die in ihm obwaltenden politischen Gegensätze an Bedeutung verlieren und so aufhören, potenzielle Bezüge für Freund-Feind-Formierungen zu sein; das bisherige Zentralgebiet wird befriedet, wird somit unpolitisch(er) und endlich gänzlich zur Privatsache (vgl. BP 88 f.).201 Die Etablierung eines neuen Sachgebiets hat weitreichende Konsequenzen, werden doch die Probleme anderer Sachgebiete nun aus dem neuen und dominanten Sachgebiet heraus gelöst (BP 85). Der Staat selbst zieht seine Kraft „aus dem jeweiligen Zentralgebiet, weil die maßgebenden Streitthemen der Freund-Feindgruppierungen sich ebenfalls nach dem maßgebenden Sachgebiet bestimmen“ (BP 86).

Schmitt erläutert: Der Satz cujus regio ejus religio hatte nur seinen politischen Sinn, solange das theologisch-religiöse Zentralgebiet dominant war. Als dieses nach und nach verloren ging und endlich abgelöst wurde, hatte auch der Satz „sein praktisches Interesse“ verloren (BP 86 f.). Er war jetzt ins Ökonomische gewandert – cujus regio ejus oeconomica – und machte klar, dass es in einem Staatswesen keine zwei gegensätzlichen Wirtschaftssysteme, kein kapitalistisches und kommunistisches zugleich geben kann. Ein Staat, der darauf verzichte, „die ökonomischen Verhältnisse von sich aus richtig zu erkennen und zu leiten“, muss sich dem Politischen gegenüber neutral verhalten und gibt seinen Herrschaftsanspruch auf (BP 87). Dabei sind die jeweiligen Verlagerungen weder als „kultur- und geistesgeschichtliche ‚Dominanztheorie‘“ noch als ein „geschichtsphilosophisches Gesetz“ zu verstehen und auch die Stufenfolge selbst kennt keine

199 Siehe Ottmann (2010, S. 233). 200 Kodalle (1973, S. 49). 201 Vgl. Hofmann (1964, S. 119/120).

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Richtung, nicht die eines Fortschritts nach oben und nicht die eines Verfalls nach unten.202 Wir hatten bereits gezeigt, dass der geistige Wechsel des Zentralgebiets des 17. Jahrhunderts von der Theologie zu einer „natürlichen“ Wissenschaftlichkeit für Schmitt der folgenreichste ist. Aber auch diesem Wechsel ist ein einfaches Grundmotiv inhärent: „das Streben nach einer neutralen Sphäre“ (BP 88). Auf dem Terrain des neuen Zentralgebiets glaube man, ein Minimum von Übereinstimmungen und Prämissen zu finden (BP 89). Durch den dialektischen Charakter dieses Systems gebiert jedes neue Zentralgebiet zunächst neue Auseinandersetzungen und wird zum Kampfgebiet, „und zwar um so stärker, je fester man das neue Sachgebiet in Besitz nimmt. Immer wandert die europäische Menschheit aus einem Kampfgebiet in neutrales Gebiet, immer wird das neu gewonnene neutrale Gebiet sofort wieder Kampfgebiet und wird es notwendig, neue neutrale Sphären zu suchen“ (BP 89).

Auch das Zeitalter der Naturwissenschaftlichkeit konnte deshalb keinen Frieden schaffen: „Aus den Religionskriegen wurden die halb noch kulturell, halb bereits ökonomisch determinierten Nationalkriege des 19. Jahrhunderts und schließlich einfach Wirtschaftskriege“ (BP 89).

3.3. Das Zeitalter der Technik. Das 20. Jahrhundert erklärt Schmitt im Jahr 1929 zum Jahrhundert der Technik – für Ottmann die „Pointe der Geschichtsphilosophie“ Schmitts203. Schmitt steht mit dieser Auffassung nicht alleine. Die „Technik“ war wie der „Arbeiter“ ein umstrittenes Thema nicht nur auf dem Feld der Politik, sondern auch auf dem Gebiet der Kunst. Für die Literatur sei hier nur Ernst Jünger genannt, in dessen Buch Der Arbeiter (1932) der kollektive Kampfverband der Krieger als ein künftiges Gesellschaftmodell den Kampfverband der Arbeiter, ihre „totale Mobilmachung“ theoretisiert.

202 Thomas Vesting wendet allerdings mit gutem Grund ein, dass Schmitts Kritik der Romantik (s. BP 83) es nahelegt, bei Schmitts Stufenfolge doch von einer Theorie des Kulturverfalls zu sprechen (Vesting 1992, S. 10). 203 Ottmann (2003, S. 161).

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Der stählerne Krieger präfiguriert die Gestalt des „Arbeiters“, die Jünger – abseits gesellschaftlicher und sozialer Markierungen – als eine elementare Macht versteht. Der aus der Gesellschaft heraufkommende Arbeiter wird zum Idealtypus – „für Jünger eine Kategorie jenseits der Dichotomie von ‚Individuum‘ und ‚Masse‘“204 – einer gleichförmigen, einer technisierten Welt.205 Jünger schreibt 1925 in Feuer und Eis: „Ja, die Maschine ist schön, sie muß schön sein für den, der das Leben in seiner Fülle und Gewaltmäßigkeit liebt“.206

Für den Bereich des Films sei nur auf Fritz Langs Epos Metropolis von 1927 mit seinem neuartigen expressionistischen Regieansatz hingewiesen, das „eine beispielhafte Auseinandersetzung mit der modernen Arbeitswelt liefern sollte“, um die Entfremdung und das Aufbegehren des Arbeiters zu thematisieren.207 Mit der Technik hatte man sich den endgültig neutralen Boden erhofft, gäbe es doch nichts Neutraleres als die Technik, diene sie doch jedem, weil sie – im Gegensatz zu streitgeschwängertem theologischem, metaphysischem, moralischem und ökonomischem Gebiet – etwas „erquickend Sachliches“ sei und zudem „einleuchtende Lösungen“ biete (BP 90): „Aller Streit und Verwirrung des konfessionellen, nationalen und sozialen Haders wird hier auf einem völlig neuen Gebiet nivelliert. Die Sphäre der Technik schien eine Sphäre des Friedens, der Verständigung und der Versöhnung zu sein“ (BP 90).

Aber genau der vermeintliche Vorzug der allgemeinen Verfügbarkeit macht die Technik für Schmitt nur scheinbar neutral. „Weil sie jedem dient“, der sich ihrer bemächtigt, kann ihre Neutralität mit derjenigen der

204 Noack (1998, S. 114). 205 „Indem Jünger Technik und die kulturellen Massenphänomene der Gegenwart (Rundfunk, Film, Presse, Sport etc.) unter dem Vorzeichen der Organisierung und Manipulierung betrachtete, fand er zu erschreckenden Vorausnahmen der totalitären Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus“ (Hermand/Trommler 1978, S. 189 f.). 206 Ernst Jünger, hier zit. in Noack 1998 100). 207 Hermand/Trommler (1978, S. 296). Dass, diese Thematiken dann „durch eine Kitschfabel über die Versöhnung von Kapital und Arbeit völlig verzerrt wurden“ (ebd.), stimmt leider ebenso wie die dürftige Resonanz des Films an den Kinokassen.

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bisherigen Gebiete nicht verglichen werden (BP 90).208 Sie ist folglich auch politisch richtungslos, kann revolutionär ebenso sein wie reaktionär (vgl. BP 91). Aus der Technik an sich „ergibt sich weder eine politische Fragestellung noch eine politische Antwort“ (BP 92). Mit dem Zeitalter der Technik ist der Neutralisierungsprozess gleichwohl an sein Ende gekommen, „war die geistige Neutralität beim geistigen Nichts angelangt“ und es schien nach all den Abstraktionen von Theologie, Metaphysik und Staat „die Neutralität des kulturellen Todes erreicht“ (BP 92; s.a. 94). Vervollständigt und gefährlich wird diese deprimierende Gemengelage durch die aus dem „kulturellen und sozialen Nichts“ herausströmende Masse des Industrieproletariats, die den Status quo infrage stellt (vgl. BP 92). 3.4. Kulturuntergang oder Neubeginn? Mit der Kulturuntergangsstimmung209 der Vorkriegsgeneration, die die „unwiderstehliche Macht der Technik“ als „Herrschaft der Geistlosigkeit über den Geist“ oder als „vielleicht geistvolle, aber seelenlose Mechanik“ zeichnete (BP 92), identifizierte Schmitt sich offensichtlich nicht, auch wenn er die Angst, die „aus einem dunklen Gefühl für die Konsequenz des nun zu Ende getriebenen Neutralisierungsprozesses entsprang“ als berechtigt bezeichnet (BP 92). Doch war diese Angst letztlich nur „der Zweifel an der eigenen Kraft“, das Instrumentarium der Technik in Besitz zu nehmen. Die moderne Technik ist das Ergebnis des menschlichen Verstandes und deshalb weder tot noch seelenlos und die „Religion der Technizität“ ist nicht mit der Technik selbst zu verwechseln: „Der Geist der Technizität, der zu dem Massenglauben eines antireligiösen Diesseits-Aktivismus geführt hat, ist Geist, vielleicht böser und teuflischer

208 „Aus der Immanenz des Technischen heraus ergibt sich keine einzige menschliche und geistige Entscheidung, am wenigsten die zur Neutralität. Jede Art von Kultur, jedes Volk und jede Religion, jeder Krieg und jeder Friede kann sich der Technik als Waffe bedienen“ (BP 90). 209 Siehe dazu auch die nach wie vor bedeutende Studie Fritz K. Ringers (1987): Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933 über die Haltung und die Verfassung der deutschen wissenschaftlichen Elite, auch wenn in der Studie Historiker, Juristen und Theologen weitestgehend unberücksichtigt und einzelne Gewichtungen durchaus strittig sind (Ringer 1987, S. 452).

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Geist, aber nicht als mechanistisch abzutun und nicht der Technik zuzurechnen“ (BP 93).

So hat sich im Zuge der Neutralisierungen der religiöse Geist vom Beginn der Neuzeit zu einem diesseitigen im 20. Jahrhundert gewandelt – aber für Schmitt gilt: es ist Geist210. Und so diagnostiziert er einen pathologischen Glauben der Menschen an die Möglichkeit, die Natur vollkommen zu beherrschen und an die Gestaltbarkeit eines irdischen Daseins voller „Glücksmöglichkeiten“, womit jede echte Rückkehr „zur unversehrten, nicht korrupten Natur“ – vom behaglichen Standpunkt des Status quo aus betrachtet – als „kulturelles und soziales Nichts“ erscheint (BP 93). So kann man mit Ottmann in der Tat davon sprechen, dass zwar die Heilsbringer gewechselt hätten, „der Glaube nicht“.211 Es ist aber keineswegs die Position eines Untergangspropheten, die Schmitt einnimmt. Da das technische Zeitalter „kein Zeichen des nahenden Endes ist“212 und keine Neutralität erwirkt hat, muss das „Zeitalter der Technizität“ ein Provisorium bleiben.213 Und so verharrt Schmitt in Erwartung jener neuen Zeit, die neben der Rückkehr zur wahren Natur“ (BP 93) ein dialektisches Umschlagen in die totale Politisierung bringen wird, die stark genug ist, selbst den Rationalisierungsprozess zu stoppen, das Zeitalter der Maschinen und Massen zu überwinden, die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft aufzuheben und so wieder hinter die negativen Errungenschaften des Liberalismus zurückgelangen kann. Mit der Totalität des Politischen erwartet Schmitt den totalen Staat, „der nichts Unpolitisches mehr kennen wird“ (Vesting 1990: 17), alle Entpolitisierungen des 19. Jahrhunderts aufheben wird „und namentlich dem Axiom der staatsfreien (unpolitischen) Wirtschaft und des wirtschaftlichen Staates ein Ende“ macht (BP 26). Deshalb begrüßt Schmitt in ambivalenter Weise und trotz aller Kritik das technische Zeitalter zugleich, weil er nach Sombart glaubt, die Technik in Besitz nehmen zu können und so die Möglichkeit

210 So Ottmann (2003, S. 167). 211 Ebd. S. 165. 212 Ebd. S. 167. Offen muss bleiben, ob diese Auffassung schon von der Lehre vom „Katechon“, dem Aufhalter des Endes der Welt (2 Thess. 2, 6-7), getragen ist (so Ottmann 2003, S. 166). Zur Problematik des „Katechon“ siehe Motschenbacher (2000); Groh (1998); Hernández-Aria (1998). Siehe hier: Der Katholizismus des Carl Schmitt. 213 Nachstehend vgl. Vesting (1990, S. 16 ff.).

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einer „neueren gesellschaftlichen Ordnung auf höherer Stufe“214 zu gewinnen. Der endgültige Sinn des dargestellten Prozesses werde aber erst erkannt werden können, wenn sich zeige, „welche Art von Politik stark genug ist, sich der neuen Technik zu bemächtigen, und welches die eigentlichen Freund- und Feindgruppierungen sind, die auf dem neuen Boden erwachsen“ (BP 94).

Carl Schmitt schließt: Ab integro nascitur ordo. Theodor Haecker liest: „Neu entspringt jetzt frischer Geschlechter erhabene Ordnung“.215 Der Satz aus der vierten Ekloge des Dichters Virgil216 aus dem Jahr 40 v. Chr. lautet vollständig: „Ultima Comaei venit iam carminis aetas; magnus ab integro saeculorum nascitur ordo.“

Mehring übersetzt mit Eduard Norden: „Auf die Endzeit folgt wieder die Urzeit mit ihrem Segen, und ein neues Geschlecht wird vom Himmel herabgesandt“.217

Heinrich Meier interpretiert den Virgil-Satz als Ausdruck des Glaubens Schmitts, dass in der Geschichte die göttliche Vorsehung wirkt, die eine neue Ordnung gebiert. Nun erhebt sich die spannende Frage: Welche Ordnung? 3.5. Der konkrete Feind im Begriff des Politischen. Wir hatten gesehen, dass Schmitt die Feindschaft als „die seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ bestimmt (BP 33). Der Feind selbst ist als „der Andere, der Fremde“ Feind durch seine bloße Existenz, den es zu bekämpfen gilt, um „die eigene seinsmäßige Art von Leben zu bewahren“ (BP 27). Diese beiden existenziellen Begriffe, so einige Interpreten, zeichneten sich bei Schmitt durch Inhaltsleere und eine gewisse Schablonenhaf-

214 N. Sombart, zit. in Vesting (1990, S. 18). 215 Zit. bei Motschenbacher(2000, S. 185). 216 Diese Ekloge, in der Vergil ein göttliches Kind und neuen Weltherrscher voraussagt, gibt den Interpreten seit der Antike Rätsel auf (s. Mehring 2009, S. 274 ff.; s. die Erläuterung http://www.gottwein.de/Lat/verg/ecl04.php). 217 Mehring (2009, S. 274).

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tigkeit aus.218 Diese Leere gilt es zu füllen, mit der Antwort auf die Frage: Wer eigentlich ist der konkrete Feind? Nun ist diese Frage in der Tat alles andere denn leicht zu beantworten, ist doch etwa mit Günter Maschke zu konstatieren, dass fraglich sei, „ob denn der Feind erkannt oder benannt/ernannt wird, wie überhaupt die zahlreichen Inkonsistenzen und Unklarheiten des Schmitt’schen Feind und Feindschaftsbegriffs ein Thema für sich sind“.219

Auch im Rahmen dieser Schrift kann die Problematik des Begriffs nur angerissen werden. 3.5.1. Liberalismus und Anarchismus. In weiten Teilen der Literatur wird mit guten Gründen als der konkrete Feind der aus Schmitts Sicht letztlich staatszerstörende, antipolitische Liberalismus ausgemacht,220 eine These, der Neumann entgegenhält, dass der Liberalismus bei Carl Schmitt zu einer eigenen positiven Theorie von Staat und Politik unfähig, also schlicht nicht „satisfaktionsfähig“ ist.221 Andere Interpreten betonen die Inhaltsleere des Begriffs wie seine politische Inhalts- und Richtungslosigkeit und attestieren dem Freund-FeindKriterium, seine Unterscheidung sei ein reiner Dezisionismus gleich wofür oder wogegen.222 Krockow kommt zu dem Ergebnis:223 „Schmitts Theorie sei nicht nur als Handlungsanweisung für politische Auseinandersetzungen ungeeignet, sondern Ausdruck der Angst vor dem Bürgerkrieg und Flucht vor der politischen Entscheidung“.224

Zu bedenken ist bei dieser Kritik, dass Schmitt n.u.A. explizit ausgeführt hat, dass das Politische infolge von Auseinandersetzungen in jedem Sachgebiet aufbrechen kann. Wir hatten dies am Beispiel des Ökonomischen gezeigt. Wenn die klassischen Streitpunkte zwischen Arbeitgebern und

218 Vgl. Neumann (2015, S. 91); zur These der „Inhaltsleere“ s. insb. Hofmann (1964, S. 114 ff.); s. Mehring 1989, S. 178 ff.). 219 Maschke 2012, S. 160). 220 So Kuhn (1932, S. 191). 221 Neumann (2015, S. 92). 222 So im Ergebnis Löwith (1960; insb. S. 44). 223 Krockow (1956). Wir zitieren an dieser Stelle die Zusammenfassung von Neumann (2015, S. 92). 224 Ebd.; zu kommentierenden Briefen, die Schmitt erhielt s. Mehring (2009, S. 277).

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Arbeitnehmern – wie z.B. Lohnerhöhung – sich so verschärfen, dass sie zu einem Klassenkampf um die politische Macht eskalieren, kann man schwerlich von Inhaltsleere sprechen, wird doch in unserem Beispiel der „Konfliktpunkt: Lohnerhöhung“ in die letzte Eskalationsstufe gleichsam überführt, geht in sie ein und wird nach dem Obsiegen einer Partei wieder in sein deeskaliertes Sachgebiet zurückverwiesen. Volker Neumann sieht dies im Ergebnis mit anderer und überzeugender Begründung ähnlich225 und bezieht sich auf Schmitts Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen. Schmitt hatte hier jeder bestimmten Epoche ein ganz bestimmtes Zentralgebiet zugeordnet, das aber immer wieder wechselt, weil die Menschen nach einem konfliktfreieren neutralen Boden streben.226 Mit dem Zeitalter der Technik schien dieser Boden gefunden. Doch wir haben gesehen, dass die Technik für Schmitt nur scheinbar neutral ist. Technik ist bei Schmitt, so Neumann, zum einen „nur“ ein „Instrument“ oder eine „Waffe“ im herkömmlichen Sinne: „Dagegen meint das Technische ein geschichtsphilosophisches Prinzip, dessen Sinndeutung der Marxismus monopolisiert hat. Dieses Monopol verleiht dem Proletariat einen Vorsprung im Wettlauf um die ‚Waffe Technik‘.227

Andererseits haben die bourgeoise-liberalen Zweifel an der Fähigkeit, sich der neuen Technik bemächtigen zu können (vgl. BP 92 f.), verschiedene Kulturuntergangsstimmungen geriert, – ein Vorgang der wiederum auf die Entstehung der Technik selbst zurückzuführen ist, „die eine ideelle tabula rasa geschaffen und aus dem ‚Abgrund eines kulturellen und sozialen Nichts‘ neue Massen auf den Plan der Weltgeschichte ‚herausgeworfen‘ habe“.228

Schmitt meint offensichtlich das Proletariat, das durch die Industrialisierung – von Schmitt hier „Technik“ genannt – nicht nur geschaffen wurde, sondern das zugleich mit einer „Religion des technischen Fortschritts“ (BP 84) ausgestattet wurde, dem revolutionären Prinzip des Marxismus. Das Technische in diesem Sinne meine also, so Neumann, ein geschichtsphilosophisches Prinzip, „dessen Sinndeutung der Marxismus monopolisiert hat“. Der Sowjetstaat hatte sich nach Schmitts Ansicht der Technik mittels dieser „Antireligion der Technizität“ bereits bemächtigt (vgl. BP 80; s.o.),

225 226 227 228

Siehe Neumann (2015, S. 91-95). Vgl. ebd. S. 92. Ebd. S. 93; nachst. s. ebd.. Ebd.

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weil es dem Bolschewismus gelungen war, „ das Technische in seine politische Theorie zu integrieren“. Nun müsse der Westen anfangen, sich der Technik zu bemächtigen, um aufholen zu können, und um zudem die alten Ressentiments aufzugeben: „Wir durchschauen endlich auch die Stimmung jener Generation, die im Zeitalter der Technizität nur den geistigen Tod oder seelenlose Mechanik sah (BP 94). (…) Eine Gruppierung, die auf der eigenen Seite nur Geist und Leben, auf der anderen nur Tod und Mechanik sieht, bedeutet nichts als einen Verzicht auf den Kampf und hat nur den Wert einer romantischen Klage“ (BP 95).

Diese Anschuldigung richtet sich eindeutig wider den Liberalismus, der in den Augen Schmitts ja unfähig zu einer positiven politischen Staatstheorie und mithin zur Dezision ist und der wegen seines romantischen Hangs zum „ewigen Gespräch“229 der Sowjetunion die führende Stellung im Zeitalter der Technik ermöglicht hatte (vgl. BP 80). Wer sich aber der Technik als Waffe bemächtige, gewinne die Entscheidungsschlacht dieses Jahrhunderts.230 3.5.2. Der Liberalismus als konkreter Feind. Der politische Philosoph Leo Strauss war ein früher Interpret Carl Schmitts. Strauss schreibt: „Der Liberalismus, geborgen und befangen in einer Welt der Kultur, vergißt das Fundament der Kultur, den Naturzustand, d.h. die menschliche Natur in ihrer Gefährlichkeit und Gefährdetheit.“

Strauss hat für Volker Neumann eine schlüssige Erklärung für die Position des Liberalismus in der Theorie Schmitts gefunden.231 Danach stehe der Liberalismus zwischen den feindlichen Polen des anarchistischen Sozialismus und der Gegenrevolution als ein verachtenswertes, lavierendes Neutrum, das nur den Blick auf das Wesentliche erschwere: „jeder blickt gespannt auf seinen Feind; sie winken den sich in der Mitte aufhaltenden, die Sicht auf den Feind störenden ‚Neutralen‘ beiseite, ohne ihn

229 Siehe hier das Kapitel Politische Romantik. 230 Neumann (2015, S. 93). 231 Wichtig hierzu Meier (1988; 1998).

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anzusehen, mit einer Handbewegung nur, um ein freies Schussfeld zu bekommen“.232

Im unmittelbar folgenden Satz des vorstehenden Zitats entfaltet sich der Hauptkritikpunkt von Strauss‘ an Schmitts Liberalismuskritik: Sie bewege sich selbst noch im „Horizont des Liberalismus“, so dass Schmitts Illiberalität aufgehalten sei durch die „noch nicht überwundene ‚Systematik liberalen Denkens‘“:233 „Die Polemik gegen den Liberalismus kann daher nur den Sinn einer Begleitoder Vorbereitungsaktion haben: sie soll das Feld freimachen für den Entscheidungskampf zwischen dem ‚Geist der Technizität‘, dem ‚Massenglauben eines antireligiösen Diesseitsaktivismus‘ (93) und dem entgegengesetzten Geist und Glauben, der, wie es scheint, noch keinen Namen hat“.234

Diese letzte Entscheidungsschlacht werde, so Heinrich Meier (1998) in theologischer Diktion, zwischen Gott und dem Satan geschlagen. Für den nationalsozialistischen politischen Schriftsteller und Politiker Ernst Nieckisch ist im Jahr 1933 die Freund-Feind-Theorie im Begriff des Politischen „die bürgerliche Antwort auf die marxistische Klassenkampftheorie“.235 Hofmann zieht später diesen Interpretationsrahmen weiter, indem er von der plebiszitär legitimierten „Diktatur des Reichspräsidenten“ spricht und die Freund-Feind-Theorie ebenfalls „als bürgerliches Gegenstück zur marxistischen Diktatur des Proletariats“236 bewertet. Wir vertreten hier mit Mehring die These, dass der konkrete Feind Schmitts der politische Liberalismus in seinem moralischen Universalismus und juristischen Positivismus ist: „Erst von der Stoßrichtung gegen die liberale, universalistische Moral und das positive Recht her wird die fundamentale Bedeutung der Begriffsschrift verständlich. Schmitt empfand sie als einen Befreiungsschlag. Endlich hatte er den Liberalismus in seinen ganzen Ausstrahlungen hinter sich gelassen“.237

Günter Maschke betont, dass der „Haupt-Feind Schmitts nie der Kommunismus oder Sozialismus gewesen [ist], sondern die entscheidungslose Demokratie und ihre politische Dekadenz. Wenn auch Galán zuzustimmen ist, daß marxistische Autoren Schmitt

232 233 234 235 236 237

Strauss in Meier (1998, S. 124). Ebd. S. 125). Strauss in Meier (1998, S. 124). Niekisch (1933, S. 371). Hofmann 1964, S. 118). Mehring (2011, S. 147).

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Erstes Kapitel: Der Begriff des Politischen (1927; 1932 (1962); 1933).

ausgebeutet haben, so muß ebenso darauf hingewiesen werden, wie außerordentlich viel Schmitt dem Marxismus verdankt. Der Feind war für Schmitt weniger der Kommunismus (trotz seines Atheismus) als die Welt aus Fabrik und Büro. Man darf sogar sagen: Der Kommunismus war für ihn nur insoweit Feind, als er die Radikalisierung und Verlängerung von Aufklärung und Liberalismus war“.238

238 Maschke (2012, S. 78 f.).

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

Da wir uns nun der Endphase der Weimarer Republik nähern, jener Zeitspanne von 1929–1933, sei noch einmal an die Zeitbezogenheit der staatspolitischen Schriften Schmitts erinnert. Schmitt zu lesen, seiner Argumentation zu folgen und ihn zu „verstehen“ gelingt nur, wenn man ihn vor der wirklichen Lage Weimars liest. Ohne die Erfahrungen der revolutionären Wirren am Beginn Weimars, ohne den Terror der Straße, ohne die Zeit der Hyperinflation, der Weltwirtschaftskrise und des staatlichen Souveränitätsverlustes verbleiben viele seiner Schriften in einer Sphäre – wenn auch geistreicher – Unverbindlichkeit. Umso stärker heißt es für die Jahre 1929−1933 und das „neue“ Staatsrecht, die Gedankengänge und Begrifflichkeiten Schmitts mit ihrer Einbettung in die konkrete politische Lage seiner Zeit und nicht isoliert zu reflektieren.239 Mit dem Amtsantritt im „Malstrom“ Berlin wechseln Schmitts Schwerpunkte und Themen weg von Versailles und Genf und hin zu Weimar.240 Auch seine religiösen Anbindungen treten zurück und ökonomische Fragen finden verstärkten Eingang in seine Schriften. Nach dem Abschluss seiner Verfassungslehre ist eine Wendung zur Staatslehre auszumachen. Die Staatslehre diskutiert die staatstheoretischen Voraussetzungen einer Rechtsverfassung. Gemeint ist eine Staatslehre, die den politisch konkreten Rahmen der Rechtsverfassung in Gänze erfasst. In ihm reflektiert Schmitt als allgemeine Voraussetzung einer modernen Rechtsverfassung die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Dies sei eine Fundamentalentscheidung, die vom Verfassungsrecht selbst nicht entschieden werden könne. Dabei sei ein Prozess zu beobachten, in dem die Souveränität des Staates durch die Gesellschaft absorbiert werde: „Schmitt spricht von einem Wandel zur ‚Selbstorganisation‘ der Gesellschaft und konstatiert eine ‚Wendung‘ zum allzuständig-überforderten, ‚schwachen‘ Staat. ‚Neutralität‘ und ‚Totalität‘ werden seine Schlüssel- und Stichworte der Verhältnisbestimmung von Staat und Gesellschaft“.241

239 Siehe Maschke (2012, S. 185- 216; insb. S. 185 u. 195 ff.). 240 Nachst. vgl. Mehring (2009, S. 247 ff.). 241 Mehring (2009, S. 248).

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

Wichtig ist für uns an dieser Stelle, dass Schmitt Verfassungslehre und Staatslehre in einer neuen Form unterscheidet, die seine verfassungspolitischen Interventionen staatstheoretisch unterbaut. Wir konzentrieren uns hier auf die Rede und den späteren Aufsatz Staatsethik und pluralistischer Staat, der nach Quaritsch zum Besten gehöre, was Carl Schmitt jemals publizierte.242 I. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930).243 Carl Schmitt hat die Pluralismusdiskussion in Deutschland eröffnet,244 und die Pluralismustheorien von Cole und Laski vorgestellt und kritisiert.245 William James hatte gegen monistische Theorien die Auffassung vertreten, dass die Wirklichkeit ein disparates „Pluriversum“ ist. Erstmals hatte Schmitt den Begriff „Pluralismus“ in seiner Rezension von Meineckes Die Idee der Staatsraison (1926) verwendet. Seither wurde die Pluralismusthematik in fast jeder staatsrechtlichen Schrift der Weimarer Zeit behandelt.246 1. „The discredited state“. Staatsethik und pluralistischer Staat, konzipiert als Vortrag vor der KantGesellschaft in Halle, erscheint im Juli 1930 als Text. Kern ist eine kritische Erörterung der pluralistischen Staatslehren von Cole und Laski, zu der er schon in Der Begriff des Politischen angesetzt hatte. Zudem verdeutlicht sich Schmitts etatistische Position in der Auseinandersetzung mit den beiden Pluralisten.247 Der Staat sei heute, leitet Schmitt ein, „der in Mißkredit geratene Staat“ (PB 133). Dessen alter Anspruch, „die souveräne Einheit und Ganzheit zu sein“, sei erschüttert und in Frankreich, in dem es seit über zwanzig Jahren 242 Quaritsch (1991, S. 38). „Der Vortrag gehört zum Besten, was Carl Schmitt jemals publizierte, er macht auch klar, weshalb Katholizismus und Etatismus für ihn keine Gegensätze bildeten“ (ebd.). 243 Wir zitieren aus (PuB 133-145). 244 Waldstein (2008, S. 185). 245 Zur Entwicklung der Pluralismustheorie s. Neumann (2015, S. 198 f.). 246 So ebd. S. 199. 247 Siehe Quaritsch (1991, S. 36 f.).

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I. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930).

eine soziologische und juristische Literatur gebe, die dem Staat und dem Gesetz jede Überlegenheit absprächen, habe man gar proklamiert: „Der Staat ist tot“ (ebd.). In Deutschland hingegen sei eine große Krisenliteratur erst seit 1919 entstanden. „Die Erschütterung des Staates ist immer auch eine Erschütterung der Staatsethik.248 Denn alle überlieferten staatstheoretischen Vorstellungen teilen das Schicksal des konkreten Staates, den sie stets voraussetzen und geraten mit ihm in Mißkredit“ (ebd.)

Dies gelte für die Staatsethik Hegels, für die Idee des stato etico der faschistischen Doktrin, aber eben auch für die Staatsethik Kants und des liberalen Individualismus. Gehe es letzterem vor allem darum, den Staat an ethische Normen zu binden, bleibe der Staat doch eine oberste Instanz der einen richterlosen Naturzustand, in dem jeder Richter in eigener Sache sei, überwindet: „Ohne die Vorstellung vom Staat als einer ü b e r r a g e n d e n Einheit und Größe sind alle praktischen Ergebnisse Kantischer Staatsethik widerspruchsvoll und hinfällig“ (PuB 134)249.

2. Der Kern der pluralistischen Theorie. Schmitt formuliert das Hauptanliegen der neueren angelsächsischen pluralistischen Staatstheorie von Cole und Laski: „Sie wollen damit nicht nur den Staat als eine höchst umfassende Einheit, sondern vor allem auch seinen ethischen Anspruch negieren, eine andere und höhere Art sozialer Verbindung zu sein, als irgendeine der vielen Assoziationen, in denen Menschen leben“ (PuB 134).

Der Staat werde derart zu einer sozialen Gruppe oder Assoziation „die bestenfalls n e b e n, keinesfalls über den anderen Assoziationen steht“ (ebd.)250. In ethischer Konsequenz führe dies zu dem Ergebnis, dass der einzelne Mensch in einer Mehrheit von nebeneinander geltenden sozialen Verpflichtungen und Loyalitätsbeziehungen lebe: religiöse Gemeinschaft, wirtschaftliche Vereinigungen, z.B. Gewerkschaften, politische Partei, in kulturellen Vereinigungen usf. Jeder dieser sozialen Vereinigungen sei er

248 Der erste Satz ist im Original gesperrt gedruckt. 249 Herv. im Original. 250 Herv. im Original.

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

zu Loyalität und Treue verpflichtet und jede habe ihre eigene Ethik. Für diese „Pluralität der Loyalitäten“, erläutert Schmitt, gebe es aber kein System der Über- oder Unterordnung und keine „Hierarchie der Pflichten“, selbst die Loyalität, die Pflicht gegenüber dem Staat stehe nicht höher und nicht tiefer als etwa die Loyalität und die Pflicht gegenüber der Gewerkschaft oder der Kirche, „und die Staatsethik ist eine Spezialethik neben vielen anderen Spezialethiken“ (PuB 134). Ob es überhaupt noch eine Totalethik gebe – Cole spricht von „society“, Laski von „Menschheit“ – bleibe unklar. Die Gründe für den Erfolg der pluralistischen Theorie sind für Schmitt auch philosophisch von Interesse. So übertrage Laski das disparate pluralistische Weltbild des pragmatischen Philosophen William James auf den Staat.251 Dessen Auflösung der monistischen Einheit des Universums in ein Multiversum liefere ihm das Argument, die politische Einheit des Staates aufzulösen, weshalb Schmitt diese Auffassung als ein geistesgeschichtliches Phänomen im Feld der „Politischen Theologie“ verortet (s. PuB 134 f.). Denn die Geschichte beweise immer wieder die Übereinstimmung des theologischen und metaphysischen Weltbildes mit dem Bild vom Staat (PuB 135).252 Die Sozialethik von Cole und die pluralistische Lehre von Laski stellen sich für Schmitt in den Dienst eines „gewerkschaftlichen oder syndikalistischen Sozialismus“ (PuB 135). Deren Argumente aber hätten in der Vergangenheit der Kirche dazu verholfen, den Staat gegenüber der Kirche zu relativieren und seine Macht einzuschränken – mit Erfolg, wie Laski am Beispiel von Bismarcks Kulturkampf aufzeigt (ebd.). Vor allem aber liege die pluralistische Auffassung – „sehr modern und aktuell“ – in den meisten Industriestaaten im Trend der Zeit (PuB 135/136): „Der Staat erscheint tatsächlich in weitem Maße von den verschiedenen Gruppen abhängig, bald als Opfer, bald als Ergebnis ihrer Abmachungen, ein Kompromißobjekt sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen, ein Agglomerat heterogener Faktoren, Parteien, Interessenverbände, Konzerne, Gewerkschaften, Kirchen usw., die sich untereinander verständigen“ (PuB 136).

Die reale Lage bzw. die Verfassungswirklichkeit der Jahre 1929/1930, die von zunehmend antagonistisch werdenden Auseinandersetzungen zwi-

251 Siehe Neumann (2015, S. 199). 252 Siehe dazu hier das Kapitel Politische Theologie.

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I. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930).

schen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Straßenkämpfen zwischen der extremen Rechten und der Linken, der beginnenden Selbstauflösung des Parlaments und dem Übergang zu einem verfassungsändernden Präsidialprinzip war in den Augen Schmitts bereits eine latente Bürgerkriegssituation.253 Wo ein souveräner Staat dringendst gebraucht würde, präsentierte sich dieser bestenfalls als „ein pouvoir neutre et intermédiaire, ein neutraler Vermittler, (…) eine Art clearing office, ein Schlichter, der sich jeder autoritären Entscheidung enthält, der völlig darauf verzichtet, die sozialen, wirtschaftlichen, religiösen Gegensätze zu beherrschen, der sie sogar ignoriert (…)“ (ebd.).

Und das Individuum stehe schwankend zwischen der Pluralität seiner vielen ethischen Bindungen, ohne dass es im Konfliktfall eine anerkannte Entscheidung über die Reihenfolge dieser vielen Bindungen gäbe“ (ebd.). Es sei, erläutert Schmitt weiter, auch staatsphilosophisch und staatsethisch keineswegs gleichgültig, ob der frühere Anspruch des Staates, allen sozialen Gruppen im Konfliktfall überlegen zu sein, nunmehr entfalle. Denn, gibt Schmitt zu bedenken, selbst für eine individualistische Staatstheorie müsse der Staat erst eine konkrete Situation – den Normalfall – schaffen, in welcher moralische und rechtliche Normen erst gelten können: „Jede Norm setzt nämlich eine normale Situation voraus. Keine Norm gilt im Leeren, keine in einer (mit Bezug auf die Norm) abnormen Situation. Wenn der Staat die ‚äußeren Bedingungen der Sittlichkeit‘ setzt, so bedeutet das: er schafft die normale Situation“ (PuB 136/137).

Bestimmten jedoch irgendwelche sozialen Gruppen eine konkrete Ordnung, in welcher der Einzelne lebt, „so entfällt auch der ethische Anspruch des Staates auf Treue und Loyalität“ (PuB 137). 3. Kritik des Pluralismus. Trotz aller empirischer Beobachtungen und trotz „seiner großen philosophischen Beachtlichkeit“, leitet Schmitt seine Kritik des Pluralismus ein, könne dieser „nicht das letzte Wort des heutigen staatsethischen Problems sein“ (PuB 137; nachst. s. ebd.). Auch die pluralistischen Argumente seien keineswegs so neu und modern wie es scheine, bedenke man, dass alle

253 Siehe hier das Kapitel Der Beginn der Präsidialkabinette.

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

Staatsphilosophen von Plato bis Hegel zwar die Einheit des Staates als höchsten Wert aufgefasst aber monistischen Überspannungen zugunsten bestimmter sozialer Gruppen zugleich stark kritisiert hätten. Selbst Thomas v. Aquin, schon wegen seines Monotheismus ein starker Monist, habe im Anschluss an Aristoteles betont, dass eine aufs Äußerste getriebene Einheit den Staat zerstöre. Außerdem stehe bei ihm, wie allen Philosophen des Katholizismus, die Kirche als selbstständige „societas perfecta“ neben dem Staat, der gleichfalls eine „societas perfecta“ sein soll. Dieser Dualismus liefere auf den ersten Blick viele Argumente für eine Erweiterung des Pluralismus und die etwas seltsame Allianz von römisch-katholischer Kirche und gewerkschaftlichem Föderalismus bei Laski. Dem stellt Schmitt den Einwand gegenüber, dass gerade die von ihm verwerteten Argumente der katholischen Staatsphilosophie aus dem ganz besonderen Universalismus der katholischen Kirche hervorgehen würden: „Die römisch-katholische Kirche ist kein pluralistisches Gebilde und in ihrem Kampf gegen den Staat ist der Pluralismus wenigstens seit dem 16. Jahrhundert auf der Seite der nationalen Staaten. Eine pluralistische Sozialtheorie widerspricht sich selbst, wenn sie den Monismus und Universalismus der römisch-katholischen Kirche, zum Universalismus der zweiten oder dritten Internationale säkularisiert, gegen den Staat ausspielt und dabei immer noch pluralistisch bleiben will“ (PuB 137/138).254

Schon diese abwegige geistesgeschichtliche Koalition zeigt für Schmitt, dass der Pluralismus zweideutig, in sich selbst problematisch ist und sich polemisch gegen die staatliche Einheit richtet, die er zu relativieren sucht. Frage man, wer den Konflikt der verschiedenen Treue- und Loyalitätsansprüche letztendlich entscheide, antworteten die Pluralisten extrem individualistisch, „das einzelne Individuum entscheide selbst“ (PuB 138). Das hieße aber für die pluralistische Sozialethik, dass die Rückgabe der Zuständigkeit für die Letztentscheidung an das Individuum gerade das wieder aufhebe, „was an ihr interessant und wertvoll war, nämlich die Berücksichtigung der konkreten empirischen Macht sozialer Gruppen und der empirischen Situation, wie sie durch die Zuständigkeit des Individuums zu mehreren solcher Gruppen bestimmt wird“ (ebd.).

Diese „equilibristische Art von Freiheit“ als eine normale ethische Pflicht einzufordern, könne man aber von der Masse normaler Staatsbürger nicht

254 Siehe hier auch das Kapitel Römischer Katholizismus und politische Form.

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I. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930).

verlangen. Entfalle die Einheit des Staates, träfen die verschiedenen sozialen Gruppen von sich aus die Entscheidungen nach Vorgabe ihrer Gruppeninteressen: „Für das empirische Individuum aber gibt es erfahrungsgemäß keinen anderen Spielraum seiner Freiheit als denjenigen, den ein starker Staat ihnen zu garantieren vermag. Sozialer Pluralismus im Gegensatz zu staatlicher Einheit bedeutet weiter nichts, als daß der Konflikt der sozialen Pflichten der Entscheidung der einzelnen Gruppe überlassen bleibt. Das bedeutet dann Souveränität der sozialen Gruppen, nicht aber Freiheit und Autonomie des einzelnen Individuums“ (PuB 138).

Der Etatist Carl Schmitt setzt auf die Sicherung der Freiheit durch den Staat und sieht die Bedrohung dieser Freiheit durch die diversen sozialen Gruppierungen.255 Der Staat als Gegenspieler des Pluralismus, werde von den Pluralisten aus polemischen Gründen als absolut monistisch deklariert, was er aber nie gewesen sei, fährt Schmitt fort (PuB 139; nachst. s. ebd.). Sprächen Juristen von der „Allmacht“ des Souveräns, des Königs oder des Parlaments, so bezögen sich „ihre barock übertreibenden Formeln“ auf den Staat des 16. bis 18. Jahrhunderts, in dem es galt, „das pluralistische Chaos der Kirchen und Stände zu überwinden“, doch selbst da galt für den Fürsten, „göttliches und natürliches Recht, d.h. soziologisch gesprochen, Kirche und Familie, zu respektieren: „Die Einheit des Staates ist stets eine Einheit aus sozialen Vielheiten gewesen. Sie war zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Staaten sehr verschieden, immer aber komplex und in gewissem Sinn in sich selbst pluralistisch“ (PuB 139).

Mit dem Hinweis auf diese selbstverständliche Komplexität sei vielleicht ein überspannter Monismus widerlegt, nicht aber das der politischen Einheit gelöst; denn hinzutrete, so Schmitt, dass es viele Gestaltungsmöglichkeiten der politischen Einheit gebe.256 Der einfache Gegensatz von Einheit durch Macht und Einheit durch Konsens beherrsche die Staatsethik des Pluralismus, der nur die Einheit durch Konsens gelten lasse. Womit das aktuelle Problem für Schmitt erst beginnt, denn auch der „freie“ Konsens sei ja irgendwie motiviert und herbeigeführt. Auch Macht bewirke Konsens und oft gar einen vernünftigen und ethisch begründeten Konsens, und

255 Quaritsch (1991, S. 36). 256 Siehe die Aufzählung (PuB 139).

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

umgekehrt, bewirke Konsens Macht, und zwar oft eine unvernünftige und – trotz des Konsenses – ethisch verwerfliche Macht: „Pragmatisch und empirisch gesehen erhebt sich dann die Frage, wer über die Mittel verfügt, den ‚freien‘ Konsens der Massen herbeizuführen, über die wirtschaftlichen, pädagogischen, psychotechnischen Mittel der verschiedensten Art, mit deren Hilfe erfahrungsgemäß ein Konsens herbeigeführt werden kann“ (PuB 139/140).

Ernüchtert konstatiert Schmitt: befänden sich diese Mittel in Händen sozialer Gruppen oder einzelner Menschen und seien sie der Kontrolle des Staates entzogen, „so ist es allerdings mit dem, was offiziell noch ‚Staat‘ heißt, zu Ende, die politische Macht ist unsichtbar und unverantwortlich geworden (…)“. (PuB 140: nachst. s. ebd.). Tiefster Grund für derartige Unklarheiten oder gar Widersprüche sind die unklaren Vorstellungen der Pluralisten vom „Staat“. Meistens dächten sie instrumentalistisch an die Reste des alten „absoluten“ Staates im Sinne eines Regierungs- und Verwaltungsapparats. Andererseits sei er doch wieder immer von Neuem die integrierende politische Einheit für die Kompromisse der verschiedenen sozialen Gruppen, weshalb er gewisse ethische Ansprüche stellen dürfe, und sei es nur der Anspruch, dass Abmachungen und Kompromisse – pacta sunt servanda – einzuhalten sind. Für die Beurteilung des Gebildes „Staat“ komme es auf die Sache an, und dies bleibe die politische Einheit eines Volkes: „Hier nun herrscht, wie fast überall, so auch bei den Sozialtheoretikern, der meistens in kritikloser Unbewußtheit verbleibende Irrtum, daß das Politische eine eigene Substanz neben anderen Substanzen ‚sozialer Assoziationen‘ bedeute, daß es neben Religion, Wirtschaft, Sprache, Kultur und Recht einen besonderen Gehalt darstelle, und daß infolgedessen die politische Gruppe koordiniert neben die anderen Gruppen gestellt werden könne, neben Kirche, Konzern, Gewerkschaft, Nation, Kultur- und Rechtsgemeinschaften der verschiedensten Art. Die politische Einheit wird dann eine besondere, zu anderen Einheiten hinzutretende, neue substantielle Einheit“ (PuB 140).

Die irrige Annahme, dass es eine inhaltlich eigene politische Sphäre neben anderen gebe, verwirre aber alle Vorstellungen über das Wesen des Staates und des Politischen. Dieses Fehlerfassen erleichtere es, den Staat als politische Einheit ad absurdum zu führen und zu widerlegen: „Denn was bleibt vom Staat als der politischen Einheit übrig, wenn man alle anderen Gehalte, das Religiöse, Wirtschaftliche, Kulturelle usw. abzieht? Ist das Politische nichts als das Ergebnis einer solchen Subtraktion, so ist es in der Tat gleich Null“ (PuB 140/141).

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I. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930).

Richtigerweise, Schmitt greift auf Der Begriff des Politischen zurück, bezeichne das Politische nur den Intensitätsgrad einer Einheit, die verschiedene Gehalte haben könne. Sie bezeichne aber stets den intensivsten Grad der Einheit, von dem aus es möglich wird, die intensivste Unterscheidung – „die Gruppierung nach Freund und Feind“ – zu bestimmen: „Die politische Einheit ist höchste Einheit, nicht weil sie allmächtig diktiert oder alle anderen Einheiten nivelliert, sondern weil sie entscheidet und innerhalb ihrer selbst alle anderen gegensätzlichen Gruppierungen daran hindern kann, sich bis zur extremen Feindschaft (d.h. bis zum Bürgerkrieg) zu dissoziieren. Da wo sie ist, können die sozialen Konflikte der Individuen und sozialen Gruppen entschieden werden, so daß eine Ordnung, d.h. eine normale Situation besteht“ (PuB 141).

Klarer als mit diesen beiden Sätzen hat Schmitt wohl in keiner seiner Schriften die Eigenart und die Aufgabe des souveränen Staates prägnant zusammengefasst. Seine zentrale Aufgabe ist es, im Inneren des Staates einen Bürgerkrieg zu unterdrücken, es nicht zur Kulmination des FreundFeind-Gegensatzes kommen zu lassen. Er schöpft diese Erkenntnis aus dem eigenen Erleben der Bürgerkriegslagen der Jahre 1919–1923.257 Und er hat diese Gefahr in der Endphase der Weimarer Republik immer deutlicher vor Augen. „Die intensivste Einheit ist entweder da oder nicht da; sie kann sich auflösen, dann entfällt die normale Ordnung. Aber unentrinnbar ist sie immer Einheit, denn es gibt keine Pluralität der normalen Situation, und unvermeidlich geht von ihr, solange sie überhaupt da ist, die Entscheidung aus“ (ebd.).

Da das Politische keine eigene Substanz habe, könne der Punkt des Politischen von jedem Gebiet aus gewonnen werden, und jede soziale Gruppierung werde so politisch und damit staatlich, wenn sie sich in diesem Punkt der höchsten Intensität nähert: „Sie speist mit ihren Sachgehalten und Werten die politische Einheit, die von den verschiedenen Gebieten menschlichen Lebens und Denkens lebt und aus Wissenschaft, Kultur, Religion, Recht und Sprache ihre Energien zieht“ (ebd.).

So habe alles menschliche Leben bis zur höchsten geistigen Sphäre in seiner geschichtlichen Realisierung wenigsten potenziell einen Staat über sich,

257 Siehe Quaritsch (1991, S. 39). Wer die heutige Situation allein in Syrien reflektiert, sieht, was Schmitt umgetrieben hat.

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

„der aus solchen Inhalten und Substanzen stark und mächtig wird, wie der mythische Adler des Zeus, der sich aus den Eingeweiden des Prometheus nährt“ (ebd.).

4. Umdeutung: Der internationale Pluralismus. Für Schmitt ist der Pluralismus nur international richtig platziert, als ein Pluralismus der Staatenwelt, der Rassen und Völker, der Religionen und Kulturen, der Sprachen und der Rechtssysteme, und es gelte, diesen gegebenen Pluralismus nicht universalistisch und monistisch „zu vergewaltigen“ (PuB 141; nachst. s. 141 f.). Auch die politische Welt, so Schmitt, sei wesentlich pluralistisch, und seine Träger seien die politischen Einheiten als solche, d.h. die Staaten, wie sie aus der Auflösung des Universalismus im 16. und 17. Jahrhundert entstanden sind. Ihr Souveränitätsbegriff habe sich richtig und polemisch gegen den universalistischen Anspruch einer Weltmonarchie des Kaisertums und gegen die universalistischen politischen Ansprüche des Papsttums gerichtet: „Es ist ein geistesgeschichtliches Mißverständnis erstaunlicher Art, diese pluralen politischen Einheiten unter Berufung auf universale und monistische Vorstellungen auflösen zu wollen und als Pluralismus hinzustellen, und zwar sogar noch, wie Laski es tut, unter Berufung auf William James. Im System der ‚Politischen Theologie‘ entspricht dem Pluralismus des Weltbildes von James das Zeitalter der heutigen demokratischen Nationalstaaten mit ihrem Pluralismus der auf nationaler Grundlage staatlich gesinnten Völker“ (PuB 142).

Die Monarchie sei hingegen eher universalistisch, weil sie von Gott kommen müsse, wenn sie sich nicht demokratisch durch den Willen des Volkes rechtfertige. Universalmonistische Begriffe wie „Gott“, „Welt“ und „Menschheit“, wendet Schmitt ein, seien höchste Begriffe, die „hoch, sehr hoch über jener Pluralität der konkreten Wirklichkeit thronten, ihre Dignität aber nur behielten, solange sie an höchster Stelle verblieben. Würden sie ins politische Handgemenge und den Widerstreit konfligierender Gruppeninteressen herabgezogen, warnt Schmitt, verwandeln sie sich in „ein furchtbares Instrument menschlicher Herrschsucht“ (s. PuB 142 f.). Zwar gebe es kein menschliches und kein politisches Leben ohne die Idee der Menschlichkeit, aber diese Idee konstituiere keine unterscheidbare Gemeinschaft „(…) mit Hilfe eines solchen Begriffs läßt sich jede Unterscheidung negieren und jede konkrete Gemeinschaft sprengen“ (PuB 142 f.).

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I. Staatsethik und pluralistischer Staat (1930).

Würden höchste und universale Begriffe wie „Menschheit“ politisch benutzt, um ein Volk oder eine soziale Gruppierung mit ihnen zu identifizieren, entstehe die Möglichkeit furchtbarster Expansion und eines mörderischen Imperialismus. So könnten unpolitische Monismen wie der Begriff der „Menschheit“ ebenso missbraucht werden wie der Name „Gott“, und es könnte sich bei vielen Völkern und großen Massen ein Gefühl verbreiten, dessen authentischer Ausdruck ein schlimmes Wort Proudhons sei: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ (PuB 143). Im Gegensatz zu jenen Welt und Menschheit umfassenden Universalismen folgert Schmitt, ist es „vernünftig und sinnvoll, das Nach- und Nebeneinander der Völker und Staaten gelten zu lassen, das den Inhalt der menschlichen Geschichte darstellt“ (ebd.).

Was hier so theoretisch erscheinen mag, bekommt in einer vom Autor selbst zusammengestellten Aufsatzsammlung mit dem Titel Positionen und Begriffe im Kampf gegen Weimar – Genf – Versailles (1940) zeitgeschichtliche politische Relevanz gerade im Rückblick auf die Erstveröffentlichung: Vorsicht vor universalistischen Gebilden mit universalistischen Ansprüchen – „Welt“, „Völkerfriede“ usw. – wie dem Völkerbund in Genf, der in den Augen (nicht nur) Schmitts, den Status quo rechtfertigte und sicherte. 5. Die Pflicht zum Staat. Gerade im Wissen um schwache, kranke und erbärmliche Staaten setzt Schmitt zur Verteidigung der Institution „Staat“ an: „Jede der vielen politischen Einheiten ist freilich im Ganzen der Welt und der Menschheit nur ein Stück Ordnung, nur ein Fragment. Doch ist es das menschlicher Tat und Gemeinschaft zugängliche Stück. Soviel Betrug und Lüge auch im Staat wie in allem Menschlichen noch möglich ist, die phantastischen Dimensionen eines Welt und Menschheit umfassenden Universalbetrugs sind hier nicht möglich. In einer vom Gesetz des Pluralismus beherrschten geistigen Welt ist ein Stück konkreter Ordnung wertvoller als die leeren Allgemeinheiten einer falschen Totalität“ (ebd.).

Werde der Staat aber zu einem pluralistischen Parteienstaat, könne die Einheit des Staates nur so lange bestehen, als die zwei oder mehreren Parteien sich einigen, indem sie gemeinsame Prämissen anerkennen. Die Einheit fuße dann auf der von allen Parteien anerkannten Verfassung, „die als gemeinsame Grundlage unbedingt respektiert werden muß. Staatsethik 537

Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

wird dann zur Verfassungsethik“ (PuB 144). Darin könne eine sehr wirksame Einheit liegen, wenn, schränkt Schmitt ein, Substantialität, Eindeutigkeit und Autorität der Verfassung gegeben sind. Wenn nicht, sei die Verfassung zur bloßen Spielregel, zu einer bloßen Ethik des „fair play“ degradiert. Trete dann noch eine Pluralisierung des politischen Ganzen hinzu, komme es dazu, „daß die Einheit nur noch ein Agglomerat von wechselnden Vereinbarungen heterogener Gruppen ist. Die Verfassungsethik verflüchtigt sich dann noch weiter, und zwar in die Ethik des Satzes pacta sunt servanda“ (PuB 144 f.).

Sei der Staat in allen genannten Fällen258 der Staatsethik noch eine Einheit gewesen, lasse sich nur auf dem Satz: pacta sunt servanda, keine Einheit des Staates gründen. Es bestehen dann, nur noch – in juristischer Diktion – Schuldverhältnisse im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs, „denn die einzelnen sozialen Gruppen als vertragsschließende Subjekte sind dann als solche die maßgebenden Größen, die sich des Vertrages bedienen und untereinander nur noch durch ein vertragliches Band gebunden sind. Sie stehen als selbstständige politische Größen einander gegenüber, und was es an Einheit gibt, ist nur das Resultat eines (wie alle Bündnisse und Verträge) kündbaren Bündnisses. Der Vertrag hat dann nur noch den Sinn eines Friedensschlusses zwischen den paktierenden Gruppen, und ein Friedensschluß hat, ob die Parteien wollen oder nicht, immer einen Bezug auf die, wenn auch vielleicht entfernte Möglichkeit eines Krieges“ PuB 145).

Hinter einer solchen Vertragsethik stehe deshalb immer eine Ethik des Bürgerkriegs. Deshalb plädiert Schmitt vor der Kulisse des beginnenden Verfalls Weimarer Staatlichkeit für deren Erhalt, vor allem auch im Interesse des Individuums. Werde die staatliche Einheit in der Wirklichkeit des sozialen Lebens problematisch, so ergebe sich ein für jeden Staatsbürger unerträglicher Zustand, denn damit entfalle die normale Situation und die Voraussetzung jeder ethischen und jeder rechtlichen Norm. Dann erhalte der Begriff der Staatsethik einen neuen Inhalt, und es ergibt sich eine neue Aufgabe: „Dann tritt neben die Pflicht des Staates, die in seiner Unterwerfung unter ethische Normen liegt, und neben die Pflichten gegenüber dem Staat eine weitere ganz anders geartete staatsethische Pflicht, nämlich die Pflicht zum Staat“ (PuB 145).

258 (…) des Schmittschen Aufsatzes (w.a.m.).

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II. Nationaler Widerstand mit der Stimme Jean d’Arcs.

Schmitt setze so, fazitiert Mehring, die politische Theologie der Pflicht zum Staat gegen Kants „Pflicht des Staates“ zur „Unterwerfung unter ethische Normen“.259 II. Nationaler Widerstand mit der Stimme Jean d’Arcs. Ende Januar 1930 erhält Schmitt vom Kabinett Brüning den Auftrag für ein Gutachten zu dem deutsch-polnischen Abkommen über Liquidationsschäden. Wir halten hier nur dessen Bewertung von Neumann fest: „Wenn es die wohlverstandenen Interessen des Reiches erforderten, scheute sich Schmitt nicht, auch gegen politische Positionen der Rechtsparteien anzutreten“.260

Schmitt hält weiterhin seine Schulung für Attachés im Auswärtigen Amt, weitere Schulungsvorträge für Postreferendare und die Deutsche Industrieund Handelskammer schließen sich an. Im Juli 1930 publiziert er in der Zeitung „Abendland“ den Artikel Die politische Lage der entmilitarisierten Rheinlande, nachdem die zweite und dritte Zone geräumt waren. Eine nur scheinbare Nebensächlichkeit soll nicht unerwähnt bleiben. Schmitt, der von dem Stummfilmklassiker Jeanne d’Arc fasziniert war,261 nutzte am 6. Dezember 1930 einen Rundfunkbeitrag im Auftrag des Katholischen Deutschen Frauenbundes mit dem Thema Die Frau im Staat dazu, zum nationalen Widerstand gegen Deutschlands Unterdrücker aufzurufen. Über die Heilige Johanna, die ihr Volk aus einer verzweifelten militärischen Lage befreit hatte, urteilt er fast schwärmerisch: „Fast jeder Satz aus dem Munde dieser Heiligen ist eine Antwort, die jede Nation sich geben kann. Wenn diese Heilige auf die Frage, ob sie behaupten wolle, dass Gott die Engländer hasse, geantwortet hat, sie wisse dies nicht, sie wisse aber, dass die Engländer aus Frankreich hinausmüssten, so ist dies eine Antwort, die jedes Volk durch den Mund dieser Heiligen seinen Unterdrückern und Ausbeutern geben muss“.262

Am Ende seines Vortrags bekennt er seine Hoffnung, „dass Hundertausende deutscher Frauen dieses Wissen um die natürliche Ordnung lebendig erhalten“ (ebd.). 259 260 261 262

Mehring (2009, S. 252). Mehring (2015, S. 174; zum Inhalt des Gutachtens s. ebd. S. 172 ff.). Er sah ihn unentwegt, berichtet ebd. S. 255. Schmitt, hier zit. in Mehring (2009, S. 255).

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

Schmitt arbeitet jetzt an der Buchfassung von Der Hüter der Verfassung, hält fast täglich Vorlesungen im Reichspostzentralamt, liest vier Rundfunkvorträge und referiert über die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung. Schmitt ist als Nachfolger von Hans Kelsen in Wien im Gespräch, wird von der Fakultät sogar förmlich auf den ersten Platz gesetzt, doch Othmar Spann lehnt ihn mit einem Sondervotum ab, und für eine Wiener Zeitung wäre seine Berufung ein „Plan zur Fascisierung der Wiener Universität“. Die Universität verzichtet endlich ganz auf eine Neubesetzung.263 III. Die „kommissarische“ Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV.264 In der wissenschaftlichen Literatur, die sich mit dem Reichspräsidenten befasst, lassen sich drei Phasen ausmachen: Erstens wurde die zentrale Frage erörtert, ob die Staatsspitze der Republik am amerikanischen, französischen oder an einem „gemischten“ System ausgerichtet sein soll. Die Entscheidung für eine plebiszitäre Präsidentschaft (Art. 41 WRV) mit Notkompetenzen (Art. 48 WRV) in Kombination mit einer parlamentarisch gebundenen Regierung (Art. 54 WRV) vereinte und versöhnte demokratische und monarchische Elemente. Die zweite Phase – von 1920 bis 1928 terminiert – diskutierte dieses zunächst als glückliche Mischung empfundene Modell, jedoch nahmen Fragen der Reichsexekution und des Notverordnungsrechts durch die Erfahrungen mit der Präsidentschaft Friedrich Eberts immer größeren Raum ein. In der dritten Phase von 1930-1933 verdrängte die Debatte über die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten („Volkskönigs“)265 als „Hüter“ aber auch als Verderber der Reichsverfassung nahezu alle anderen Problemkreise.266

263 Siehe Mehring (2009, S. 256). 264 Die Diktatur des Reichspräsidenten spielt in der Geschichte Weimars und bei Schmitt eine derart elementare Rolle, dass wir uns im Folgenden ausführlich auch mit der juristischen Seite dieses Komplexes befassen. 265 Stolleis Bd. 3 (1999, S. 115). 266 Siehe ebd. S. 114 f.

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III. Die „kommissarische“ Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV.

1. Die Auslegung von Art. 48 Abs. 2 in Die Diktatur (1921). Schon 1921 hatte Schmitt sich in dem Buch Die Diktatur mit der Diktaturnorm des Art. 48 Abs. 2 befasst. Bereits da hatte er das Spannungsverhältnis der zwei Sätze von Art. 48 Abs. 2 WRV als problematisch ausgemacht: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“

Schmitt begreift die Ermächtigung von Satz 1 als klaren Fall einer kommissarischen Diktatur. Wolle die souveräne Diktatur eine neue gesellschaftliche Ordnung etablieren, so ziele die kommissarische Diktatur auf die Bewahrung der bestehenden Staatsordnung durch zeitweilige Aufhebung der Verfassung. 267 Beschränkt ist sie aber auf „Maßnahmen“ tatsächlicher Art, niemals aber schließt sie Akte der Gesetzgebung und der Rechtsprechung ein. Wäre dem nicht so, würde Abs. 2 S. 1 den Reichspräsidenten ermächtigen, die gesamte Rechtsordnung aufzulösen und ihm die Souveränität übertragen.268 Wie aber lässt sich diese Auslegung mit Satz 2 vereinbaren, der den Reichspräsidenten zur Außerkraftsetzung von sieben abschließend aufgeführten Grundrechten ermächtigt? Schmitt will dieses Problem lösen, indem er darauf besteht, dass auch Satz 2 nur eine Ermächtigung zu tatsächlichem Vorgehen sei, aber keine Delegation gesetzgeberischer Gewalt. Was nichts daran ändere, so Neumann, dass Abs. 2 Satz 1 eine Ermächtigung zur Suspendierung der gesamten Rechtsordnung enthält, Satz 2 aber bestimmte Grundrechte aufzählt, die einer Suspendierung zugänglich sind. Schmitt bezeichnet diese Konstellation deshalb auch als eine „sonderbare Regelung“, die nur erklärbar sei, wenn man annehme, die Reichsverfassung beruhe auf einer Kombination von souveräner und kommissarischer Diktatur.

267 Siehe hier das Kapitel Die Diktatur. 268 Siehe Neumann (2015, S. 177; nachst. s. ebd.).

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

2. Der Vortrag auf der Staatsrechtlehrertagung in Jena (1924). 2.1. Die Lehre von der Unantastbarkeit der Reichsverfassung. Carl Schmitt referierte auf dieser Staatsrechtslehrertagung seine Gedanken zur „Diktatur des Reichspräsidenten“269, um umgehend auf das Rechtsproblem des Verhältnisses von Satz 1 zu Satz 2 in Abs. 2 einzugehen: „Die heute übliche Auslegung des Abs. 2 versucht aber, die Befugnisse des Reichspräsidenten dadurch einzuschränken, daß sie die Reichsverfassung für unantastbar erklärt, soweit nicht Art. 48 Abs. 2 in seinem Satz 2 selbst einige Bestimmungen aufzählt, die außer Kraft gesetzt werden können“ (DDdR 63).

Die übliche Auslegung versteht also Satz 2 als die Erlaubnis, ausnahmsweise die sieben Grundrechte außer Kraft zu setzen. Daraus folge aber, dass alle anderen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung unantastbar seien.270 Art 48 Abs. 2 Satz 2 sei mithin der Gesetzestext, „der einfach und klar den Reichspräsidenten in die Schranken der Verfassung weist“ (DDdR 64). Die Lehre von der „Unantastbarkeit der Reichsverfassung“ (Richard Grau) könne den Satz nur in dem Sinne lesen, „dass dem Reichspräsidenten etwas erlaubt werden soll, was in der Befugnis zum Treffen der nötigen Maßnahmen noch nicht enthalten ist“.271

Dagegen setzte Jacob die Auslegung, Satz 2 ermächtig den Reichspräsidenten, unter allen Grundrechten nur besagte sieben außer Kraft zu setzen, treffe aber zu anderen Verfassungsbestimmungen keine Aussage. Deshalb könne der Reichspräsident nach der Regel von Satz 1 als „Maßnahme“ die staatsorganisationsrechtlichen Verfassungsnormen aufheben.272 Unter den Argumenten, die Grau gegen diese Auffassung Jacobis anführt, greifen wir eines heraus. Nach Art. 76 WRV könne die Verfassung nur „im Wege der Gesetzgebung“ geändert werden. Dazu müssten alle formellen Erfordernisse der Art. 68-75 WRV verlangt werden, die für das Zustandekom269 Der volle Titel lautet: „Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art 48 der Reichsverfassung“ (Sigle DDdR). DDdR (63-103) = HdV (217-261). 270 Neumann (2015, S. 178). 271 Grau, hier zit. n. Neumann (2015, S. 178). Zu den historischen Argumenten, die zur Stützung der Lehre von der „Unantastbarkeit der Verfassung“ herangezogen werden, siehe Neumann (2015, S. 178). 272 Jacobi (1924, S. 116 f.).

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III. Die „kommissarische“ Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV.

men notwendig sind. Damit aber sei ausgeschlossen, dass der Reichspräsident auf der Grundlage von Art. 48 Abs. 2 WRV die Verfassung ändern könne.273 2.2. Carl Schmitts Kritik der Unantastbarkeitslehre. Enumerativ ergo limitativ sei, so Schmitt, eine alte und richtige Schlussfolgerung, so dass die Aufzählung in Abs. 2 mit logischer Notwendigkeit das Nicht-Aufgezählte ausschließe und mithin für die Unantastbarkeitslehre zu sprechen scheine. Dem sei aber nicht so. Einmal würde die übliche Auslegung die Praxis eines effektiven Ausnahmezustands für den Reichspräsidenten verunmöglichen, wenn er nur in besagte sieben Grundrechte eingreifen dürfe, also ihm etwa die Schließung von Geschäften nach Art. 151 WRV verboten wäre (DDdR 64 f.). Dabei, so Schmitt, sei an die Eingriffe in den organisatorischen Aufbau der Verfassung noch nicht einmal gedacht worden, wobei diese im Ausnahmefall – hinsichtlich des Übergangs der vollziehenden Gewalt – unumgänglich seien (s. DDdR 66 f.), aber unzulässig wären, weil ihr Übergang auf den Reichspräsidenten in Verfassungsbestimmungen eingriffe, welche die Zuständigkeiten regeln (s. DDdR 65 f.). Konzentrierten sich im militärischen Ausnahmezustand alle Machtfaktoren in den Händen des Reiches, legt Schmitt dar, berühre dies nicht nur die Art. 5, 14, 15 usw., „sondern die grundlegende Organisation des Reiches im Ganzen“ (DDdR 67).274 Die übliche Auslegung verbiete jedenfalls die Anordnung und Durchführung diktatorischer Maßnahmen. Die Reichsregierung selbst, bemängelt Schmitt, habe ihr Vorgehen ohne klärende Begründung gelassen, Gleiches gelte für offizielle und offiziöse Aussagen von Reichsministern (DDdR 69).275 Sie enthalten keine genaue rechtliche Stellungnahme, gebrauchen außer den Termini „außerkraftsetzen“ und „beseitigen“ auch keine anderen Begriffe und eine Hauptschwierigkeit,

273 Neumann (2015, S. 179). 274 Am Beispiel Sachsen und der Verordnung vom 29. Oktober 1923 erläutert Schmitt die Absetzung einer Landesregierung durch einen Reichskommissar. Die übliche Auslegung müsste dieses Verfahren für verfassungswidrig erklären (DDdR 68). 275 Beispiele für derartige Äußerungen s. (DDdR 69 f.).

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

„nämlich die Frage, warum Eingriffe in die Organisation des Reiches, insbesondere der Uebergang(!) der vollziehenden Gewalt, der doch offenbar für zulässig gehalten wird, trotz der unvermeidlichen Kollision mit Verfassungsbestimmungen zulässig ist, wird in keiner Regierungserklärung beantwortet“ (DDdR 71).

Deshalb sieht Schmitt eine noch gründlichere Untersuchung – auch seiner Entstehungsgeschichte – von Art. 48 Abs. 2 WRV als eine Notwenigkeit an (ebd.). Schmitt attestiert dem Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 etwas „Verschobenes und Verrenktes“. Insbesondere der Anfang des zweiten Satzes mit den Worten „Zu diesem Zwecke“ füge sich nicht glatt an den Schluss des ersten Satzes „mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten“ DDdR 72): „Die Entstehungsgeschichte klärt das mühelos auf“ (ebd.). Wir folgen der „peniblen entstehungsgeschichtlichen Argumentation“ Schmitts hier nicht, die bezüglich des Abs. 2 zu dem Ergebnis führt: „Der Text besagt nur: Zum Zweck der Wiedeherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung kann der Reichspräsident Maßnahmen treffen und er darf gewisse Grundrechte außer Kraft setzen“ (DDdR 73).

Derart kann Schmitt gegen die übliche Auslegung den Schluss von der Enumeration auf die Limitation widerlegen, weil die Ermächtigung des Reichspräsidenten zwei verschiedene Befugnisse umfasst: Erstens, Maßnahmen treffen und zweitens, Grundrechte außer Kraft setzen. Denn das Enumerationsprinzip könne nur im Rahmen der Befugnis gelten, die von der Aufzählung betroffen wird, und das ist eben nur die Außerkraftsetzung von Grundrechten. Die Hinwegsetzung über einzelne Verfassungsbestimmungen bei „Maßnahmen“ sei in Satz 2 überhaupt nicht geregelt.276 Schmitts Auslegung von Art. 48 Abs. 2 WRV ergibt also, „daß der Reichspräsident eine allgemeine Befugnis hat, alle nötigen Maßnahmen zu treffen, und eine besondere Befugnis, gewisse aufgezählte Grundrechte außer Kraft zu setzen“ (DDdR 77).

Die Einschränkung gilt nur für die besondere Befugnis, aufgezählte Grundrechte außer Kraft zu setzen, sie ist keineswegs auf Satz 2 ausdehnbar (ebd.). Dieses Ergebnis sieht Schmitt durch die Entstehungsgeschichte des Art. 48 Abs. 2 „höchst auffällig bestätigt“ (ebd.).277 Wir fassen nur zusammen:

276 Siehe Neumann (2015, S. 181). 277 Zur Entstehungsgeschichte siehe (DDdR 77-81).

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III. Die „kommissarische“ Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV.

„Zusammengefaßt folgt aus der Entstehungsgeschichte: keiner der Urheber des Art 48 Abs. 2 ging davon aus, daß in Abs. 2 Satz 2 eine allgemeine Einschränkung der in Satz 1 erteilten allgemeinen Befugnis enthalten sei. Dem Reichspräsidenten wurde die Befugnis erteilt, alle nötigen Maßnahmen zu treffen. Davon, daß die Aufzählung in Satz 2 eine fundamentale Abgrenzung der in Satz 1 erteilten Befugnis enthielt, war nicht nur nicht die Rede, sondern Satz 2 wurde im Gegenteil aufgefaßt als eine zwar in sich durch die Aufzählung begrenzte, im übrigen aber zu der Befugnis aus Satz 1 hinzutretende eigenartige Befugnis“ (DDdR 81).

Nachdem die Ratio der in Art. 48 getroffenen Regelung entstehungsgeschichtlich und logisch herausgearbeitet ist, geht Schmitt daran, sie verfassungsrechtlich genauer zu bestimmen und in die allgemeinen rechtsstaatlichen Gedanken einzufügen, welche die geschichtliche Entwicklung des Ausnahmezustandes als eines Rechtsinstituts bestimmen (s. ebd.). Er bemüht sich jetzt um eine staatstheoretische Qualifikation der Diktaturbefugnis.278 2.3. Die staatstheoretische Qualifikation der Diktatur. Die verfassunggebende Nationalversammlung hatte dem Reichspräsidenten durch Art. 48 Abs. 2 Satz 1 eine „plein pouvoir“, eine „schrankenlose Befugnis“ gegeben. Als Kontrolle einer derartigen Machtfülle hielt man die Erfordernis einer ministeriellen Gegenzeichnung und die Verantwortlichkeit vor dem Parlament für ausreichend.279 Außerdem beruhigte die Aussicht auf ein noch zu erlassendes Reichsgesetz – es war nach Jahren noch nicht ergangen (s. DDdR 82). Die Verfassung war also an diesem Punkt noch offen, war ein Provisorium, Art 48 Abs. 2 aber war geltendes Recht. Die konstatierte „Lücke“ in der Verfassung dürfe jedoch nicht zu einer Verwechslung der außerordentlichen Befugnisse des Reichspräsidenten mit einem Staatsnotrecht280 führen (DDdR 83), denn Art. 48 Abs. 2 regele den Ausnahmezustand als ein

278 Neumann (2015, S. 183). 279 Die Maßnahmen des Reichspräsidenten waren dem Parlament unverzüglich zur Kenntnis zu geben und auf sein Verlangen außer Kraft zu setzen (DDdR 82). 280 „Das Staatsnotrecht beruht darauf, daß außerhalb oder entgegen Verfassungsbestimmungen im extremen, unvorhergesehenen Fall irgendein staatliches Organ, welches die Kraft zum Handeln hat, vorgeht, um die Existenz des Staates zu retten und das nach Lage der Dinge erforderliche zu tun“ (DDdR 83).

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Zweites Kapitel: Von der Verfassungslehre zur Staatslehre.

verfassungsmäßiges Rechtsinstitut und kann deshalb kein Staatsnotrecht sein (DDdR 84). Die Stellung des Reichspräsidenten wird durch diesen Artikel auch nicht zu der des souveränen Fürsten nach dem monarchischen System. Bei diesem ist neben der ordentlichen, verfassungsmäßigen Gewalt eine außerordentliche, „durch die Verfassungsregel niemals restlos zu erfassende staatliche Gewalt vorhanden“, die die ganze Verfassung zu einem Provisorium machen kann (ebd.). Solange die Entscheidung über das Vorliegen eines Notfalls in der Hand des Monarchen liegt, „ist er wirklich Souverän“ (DDdR 85). Diese Stellung als Souverän, so Schmitt, könne der Präsident einer Republik aber niemals erlangen. Es könne sich auch nicht um eine souveräne Diktatur handeln, da mit der Existenz einer geltenden Verfassung die Möglichkeit einer souveränen Diktatur schon dem Begriff nach ausgeschlossen ist: „In dem Augenblick, in welchem die Versammlung281 ihr Werk vollendet hat und die Verfassung geltendes Recht wird, endet jene souveräne Diktatur, hört überhaupt rechtsstaatlich die Möglichkeit einer souveränen Diktatur auf“ (DDdR 87).

2.4. Die Grenzen der Diktaturbefugnis. Im Rahmen der rechtsstaatlichen Entwicklung kommt es dann zu einer tatbestandsmäßigen Umschreibung und Aufzählung des Inhalts diktatorischer Befugnisse (DDdR 87; nachst. 87 f.). Die Abgrenzung in Zuständigkeiten und die Regulierung von Kompetenzen führen dazu, „daß niemals an irgendeinem Punkt die Fülle der Staatsgewalt hemmungslos in unvermittelter Konzentration auftreten kann“ (ebd.).

Grundlage dieser Abgrenzung ist die Verfassung, deren Wesen in der Teilung der Gewalten liegt. Dies entspricht dem Gedanken des Rechtsstaats. Für den Ausnahmefall, so Schmitt, müssten immer Vorbehalte gemacht werden. Denn Diktatur sei immer etwas „Abnormes“, weil die rechtsstaatliche Umgrenzung der Befugnisse von der Sachlage, d.h. vom Ermessen des Ermächtigten, abhängt, „und zwar in unberechenbarem Umfang“ (DDdR 87). Man suchte deshalb und fand besondere Arten von Abgrenzungen. Anstatt allgemein von Gefährdung der Sicherheit und Ordnung zu

281 Gemeint ist die verfassunggebende Versammlung, die den pouvoir constituant ausübt. Ihre „Allmacht“ endet mit der Konstituierung der Gewalten (DDdR 87).

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III. Die „kommissarische“ Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV.

sprechen, gebrauchte man die Tatbestände „Krieg“ oder „Aufruhr“. Man band die Erklärung des Ausnahmezustands an die Form eines Gesetzes, limitierte seine Dauer, schuf Möglichkeiten seiner Aufhebung, kurz: Er erhielt den Charakter eines wirklichen Rechtsinstituts. An die Stelle grenzenloser Ermächtigung trat eine Aufzählung: „Seit der französischen Revolution entsteht auf solche Weise der Belagerungszustand als rechtlich organisierte Einrichtung, und die kommissarische Diktatur wird in die rechtsstaatliche Entwicklung eingezogen“ (DDdR 88).

Der Art. 48 Abs. 5 WRV zeige, dass man sich dieser Entwicklung durch ein zu erlassendes Reichsgesetz anpassen wollte. Dieses sollte die bestehende Befugnis des Art. 48 Abs. 2 Satz 1 WRV einschränken – deshalb die Rede von der „bis dahin“ bestehenden „Lücke“ (s. DDdR 88 f.). Man könne also argumentieren, dass erst dieses Reichsgesetz des Abs. 5 die Verfassung organisatorisch abschließt. Es stehe aber infrage, ob dazu eine staatsrechtliche Verpflichtung besteht. Schmitt kommt zu dem Ergebnis, dass das unabsehbare Hinauszögern des in Art. 48 Abs. 5 vorgesehenen Reichgesetzes den Charakter der Regelung des Art. 48 Abs. 2 ändern könne, weil eine Verfassung einen wesentlichen Punkt nicht für unabsehbare Zeit hinauszögern dürfe. Die abgelaufen Zeit bis 1924282 reiche dafür aber wohl noch nicht aus (DDdR 90). Trotz des Versäumnisses, Abs. 5 umzusetzen, kennt die Befugnis aus Art. 48 Abs. 2 WRV Grenzen. Vielleicht, wirft Schmitt ein, sei es politisch möglich, den Art. 48 WRV zur Beseitigung der Verfassung zu benutzen. Sicher aber sei, dass auf verfassungsmäßigem Wege die Weimarer Republik nicht in eine Monarchie gewandelt werden könne (DDdR 91; nachst. ebd.), so wie es überhaupt unmöglich sei, mit Art. 48 WRV die Verfassung zu ändern, diesen Weg erlaube nur Art. 76 WRV. Allerdings sei, so Neumann, zu beachten, dass für Schmitt eine Durchbrechung einzelner Verfassungsartikel keine Verfassungsänderung darstellt.283 Aber Schmitt benennt auch drei verfassungsrechtliche Grenzen der Diktaturbefugnis des Reichspräsidenten: Erstens kann nicht unabhängig von

282 1924 ist das Jahr der Staatsrechtslehrertagung und des von Schmitt gehaltenen Referats. 283 Neumann (2015, S. 184). „Solche (…) Durchbrechungen einzelner Verfassungsartikel sind keine Änderungen der Verfassung, setzen sie nicht außer Kraft und heben sie nicht auf. Sie sind das typische Mittel der Diktatur: durch eine Ausnahme von Verfassungsbestimmungen die Verfassung als Ganzes zu retten“ (DDdR 91).

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der Verfassung bestimmt werden, was öffentliche Sicherheit und Ordnung ist.284 Der Art. 48 WRV gewährleistet, zweitens, ein Minimum von Staatsorganisation, das auch durch bloß tatsächliche außerordentliche Maßnahmen nicht angetastet werden darf (Reichspräsident, Reichsregierung und Reichstag) (s. DDdR 93-95).285 Und drittens gilt die Diktaturbefugnis des Art. 48 Abs. 2 WRV nur für „Maßnahmen“.286 2.5. Der Begriff der Maßnahme in Art. 48 WRV. In einem Teil der Literatur werden unter dem Begriff der „Maßnahme“ staatliche Handlungen aller Art verstanden.287 Als Ausnahme gelten das richterliche Urteil und, zweitens, das Parlamentsgesetz. Da im modernen konstitutionellen Staatsrecht ein Staatsakt nur zum Gesetz werden kann, wenn er bestimmte Formvorschriften erfüllt, können die Maßnahmen eines Diktators unabhängig von ihrem Inhalt niemals Gesetze sein. Nach dieser Auffassung hat der Reichspräsident kein gesetzesvertretendes Verordnungsrecht – eine Ansicht, die auch Schmitt in Die Diktatur (1921) vertreten hatte, jetzt aber (1924) von der politischen Entwicklung überholt worden war. Denn die Rechtsverordnung war in der Zwischenzeit zum bevorzugten Mittel der Diktaturbefugnis geworden. Es muss für Schmitt folglich „Rechtsnormen geben, die keiner Rechtsidee dienen und deshalb sehr wohl Maßnahmen sind. Das spricht er denn auch aus: Der Reichpräsident könne Maßnahmen treffen, indem er generelle Anordnungen in der Form von Rechtsverordnungen erlässt“.288

Abgestellt wird nunmehr auf den Rechtsinhalt, nicht mehr auf das Kriterium der Rechtsform.

284 „Die Verfassung besagt, was normale Ordnung im Staate ist. Ihre Aufgabe und ihr Wert bestehen darin, den Streit über das, was öffentliches Interesse, öffentliche Sicherheit und Ordnung ist (…), grundlegend zu entscheiden“ (DDdR 91 f.). 285 „Zu dem unantastbaren Organisationsminimum des Art. 48 gehört endlich neben Reichspräsident und Reichsregierung der Reichstag und zwar ebenso wie er als verfassungsmäßiges Institut nach der Verfassung von 1919 besteht“ (DDdR 94). 286 Neumann (2015, S. 184). 287 Ebd. S. 184; nachst. s. ebd. 184 f. 288 Ebd. S. 185; s. (DDdR 95-101).

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III. Die „kommissarische“ Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV.

Nunmehr ist zu fragen, welches Kriterium unzulässige von zulässigen Inhalten scheiden kann. Schmitt gibt in den Leitsätzen des Berichterstatters folgende Definition von Maßnahmen: „Einzelhandlungen oder generelle Anordnungen, die im Hinblick auf eine als anormal anzusehende und daher zu beseitigende konkrete Sachlage erfolgen, nicht aber auf unabsehbare Dauer Geltung beanspruchen“ (DDdR 104).

Erstes Merkmal ist die „Zweckabhängigkeit von der konkreten Sachlage“ (DDdR 97).289 Auch das zweite Kriterium: „nicht auf unabsehbare Zeitdauer Geltung [zu] beanspruchen“ bzw. „vorübergehend“, hält Neumann für „juristisch untauglich“290, weil es an einer Rechtsfolge fehle. Kurzum: Von einer „strengen, rechtstheoretischen Unterscheidung“ könne keine Rede sein.291 Gleichwohl hält Schmitt an der rechtswissenschaftlichen Unterscheidung zwischen Maßnahme und Rechtsakt fest. Der Reichspräsident kann eben keine Gesetze erlassen.292 Die praktische Bedeutung der Unterscheidung sieht Schmitt darin, dass Maßnahmen, die generelle Anordnungen sind, keine Gesetzeskraft erlangen, denn Art. 48 Abs. 2 WRV verleiht kein gesetzesvertretendes Notverordnungsrecht (s. DDdR 99). Daran ändert sich für Schmitt auch nichts, wenn der Reichspräsident eine allgemeine Anordnung als Notverordnung erlässt, weil es sich nur um eine Maßnahme im Sinne von Art. 48 Abs. 2 Satz 1 WRV handle. Festzuhalten ist, dass Maßnahmen keine Gesetze im Sinne der grundrechtlichen als auch der (finanz)verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalte sind.293 Weiterhin postuliert Schmitt: Eine Verfassung ist keine Maßnahme, was folglich auch für eine Verfassungsänderung im eigentlichen Sinne des Wortes gilt (s. DDdR 98). So wäre es aus seiner Sicht verfassungswidrig, „wenn der Reichstag, ohne den Verfassungstext zu ändern, für einen einzelnen Fall, statt nach Art. 25 auf Anordnung des Reichspräsidenten, durch eigenen Beschluß selber sich auflösen wollte (…)“ (DDdR 98).

289 290 291 292

Zur Kritik an dieser Definition siehe Neumann (2015, S. 186). Ebd. Ebd. „Er kann alle die Akte nicht vornehmen, welche durch verfassungsmäßige Bindung an ein bestimmtes Verfahren eine solche Rechtsförmigkeit erhalten haben, daß sie aufhören, ausschließlich durch die Lage der Verhältnisse bestimmt zu werden. Er kann nicht ein formelles Gesetz nach Art. 68 der Verfassung erlassen“ (DDdR 99). 293 Neumann (2015, S. 186).

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Schmitts Bestimmung des Verhältnisses von Satz 1 und 2 des Abs. 2 stieß im Kollegenkreis auf „schärfste Gegnerschaft“ (DDdR 138). Allerdings rückten im Laufe der Zeit einige von ihnen der Position Schmitts immer näher. Kritisiert werde allerdings Schmitts Methode, nach der seine eigene Auslegung des Begriffs der „Maßnahme“ von dem „selbstgebildeten“ Begriff der Diktatur gesteuert werde294. 3. Gesetzvertretende Notverordnungen und finanzrechtliche Gesetzesvorbehalte. 3.1. Machtpolitische Defizite der Lehre Schmitts. Schmitts Ablehnung der gesetzesvertretenden Geltung der Verordnungen des Reichspräsidenten zeitigt keine gravierenden Folgen, weil der Reichspräsident ja ermächtigt ist, von der Verfassung abzuweichen.295 Mit dieser Auslegung vertat Schmitt (mit Jacobi) eine derart ausgeprägte Mindermeinung, dass kein Reichspräsident es wagen durfte, mit ihr als Begründung die Verfassung zu brechen. Ein Eingriff in die Grundrechte ließ sich – wie oben gezeigt – nur mit der herrschenden Lehre von der gesetzesvertretenden Kraft der Verordnungen des Reichspräsidenten rechtfertigen. Diese kannte aber auch einige diktaturfeste Gesetzesvorbehalte vor allem für das Finanzverfassungsrecht.296 Für die Regierung Brüning war diese Frage lebenswichtig, weil sie mit Art. 48 WRV nur regieren konnte, wenn Verordnungen des Reichspräsidenten diese finanzrechtlichen Vorbehalte überwinden konnten. Die Regierung gab im Jahr 1930 deshalb zwei Rechtsgutachten bei Schmitt und bei Thoma in Auftrag; wollte sich Schmitt als Regierungsberater profilieren, musste er die Defizite seiner Lehre beseitigen und, wenn möglich, die diktaturfesten Gesetzesvorbehalte beseitigen.

294 Zu Einzelheiten s. Neumann (2015, S. 188). 295 Ebd. S. 189; nachst. ebd. 189 f. 296 So Art. 134 WRV (Steuererhebung), Art. 85 Abs. 2 WRV (Haushaltsplan) und Art. 87 WRV (Kreditermächtigungen und Sicherheitsleistungen).

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3.2. Das „Hinzutreten“ des gesetzesvertretenden Verordnungsrechts. Diese diffizile Aufgabe erledigten der Aufsatz Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung, insbesondere ihre Rechtsgültigkeit und das Buch Der Hüter der Verfassung. Anstelle eines Widerrufs seiner Lehre verweist Schmitt nunmehr auf eine zehnjährige Rechtspraxis begleitet von einem umfangreichen Schrifttum und der Rechtsprechung, die in zwei Punkten zu einer allgemein anerkannten Auslegung von Art. 48 Abs. 2 WRV geführt hätten. Punkt eins betrifft „die Befugnis des Reichspräsidenten, g e s e t z e s v e r t r e d e n d e V e r o r d n u n g e n nach Art. 48 Abs. 2 RV zu erlassen“ (HdV 118) 297.

Trotzdem gibt Schmitt seine Lehrmeinung, wonach der Reichspräsident die Befugnis des Punktes eins eben nicht haben sollte, nicht auf, betrachtet den Punkt nach der „üblichen Auslegung“ aber für erledigt, als das gesetzesvertretende Verordnungsrecht des Reichspräsidenten, wenn es nicht schon in der Befugnis zu Maßnahmen enthalten wäre, jedenfalls nunmehr zu ihr hinzugetreten sei (s. HdV 120 f.) Mit diesem Hinzutreten sei zudem keine Einschränkung der Befugnis zu Maßnahmen verbunden: „Im Klartext heißt das, dass der Reichspräsident neben der ‚hinzugetretenen‘ Befugnis zum Erlass gesetzesvertretender Verordnungen weiterhin die von ihm und Jacobi eingeräumte Befugnis zu Verfassungsdurchbrechungen als Maßnahmen hat“.298

Die Frage, inwieweit dieses Verordnungsrecht als „Notverordnungsrecht“ bezeichnet werden kann, hält er mit Anschütz wohl nur für einen akademischen Streit um Worte. 3.3. Beseitigung der diktaturfesten Gesetzesvorbehalte der Finanzverfassung. Der zweite nunmehr durch Praxis, Schrifttum und Rechtsprechung allgemein anerkannte Punkt ist „die Entwicklung eines s p e z i f i s c h w i r t s c h a f t l i c h e n u n d f i n a n z i e l l e n Not- und Ausnahmezustandes“ (HdV 119299).

297 Herv. im Original. 298 Neumann (2015, S. 191; vorst. s. ebd. S. 190 f.). 299 Herv. im Original.

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Dies meint zweierlei. Einmal soll die Voraussetzung des Art. 48 Abs. 2 Satz 1 WRV – Notstand, erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – auch in wirtschaftlicher und finanzieller Notlage bzw. Gefahr begründet sein, und zweitens soll zu den außerordentlichen Befugnissen das Recht gehören, gesetzesvertretende Verordnungen mit wirtschaftlichen und finanziellen Inhalten zu erlassen.300 Schmitt begründet die Zulässigkeit mit vier Faktoren: „Die in der Staatsrechtslehre herrschende Auffassung habe den Reichspräsidenten dem einfachen Reichsgesetzgeber gleichgestellt, die Praxis der Reichsregierung habe zahlreiche Präzedenzfälle geschaffen, die von der Rechtsprechung des Reichgerichts, des Reichsfinanzhofs und des Staatsgerichtshofs bestätigt worden seien, und schließlich habe der Reichstag dieser Praxis dadurch zugestimmt, dass er die Außerkraftsetzung der nach Art. 48 Abs. 2 WRV ergangenen gesetzesvertretenden Verordnungen nicht verlang habe“.301

Verordnungen mit finanz- und wirtschaftlichem Inhalt wären demnach zulässig. Eine andere Frage sei, ob die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte für die Erhebung von Steuern und Abgaben (Art. 134 WRV), für die Feststellung des Haushaltsgesetzes (Art. 85 Abs. 2 WRV) und für Kreditermächtigungen und Sicherheitsleistungen (Art. 87 WRV) durch gesetzesvertretende Verordnungen erfüllt werden können. Von der herrschenden Auffassung wird diese Frage jedenfalls für die Feststellung des Haushaltsplans verneint.302 Schmitt argumentiert, dass wer A sage, auch B sagen müsse: Die h.M. habe die Verordnungen des Reichspräsidenten dem einfachen Gesetz im Grundsatz gleichgestellt, habe für die Steuern- und Abgabenerhöhung hingegen auf einen formellen Gesetzesvorbehalt verzichtet. Es könne deshalb, was für Abgaben und Steuern Recht ist, für andere finanztechnische Vorgänge nicht Unrecht sein. Der finanzrechtliche Gesetzesvorbehalt lässt sich folglich nur einheitlich beurteilen (HdV 123). Eine Differenzierung sei mithin unzulässig (HdV 124).303 Für Schmitt, der hier politikwissenschaftlich argumentiert, beruht der Grund aller Einwände gegen finanzgesetzvertretende Verordnungen auf

300 301 302 303

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Neumann (2015, S. 191). Ebd., S. 192. Ebd. S. 192 f.. Siehe ebd., S. 193.

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früheren Verfassungskonflikten (HdV 127 ff.). Der Vorbehalt des formellen (Parlaments-) Gesetzes sei ein politisches Kampfmittel des Bürgertums gegen die konstitutionelle Monarchie gewesen. Die Ausweitung auf finanzrechtliche Vorgänge zugunsten des Parlaments sollte die Macht der – von der Volksvertretung unabhängigen – königlichen Regierung einschränken. Nur in einem solchen Verfassungskontext könne der Begriff des unbedingt formellen Gesetzes Platz finden. Die Verfassungsstruktur sei heute jedoch eine andere als die des 19. Jahrhunderts (HdV 129). Für diese These liefert Schmitt vier Begründungen. Einmal beruhe der heutige Staat nicht auf einem Vertrag zwischen Volksvertretung und Regierung und das Haushaltsgesetz sei keine „Vereinbarung“ zwischen diesen zwei Verfassungsorganen. Zweitens sei die Regierung nicht mehr eine vom Parlament unabhängige Macht; die Einwirkungs- und Kontrollmittel eines funktionierenden Parlaments seien so stark, dass man aus diesem Grunde die Gesichtspunkte, die gegenüber der königlichen Regierung noch Sinn gemacht hätten, nicht auf heute übertragen könne. Drittens sei der Reichspräsident direkt vom deutschen Volk gewählt und damit ebenfalls ein Volksvertreter, womit das Monopol der Volksvertretung für das Parlament entfalle. Und viertens beruhe die Verfassung von Weimar auf einer Ausbalancierung plebiszitärer und parlamentarischer Elemente: „ihre Struktur ist wesentlich dadurch bestimmt, daß das Volk in gleicher Weise gegenüber dem Parlament wie gegenüber der Regierung und dem Präsidenten als der höhere Dritte (durch Neuwahl, Volksentschied und sonstige Abstimmungen) entscheidet“ (HdV 130).

Deshalb seien Verfassungskonflikte im Stil des 19. Jahrhunderts ebenso unmöglich, wie die Argumente und Begriffe desselben nicht übertragbar seien. Schmitt schließt mit der Frage, ob das finanzgesetzvertretende Verordnungsrecht dem Reichspräsidenten nicht eine grenzenlose und unkontrollierte Macht verleihe – und verneint sie aus folgendem Grund: „daß die eigentliche Grenze der außerordentlichen Befugnisse des Reichspräsidenten und die eigentliche Sicherheit gegen einen Mißbrauch seiner Macht in den K o n t r o l l b e f u g n i s s e n d e s R e i c h t a g s liegt, nicht in Normativitäten oder justizförmigen Hemmungen“ (HdV 131).

Als Instrumente für das Parlament nennt Schmitt das Verlangen auf Außerkraftsetzen und gegebenenfalls einen ausdrücklichen Misstrauensbe-

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schluss und als dessen Folge den Rücktritt der Regierung (Art. 54 WRV)304. „Die geltende Reichsverfassung gibt einem mehrheits- und handlungsfähigen Reichstag alle Rechte und Möglichkeiten, deren ein Parlament bedarf, um sich als den maßgebenden Faktor der staatlichen Willensbildung durchzusetzen. Ist das zum Schauplatz des pluralistischen Systems gewordene Parlament dazu nicht imstande, so hat es nicht das Recht, zu verlangen, dass auch alle anderen verantwortlichen Stellen handlungsunfähig werden“ (HdV 131).

Schmitt war unter den Weimarer Staatsrechtslehrern derjenige, der den Art. 48 Abs. 2 WRV im Sinne einer Diktatur des Reichspräsidenten am Weitesten auslegte. was aber nicht dazu führen dürfe, wie Neumann betont, diesen Unterschied mit den Kriterien rechtsstaatlich bzw. rechtsstaatswidrig zu beschreiben.305

304 Dieses Instrument war aber wegen der Auflösungsbefugnis des Parlaments durch den Reichspräsidenten entschieden die Schärfe genommen. 305 Neumann (2015, S. 196).

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Die Große Koalition Hermann Müllers gründete von Anfang an auf wackligen Beinen. Bestand in außenpolitischen Fragen zunächst weitgehend Einigkeit, hatten die wichtigen Fragen der Innenpolitik zwischen den Flügelparteien SPD und DVP fast schon antagonistischen Charakter.306 Bestenfalls schien ein vorsichtiges Lavieren möglich. Dies zeigte sich sofort an dem Streit um den Bau des „Panzerkreuzers A“. Von der vorhergehenden Bürgerblockregierung beschlossen, wegen Geldmangels aber aufgeschoben, hatte die SPD im Wahlkampf unter dem Motto „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“ das Bauvorhaben vehement abgelehnt. Als das neue Kabinett mit den sozialdemokratischen Ministern das Projekt zu realisieren begann, brach in der SPD ein Sturm der Entrüstung los und die sozialdemokratische Fraktion brachte den Antrag ein, das Bauvorhaben einzustellen. Damit zwang man den eigenen Kanzler mitsamt seinen sozialdemokratischen Ministern, gegen den zuvor gebilligten Kabinettsbeschluss zu stimmen. Glaubwürdigkeit geht anders.307 1. Flügel-Antagonismen und SPD-Versagen? Ende des Jahres rückten dann außenpolitische Fragen wieder an die Spitze der Regierungsagenda und das Jahr 1929 stand ganz im Zeichen der Reparationsfrage. Gegen eine wütende Agitation der nationalen Opposition gelang es der Koalition, den Young-Plan zu verabschieden. Damit aber war im März 1930 „der Vorrat an Gemeinsamkeiten erschöpft“.308 Überraschen konnte dies aber nicht: „Der tiefe gesellschaftspolitische Graben zwischen SPD und DVP war ein konstantes innenpolitisches Strukturelement der Zeit von Weimar“.

306 Das Verhältnis der zwei Parteien verschärfte sich noch durch den Tod Stresemanns und nach Beginn der Weltwirtschaftskrise täglich. Die DVP vertrat jetzt offen die Interessen der Schwerindustrie (s. Kolb/Schumann 2013, S. 90). 307 Siehe ebd. S. 89. 308 Siehe ebd. S. 90; nachst. s. ebd..

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Agonalität mit wachsendem antagonistischem Impetus hatte auch das Konzept der Sozialpartnerschaft infiziert. Die Unternehmerseite, die den Klassenkompromiss zwischen Arbeiterschaft und Kapital (15. November 1918) zur Abwehr von Planwirtschaft und Sozialisierung eingegangen war, zog diesen ab 1923 immer stärker in Zweifel. Die Kosten für die „sozialpolitischen Errungenschaften der Revolutionsmonate“ sah man auf Dauer – und vor allem nach dem Ende der Inflationsjahre – als nicht mehr tragbar an. Die sozialpolitischen Errungenschaften jetzt zurückdrehen zu wollen, „mußte für die Arbeitnehmer, vor allem aber für die Führer der Gewerkschaften, wie Verrat an den politischen Grundlagen Weimars aussehen“.309

Weitgehend unstrittig dürfte sein, dass sich die Arbeitgeber – Mittelpunkt der sozialpolitischen Kämpfe in den Jahren von 1923–1929 waren der Achtstundentag und die Tarifhoheit der Gewerkschaften – hinsichtlich der Arbeitsbeziehungen und der Lohnpolitik an der Zeit vor 1914 orientierten und nicht an 1918/1919.310 Die Verhärtung der Frontstellungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beweist sich an der eigentlich nur für Ausnahmesituationen gedachten staatlichen Zwangsschlichtung: Zwischen 1923 bis 1932 kam es zu über 76.000 Schlichtungsverfahren.311 Sichtbarster Ausdruck der Konflikte war der sog. „Ruhreisenstreik“, in dem die Schwerindustrie einem Schlichtungsspruch die Anerkennung verweigerte und im Verlauf der Auseinandersetzungen 230.000 Arbeitnehmer ausgesperrt hatte. Das System sozialer Sicherung war 1927 einvernehmlich von der rechtsbürgerlichen Regierungskoalition und der sozialdemokratischen Opposition in einer günstigen Konjunkturphase um die Arbeitslosenversicherung erweitert worden, auf deren Leistungen ein Rechtsanspruch bestand. Die Beiträge waren bei 3% des Arbeitsentgelts gedeckelt und von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hälftig zu tragen. Die Eigenmittel der „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ waren für eine Belastung von durchschnittlich 800.000 Arbeitslosen und aus einem Notstock für weitere 600.000 Arbeitslose berechnet worden. Würden die

309 Knut Borchardt zit. n Kolb/Schumacher (2013, S. 91). Die Evidenz der einzelnen Argumente von Kapital und Arbeit kann hier nicht diskutiert werden (s. dazu ebd. 91 ff.). 310 Vgl. Kolb/Schumacher (2013, S. 91). 311 Ebd. S. 92; nachst. s. S. 92 ff.

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berechneten Arbeitslosenzahlen überschritten, waren finanzielle Lücken durch Reichsmittel zu schließen. Dies musste früher denn erwartet geschehen, zeichnete sich doch bereits 1928 ein Rückgang der Konjunktur ab: Schon im Winter 1928/29 war die Zahl der Arbeitslosen auf nahezu drei Millionen angestiegen, so dass das Reich mit Darlehen einzuspringen hatte – bei der ohnehin bedrohlichen Haushaltslage des Reiches ein hochpolitischer Vorgang. Die Wirtschaft verlangte in einer Denkschrift – „Aufstieg oder Niedergang?“ – ein Ende der bisherigen „verkehrten Richtung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik“312, forderte Entlastungen für die Wirtschaft und verwahrte sich dagegen, die aus dem Young-Plan resultierenden Ersparnisse zur Deckung des Haushaltsdefizits zu verwenden.313 Sie wollte bereits zu diesem Zeitpunkt eine Festlegung der Regierung auf Steuersenkungen vor allem zugunsten höherer Einkommen für das Budgetjahr 1931.314 Nur unter größter Mühe, in Fronstellung zu Reichsbankpräsident Schacht und „warnend auf die Machtbefugnisse des Reichspräsidenten“ hinweisend315, war im Dezember 1929 eine Mehrheit für ein Finanzprogramm gefunden, das die Deckungslücke notdürftig überbrückte.316 Übrig blieben so drei Möglichkeiten einer Sanierung der Arbeitslosenversicherung: Beitragserhöhung, Leistungskürzung oder ein Mix aus diesen beiden Maßnahmen. Dies war mit der SPD nicht machbar, die ohnehin argwöhnten, dass Industrie und DVP die Axt an die Arbeitslosenversicherung an sich setzen wollten. Die DVP forderte eine systeminterne Sanierung über Leistungskürzungen. Die SPD, die dem bürgerlichen Lager bei der Agrar-, der Wirtschafts- und der Steuerpolitik große Zugeständnisse gemacht hatte,317 lehnte Leistungskürzungen weiter ab, wäre aber mit einer Anhebung

312 „Aufstieg oder Niedergang?“, hier zit. in (Kolb/Schumacher 2013, S. 94). Konkret wurde gefordert eine Senkung der Steuern auf Kapital- und Produktivvermögen und zum Finanzausgleich eine Erhöhung der Kopf- und Verbrauchssteuern und eine Senkung der Sozialabgaben (ebd. S. 94). 313 Siehe Mommsen (2009, S. 337). 314 Ebd. S. 352). 315 Büttner (2010, S. 391). 316 Zu Details s. ebd., S. 391. Die Zustimmung zu diesem Notkompromiss kam nur noch durch den persönlichen Einsatz Stresemanns zustande (Mommsen 2009, S. 336). 317 Büttner (2010, S. 392).

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des Beitrags auf nunmehr 3,75 Prozent einverstanden gewesen.318 Unter dem Druck von allen Seiten wurde der 1929 von Finanzminister Hilferding und seinem Staatssekretär Johannes Popitz eingebrachte Finanzplan schließlich zu Fall gebracht.319 Eine als Kompromiss von dem Vorsitzenden des Zentrums Heinrich Brüning angedachte provisorische Regelung bis Herbst 1930 wurde von der SPD abgelehnt, die in dieser Frage gespalten war.320 Die größere Zahl der SPD-Minister mit Reichkanzler Müller war für eine Annahme des Brüning-Kompromisses, die Gruppe um den Reichsarbeitsminister Wissel und die Gewerkschaften lehnten ihn aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Für sie war die Arbeitslosenversicherung ein Eckpfeiler des sozialen Fortschritts seit der Revolution. Zudem fürchtete der SPD-Fraktionsvorstand eine Abspaltung der Freien Gewerkschaften und beschloss mehrheitlich, den Brüning-Kompromiss abzulehnen. So beschloss das Kabinett am 27. März 1930 seine Gesamtdemission:321 „Tatsächlich war der Sturz vorprogrammiert“.322 „Die Große Koalition zerbrach nicht am Streit um einen ominösen Prozentbruchteil des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung“,323 sondern an den unüberbrückbaren innenpolitischen Gegensätzen der Flügelparteien SPD und DVP, dem illoyalen Widerstand des Reichsbankpräsidenten Schacht und der Festlegung der Gruppe um v. Hindenburg und v. Schleicher auf das Ziel, die SPD aus der Regierung zu entfernen. Man kann das Verhalten der SPD „nicht nur als taktisch höchst ungeschickt, sondern politisch außerordentlich kurzsichtig“ und als eine „Selbstausschaltung“ werten324, taktisch war es dies auch.325 Aber zu vervollständi-

318 Der ursprüngliche Beitragssatz von 3 Prozent war schon auf 3,5 Prozent angehoben worden (s. Grevelhörster 2002, S. 148). 319 Siehe Mommsen (2009, S. 338). Popitz zählte zum engen Freundeskreis Schmitts. 320 Nachst. s. Grevelhörster (2002, S. 149 f.). 321 Die SPD hatte vorgeschlagen: keine Leistungskürzungen, Aufrechterhaltung der Verpflichtungen des Reiches, eine Beitragserhöhung auf vier Prozent und ein Notopfer der Festbesoldeten (Kolb/Schumacher 2013, S. 94).Im Übrigen hätte die Annahme des Brüning-Kompromisses, so Büttner, den von der DVP angestrebten Abbau der Versicherung wahrscheinlicher gemacht (Büttner 2010, S. 393). 322 Mommsen (2009, S. 349 f.). 323 Kolb/Schumacher (2013, S. 95). 324 So ebd. S. 95. 325 Siehe Mommsen (2009, S. 353 f.).

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gen ist, dass der Kurs der SPD von den Gewerkschaften hätte mitgetragen werden müssen, und vor allem, dass die DVP, die nach dem Tode ihres noch kompromissfähigen Strategen Stresemann am 3. Oktober 1929 letztlich mit der SPD nicht mehr koalitionswillig und für die SPD nicht mehr koalitionsfähig war, ihre Rolle als parlamentarischer Interessenvertreter der Schwer- und Großindustrie sowie der Unternehmerverbände eingenommen hatte. Überdies war sie über die Absicht des Reichspräsidenten informiert, die SPD nach Annahme des Young-Plans um jeden Preis aus der Regierung zu entfernen.326 Die SPD mag sich aus Rücksicht auf die hinter ihr stehenden Gewerkschaften selbst aus dem Spiel genommen haben, aber die DVP vertrat Interessenpolitik pur für Schwerindustrie und Arbeitgeberverbände, und zudem war „das Interesse am gemeinsamen Weiterregieren mittlerweile restlos aufgebraucht“.327 Derart fehlten der SPD die Mitspieler und ihre Verhandlungsposition wurde immer prekärer: Sie wurde in der Regierung nicht mehr gewünscht und „nicht mehr gebraucht, während ihre Anhänger und die verbündeten Gewerkschafter von ihr die entschlossene Verteidigung des Sozialstaats erwarteten“.328

Die letzte parlamentarische Regierung war mit 21 Monaten länger im Amt als jede vor ihr. Rettend hätte der Reichspräsident eingreifen können, er allein hätte mit Art. 48 WRV dem sozialdemokratischen Kanzler zu Hilfe kommen können, aber v. Hindenburg lehnte ab und erteilte umgehend dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning den Auftrag zur Regierungsbildung. Heute lässt sich aufgrund der Quellenlage mit Bestimmtheit sagen, „daß der folgenschwere Übergang von der parlamentarischen Regierungsweise zum Präsidialregime von langer Hand geplant und sorgfältig vorbereitet worden ist“.329

Dieser Vorgang bewirkte eine tiefgreifende qualitative Veränderung des Verfassungssystems.

326 Büttner (2010, S. 392). Erinnert sei auch, dass die DVP sich bereits ihre parlamentarische Zustimmung zum Young-Plan mit grundlegenden sozial- und finanzpolitischen Zusagen im Interesse ihrer Klientel „abkaufen“ ließ (s. Mommsen (2009, S. 336). 327 Grevelhörster (2002, S. 150). 328 Büttner (2010, S. 393). 329 Kolb/Schumacher (S. 213, S. 132). Einzelheiten s. (ebd. S. 132 f.).

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2. Die Regierung Brüning und der Übergang zur Präsidialregierung.330 Das Scheitern der Regierung Müller hatte unabhängig jedweder Gründe dem Reichspräsidenten v. Hindenburg und seiner Entourage in die Karten gespielt. Die konservative Umgründung der Weimarer Republik, von der Winkler bei der Wahl des Junkers und Feldmarschalls v. Hindenburg zum Reichspräsidenten gesprochen hatte,331 ging nunmehr in die akut-praktische Phase über.v. Hindenburg „und mit ihm die Exponenten des erstarkenden großagrarisch-schwerindustriell-militärischen Kartells“332 hatten schon lange eine bürgerliche Reichsregierung mit oder ohne Mehrheit im Parlament favorisiert.333 So hatte der Reichspräsident bei der Berufung Brünings klargemacht, dass das neue Kabinett angesichts der parlamentarischen Schwierigkeiten nicht auf der Basis koalitionsmäßiger Bindungen beruhen sollte.334 Diese Planung wurde schon bei Brünings Regierungserklärung auch öffentlich deutlich. Die Arbeit seines Kabinetts werde „der letzte Versuch sein, die Lösung mit diesem Reichstage durchzuführen“.335 Damit war klar, dass hier nicht eine klassische Minderheitsregierung am Werke sein würde, die sich Mehrheiten zu suchen hatte, sondern eine Regierung, die sich durch den Reichspräsidenten – gestützt auf Art. 48 WRV – ermächtigt sah, „das Parlament zur Unterwerfung unter den Willen des Staatsoberhaupts und der von ihm gewählten Regierung zu zwingen“.336 Am 29. März trat das erste Kabinett Brüning sein Amt an. Erstmals hatte

330 Zur Vorgeschichte und Entwicklung s. Stürmer (1993, S. 310-317). 331 Winkler (2000 Bd. I, S. 461). „Was sich im Frühjahr 1925 vollzog, war nichts Geringeres als ein stiller Verfassungswandel, eine konservative Umgründung der Politik“ (ebd.). 332 „Die volle Tragweite der Selbstbindung Hindenburgs an die Interessen der ostelbischen Großlandwirtschaft, die mit seiner verfassungsmäßigen Stellung unvereinbar war, wurde erst nach dem Sturz der Großen Koalition ganz erkennbar. Auch das Kabinett Brüning sollte den letzten Stoß erhalten, als ihm unterstellt wurde, dem ‚Agrarbolschewismus‘ in die Hände zu arbeiten“ (Mommsen, 2009, S. 349). 333 Kolb/Schumann (2013, S. 95). General v. Schleicher hatte bereits im Frühjahr 1929 die Große Koalition durch ein bürgerliches Rechtskabinett ersetzen wollen, für dessen Führung vor allem Heinrich Brüning im Gespräch war. Hinderlich war, dass an dem bisherigen Kabinett festgehalten werden musste, solange der Young-Plan nicht verabschiedet war (s. Mommsen 2009, S. 343 ff.). 334 Büttner (2013, S. 399). 335 Brüning,-Zitat bei Büttner (2010, S. 399). 336 Ebd. S. 399).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

ein Reichspräsident die dualistische Konstruktion der Regierungsbildung Weimars genutzt und über die Köpfe des Parlaments hinweg einen Kanzler ausschließlich nach eigenem Gusto ernannt, wozu er nach Art. 53 WRV allerdings berechtigt war.337 Brünings persönliches Ziel war es, im nationalen Kampf gegen Versailles – also primär gegen die Reparationsverpflichtungen – Erfolge zu erzielen, was letztlich auch gelang. Ein im Young-Plan vorgesehener Sonderausschuss stellte auf seiner Tagung von Lausanne im Juni/Juli 1932 klar, dass Deutschland nicht in der wirtschaftlichen Lage sei, seinen Reparationsverpflichtungen nachzukommen, woraufhin die Lasten gestrichen wurden. Brüning hatte sein Ziel erreicht – aber um welchen Preis. Ein Misstrauensantrag von SPD und KPD zum Start des Brüning‘schen „v. Hindenburg-Kabinetts“ verfehlte sein Ziel um nur vier Stimmen, weil die vorgelegten Steuergesetze und Agrarprogramme von Teilen der DNVP mitgetragen wurden. Im Juni gelang dieses „Wunder“ nicht mehr. Bei der Abstimmung über eine Deckungsvorlage zur Sanierung des Staatshaushalts auf der Basis rigoroser deflationspolitischer Maßnahmen – Kürzung der Staatsausgaben, Steuer- und Abgabenerhöhungen, Steuererhöhungen für höhere Einkommen, Notopfer der Festangestellten – lehnte das Parlament trotz Brünings Drohung mit Art. 48 WRV einen Teil der Deckungsvorlage mit 256: 193 Stimmen ab. Umgehend wurde die Deckungsvorlage vom Kabinett – rechtlich zweifelhaft – als Notverordnung in Kraft gesetzt, weshalb die SPD sofort die Aufhebung derselben beantragte und eine Mehrheit fand (236:221). Brüning verkündete sofort die Auflösung des Reichstags und die aufgehobene Notverordnung wurde in verschärfter Fassung erneut erlassen. Besser konnte die veränderte Verfassungswirklichkeit zu diesem Zeitpunkt nicht demonstriert werden:338 „Mit diesem Akt und mit diesem Tag begann die permanente Durchbrechung des Verfassungssystems durch die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten, die sich mit ihrer ersten Maßnahme sogleich gegen die ihr von der Verfassung auferlegten Beschränkungen wandte“.339

337 Art. 54 schränkte ein, dass es sich beim Kanzler um eine Persönlichkeit handeln müsse, von der „anzunehmen“ war, dass der Reichstag ihr das Vertrauen nicht versagen würde. Von BVP, DDP, DVP und Stimmen aus dem deutschnationalen Lager unterstützt, war dieses Kriterium wohl erfüllt (s. Grevelhörster 2000, S. 153). 338 Siehe Kolb/Schumacher (2013, S. 133 f.). 339 Gerhard Schulz zit. in Kolb/Schumacher (2013, S. 134).

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

Im Ergebnis wurde ein grundsätzlich handlungsfähiger Reichstag mit möglichen parlamentarischen Mehrheiten bis 1932 mit Vorsatz ausgeschaltet, um die SPD aus der Macht zu entfernen und ein Präsidialregime durchzusetzen.340 Damit wechseln wir zur Theorie Carl Schmitts. I. Der Hüter der Verfassung (1931). „Res dura et regni novitas me talia cogunt moliri (…)“. Carl Schmitt.341

1. Einführung. Mit dem Erscheinen der Verfassungslehre und dem Dienstantritt in Berlin im Jahr 1928 hatte die theoretische Arbeit Schmitts der „so ertragreichen Bonner Jahre“ ihren systematischen Abschluss gefunden.342 Jetzt nahm die von Schmitt angestrebte Rolle als Politikberater und als Publizist politisch-staatsrechtlicher Kommentierungen in den Printmedien ihn in den Jahren 1930 bis Ende 1932 immer stärker in Anspruch. Denn die Ausschaltung des Parlaments und die Praxis der Präsidialkabinette bedurften nachdrücklicher Analyse und staatstheoretischer Rechtfertigung. Staatsrechtliche Grundlage dieses Verfahrens war das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten v. Hindenburg nach Art. 48 Abs. 2 WRV.343 Schmitt

340 Neumann (2015, S. 172). 341 Mit diesem Vergil-Zitat – Vergil: Aeneis (Liber primus, 563-564) – schließt Schmitt das Vorwort in „Der Hüter der Verfassung“ (1931). Die Übersetzung lautet: „Die schwierige Lage und das kurze Bestehen der Herrschaft, zwingen mich, solches zu unternehmen (…)“.Bei Virgil wird die Geburt eines Knaben und der Beginn eines goldenen Zeitalters unter der Herrschaft des Apollo oder Sol bzw. Helios prophezeit, das ganz im Zeichen von Frieden und Gerechtigkeit steht. Hinter diesem Virgil-Zitat steht die Schrift Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee. von Eduard Norden (1924), der „die Idee von der Geburt des göttlichen Kindes als Glied einer Kette altägyptischer, jüdischer, griechischer und christlicher Überlieferungen“ deutet (Schlunke 2016, S. 36), über die Schmitt mit seinem Verleger Feuchtwanger korrespondierte. Mehring stellt die Frage zur Diskussion, ob Schmitt so die Frage nach der Geburt einer neuen Elite aufgeworfen habe (s. Mehring 2009, S. 247). 342 Mehring (2011, S. 47). 343 Neumann (2015, S. 176).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

wird in dieser Zeit „zugleich Kronjurist und Chefideologe des starken Staates“.344 Diese Haltung folgte konsequent aus seiner Kritik am Pluralismus, am Parteien-Bundesstaat und an der „konkreten Verfassungslage der Gegenwart“ im Ganzen (HdV 71). Wir werden sehen wie und warum Schmitt nur noch in der Autorität des Reichspräsidenten die Kraft erkennt, die in der Lage ist, der zunehmenden Diffusion der staatlichen Kräfte Einhalt zu gebieten.345 Es gilt festzuhalten, dass der grundlegende Aufsatz „Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung“, der bereits wesentliche erste Thesen zu dem Problem eines Hüters der Verfassung formulierte, 1928 vor den sog. Weimarer Krisenjahren verfasst und veröffentlicht wurde. Dieser Aufsatz ist in der Schrift Der Hüter der Verfassung vom März 1931 erweitert und verändert wiedergegeben (HdV, Vorwort).346 Wer soll der „Hüter der Verfassung“ sein? Diese Frage führte 1931 erneut zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen Hans Kelsen und Carl Schmitt.347 Es ging in dieser Debatte um die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit bzw. um die Ausweitung der Kompetenzen des Staatsgerichtshofs. Um ein neues Problem handelte es sich freilich nicht: „Die Kritiken an der Verfassungsgerichtsbarkeit sind so alt wie die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit selbst“.348 Und so vollzog sich der Streit um den Hüter der Verfassung vor unterschiedlichen staats- und demokratietheoretischen Positionen. 2. Der Streit um das richterliche Prüfungsrecht.349 Das Reichsgericht hatte am 4. Nov. 1925 entschieden, dass jeder Richter die Kompetenz habe, Parlamentsgesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der

344 Ebd. 345 Mehring (2011, S. 51.) 346 Die Vorträge der Wiener Staatsrechtslehrertagung von 1928 hat Schmitt in einem weiteren Aufsatz von 1929 verarbeitet, der ebenfalls in den Hüter der Verfassung (1931) einfloss (Neumann 2015, S 229, FN 331-334). Außerdem sind Formulierungen aus Aufsätzen und Vorträgen der Jahre 1929 und 1930 „in den systematischen Zusammenhang des Themas gebracht“ (HdV, Vorwort). 347 Siehe Walkenhaus (1997 Kap. 6). 348 van Oyen (2015 b, S. 37). 349 Siehe dazu Hartmann (2007); Neumann (2015, insb. S. 220-225). Wir behandeln hier nur den Fall der Normenkontrolle von Parlamentsgesetzen, der in der Regel

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

Verfassung zu prüfen, und zwar, was weitgehend unstreitig war, in formeller, aber eben auch in materieller Hinsicht zu prüfen und gegebenenfalls als verfassungswidrig zu verwerfen.350 Die Frage des richterlichen Prüfungsrechts – von Anfang an hochpolitisch – war eine der härtesten Auseinandersetzungen in der deutschen Staatsrechtslehre351, obwohl das Problem des richterlichen Prüfungsrechts in Deutschland zunächst ein „kümmerliches Dasein“ fristete.352 Das änderte sich mit dem Inkrafttreten der österreichischen Verfassung am 1. Okt. 1920, dem geistigen Kind Hans Kelsens. Sie sah – vereinfacht formuliert – vor, dass der Verfassungsgerichtshof Parlamentsgesetze kontrollieren könne.353 Wir unternehmen diesen Seitenblick, weil die Frage des richterlichen Prüfungsrechts in Deutschland zur Vorgeschichte der Debatte um die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit gehört.354 2.1. Zum Streitgegenstand. Die Positionierung der deutschen Staatsrechtslehre stellte sich entlang vertrauter Frontlinien. Die republikanisch denkenden, meist positivistischen Staatsrechtslehrer erkannten in einem richterlichen Prüfungsrecht das Drohpotenzial, dass sich der verfassungsinhärente Klassenkompromiss zulasten der lohnabhängigen Arbeiterschaft verschieben könnte. Dieses Menetekel sahen sie bereits in dem oben genannten Urteil des Reichsgerichts zur Frage des Geldwertes aufscheinen, das für die Mittelschicht – und damit auch für die beamteten Richter – von eminenter wirtschaftlicher Bedeutung war.355 Es wurde, wie Neumann treffend zuspitzt, eine „Art Klassenjustiz“ befürchtet, die sich gegen das Parlament richtete, das überwiegend Arbeiter- und Mittelstandsinteressen zu vertreten hatte.356

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auch gemeint ist, wenn vom richterlichen Prüfungsrecht die Rede ist (dazu Hartmann 2007, S. 155). Die Entscheidung – RG v. 4.11.1925 – V 621/24 – RGX 111, 320-335 (322 f.) – befasste sich mit Fragen der Geldentwertung bzw. Geldaufwertung. Siehe Neumann (2015 a, S. 220). Siehe Sontheimer (1978, S. 75 ff.). Hartmann (2007, S. 157). Ebd. Neumann (2015, S. 225). Siehe Stolleis (2002, S. 190). Neumann (2015, S. 221).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Die Mehrheit der Staatsrechtslehrer aber stand der Republik skeptisch bis ablehnend gegenüber. Für viele von ihnen war die Bejahung des richterlichen Prüfungsrechts ein weiterer wichtiger Baustein in ihrer Parlamentarismus- und Pluralismuskritik. Besonders Heinrich Triepel, der als erster 1919 ein richterliches Prüfungsrecht forderte, ließ nie einen Zweifel an dem antiparlamentaristischen Ziel dieser Forderung; es war ihm „der wichtigste Schutz der bürgerlichen Freiheit gegenüber einem machthungrigen Parlament“357 Pointiert-treffend beurteilt Hartmann die politische Rollenverteilung:358 „Die Debatte erscheint in gewisser Weise ironisch: Normenkontrolle schützt die Verfassung vor verfassungswidrigen Gesetzen: Die demokratische Linke wollte das demokratische Parlament schützen vor einer überwiegend monarchisch gesonnenen Richterschaft. Sie wandte sich nicht gegen die Normenkontrolle, um die Verfassung zu schwächen, sondern um das Parlament zu stärken. Umgekehrt unterstützte die Rechte die Normenkontrolle nicht, um die Verfassung abzusichern, sondern um das Parlament unter Druck zu setzen. Die Einstellung zur Normenkontrolle folgte also aus der Einstellung zur parlamentarischen Demokratie“.359

2.2. Die Position Carl Schmitts. Neumann konstatiert lapidar: „Schmitts Position zum richterlichen Prüfungsrecht ist Schwankungen unterworfen“.360 In seinem Rechtsgutachten zur „Fürstenenteignung“361 vom 4. Nov. 1925 komme er offenbar zu dem Ergebnis, dass dem Richter sowohl ein formelles als auch ein materielles

357 Neumann (2015, S. 221; inneres Zitat von H. Triepel). 358 „Weil rechtliche Argumente nicht halfen, folgerten Rechtsgelehrte der Zeit, dass politische Argumente die Frage beantworten müssten“ (Hartmann 2007, S. 163 zum „dilatorischen Kompromiss“ des Reichstags, sich gegenüber der Frage des Prüfungsrechts regelungsabstinent zu entscheiden ebd. S. 164). 359 Hartmann (2007, S. 167). 360 Neumann (2015, S. 223). 361 In den Rechtsstreiten um die Fürstenenteignung der Weimarer Republik war zu entscheiden, was mit den bisher nur beschlagnahmten Vermögen der deutschen Fürstenhäuser, die mit der Novemberrevolution 1918 politisch entmachtet worden waren, geschehen soll. Es häuften sich ab den Revolutionsmonaten Gerichtsverfahren zwischen einzelnen Fürstenhäusern und den Ländern des Deutschen Reiches. Politische Höhepunkte waren das erfolgreiche Volksbegehren im März 1926 und der gescheiterte Volksentscheid zur entschädigungslosen Enteignung am 20. Juni 1926. Die Rechtsstreite wurden schließlich mit individuellen Abfin-

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

Prüfungsrecht zusteht.362 In seiner Verfassungslehre führt Schmitt aus, aus dem Fehlen einer Verfassungsnorm könne nicht, wie es das Reichgericht getan habe, ohne Weiteres ein richterliches Prüfungsrecht begründet werden.363 Schmitt wendet ohne weitere Begründung ein, aus der Tatsache, dass keine andere Stelle benannt sei, „folgt keineswegs, daß es die Gerichte sind, die solch ein Prüfungsrecht haben (…)“ (VL 195). Die Frage: „Wer entscheidet?“, beantwortet Neumann mit eingehender Begründung, dies könne nur der Souverän sein; dass dies ein Gericht sein könne, sei eine Schmitt völlig fremde Vorstellung, weshalb ein Richter allenfalls über ein formelles Prüfungsrecht verfügen dürfe.364 Schmitt fährt allerdings fort: „Trotzdem möchte ich die richterliche Prüfungszuständigkeit hinsichtlich einfacher Gesetze bejahen, weil nämlich das Problem der Gewaltenunterscheidung trotzdem gewahrt bleibt“ (VL 196).

Wir können in dieser Arbeit den theorieimmanenten Gründen bzw. Widersprüchen nicht weiter nachspüren,365 denn selbstverständlich verbleibt auch hier die Frage: „Wer entscheidet?“ Was kurz andiskutiert werden sollte, sind die gegenseitigen Einflüsse und Rückwirkungen schwieriger rechtlicher mit rechtspolitischen Fragen. Es mahnt uns erneut, bei der Lektüre Schmitts die politische Dimension immer „mitzulesen“. Und Volker Neumann hat mit seiner Vermutung wohl Recht, dass für die Schmittschen Inkonsistenzen in dieser brisanten Frage politische Gründe die wichtigeren gewesen sein könnten. Wir werden in diesem Kapitel noch sehen, dass Schmitt ein Auswuchern der Gesetzgebung in alle Lebensbereiche des Menschen kritisiert (s. HdV 81 ff.). Abhilfe aber sucht er nicht in der Justiz, sondern bei Regierung und Reichspräsident.366

362 363

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dungsverträgen beigelegt (s. Kolb/Schumann 2012, S. 86; Mommsen 2009, S. 296 ff.; Longerich 1995, S. 239 f.). Einzelheiten bei Neumann (2015, S. 223). RGZ Bd. 111, S. 322: „Da die Reichsverfassung selbst keine Vorschrift enthält, nach der die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze dem Richter entzogen und einer bestimmten anderen Stelle übertragen wäre, muß das Recht und die Pflicht des Richters, die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen zu prüfen anerkannt werden“ (VL 195). Neumann (2015, S. 224). (…) die juristisch hochinteressant sind und deshalb auch die Nichtjuristen interessieren sollten. Neumann (2015, S. 225).

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3. Die Debatte um die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. 3.1. Richterliches Prüfungsrecht oder Verfassungsgericht. Der rechtspolitische Streit um das richterliche Prüfungsrecht ist ein wichtiger Teil der Debatte um die Institutionalisierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, bei der keineswegs die Gegner des Prüfungsrechts automatisch auch Gegner einer Verfassungsgerichtsbarkeit waren. Schon der 34. Juristentag 1926 zu Köln hatte gefordert, die Kompetenz zur Prüfung von Parlamentsgesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit dem Staatsgerichtshof zu übertragen und das Reichsinnenministerium hatte zwei Gesetzentwürfe ausgearbeitet.367 Jedem Gericht ein Prüfungsrecht auf die Verfassungsmäßigkeit von Parlamentsgesetzen einzuräumen, würde unzweifelhaft Rechtseinheit wie Rechtssicherheit bedrohen. Wer diese Auffassung teilt, müsste folglich zum Kreis der Befürworter einer eigenen verfassungsgerichtlichen Institution zählen. Dass dem nicht so war, lag an den politischen Implikationen dieser Lösung, die fachjuristische Überlegungen in den Hintergrund drängten. Politisch ging es um den Schutz bürgerlicher Interessen vor dem demokratisch gewählten Parlament, denn befürchtet wurde schlicht die Politisierung von Rechtsfragen. Diese Politisierung würde auch Organisation, Verfahren und richterliche Besetzung eines Staatsgerichtshofs und so mit einer gewissen Folgerichtigkeit auch die Entscheidungen selbst erfassen, argumentierte insbesondere Heinrich Triepel.368 Dazu passte, dass Triepel in seiner Berliner Rektoratsrede vom Sommer 1927 den Weimarer „Parteienstaat“ als eine krankhafte Verfallserscheinung diagnostiziert hatte, und partikulare Parteiinteressen mit staatlichem Gemeinwohl als unvereinbar und „extrakonstitutionell“ erklärt hatte.369 Folglich hatte für ihn jeder Richter den Bürger gegenüber dem Gesetzgeber zu schützen.

367 Siehe Neumann (2015, S. 225). Zu den Tagungen der Staatsrechtslehrer s. Stolleis (2002, S. 186-202). 368 Siehe ebd. S. 226. 369 van Oyen (2015 b, S. 39).

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

3.2. Die Position Kelsens anhand der Staatsrechtslehrertagung 1928 in Wien. Nach einem abwägenden Einführungsreferat Triepels zu „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“, der überraschend eine klare Festlegung vermied, aber stark die Unausweichlichkeit des Politischen betonte370, korreferierte Kelsen den Mitbericht, „doppelt so lang und inhaltlich ‚von einem anderen Stern‘“, mit dem Ergebnis, „dass eine Verfassungsgerichtsbarkeit zwar mit Risiken verbunden sei, gegen die aber rechtliche Vorkehrungen getroffen werden können“.371 Zwei Hauptargumente waren gegen eine Verfassungsgerichtsbarkeit ins Feld geführt worden: Ein Verfassungsgericht sei, erstens, mit der Souveränität des Parlaments oder mit der Volkssouveränität unvereinbar. Die Souveränität eines einzelnen Staatsorgans, so Kelsen erwidernd, gebe es nicht; wenn, könne nur die gesamte Rechtsordnung souverän sein. Der zweite Einwand behauptete, dass die Aufhebung eines Gesetzesaktes durch ein anderes Organ als das Gesetzesorgan ein unzulässiger Eingriff in die gesetzgebende Gewalt sei. Kelsens Gegenargument: Aufhebung wie Erlass eines Gesetzes hätten den gleichen generellen Charakter und seien folglich auch ein Akt der Gesetzgebung. Es liege deshalb eine Übertragung der Gesetzgebung auf zwei Organe vor: das Parlament und das Verfassungsgericht, ein Widerspruch zum Gewaltenteilungsprinzip sei daraus nicht ersichtlich.372 Ansichten, so Neumann, die verfassungsprozessrechtlich heute noch aktuell sind: „In der Tat war Kelsen seinen Kritikern aus dem deutschen Reich um Jahrzehnte voraus“.373 Damit ist die Problemlage für die Fragen nach einem „Hüter der Verfassung“ kurz umrissen.

370 Stolleis (2002, S. 194). 371 Siehe Neumann (2015, S. 226; nachst. 226 f.). Die Möglichkeit einer Verfassungsgerichtsbarkeit begründet Kelsen mit dem Stufenbau des Rechts. Da es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung gebe, müsse es möglich sein, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung ebenso juristisch zu kontrollieren wie die Gesetzesvollziehung durch die Justiz (ebd.). 372 Siehe ebd. S. 227. Zu Einwänden – sprachlich offene Formeln, actio popularis – und Lösungen durch Kelsen selbst s. (ebd. 227 f.). 373 Ebd. S. 228.

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

4. Die Justiz als Hüter der Verfassung 4.1. Das Vorwort vom März 1931. „Die wissenschaftliche Behandlung eines solchen Gegenstandes ist ohne eine Vorstellung von der konkreten Verfassungslage nicht möglich“ (HdV, Vorwort).

Dies liege, so Schmitt, nicht an den „zu erwartenden parteipolitischen Mißdeutungen“, sondern an „der außerordentlichen Verwirrung der heutigen verfassungsrechtlichen Zustände Deutschlands, die in einer großen Wandlung begriffen sind“ (HdV, Vorwort).

Bereits im Vorwort liefert Schmitt erste wichtige Stichworte zu seiner Sicht der konkreten Verfassungslage: Die „gleichzeitige Verbindung und Kreuzung“ der föderalen Organisation der Republik mit „anderen Prinzipien staatlicher Willensbildung“ erschwerten die Analyse der realen Lage, die er versuche, mit den Begriffen des „pluralistischen Parteienstaats“ und der „Polykratie“ zu kennzeichnen, welche aber wiederum das Problem der „innerpolitischen Neutralität des Staates“ aufwerfen würden. Keineswegs aus Freude an einer „geistvollen“ oder „anregenden“ These unternehme er dies, „sondern ganz unter dem Zwang einer mit dem Gegenstande selbst gegebenen Notwendigkeit. Res dura et regni novitas me talia cogunt Moliri“ (HdV, Vorwort)374. 4.2. Einleitende Übersicht über verschiedene Arten und Möglichkeiten des Verfassungsschutzes. „Der Ruf nach einem Hüter der Verfassung ist meistens ein Zeichen kritischer Verfassungszustände“ (HdV 1).

Ein klassischer Schmitt-Einleitungssatz eröffnet eine zunächst historische Einführung in Arten und Möglichkeiten des Verfassungsschutzes. Erste derartige Pläne seien in England nach dem Tode Cromwells (1658) aufgetreten, somit nach den ersten modernen Versuchen geschriebener Verfassungen und einer staatlichen Notlage, nämlich der Auflösung der republikanischen Regierung unmittelbar vor der Restauration der Monarchie. Be-

374 Herv. im Original.

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

handelt wurde die Problematik unter Ideen wie „Wahrers der Freiheit“ oder „Wahrers der Verfassung“. Über die Verfassung Pennsylvanias taucht während der Französischen Revolution in der Verfassung von 1799 ein Senat als Hüter (Conservateur) der Verfassung auf (HdV 1). Auch in den Verfassungen von Bayern (1818) und Sachsen (1831) finden sich – „Von der gewähr der Verfassung“ – meist für die Stände Beschwerde- und Anklagenormen wegen Verfassungsverletzungen. In Sachsen kann gar der Staatsgerichtshof über Verfassungsfragen entscheiden. Nach den realpolitischen Erfolgen Bismarcks allerdings verschwand die Thematik weitgehend von der Tagesordnung. Otto Mayer formuliert in seinem Sächsischen Staatsrecht (1909) Verfassungsunstimmigkeiten: „Sie sind sämtlich bestimmt, womöglich nicht zur Anwendung zu kommen und haben bis jetzt auch tatsächlich keine Gelegenheit dazu gefunden“ (zit. n. HdV 3; nachst. s. ebd.).

In dieser „Wohlgeborgenheit“ hätte man die bloße Frage nach dem Hüter der Verfassung als „Politik“ abgetan, – die eigene Auffassung selbst wäre „natürlich“ eine „unpolitische“ gewesen. Da Leugnung und Blindheit Verfassungsprobleme aber nicht erledigten, stehe das Thema mit der Weimarer Verfassung wieder auf der Tagesordnung, deren grobe Linien wir oben stehend bereits abgearbeitet haben.375 Wichtig ist die Erkenntnis, die Schmitt nach seinem historischen Parforceritt zieht und mit der er zu seinem Hauptteil überleitet: Wenn in deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts ein besonderer Staatsgerichtshof „zum gerichtlichen Schutz der Verfassung“ neben anderen Garantien vorgesehen sei, „so kommt darin die einfache Wahrheit zum Ausdruck, daß der gerichtliche Schutz der Verfassung eben nur einen Teil der Einrichtungen zum Schutz und zur Garantie der Verfassung ausmachen kann und daß es eine summarische Oberflächlichkeit wäre, über diesem gerichtlichen Schutz die sehr engen Grenzen jeder Gerichtlichkeit und die vielen anderen Arten und Methoden einer Verfassungsgarantie zu vergessen“ (HdV 11). 4.3. Die Justiz als Hüter der Verfassung.

375 Zu den Einzelheiten und Spezialproblemen, die wir aussparen können siehe (HdV 3 ff.).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

4.3.1. Funktionswandel der Verfassung. Für die von ihm aufgedeckten Fehlentwicklungen der parlamentarischen Demokratie Weimars sucht Schmitt nach Gegenkräften. Da die „Zwei-Verfassungen-Verfassung“ Weimars aus der Sicht Schmitts Mitschuld an diesen Dilemmata trug, schien sich bei einer Krise des – auf dem legislativen Parlament aufgebauten – parlamentarischen Gesetzgebungsstaates als erste Gegenkraft die Justiz als ein Hüter der Verfassung anzubieten. Attestierte man der Verfassung im monarchischen Staat ursprünglich eine Schutzfunktion vor der exekutiven Regierungsgewalt, trete als Hüter und Garant der Verfassung jetzt die Legislative auf: die Volksvertretung, das Parlament. Diese Funktion der Verfassung aber habe sich geändert. Verfassungsgesetzliche Regelung übernähmen nunmehr große Teile der Aufgaben, die sonst von der einfachen Gesetzgebung erledigt worden wären, um sie „vor diesem Gesetzgeber, d.h. vor wechselnden Parlamentsmehrheiten, zu schützen. Die verfassungsrechtliche ‚Verankerung‘ soll bestimmte Interessen, insbesondere Minderheitsinteressen, vor der jeweiligen Mehrheit sichern. Darin liegt ein merkwürdiger Funktionswandel und eine gegen das demokratische Mehrheitsprinzip gerichtete Tendenz“ (HdV 24).

Mit diesem Funktionswandel der Verfassung gehe eine veränderte Vorstellung vom Hüter der Verfassung einher: Drohe Gefahr aus der legislativen Sphäre, könne der Gesetzgeber nicht mehr Hüter der Verfassung sein, und weil in den Köpfen noch immer das ursprüngliche Misstrauen gegen die Exekutive arbeite, verbliebe als potenzieller Hüter nur noch die dritte Gewalt: die Justiz. Diese Lösung wirft nicht nur für Carl Schmitt Fragen auf, zuvörderst: Ist diese Tätigkeit als Verfassungshüter überhaupt noch Justiz? Nähern wir uns dieser Schlüsselfrage von der praktischen Seite. 4.3.2. Politisierung der Justiz. Für einige Notverordnungen des Reichspräsidenten hatte der Reichstag die Außerkraftsetzung beschlossen (nachst. s. HdV 29 ff.). Daraufhin löste der Reichspräsident den Reichstag auf.376 Unterdessen hatte die Regierung

376 „Nachdem der Reichstag heute beschlossen hat, zu verlangen, daß meine auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung erlassenen Verordnungen vom 16. Juli

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

Brüning am 26 Juli 1930 die außer Kraft gesetzten Notverordnungen zum großen Teil wiederholt. Die unter vielen verfassungsrechtlichen Zweifeln aber wohl wichtigste Frage war, „ob die in der Verordnung vom 26. Juli 1930 enthaltene Anwendung des Artikels 48 eine verfassungswidrige Umgehung und Beseitigung der Gesetzgebungsbefugnis der Reichstagsmehrheit bedeutet, und ob man ferner mit Recht sagen kann, der Reichstag sei nicht mehrheitsfähig und infolgedessen auch nicht handlungsfähig gewesen“ (HdV 29/30).

Wofür die Antwort aber wiederum davon abhänge, ob die Regierung alles getan habe, um eine Mehrheit zu gewinnen. Die Regierung Brüning berief sich auf die Handlungs- und Beschlussunfähigkeit des Reichtags, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen. Insbesondere die Sozialdemokratie erhob in den „Neuen Blättern für den Sozialismus“ den Gegeneinwand, die Regierung habe sich um eine regierungsfähige Mehrheit nicht bemüht, obwohl diese erreichbar gewesen wäre: „Sie (die Regierung, w.a.m.) hat sich aber in keiner Weise um eine solche Mehrheit nach links, wo sie allein gewonnen werden konnte, bemüht“ (HdV 30).

Die Regierung Brüning habe eindeutig nur eine rechte Mehrheit oder eben keine angestrebt. Schmitt zitiert nun den sozialistischen Wirtschafts- und Sozialpolitiker Eduard Heimann aus der gleichen Quelle, der – hier nur im Ergebnis zusammengefasst – eine Linksmehrheit nicht für erzielbar gehalten habe. Nach dieser Meinung hätte Brüning also keine andere Wahl gehabt. Wenn, so Schmitt, schon unter Gesinnungs- und Parteigenossen in der gleichen Zeitschrift solch unterschiedliche Ansichten möglich seien, „so wird erkennbar (…), daß es sich bei solchen verfassungsrechtlichen Stellungnahmen juristisch betrachtet immer nur um das quis judicabit, d.h. um die Dezision und nicht um die Pseudonormativität einer justizförmigen Gerichtlichkeit handeln kann.“ (HdV 30/31).377

Eine verfassungsgerichtliche Stellungnahme als gerichtliche Entscheidung wäre also gar nicht möglich gewesen, oder hätte notwendig selbst einen rein politischen Charakter haben müssen.378

außer Kraft gesetzt werden, löse ich auf Grund Art. 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf“ (HdV 29). 377 Selbstverständlich wird und darf es auch unter Partei- und Gesinnungsgenossen unterschiedliche Ansichten geben. 378 Fijalkowski (2015, S. 71).

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„Würde man aber statt der verfassungsmäßig zuständigen Stelle einen Staatsgerichtshof einsetzen, der über alle sich erhebenden Zweifel und Meinungsverschiedenheiten entscheiden soll, und der von einer zu andern Entschlüssen vielleicht nicht fähigen Reichstagsmehrheit, oder sogar von einer Reichstagsminderheit angerufen werden könnte, so wäre dieser Staatsgerichtshof eine politische Instanz neben dem Reichstag, dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung, und es wäre nichts anderes erreicht, als daß mit irgendwelchen ‚Entscheidungsgründen‘, Regierungsakte unter dem Schein der Justizförmigkeit ergingen oder verboten würden“ (HdV 31).

Wir stoßen hier, so Fijalkowski zu Recht, an die sachlichen Grenzen jeder Justiz: „Die innere Logik jeder zu Ende gedachten Justizförmigkeit führt unvermeidlich dahin, daß die echte richterliche Entscheidung erst post eventum kommt“ (HdV 32).

Und dies „um so mehr, je gründlicher und sorgfältiger, je rechtsstaatlicher und justizförmiger das Verfahren gestaltet wird“ (HdV 33).

Dieses Argument ist einsichtig, auch wenn es nicht für alle Prozessarten und für jeden Gerichtszweig in gleichem Maße zutrifft und es für bestimmte Bereiche einen präventiven Rechtsschutz gibt.379 Doch gerade Einstweilige Verfügungen des Gerichts bringen den Richter für Schmitt in die Lage, „politische Maßnahmen zu treffen oder solche zu verhindern und in einer Weise politisch aktiv zu werden, die ihn zu einem mächtigen Faktor der staatlichen Innen- und gegebenenfalls sogar Außenpolitik macht; seine richterliche Unabhängigkeit kann ihn dann vor der politischen Verantwortlichkeit nicht mehr schützen (…)“ (HdV 32).380

Ist folglich die Sachlage aus faktisch politischen Gründen oder der Weite jeder geschriebenen Verfassung unklar, könne die Justiz nur eine höchst politische Funktion ausüben, womit aber zugleich die Frage nach ihrer politischen Verantwortlichkeit aufgeworfen wäre, würde doch eine Entscheidung zur aktiven Gesetzgebung, ja zu einer Verfassungsgesetzgebung und

379 Siehe dazu Neumann (2015, S. 230). 380 An anderer Stelle betont Schmitt, man kann dem Richter „nicht die politische Entscheidung, die Sache des Gesetzgebers ist, übergeben, ohne seine staatsrechtliche Stellung zu ändern“ (HdV 37), d.h. ohne die Gewaltenteilung des bürgerlichen Rechtsstaats zu verändern oder gar aufzuheben (vgl. HdV 36 ff.)

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

einem Souveränitätsakt. Dies führt zu einer politjuristischen Gemengelage, „die sich mit ihrer in der strikten Gesetzesgebundenheit begründeten politischen Unverantwortlichkeit und Unkontrollierbarkeit nicht vereinbart“.381

Schmitt vertritt also vehement die These, dass die justizförmige Erledigung politischer Angelegenheiten zu einer hochproblematischen Politisierung der Justiz führen würde. Dabei habe, greift er ein Wort Guizots auf, „die Politik nichts zu gewinnen und die Justiz alles zu verlieren“ (HdV 35). Seine Folgerung lautet: „Es liegt nahe, die justizförmige Erledigung aller politischen Fragen als rechtsstaatliches Ideal aufzufassen und dabei zu übersehen, daß mit der Expansion der Justiz auf eine vielleicht nicht mehr justiziable Materie die Justiz nur geschädigt werden kann. Denn die Folge wäre (…) nicht etwa eine Juridifizierung der Politik, sondern eine Politisierung der Justiz“ (HdV 22).

Justiz scheint in klaren Fällen offensichtlich ihrem Wesen nach auf eine nachträglich korrigierende, repressive und vindikative Funktion beschränkt.382 4.3.3. Subsumtion und Dezision: Der Eigenwert der juristischen Entscheidung. Das zweite Hauptargument gegen eine juristische Institution als Hüter der Verfassung filtriert Schmitt aus den unterschiedlichen Arbeitsweisen der Justiz. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Feststellung: Das Wesen der richterlichen Tätigkeit liegt in der Gesetzesanwendung. Die besondere, verfassungsmäßige Stellung des Richters im bürgerlichen Rechtsstaat – seine Objektivität, Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit – beruhe nur darauf, „daß er eben auf Grund eines Gesetzes entscheidet und seine Entscheidung inhaltlich aus einer anderen, meßbar und berechenbar im Gesetz bereits enthaltenen Entscheidung abgeleitet ist“ (HdV 37/38).383

381 Siehe Fijalkowski (2015, S. 72). 382 Diese Funktion tritt etwa bei Hochverratsprozessen auf (vgl. HdV 27; Fijalkowski 1958, S. 71). 383 Diese These habe Schmitt den Spott Kelsens eingehandelt, weil so die Justiz „als Rechtsautomat“ handle (vgl. Neumann 2015, S. 230). Nun klingt zwar die Formulierung der anderen „im Gesetz bereits enthaltenen Entscheidung“ tatsächlich

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Nun enthält aber jede richterliche Entscheidung ein Moment reiner Dezision, die aus dem Inhalt der angewandten Norm nicht abgeleitet werden kann. Es ist dies seit Gesetz und Urteil (1912) Schmitts Lehre vom Eigenwert der Entscheidung.384 „In jeder Entscheidung, selbst in der eines tatbestandsmäßig subsumierenden prozeßentscheidenden Gerichtes liegt ein Element reiner Entscheidung, das nicht aus dem Inhalt der Norm angeleitet werden kann. Ich habe das als Dezisionismus bezeichnet“ (HdV 45/46)

Die Zweifel in einem Gerichtsprozess betreffen in aller Regel die Frage, was eigentlich der Tatbestand ist, und nicht den Inhalt des Gesetzes, der in aller Regel klar und eindeutig ist.385 Denn wir haben zwei grundsätzliche Fälle der Prüfung von Verfassungsrecht zu unterscheiden: Im ersten Fall steht ein ordentliches Gesetz als Grundlage einer richterlichen Prozessentscheidung im Widerspruch zu verfassungsgesetzlichen Regelungen, oder der Inhalt von Verfassungsnormen ist selbst unklar und zweifelhaft. Im ersten Fall hat die ordentliche Justiz ein sog. materielles Prüfungsrecht, von dem sie akzessorisch und inzidenter in ordentlichen Prozessen Gebrauch machen kann. Sie kann dem einfachen Gesetz wegen des Vorrangs von Verfassungsrecht die Anwendung auf den gerichtlich zu verhandelnden Tatbestand versagen; keineswegs aber wird es für ungültig erklärt und aufgehoben. Wie stellt sich nun die Lage dar, übertrüge man diese Problematik einer besonderen Instanz? Dann, so Schmitt, sei immer noch ein Verfassungsgesetz Grundlage des Prozesses, aber sein Gegenstand ist nicht mehr ein Fall, eine Tat oder ein Sachverhalt, sondern selbst eine Norm.386 Die Anwendung einer Norm auf eine Norm aber, so Schmitt, sei etwas „qualitativ“ anderes als die Anwendung einer Norm auf einen Sachverhalt, die Subsumtion eines Gesetzes unter ein anderes Gesetz und – wenn überhaupt denkbar – etwas wesentlich anderes, als Subsumtion eines geregel-

etwas merkwürdig, aber der Vorwurf eines Rechts – oder Entscheidungsautomatismus lässt sich n.u.E. daraus auch nicht herleiten. Kein Fall ist wie der andere, – das muss dann auch für die Entscheidung gelten. 384 Siehe hier das Kapitel Gesetz und Urteil. Siehe Neumann (2015, S. 231). 385 Für den Not- und Ausnahmefall – der Inhalt eines Gesetzes ist unklar, es fehlt überhaupt ein treffendes Gesetz – wird die Justiz zum Quasigesetzgeber (s. Fijalkowski 1958, S. 68). 386 Vgl. Fijalkowski (1958, S. 68).

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

ten Sachverhaltes unter seine Regelung (HdV 42).387 Jedenfalls, so Schmitt, zeigt die Normenkontrolle, „daß der typisch justizmäßige Vorgang der richterlichen, durch tatbestandsmäßige Subsumtion gewonnenen Entscheidung bei der Entscheidung einer Normenkollission in keiner Weise vorliegt. Es wird überhaupt nicht subsumiert, es wird nur ein Widerspruch festgestellt und dann entschieden, welche der einander widersprechenden Normen gilt und welche „außer Anwendung“ bleiben soll“ (HdV 42/43).388

Die mit unterschiedlichen Mehrheiten gefällten Urteile des Höchsten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten – „Fünf gegen Vier“ oder „Ein-MannEntscheidungen“ – verdeutlichten, dass mit dem Urteil nun keineswegs alle Verfassungszweifel in allen einleuchtenden Argumenten verwandelt sind: „Der Sinn ist nicht überwältigende Argumentation, sondern eben Entscheidung durch autoritäre Beseitigung des Zweifels. Noch viel stärker aber und wesensbestimmender ist der dezisionistische Charakter jedes Ausspruches einer Instanz (…)“ (HdV 46).

Die Entscheidung als solche ist demnach Sinn und Zweck des Urteilsspruches. Schmitt zieht daraus für einen Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches, würde er denn eingerichtet, den Schluss: „Wenn hier ein Gerichtshof entscheidet, ist er offenbar Verfassungsgesetzgeber in hochpolitischer Funktion“ (HdV 48).389

Nun wird jede Institution, die sich mit Verfassungsfragen befasst, in der Lage sein müssen, das Politische im Allgemeinen und eine politische Lage im Besonderen einer Wertung zu unterziehen, erst recht, wenn sie das verfassungsrechtlich Streitige richtig entscheiden will bzw. muss. Deshalb gesteht Kelsen Schmitt, bei aller Kritik, auch zu, dass seine Fragen nach den Grenzen der Justiz berechtigt seien.390 Doch wenden wir uns hier von Kelsens Kritik an Schmitt ab und betrachten Kelsens Standpunkt zunächst selbst.

387 Ausführlich dazu (HdV 42 f.). 388 Zu Einwänden und Problemen sowie Lösungsvorschlägen s. Neumann (2015, S 230 f., mit weiteren Nachweisen). Wir müssen uns auf Hauptpunkte beschränken, die Einzelproblematiken können in dieser Arbeit nicht nachgezeichnet werden. 389 Siehe Neumann (2015, S. 231). 390 Ebd.

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

4.3.4. Die Position Hans Kelsens. Die entscheidende Leistung Hans Kelsens zur Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit ist demokratietheoretischer Natur: das Verfassungsgericht wird nicht als Widerspruch, sondern als Garant der Demokratie begriffen. Recht und Politik werden also nicht als entgegengesetzt gedacht, sondern als gegenseitig funktional verortet. Die Verfassung hat als Ausdruck der politischen Kräfteverhältnisse in einer pluralistischen Gesellschaft die Funktion einer „Vereinssatzung“ (van Oyen), die den Kampf der unterschiedlichen politischen Interessen rational und berechenbar moderiert: „Hierüber vollzieht sich die Herstellung des ‚Gemeinwohls‘ als ‚Resultierende‘ des pluralistischen Kräftespiels“ (…).391 Insoweit ist die Verfassung auch der Minimalkonsens, auf den sich die verschiedenen politischen Gruppierungen geeinigt haben. Aus dieser funktionalen Sicht der Verfassung „hütet“ das Verfassungsgericht, • dass im politischen Prozess der rivalisierenden politischen Gruppen die „Spielregeln“ – d.i. die Verfassung – eingehalten werden, auch im Sinne eines Minderheitenschutzes, und, • dass nicht einfach Änderungen der Regeln vorgenommen werden, „dass kein fundamentaler Eingriff in die existenziellen Rechte der Minderheiten ohne deren vorherige Zustimmung erfolgt“.392 „Institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit eröffnet daher die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle und Durchsetzung des von den politischen Gruppen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren ausgehandelten ‚Gemeinwohls‘ (= Gesetz) im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem als Basis zwischen den Gruppen ausgehandelten Grundkonsens (= Verfassung) bei gleichzeitiger Gewähr, dass dieser Grundkonsens selbst von einer dominierenden Gruppe (= Mehrheit) nicht gegen alle anderen (= Opposition) einfach außer Kraft gesetzt werden kann. Wenn das Verfassungsgericht ein Instrument der Garantie der Verfassung ist, so bedeutet das aus dieser funktionalen Sicht dann nichts anderes als die Garantie der offenen, pluralistischen Struktur von Gesellschaft und politischem Prozess. Und weil hierbei überhaupt den Minderheiten eine zentrale Bedeutung zukommt, ist für Kelsen deren Schutz durch den Vorrang der Verfassung die Kernfunktion von Verfassungsgerichtsbarkeit.“393

391 van Oyen (2015 b, S. 40). 392 Ebd. S. 41. 393 Ebd. S. 41/42.

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Das Verfassungsgericht ist also weniger der „Hüter der Verfassung“, sondern ein „negativer Gesetzgeber“ (Kelsen), weil es im Rahmen der Normenkontrolle Parlamentsgesetze wegen ihrer Unvereinbarkeit mit der Verfassung einkassieren kann. Ob dies dann noch echte Justiz ist, oder ob es sich um eine politische Institution handelt, ist für die Funktion eines Verfassungsgerichts dann zunächst unerheblich. Das Herzstück der Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Normenkontrolle, mit ihr steht und fällt der verfassungsgerichtliche Schutz der pluralistischen Demokratie.394 Dass das Verfassungsgericht eine Schiedsrichterfunktion ausübt, ist Kelsen bewusst, und damit ist es auch ein Organ im politischen Prozess, mithin ein „politisches Organ“, das über seine Kompetenzen Macht ausübt.395 Wenn dem aber so ist, hat es die politischen Faktoren, mit denen es arbeitet, einzubeziehen und offenzulegen, und nicht in juristisch verkleideter Form zu präsentieren. Über die Normenkontrolle teilt sich das Verfassungsgericht als „negativer Gesetzgeber“ die legislative Gewalt mit dem Parlament, so wie dies das Parlament auch im föderalistischen System und beim Plebiszit zu tun hat. Schmitts erster Argumentationsstrang hat zu dem Ergebnis geführt, dass eine Verfassungsgerichtsbarkeit nicht im System der Justiz angesiedelt ist, weil Entscheidungen über verfassungsrechtliche Streitfragen hochpolitisch sind und damit einer justizförmigen Erledigung fremd. Es wäre dann „dieser Staatsgerichtshof eine politische Instanz neben dem Reichstag, dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung, und es wäre nichts anderes erreicht, als daß mit irgendwelchen ‚Entscheidungsgründen‘, Regierungsakte unter dem Schein der Justizförmigkeit ergingen oder verboten würden (s. HdV 31).

4.4. Der Reichspräsident als „Hüter der Verfassung“ – „pouvoir neutre et intermédiaire“. Die Verfassungsgerichtsbarkeit kann also zu keinen justizförmigen Entscheidungen kommen, weil die Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten oder Auslegungsfragen zwangsläufig hochpolitisch ist. Abhilfe könne demnach nur eine neutrale Instanz – „pouvoir neutre et intermédiaire“ – schaffen, die allein der Reichspräsident sein könne, weil nur seine

394 Siehe ebd. S. 43. 395 Nachstehend siehe ebd. S. 44 ff..

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

verfassungsrechtliche Stellung und seine Befugnisse – plebiszitäre und deshalb unmittelbar demokratische Wahl auf sieben Jahre, erschwerte Abberufungsmöglichkeit, Unabhängigkeit vom Parlament, völkerrechtliche Vertretung des Reiches, Ernennung und Entlassung der Beamten und Offiziere der Wehrmacht, Reichstagsauflösung, Gesetzesausfertigung und Verkündung und seine Kompetenzen nach Art. 48 WRV – Neutralität und parteipolitische Unabhängigkeit garantiere. Parteienstaat und Parlamentarismus seien dazu nicht in der Lage, wie Schmitt im zweiten Kapitel nachweisen will.396 5. Die konkrete Verfassungslage der Gegenwart. 5.1. Pluralismus, Polykratie und Föderalismus. „Der konkrete Verfassungszustand des heutigen Deutschen Reiches soll hier durch drei Begriffe kurz charakterisiert werden: Pluralismus, Polykratie und Föderalismus“ (HdV 71).

Anhand dreier unterscheidbarer Begriffe und Phänomene – „auf verschiedenen Gebieten des staatlichen Lebens verschieden hervortretende Entwicklungserscheinungen unserer staatsrechtlichen Verhältnisse“ – lässt sich für Schmitt der konkrete Verfassungszustand Weimars charakterisieren (HdV 71). Wir geben ihre „Distinktionen (…) nicht etwa erschöpfende Definitionen“ durch Schmitt nachstehend im Wortlaut wieder. Die drei Erscheinungen können selbstständig betrachtet werden, was wir tun werden, treten aber in der Staatswirklichkeit meistens mit einer oder gar beiden anderen Erscheinungen zusammen auf (vgl. HdV 71 f.; s. z.B. HdV 93). „So kann immer, je nach der taktischen Lage, eines das andere ausspielen und ausnutzen, stützen oder untergraben, bekämpfen oder begünstigen. Auf diesem verwickelten Durcheinander zentrifugaler Kräfte und einem System von zentripetalen Gegenbewegungen steht das heutige Deutsche Reich“ (HdV 72).

Alle drei Bewegungen aber verbindet ein Gegensatz: Sie richten sich gegen „eine geschlossene und durchgängige staatliche Einheit“ (HdV 71).

396 Siehe Neumann (2015, S. 232).

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

5.1.1. Entwicklung des Parlaments zum Schauplatz eines pluralistischen Systems.397 5.1.1.1. Einführung: Pluralismustheorie.398 „In der Weimarer Republik (…) wurde das Gegeneinander der sozialen und politischen Gruppen, die sich in ihrer Kompromißfähigkeit als verhängnisvoll eingeschränkt erwiesen, von Anbeginn mit prinzipieller Schärfe ausgetragen und blockierte sogleich den staatlichen Organismus selbst.“399

Carl Schmitt, der die Pluralismusdiskussion in Deutschland eröffnet hat,400 definiert – er selbst spricht nur von „Distinktionen“ – den Pluralismus als die Macht mehrerer sozialer Größen über die staatliche Willensbildung (HdV 71). „P l u r a l i s m u s dagegen bezeichnet eine Mehrheit festorganisierter, durch den Staat, d.h. sowohl durch verschiedene Gebiete des staatlichen Lebens, wie auch durch die territorialen Grenzen der Länder und autonomen Gebietskörperschaften hindurchgehender, s o z i a l e r Machtkomplex, die sich als solche der staatlichen Willensbildung bemächtigen, ohne aufzuhören, nur soziale (nicht-staatliche) Gebilde zu sein“ (HdV 71401).402

397 Zum Pluralismus Carl Schmitts s. v. Waldstein (2008). 398 Der Pluralismus und seine Theorien entwuchsen aus der sozialen Realität. Ein pluralistischer Urtext sind die Federal Papers, die die amerikanische Verfassungsdiskussion 1787/1788 prägten. Die Verfasser fürchteten, dass ein wenig gegliedertes Staatswesen dazu tendiert, Minderheiten zu unterdrücken. Als vorbeugendes Gegenmittel empfahl man, das Volk in möglichst viele Parteiungen und Interessengruppen aufzugliedern. Auch Alexis de Tocqueville sieht in solcher Aufgliederung ein freiheitssicherndes Element, vor allem wenn die Gesellschaftsordnung demokratisch ist. Jean Jacques Rousseau hingegen ist der Apostel des Antipluralismus. Nur wenn es keine Sonderinteressen gebe, kann ein einheitlicher Gemeinwille – wenn möglich einstimmig – gebildet werden, der mit dem Gemeinwohl identisch ist. An ihn schließt Carl Schmitt geistig an (s. Massing 1996, S. 63). 399 Bracher (1960, S. 31). 400 v. Waldstein (2008, S. 185). Den Begriff „Pluralismus“ selbst übernahm er von dem englischen Politikwissenschaftler Harald Laski, der mit ihm das Nebeneinander von Staat und anderen Verbänden bezeichnete (Neumann 2015, S. 198). Zur Theorie- und Werkgeschichte siehe (ebd. 198 ff.; siehe v. Waldstein 2008, S. 33-55). 401 Herv. im Original. 402 Diese Definition unterscheidet sich inhaltlich nicht wesentlich von neueren: „Unter Pluralismus (P.) versteht man die Existenz gesellschaftlicher Interessen- und

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Das Interesse Carl Schmitts an den politischen Pluralismustheorien rührt einmal aus der Ursachenforschung für die zunehmende Lähmung und die sich verstärkenden Auflösungserscheinungen der Weimarer Republik, die er konstatiert und kritisiert, und zweitens aus seinem erwachten Interesse an soziologischen und politischen Themen aus der angloamerikanischen Wissenschaftscommunity.403 „Das gilt von der weitaus interessantesten Staatslehre, die im letzten Jahrzehnt aufgestellt worden ist, der sogenannten pluralistischen Staatstheorie von Harold J. Laski. Ihr Pluralismus besteht darin, die souveräne Einheit des Staates, d.h. die politische Einheit zu leugnen und immer wieder hervorzuheben, daß der einzelne Mensch in vielen verschiedenen Verbindungen lebt: (…)“.404

Erstmals verwendet Schmitt den Begriff „Pluralismus“ in der Rezension zu Friedrich Meineckes: Idee der Staatsraison (PuB 52). Ab jetzt ist der Pluralismus Thema nahezu jeder staatsrechtlichen Schrift in Weimar.405 Die erste kritische Befassung findet sich in Der Begriff des Politischen (1927) und umfassender dann in dem Aufsatz Staatsethik und pluralistischer Staat (1930).406 Schmitt bemängelte, dass kein Buch von Laski und Coles – beide sind mit dem liberalen Individualismus verbunden und leugnen immer wieder „die souveräne Einheit des Staates, d.h. die politische Einheit“ (BP 41) – eine „bestimmte Definition des Politischen“ liefere, denn ihr Staat verwandle sich einfach „in eine Assoziation, die mit anderen Assoziationen konkurriert; er wird zur Gesellschaft neben und zwischen anderen Gesellschaften, womit offenbleibe, was politische Einheit überhaupt noch sein soll (BP 44). Laskis Beobachtung der sozialen Realitäten in den Industriestaaten mündet in die These, der Staat sei nunmehr ein Objekt, das versuche, die konträren Gegensätze sozialer und wirtschaftlicher Machtgruppen auszugleichen, greift Schmitt auf.407 In dem

403 404 405 406 407

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Organisationsvielfalt sowie deren Einwirkung auf die polit. Prozesse“ (Eisfeld in: Nohlen/Grotz Hg. 2015, S. 469). Siehe v. Waldstein (2008, S. 53), mit weiteren Literaturangaben zur Pluralismusdiskussion der Jahre 1920-1930. Auch mit seinem Förderer Moritz Julius Bonn tausche er sich über die Pluralismus-Problematik aus (ebd. 53 f. FN 181). Der Begriff des Politischen in PuB (1927, S. 67). Neumann (2015, S. 199). Siehe hier das Kapitel Von der Verfassungslehre zur Staatslehre. Laski vertrat in der Souveränitätsdiskussion die radikalste Position, weil er dem Staat sogar die juristische Omnipotenz absprach und „seine Lehre der Pluralität der Souveränitäten begründete“ (Winfried Steffani in Steffani/Nuscheler (1972, S. 11).

I. Der Hüter der Verfassung (1931).

Vortrag Staatsethik und pluralistischer Staat (1930), zeichnet Schmitt die Theoriegeschichte des Pluralismus und seine Kritik nach. 5.1.1.2. Pluralismus im Hüter der Verfassung. Der Hüter der Verfassung soll nun eine Realanalyse der pluralistischen Auflösung des Staates liefern. Ein pluralistischer Konsens der staatlichen Einheitsbildung gilt Schmitt nunmehr als ausgeschlossen und die pluralistische Konstellation wird als eine Gefahr wahrgenommen, die den Staat zersetzt und von Schmitt deshalb als „verfassungswidrig“ bewertet wird (vgl. HdV 131). Auch führe der Pluralismus keineswegs zu größeren individuellen Rechten und bedrohe im Gegenteil die gesellschaftliche Macht wie auch die individuelle Freiheit, weil der Mensch nunmehr einer „Pluralität der Treueverpflichtungen und der Loyalitäten“ (BP 41) gegenüberstehe, deren Rangordnung im Konfliktfall vakant sei. Gestärkt würden nur die sozialen und wirtschaftlichen Assoziationen, und der Staat verbleibe als bloßes Kompromissobjekt. Die unveränderte Beibehaltung zahlreicher Institutionen und Normierungen trotz einer völlig veränderten gesellschafts- und staatspolitischen Lage kennzeichnet für Schmitt die Verfassungssituation der Gegenwart. Insbesondere kannten die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts noch die klare Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Der Staat war noch stark genug, all dem, was nicht Staat, sondern eben Gesellschaft war, selbstständig gegenüberzutreten, ohne aber das Gesellschaftliche überflüssig zu machen. Derart war ein dualistisches Gleichgewicht möglich, auch wenn der Staat der bestimmende Beziehungspunkt blieb. Die Volksvertretung jedenfalls, das Parlament, war als der Schauplatz gedacht, auf dem die Gesellschaft dem Staat gegenübertritt (s. HdV 73 f.).408 Idealiter gelte für das Parlament die Aussage Bluntschlis409: „Der gesetzgebende Körper aber trägt in seiner Bildung die wichtigsten Garantien, daß er nicht seine Befugnisse in verfassungswidrigem Geiste ausübt“ zit. n. HdV 77).

408 Wir können uns hier kurz fassen, da wir das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bei Schmitt schon ausführlich behandelt haben. 409 Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) war ein Schweizer Rechtswissenschaftler und Politiker.

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Dieser Satz zeige, so Schmitt, dass in der Vorstellung des 19. Jahrhunderts das Parlament die eigentliche Garantie der Verfassung in sich selbst trug. Dies gehörte zum Glauben an das Parlament und sei zugleich die Voraussetzung, dass die gesetzgebende Körperschaft der Träger des Staates, und der Staat selbst wiederum ein Gesetzgebungsstaat ist (HdV 77; nachst. 77 f.). Das setze aber immer eine Konstellation voraus, analysiert Schmitt, in der das Parlament als Vertreter des Volkes und der Gesellschaft, einen von ihm unabhängigen starken monarchischen Beamtenstaat als Partner des Verfassungspaktes vor sich sieht. Die Volksvertretung werde in dieser Konstellation zum wahren Hüter und Garanten der Verfassung, weil die Regierung diesen Pakt nur widerstrebend geschlossen hat und von daher Misstrauen verdient. Im Ergebnis wollte das ganze liberale 19. Jahrhundert den Staat und die Staatstätigkeit auf ein Minimum reduzieren, um die bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte – persönliche Freiheit, freie Meinungsäußerung, Vertrags-, Wirtschafts- und Gewerbefreiheit, Privateigentum – vor staatlichen Eingriffen zum Wohle der freien Konkurrenz zu bewahren. Ziel war der liberale, nichtinterventionistische, neutrale Staat. Das änderte sich in dem Maße, fährt Schmitt fort, in dem die dualistischen Konstruktionen von Staat und Gesellschaft, Regierung und Volk, ihre Spannung verloren und der Gesetzgebungsstaat sich vollendete hatte: „Denn jetzt wird der Staat zur ‚Selbstorganisation der Gesellschaft‘“ (HdV 78). Organisiere die Gesellschaft sich aber selbst, „so werden alle sozialen und wirtschaftlichen Probleme unmittelbar staatliche Probleme und es ist nicht mehr zwischen staatlich-politischen und gesellschaftlich-unpolitischen Sachgebieten zu unterscheiden“ (HdV 78/79).

Die antithetischen Begriffe wie z.B. Staat und Wirtschaft, Politik und Religion usf. verlören jetzt ihren Sinn und der zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewandelte Staat ergreife alles Gesellschaftliche, „d.h. alles, was das Zusammenleben der Menschen angeht“ (HdV 79), Damit aber gebe es keine neutralen Gebiete mehr. Im nunmehr zur Selbstorganisation gewordenen Staat gibt es nichts, was nicht wenigstens potenziell staatlich und politisch wäre: „die im Staat sich selbst organisierende Gesellschaft ist auf dem Wege, aus dem neutralen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts in einen potenziell t o t a l e n Staat überzugehen. (…) vom a b s o l u t e n Staat des 17. und 18. Jahr-

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hunderts über den n e u t r a l e n Staat des liberalen 19. Jahrhunderts zum t o t a l e n Staat der Identität von Staat und Gesellschaft“ (HdV 79)410.

Dieser neue Staatstypus ist potenziell total, aber politisch schwach, weil er der Anbrandung der organisierten Interessen und der Parteien nicht gewachsen ist.411 Derart ist „die liberale Neutralität des Staates bereits unvollziehbar geworden“.412 Am auffälligsten zeigt sich diese Wendung für Schmitt auf dem Gebiet der Wirtschaft. Der Anteil der öffentlichen Finanzwirtschaft im Verhältnis zur freien und privaten Wirtschaft weise bereits eine „qualitative Veränderung“ auf (HdV 80; nachst. s. ebd.). 1928 seien 53 v.H. des deutschen Volkseinkommens von der öffentlichen Hand kontrolliert und der freie Markt weitgehend ausgeschaltet worden. Zu beobachten sei die Wendung vom Anteilssystem zum Kontrollsystem. Entscheidend für die politische Lage, so der Reichssparkommissar und Staatsminister Sämisch, sei die öffentliche Finanzwirtschaft, so dass Schmitt für den modernen Industriestaat resümiert: „Entscheidend ist hier für die staats- und verfassungstheoretische Betrachtung, daß das Verhältnis des Staates zur Wirtschaft heute der eigentliche Gegenstand der innerpolitischen Probleme ist (…)“ (HdV 81).

Die ideologische Wandlung der liberalen Wettbewerbswirtschaft zu einer staatlich-dirigistischen Planwirtschaft ist für Schmitt der Weg in den Wirtschaftsstaat (vgl. HdV 91 ff u. 98 f.).413 Wer angesichts dieser Lage noch an der Formel der Trennung von Staat und Gesellschaft festhalte, täusche über diesen Sachverhalt hinweg (HdV 81). Denn zu dem großen Volumen der Staatstätigkeit kommt aus Schmitts Sicht noch die Belastung durch die zu leistenden Reparationszahlungen (Deutschland als Reparationsstaat).

410 Herv. im Original. 411 Vgl. (Neumann 2015, S. 204). Er ist total nur in einem quantitativen Sinn, d.h. wegen des großen Volumens der Staatstätigkeit, nicht aber hinsichtlich von Energie und Intensität (ebd. FN 193). Ende 1932 modifiziert Schmitt in einem Vortrag seine Konnotation des „totalen Staates“; er sieht nunmehr einen starken Staat in einer freien Wirtschaft als ein probates Mittel gegen den Verfall des ParteienBundesstaats (s. Neumann 2015, S. 211 ff.). 412 Fijalkowski (1958, S. 86). 413 Vgl. Walkenhaus (1997, S. 69). Dessen Werk: Konservatives Staatsdenken (1997) bietet einen sehr guten Überblick zur Problematik, insbesondere in den Kapiteln: 2. Wirtschaftsverfassung im Wandel (ebd., S. 57 ff.), und 3. Die Rezeption der Lehren Carl Schmitts: Optionen für eine zukünftige Wirtschaftsverfassung (ebd. S. 67 ff.).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Schmitt warnt: Wer ob dieser Problemgemengelage das Prinzip der staatlichen Nicht-Intervention vertrete, hänge einer Utopie an: „Denn Nicht-Intervention würde bedeuten, daß man in den sozialen und wirtschaftlichen Gegensätzen und Konflikten, die heute keineswegs mit rein wirtschaftlichen Mitteln ausgekämpft werden, den verschiedenen Machtgruppen freie Bahn läßt. Nicht-Intervention ist in einer solchen Lage nichts anderes als Intervention zugunsten des jeweils Überlegenen und Rücksichtslosen (…)“ (HdV 81).

Schmitt hängt seiner Auffassung ein Bonmot Talleyrands an: „Nicht-Intervention ist ein schwieriger Begriff, er bedeutet ungefähr dasselbe wie Intervention“ (ebd.). Bereits in dem Aufsatz Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen hatte Schmitt ausgeführt, dass der Staat in einem Zeitalter der Ökonomie nicht darauf verzichten dürfe, „die ökonomischen Verhältnisse von sich aus richtig zu erkennen und zu leiten“, wenn er sich nicht für unpolitisch und neutral erklären und damit seinen Anspruch auf Herrschaft aufgeben wolle (BP 87). Jeder schwache Staat sei ein „kapitalistischer Diener des Privateigentums“, der starke Staat aber zeige „seine eigentliche Stärke nicht gegenüber den Schwachen, sondern gegenüber den sozial und wirtschaftlich Starken“ (PuB 113)414. Mit dieser Analyse sind für Stefan Breuer „alle Deutungen als verfehlt zu betrachten, die aus Schmitt einen grundsätzlichen Gegner der Verfassung machen“ und ihn als einen Vertreter des Großkapitals interpretieren, der den Abbau von Sozialleistungen und die Staatsintervention zugunsten der Privatwirtschaft präferiert habe.415 Die geschilderte Wendung zum Wirtschaftsstaat ist von den anderen Staatsvorstellungen des 19. Jahrhunderts die gravierendste. Der reflexartige Ruf nach Sicherungen gegen den zunehmenden Staatsinterventionismus durch die Justiz aber musste leerlaufen, weil ihr schlicht die „inhaltlichen Normen fehlen“; Abhilfe könne – „vielleicht“ – die Regierung schaffen (HdV 81/82; nachst. s. 82). Die auffällige Macht des Wirtschaftsstaats verdecke jedoch, dass auch in den anderen Gebieten Wendungen erfolgt sind. Allerdings zeige sich die Abwehr gegen die Staatsexpansion zunächst als Abwehr gegen die staatliche Betätigung, die aktuell die Art des Staates bestimmt: den Ge-

414 Carl Schmitt: Wesen und Werden des faschistischen Staates. 415 So Breuer (2012, S. 122). Zum antikapitalistischen Habitus Schmitts siehe hier u.a. auch die Kapitel: Römischer Katholizismus und politische Form (RK) und Politische Theologie (PT).

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I. Der Hüter der Verfassung (1931).

setzgebungsstaat. Folglich wird Sicherstellung vor dem Gesetzgeber gefordert, die man – wie geschildert – erfolglos von der Justiz erwartet habe.416 Just als der Sieg des Parlaments als Träger und Mittelpunkt des Gesetzgebungsstaates vollständig schien, wurde dieses zu einem in sich selbst widerspruchsvollen und seine eigenen Voraussetzungen leugnenden Gebilde. Denn die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft bestand nach dem Sieg des Parlaments nicht mehr weiter. Seine Identität hatte es aus der Gegnerschaft zum monarchischen Militär- und Beamtenstaat bezogen: „Als dieser entfiel, brach das Parlament sozusagen in sich auseinander. Der Staat ist jetzt, wie man sagt, Selbstorganisation der Gesellschaft, aber es fragt sich, wie die sich selbst organisierende Gesellschaft zur E i n h e i t gelangt und ob die Einheit wirklich als Resultat der ‚Selbstorganisation‘ eintritt“ (HdV 82)417.

Denn, menetekelt Schmitt, es gebe auch erfolg- und ergebnislose Organisationen (HdV 83). 5.1.1.3. Die Wesensveränderung der Parteien. Als Träger der Selbstorganisation waren zunächst die politischen Parteien gedacht, doch hatten sich diese, leitet Schmitt ein, großteils stark verändert (HdV 83; nachst. HdV 83 f.). Ein legitimes und funktionsfähiges Parteiensystem im liberalen Verfassungsstaat setze, so Schmitt, voraus, „daß sie ein auf freier Werbung beruhendes, also nicht festes, nicht zu einem ständigen, permanenten und durchorganisierten sozialen Komplex gewordenes Gebilde ist“ (HdV 83).

Nur die freie Überredung sozial und wirtschaftlich freier, geistig und individuell selbstständiger Menschen, die eines eigenen Urteils fähig seien, dürfe letztlich Zielsetzung von Parteien sein. Im Übrigen sei das Fehlen eines Begriffs der Partei in der Reichsverfassung auch darin begründet,

416 „Heute dürften wohl in den meisten Staaten des europäischen Kontinents der Justiz alle inhaltlichen Normen fehlen, auf Grund deren sie die völlig neue Situation von sich aus zu meistern imstande wäre“ (HdV 82). 417 Herv. im Original.

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

„daß die politische Partei ein soziologisch so wenig festes, so wenig formiertes, so flüssiges oder sogar luftiges Gebilde ist, daß es eben als nichtexistent behandelt werden darf“ (ebd.).

Parteien hätten ihren Platz – Schmitt beruft sich auf Hugo Preuß – nur in der Sphäre der öffentlichen Meinung.418 Für Weimar beobachtet Schmitt, dass die größeren Parteien „teils selbst feste und durchorganisierte Gebilde“ sind, „mit einflußreichen Bürokratien, einem stehenden Heer bezahlter Funktionäre und einem ganzen System von Hilfs- und Stützorganisationen, in welchen eine geistig, sozial und wirtschaftlich zusammengehaltene Klientel gebunden ist“ (HdV 83).

Schon Max Weber hatte konstatiert, dass die Entwicklung des modernen Staates zum „Betrieb“ auch die in ihm wirkenden Parteien ergreifen werde. An diese Prognose knüpft Schmitt an.419 Ihre Ausdehnung umfasse alle Gebiete des menschlichen Daseins – ein System, „in welchem eine geistig, sozial und wirtschaftlich zusammengehaltene Klientel gebunden ist“ (HdV 83). Analog der Entwicklung zum totalen Staat strebten auch die Parteien zur „Totalität“ und ihr Nebeneinander formierte den „p l u r a l i s t i s c h e n P a r t e i e n s t a a t“ (HdV 84)420. Ihre Konkurrenz untereinander verhindere, dass der totale Staat seine „ganze Wucht“ entfalte, wie dies in den Ein-Parteienstaaten – Sowjetunion und Italien – bereits geschehen sei (HdV 84). Aufgehoben sei die Wendung zum totalen Staat zwar nicht (ebd.)421, aber die Formel von der „Selbstorganisation der Gesellschaft durch die Partei“ zeige, dass der Gestalt- und Strukturwandel des deutschen Parteiwesens als Problem „zum wissenschaftlichen Bewusstsein gekommen ist“ und – gegen die Auffas-

418 Diese Funktion der politischen Partei wird heute als „Aggregation und Vermittlung von Interessen“ definiert. Auch heute wird ihre Funktionsweise politikwissenschaftlich als „Stimmenmaximierungsapparat“ oder als multifunktionale „soziale Organisation“ oder bürokratisierte „Großpartei“ bzw. „Kleinpartei“ oder als „organisierte Anarchie“ beschrieben (s. Schmid 2003, S. 462). 419 Siehe Mehring (2011, S. 50 f.). 420 Herv. im Original. 421 Das liege daran, argumentiert Schmitt, dass jeder organisierte soziale Machtkomplex – „vom Gesangsverein und Sportklub bis zum bewaffneten Selbstschutz“ – die Totalität in und für sich zu verwirklichen sucht. Die Wendung zum Totalen ist deshalb nur „parzelliert“, nicht aufgehoben (HdV 84).

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sung Schmitts – von der Rechtsprechung als real behandelt wird und in eine neue Parteidefinition gemündet ist (vgl. ebd.):422 „Eine Partei setzt den f e s t e n Zusammenschluß einer größeren Zahl von Staatsbürgern zur Erreichung politischer Ziele voraus“ (HdV 85)423, „Partei, Verbindung, Orden werden gleich“ (HdV 85).

5.1.1.4. Der Charakterwandel der Wahl. Die Parteiendefinition des Staatsgerichtshofes ist für Schmitt Indiz, dass sich auch Begriff und Charakter der „Wahl“ grundlegend verändert hat (HdV 85). „Wahl“ muss für ihn den aristokratischen Anspruch besitzen, einen Höheren und Besseren zu ermitteln, nicht einen bloßen Beauftragten zu bestimmen, und sie hat zwischen Wählern und Gewählten ein unmittelbares Verhältnis herzustellen. Dieser, nach Schmitt, ursprüngliche Sinn der Wahl sei nicht mehr erkennbar; „Wahl“ habe einen völlig neuen Inhalt bekommen.424 Das beginne mit dem System der Verhältniswahl, das in den Urteilsgründen des Staatsgerichtshofs zum Begriff der Partei (s.o.) eine ausschlaggebende, aber noch näher zu erörternde, Rolle gespielt hat. Die Rücksichtnahme auf die Durchführung des Verhältniswahlrechts, die in den Urteilsgründen des Reichsgerichtshofs eine ausschlaggebende Rolle gespielt habe, rechtfertige sogar Abweichungen vom Grundsatz der Wahlgleichheit, weil es ein anerkanntes politisches Ziel sei, die Parteizersplitterung zu bekämpfen, und weil Wahlgleichheit kein logisch-mathematischer, sondern ein Rechtsbegriff sei. Schmitt hält dem jedoch entgegen, dass das „Mathematische“ wie auch die Zersplitterung des Parteiensystems erst durch das Verhältniswahlrecht so stark an Intensität gewonnen hätten (HdV 85). Dies, folgert Schmitt. spräche dann eher für eine Einschränkung der Verhältniswahl (s. HdV 86 f.; nachst. s. S. 86). Nur seien eben Verhältniswahlrecht und festorganisierte Partei in Wirklichkeit auf

422 Der Staatsgerichtshof ist anderer Auffassung als Schmitt. Er verlangt für den Status einer politischen Partei im parlamentarischen Sinn u.a. „eine nicht zu geringe Mitgliederzahl“, die berechtigte Aussicht, bei Wahlen Mandate zu gewinnen und eine feste Organisation – keine losen Gruppen – aufweisen. Letzteres zeigt sich in folgenden Merkmalen: Parteiprogramm, umfassende organisatorische Grundlage, eigene Zeitungen, eine gewisse Festigkeit und Dauerhaftigkeit (vgl. HdV 84 f.). Zum Parteienbegriff s. a. Fijalkowski (1958, S. 84 f.). 423 Schmitt zitiert den Staatsgerichtshof. 424 Siehe Fijalkowski (1958, S. 39).

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das Engste miteinander verbunden. Nicht nur die Unmittelbarkeit und die Gleichheit der Wahl aber sieht Schmitt durch das Übergewicht des Verhältniswahlsystems eingeschränkt bzw. partiell aufgehoben, „der als ‚Wahl‘ bezeichnete Vorgang selbst habe einen völlig neuen Inhalt bekommen“. In der konstitutionellen Monarchie setzte sich das Parlament aus gewählten Mitgliedern zusammen, worauf die Überlegenheit des Parlaments beruhte, das dem Monarchen und seiner Regierung im Namen des Volkes gegenübertrat, weil zwischen Wählern und Abgeordneten ein unmittelbarer Zusammenhang zum Ausdruck kam. Dass es für die überstimmten Wahlverlierer keine eigene Vertretung gab, „war konsequent demokratisch; denn man zerstört die Grundvoraussetzung jeder Demokratie, wenn man das Axiom preisgibt, daß die überstimmte Minderheit nur das Wahlergebnis (nicht ihren Sonderwillen) wollte und daher dem Mehrheitswillen als ihrem eigenen Willen zugestimmt hat“ (HdV 86).

Mit dem Verhältniswahlrecht hingegen organisiere man parteiliche Minderheiten; wenn man das wolle, so Schmitt, könne man nicht die Parteienzersplitterung mittels bestimmter Zulassungsmindestquoten für Splitterparteien bekämpfen. Vielmehr werde eine Wirkung des Verhältniswahlsystems bekämpft, „das jenes demokratische Grundaxiom von der Identität des Willens a l l e r Staatsbürger nicht mehr begreift. Schränkt man dann, um das Verhältniswahlsystem, die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl ein, so bringt man dadurch zum Ausdruck, daß ein vom Verhältniswahlsystem beherrschtes Wahlverfahren, das mit den beiden Grundeigenschaften des gleichen und unmittelbaren demokratischen Wahlrechts kollidiert, diesen Grundeigenschaften vorgeht und für wichtiger gehalten wird, als die demokratische Wahl selbst“ (ebd.).

Durch das Listensystem des Verhältniswahlrechts wähle die Masse der Wahlberechtigten ohnehin keinen Abgeordneten mehr, moniert Schmitt (HdV 87; nachst. ebd.). Den Wählern werde eine von festorganisierten Parteien in Hinterzimmern ausgekungelte Liste von Namen vorgelegt, so dass ein einzelner Wähler keinen einzelnen Abgeordneten mehr mit einem Mandat betrauen könne. Seien die Wähler Mitglieder oder Anhänger bestimmter Parteien, sei der Wahlakt ein „Appell der stehenden Parteiheere“, seien sie aber parteienunabhängig, entschieden sie als „Flugsand“ oder „Treibholz“ oft die Wahl. Dies könne man zwar auch nicht Wahl nennen, aber der Demokratie widerspreche es nicht in gleichem Maße „wie der Pluralismus der festorganisierten Komplexe“. Die Wahl spaltet sich so, für Schmitt, nach zwei Seiten auf:

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„einerseits die bloß statistische Feststellung der pluralistischen Aufteilung des Staates in mehrere festorganisierte soziale Komplexe, und auf der andern Seite ein Stück Plebiszit“ (HdV 87).425

5.1.1.5. Der Parteienstaat. Der parlamentarisch-demokratische Staat ist in einem besonderen Sinn und mehr noch als der demokratische ein „Parteienstaat“ (HdV 87; nachst. ebd.). Der Begriff, führt Schmitt aus, sei allerdings leer und nichtssagend, wenn nichts über „Art, Organisation, Struktur und Zahl der Parteien ausgesagt ist“. Grundlegend für die Verfassung des parlamentarisch-demokratischen Gesetzgebungsstaats ist der liberale Parteienbegriff, „der die Partei nur als ein freies Gebilde versteht“ (HdV 87). Denn Sinn aller verfassungsmäßigen Institutionen und damit der Parteien ist es, die „egoistischen Interessen und Meinungen auf dem Weg über den Parteiwillen zu einem einheitlichen Staatswillen“ zu führen, eben „Mittel der staatlichen Willensbildung zu sein“ (ebd.) – nicht aber diese Funktion für Kompromissgeschäfte oder gar Erpressung im Parteienkampf zu missbrauchen. Diese Willenstransformation könne schwerlich gelingen, wenn die Parteien, wie dargestellt, festorganisierte Größen sind und der Gemeinwille von Parteiegoismen überdeckt wird. Damit werde auch im Parlament der Umschlagsmechanismus ausgehebelt, „durch den die Vielheit der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und konfessionellen Gegensätze, Interessen und Meinungen sich in die Einheit des politischen Willens verwandelt“ (HdV 88; nachst. ebd.).

Diese Fehlfunktion treffe auch eine Regierungspartei. An die Stelle eines staatlichen Willens trete so im Ergebnis die „Addierung von Augenblicksund Sonderinteressen“, weil nur mehr von Fall zu Fall wechselnde und damit instabile Koalitionsmehrheiten in jeder Hinsicht heterogener Parteien gebildet werden können. Diesen in Weimar diagnostizierten Zustand nennt Schmitt „labiler Koalitions-Parteien-Staat“ (HdV 88).426 Der immanente Pluralismus eines solchen Systems zwingt die Parteien, „entweder den fortwährenden Kompromißhandel mitzutreiben oder aber bedeutungslos beiseite zu stellen, und finden sich am Ende in der Lage jenes aus

425 Siehe dazu auch Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland (Februar 1933) in (PuB 185-189). Siehe auch (LuL 92 f.). 426 Zu den Einzelausprägungen eines solchen Staates s. (HdV 88).

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der Lafontaineschen Fabel bekannten Hundes, der mit den besten Vorsätzen den Braten seines Herrn bewacht, aber dann, als er andere Hunde darüber herfallen sieht, sich schließlich auch an dem Mahl beteiligt“ (HdV 89; nachst. s. ebd.).

Die festen sozialen Verbindungen als die heutigen Träger des pluralistischen Staates formen das Parlament zu einem Abbild der pluralistischen Aufteilung des Staates. „Querverbindungen“, welche die politischen Parteien durchziehen – landwirtschaftliche Interessen, Arbeiterinteressen usw. – können auf bestimmten Sachgebieten Mehrheiten erwirken, doch weil sie selbst Faktoren der pluralistischen Gruppierung sein können, komplizieren sich die Beziehungen des Geflechts zwar, verfestigen aber die pluralistischen Strukturen. „So wird das Parlament aus dem Schauplatz einer einheitsbildenden, freien Verhandlung freier Volksvertreter, aus dem Transformator parteiischer Interessen in einen überparteiischen Willen, zu einem Schauplatz pluralistischer Aufteilung der organisierten gesellschaftlichen Mächte“ (HdV 88).

Folge dieses immanenten Pluralismus sei entweder Mehrheits- und Handlungsunfähigkeit, oder die jeweilige Mehrheit nutze die Zeit ihrer staatlichen Macht, um den stärksten und gefährlichsten Gegner zu beschränken, das Gleiche zu tun; analoge Beispiele gebe es in der deutschen Verfassungsgeschichte zur Genüge. Aus all diesen Entwicklungen und Anschauungen eerwachse ein Pluralismus moralischer Bindungen und Treueverpflichtungen und zugleich ein Pluralismus von Legalitätsverpflichtungen. Dieser zerstöre den Respekt vor und damit den Boden der Verfassung, die jeweils herrschende Gruppe sichere ihre Macht mit allen legalen Mitteln und jede Kritik und jede Attacke trage so schon den Mantel der Illegalität und der Verfassungswidrigkeit: „Zwischen diesen beiden, in der Situation eines staatlichen Pluralismus fast automatisch funktionierenden, gegenseitigen Negationen wird die Verfassung selbst zerrieben“ (HdV 90/91).

Mit der Herrschaft pluralistischer Strukturen wachsen also, so können wir resümieren, in der Sichtweise Schmitts, die Gefährdung der staatlichen Einheit und die Gefahr der Auflösung des Staates und damit ein Zustand bürgerkriegsähnlicher Anarchie.427

427 Vgl. Böhret et al. (1988, S. 169 f.).

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5.2. Die Polykratie in der öffentlichen Wirtschaft. Die Zunahme pluralistischer Strukturen geht einher mit der Wendung zu einem Wirtschaftsstaat. Die wachsende Ausdehnung der öffentlichen Wirtschaft sollte eigentlich eine stärkere Einheitlichkeit der Gesamtleistung, einheitliche Richtlinien und ein einheitliches Finanz- und Wirtschaftsprogramm ermöglichen. Unabhängig davon bedürfe eine Wirtschaft derartig großen Umfangs aber eines Plans,428 wozu ein instabiles Parlament nicht fähig sein werde. Folglich entwickele sich ein Zustand, der von Johannes Popitz, mit dessen Thesen Schmitt argumentiert, als Polykratie bezeichnet worden ist. „(Es) entwickelt sich dann in der öffentlichen Wirtschaft ein Nebeneinander und Durcheinander zahlreicher, weitgehend selbständiger und voneinander unabhängiger, autonomer Träger der öffentlichen Wirtschaft“ (HdV 91).

An anderer Stelle wurde definiert: „Die P o l y k r a t i e endlich ist eine Mehrheit rechtlich autonomer Träger der öffentlichen W i r t s c h a f t, an deren Selbständigkeit der staatliche Wille eine Grenze findet“ (HdV 71429).

Gemeint ist ein pluralismusähnliches aber nicht pluralismusidentisches Phänomen. Vier Merkmale bestimmen nach Schmitt, wer zu den Trägern dieser Polykratie gehört: rechtliche Autonomie, Selbstverwaltung, wirtschaftliche Aufgaben und öffentlich-rechtliche Struktur. Die Polykratie der öffentlichen Wirtschaftsträger zeigt sich rechtlich anhand der unabsehbaren Vielheit – „untereinander nicht hinreichend verbundener“ – sich selbstverwaltender Träger, z.B. das Reich, seine 17 Länder, 65.000 Gemeinden und Gemeindeverbände, die unterschiedlichen Sozialversicherungsträger usf. (s. HdV 92). Als Folge dieser Polykratie, die gesetzlich und verfassungsrechtlich geschützt ist (HdV 93), „zeigt sich ein Mangel einheitlicher Richtlinien, eine Desorganisation und Planlosigkeit, ja sogar Planwidrigkeit, deren Tragweite deshalb besonders groß ist, weil der Staat längst die Wendung zum Wirtschaftsstaat genommen hat“ (HdV 92).

428 Gemeint ist ein Plan, der nicht so weit geht wie der einer sozialistischen Planwirtschaft (HdV 91). 429 Herv. im Original.

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Da nach Popitz die Staatstätigkeit die Stufe des Wohlfahrtsstaates bereits überwunden habe, drohe schlechthin der allumfassende „Versorgungsstaat“ (HdV 92). Diese Polykratie ruhe auf Autonomie und Selbstverwaltung, vor allem der Gemeinden mit ihrer „Universalität des Wirtschaftskreises“, die eine unbegrenzte Zahl des Instituts kommunaler Gesellschaftsbetriebe ermögliche. Eingerichtet wie im 19. Jahrhundert setze dies die Trennung von Staat und Gesellschaft voraus und erscheine als Teil der Gesellschaft (s. HdV 92 f.). Werde der Staat nun zur Selbstorganisation der Wirtschaft – zwischen den Trägern der Selbstverwaltung und denen des staatlichen Pluralismus besteht Personenidentität – ist die Struktur des Rechtsinstituts der Selbstverwaltung und ihr Verhältnis zur Staatsaufsicht problematisch geworden (HdV 93). Jedes Finanz- oder Wirtschaftprogramm mit einheitlichen Richtlinien, so Schmitt, „stößt auf die Hemmungen und Hindernisse dieser vielgestaltigen Polykratie“, und dies besonders stark, weil Polykratie und Pluralismus sich miteinander verbinden (ebd.). Schmitt differenziert das Gesamtphänomen der Polykratie: einmal gebe es Träger der Polykratie, die Verbündete oder Hilfsgeber des Pluralismus sind, und andere, die ihre Existenz einer Gegenbewegung gegen ihn verdanken. Zu nennen sind hier vor allem die parteipolitisch neutralisierten Institutionen von Reichsbank und Reichsbahn (s.u.) (ebd.). Ihre eigentliche Bedeutung, schließt Schmitt die Behandlung dieses Sachbereichs vorerst ab, erhalte die Polykratie der öffentlichen Wirtschaft dadurch, „daß sie mit dem pluralistischen Auseinanderbrechen eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates bei gleichzeitiger intensivster Entwicklung des Staates zum Wirtschaftsstaat zusammentrifft“ (HdV 93/94).

Diese Entwicklung aber verlange dringend nach Antwort auf die Frage, wie weit eine parlamentarische Demokratie mit einem planwirtschaftlich handelnden Staat überhaupt vereinbar sei. Im Ergebnis, so Schmitt, werde man die Frage „heute wohl verneinen müssen“ (HdV 94).430

430 Der Schmitt-Schüler Ernst Rudolf Huber hatte schon im Jahr 1939 die Unvereinbarkeit von Demokratie und Wirtschaft festgestellt, die aus dem Gegensatz einer langfristig planenden und gestaltenden Wirtschaftspolitik einerseits und einem rasch wechselnden Mehrheitswillen auf der anderen Seite resultiert (vgl. Walkenhaus 1997, S. 68).

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5.3. Der Föderalismus. „Das Wort F ö d e r a l i s m u s soll hier nur das Neben- und Miteinander einer Mehrheit von Staaten zum Ausdruck bringen, das innerhalb einer bundesstaatlichen Organisation besteht; hier steht eine Pluralität von s t a a t l i c h e n Gebilden auf s t a a t l i c h e m Boden“ (HdV 71431).432

Schmitt eröffnet mit einem kurzen Sachstand: In der deutschen Staatslehre ist die Frage nach der Vereinbarkeit föderalistischer Strukturen mit dem parlamentarischen System bis zum Jahr 1918 meist verneint worden, und sie ist für das Bundesstaatsrecht der Bismarckschen Reichsverfassung als ausgeschlossen betrachtet worden. 1917 habe dann Erich Kaufmann die Unmöglichkeit der Beziehung von Föderalismus und Parlamentarismus allgemein und nicht nur für den monarchischen Bundesstaat von 1871 behauptet, Hugo Preuß zumindest für letzteren aber das Gegenteil (vgl. HdV 94 f.). Schmitt nimmt eine differenziertere Haltung ein und macht in der Verfassungslehre 1928 das eigentliche Problem „in dem besonders gearteten Verhältnis von Demokratie und Föderalismus“ aus, weil die nationale Demokratie wie auch die bundesstaatliche Organisation „eine substantielle Gleichartigkeit voraussetzt“ (HdV 95). Eine Mehrheit selbstständiger demokratischer (Länder-)-Staaten könne hier zum Problem werden. Diese These scheint allerdings durch die Tatsache entkräftet, dass man den Parlamentarismus bei Beibehaltung der bundesstaatlichen Organisation verfassungsrechtlich nach Art. 17 WRV auch in jedem Bundesland eingeführt hatte und diese Regelung im Jahr 1931 immer noch Bestand habe. Dies sei aber, so Schmitt, nur durch einen Struktur- und Funktionswandel ermöglicht worden. Diesen macht er vordringlich in den unterschiedlichen Parteien- und damit Machtkonstellationen im Reichstag und in den Länderparlamenten und deren – latent schwelender – Zerbrechlichkeit aus – eine „Vereinbarkeit“ von Parlamentarismus und Föderalismus die zulasten der staatlichen Einheit geht (HdV 95).433 Eine These des Politikwissenschaftlers Gerhard Lehmbruch macht diesen Sachverhalt – allerdings auf das Deutschland der Jahres 1976 bis 2000 bezogen – analog auch für Weimar sehr prägnant deutlich:

431 Herv. im Original. 432 Die Definition schließt zunächst einmal die Stellung der Gemeinden im Bundesstaat in der Analyse aus. 433 Vgl. (Neumann 2015, S. 208).

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„Das Parteiensystem einerseits, das föderative System andererseits sind von tendenziell gegenläufigen Handlungslogiken und Entscheidungsregeln bestimmt und können sich unter bestimmten Bedingungen wechselseitig lähmen“.434

Ging Schmitt 1931 noch davon aus, „dass die bundesstaatliche Organisation ein Gegengewicht gegen pluralistische Machtgebilde und Parteipolitiken bilden könne“, und dass das föderalistische Prinzip als ein Mittel territorialer Dezentralisation und als „Gegenmittel gegen die Methoden eines parteipolitischen Pluralismus“ gerechtfertigt sein könne, bewertet er die Vereinbarkeit der beiden verschiedenen Systeme später „eindeutig negativ“ (vgl. HdV 95 f.).435 Den Grund für diesen Umschwung sieht Neumann im sog. „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932, der für Schmitt kein Gegensatz von Reich und Ländern, sondern „Reich und Staat gegen Partei und Fraktion“ gewesen sei.436 Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass sich im Ergebnis die anfänglich differenzierende Ansicht Schmitts zu einem „Verdikt des Parteienbundesstaates“ entwickelt hat.437 Für Ernst Fraenkel ist die Schrift Der Hüter der Verfassung „Schmitts vernichtendes Urteil über den Pluralismus als politisches Prinzip (…) Sie ist aus der Geschichte der ‚Auflösung der Weimarer Republik‘ nicht wegzudenken. Sie hat Geschichte gemacht“.438

5.4. Abhilfen und Gegenbewegungen. Wie ist nach dieser Analyse Schmitts, die Weimar auf einem Weg in Richtung Anarchie sieht und damit ein sattsam qualitatives Mehr als nur „ein Zeichen kritischer Verfassungszustände“ (HdV 1) zum Ergebnis hat, Abhilfe überhaupt noch möglich? Schmitt behandelt vier mögliche Abhilfen bzw. Gegenbewegungen (HdV 96-131).

434 Lehmbruch (2000, S. 9). In der Summe sieht Schmitt Ende 1932 eine „Verwirrung des ganzen Systems“, das er erstmals als „Parteienbundesstaat“ bezeichnet, und diesen 1933 als eine „Verbindung von Parteizerrissenheit und Vielstaaterei“ charakterisiert (Neumann 2015, S. 208). 435 Neumann (2015, S. 208). 436 Ebd. S. 208. 437 Ebd. S. 209. 438 Fraenkel (1973, S. 204).

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5.4.1. Versuche einer Wirtschaftsverfassung. Angesichts der Tatsache staatlichen Einflusses auf und staatlicher Dominanz über das Politikfeld „Ökonomie“ liege es nahe, so Schmitt, als Antwort auf Pluralismus und Polykratie durch eine Reform der Reichsverfassung eine Wirtschaftsverfassung einzufordern (HdV 96).439 Trotz der Entwicklung des Staates zum Wirtschaftsstaat, sei die staatliche Verfassung eine rein „politische“, welche die wirtschaftliche Wirklichkeit und ihre Ausprägungen ignoriere und deshalb gegenüber der Ökonomie als „neutral“ erscheine. Der Staatsbürger ist für Schmitt citoyen und nicht Wirtschaftssubjekt (HdV 97). Denn die geltende WRV lehnt – nach Schmitt – trotz Art. 165 WRV eine Wirtschaftsverfassung, insbesondere das politische Rätesystem, strikt ab (s. HdV 97), wobei Volker Neumann darauf verweist, dass dies im Umkreis von Schmitt durchaus anders gesehen wurde. Franz Neumann habe 1930 in die Reichsverfassung eine Wirtschaftsverfassung hineingelesen, die den Grundgedanken des sozialen Rechtsstaats bejaht und das Privateigentum zwar anerkannt habe, dessen Verwaltung aber dem Privateigentümer entzieht. Dagegen betont Huber, die Verfassung wolle das Prinzip der freien Wirtschaft als Grundlage aufrechterhalten.440 Im Übrigen entscheide der organisatorische Hauptteil der Verfassung gegen den politischen Aufbau des Reiches in einer Wirtschaftsverfassung (HdV 98). So bleibt die Diskrepanz eines Wirtschaftstaates ohne Wirtschaftsverfassung. Zur Beseitigung dieser Diskrepanz spricht Schmitt zwei Wege an. Einmal könne man den Staat entökonomisieren, d.h. ihn von allen Elementen eines Wirtschaftsstaates befreien. Der andere Weg wäre, die geltende Verfassung durch eine Wirtschaftsverfassung zu ersetzen, die „den Staat entschlossen ganz verwirtschaftlicht“ (ebd.). Der erste Vorschlag würde das System im Ganzen jedoch nicht beseitigen können, weil sich die Massen immer nach wirtschaftlichen Interessen gruppieren würden.441 Auch die Lösung einer Wirtschaftsverfassung, die „auf den ersten Blick

439 Siehe Neumann (2015, S. 209). 440 Ebd. 441 Positiv an dieser Lösung wäre, so Schmitt, dass die politischen Parteien sich wieder in unabhängige, auf freier Werbung beruhende Gebilde rückverwandeln würden, und auch der Abgeordnete würde durch die Einführung strenger Inkompatibilitäten wieder zum verfassungsgemäßen unabhängigen Abgeordneten (s. HdV 99).

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den Vorteil der Ehrlichkeit und der Anpassung an die Realität“ biete, würde die Einheit des staatlichen Willens eher gefährden denn stärken, würden doch die wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze „nicht gelöst und aufgehoben, sondern träten offener und rücksichtsloser hervor, weil die kämpfenden Gruppen nicht mehr gezwungen wären, den Umweg über allgemeine Volkswahl und eine Volksvertretung zu machen“ (HdV 100).

Anders formuliert: Ohne die befriedende Funktion des Staates würden die ökonomischen Klassengegensätze in einen offenen Bürgerkrieg münden. Wirtschaftsverfassungen seien aus diesen Gründen, folgert Schmitt, nur in Einparteienstaaten wie im kommunistischen Russland und im faschistischen Italien eingeführt worden, mit dem Ziel, „die pluralistische Aufteilung des Staates zu verhindern“ ((ebd.). 5.4.2. Das Problem der innerpolitischen Neutralität im pluralistischen Parteienstaat. Die Mängel und Auflösungstendenzen des pluralistisch-labilen Koalitionsparteienstaats lassen Schmitt nach Instanzen und Verfahren suchen, die von diesem Staat und seinen Methoden der Willensbildung unabhängig sind.442 Solche Kräfte gebe es – wenn auch versteckt oder unsichtbar – schon heute, „weil es in Wahrheit keinen Staat geben kann, der nur ein pluralistischer Parteienstaat wäre“ (HdV 100). Zum „Versuch eines parteipolitische neutralen Staates“ (HdV 101) erwägt Schmitt als Erstes die Einrichtung eines Beamtenstaates, sei doch die Unabhängigkeit des Beamtentums in Art. 129 und 130 WRV verfassungsrechtlich garantiert. Trotz dieser Garantie seien aber viele Beamtenstellen in Bundesländern „Beuteund Kompromißobjekte der Regierungsparteien“ geworden (HdV 101 f.). Anders sei dies beim Reichsbeamtentum, ernenne doch hier „ein von den Koalitionsparteien unabhängiger Reichspräsident“ die Beamten (HdV 102). Allgemein aber biete das Beamtentum wegen seiner traditionellen Tugenden „ein beachtliches Gegengewicht unparteiischer Sachlichkeit und Objektivität des Staates“443, biete es doch dreifachen Schutz: Einmal schützt die Reichsverfassung „das deutsche Beamtentum durch verfas-

442 Neumann (2015, S. 210); Fijalkowski (1958, S. 77). 443 Vgl. Fijalkowski (1958, S. 77.)

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sungsmäßige, institutionelle Garantien vor den Methoden parlamentarischer Beutepolitik“, verankert in den Art. 129/130 WRV“ (HdV 101), bietet ihm, zweitens, durch eine lebenslange Anstellung die Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte, und, zum Dritten, werden die Beamten – auch die sog. politischen Beamten – vom Reichspräsidenten ernannt, der von den Regierungsparteien unabhängig ist. Die Verteilung der Beamtenstellen unter ihnen, so Schmitt, ist noch nicht so selbstverständlich geworden, „wie in Ländern, in denen sich die Koalitionsparteienminister ohne die in einem solchen Umweg enthaltene Hemmung als Parteiagenten betätigen“ (HdV 102).

Trotz dieser Bedeutung vermögen jedoch auch die Beamten nicht, dem eigentlichen Missstand eines Koalitionsparteienstaates abzuhelfen, der Bildung regierungsfähiger und stabiler Regierungen nämlich, sei das Berufsbeamtentum doch auf Justiz und Verwaltung beschränkt (s. ebd.). Schmitt spricht weiter die Möglichkeit an, „eine Art von neutralem Sachverständigen- und Gutachter-(Experten-) Staat zu schaffen, „in welchem die politischen Entscheidungen den Sachkundigen der einzelnen Gebiete, insbesondere den administrativen, finanztechnischen oder ökonomischen Sachverständigen, überlassen werden“ (HdV 103).

Bei den Ämtern und Institutionen eines Reichssparkommissars, dem Reichswirtschaftsrat, den Parlamentsausschüssen (mit starken Einschränkungen)444, den Berufs- und Industrie- und Handelskammern, den Beiräten der Verwaltungszweige beispielsweise sieht Schmitt in Ansätzen Sachexperten am Werk, die vor allem über die Autorität ihrer Gutachten eine neutralisierende Wirkung ausüben (vgl. HdV 103 ff.). Er schränkt jedoch selbst ein, dass Sachkunde oftmals so neutral gar nicht sei, sondern durchaus interessengeleitet sein könne (s. HdV 105 f.). Einerseits könnten also Neutralisierungen gelingen wie bei der Reichsbank und der Reichsbahn (s. HdV 106 ff.).445 Andererseits scheiden die autonomen Institutionen der kommunalen Selbstverwaltung als Gegenkräfte aus, weil sie Schmitt dem

444 „Aber offenbar sind die Parlamentsausschüsse trotz solcher Ansätze infolge ihrer parteipolitischen Zusammensetzung im allgemeinen nicht imstande, die nötige Neutralität zu gewinnen (…)“ (HdV 104). 445 Damit sind staatliche Hoheitsrechte ausgegliedert worden, ein Vorgang, der auch für Sondervermögen – etwa die Herausnahme der Reichspost aus dem allgemeinen Staatshaushalt – denkbar ist, und wie dies auch bei der Übertragung von

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unmittelbaren Machtbereich des partei- und fraktionspolitischen Systems zurechnet (s. Art. 17 WRV).446 5.4.3. Unzulänglichkeiten der meisten Neutralisierungen und Entpolitisierungen. Alle genannten Ansätze, der pluralistischen Auflösung des Staates mit Autonomisierungen und Neutralisierungen entgegenzuwirken, sind, nach Schmitt, offensichtlich untauglich. Begriffliche Unklarheiten, falsche Verallgemeinerungen und die Vermengung eigentlich entgegengesetzter Ziele hätten zur Folge, „daß die Abhilfen sich gegenseitig wieder aufheben und paralysieren“ (HdV 108). Einmal werde ob einer regierungsunfähigen Regierung die echte politische Entscheidung gefordert, andererseits erblickt man in dieser Entscheidung Parteilich- und Unsachlichkeit – und weil es bei politischen Entscheidungen stets einen Betroffenen gibt, der sich als benachteiligt betrachtet, „kann man stets auf Beifall rechnen, wenn man einen ‚Kampf gegen die Politik überhaupt‘ proklamiert und absolute Entpolitisierung als absolute Sicherheit verlangt“ (ebd.). Dem aber steht Schmitts Diktum entgegen, „daß Politik unvermeidbar und unausrottbar ist“ (HdV 111). Die richtige Konsequenz der Ablehnung von parteipolitischen Entscheidungen und die Entscheidungsunfähigkeit des labilen Koalitionsparteienstaates erforderten im Gegenteil eine stärkere, echte, entscheidungsfähige Politik, nicht aber eine generelle Entpolitisierung, denn trügerisch oder gar betrügerisch sei es,

staatlichen Rechten auf bereits bestehende autonome Gebilde machbar ist. Schmitt denkt dabei an die Sozialversicherung, die kommunale oder wirtschaftliche Selbstverwaltung, Kirchen, Weltanschauungsgesellschaften oder andere Verbände, die „zu Trägern derartig abgesplitterter staatlicher Rechte werden“ (HdV 107). Potenzial sieht Schmitt auch bei den Ländern, obwohl auch sie „parlamentarisch regierte Parteienstaaten sind“ (HdV 107). Sie können dennoch die Möglichkeiten einer neutralisierenden Wirkung haben, weil die verschiedenen Koalitionsregierungen aus unterschiedlichen Parteien gebildet werden und folglich Gegengewichtungen existent sind. So wüchsen dem föderalistischen System (s.o.) neue Aufgaben und Funktionen zu (vgl. HdV 107 f.). Widerspruchsfrei ist Schmitts Position in dieser Frage nicht (s.o.). 446 Neumann (2015, S. 210 f.).

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„mit dem Worte Entpolitisierung anzudeuten, daß die unbequeme Verantwortung und das Risiko des Politischen vermieden und ausgemerzt werden könne“ (HdV 111).447

Denn jedes denkbare Gebiet menschlicher Tätigkeit ist – wie wir aus Der Begriff des Politischen wissen – der Möglichkeit nach politisch und wird es sofort, wenn auf einem dieser Gebiete Konflikte ausgetragen werden. Das Politische ist unvermeidlich und nichts, was den Staat betrifft, so menetekelt Schmitt, „kann im Ernst entpolitisiert werden. Die Flucht aus der Politik ist die Flucht aus dem Staat. Wo diese Flucht endet und wo der Flüchtende landet, kann niemand voraussehen; jedenfalls ist sicher, daß das Ergebnis entweder der politische Untergang oder aber eine andere Art von Politik sein wird“ (HdV 111).448

5.4.4. Das Vorgehen der verfassungsmäßigen Regierung nach Art. 48 WRV. Die Entwicklung vom militärisch-politischen zum wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustand. 5.4.4.1. Krisensteuerung mit Art. 48 WRV.449 Die Unzulänglichkeit der geprüften Gegenbewegungen darf nicht dazu führen, dass der Staat weiter geschwächt wird, oder dass man ihn unter dem Motto: sauve qui peut450 zugrunde gehen lässt. Denn die Ursache der Missstände und der gegenwärtigen Schwierigkeiten liegt ja gerade in der Schwäche des Staates, „die sich in einem Wirtschaftsstaat aus den pluralistischen Methoden des labilen Koalitionsparteienstaates ergibt“ (HdV 115). Denn die Entpolitisierungsvorschläge vergäßen, mahnt Schmitt, dass

447 Vgl. Fijalkowski (1958, S. 80 f.). 448 (…) oder eine andere Art von Staat. In einem Teil der Literatur wird die Ansicht vertreten, dass Schmitts Suche nach abhelfenden Gegenbewegungen „weitgehend rhetorisch“ ist, da er sich längst gegen den ‚Koalitionsparteienstaat‘ und für ein autoritäres Präsidialregime entschieden hat“ (Neumann 2015, S. 211; Fijalkowski 1958, S. 87), „nach dem Bilde des plebiszitär legitimierten autoritären Regierungsstaats“ (Fijalkowski ebd.). 449 Siehe hier Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV. Grundsätzlich dazu Neumann (2015, S. 176 -198.) 450 Sauve qui peut (HdV 115) = Rette sich, wer kann (Herv. im Original.).

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zur Neutralität – im Sinne unbedingter Sachlichkeit und Objektivität – besondere Stärke und Kraft notwendig seien: „Die Lösung liegt also nicht in einer unpolitischen Sachlichkeit, sondern in einer sachlich-informierten, das Interesse des Ganzen im Auge behaltenden, entscheidungsfähigen Politik“ (ebd.).

Eine vernünftige Verfassung hat einmal ein organisatorisches System bereitzustellen, das den staatlichen Willensbildungsprozess garantiert, und ihre Institutionen sollen, zweitens, eine leistungsfähige Regierung ermöglichen. Weiter hat sie davon auszugehen, dass die Zustimmung für eine per Akklamation ins Amt gewählte Regierung stärker und intensiver als jede für andere Art von Regierung ist. Deshalb finde sich im ersten organisatorischen Hauptteil der Verfassung „eine gut durchdachte Balancierung der parlamentarischen mit der plebiszitären Demokratie. Im Mittelpunkt des plebiszitären Verfassungsteils steht der Reichspräsident“ (HdV 116).

Dass der Reichspräsident die Verbindung zwischen Reich und Reichsbank herstellt, indem jener den gewählten Reichsbankpräsidenten bestätigt und ernennt451, zeige seine zentrale Stellung wie auch seine verfassungsmäßigen Möglichkeiten, die gegenwärtig allerdings, bedauert Schmitt, an Interpretationen leide, „welche mit den alten, in der Vorkriegszeit entstandenen Klischees die Weimarer Verfassung zu einer Karikatur machen, indem sie in ihr nichts sehen als eine Anti-Verfassung gegen die frühere Reichverfassung“ (ebd.).

Am meisten davon betroffen seien die Art. 25, 54 und 48, die die Auflösung des Reichstags – (mit den einschränkenden Begriffen: „Einmaligkeit“452 und „gleichen Anlass“) – das Misstrauensvotum und das Notverordnungsrecht normieren. In der entscheidende Frage nach verfassungsgemäßer Abhilfe gegenüber den „verfassungszerstörenden Methoden des pluralistischen Systems“ erkennt Schmitt „eine andere, wirksamere und dem Geist der Verfassung besser entsprechende Antwort“ als Absplitterungen und Autono-

451 Für den Reichsbahnpräsidenten gilt dasselbe (HdV 116). 452 Der Begriff der „Einmaligkeit“ in Art. 48 WRV besagt, dass der Reichspräsident den Reichstag nur einmal aus demselben Grund auflösen darf. Dies gelte, so Schmitt, nicht für einen regierungsunfähigen Reichstag. In seinen Augen wäre es absurd, einem späteren, wiederum mehrheitsunfähigen Parlament sozusagen ein Recht auf vier Jahre Mehrheitsunfähigkeit zu geben“ (HdV 116).

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misierungen, die Praxis der Ermächtigungsgesetze nämlich (ebd.). An dieser Stelle betritt mit Art. 48 WRV – auch „Diktaturnorm“ genannt453 – der Hauptakteur der Endkrise Weimars die Bühne, der zeigt, „daß im kritischen Fall die Wendung vom Parlament weg geht“ (ebd.); es erfolgt also eine Entparlamentarisierung.454 Die Anwendung dieser Praxis sei deshalb so bedeutungsvoll, weil sie sich auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet bewähren müsse. Denn die Entwicklung zum Wirtschaftsstaat sei mit der Entwicklung des Parlaments zu einem Schauplatz pluralistischer Interessenvertretung zusammengefallen. 5.4.4.2. Zur verfassungsrechtlichen Entwicklung des Art. 48 WRV. Die verfassungsrechtliche Entwicklung bezüglich Ausnahmezustand und Notverordnungsrecht hat durch Regierungspraxis, höchstrichterliche Entscheidungen und im Schrifttum Ergebnisse gezeitigt, die als Bestandteil geltenden Verfassungsrechts angesehen werden müssen (HdV 117; nachst. ebd.).455 Allerdings wirft die Auslegung des Art. 48 WRV schwierige juristische Fragen auf, wobei wir uns hier weitestgehend mit dem Inhalt des Art. 48 Abs. 2 WRV – genauer mit dem Verhältnis der Sätze 1 und 2 des Abs. 2 – zu befassen haben, der die Befugnisse und Ermächtigungen des Reichspräsidenten behandelt456 Als unstrittig dürften danach die zwei folgenden Maßnahmen anerkannt sein: „Die Befugnis des Reichspräsidenten, g e s e t z e s v e r t r e d e n d e V e r o r d n u n g e n nach Art. 48 Abs. 2 RV zu erlassen“ (HdV 118457).

453 Der Begriff der Diktatur wird von der gesamten zeitgenössischen Staatsrechtslehre als eine Institution des geltenden Verfassungsrechts begriffen. Vorbild war das (alt)römische Staatsrecht (vgl. Neumann 2015, S. 176, Anm. 49; s. hier das Kapitel: Die Diktatur). 454 Zur Diktaturnorm der Weimarer Reichsverfassung nimmt Schmitt erstmals 1921 in seinem Werk Die Diktatur Stellung (DD 216-291). 455 Zur Entwicklung siehe Boldt (1993). 456 Art. 48 Abs. 2 WRV lautet: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“ Zu den anderen Problemstellen des Art. 48 WRV s. (HdV 117 ff.) 457 Herv. im Original.

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Und: „Die Entwicklung eines s p e z i f i s c h w i r t s c h a f t l i c h e n u n d f i n a n z i e l l e n Not- und Ausnahmezustandes“ (HdV 119458).

Einmal darf der Reichspräsident also Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen (das sog. gesetzesvertretende Verordnungsrecht). Die Entwicklung eines spezifisch wirtschaftlichen und finanziellen Not- und Ausnahmezustands ist, so Schmitt, eine Weiterentwicklung des früher nur polizeilichen und militärischen Belagerungs- und Kriegszustandes.459 Die Praxis des Art. 48 Abs. 2 WRV wie auch die des Art. 55 Preußische Verfassung haben „unter dem Zwang des wesentlich wirtschaftlichen und finanziellen Charakters heutiger Notlagen die Anwendung der außerordentlichen Befugnisse auf wirtschaftlich und finanzielle Notlagen und Gefahren als zulässig anerkannt“ (HdV 119).

Die außerordentlichen Befugnisse einer Notgewalt könnten ihre Voraussetzung damit auch in einer zunächst nur ökonomischen Not- und Ausnahmesituation finden (ebd.). Zum Inhalt dieser Befugnisse gehöre das Recht, „gesetzesvertretende Verordnungen wirtschaftlichen und finanziellen Inhalts und Charakters zu erlassen“ (HdV 120). Diese beiden Ergebnisse geben eine Auffassung zu Art. 48 WRV wieder, die sich in zehnjähriger Rechtsentwicklung durchgesetzt hat und „den konkreten Besonderheiten der Notlage eines wirtschaftlich bedrängten, tributpflichtigen und zugleich sozialen Leistungen auf sich nehmenden Staates gerecht wird“ (ebd.).

Seien weiterhin auch Interpretationsunterschiede und Meinungsverschiedenheiten möglich, so liege zu den zwei o.g. Ergebnissen gleichwohl eine eindeutige Praxis vor: „Sie hat dem Provisorium des Art. 48, das bis zu dem nach Art. 5 zu erlassenden Ausführungsgesetz andauert, seinen positiv-rechtlich zu beachtenden Inhalt gegeben“ (ebd.).460

458 Herv. im Original. 459 Fijalkowski (1958, S. 88). 460 Zu den einzelnen Begründungen siehe (HdV 120 ff.).

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5.4.4.3. Das Verhältnis von Gesetzesvorbehalt und Verordnung. Für das Verhältnis der finanzrechtlichen Verfassungsbestimmungen zu den außerordentlichen Befugnissen des Reichspräsidenten ergibt sich, so Schmitt, dass seine Verordnungsberechtigung auch für solche mit finanzrechtlichem Inhalt gegeben ist. Fraglich sei, ob der finanzrechtliche Vorbehalt des Gesetzes bei einer solchen Verordnung erfüllt ist, oder ob dieser finanzrechtliche Vorbehalt des Gesetzes der Vorbehalt eines formellen Gesetzes ist (HdV 122). Die h.M. geht von Letzterem aus: die außerordentlichen Verordnungsbefugnisse des Reichspräsidenten seien ganz allgemein der Befugnis zu einfachen Gesetzen gleichzustellen, womit der Gesetzesvorbehalt auch durch eine Verordnung nach Art. 48 Abs. 2 WRV erfüllt werden könne. Das mag genügen.461 5.4.4.4. Aushebelung der Kontrollfunktion des Parlaments? Die wirtschaftlichen und finanziellen Verordnungen nach Art. 48 Abs. 2 WRV insbesondere haushaltsgesetzlicher und kreditermächtigender Art könnten aber das Recht des Parlaments auf Außerkraftsetzung praktisch wertlos machen, wenn Ausgaben bereits erwirkt oder Kreditanleiheverträge bereits geschlossen seien (HdV 126; nachst. ebd.). Für Schmitt hat dieser Einwand keine Beweiskraft, weil er „ausnahmslos für alle rechtlichen und tatsächlichen Wirkungen und Folgen jeder Handhabung außerordentlicher Befugnisse“ zutrifft. Jede solcher Maßnahmen führe gewöhnlich auch rechtliche Wirkungen herbei, und das Außerkraftsetzungsrecht des Reichstags begründe nicht den Schluss, dass die Maßnahme überhaupt nicht hätte getroffen werden dürfen. Das Reichsgericht462 habe dazu ausgeführt, die außerordentliche Befugnis würde ihren „Zweck kaum erfüllen, wenn regelmäßig mit einer rückwirkenden Aufhebung gerechnet werden müßte“ (HdV 127).

461 Weitere Details siehe hier das Kapitel Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV. 462 RGZ. (123, 409).

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5.4.4.5. Ablehnung aus verfassungsgeschichtlichen Erwägungen. Den eigentlichen Grund aller Bedenken gegen die finanzgesetzvertretenden Verordnungen vermutet Schmitt in verfassungsgeschichtlichen Erinnerungen und in den Nachwirkungen früherer Verfassungskonflikte (HdV 128; nachst. ebd.).463 Schmitt erinnert zunächst daran, dass diese Konflikte aus „verfassungsrechtlich andersgearteten Situationen“ stammen, die Situation der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts mit seinen Trennungen von Staat und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft nicht mehr vorliegt. Dies sei von unmittelbarer verfassungsrechtlicher Bedeutung, denn es könne eine rechtswissenschaftliche Auslegung der Verfassung nicht ohne ein historisch-kritisches Bewusstsein vor sich gehen. In der gesellschaftlich-politischen Lage des 19. Jahrhunderts wurde der unbedingte Vorbehalt entwickelt, wonach Finanzgesetze nur vom Parlament verabschiedet werden konnten; eine andere Institution konnte diesen Vorbehalt nicht ausfüllen, womit der gesetzesvertretende Verordnungsweg ausgeschlossen war (HdV 130; nachst. ebd.). Nun sei die Regierung dem Parlament gegenüber aber keine unabhängige selbstständige Kraft mehr, weil vor allem der Reichspräsident vom ganzen Volk gewählt ist und das Volk selbst nach der Verfassung sowohl der Regierung, dem Reichspräsidenten und dem Parlament als höherer Dritter gegenübersteht. Deshalb, folgert Schmitt, stehe dem Parlament das „Monopol der Volksvertretung“ nicht mehr zu. Wenn dem so sei, könne es für sich auch nicht mehr den Vorbehalt des Gesetzes in Anspruch nehmen. Dies gelte jedenfalls, wenn es als Schauplatz des Pluralismus gerade in ökonomischen Notsituationen nicht mehr handlungsfähig ist. Dann hat das Parlament nicht das Recht, einzufordern, „daß auch alle andern verantwortlichen Stellen handlungsunfähig werden. Es wäre nicht nur geschichtlich unmöglich und moralisch unerträglich, sondern auch juristisch falsch (…)“ (HdV 131).

Wenn sich die in der gegenwärtigen Verfassungslage geübte Praxis eines wirtschaftlich-finanziellen Ausnahmezustands mit einem gesetzesvertretenden Verordnungsrecht herausgebildet habe, „so ist das nicht Willkür und Zufall, auch nicht ‚Diktatur‘ in dem Sinne des vulgären, parteipolitischen Schlagwortes, sondern der Ausdruck eines tiefen und innerlich gesetzmäßigen Zusammenhanges. Es entspricht der Wendung,

463 Siehe auch Fijalkowski (1958, S. 89 f.).

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die ein Gesetzgebungsstaat zum Wirtschaftsstaat nimmt und die von einem pluralistisch aufgespaltenen Parlament nicht mehr vollzogen werden kann“ (HdV 131).

Nach dem ganzen bisher Ausgeführten kann nur noch der plebiszitär gewählte Reichspräsident der eigentliche Hüter der Verfassung sein. 6. Der Reichspräsident als Hüter der Verfassung. 6.1. Die staatsrechtliche Lehre von der „neutralen Gewalt“ (pouvoir neutre). Die Differenzen zwischen den verschiedenen Trägern politischer Funktionen und politischen Einflusses sind juristischen Entscheidungen meist nicht zugänglich. So entscheidet über sie entweder ein ranghöherer politischer Dritter – „der souveräne Herr des Staates“ – oder sie werden durch eine nebengeordnete Stelle, einen neutralen Dritten, beigelegt: „das ist der Sinn einer neutralen Gewalt, eines pouvoir neutre et intermédiaire, der nicht über, sondern neben andern verfassungsmäßigen Gewalten steht, aber mit eigenartigen Befugnissen und Einwirkungsmöglichkeiten ausgestattet ist“ (HdV 132).

Soll hierfür eine besondere Institution mit dem Ziel geschaffen werden, das verfassungsmäßige Funktionieren der verschiedenen Gewalten zu sichern und die Verfassung zu wahren, so kann dies in einem Rechtsstaat keine der bestehenden Gewalten sein, sondern es bedarf einer besonderen neutralen Gewalt neben den anderen Gewalten mit spezifischen Befugnissen. Diese Gewalt ist für Schmitt der Pouvoir neutre et intermédiaire des Benjamin Constant, die wesentlich zur Verfassungstheorie des bürgerlichen Rechtsstaats gehört (s. HdV 132 f.). Diese Funktion könne sowohl der konstitutionelle Monarch – il règne et ne gouverne pas – wie der republikanische Staatspräsident ausfüllen (HdV 134), die sich durch den Besitz von auctoritas und weniger von potestas auszeichneten (HdV 135). Das Staatsoberhaupt stellt neben den ihm zugewiesenen Aufgaben „die K o n t i n u i t ä t und Pe r m a n e n z der staatlichen Einheit und ihres eigentlichen Funktionierens dar(stellt)“ HdV 136464). Und es muss

464 Herv. im Original.

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„aus Gründen der Kontinuität, des moralischen Ansehens und allgemeinen Vertrauens eine besondere Art von Autorität haben (…), die ebensogut zum Leben des Staates gehört wie die täglich aktiv werdende Macht und Befehlsgewalt“ (ebd.).

Dies sei, so Schmitt, für die Lehre von der neutralen Gewalt von besonderem Interesse, „weil die eigenartige Funktion des neutralen Dritten nicht in fortwährender, kommandierender und reglementierender Aktivität besteht, sondern zunächst nur vermittelnd, wahrend und regulierend, und nur im Notfall aktiv ist“ (HdV 136/137).

Sie steht auch nicht in Konkurrenz zu den anderen Gewalten und agiert in der Regel unauffällig und unaufdringlich. Gleichwohl ist sie vorhanden und unentbehrlich (HdV 137; nachst. 137 f.). Die Stellung des Reichspräsidenten lässt sich aber nur mithilfe einer weiterentwickelten Lehre von einer „neutralen, vermittelnden, regulierenden und bewahrenden Gewalt konstruieren“ (HdV 137).465 Seiner Stellung waren sich aber bereits die Urheber der Weimarer Verfassung bewusst. Für Hugo Preuß hatte er „ein gewisses Zentrum, einen r u h e n d e n P o l i n d e r V e r f a s s u n g zu bilden“ (HdV 138466). Friedrich Naumann stimmte dieser Ansicht für Schmitt nachgerade mit prophetischer Begründung zu: „Das für die Reichstagswahl geltende Proportionalwahlrecht und die daraus sich ergebende Vielheit von Parteien führen dazu, daß der Reichskanzler Koalitionsminister sein wird. Gerade aus diesem Grunde wird sich das Bedürfnis nach e i n e r Persönlichkeit, die d a s G a n z e im Auge hat, besonders stark geltend machen“ (HdV 138).

Dies habe sich, so Schmitt weiter, sowohl bei Ebert wie bei v. Hindenburg in der Praxis bestätigt, in der deren Tätigkeit sich als „neutrale und vermittelnde Schlichtung von Konflikten“ dargestellt hat. In einem Staat von der komplizierten Organisation des Deutschen Reiches als einem föderalistischen, pluralistischen und polykratischen Gebilde erhält die vermittelnde und regulierende Funktion des pouvoir neutre so eine zentrale Bedeutung (HdV 140).

465 Zu den verfassungsmäßigen Befugnissen des Reichspräsidenten siehe (HdV 138 f.). 466 Herv. im Original.

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6.2. Die besondere Bedeutung der „neutralen Gewalt“ im pluralistischen Parteienstaat, dargelegt am Beispiel des staatlichen Schlichters von Arbeitsstreitigkeiten. Die Stellung des Reichspräsidenten erklärt sich nach dem positiven Recht der Weimarer Verfassung also aus der Lehre von der „neutralen, vermittelnden, regulierenden und wahrenden Gewalt“ (HdV 141; nachst. ebd.). Zunächst für das Staatsoberhaupt reserviert, lasse sie sich auch auf den Staat im Ganzen anwenden, wenn dieser durch die „Selbstorganisation der Gesellschaft“ zu einer bloß „neutralen Macht“ mutiert und die gesetzgebende Körperschaft zu einem Spiegelbild der Pluralität organisierter sozialer Machtkomplexe geworden sei. Die fortschreitende Pluralisierung reduziert nach Schmitt den Staat auf einem fortwährenden Kompromiss, die Verfassung wird zum Vertrag sozialer Machtkomplexe und beruht auf dem Satz: pacta sunt servanda. Die Vertragspartner als Herren der Verfassung könnten diesen ebenso abändern, wie sie ihn geschlossen hätten: „Der Vertrag hat dann nur den Sinn eines Friedensschlusses zwischen den paktierenden Gruppen, und ein Friedenschluß hat, ob die Parteien wollen oder nicht, immer einen Bezug auf die, wenn auch vielleicht entfernte Möglichkeit eines Krieges“ (HdV 141).467

Was, bestimme man die maßgebende Freund-Feind-Gruppierung innenpolitisch, nichts anderes wäre als Bürgerkrieg (HdV 142; nachst. ebd.).468 Schmitt bezieht sich auf die These J. St. Mills, die sich aus der liberalen Metaphysik ergebe. Danach bilden sich in jeder Gesellschaft zwei, einander ungefähr gleiche Parteien oder Parteikoalitionen, so dass auch ein schwacher, ja hilfloser neutraler Dritter – „der Geist der Objektivität und Weitsicht“ – fähig ist, „die Waagschale zugunsten des relativ Richtigen und Gerechten zu bestimmen und der Vernunft zum Siege zu verhelfen“ (HdV 142). Mill selbst benannte in einer Industriegesellschaft Arbeitgeber und Arbeitnehmer als solche Gruppierungen, Friedrich Engels hatte auch im Klassenkampf Phasen des Gleichgewichts ausgemacht und Otto Bauer eine Theorie der sozialen Gleichgewichtsstruktur entwickelt, die von Otto Kirchheimer zu einer staats- und verfassungstheoretischen Konstruktion

467 Schmitt zitiert sich selbst aus dem Aufsatz Staatsethik und pluralistischer Staat (1930). 468 Siehe dazu Fijalkowski (1958, S. 83-86).

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verwertet wurde (ebd.). Die Partei- und Zahlenverhältnisse in Deutschland spiegelten dies für Schmitt wieder: „Dadurch können Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu einem typischen Abbild der staatlichen Struktur überhaupt werden“ (HdV 143; nachst. ebd.).

Unparteiische Richter und Schlichter erhielten deshalb eine fast symbolische Stellung, durch welche die Lage des ganzen Staates sichtbar werde. Der Schlichter tritt bei dieser Theorie in einem ersten Stadium als Förderer eines gemeinsamen Verhandelns zwischen den in Streit liegenden Interessenverbänden überhaupt auf, hilft bei den Bemühungen um Verständigung zwischen den Kontrahenten, „die aber in Wirklichkeit s i c h s e l b s t untereinander ausgleichen“ (HdV 143469). Der Schlichter ist also nur ein vermittelnder Makler, der mit ausgleichender Neutralität zur Herstellung eines Selbstausgleichs. Eine Vermittlungsfunktion des Staates tritt erst ein, „wenn die beiden, einander gleichen Interessenkomplexe nicht zu einer Einigung kommen, sondern sich im Gleichgewicht gegensätzlich verhalten“ (HdV 144; nachst. 144 f.).

Dann wird der Vermittler zum mehrheitsbildenden Dritten, weil die beiden mächtigen Interessenkomplexe sich gegenseitig paralysieren. In dieser Mill-Situation (s.o.) kann die Macht oder die Autorität des Dritten gering und minimal sein. Er macht im Geiste der Objektivität und Weitsicht den Unterschied. Gleichwohl hat H. Triepel dafür den Begriff des „Zwangsausgleichs“ eingeführt. Doch wird, so Schmitt, der mehrheitsbildende Staat erst mit einer fortschreitenden pluralistischen Staatsauffassung zu einem von außen entscheidenden Dritten, der einer Partei zum Sieg verhilft. Da nach Schmitts demokratischer – nicht liberaler – Staatsauffassung der Staat eine unteilbare Einheit sei, könne eine Überstimmung letztlich nicht vorliegen, da der unterlegene Widerpart nur zu seinem eigenen – vom Irrtum befreiten – wirklichen Willen geführt worden ist. Diese vom Pluralismus zunehmend zerstörte Vorstellung führe aber dazu, dass „der Staat als ein Machtkomplex neben den andern sozialen Machtkomplexen [erscheint], der sich bald mit der einen, bald mit der anderen Seite verbündet und dadurch die Entscheidung herbeiführt. Die Mehrheitsbildung wird dadurch zu einem Mittel äußerlichen Übergewichts und Zwanges“ (HdV 145).

469 Herv. im Original.

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Das zieht für Schmitt allerdings die bittere Konsequenz nach sich, dass die Parteien „ohne jede Rücksicht auf irgendein Prinzip, immer nur im Hinblick auf das taktische Interesse des Augenblicks, den Staat bald als Autorität proklamieren, wenn er gerade auf der Seite ihres Parteiinteresses ist, und dann wieder, wenn er ihrem Augenblicksvorteil im Wege steht, ihn als einen Eindringling hinstellen, der die Eigengesetzlichkeit des Wirtschafts- und Arbeitskampfes störe“ (HdV 147).

Gelinge es diesem System, die Schlichtungsinstanzen ebenso wie das Parlament zu einem Schauplatz des Pluralismus zu verwandeln und handlungsunfähig zu machen, „so erhebt sich für den Staat eine unvermeidliche Alternative: entweder aufzuhören, als Einheit und als Ganzes zu existieren, oder aber zu versuchen, aus der Kraft der Einheit und als Ganzes heraus die notwendige Entscheidung herbeizuführen“ (HdV 148).

Nach der ersten Stufe des ehrlichen Maklers, der zweiten des mehrheitsbildenden Dritten und der dritten Stufe, in der der Staat als Dritter im Sinne eines pluralistisch gedachten Systems auftritt (HdV 147), wäre jetzt die vierte Stufe der Neutralität erreicht, „die einer offenen, von Staats wegen ergehenden Entscheidung, bei der sowohl der Vorschlag der Schlichtungsinstanz wie seine Verbindlichkeitserklärung nur das Werk des Staates sind“ (HdV 148)

Es handelt sich nunmehr um eine klare staatliche Dezision, die kein Ergebnis einer Interessenverständigung und keine Mehrheitsentscheidung ist. Der Staat erweist sich als der höhere Dritte, als eigene, überlegene Autorität, „deren Unparteilichkeit nur auf dem Boden der politischen Einheit und Ganzheit ihren Standpunkt haben kann, und deren Kraft sich im Ausnahmefall erprobt“ (ebd.).

Doch Schmitt schränkt umgehend ein. Selbst dieser Weg sei nur solange gangbar, als das pluralistische System „noch nicht alle Teile des staatlichen Ganzen besetzt hat“ (ebd.), sich die politischen Parteien gegenseitig in Schach halten und ihre ganze Heterogenität diese gegenseitige Beschränkung verstärkt – und solange andere Kräfte im Volk vorhanden sind als diejenigen, „die parteiorganisatorisch erfaßt und dienstbar gemacht sind, und diese Gegenkräfte von der staatlichen Verfassung mit einem System relativ stabiler Einrichtungen in Verbindung gebracht werden“ (HdV 149).

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Dies habe die geltende Reichsverfassung mithilfe der plebiszitären Elemente in ihrem organisatorischen Teil versucht. Den hinter dem Begriff der Neutralität verborgenen zentrifugalen Kräften wurden die politische Einheit des ganzen Volkes und der vom ganzen Volk gewählte Reichspräsident entgegengesetzt (ebd.). 6.3. Das Beamtentum und die verschiedenen Möglichkeiten einer „Unabhängigkeit“ vom pluralistischen Parteienstaat. Die große Tradition des Berufsbeamtentums im demokratischen Staat fortzuführen, hält Schmitt nach dem Wegfall der Trennung von Staat und Gesellschaft im monarchischen Staat nur auf einer neuen Grundlage möglich (HdV 149 f.; nachst. ebd.). Sichtbarer Ausdruck ist, dass der Reichspräsident die Reichsbeamten ernennt und entlässt. Dies komme einer beachtlichen Hemmung der Methoden parteipolitischer Stellenbesetzungen gleich, doch noch wichtiger sei „der systematische Zusammenhang von verfassungsrechtlich gewährleistetem Beamtenstaat und einem auf plebiszitärer Grundlage stehenden, das plebiszitäre Element der Reichsverfassung beherrschenden Reichspräsidenten“ (HdV 150).

In einer demokratischen Verfassung ist ein solches Vorgehen die einzige Möglichkeit, eine unabhängige Instanz zu schaffen, auf der alle Vorschläge für einen Hüter der Verfassung gründen. Es gebe allerdings viele „Unabhängigkeiten und immer neue Einrichtungen müssten aus dem parteipolitisch-pluralistischen System herausgenommen werden.470 Die richterliche, zusammengesetzte zweifache Unabhängigkeit ist Schmitt ein besonderes Anliegen. Einmal schützt den auf Lebenszeit oder längere Dauer angestellten Richter die spezifische richterliche Unabhängigkeit vor dienstlichen Anweisungen und Befehlen in Ausübung seiner richterlichen Tätigkeit (Art. 102 WRV), und zweitens, die verstärkte Unabhängigkeit des richterlichen Beamten, der nur in einem formellen – von Standesgenossen durchgeführten – Verfahren seines Amtes enthoben werden kann. Der Richter werde so aus den wirtschaftlichen und sozialen Ge-

470 Verschiedene Arten von Unabhängigkeit sind: die des Richters, die des Berufsbeamten, die des richterlichen Berufsbeamten, die der Mitglieder des Rechnungshofes für das Deutsche Reich usf. (s. HdV 151 f.).

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gensätzen herausgehalten und in die Lage versetzt, neutral und unabhängig zu sein (s. HdV 152 f.). Ein Kollegium von derart privilegierten Richtern ist in einem hohen Maße als unabhängige, neutrale und objektive Instanz qualifiziert, so dass die Hoffnung, dieses könne alle Verfassungsstreitigkeiten entpolitisieren, prima facie nur als konsequent und logisch erscheine. Fordere man aber einen eigenen Verfassungsgerichtshof für alle Verfassungsstreitigkeiten, so werde, warnt Schmitt, leicht übersehen, dass die richterliche Unabhängigkeit nur die andere Seite richterlicher Gesetzesgebundenheit ist, eine Bindung, welche die Verfassung im Allgemeinen nicht bewirken könne. Verlangt werde ohnehin eine unabhängige und neutrale Instanz, wofür die verfassungsrechtlich garantierte „Unabhängigkeit des richterlichen Berufsbeamten“ die beste Gewähr biete. Deshalb werde versucht, diese immer weiter zu stärken, wie etwa bei der Zahl oder der Zusammensetzung des Richterkollegiums (s. HdV 153). Allerdings, so Schmitt, müsse der Hüter der Verfassung unabhängig und verfassungspolitisch neutral sein. Aber die Justiz werde unerträglich belastet, wiese man ihr alle Aufgabe zu, für die Unabhängigkeit und parteipolitische Neutralität erwünscht seien. Zudem wäre heute die Front der Justiz gegen das Parlament gerichtet, und keine Justizförmigkeit könne überdecken, dass Verfassungsstreitigkeiten in der Regel hoch politisch sind (HdV 155): „Vom demokratischen Standpunkt aus wäre es kaum möglich, einer A r i s t o k r a t i e d e r R o b e solche Funktionen zu übertragen“ (HdV 156471).

6.4. Die demokratische Grundlage der Stellung des Reichspräsidenten. Es geht jedoch bei dem Problemkreis der Unabhängigkeit der Richter nicht um das Schaffen von Trägern politischer Willensbildung, sondern um die Sicherung und Abgrenzung der Sphäre einer gesetzgebenden Justiz innerhalb eines geordneten Staatswesens (HdV 156; s. nachst. ebd.). Denn es gebe – worauf schon eingegangen wurde – verschiedene Arten der Unabhängigkeit, denen verschiedene Inamovibilitäten472, Immunitäten und Inkompatibilitäten entsprechen. Jedenfalls kenne das deutsche Staatsrecht

471 Herv. im Original. 472 Imovabilität = Unabsetzbarkeit (von Beamten).

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eine Inkompatibilität der Stellung des Reichspräsidenten mit der eines Reichstagsabgeordneten (Art. 44 WRV): „Ihr politischer Sinn liegt darin, daß hier die Selbständigkeit des von der Verfassung eingeführten plebiszitären Systems gegenüber dem parlamentarischen zum Ausdruck kommt. Sie deutet auf eine parteipolitische, aber nicht unpolitische Unabhängigkeit“ (HdV 156).

Andere Inkompatibilitäten sollen schlicht eine Herausnahme aus dem parteipolitischen Betrieb bewirken. Weitere Beamten-Inkompatibilitäten aber seien im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland kaum bekannt.473 Ausnahme sind Verfassungsrichter, für die überall strengste Inkompatibilitäten gelten (HdV 157). Von großer Bedeutung sei es, dass – neben der Unabhängigkeit des Berufsbeamten und des parlamentarischen Abgeordneten – die „durch erschwerte Abberufbarkeit und besondere Privilegien geschützte Stellung des Staatshauptes aufs engste mit der Vorstellung des G a n z e n der politischen E i n h e i t verknüpft ist (ebd.)474.

Die Berufung auf das Ganze der politischen Einheit trägt für Schmitt den Gegensatz zu den pluralistischen Gruppierungen wirtschaftlicher und sozialer Art in sich und soll Überlegenheit bewirken. Erst im Vergleich des Zusammenhangs solcher Bestimmungen werde die Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Verfassung sichtbar. Er stehe im Zentrum „eines ganzen, auf plebiszitärer Grundlage aufgebauten Systems von parteipolitischer Neutralität und Unabhängigkeit. Auf ihn ist die Staatsordnung des heutigen Deutschen Reiches in demselben Maße angewiesen, in welchem die Tendenzen des pluralistischen Systems ein normales Funktionieren des Gesetzgebungsstaates erschweren oder gar unmöglich machen“ (HdV 158).

Bevor man also das Prinzip der Justiz mit der Aufgabe von Entpolitisierungen gefährde, wendet Schmitt ein, sollte man sich des positiven Inhalts der Weimarer Verfassung vergewissern: „Nach dem vorliegenden Inhalt der Weimarer Verfassung besteht bereits ein Hüter der Verfassung, nämlich der Reichspräsident“ (ebd.).

Seine ganze Stellung – Wahl auf 7 Jahre, erschwerte Abberufungsmöglichkeit, Unabhängigkeit von wechselnden Parlamentsmehrheiten wie der

473 Für richterliche Beamte war aber eine allgemeine parlamentarische Inkompatibilität vorgeschlagen (HdV 157). 474 Herv. im Original.

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Umfang seiner Befugnisse (Art. 45 f., Art. 25, Art. 73, Art. 70, Art. 48) – haben den Sinn, „eine wegen ihres unmittelbaren Zusammenhanges mit dem staatlichen Ganzen parteipolitisch neutrale Stelle zu schaffen, die als solche der berufene Wahrer und Hüter des verfassungsmäßigen Zustandes und des verfassungsmäßigen Funktionierens der obersten Reichsinstanz und für den Notfall mit wirksamen Befugnissen zu einem aktiven Schutz der Verfassung ausgerüstet ist“.(ebd.).

Der Reichspräsident soll also nach Schmitt als plebiszitär legitimiertes Gegengewicht gegen das pluralistische System als Hüter der Verfassung die Einheit des ganzen Volkes bewahren, so wie er es in seinem Amtseid schwört („die Verfassung wahren“) (HdV 159).475 Vielleicht, orakelt Schmitt, sei es nicht auf Dauer möglich, die Stellung des Präsidenten dem parteipolitischen Betrieb zu entziehen. Die Weimarer Verfassung setze jedenfalls das ganze deutsche Volk als Einheit voraus, eine Einheit, die nicht erst durch soziale Gruppenorganisation vermittelt werden muss, und trotzdem handlungsfähig ist – über alle pluralistische Zerteilung hinweg. Die Verfassung versuche, der Autorität des Reichspräsidenten die Möglichkeit zu geben, sich mit dem politischen Gesamtwillen des deutschen Volkes zu verbinden und so Hüter und Wahrer der Verfassung zu sein und als solcher zu handeln: „Darauf, daß dieser Versuch gelingt, gründen sich Bestand und Dauer des heutigen deutschen Staates“ (HdV 159).

Was angesichts der wirklichen Verfassungslage und der pluralistischen Belagerung des Staates noch bleibt, ist für Schmitt die plebiszitäre Autorität des Reichspräsidenten. Den Parlamentarismus betrachtet er als unrettbar. Durch eine extensive Auslegung des Art. 48 WRV rückt Schmitt von seiner früheren Auffassung der „kommissarischen Diktatur“ ab und rückt den Reichspräsidenten in die Nähe einer souveränen Diktatur,

475 Siehe auch Fijalkowski (1958, S. 91).

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II. Die Septemberwahl 1930 und der Funktionsverlust des Reichstags. 1. Die Katastrophenwahl vom 14. September 1930. Die durch die Reichtagsauflösung vom Juni notwendig gewordene Reichstagswahl wurde spätmöglichst auf den 14. September 1930 terminiert. Man hegte die Hoffnung, dass in dieser Zeit die Alternativlosigkeit der Finanz- und Wirtschaftspolitik Brünings erkannt und das Wahlergebnis die Bildung einer Mitte-Rechts-Regierung ermöglichen werde. Die Gefahr eines weiteren Anwachsens der NSDAP wurde trotz des überall herrschenden Pessimismus als nicht sehr hoch eingeschätzt, was sich als fataler Irrtum erweisen sollte.476 Schon im Wahlkampf hatten die radikalen Flügelparteien KPD und NSDAP die politische Szene dominiert.477 Dies speigelte sich auch im Ergebnis der Septemberwahl von 1930. Sie „ist zweifellos eines der Schicksalsdaten der deutschen Geschichte, denn sie markiert den entscheidenden Durchbruch der NS-Bewegung, die jetzt zu einem Faktor der deutschen Politik wurde, mit dem gerechnet werden musste“.478

Die NSDAP steigerte ihre Mandate von 12 auf 107 und war nunmehr mit 18,3% zweitgrößte Partei im Reichstag. Die KPD steigerte ihren Wähleranteil von 10,6% auf 13,1%, alle anderen Parteien verbuchten Verluste. Im Ganzen wuchs der Wähleranteil der republikfeindlichen Flügelparteien, während die bürgerlich-liberale Mitte und die DNVP geschwächt aus der Wahl hervorgingen.479 Das Wahlergebnis war bereits eine Reaktion auf die Folgen der Weltwirtschaftskrise, von der die Hitler-Bewegung am stärksten profitiert hatte. Mit ihrem Vorwurf der „Erfüllungspolitik“ gegen die republikanische Reichsregierung sprach sie all jene an, die in den Reparationsverpflichtungen des Versailler Vertrags den tieferen Grund für die wirtschaftliche Not-

476 Büttner weist darauf hin, dass sich Brüning von der Räumung der letzten Besatzungszone im Rheinland am 30. Juni 1930 einen positiven Stimmungsschub erwartet haben könnte. Andererseits hatte die NSDAP bei der Wahl in Sachsen ihre Mandate von fünf auf 14 gesteigert. Bei einer Konferenz der Nachrichtendienste der Länder war auf die von der NSDAP ausgehenden Gefahren ausdrücklich hingewiesen worden (Büttner 2010, S. 405). 477 Siehe Grevelhörster (2002, S. 155). 478 Kolb/Schumacher (2013, S. 127). 479 Grevelhörster (2002, S. 157).

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II. Die Septemberwahl 1930 und der Funktionsverlust des Reichstags.

lage Deutschlands sahen. Die NSDAP konnte sich mit diesem Argumentationsstrang auf die Regierung Brüning berufen, die Gleiches immer wieder betont hatte. Und einem in der Wirtschaftskrise, wie es schien, alles Treiben lassenden Parlamentarismus mit seiner untätigen Regierung gegenüber bot die NSDAP „das Bild einer jungen, zupackenden ‚Bewegung‘, von der man glauben konnte, sie sei eher als die traditionellen Parteien in der Lage, allen Schwierigkeiten Herr zu werden“.480 2. Tolerierung der Präsidialregierung Brüning: Zerreißprobe für die SPD. Nach der Katastrophenwahl vom September 1930 wäre rechnerisch gleichwohl eine Große Koalition unter Einschluss der Wirtschaftspartei möglich gewesen, mit den Abspaltungen von der DNVP und den gemäßigten Agrarparteien sogar eine Mehrheit von 59%. Für diese Lösung hatte sich einen Tag nach der Wahl der preußische Ministerpräsident Otto Braun eingesetzt, und auch der Reichsverband der Deutschen Industrie plädierte im Interesse stabiler politischer Verhältnisse für diese Lösung: „Brüning lehnte aber unter Berufung auf den ‚Auftrag‘ des Reichspräsidenten jede förmliche Regierungsbeteiligung der SPD ab. Auch in den Reihen der Sozialdemokratie gab es starke Widerstände gegen einen erneuten Eintritt in die Regierung“.481

Die DNVP – nunmehr unter Hugenberg – lehnte alle Avancen Brünings ab. Um die NSDAP für eine tolerierende Oppositionsrolle zu bewegen, bot ihr Brüning sogar Länderparlamente an, wo es möglich sei, mit NSDAP und Zentrum Mehrheiten zu finden. Auch dies hatte keinen Erfolg.482 Damit war für Brüning, an dem v. Hindenburg festhielt, die parlamentarische Basis selbst für eine Politik der Notverordnungen zu schmal geworden, weil eine Reichstagsmehrheit Notverordnungen – wie im Juli geschehen – jederzeit aufheben und dem Kanzler das Misstrauen aussprechen hätte können, was letztlich wieder zu Reichstagsaufhebung und Neuwahl geführt hätte und womöglich zu einem weiteren Wachsen der radikalen Ränder. 483

480 Ebd. S. 158. Zum Aufstieg der NASD s. umfassend Evans (2005); Kolb/Schumacher (2013, S. 126-129). 481 Büttner (2010, S. 420 f.). 482 Kolb/Schumacher (2013, S. 134). 483 Grevelhörster (2002, S. 159).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

In dieser unheilschwangeren Gemengelage rang sich Anfang Oktober die SPD trotz heftigen Widerstands in der Partei zu einer Tolerierungspolitik durch, was hieß, Entscheidungen verantworten zu müssen, auf die sie keinen Einfluss hatte.484 Aus verschiedenen Motivbündeln war wohl das Gewichtigste, Hitler den Weg zur Macht zu verbauen. Ebenso gewichtig war aber die Rücksichtnahme auf die Regierung Braun in Preußen, die von SPD, Zentrum und DDP/Staatspartei485 getragen wurde. 486 Man wollte nicht die letzte wichtige Machtposition im Reich gefährden, indem man den Zentrumspolitiker Brüning das Regieren verunmöglichte.487 Bis zum Frühsommer 1932 und dem Sturz Brünings hielt die SPD der Regierung so den Rücken frei und duldete eine Politik, deren krass unsoziale Härte breite Massen – und damit große Teile der eigenen Wählerschaft – in Verzweiflung und Verelendung trieb: „Stets tauchte die Frage auf, ob neue Zumutungen wirklich so viel unverträglicher waren als frühere, daß sie es rechtfertigten, die Auslieferung des Staates an die NSDAP zu riskieren“.488

Die seit Herbst 1930 geübte Praxis der Tolerierung der Präsidialregierung Brüning war – nach der Art und Weise ihrer Inkraftsetzung – der zweite Schritt auf dem Weg zum Präsidialsystem; er war aber andererseits auch „eine erhebliche Modifizierung des ursprünglichen Konzepts eines in schroffer Frontstellung zur SPD agierenden rechtsbürgerlichen Regimes. Aber Brüning gelangte von seinem Selbstverständnis her nie über das Bewußtsein hinaus, sein Amt lediglich im Auftrag des Reichspräsidenten und in Verpflichtung der ihm angetrauten Mission zu führen“.489

Die Erosion des parlamentarischen Systems offenbart sich in der Anzahl der Sitzungstage: 1930/94, 1931/42 und 1932/13. Die Notverordnungen des Reichspräsidenten betrugen: 1930/5, 1931/44 und 1932/66. Die Exe-

484 Büttner (2010, S. 421). 485 Die DDP firmierte ab Sommer 1930 als Deutsche Staatspartei. 486 Die Ablösung der Regierung Braun mit allen Mitteln war Ziel der politischen Rechten. Sie griff 1931 zu dem verfassungsmäßigen Instrument von Volksbegehren und Volksentscheid. Getragen wurde es von NSDAP, Stahlhelm, DNVP, DVP, Wirtschaftspartei sowie kleineren parlamentarischen und außerparlamentarischen Organisationen; später schloss sich diesen überraschend auch die KPD an. Es votierten allerdings nur 36,9% für die sofortige Landtagsauflösung (s. Kolb/Schumacher 2013, S. 135). 487 Siehe Grevelhörster (2002, S. 160/161); s. Kolb/Schumacher (2013, S. 134). 488 Büttner (2010, S. 421). 489 Kolb/Schumacher (2013, S. 135).

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II. Die Septemberwahl 1930 und der Funktionsverlust des Reichstags.

kutive hatte sich durch das Versagen des parlamentarischen Systems, das ab Herbst 1930 bereits autoritär geprägt war, verselbstständigt.490 3. Bemerkungen zur Weltwirtschaftskrise aus deutscher Sicht.491 Außen- und wirtschaftspolitisch492 erkaufte sich Brüning mit seiner prozyklischen Deflationspolitik die Streichung der Reparationslasten im Inneren mit Massenarbeitslosigkeit und der Verelendung breiter deutscher Gesellschaftsschichten im Gefolge der Weltwirtschaftskrise.493 Brüning selbst hat in seinen 1970 erschienenen Memoiren dargelegt, dass seiner ganzen Innen- wie Außenpolitik eine strategische Konzeption zugrunde gelegen habe. Cum grano salis, lässt sich diese Strategie so zusammenfassen: Die wirtschaftlichen Verwerfungen mussten in Kauf genommen werden, bis die Schuldner überzeugt waren, dass ihre Forderungen von Deutschland keinesfalls aufgebracht werden können und die Reparationszahlungen deshalb gestrichen werden müssen. Dann sollte eine tiefgreifende Verfassungsreform durchgeführt werden, um die Hohenzollernmonarchie zu restaurieren und ein Kabinett aus Vertretern der Rechtsparteien zu installieren.494 Jenseits aller wissenschaftlichen Diskussionen über Charakter und Strategie Brünings teilen wir die Auffassung, dass oberste Priorität Brünings die Liquidation der Reparationsverpflichtungen war und nicht die Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit, Verelendung und Wirtschaftskrise, die er primär zur Zielerreichung brauchte und einsetzte. Er lehnte sogar mögliche Auslandskredite ab, die zur Behebung der dringendsten Finan-

490 Siehe Grevelhörster (2002, S. 161). 491 Umfassend s. Hesse/Köster/Plumpe (2017). 492 Außenpolitisch wandte man sich rasch von der ausgleichenden Politik Stresemanns ab und kehrte zu einer restringiert nationalen Politik zurück, für die der neue Außenminister Bernhard Wilhelm v. Bülow stand (s. dazu Büttner 2010, S. 426 ff.). 493 Die Entstehung und die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise sind bestens dokumentiert. Wir beschränken uns auf wenige Aspekte, die innenpolitisch größte Turbulenzen auslösten. 494 Kolb/Schumacher (2013, S. 136; zum Diskussionsstand ebd. S. 255 ff.).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

zierungsprobleme hochwillkommen gewesen wären, denn diese hätten seine außenpolitische Handlungsfreiheit behindert.495 Umstritten ist in der Literatur, ob es Alternativen zur Deflationspolitik Brünings gegeben habe. Der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt verneint dies unter den damaligen Bedingungen, weil sich die deutsche Wirtschaft schon vor 1929 in einer Strukturkrise befunden habe, die es zu bereinigen galt.496 Die Historikerin Ursula Büttner argumentiert, dass das Know-how für eine antizyklische Konjunkturpolitik durch Keynes 1930/1932 bereits bekannt und im Wirtschaftsministerium bereits die Grundlage für entsprechende Planungen war.497 Ob diese mehrheitsfähig gewesen wären, kann hier nicht diskutiert werden. In der Außenwirkung glich diese Wirtschafts- und Finanzpolitik einem steuerlos dahintreibenden Schiff bei zunehmend schwerem Wetter. Im Sommer 1931 spitzte sich die Krise weiter zu. In Wien war die renommierte Österreichische Creditanstalt zusammengebrochen und hatte eine schwere Bankenkrise ausgelöst, die auf Deutschland übergriff, weil Gläubiger und Kunden der Banken ihre Einlagen zurückforderten. Als die Dnat-Bank, die zweitgrößte Kreditbank Deutschlands, wegen des Zusammenbruchs des Nordwolle-Konzerns, dessen Hausbank sie war, der Regierung mitteilte, dass sie am 13. Juli ihre Schalter nicht mehr öffnen werde, verfügte die Regierung mittels Notverordnung „Bankfeiertage“,498 was hieß, dass an diesen alle Banken ihre Schalter geschlossen hielten. Auch danach konnten Kunden nur begrenzt über ihre Guthaben verfügen. Ein normaler Geschäftsverkehr war erst ab dem 5. August wieder gewährleistet, auch weil das Reich 1 Milliarde Mark für die Bankenrettung zur Verfügung gestellt hatte. In dieser Situation war es der amerikanische Präsident Herbert Hoover, der zum Handeln gezwungen war, weil ein finanzieller und wirtschaftlicher Zusammenbruch Deutschlands auch für die USA verheerende Folgen gehabt hätte. Er schlug deshalb ein internationales Schuldenfeierjahr vor, 495 Siehe Kolb/Schumacher (2013, S. 137; nachst. s. S. 137 f.); s. Grevelhörster (2002, S. 162-169). 496 Siehe Borchardt (1993). 497 Siehe Büttner (1989). 498 Diese hatte sie vor dem 13. Juli 1931 noch abgelehnt. Erst nachdem alle Banken von ihren Kunden bestürmt wurden, nur noch Teilbeträge ausgezahlt werden konnten und am 14. Juli auch die Dresdner Bank, von der 1300 Genossenschaftsbanken abhängig waren, ihre Insolvenz erklärte, entschloss man sich zu dieser Maßnahme (vgl. Büttner 2010, S. 432).

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III. Der Sturz Brünings und das Präsidialregime v. Papen.

in dem neben den deutschen Reparationszahlungen auch der Schuldendienst für die alliierten Kriegsanleihen ausgesetzt wurden. Als ein Expertengremium Deutschland im August 1931 bescheinigte, zur Zahlung von Reparationen auch in weiterer Zukunft nicht fähig zu sein, schlug es eine Radikallösung vor: Streichung der deutschen Reparationen und der interalliierten Kriegsschulden. III. Der Sturz Brünings und das Präsidialregime v. Papen. 1. Der Sturz Brünings. Mit Jahresbeginn 1932 begann v. Hindenburg das Vertrauen in seinen Präsidialkanzler zu verlieren. Maßgeblich zu diesem Verlust trug Brünings taktisches Vorgehen vor der Wahl des Reichspräsidenten bei, die im Frühjahr 1932 angestanden hätte. Brüning hatte zunächst daran gearbeitet, mittels einer Verfassungsänderung die Amtszeit des Reichpräsidenten zu verlängern. Für die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit wollte er die NSDAP gewinnen. Der Plan scheiterte. Im Gegenteil präsentierte die sog. nationale Opposition aus DNVP, Stahlhelm-Frontsoldatenbund und NSDAP mit Theodor Duesterberg und Adolf Hitler eigene Kandidaten. Die Wiederwahl des amtierenden Reichspräsidenten unterstützten SPD, Zentrum, BVP, DDP und DVP, doch v. Hindenburg scheiterte im ersten Wahlgang wenn auch denkbar knapp mit 49,6% der abgegebenen Stimmen. Für Hitler hatten 30,4%, für den KPD-Kandidaten Thälmann 13,2% und Duesterberg 6,8% der Wahlberechtigten gestimmt. Im zweiten Wahlgang am 10. April setzte sich v. Hindenburg mit 53% gegen Hitler mit nun 36,9% und Thälmann mit 10,2% durch: „Trotz seines eindeutigen Wahlerfolges empfand es von Hindenburg als Schmach, dass er seine Wiederwahl den Parteien der bürgerlichen Mitte sowie den Sozialdemokraten zu verdanken hatte, während sich insbesondere die Deutschnationalen, denen er sich politisch nahe fühlte, von ihm abgewandt hatten“.499

Den Schuldigen fand der Reichspräsident in seinem Kanzler. Den Sturz Brünings leiteten endgültig die Vorgänge um das reichsweite Verbot von SA und SS am 13. April 1932 ein. Mehrere Länder mit Preu-

499 Grevelhörster (2002, S. 171; s. nachst. S. 171 f.).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

ßen an erster Stelle verlangten massive staatliche Maßnahmen gegen SA und SS, deren Personalstärke mittlerweile auf rund 500.000 Mann angewachsen war, und die im zurückliegenden Wahlkampf die Straßen gegen ihre politischen Gegner mit Terror überzogen hatten. Trotzdem gab v. Hindenburg Innenminister Groener seine Zustimmung zu einem Verbot nur widerstrebend, weil nicht auch der republikanische Wehrverband und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold von SPD, Zentrum und Demokraten verboten worden waren. Die Verärgerung v. Hindenburgs nutzte General Schleicher, um gegen Brüning und Groener zu intrigieren. Denn Schleicher stand schon in konspirativen Verhandlungen mit der NSDAPSpitze, um die Chancen für eine weiter rechtsstehende Regierung auszuloten. Am 7. Mai einigte man sich geheim auf folgende Vorgehensweise: Schleicher sollte als Vorleistung die Trennung des Reichspräsidenten von Brüning, die Aufhebung des Verbots von SA und SS sowie eine Reichstagsneuwahl durchsetzen, dann würden die Nationalsozialisten im Nachzug die nächste Präsidialregierung stützen. Schleicher verstand dies als eine vertragsähnlich feste Abmachung.500 Als Brüning einen Gesetzentwurf vorlegte, nach dem nicht mehr entschuldungsfähige Landgüter vom Staat aufgekauft und an Arbeitslose und Kleinbürger übereignet werden sollten, machte v. Hindenburg auf Druck seiner ostelbischen Großgrundbesitzer dem „Agrarbolschewismus“ seines Kanzlers ein Ende. Brüning wurde am 29. Mai kurz und knapp sein sofortiger Rücktritt abverlangt. Der Reichstag wurde per präsidialer Notverordnung aufgelöst. „So gesehen, war Brünings Sturz die Konsequenz seiner absoluten Bindung an den Reichspräsidenten“.501 Das von ihm hinterlassene politische Feld gewährleistete, dass das autoritäre Präsidialregime fortgesetzt und ausgebaut werden konnte. Für Heinrich August Winkler ist der Sturz Brünings „ein tiefer historischer Einschnitt“; mit ihm endetet am 30 Mai 1932 „die erste, gemäßigte, parlamentarisch tolerierte Phase des Präsidialsystems. Es begann eine zweite, autoritäre, offen antiparlamentarische Phase“.502

500 Kolb/Schumacher (2013, S. 143). 501 Ebd. S. 141; nachst. s. S. 141 f.. 502 Winkler (2000 Bd. 1, S. 510).

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III. Der Sturz Brünings und das Präsidialregime v. Papen.

2. Die Ernennung v. Papens zum Reichskanzler. Bei der Behandlung der Präsidialkabinette v. Papen und v. Schleicher und der Vorgeschichte der Machtergreifung Hitlers muss die Rolle des persönlichen Faktors im Ablauf der Geschehnisse deutlich herausgestellt werden. So besteht an der Schlüsselstellung v. Schleichers in den Macht- und Intrigenkämpfen im engsten Personenkreis um den Reichspräsidenten aus Sicht der Forschung kein Zweifel. Chef des Ministeramts im Reichswehrministerium seit 1929 und seit Juni 1932 Reichswehrminister – Verfechter eines Präsidialregimes lange vor 1930, Regisseur des Sturzes Brünings, spiritus rector der Kanzlerschaft v. Papens, Protagonist der Einhegung Hitlers – konnte er mit dem Pfund der Reichswehr wuchern: „Was Schleicher vorschwebte, war die Etablierung eines von der Reichswehr getragenen, dauerhaft antiparlamentarisch-autoritären Präsidialregimes, in das auch die NS-Bewegung einbezogen werden sollte, freilich in einer eher passiven, im wesentlichen durch Schleicher selbst definierten Rolle“.503

Nach dem Scheitern dieses Planspiels zwar bemüht, Hitler von der Macht fernzuhalten, verhinderte der erlittene Vertrauensverlust wegen seines undurchsichtigen Taktierens in den Krisenmonaten den Rettungsplan der Proklamierung eines Staatsnotstands. V. Hindenburg gab dem vermeintlich risikoloseren Kurs der Einsetzung des Kabinetts Hitler - v. Papen-Hugenberg den Vorzug. Eine Ironie der Geschichte sei es gewesen, „daß es Schleicher zuletzt verwehrt wurde, eine Gefahr abzuwenden, die es ohne sein wesentliches Zutun mit einiger Wahrscheinlichkeit gar nicht gegeben hätte“.504

V. Schleicher hatte seine Abmachung mit Hitler prompt erfüllt (s.o.). Nach dem inszenierten Sturz Brünings wurde am 1. Juni 1932 das sog. „Kabinett der Barone“505 unter dem Reichskanzler v. Papen506 berufen und am

503 Kolb/Schumacher (2013, S. 142; nachst. s. ebd.). 504 Volker Hentschel, zit. n. Kolb/Schumacher (2013, S. 142). 505 Es setzte sich mehrheitlich aus preußischen Konservativen, Vertretern des ostelbischen Adels und politisierenden Militärs zusammen (Grevelhörster 2002, S. 172). 506 Franz von Papen entstammte dem westfälisch katholischen Adel, war vor 1918 Generalsstabsoffizier und Militärattaché. Nach dem Krieg stand er auf dem äußersten rechten Flügel der Zentrumspartei; „politisch war er national-konservativ, scharf antimarxistisch und antiparlamentarisch eingestellt“. Schleicher und Papen kannten sich aus gemeinsamen Zeiten beim Militär (Grevelhörster 2002, S 173).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

14. Juni das SA-Verbot aufgehoben. Die Reichstagswahl wurde auf den 31. Juli terminiert. V. Schleicher übererfüllte seine Zusagen an Hitler sogar: Er überzeugte v. Hindenburg von der Notwendigkeit einer Reichsexekution gegen Preußen. Doch dazu später. 3. Die Reichstagswahl vom 31.7.1932 und die Verhandlungen HitlerSchleicher/Hindenburg. Die Reichstagswahl vom Juli sah im Vorfeld einen nochmals gesteigerten Terror der Straße. Tumulte, Schlägereien, Messerstechereien und Schießereien forderten allein in Preußen zwischen Mitte Juni bis Mitte Juli 99 Tote und 1.125 Verletzte. Am sog. „Altonaer Blutsonntag“ – eine SA-Einheit von 7.000 Mann marschierte provozierend durch einen kommunistischen Stadtteil – entwickelte sich ein stundenlanges Feuergefecht zwischen Nationalsozialisten, Kommunisten und Polizei, das 18 Tote und 61 teils schwer Verletzte forderte, was in der öffentlichen Wirkung trotzdem der NSDAP nutzte: „Denn in der Bevölkerung, besonders im Bürgertum, verstärkten solche Straßenschlachten den Eindruck, der republikanische Staat sei zu schwach und ohnmächtig, um Ruhe und Ordnung zu garantieren; Rettung vor dem drohenden Bürgerkrieg sei nur von einem zu allem entschlossenen ‚Führer‘ zu erwarten“.507

Diese Reichstagswahl brachte einen großen Wahlsieg der NSDAP, die aber die absolute Mehrheit nicht erringen konnte. Bei einer außergewöhnlich hohen Wahlbeteiligung von 84,1% entfielen auf die NSDAP 37,4%, was einen Zugewinn von mehr als 7 Millionen Stimmen bedeutete, die in der Hauptsache zulasten der Parteien der bürgerlichen Mitte gingen: die Wirtschaftspartei fiel von 3,9% auf 0,4%, die liberale Staatspartei von 3,8% auf 1,0% und die DVP von 4,5% auf 1,2%. Die katholischen Parteien Zentrum und BVP, die SPD sowie die KPD konnten sich behaupten. Addiert man die Stimmen der NSDAP (37,4%), der KPD (14,3%) und der DNVP (5,9%) kamen die Anti-Weimar-Wähler auf 57,6%: „Die Juliwahl von 1932 stellte insoweit ein deutliches Bekenntnis der Wähler gegen die bestehende politische Ordnung dar, die nach Meinung vieler haupt-

507 Grevelhörster (2002, S. 174; s. nachst. ebd. S. 174 f.).

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IV. Legalität und Legitimität. (1932)

sächlich innenpolitisches Chaos sowie wirtschaftliches und soziales Elend gebracht hatte“.508

In diese bürgerkriegsschwangere Zeit hinein schrieb Schmitt seine Schrift Legalität und Legitimität über die praktischen Konsequenzen des bankrotten Parlamentarismus Weimars. IV. Legalität und Legitimität. (1932) „Die im legalen Besitz der staatlichen Machtmittel stehende Mehrheitspartei muß annehmen, daß die Gegenpartei, wenn sie ihrerseits in den Besitz der legalen Macht gelangt, die legale Macht dazu benutzen werde, um sich im Besitz der Macht zu verschanzen und die Türe hinter sich zu schließen, also auf legale Weise das Prinzip der Legalität zu beseitigen.“ Carl Schmitt509

1. Zur Werkgeschichte Carl Schmitt hatte Ende Mai, Anfang Juni damit begonnen, seine Überlegungen zum Verhältnis von Legalität und Legitimität zu sammeln, die er als Manuskript kurz nach der Ernennung v. Papens zum Reichskanzler im Umfang von fünf bis sechs Druckbogen seinem Verleger Feuchtwanger anbot. Die Schrift ist ein Gegenstück zu Schmitts Abhandlung Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus von 1923. Hatte er dort die Selbstauflösung des klassischen liberalen Parlamentarismus beschrieben, behandelte er nun in Legalität und Legitimität die Auswirkungen dieser Parlamentarismusentfremdung auf die Realität des Weimarer Gesetzgebungsstaates.510 Die Abhandlung behandle „das Legalitätssystem des heutigen Staates (…). Der Titel steht noch nicht fest. In der Sache handelt es sich um den Übergang von der Legalität zur Legitimität“.511

508 509 510 511

Ebd. S. 175. Siehe Legalität und Legitimität (1932, S. 38; Herv. d. Verf.). Siehe Mehring (2011, S. 52 f.). Carl Schmitt, hier zit. n. Mehring (2015, S 285; nachst. s. ebd.).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Nicht die Legitimität der Legalität reklamiere der Titel, so Mehring, vielmehr signalisiere er die „Legitimität“ des Übergangs in eine andere Ordnung. Diese Spannung sei mit dem Wechsel von Brüning zu v. Papen politisch gegeben gewesen.512 Ernst Forsthoff arbeitete zur gleichen Zeit an einem Aufsatz, der Schmitts verfassungstheoretisches Kernelement bereits vorwegnimmt: Es komme heute „nicht auf die Legalität. sondern nur auf die Legitimität, die politische Einstellung zur Fundamentalverfassung“ an.513 Carl Schmitt unterließ es nicht, noch vor den Beginn des eigentlichen Textes zu vermerken: „Diese Abhandlung lag am 10. Juli 1932 abgeschlossen vor.“ Schmitt war es wichtig, festzuhalten, dass die Schrift vor dem sog. Preußenschlag fertiggestellt war. Auch für seinen Verleger Feuchtwanger war diese Datierung ein wichtiger Faktor.514 2. Die Einleitung zu Legalität und Legitimität. Schmitt charakterisiert die aktuelle innerstaatliche Lage Deutschlands im Juli 1932 staats- und verfassungsrechtlich als „Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates“(LuL 7), gekennzeichnet „durch die innere Entleerung des Legalitätssystems“515. Gemeint sei diese Feststellung, so Schmitt, nur als „eine zusammenfassende, kurze, fachwissenschaftliche Formel“ (ebd.). Konstatiert wird, so die Kernthese der Schrift, eine Wandlung des Gesetzesbegriffes, die durch die Herausbildung eines Verwaltungsstaates bedingt sei, die für Schmitt wiederum eine Folge der Notverordnungspraxis des Reichspräsidenten ist. Der Verwaltungsstaat benötige aber eine andere Art von Legitimität als die Legalität des Gesetzgebungsstaates. Dessen materielles Gesetz mit Bezug auf „Vernunft und Gerechtigkeit“ werde durch ein formelles und inhaltsleeres Gesetz, das nur noch mit dem Volkswillen gerechtfertigt werden könne, ersetzt:

512 Siehe hier IV. 5. Die Ernennung Papens zum Kanzler. 513 Mehring (2009, S. 283/284). 514 Siehe Mehring (2009, S. 288). Feuchtwanger schrieb Schmitt: „Ich meine weiter, dass Sie in einem kurzen Vorwort die Arbeit vom 30. Juli [gemeint ist wohl: Juni] oder vom Tage, an dem Sie das Imprimatur für den letzten Bogen geben, datieren. Denn bei keinem Buch ist das Datum so wichtig wie bei diesem“ (zit. in Mehring 2009, S. 288). 515 Fijalkowski (1958, S. XVII).

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IV. Legalität und Legitimität. (1932)

„Im Auseinandertreten von Legalität und Legitimität sei der Zusammenbruch des Legalitätssystems dokumentiert, das in einem ‚gegenstands- und beziehungslosen Formalismus und Funktionalismus‘ ende“ (s. LuL 14 f.).516

Um diese Problematik aufbereiten zu können, seien, so Schmitt, staatsund verfassungsrechtliche Begriffsbestimmungen notwendig, „welche die gegenwärtige innerpolitische Lage in ihren staatlichen Zusammenhängen im Auge behalten“ (ebd.). Hier besteht offensichtlich die Gefahr, das gesetzliche Normensystem an der politischen Reallage zu vermessen und zu analysieren.517 Bevor wir uns den Begriffsbestimmungen zuwenden, rekapitulieren wir kurz die Grundannahmen Schmitts, die seinen Auffassungen von Rechtsstaat und parlamentarischem Gesetzgebungsstaats nunmehr zugrunde liegen. Der Grundgedanke in der Konzeption des bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaates nach Schmitt ist, dass die Freiheitssphäre des Individuums prinzipiell unbegrenzt und vorstaatlich ist und – für sich betrachtet – keine Grenzen kennt. Der Staat findet seine Existenzberechtigung überhaupt erst, indem er diese schützt (s. VL 163 f.). Für ihn muss folglich gelten, dass seine Gewalt nur eine begrenzte sein kann. Dieses Verhältnis von Individuum und Staat bezeichnet Schmitt als „Verteilungsprinzip: die Freiheitssphäre des Einzelnen wird als etwas vor dem Staat Gegebenes vorausgesetzt, und zwar ist die Freiheit des Einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen in diese Sphäre prinzipiell begrenzt ist“(VL 126).

Die Freiheitsrechte unterliegen keiner Interessenabwägung und sie können nicht relativiert werden (s. VL 163 f.). Jeder Eingriff des Staates in sie ist eine prinzipiell begrenzte Ausnahme (VL 166). Aus dem Verteilungsprinzip gewinnt Schmitt eine wichtige Erkenntnis: Der grundsätzlich freie Mensch unterwirft sich nicht der Herrschaft von Menschen, sondern idealiter einzig der Vernunft. Zwar müsse der Mensch im wirklichen Leben Einschränkungen seiner Freiheit hinnehmen, doch wird er die Richtigkeit dieser Einschränkungen gerade kraft seiner eigenen Vernunft akzeptieren, dienten diese Einschränkungen doch der Bannung einer allgemeinen Willkür. Aus dieser Einsicht heraus schließen die Menschen vorstaatlich einen Vertrag, der dann als der Staat gilt – so die klassi-

516 Neumann (2015, S. 241/242). 517 Siehe dazu Neumann (2015, S. 238).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

sche liberale Vertragstheorie des Staates.518 Damit wird nicht die Herrschaft von Menschen über Menschen begründet, sondern die Herrschaft des Gesetzes, das Gerechtigkeit und unpersönliche Vernunft repräsentiert. Demnach erscheint der Rechts- und Verfassungsstaat als ein politisches Gemeinwesen, das „den höchsten und entscheidenden Ausdruck des Gemeinwillens in N o r m i e r u n g e n sieht, die Recht sein wollen, daher bestimmte Qualitäten beanspruchen müssen, und denen deshalb alle anderen öffentlichen Funktionen, Angelegenheiten und Sachgebiete untergeordnet werden können“ (LuL 7)519.

Das Recht hat dabei in der Form des allgemeinen, vorherbestimmten und für alle gleichen Gesetzes in einem Staatswesen zu erscheinen, „in welchem Gesetz und Gesetzesanwendung, Gesetzgeber und Gesetzesanwendungsbehörde voneinander getrennt sind. Es ‚herrschen Gesetze‘, nicht Menschen, Autoritäten oder Obrigkeiten. Noch genauer: die Gesetze herrschen nicht, sie g e l t e n nur als Normen. Herrschaft und bloße Macht gibt es überhaupt nicht mehr“ (LuL 8)520.

Die „gesetzesunterworfene Gesetzesanwendungsbehörde“, die Herrschaft und Macht ausübt, „tut nichts als eine geltende Norm zuständigerweise geltend machen“ und wird ebenso wenig zum Herrscher wie die Instanz, welche die Gesetze gibt (ebd.): „Spezifische Erscheinungsform des Rechts ist hier das Gesetz, spezifische Rechtfertigung des staatlichen Zwangs ist die Legalität“ (ebd.).

Die Idee und die Forderung nach einer Gesetzesherrschaft fügt sich in eine alte europäische Tradition, die sich aus der Neuzeit über die Scholastik des Mittelalters bis zur griechischen Philosophie zurückverfolgen lässt.521 Allerdings leide der Gesetzgebungsstaat in den Augen Schmitts wegen seines Prinzips der generellen, vorherbestimmten Normierung und der ihm wesentlichen Unterscheidungen von Gesetz und Gesetzesanwendung, Legislative und Exekutive, an einer gewissen Abstraktheit (LuL 15). Das Modell des Rechts- und Verfassungsstaates nach der Idee der Gesetzesherrschaft geriert einen Staat, dessen konkrete Tätigkeit sich exakt und restlos anhand seiner Zuständigkeiten erfassen lässt:522

518 519 520 521 522

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Vgl. Fijalkowski (1958, S. 8). Herv. im Original. Herv. im Original. Fijalkowski (1958, S. 9). Ebd. S. 10.

IV. Legalität und Legitimität. (1932)

„Der letzte, eigentliche Sinn des fundamentalen ‚Prinzips der Gesetzmäßigkeit‘ allen staatlichen Lebens liegt darin, daß schließlich überhaupt nicht mehr geherrscht oder befohlen wird, weil nur unpersönlich geltende Normen geltend gemacht werden. In der allgemeinen L e g a l i t ä t aller staatlichen Machtausübung liegt die Rechtfertigung eines solchen Staatswesens“ (LuL 8) 523.

Auf eben dieses geschlossene Legalitätsprinzip stützt sich der Anspruch auf Gehorsam, der es rechtfertigt, jedes Recht auf Widerstand zu negieren (ebd.). Diese Legalität hat den Sinn, Legitimität – gleich ob dynastisch oder plebiszitär – überflüssig zu machen und zu verneinen. Die Legitimität ist hier ein nur unselbstständiges Derivat der Legalität: „Wenn in diesem System Worte wie ‚legitim‘ oder ‚Autorität‘ überhaupt noch gebraucht werden, so nur als Ausdruck der Legalität und nur aus ihr abgeleitet“ (LuL 14).

Die vorstaatliche Freiheit und die Gesetzesherrschaft sind mithin die Grundgedanken des Rechts- und Verfassungsstaates, es fehlt nur noch die Umsetzung dieses Modells. Diese Umsetzung bezeichnet Schmitt als „Organisationsprinzip“, was meint, dass die Staatsgewalt ausbalanciert und in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion aufgeteilt sein muss. Insbesondere die Trennung von Gesetzgebung und Gesetzesanwendung „ist das unmittelbar notwendige konstruktive Grundprinzip des Gesetzgebungsstaates, in welchem eben nicht Menschen und Personen herrschen, sondern Normen gelten sollen“ (LuL 8).524

In ihrem Kampf gegen die nach der Restauration nach monarchischem Prinzip rekonstruierten Staaten musste die liberaldemokratische Bewegung nun selbst andere politische Institutionen schaffen und konzentrierte sich dabei auf die Rechte und Befugnisse der Volksvertretung. Das Parlament wird im Liberalismus zum Ort der Durchsetzung rechtsstaatlicher, gewaltenteilender Elemente: das Parlament wird zur Legislative, die Regierung wird auf die Exekutive beschränkt. Hinzukommt, dass die konkrete Herrschaftsausübung durch Verwaltung und Polizei in rechtsstaatlichem Sinn unter den Vorbehalt und den Vorrang des Gesetzes gestellt werden, wodurch ihr Eingreifen vom Willen der Legislative abhängig gemacht wird. Ein weiteres rechtsstaatliches Element im Modell Schmitts ist die Unabhängigkeit der Justiz, die nur an das rationale Gesetz gebunden ist:

523 Herv. im Original. 524 Siehe hier das Kapitel Verfassungslehre.

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

„Das vollendete Ideal des bürgerlichen Rechtsstaats gipfelt in einer allgemeinen Justizförmigkeit des gesamten staatlichen Lebens“ (VL 133).525

Ausbildung dieses Ideals ist das Entstehen einer eigenen Verwaltungsgerichtsbarkeit. „Gesetzmäßigkeit, Kompetenzmäßigkeit, Kontrollierbarkeit und Justizförmigkeit ergeben auf diese Weise das geschlossene System des bürgerlichen Rechtsstaates. Die Verfassung erscheint als das Grundgesetz dieses Systems von Gesetzen“ (VL 131).

Wenden wir uns nach dieser kurzen Rekapitulation des Systems eines Rechts- und Verfassungsstaates den vier idealtypischen Staatsformen zu, die Schmitt vor allem nach dem Schwergewicht der Staatstätigkeit unterscheidet und charakterisiert.526 2.1. Der Gesetzgebungsstaat. Die organisatorische Verwirklichung des Rechts- und Verfassungsstaates findet Schmitt idealtypisch im Gesetzgebungsstaat. Den Gesetzgebungsstaat zeichne aus, den höchsten und entscheidenden Ausdruck des Gemeinwillens in Normierungen zu sehen, die, um Recht sein zu wollen, bestimmte Qualitäten ausweisen müssen (s. LuL 7). Sie müssen unpersönlich, daher generell und für die Dauer gedacht, mess- und bestimmbaren Inhalts in einem Staatswesen sein, in dem Gesetz und Gesetzesanwendung, Gesetzgeber und Gesetzesanwendungsbehörden voneinander getrennt sind (s. LuL 8; 9). In ihm soll alles staatliche Leben von einem geschlossenen und tatbestandsmäßige Subsumierungen ermöglichenden Legalitätssystem erfaßt werden (LuL 9). Der Gesetzgebungsstaat „ist das typische Vehikel einer mit Parteiprogrammen ausgerüsteten, reformistischrevisionistisch-evolutionistischen Ära“, die Fortschritt mittels parlamentarisch-legaler Gesetzgebung realisieren will (LuL 12).

525 Siehe „§ 12 Die Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaats“ (VL 125-138). Vgl. Fijalkowski (1958, S. 9 ff.). 526 Siehe dazu auch (HdV 74-77).

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IV. Legalität und Legitimität. (1932)

2.2. Der Jurisdiktionsstaat. Im Jurisdiktionsstaat hat anstelle des Gesetzgebers der Richter das letzte und entscheidende Wort. Typischer Ausdruck dieser Staatsform ist die konkrete Fall-Entscheidung (s. LuL 8 f.). Sein Ethos findet er in Richtern, die unmittelbar im Namen von Recht und Gerechtigkeit urteilen und ohne dass ihnen von Dritten „nicht-richterlichen, politischen Gewalten Normierungen dieser Gerechtigkeit vermittelt und auferlegt würden“ (LuL 12).

Der in Prozessentscheidungen gipfelnde Jurisdiktionsstaat sei ob der konservativen Tendenz seiner Entscheidungen „das richtige Mittel zur Konservierung des sozialen status quo und wohlerworbener Rechte“ (LuL 12).527 2.3. Der Regierungsstaat. Der Regierungsstaat findet seinen charakteristischen Ausdruck im hoheitlichen persönlichen Willen und autoritären Befehl eines regierenden Staatsoberhauptes (s. LuL 9). Mit hoher Wahrscheinlichkeit stand der Reichspräsident der Weimarer Republik Pate für diesen Regierungstyp. Der Regierungs- wie der Verwaltungsstaat sehen eine besondere Qualität im konkreten, ohne Diskussion zu vollziehenden oder zu befolgenden Befehl – ganz im Gegensatz zu Advokatenplädoyers und zu unendlichen Diskussionen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren. Beide erkennen bereits im Dezisionismus einer sofort vollziehbaren Anordnung einen positiven Rechtswert. Es gelte: „Das Beste in der Welt ist ein Befehl“ (LuL 13).

527 Die zu ihm gehörende korrupte Entartungsform – im Sinne Aristoteles – sei bestens durch den Spruch repräsentiert: „Alles ist Pfründe, und es lebt nichts mehr“ (VL 12).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

2.4. Der Verwaltungsstaat. Charakteristikum des Verwaltungsstaates ist die Maßnahme. In ihm regieren weder Menschen noch gelten Normen als etwas Höheres, – die Dinge verwalten sich selbst. Herrschaftsmittel ist die „nur nach Lage der Sache bestimmte, im Hinblick auf eine konkrete Situation getroffene, ganz von Gesichtspunkten sachlich-praktischer Zweckmäßigkeit geleitete Maßnahme“ (ebd.).

Der Verwaltungs- und Regierungsstaat eignen sich als ein Instrument radikaler – revolutionärer wie reaktionärer – Veränderungen und planmäßiger auf längeren Zielhorizont zielender Veränderungen (LuL 12). Das Kriterium der Unterscheidung für die vier angeführten Staatstypen und ihre Formen und Verfahren ist der „entscheidende politische Wille“ (LuL 8). Doch Schmitt weiß selbst, dass die vier definitorisch sauberen Schnitte der ausgeübten Staatstätigkeit nicht ohne Weiteres standhalten können, da fortwährend „Verbindungen und Mischungen eintreten, weil zu jedem politischen Gemeinwesen sowohl Gesetzgebung, wie Jurisdiktion, Regierung und Verwaltung gehören“ (LuL 9/10; s. auch LuL 19).

Die Leistungsfähigkeit seiner Kriterien hält Schmitt für analytische Zwecke gleichwohl für gegeben, weil es ohne Weiteres erkennbar sei528, wo der „Schwerpunkt des entscheidenden Willens liegt“ und „welche Art höchsten Willens im entscheidenden Augenblick maßgebend oder ausschlaggebend hervortritt und für das Gemeinwissen artbestimmend ist“ (LuL 10).

Zudem seien die verschiedenen Staatsarten verschiedenen innerpolitischen Tendenzen adäquat (LuL 12). Schmitt steht jedoch den von ihm erarbeiteten vier Legalitätssystemen aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnend gegenüber, weil sie die staatliche Einheit gefährden.529 Und so verbleiben die einzelnen Elemente im Souverän vereinigt: „der Souverän ist höchster Gesetzgeber, höchster Richter und höchster Befehlshaber zugleich, letzte Legalitätsquelle und letzte Legitimitätsgrundlage“ (VL 10).

528 Zu Zweifeln an dieser Behauptung s. Neumann (2015, S. 238 f.). 529 Voigt (2015 b, S. 15).

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IV. Legalität und Legitimität. (1932)

Wäre dieser Souverän das Volk, erinnerte diese Aussage an Rousseaus volonté générale, bei dem der Wille des Parlaments unmittelbar der Wille des souveränen Volkes sei. Da Schmitt diese Kernidee der Rousseauschen Staatstheorie aber ablehne, so Voigt, liege der Gedanke nahe, dass Schmitt den volksgewählten, also plebiszitär legitimierten Reichspräsidenten – seinen „Hüter der Verfassung“ – als pouvoir neutre über die anderen Gewalten stelle, der dann den Willen des Volkes in legitimitätsbegründender Weise vollstrecken könne.530 3. Die Legalität. Mit dem Begriff der Legalität belegt man allgemein die Gesetzmäßigkeit eines Handelns oder eines Zustandes. Seit der Aufklärung umfasst der Begriff nur die äußere, formale Übereinstimmung des Handelns eines Einzelnen oder des Staates mit einer konkreten Rechtsordnung. Motive und innere Einstellung des Handelnden zum Recht bleiben dabei unberücksichtigt.531 Legalität mit Gesetzmäßigkeit zu übersetzen, so wie Schmitt das tut, dürfte unstrittig sein. Bleibt die Frage: Was bedeutet „Gesetzmäßigkeit“ bei Schmitt? Der Begriff der Gesetzmäßigkeit meine, so Neumann, das materielle Gesetz, das auf Vernunft und Gerechtigkeit bezogen ist. Neumann setzt diese Definition in Zusammenhang mit einer (angeblichen) Aussage Kirchheimers, die Legitimität des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats bestehe nur noch in ihrer Legalität, und folgert deshalb, dass die Legitimität für Schmitt eigentlich in den materialen Qualitäten von „Vernunft und Gerechtigkeit“ gründen müsste und nicht in demokratischen Mehrheitsbeschlüssen.532 Schmitt hat unterschiedliche Bestimmungen für den Begriff der Legalität getroffen. Einmal fasst er sie als einen negativ besetzten Begriff, nämlich als inhaltsleere und funktionalistische Legalität des formellen Gesetzes, andererseits als einen positiven Begriff, als die inhaltliche und substanzhafte Legalität des materiellen Gesetzes mit seinem Bezug auf „Vernunft und Gerechtigkeit“. Da es die so gefasste Legalität nach dem Zusammenbruch des Gesetzgebungsstaates nicht mehr geben könne – wir 530 Vgl. ebd. S. 15 f. 531 Schwegmann, in Nohlen/Grotz Hg. (2015, S. 353 f.). 532 Siehe Neumann (2015, S. 240 f.).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

greifen mit Neumann vor – „lässt sich cum grano salis sagen, dass Legalität mit Inhaltsleere assoziiert wird und negativ besetzt ist“.533 4. Die Legitimität. Legitimität ist ein mehrdeutig verwendeter Begriff der Politik, der Politikwissenschaft und anderer wissenschaftlicher Disziplinen. Beziehen kann er sich auf die Legitimationswürdigkeit einer politischen Ordnung, auf die Grundlage eines Legitimitätsanspruchs, den die Herrschenden erheben, weiterhin auf den Legitimitätsglauben der Beherrschten oder auf beides zugleich und auf die Wechselwirkung zwischen beiden.534 Rüdiger Voigt definiert: „Legitimität ist der Glaube an bzw. das Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit politischer Herrschaft. Mit ihr verbindet sich die Anerkennungswürdigkeit von Institutionen, Normen und Personen."535

Der parlamentarische Gesetzgebungsstaat erfährt seine deutlichste Bestimmung durch die Dominanz des Parlaments als dem Träger der legislativen Funktion im Staat. Der Wille des Parlaments ist im entscheidenden Moment als der höchste Wille für das Gemeinwesen nicht nur artbestimmend, sondern für das Gemeinwesen hängt alles davon ab, dass die Legislativversammlung das in sie gesetzte Vertrauen des Volkes rechtfertigen kann:536 „Alle Würde und Hoheit des Gesetzes hängt ausschließlich und unmittelbar, und zwar mit unmittelbar positiv-rechtlicher Bedeutung und Wirkung an diesem Vertrauen auf die Gerechtigkeit und Vernunft des Gesetzgebers selbst und aller am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Instanzen. Alle rechtlichen Garantien und Sicherungen, aller Schutz gegen Mißbrauch, sind in die Person des allmächtigen Gesetzgebers oder in die Eigenart des Gesetzgebungsverfahrens gelegt“ (LuL 24).

Ist dieses Vertrauen verloren, fehlen dem Gesetzgeber und seinen Gesetzen „Würde und Hoheit“ und die Legitimität. So sieht denn Schmitt auch die Legitimität als ein „spezifisches Rechtfertigungssystem“ dem das Staats- und Verwaltungshandeln unterliegt (s. LuL 11). Zudem scheint er

533 534 535 536

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Ebd. S. 240. Nohlen, in Nohlen/Grotz Hg. (2015, S. 354 ff.). Voigt (2015 b, S. 10). Vgl. Fijalkowski (1958, S. 13 f.).

IV. Legalität und Legitimität. (1932)

eine Abkehr von materialen Legitimitätsvorstellungen vollzogen zu haben. Denn gegen Ende seiner Legalitäts-Schrift behauptet er: „Und doch ist plebiszitäre Legitimität die einzige Art staatlicher Rechtfertigung, die heute allgemein als gültig anerkannt sein dürfte“ (LuL 93).537

Für Neumann hält Schmitt diese argumentative Linie allerdings nicht durch und versteht Legitimität „sehr wohl als werthaltige, substanzhafte Größe“.538 5. Das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates. Wesentlich für den Gesetzgebungsstaat ist das Prinzip der strikten Legalität, das mit einer Reduktion der Legitimität auf eben diese Legalität einhergeht.539 Eine staatliche Handlung primär der vollziehenden Gewalt, sekundär aber auch der Justiz und der Verwaltung, ist grundsätzlich nur dann legitim, wenn sie unter eine allgemeine Norm, das Gesetz, subsumiert werden kann. Da Gesetze von Menschen ausgeführt werden müssten, die sog. „Herrschaft des Gesetzes“ mithin immer eine Herrschaft von Menschen sei, welche die Gesetze zum Wohl der Allgemeinheit anwenden sollen, bestehe doch immer die Gefahr des Missbrauchs der Gesetze für persönliche Zwecke. Diesem Misstrauen gegenüber der staatlichen Macht trägt das strikte Legalitätssystem Rechnung.540

537 Und im Anschluss argumentiert er mit der Begrifflichkeit weiter: „(…) die plebiszitäre Legitimität braucht eine Regierung (…)“; „(…) die plebiszitäre Legitimität eines gewählten Präsidenten“ (…); (…) „die plebiszitäre Legitimität als Sanktion, weil es heute nun einmal keine andere Sanktion gibt“ (LuL 94). 538 Neumann (2015, S. 241). 539 Für Kirchheimer kennt die parlamentarische Demokratie „keine Form von Legitimität außer der ihres Ursprungs“. Ihre Legitimität besteht allein in ihrer Legalität, wobei der Begriff der Legalität sich primär auf gesetzmäßige Handlungen der Exekutive bezieht (Kirchheimer 1967; S. 13). 540 Campagna (2015, S. 199). Campagna geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie die Frage „Legalität oder Legitimität“ von liberalen Autoren beantwortet wurde. Auch zwischen ihnen – Locke, Montesquieu, die amerikanischen Gründerväter, Constant – gibt es kontroverse Positionen.

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

5.1. Gesetzgebungsstaat und Gesetzesbegriff. Der Staat der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts war ein parlamentarischer Gesetzgebungsstaat, in dem das Gesetz im formalen Sinne nur unter Mitwirkung der Volksvertretung beschlossen werden konnte (LuL 20; nachst. s. 20 f.). Da formale verfassungsrechtliche Begriffe wesentlich politische Begriffe sind, war die Mitwirkungserfordernis eines Parlaments ein entscheidender Sieg der Volksvertretung, da Recht nunmehr wesentlich positives Gesetzesrecht war. Zwar verstand man unter Gesetz nach wie vor jede Rechtsnorm, womit auch Gewohnheitsrecht als positives – allerdings nur einfaches – Recht galt und deshalb vom Gesetzgeber problemlos beseitigt oder verhindert werden konnte.541 Gleichwohl liegt in der strittigen Anerkennung von Gewohnheitsrecht immer eine Einschränkung der Macht des parlamentarischen Gesetzgebers (s. LuL 21). Das Feld von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis werde von einfachen Gleichungen bestimmt, so Schmitt: Recht = Gesetz, Gesetz = die unter Mitwirkung der Volksvertretung zustande gekommene staatliche Regelung. Und eben dieses Gesetz sei gemeint, wenn von der „Herrschaft des Gesetzes“ und dem „Prinzip des Gesetzmäßigen allen staatlichen Handelns“ die Rede ist. Auf dieser Kongruenz von Recht und Gesetz beruhe letztlich alles: „Der Staat ist Gesetz, das Gesetz ist der Staat. Nur dem Gesetz wird Gehorsam geschuldet; nur ihm gegenüber ist das Widerstandsrecht vernichtet. Es gibt nur Legalität, nicht Autorität oder Befehl von oben“ (LuL 21/22).

Im Gesetzgebungsstaat gelte: „Letzter Hüter allen Rechts, letzter Garant der bestehenden Ordnung, letzte Quelle aller Legalität, letzte Sicherheit und letzter Schutz gegen Unrecht ist der Gesetzgeber und das von ihm gehandhabte Verfahren der Gesetzgebung“ (LuL 22).

Im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat ist das Parlament als Träger der legislativen Funktion im Staate dominant. Gesetzgeber im Gesetzgebungsstaat ist immer nur der eine, einfache Gesetzgeber. Eine Konkurrenz von Gesetzgebern und einander relativierende Gesetzesbegriffe zerstörten den Gesetzgebungsstaat selbst (vgl. LuL 22 f.; nachst. s. 23). Entscheidend sei, dass der Gesetzgeber das Monopol der Legalität in der Hand behält. Nach den Konsequenzen eines Vertrau541 Details s. (LuL 20 f.).

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IV. Legalität und Legitimität. (1932)

ensverlustes in den Gesetzgeber, sei vor dem Weltkrieg kaum gefragt und schon gar nicht geantwortet worden. Das damalige Gesetzgebungsverfahren mit seinen Hemmungen und Gegengewichten542 habe ausreichend starke Garantien der Mäßigung und des sicheren Schutzes für Freiheit und Eigentum gegen eine etwaige Willkür und gegen eine Willkür der Gesetzesform geboten. In einem solchen Staatswesen hält Schmitt einen rein formalen, von jedem Inhalt befreiten Gesetzesbegriff für „denkbar und erträglich“ (LuL 23) und die rechtsstaatlichen Grundsätze und Einrichtungen noch für „sinnvoll und erträglich“ (ebd.). Nur im unbeirrten Vertrauen auf den Gesetzgeber und auf das Gesetzgebungsverfahren hätten Vollmachten erteilt werden können, wie: „Das Recht des Gesetzgebers ist unbeschränkt; alle anderen Rechte der Staatsgewalt sind beschränkt“, oder „Für den Gesetzgeber ist das Eigentum nicht unverletzlich“ (LuL 23/24).

Dieses Vertrauen, so Schmitt, bleibe die Voraussetzung einer jeden Verfassung, die einen Rechtsstaat in Form eines Gesetzgebungsstaates organisiert. Gehe dieses Vertrauen verloren, wäre der Gesetzgebungsstaat „ein etwas komplizierter Absolutismus, der unbegrenzten Gehorsamsanspruch aber eine offene Vergewaltigung und der ehrliche Verzicht auf das Widerstandrecht eine unverantwortliche Dummheit“ (LuL 24).

Denn würde trotz eines inhaltslosen Gesetzesbegriffs alle Hoheit und Würde des Staates den beim Gesetz konzentrierten Legalitätsbegriff beibehalten, „kann jedes Kommando an irgendeinen Offizier oder Soldaten und jede Einzelanweisung an einen Richter, kraft der ‚Herrschaft des Gesetzes‘ legal und rechtmäßig durch Parlamentsbeschluss oder die sonstigen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Instanzen vorgenommen werden“ (ebd.).

Das Gesetz sei derart auf eine bloße „Etikette“ reduziert (ebd.): „Eine voraussetzungslose Gleichsetzung des Rechts mit dem Ergebnis irgendeines formalen Verfahrens wäre nur voraussetzungslose, also blinde Unterwerfung unter die reine, das heißt von jeder inhaltlichen Beziehung zu Recht und Gerechtigkeit losgelöste Dezision der mit der Gesetzgebung betrauten Stellen, voraussetzungsloser Verzicht auf jeden Widerstand (LuL 24).

542 Schmitt nennt das Zweikammersystem der Legislative, eine unabhängige königliche Regierung, die sich auf Heer und Beamtentum stützte, königliche Sanktionen des Gesetzesbeschlusses sowie bundestaatliche Kontrollen und Balancen (LuL 23).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Das deutsche Staatsrecht der Vorkriegszeit kennt neben dem formellen einen materiellen Gesetzesbegriff (s. LuL 25 f.). Gesetz im materiellen Sinn ist eine Rechtsnorm oder ein Rechtssatz, eine Bestimmung dessen, was für jedermann rechtens sein soll. Es wurde daran festgehalten, dass das Gesetz in formellem Sinne einen Rechtssatz im materiellen Sinne enthält und deshalb von einem beliebigen Befehl klar unterschieden werden kann. Auch das Erfordernis einer Sanktion, also eines Befehls, der dem Recht hinzutritt, zeige, so Schmitt, dass die Unterscheidung von Norm und Befehl, von Gesetz und Maßnahme noch lebendig war.543 In einer staatsrechtlichen Definition des Gesetzes wurde dieser Zusammenhang freilich nicht niedergelegt. Vielmehr trat eine zweite, anders geartete Vorstellung vom Gesetz auf: das Gesetz als „Eingriff in Freiheit und Eigentum des Staatsbürgers“(LuL 25). Diese Definition hatte allerdings, fährt Schmitt fort, nur einen polemisch-politischen Sinn und richtete sich im 19. Jahrhundert gegen die königliche Regierung und deren Heer und Beamtentum mit der Folge (LuL 26; nachst. s. ebd.), dass der materielle Gesetzesbegriff der ersten Begriffsbestimmung – Gesetz = Rechtsnorm – von seinem sachlichen Zusammenhang mit dem Recht abgeschnitten und der Schutz- und Sicherungsgedanke, der in dem zweiten Gesetzesbegriff (Eingriff in Freiheit und Eigentum) lag, gegenüber dem Gesetzgeber preisgegeben, und zwar zugunsten eines nur formalen – d.h. von jeder Beziehung zu Recht und Gerechtigkeit losgelöst – rein politischen Gesetzgebungsbegriffes preisgegeben wurde: „Der Gesetzgeber macht im Gesetzgebungsverfahren, was er will; es ist immer ‚Gesetz‘ und schafft immer ‚Recht‘. Damit war der Weg offen zu einer absolut ‚neutralen‘, wert- und qualitätsfreien, inhaltlos formalistisch-funktionalistischen Legalitätsvorstellung“ (LuL 27; nachst. s. ebd.).

Diese „theoretische[n] Unklarheiten“ (ebd.) blieben folgenlos, solange ein innerstaatlicher Normalzustand und das Vertrauen in die Institutionen der Justiz herrschten. Mit dem Verschwinden des Dualismus von Staat und Gesellschaft sowie des Dualismus der konstitutionellen Monarchie aber wurden – in demokratischer Konsequenz – Staatswille und Volkswille als identisch betrachtet. Jede Äußerung des Volkswillens wurde jetzt als „Gesetz“ bezeichnet:

543 Schmitt zitiert Laband: „Jedes Gesetz besteht aus zwei verschiedenen Teilen, von denen der eine die Regeln selbst, der andere den Gesetzesbefehl, die Anordnung der Befolgung enthält“ (LuL 25).

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IV. Legalität und Legitimität. (1932)

„Gesetz ist in einer Demokratie der jeweilige Wille des jeweils vorhandenen Volkes, das heißt praktisch der Wille der jeweiligen Mehrheit der abstimmenden Staatsbürgerschaft; lex est, quod populus jubet“ (LuL 27544).

Die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesanwendung, die den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat trägt, sei so wieder in einem „formellen“ Begriff des Gesetzes verlustig gegangen und habe das parlamentarische Legalitätsregime bedroht. Das ist in der „folgerichtigen Demokratie“ für Schmitt erträglich, solange „das in sich homogene Volk alle Eigenschaften [hat], die eine Garantie der Gerechtigkeit und Vernünftigkeit des von ihm geäußerten Willens enthalten. Keine Demokratie besteht ohne die Voraussetzung, daß das Volk gut ist, und sein Wille infolgedessen genügt“ (LuL 27/28).

Im parlamentarischen System sei der Wille des Parlaments der Wille des Volkes, so dass ein parlamentarischer Mehrheitsbeschluss Recht und Gesetz sein könne, wenn er eben jene Qualitäten des Volkswillens in sich trägt (LuL 28; nachst. ebd.). Es sei die charakteristische Formel parlamentarischer Demokratie, dass der Wille des Parlaments unmittelbar der Wille des souveränen Volkes ist. Entfielen diese Voraussetzungen des parlamentarisch-demokratischen Gesetzgebungsstaates, liege es nahe, das Legalitätssystem durch „einen absolut ‚wertneutralen‘ funktionalistisch-formalen Gesetzesbegriff“ zu retten und vor der konkreten Verfassungslage die Augen zu schließen: „Dann ist ‚Gesetz‘ nur noch der jeweilige Beschluß der jeweiligen Parlamentsmehrheit“ (LuL 28), – ein für Schmitt denkbares und erträgliches Verfahren dann, wenn die genannten Vertrauensvoraussetzungen gegeben sind. Erforderlich sei dann aber, dass die Verfassung des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates sich auf organisatorische und verfassungsrechtliche Regelungen beschränkt (vgl. LuL 28/29). Denn der Gesetzgebungsstaat kann nur einen Gesetzgeber, nur einen Gesetzesbegriff und nur ein Gesetzgebungsverfahren kennen (LuL 29). 5.2. Legalität und die gleiche Chance politischer Machtgewinnung. Die Reichsgesetze werden vom Reichstag nach dem Mehrheitsprinzip beschlossen. Um aber das Prinzip der gleichen Chance für alle konkurrierenden politischen Kräfte auf eine Mehrheit offenhalten zu können, muss im

544 Herv. im Original.

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Gesetzgebungsstaat eine substantielle Homogenität der Bevölkerung gegeben sein. Denn Art. 68 WRV545 bestimmt den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat rein funktionalistisch ohne eine Beziehung zu irgendeinem Inhalt. Das Recht, das Gesetz und die Legalität werden – derart neutralisiert – für jeden Inhalt zugänglich und gegenüber jedem Inhalt gleichgültig. Um einen Gesetzgebungsstaat überhaupt tragen zu können, fährt Schmitt fort, bedürfe er aber bestimmter Qualitäten, vor allem dürfe er nicht gegen sich selbst und seine eigenen Voraussetzungen „neutral“ sein. Werde das Parlament zu einem Organ bloßer Mehrheitsbeschaffung, „so enden alle Garantien der Gerechtigkeit und Vernünftigkeit, aber auch der Gesetzesbegriff und die Legalität selbst in einer konsequent funktionalistischen Substanz- und Inhaltslosigkeit bei arithmetischen Mehrheitsvorstellungen“ (LuL 30).

Wie bereits im ersten Kapitel betont Schmitt weiterhin die Sinnhaftig- und Erträglichkeit eines solchen Funktionalismus der Mehrheitsbeschaffung, „wenn eine substanzielle Gleichartigkeit des ganzen Volkes vorausgesetzt werden kann“, weil in diesem Fall „keine Ü b e r s t i m m u n g der Minderheit“ vorliegt, „sondern die Abstimmung soll nur eine latent vorhandene und vorausgesetzte Ü b e r e i n s t i m m u n g und Einmütigkeit zutage treten lassen“ (LuL 31;546 nachst. s. ebd.). Denn es wird vorausgesetzt, dass in der Demokratie kraft der Zugehörigkeit zum unteilbar gleichartigen, ganzen, einheitlichen Volke „alle in gleicher Weise im Wesentlichen das Gleiche wollen“ (ebd.). Entfällt die Voraussetzung der unteilbaren nationalen Gleichartigkeit, so ist die funktionalistisch-arithmetische Mehrheitsfeststellung „nur die quantitativ größere oder geringere Vergewaltigung der überstimmten und damit unterdrückten Minderheit. Die demokratische Identität von Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden hört dann auf; die Mehrheit befiehlt, und die Minderheit hat zu gehorchen“ (ebd.).

Allein, ein „materielles Gerechtigkeitsprinzip“ müsse immer vorausgesetzt werden, solle nicht das Legalitätssystem – die gleiche Chance, die Mehrheit zu erringen und damit die politische Macht – sofort zusammenbrechen (LuL 31/32). Denn Legalität ist gleichbedeutend mit dem Mehrheits-

545 Art. 68 WRV: „Die Gesetzesvorlagen werden von der Reichsregierung oder aus der Mitte des Reichtags eingebracht. Die Reichsgesetze werden vom Reichstag beschlossen:“. 546 Herv. im Original.

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IV. Legalität und Legitimität. (1932)

willen. Gäbe es das Offenhalten der gleichen Chance nicht, wäre das Legalitätssystem mit dem ersten Mehrheitsgewinn zu Ende, „weil gleich die erste Mehrheit sich legal als dauernde Macht einrichten würde. Die Offenhaltung der gleichen Chance läßt sich aus dem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat nicht wegdenken. Sie bleibt das Gerechtigkeitsprinzip und die existenznotwendige Sicherung“ (LuL 32; nachst. vgl. ebd.).

Da es im Modell des Rechtsstaats ja kein Widerstandsrecht mehr gebe, sofern die Staatsgewalt legal sei, könnte bei einer voraussetzungslosen, bloßen Mehrheitsmethode „die Mehrheit über Legalität und Illegalität nach Willkür verfügen“ (LuL 33): „Wer 51 v.H. beherrscht, würde die restlichen 49 v.H. auf legale Weise illegal machen können. Er könnte auf legale Weise die Tür zur Legalität, durch die er eingetreten ist, hinter sich schließen und den parteipolitischen Gegner, der dann vielleicht mit den Stiefeln gegen die verschlossene Tür tritt, als einen gemeinen Verbrecher behandeln“ (ebd.).

Es kann also – in der Konsequenz Schmitts – die Mehrheit von der Minderheit solange den Verzicht auf das Widerstandsrecht verlangen, solange sie ihr die Chance der Mehrheitsgewinnung offenhält. Nur unter dieser Voraussetzung kann das Monopol legaler Gewaltanwendung der Mehrheit zugestanden werden.547 Nur eine staatliche Machtausübung ohne das Quorum von 51 Prozent wäre noch illegal und tyrannisch. Wer die Mehrheit hat, kann nicht mehr Unrecht tun, „sondern alles was er tut, in Recht und Legalität verwandeln“, der inhaltslos funktionalistische Legalitätsbegriff führt sich so selbst ad absurdum (LuL 33), und jeder Widerstand wäre nunmehr eine Illegalität. Erschwerend kommt für Schmitt ein aus dem Mehrheitsquorum folgendes Missverhältnis hinzu, das Neumann „Machtprämienlehre“ nennt.548 Erziele eine Partei 51 Prozent, mache sie künftig auch die Gesetze für die Justiz und diktiere sie somit legal, zudem sie ebenfalls legal die Machtmittel der Gesetzesanwendung handhabt. Die Erfolgsaussichten des Rechtswegs für die Minderpartei verpufften somit weitgehend, mache doch die Mehrheit ihre Gesetze auch selbst geltend (vgl. LuL 34 f.). Sie halte dann gleichsam das Monopol des Justizapparats: „Die Mehrheit ist jetzt plötzlich nicht mehr Partei; sie ist der Staat selbst“ (LuL 34). Der bloße Besitz der staatlichen Macht bewirkt

547 Vgl. Fijalkowski (1958, S. 29). 548 Neumann (2015, S. 244).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

„einen zur bloß normativistisch-legalen Macht hinzutretenden zusätzlichen p o i l i t i s c h e n M e h r w e r t , eine ü b e r-l e g a l e P r ä m i e a u f d e n l e g a l e n B e s i t z d e r l e g a l e n M a c h t und auf Gewinnung der Mehrheit“ (LuL 35549).

Diese Machtprämie konkretisiert sich bei Schmitt dreifach. Die Beherrschung des Gesetzgebungs- und Justizapparats sichert der Mehrheit die Bestimmung des Ermessensspielraums bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, wie „Gefahr“, „Notstand“ oder „öffentliche Sicherheit und Ordnung“.550 Dem Inhaber legaler Macht kommt, zweitens, in Zweifelsfragen die Vermutung der Legalität zugute und seine Anordnungen sind, drittens, – auch bei zweifelhafter Legalität und der möglichen Beschreitung des Rechtswegs – sofort vollziehbar (s. LuL 35 f.). Die Beschreitung des Klagewegs bietet die juristische Chance einer notwendigen Korrektur und einen nicht zu verachtenden Schutz, politisch entscheidend aber kann sie nicht sein und die Offenhaltung der gleichen Chance für sich allein nicht tragen (LuL 36; nachst. ebd.). Damit hängt alles am Prinzip der gleichen Chance zur Gewinnung innenpolitischer Macht – nur definiert den unbestimmten Begriff der „gleichen Chance“ auch hier die gerade herrschende Mehrheitspartei und sie bestimmt, welchen Aktionsradius sie dem Gegner auf dem politischen Feld einräumt (vgl. LuL 36 f.). In ruhigen und normalen Zeiten hält Schmitt die politische Prämie für relativ berechenbar, in abnormen Zeiten aber für gänzlich unberechenbar (LuL 35). In unruhigen Ausnahmezeiten werde schon der Zweifel an der loyalen Gesinnung der Gegenpartei genügen, um ihr die Chance des Machtwechsels zu verwehren: „jede andere Handhabung eines derartigen Prinzips wäre nicht nur im praktischen Ergebnis, sondern auch ein Verstoß gegen das Prinzip selbst“ (LuL 37).

Entfällt die Voraussetzung „einer beiderseitig gleich legalen Gesinnung […], gibt es keinen Ausweg mehr. So wirft im kritischen Moment jeder dem anderen Illegalität vor, jeder spielt den Hüter der Legalität und der Verfassung. Das Ergebnis ist ein legalitäts- und verfassungsloser Zustand“ (LuL 38).

549 Herv. im Original. 550 Beispiele sind: „Öffentliche Sicherheit und Ordnung“, „Gefahr“, „Notstand“, „nötige Maßnahmen“, „Staats- und Verfassungsfeindlichkeit“ (s. LuL 35).

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IV. Legalität und Legitimität. (1932)

Die dreifache Konkretisierung der Machtprämie auf den Machtbesitz zeigt ihr volles Machtvolumen bei der Handhabung der außerordentlichen Befugnisse des Ausnahmezustands. Schmitt deutet die Konsequenzen nur an. Zusammen mit dem Besteuerungs- und Abgaberecht verfüge die herrschende Partei in einem quantitativ totalen Staat über das gesamte Volkseinkommen (s. LuL 39).551 Das Prinzip der gleichen Chance und damit die Legalitätsgrundlage des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates verlören bei einer solchen Praxis der Machtausübung jede Glaubwürdigkeit: „Dann kommt es schließlich nur noch darauf an, wer zuletzt, wenn es wirklich soweit ist, in dem Augenblick, in dem das ganze Legalitätssystem beiseite geworfen wird, die legale Macht in der Hand hat und dann seine Macht auf neuer Grundlage konstituiert“ (LuL 40).

6. Die drei außerordentlichen Gesetzgeber der Weimarer Verfassung. Die stärkste Beweislast für die Begründung von Schmitts These vom Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates trägt das Argument, dass die Ursachen des besagten Zusammenbruchs bereits in den drei außerordentlichen Gesetzgebern der Weimarer Reichsverfassung angelegt sind. So finde sich im zweiten Hauptteil, also im Grundrechtsteil der Verfassung, der außerordentliche Gesetzgeber ratione materiae, der für Gesetzesbeschlüsse bei abweichendem materiellem Inhalt von der 51 Prozent-Mehrheitsregel abrückt und eine Zweidrittelmehrheit verlangt.552 6.1. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione materiae; der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung als eine zweite Verfassung (LuL 40-61). Gesetz, leitet Schmitt das Kapitel II der Schrift ein, ist im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat der jeweilige Beschluss der jeweiligen Parlamentsmehrheit, in der unmittelbaren Demokratie der jeweilige Wille der

551 Schmitt mein Modifikationen im Wahlrecht (Einteilung der Stimmkreise etc.) und im parlamentarischen Geschäftsablauf (Wahl des Ministerpräsidenten; ohne Mehrheit amtierende „Geschäftsministerien“) (s. LuL 39 f.). Vgl. Fijalkowski (1958, S. 29 f.). 552 Siehe Neumann (2015, S. 245).

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jeweiligen Volksmehrheit von in der Regel 51 Prozent (LuL 40; nachst. s. 41). Allerdings gebe es Entscheidungen, die ein höheres Quorum verlangen, so wie dies insbesondere bei materiell-rechtlichen Normierungen anzutreffen ist. Sie seien, kritisiert Schmitt, im zweiten Hauptteil der Weimarer Verfassung in einem verfassungsgeschichtlich beispiellosen Umfang eingeführt worden.553 Dieser Verfassungsteil mit der irreführenden Überschrift: „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“, sei in Wahrheit „eine, gegenüber dem ersten, parlamentarischen Gesetzgebungsstaat organisierenden Hauptteil heterogene, zweite Verfassung“ (LuL 41).

Carl Schmitt hatte ja, wir erinnern, für den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat gefordert, dass seine Verfassung sich auf die Formulierung allgemeiner Grundrechte als Staatsethos und auf die Regelung der organisatorischen Abläufe und Zuständigkeiten der staatlichen Willensbildung beschränken soll. Diese Bereiche aber sollten auf Unantastbarkeit und Dauer gestellt sein. Verzichten sollte die Verfassung aber auf materiell-rechtliche Verfassungssicherungen, die das Prinzip der einfachen Mehrheit und des Vorrangs von Gesetz und Gesetzgeber, die den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat konstituierten, verunmöglichen würden. Tatsächlich enthält die Weimarer Verfassung im zweiten Hauptteil neben den klassischen Grundrechten verschiedene Anerkennungen, Aufstellungen und Gewährleistungen wie etwa spezifische Beamtenrechte, spezielle Rechte der Selbstverwaltung, spezielle Rechte der Religionsgesellschaften usw., die nicht zu den Grundrechten zählen und sich von diesen durch ihre logische Struktur unterscheiden. Seien die klassischen Grundrechte weit gefasst, weil sie die allgemeinen Interessen und die Interessen aller Staatsbürger beträfen, seien die materiellen Verfassungssicherungen inhaltlich aber so konkretisiert, dass sie immer als eine Sicherung von Sonderinteressen besonderer Gruppen ausgelegt werden können: „Gesetzesbeschlüsse, die in solche speziellen verfassungsmäßigen Rechte eingreifen wollen, können nach herrschender Interpretation nur im Wege der Verfassungsänderung und also nur mit der sog. verfassungsändernden Mehrheit gefaßt werden“.554

553 Schmitt nennt „Verankerungen“, Gewährleistungen, Sicherungen, UnverletzlichErklärungen usw. (s. LuL 41). 554 Fijalkowski (1958; S. 44); vorsteh. ebd. S. 43 f.

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IV. Legalität und Legitimität. (1932)

Diese erschwerten Änderungsmöglichkeiten verfassungsrechtlicher Bestimmungen stünden nach Schmitt im Dienste bestimmter Interessen, die wofür auch immer als schützenswert betrachtet werden, um sie „mit Hilfe der erschwerten Änderbarkeit eines Verfassungsgesetzes vor dem einfachen Gesetzgeber in Sicherheit zu bringen und seinem Zugriff zu entziehen“ (FiGdR 15).

Nun könnten aber die materiell-rechtlichen Verfassungsänderungen den Sinn von Konnex- und Komplementärgarantien für den Grundwert der Freiheit haben, welche die rechtsstaatliche Verfassung zu garantieren suche. Solange Vertrauen in den Gesetzgeber und den Gesetzgebungsstaat herrsche, könne man sich, mit der allgemeinen Garantie der Freiheit und mit dem Vorbehalt des einfachen Gesetzes begnügen; „sobald dieses Vertrauen aufhört, erscheinen neue Garantien, die nicht unmittelbar die Freiheit selbst, sondern Schutznormen und –einrichtungen zur Verteidigung und Umhegung der Freiheit gewährleisten sollen“ (FiGdR 29).

Diese wären dann – wenn auch nur dem Prinzip nach − Grundrechte, welche die eigentliche grundrechtliche staatsfreie Sphäre der Freiheit mit einem schützenden Umbau umgäben – eine für Schmitt verhängnisvolle Entwicklung, die schlussendlich nur zu einer Zerstörung des Staates führt, weil sie aus einem Misstrauen gegen den ordentlichen Gesetzgeber rühren und „zum Fallstrick des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates [führen], denn es bemächtigen sich ihrer die staatszerstörenden pluralistischen Gewalten“.555

Derart erfolgt eine Teilung der Sphäre der Legalität in einen höheren und einen niederen Bereich. Alle Verfassungssätze werden von den pluralistischen Mächten zu Waffen im parteipolitischen Kampf instrumentalisiert, bloße Erwähnung im Verfassungstext gebiert die Anerkennung bestimmter Sonderrechte und schon sind diese durch das Erfordernis qualifizierter Mehrheit geschützt. Für bestimmte Gesetzesbeschlüsse materiell-rechtlichen Inhalts wird also abweichend vom Grundsatz der einfachen Mehrheit die qualifizierte Zweidrittelmehrheit des Art. 76 WRV verlangt.556 Der nur arithmetische Unterschied von 51 v.H. auf 66,6 v.H. bewirkt aber eine folgenreiche qua-

555 Ebd. S. 45; s. auch (FrRe 28). 556 Art. 76 WRV lautet: „Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfas-

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litative Wandlung und „sogar Umwälzung in der Legalität des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates“ (LuL 42; nachst. ebd.). „Gegenüber dem einfachen Gesetzgeber würde eine höhere Art Gesetzgeber, der außerordentliche Gesetzgeber ratione materiae der Verfassung, und eine stärkere Art Legalität konstituiert“.557

Unschwer folgt aus diesem Gedankengang Schmitts eine Zweiteilung des Gesetzeskanons in einfache und ordentliche (niedere) Gesetze und in verfassungsändernde (höhere) Gesetze, „es ist ein Vorrang eines Gesetzes gegenüber einer anderen Art Gesetz; es ist ein die Sphäre des Gesetzes aufspaltender Vorrang, es ist der Vorrang einer höheren Art Legalität gegenüber einer niedrigen Art“ (LuL 59).

Und weiter ist der Vorbehalt des verfassungsändernden Gesetzes, „ein Vorbehalt zugunsten inhaltlich bestimmter, besonderer Interessen und Schutzobjekte, unter verfassungsgesetzlicher Fixierung materiellen Rechts und wohlerworbener Rechte besonderer Gruppen“ (ebd.).

Eine Verfassung aber, die materiell-rechtliche Verfassungsgesetze in größerem Umfang einfachen Gesetzen überordnet, verändert das organisatorische Gefüge eines Gesetzgebungsstaates von Grund auf, bestimme die Gewaltenunterscheidung doch den organisatorischen Aufbau des Staates (LuL 56; nachst. ebd.). Während im Gesetzgebungsstaat ein Gesetz in der Regel ein einfaches Gesetz und ein normaler Vorgang des Staatslebens ist, wird man dies von einem verfassungsändernden Gesetz nicht sagen können. Wo in größerem Umfang ein Komplex höheren materiellen Rechts einem Komplex niederer Art gegenübersteht, und diese Unterscheidung im Misstrauen gegen den ordentlichen (einfachen) Gesetzgeber ihren Grund hat,

sung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. Hat der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine Verfassungsänderung beschlossen, so darf der Reichspräsident dieses Gesetz nicht verkünden, wenn der Reichsrat binnen zwei Wochen den Volksentscheid verlangt.“. 557 Fijalkowski (1958, S. 45).

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„bedarf der Komplex höherer Normen konkreter organisatorischer Einrichtungen, um vor dem einfachen ordentlichen Gesetzgeber geschützt zu sein. Denn keine Norm, weder eine höhere noch eine niedere, interpretiert und handhabt, schützt und hütet sich selbst“ (LuL 56/57).558

Die für den legitimen Gesetzgebungsstaat charakteristische organisatorische Trennung von Gesetz und Gesetzesanwendung wird durch die Einführung materiell-rechtlicher Verfassungssicherungen infrage gestellt. Als Konsequenz erlitte der Geltungsbereich der niederen Gesetzgebung Einschränkungen und in gleichem Maß wachse die Macht der Exekutive und Justiz über den normalen Gesetzgeber hinaus (s. LuL 58). Das mögliche Verhalten von Exekutive und Justiz wirft für Schmitt ein weiteres Problem auf. Stellten sich die Gesetzesanwendungsbehörden konträr, ziehe der einfache Gesetzgeber sein Gesetz möglicherweise zurück, erließe andere Gesetze und erkenne so „die neuen Hüter der Verfassung als höhere Instanzen an“ (ebd.). Möglichweise finde er bei einem Teil der Gesetzesanwendungsbehörden – Regierung vs. Justiz, Justiz vs. Regierung – auch Unterstützung und beharrt auf seinem Standpunkt: „Im ersten Falle verwandelt sich der Staat aus einem Gesetzgebungs- in einen Jurisdiktions-, teils Regierungs- oder Verwaltungsstaat, je nach der Behörde, die die höhere Art der Legalität handhabt; im anderen Fall bildet sich eine Reihe selbstständiger, voneinander unabhängiger Machtkomplexe, die in einem bunten Nebeneinander ihren Standpunkt festhalten, solange nicht die Not oder Gewalt einer vereinheitlichenden Dezision dieser Art gemischten Staatswesens ein Ende macht“ (LuL 58).

Es resultierte daraus gewissermaßen eine „Pluralisierung des Staatswesens“559 und eine scheinbar nur arithmetische Differenzierung von Abstimmungsmehrheiten zersprenge den Gesetzgebungsstaat bis in seine organisatorischen Fundamente (LuL 59). Die Aufspaltung des Legalitätsprinzips und die Scheidung materiell-rechtlicher Gesetze in solche von niederer und höherer Art „verdrängt den Gesetzgeber aus der Position zentraler Normierung“ (LuL 59). Und so wirft Schmitt die Frage auf, worauf bei derart katastrophalen Folgen „die Qualität und Dignität des hinzukommenden Quantums“ von 15,66 v.H. denn beruhen könne, um einen solchen Qualitätssprung zu rechtfertigen. Das Argument der Erschwerung des Beschlusses besage zunächst ja nur, dass 66,6 v.H. quantitativ mehr ist als 51 v.H.

558 A.A. Neumann (2015, S. 246 f.). 559 Fijalkowski (1958, S. 46).

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„Das Erfordernis eines zur einfachen Mehrheit hinzukommenden weiteren Stimmenquantums kann also nicht demokratischen Grundsätzen und noch weniger mit der Logik von Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Vernunft, sondern nur mit praktisch-technischen Erwägungen der gegenwärtigen Situation begründet werden“ (LuL 43).

Anders stelle sich die Lage, beziehe man die demokratische Voraussetzung der Homogenität des Volkes in die Überlegungen ein. Denn es hat ja in der Demokratie jede Abstimmung nur den Sinn, Übereinstimmung im Sinne eines die Einmütigkeit herstellenden Modus herbeizuführen, „die in einer tieferen Schicht immer vorhanden sein muß“ (LuL 43), nicht aber die vergewaltigende Überstimmung einer Minderheit, wenn die Demokratie nicht aufhören soll. Gibt es als demokratietheoretische Voraussetzung also keine beständige und organisierte Teilung des Volkes in Minderheit und Mehrheit, bedarf es gegenüber der Mehrheit auch keines Minderheitenschutzes für schutzwürdige und schutzbedürftige Interessen, obwohl in Wirklichkeit dieses Schutzbedürfnis sehr groß sein kann (vgl. LuL 43): „Aber man muß sich dann zu Bewußtsein bringen, daß damit die Demokratie bereits verneint ist und es wenig nützt, von einer ‚wahren‘ oder höheren Demokratie den wahren Minderheitenschutz zu erwarten“ (LuL 43/44; nachst. s. 44).

Sollten derartige Interessen maßgebend in die Verfassung eindringen, ist nicht nur das demokratische Prinzip modifiziert, sondern bereits eine wesentlich verschiedene Art von Verfassung aufgestellt. Denn, argumentiert Schmitt weiter, es werde jetzt der einfachen Mehrheit undemokratisches oder gar antidemokratisches Misstrauen attestiert, oder es werden bestimmte Personen oder Personengruppen aus der Demokratie herausgenommen und als Sondergemeinschaften privilegiert.560 Damit löse sich die Homogenität des Volkes auf, weil konzediert werde, „daß die Masse der Staatsbürger nicht mehr einheitlich denkt, sondern pluralistisch in eine Mehrzahl heterogener organisierter Komplexe aufgeteilt ist“ (LuL 45).

Dann verliert, so ist Schmitt zu lesen, jede arithmetische Mehrheitsakrobatik ihren Sinn, weil immer nur gleichartige Größen addierbar sind (ebd.).561 Verfüge ein Machtkomplex über die erforderliche einfache oder

560 Vgl. dazu Fijalkowski (1958, S. 48 f.). 561 Mit scharfer Kritik kommentiert Neumann (2015, S. 246). „Einheitliches Denken“ als eine Voraussetzung von Homogenität ist eine in der Tat heftige Aussage,

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qualifizierte Mehrheit, sei alles, was er tue, legal und die oppositionellen Parteien verlören ihren Schutz, obwohl deren Schutzbedürfnis bei qualifizierter Mehrheit eigentlich noch wachsen würde, „weil die gefährliche stärkere Mehrheit doch offenbar viel gefährlicher ist als die einfache Mehrheit“ (ebd.).

Ergebe sich die qualifizierte Mehrheit durch einen Komplex von Parteienkompromissen, heiße dies nur, dass die Qualifizierung um 15,66 v.H. heterogen sei und eine völlig beziehungslose, ungerechtfertigte Schlüsselstellung erhalte (s. LuL 45/46). Trotzdem sei diese Art von Parteienkompromissen „typisch und sozusagen institutionell“ (LuL 46). „Auf diese Weise verläßt man den auf der vorausgesetzten Homogenität beruhenden demokratischen Grundsatz der einfachen Mehrheit, ohne zu irgendeinem neuen Prinzip überzugehen. Ein solcher Ausweg kann, wie gesagt, höchstens als der praktisch-technische Notbehelf eines noch ungeklärten Zwischenstadiums anerkannt werden“ (LuL 47).

Und doch könnten materiell-rechtliche Sicherungen und Verfassungen wie im zweiten Hauptteil der Weimarer Verfassung vernünftig und berechtigt sein (LuL 47). Sie stünden aber, Schmitt nähert sich dem Kern seiner Interpretation, in einem konstruktiven Widerspruch zu der Wertneutralität des im ersten Hauptteil organisierten parlamentarischen Gesetzgebungsstaates und „zerstören ihn auch“ (ebd.). Einmal wegen der Sicherung vor dem Zugriff des einfachen, ordentlichen und normalen Gesetzgebers, zum anderen, wegen des außerordentlichen Umfangs dieser Sicherungen, die mithilfe von „Positivierungen“ und „Aktualisierungen“ ins Unabsehbare ausgeweitet werden könnten. Ins Gewicht falle vor allem, „daß derartige materiell-rechtliche Sicherungen den sonst beibehaltenen Funktionalismus eines Gesetzgebungsstaates, für welchen Gesetz der jeweilige Wille der jeweiligen Mehrheit ist, in Verwirrung bringen“ (LuL 47).

Verfassungssicherungen sollen auch vor der „augenblicklichen Jeweiligkeit“ des ordentlichen Gesetzgebers schützen und bestimmte Inhalte vor einem inhaltslosen Mehrheitsfunktionalismus sichern, während umgekehrt das Gesetzgebungsverfahren der parlamentarischen Demokratie ziel- und inhaltsoffen sein soll. Scheinbar gebe es eine neue Jeweiligkeit: „höheres

wobei gleichwohl nachzuspüren wäre, was hier unter dem Begriff: „einheitliches Denken“ zum Zeitpunkt des Verfassens der Legalitäts-Schrift verstanden wird. Bezöge sich der Begriff etwa auf die Grundbedingungen des bürgerlichen Gesetzgebungsstaates, wäre die vorstehende Kritik wohl zu relativieren.

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Gesetz (Verfassungsgesetz) ist dann einfach der jeweilige Wille der jeweiligen Zweidrittelmehrheit“ (LuL 48; nachst. s. ebd.). Beide Jeweiligkeiten aber widersprächen sich, weil insbesondere die neue nicht mehr wertneutral und funktionalistisch gedacht werden könne. Sie gehe von einem Bestand an herausgehobenen Wertinhalten, ja heiligen Institutionen – Ehe (Art. 119), Religionsübung (Art. 135) – aus, die unter dem Schutz der Verfassung selbst stehen sollen, „während die funktionalistische Jeweiligkeit des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates in ihrer unbedingten Wertneutralität auch der Beseitigung gerade dieser Heiligtümer zur Verfügung stehen will“ (LuL 48).

Offenbar sei jene Wertbezogenheit, oder wie immer man die nicht funktionalistische, sondern sachinhaltlich und substanzstaatlich gedachten Aufstellungen des zweiten Verfassungsteils nennen wolle, auf der einen Seite, und dieser unbedingte nach herrschender Auslegung des Art. 76 WRV „sogar gegen sich selbst und sein eigenes Legalitätssystem indifferente und neutrale Funktionalismus des organisatorischen ersten Teils auf der anderen Seite unvereinbare Gegensätze“ (LuL 48).

Man könne nicht die Ehe usw. unter den Schutz der Verfassung stellen, so Schmitt weiter, und zugleich die legale Methode ihrer Beseitigung offerieren, oder unmoralisch hoffen, die nötige Zweidrittelmehrheit werde verfehlt: „Wird die Legalität einer solchen Möglichkeit anerkannt (…) so sind alle Anerkennungen des zweiten Verfassungsteils in der Tat ‚leerlaufende‘ Heiligtümer“ (LuL 49).

So bleibe für Rechtslehre und Rechtspraxis nur die Wahl, entweder die Wertneutralität des organisatorischen Teiles oder das inhaltliche Sinnsystem des zweiten Verfassungsteils preiszugeben „Zwischen der prinzipiellen Wertneutralität des funktionalistischen Legalitätssystems und der prinzipiellen Wertbetonung inhaltlicher Verfassungsgarantien gibt es keine mittlere Linie. (…) Wertbehauptung und Wertneutralität schließen einander aus“ (ebd.).

Anschütz, Thoma, Jellinek u.a. (s. LuL 49) standen auf der Seite der traditionellen Meinung, die besagte, die Verfassung könne – bei Einhaltung der Vorschriften des Art. 76 WRV – in allen seinen Teilen wie ein normales Gesetz geändert werden. „Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung abgeändert werden. Dieser Satz galt schon im alten Recht (Art. 78 Abs. 1). Er bedeutet, daß Verfassungs-

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gesetz und einfaches Gesetz Willensäußerungen einer und derselben Gewalt, der gesetzgebenden Gewalt, darstellen. (…) Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben …“.562

Dem entgegen suchten Triefel, Bilfinger, Schmitt u.a. immanente Schranken der Verfassungsänderung in unterschiedlicher Tiefe zu entwickeln (s. LuL 49/50).563 Schmitt hielt der Tradition vor: „Wenn das die herrschende und die ‚alte‘ Lehre ist, so gibt es keine verfassungswidrigen Ziele“ (LuL 50): „Jedes noch so revolutionäre oder reaktionäre, umstürzlerische, staatsfeindliche, deutschfeindliche oder gottlose Ziel ist zugelassen und darf der Chance, auf legalem Wege erreicht zu werden, nicht beraubt werden“ (LuL 59). Und: „Für die herrschende ‚alte‘ Lehre kann es keine wegen ihres Zieles oder des Inhaltes ihrer Bestrebungen illegale Parteien, Bestrebungen, Organisationen, Verbindungen usw. geben“ (LuL 51).

Sorgte sich die eine Seite darum, verfassungsfeindliche Kräfte könnten die erforderlichen Mehrheiten des Art. 76 WRV erhalten, um die Verfassung per legaler Revolution selbst aufzuheben, suchte die andere Seite, dem verfassungsändernden Gesetzgeber: Reichstag, möglichst hohe Hürden zu errichten. Kurzum, der Kampf um die Verfassungsauslegung war hoch politisiert, und gab sich, so Stolleis, „kaum mehr Mühe, dies zu verhüllen“.564 Im Extrem, Schmitt doziert dies an der Position von Anschütz, „geht die Wertneutralität eines nur noch funktionalistischen Legalitätsprinzips bis zur absoluten Neutralität gegen sich selbst und bietet den legalen Weg zur Beseitigung der Legalität selbst, sie geht also in ihrer Neutralität bis zum Selbstmord“ (LuL 50).

Alles werde so legal, protestiert Schmitt, was im Wege des einfachen oder qualifizierten Gesetzes beschlossen wird, und jedes noch so revolutionäre, reaktionäre, staatsfeindliche, deutschfeindliche oder gottlose Ziel sei zulässig und dürfe der Chancen seiner Realisierung auf legalem Wege nicht beraubt werden: „Jede Beschränkung und Hemmung dieser Chance wäre verfassungswidrig“(ebd.). Antworten auf die Fragen nach der Legalität oder Illegalität etwa der nationalsozialistischen Organisationen usw. können nach Schmitt rechtswissenschaftlich objektiv nur aus der grundsätzli-

562 Anschütz zu Art. 76 Anm. 1, hier zit. nach Winterhoff (2007, S. 45, Anm. 233). 563 Vgl. Stolleis (1999, S. 113 f.) 564 Ebd. S. 114.

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chen Auffassung des Legalitätsprinzips und insbesondere Art. 76 WRV gegeben werden.565 Es kann für die alte Lehre keine wegen ihres Inhalts oder Zieles illegalen Parteien, Bestrebungen Organisationen, Verbindungen usw. geben (ebd.). Aus all dem zieht Schmitt den Schluss: „Die Weimarer Verfassung ist zwischen der Wertneutralität ihres ersten und der Wertfülle ihres zweiten Hauptteils buchstäblich gespalten“ (LuL 52; nachst. s. ebd.).

Verstärkt werde diese Problematik noch, weil der zweite Hauptteil – neben den „positiven“ und „aktuellen“ Wertfestlegungen – auch noch inhaltliche Ziele enthält, die künftig durch Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtspraxis positivierbar und aktualisierbar sein sollen. Weshalb auch hier gelte, dass es eine Frage der Weiterentwicklung ist, wer auf legalem Wege aber unter der Ausnützung der politischen Prämien in der Lage ist, die Verfassung für seine Parteiziele zu instrumentalisieren (ebd.). Für psychologisch begreiflich hält es Schmitt, dass eine formalistisch-funktionalistisch gewöhnte Rechtslehre und Praxis, den zweiten Hauptteil der Verfassung nicht als eine selbstständige zweite Verfassung zu erkennen vermochte, und sich vielmehr in die Vorstellung von der Allmacht des verfassungsändernden Gesetzgebers zu retten versuchte (LuL 52/53). Dies hält Schmitt logisch wie praktisch für ganz unmöglich. Denn es könne nicht darum gehen, die neue Art des Funktionalismus einer Zweidrittelmehrheit einzuführen, sondern ihn gegen sachinhaltlich bestimmte Güter und Interessen „überhaupt abzulehnen“, denn „Interessen zu verletzen, welche die Verfassung selbst für unverletzlich erklärt, kann doch niemals eine normale, verfassungsmäßig zugewiesene Zuständigkeit sein. (…) Es kann zwar einen, mit einfachen Parlamentsmehrheiten arbeitenden, parlamentarischen Gesetzgebungsstaat, nicht aber einen mit Zweidrittelmehrheiten arbeitenden Verfassungsgesetzgebungsstaat als Typus geben“ (LuL 53 f.).

Ist in einem bestimmten Augenblick eine verfassungsgesetzgeberische Zweidrittelmehrheit vorhanden, kann sie nach Art. 76 materiell-rechtliche Normen erlassen, die der Entscheidungskraft des einfachen, ordentlichen Gesetzgebers entzogen sind. Schmitt erläutert die Folgen an folgendem Beispiel: Gegeben ist ein Parlament mit einer Gesamtzahl von 600 Abgeordneten, 400 von ihnen (67 v.H.) erlassen ein Alkoholverbot. Sinkt mit

565 Näher dazu schon (HdV 113).

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der Zeit die Zahl der Befürworter auf unter 301 und hätte das Alkoholverbotsgesetz nicht einmal mehr die Mehrheit für ein einfaches Gesetz, „so bleibt trotzdem, als dauernd nachwirkende Prämie auf eine früher einmal erreichte Zweidrittelmehrheit das Alkoholverbot selbst dann bestehen, wenn auf der Gegenseite über 300 Stimmen seine Aufhebung verlangen“ (LuL 54).

Die einfache Mehrheit braucht zur Zielerreichung 400 Stimmen, um die nötige Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Gleichzeitig schadet es den Alkoholgegnern nicht, wenn ihre Zahl auf 201 vs. 399 Stimmen sinkt: „Der Inhalt des Willens von 201 zwingt jetzt den Willen von 399, und zwar nur deshalb, weil, unter Verletzung des funktionalistischen Gesichtspunktes der Jeweiligkeit und Augenblicklichkeit, eine, demokratisch betrachtet sittenwidrige, ja unsittliche Art Prämie auf eine früher einmal erreichte qualifizierte Mehrheit eingeführt wird“ (LuL 54/55; s. nachst. 55).

Die Einführung abänderbarer Normen kommt für Schmitt der Einladung gleich, unter Ausnutzung derartiger Prämien die jeweilige Mehrheit missbräuchlich zu verlängern. Augenscheinlich werde dies, wenn eine materiell-rechtliche Verfassungsgarantie eine Sach- oder Rechtslage verfassungsgesetzlich sichere, durch ein einfaches Gesetz oder einen Verwaltungsakt geschaffen werden könne und eine augenblicklich vorhandene Mehrheit „von einer nicht mehr vorhandenen, früheren Mehrheit gebunden wird“ 566. Die Einführung qualifizierter Mehrheiten widerspricht für Schmitt dem Prinzip des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates, „der sich schließlich so weit treiben läßt, daß er in seiner letzten, aber folgerichtigen Konsequenz, die Legalität selbst als Prinzip legal beseitigt“ (LuL 55).

Eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit ist dann im Augenblick ihrer Mehrheit in der Lage, bestimmte Interessen oder Personen zukünftig „auch gegen 100 Prozent aller Stimmen“ zu schützen, und ihre Macht so ausnützt, „daß bestimmte Normen für jede Art von Mehrheit oder Einstimmigkeit überhaupt unabänderlich seien. Für ein formalistisch-gegenstandsloses Denken ist das legal, in bester Ordnung und auf legale Weise in Ewigkeit nicht mehr zu beseitigen“ (LuL 55/56).

566 Durch die Ernennung von Beamten könne eine nur mit einfacher Mehrheit herrschende Partei den Beamtenapparat für sich okkupieren, weil diese Beamten zukünftig wegen der verfassungsrechtlichen Garantie der Beamtenrechte nach Art. 129 WRV gegen die Mehrheit der Gegenpartei abgesichert sind (LuL 55).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

So trägt für Schmitt der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung infolge seiner Sicherungen eine „Gegen-Verfassung“ in sich, die aus dem Gegensatz von Werthaftigkeit und Wertneutralität resultiert (LuL 56; s. nachst. ebd.). Dieser prinzipielle sei aber zugleich ein konstruktiv-organisatorischer Widerspruch, nämlich der eines Jurisdiktionsstaates zum parlamentarischen Gesetzgebungsstaat. Ein Gesetz im Gesetzgebungsstaat müsse normalerweise ein einfaches Gesetz und ein durchschnittlicher Vorgang des Staatlebens, ein Verfassungsgesetz eines der höheren Art und ein außerordentlicher Vorgang sein. Stehen sich also, erläutert Schmitt, ein bestimmter Komplex materiellen Rechts höherer Art einem Komplex materieller Gesetze niederer Art gegenüber, und ist dieses Verhältnis von Misstrauen gegen den einfachen ordentlichen Gesetzgeber bestimmt, bedürfe der Komplex höherer Normen konkreter organisatorischer Einrichtungen, um vor dem einfachen ordentlichen Gesetzgeber geschützt zu sein: „Denn keine Norm, weder eine höhere noch eine niedere, interpretiert und handhabt, schützt oder hütet sich selber; keine normative Geltung macht sich selbst geltend; und es gibt auch – wenn man sich nicht in Metaphern oder Allegorien ergehen will – keine Hierarchie der Normen, sondern nur eine Hierarchie konkreter Menschen und Instanzen“ (LuL 57).

Die Konstruktion höherer und niederer Normen mit unterschiedlicher qualitativer Verschiedenheit hebt den Gesetzgebungsstaat auf. Dessen Legalität soll ja dadurch entstehen, dass Norm und Normendurchführung auf verschiedenen Seiten stehen. Die Normen sollen losgelöst von Menschen und Behörden gelten, so dass der Gesetzgebungsstaat inhaltlich neutral ist (ebd.). Dies bleibe so, wenn an dem qualitativ einheitlichen Wert des ordentlich zustande gekommenen Gesetzes festgehalten werde. Die qualitative Unterscheidung der Gesetze aber „verdrängt den Gesetzgeber aus der Position zentraler Normierung, durch die der Staat überhaupt erst zum Gesetzgebungsstaat wird. Die Unterscheidung dringt wie ein Keil in den organisatorischen Gesamtbau des Gesetzgebungsstaates hinein (…)“ (LuL 59).

Der Vorrang eines verfassungsändernden Gesetzes ist derart der Vorrang eines Gesetzes gegenüber einem anderen Gesetz, und das Verfassungsgesetz materiell-rechtlichen Inhalts weicht von den Grundsätzen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates wie der demokratischen Verfassung ab (LuL 59/60). So wird man als Schlussfolgerung neben der Unterscheidung von Staaten mit geschriebener und solchen mit ungeschriebener Verfassung auch folgende artbestimmende Unterscheidung zu treffen haben: 654

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„von Staaten mit einer auf die organisatorisch-verfahrensmäßige Regelung und auf allgemeine Freiheitsrechte beschränkten Verfassung, und anderen Staaten, deren Verfassung umfangreiche materiell-rechtliche Festlegungen und Sicherungen erhält. Das sind in Wahrheit Staaten mit zwei verschiedenen, einender prinzipiell konstruktiv und organisatorisch sogar widersprechenden Verfassungen oder Verfassungstücken“ (LuL 60; nachst. s. 60 f.).

Die Art des Staatswesens solle grundsätzlich, erläutert Schmitt, von der Art seiner Grund- und Fundamentalrechte bestimmt werden. Die allgemeinen Freiheitsrechte des bürgerlichen Rechtsstaats umschreiben „die soziale Struktur einer individualistischen Ordnung“, deren Aufrechterhaltung die organisatorische Regelung des Staates gewährleisten soll. Dadurch wirkliche Fundamentalprinzipien geworden, erhalten sie eine überlegene Würde, die sie über jede – ihrer Wahrung dienende – organisatorische Verfassungsregelungen oder irgendeine materiell-rechtliche Einzelregelung erhebt. Für Carl Schmitt kennt jede Verfassung derartige Prinzipien, die zum grundsätzlich unveränderlichen „Verfassungssystem“ gehören: „Wenn eine Verfassung die Möglichkeit der Verfassungsrevision vorsieht, so will sie damit nicht etwa eine legale Methode zur Beseitigung ihrer eigenen Legalität, noch weniger des legitime Mittel zur Zerstörung ihrer Legitimität liefern“ (LuL 61; nachst. ebd.).

Von den Grenzen der Verfassungsrevision abgesehen, dürfen die Verschiedenheit von allgemeinen bürgerlichen Freiheitsrechten und die speziellen Sicherungen materiell-rechtlichen Inhalts für Schmitt nicht verkannt werden, wie ebenso zu beachten ist, dass der heterogene zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung ein noch wenig bewusstes und nicht durchdachtes Nebeneinander verschiedener Arten höherer Legalität beinhaltet, was zu dem Widerspruch führt, „daß die grundlegenden bürgerlich-rechtsstaatlichen Prinzipien von allgemeiner Freiheit und Eigentum nur die 51-prozentige ‚niedere‘ Legalität, die Rechte von Religionsgesellschaften und Beamten (…) dagegen die ‚höhere‘ 67-prozentige Legalität für sich haben“ (LuL 61).

Außerdem ergebe sich für die staatliche Gesamtstruktur die Folge, dass Einrichtungen und Machtelemente von Regierungs-, Verwaltungs-, oder Jurisdiktionsstaat gegen den Gesetzgebungsstaat unvermeidlich werden (ebd.)

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6.2. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione supremitatis. Eigentliche Bedeutung: plebiszitäre Legitimität statt gesetzgebungsstaatliche Legalität (LuL 62-69). Wir hatten gesehen, dass das Erfordernis der Konkurrenzlosigkeit des Gesetzgebers im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat (LuL 29) erstens durch die Einführung materiell-rechtlicher Verfassungssicherungen (Zweidrittelmehrheit) durchbrochen worden war. Diese Durchbrechung setzt sich, zweitens, mit den Gesetzgebungsverfahren der unmittelbaren Demokratie fort, wie sie in den Art. 73 Abs. 1; 73 Abs. 2; 74 Abs. 3 und 76 Abs. 2 WRV niedergelegt sind.567 Diese vier Fälle eines Volksentscheids sind in das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren eingebaut.

567 Art. 73 Abs. 1 u. Abs. 2 WRV lauten: „1. Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid zu bringen, wenn der Reichspräsident binnen eines Monats es bestimmt.“ „2. Ein Gesetz, dessen Verkündung auf Antrag von mindestens einem Drittel des Reichstags ausgesetzt ist, ist dem Volksentscheid zu unterbreiten, wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es beantragt.“ Art. 74 Abs. 3 lautet: „3. Im Falle des Einspruchs wird das Gesetz dem Reichstag zur nochmaligen Beschlußfassung vorgelegt. Kommt hierbei keine Übereinstimmung zwischen Reichstag und Reichsrat zustande, so kann der Reichspräsident binnen drei Monaten über den Gegenstand der Meinungsverschiedenheit einen Volksentscheid anordnen. Macht der Präsident von diesem Rechte keinen Gebrauch, so gilt das Gesetz als nicht zustande gekommen. Hat der Reichstag mit Zweidrittelmehrheit entgegen dem Einspruch des Reichsrats beschlossen, so hat der Präsident das Gesetz binnen drei Monaten in der vom Reichstag beschlossenen Fassung zu verkünden oder einen Volksentscheid anzuordnen.“ Art. 76 WRV lautet: „1. Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. 2. Hat der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine Verfassungsänderung beschlossen, so darf der Reichspräsident dieses Gesetz nicht verkünden, wenn der Reichsrat binnen zwei Wochen den Volksentscheid verlangt.“.

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Anders ist dies beim selbstständigen Volksgesetzgebungsverfahren der unmittelbaren Demokratie des Art. 73 Abs. 3 WRV (LuL 62). Das Volk erscheint hier als außerordentlicher Gesetzgeber „gegenüber und wohl auch über dem Parlament“, was sich ratione supremitatis aus seiner Eigenschaft als Souverän ergibt (LUL 63; nachst. ebd.).568 Schmitt schließt sich hier der Meinung Jacobis an, der argumentiert, ein in einem demokratischen Staatswesen unmittelbar geäußerter Volkswille sei jedem durch das Parlament geäußerten mittelbaren übergeordnet (s.a. LuL 66). Folglich könne er durch einen Gesetzesbeschluss des Reichstags weder geändert noch aufgehoben werden. Daraus resultiert, dass die Weimarer Verfassung auch in ihrem ersten organisatorischen Teil „zwei verschiedene, nebeneinander stehende Systeme von parlamentarischer Legalität und plebiszitärer Legitimität“ enthält (LuL 63). Dabei unterscheidet Schmitt „zwischen den erstgenannten vier Fällen des Volksentscheids, die den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat nur modifizieren, und dem Volksentscheid auf Volksbegehren, der ein neues, dem Gesetzgebungsstaat fremdes plebiszitäres Verfahren einführe.“569

Jedem durch Volksentscheid zustande gekommenen „Gesetz“ eine höhere Gesetzeskraft zuzumessen als einem parlamentarisch verabschiedeten, so Schmitt, könne mit guten Gründen nur bejaht werden, wenn die Verfassung sich ausdrücklich für ein plebiszitäres System entschieden hätte: „Das wollte sie zweifellos nicht“ (ebd.), sie wollte dem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat treu bleiben (LuL 64; s. nachst. ebd.). Andererseits machte sie das unmittelbar plebiszitär entscheidende Volk zwar zum Gesetzgeber, blieb aber „in widerspruchsvoller Unklarheit und Halbheit stecken“. Einmal sei in das Verfahren wieder ein Parlamentsbeschluss eingebaut und das Parlament könnte das Verfahren gleichsam in seine Machtbefugnis zurückholen, und zum Zweiten, weil sich die vier plus eins unterschiedlichen Verfahren in das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren einfügen, bald den spezifischen Wert des plebiszitären Willensaktes haben. Durch die plebiszitären Elemente aber verändert sich die Qualität des Parlaments selbst, es verwandelt sich in eine „bloße Zwischenschaltung des plebiszitären Systems“ (LuL 65; nachst. ebd.) Das verfassungsmäßig

568 Siehe Neumann (2015, S. 248). 569 Neumann (2015, S. 248).

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vorgesehene Gesetzgebungsverfahren und das darauf beruhende Legalitätsprinzip werden unmittelbar nicht verändert: „Man kann vielmehr daran festhalten, daß auch der plebiszitäre Entscheid ein ‚Gesetzesbeschluß‘ im Sinne des Legalitätssystems ist. Dann steht er offenbar dem Gesetzesbeschluß des Parlaments gleichwertig, nicht übergeordnet, zur Seite“ (LuL 65).

Der Volksentscheid auf Volksbegehren des Volksgesetzgebungsverfahrens des Art. 73 Abs. 3 WRV hingegen führt ein neues Gesetzgebungsverfahren ein. 570 Wir haben es also einerseits mit einem systemkonformen, andererseits aber mit einem systemsprengenden Gesetzgebungsverfahren zu tun, weshalb Schmitt folgert: „Sie sind der Ausdruck von zwei gänzlich verschiedenen Staatsarten“ (LuL 65). Das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates bleibe jedenfalls „ein ideenmäßig und organisatorisch eigenartiges Gebilde, das keineswegs aus der Demokratie und dem jeweiligen Volkswillen abgeleitet ist. Der in Normierungen gipfelnde Gesetzgebungsstaat erscheint wesensmäßig und adäquat ‚reiner‘ in der Form des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates als in den Formen der unmittelbaren Demokratie, die Äußerungsformen einer voluntas und nicht einer ratio sind, Legitimität und nicht Legalität beanspruchen. Ebenso ist die Folgerichtigkeit eines auf dem Gedanken der R e p r ä s e n t a t i o n aufgebauten Systems eine andere, als die plebiszitär-demokratische Folgerichtigkeit des mit sich selbst identischen, unmittelbar p r ä s e n t e n souveränen Volkes“ (LuL 65/66)571.

Werde im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat unter Preisgabe jeder Qualität des Gesetzes das Gesetz nur noch als ein jeweiliger Beschluss einer jeweiligen Parlamentsmehrheit aufgefasst, und entscheide im demokratischen Staat der jeweilige Wille der jeweiligen Volksmehrheit, und beides nehme die Verfassung auf, „so stehen zwei nicht notwendigerweise kongruente Arten von Jeweiligkeit unabhängig nebeneinander“ (LuL 66). Der Widerspruch beider Verfahren zeigt sich nach Schmitt bei der „Berechnungsweise der Abstimmungsergebnisse und Mehrheitsziffern“, die beziehungslos nebeneinander herliefen (LuL 66/67). Wir beschränken uns hier auf das wesentliche Ergebnis der Argumentation Schmitts. Wo im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren für Ver-

570 Fijalkowski folgert, dass nach vorherrschender Interpretation die Verfassung mittels des Volksentscheids auf Volksbegehren selbst geändert werden könne (Fijalkowski 1958, S. 53 f.). 571 Herv. im Original.

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fassungsänderung eine Zweidrittelmehrheit gefordert ist, begnügt sich die Verfassung beim Volksentscheid mit der einfachen Mehrheit der Stimmberechtigten.572 Zu der oft absonderlichen Logik der Abstimmungsarithmetik werde hier eine merkwürdige Misstrauenserklärung gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgebungsstaat verfassungsrechtlich verankert (ebd.), obwohl die stärkere Garantie der Vernünftigkeit und Gerechtigkeit beim Parlament sei, und so fügen wir hinzu, dass die Emotionalität des Volkes eigentlich beunruhigender sein müsste (vgl. LuL 68; s. nachst. 68 f.).573 Die Weimarer Verfassung hat so aus plebiszitär-demokratischen Überlegungen heraus das Volk im Volksgesetzgebungsverfahren als einen außerordentlichen Gesetzgeber neben das Parlament als dem ordentlichen Gesetzgeber gestellt, also der Legalität des Gesetzgebungsstaates ein Stück plebiszitär-demokratische Legitimität beigeordnet (LuL 68; s. nachst. 68 f.). Dies wirft für Schmitt die Frage auf, ob zwei verschiedene Rechtssysteme nebeneinander bestehen können. Die Verfassung habe ihr parlamentarisches Gesetzgebungssystem durch einen plebiszitären Gesetzgeber sicher nicht beseitigen wollen. In diesem „Wettrennen beider Souveräne“ (W. Jellinek) werde der Reichstag zwar als erster durchs Ziel gehen, offen sei, ob der Reichstag den Kampf mit dem Volk aufnehmen wolle. Darüber hinaus fragt Schmitt nach den Konsequenzen für das Legalitätssystem der Verfassung selbst. Denn „die Doppeltheit der beiden Arten von Gesetzgebung und Gesetzgeber ist nämlich eine Doppeltheit von zwei verschiedenen Rechtfertigungssystemen, dem parlamentarisch-gesetzgebungsstaatlichen Legalitätssystem und der plebiszitär-demokratischen Legitimität“ (LuL 69).

Es handelt sich deshalb für Schmitt um den „Kampf zwischen zwei Arten dessen, was Recht ist“. Der Besitzer der Macht – die Parlamentsmehrheit – habe zwar einen großen Vorsprung, doch entscheidend sei dieser nicht, kündigt Schmitt an, stelle dieser doch „den reinen parlamentarischen Gesetzgebungsstaat nicht wieder her“ (LuL 69).

572 Siehe Neumann (2015, S. 248). 573 Zur Diskussion dieser Problematik im Reichstag s. Neumann (2015, S. 249), in Anlehnung an Kelsens Demokratie- und Parlamentstheorie.

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6.3. Der außerordentliche Gesetzgeber ratione necessitatis. Eigentliche Bedeutung: die Maßnahme des Verwaltungsstaates verdrängt das Gesetz des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates (LuL 70-87). Die wissenschaftliche Literatur über die Rolle des Reichspräsidenten lässt drei Phasen erkennen.574 Die erste Phase diskutierte die zentrale Frage, ob für die Staatsspitze der Republik das amerikanische, das französische oder ein vermittelndes Modell grundlegend sein sollten. Diese Bemühungen erbrachten im Ergebnis eine plebiszitäre Präsidentschaft mit Notkompetenzen und waren mit einer parlamentarisch gebundenen Regierung kombiniert (Art. 41; 48; 54 WRV). Diese Synthese wurde als durchaus gelungen und glücklich angesehen, weil sie eine Versöhnung des demokratischen mit dem vergangenen monarchischen System versprach. Die zweite Phase nach der Republikgründung von 1920 bis etwa 1928 zeigte eine noch klassische Beurteilung und Kommentierung dieses Modells, das aber ob der häufigen Anwendung des Art. 48 WRV durch Friedrich Ebert bereits intensiv unter den Aspekten der Reichsexekution und des Notverordnungsrechts politisch wie juristisch diskutiert wurde. Die dritte und intensivste Phase, insbesondere die Phase der Agonie am Ende Weimars, befasste sich dann fast ausschließlich mit der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten und seiner Rolle als „Hüter“ oder als „Verderber“ der Reichsverfassung. Nicht die geschriebene Verfassung, sondern die Praxis von Reichsregierung und Reichspräsident unter Duldung des Reichtags und unter Anerkennung der Staatsrechtslehre und einer legitimierenden Gerichtspraxis schufen noch einen dritten außerordentlichen Gesetzgeber ratione necessitatis: den reichsgesetzvertretende Verordnungen erlassenden Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV (LuL 70; nachst. ebd.). Um zu verdeutlichen, wie sehr dieses Notverordnungsrecht zum parlamentarischen Gesetzgebungsstaat in Widerspruch steht, geht Schmitt in das 19. Jahrhundert zurück; dort habe das Parlament erbittert gegen das königliche Rechtsverordnungsrecht gekämpft, weil die Anerkennung eines Konkurrenzrechts zur Gesetzgebungsbefugnis den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat selbst zerstört hätte (vgl. LuL 70 f.). In Weimar jedoch, so kritisch Schmitt, gebe man dem Reichspräsidenten zurück, was man dem Monarchen abgerungen habe, und die Autoren, die sich als die eigentlichen Wahrer und Verteidiger rechtsstaatlicher Begriffe sehen, haben „die Rechtssetzungsbe-

574 Siehe Stolleis (1999, S. 114; nachst. s.ebd. S. 114 f.).

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fugnis des Reichspräsidenten nach Art. 48 anerkannt und die ganz elementare Unterscheidung von Gesetz und Maßnahme“ als einen „geistvollen“ Einfall abgetan (LuL 71).575 Entgegen den beiden anderen außerordentlichen Gesetzgebern ist der „Art. 48 Abs. 2-Gesetzgeber“ dem parlamentarischen nicht übergeordnet. Auch hier aber hat der Gesetzgeber in außerordentlichen Situationen naturgemäß sogar sehr großen Vorsprung. Er entscheidet nach seinem Ermessen über die Voraussetzungen seiner außerordentlichen Befugnis – „Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ – wie über ihren Inhalt; hebt der Reichstag seine Maßnahmen auf, kann er sie umgehend neu erlassen – das Außerkraftsetzen hat keine rückwirkende Kraft – und der außerordentliche Gesetzgeber kann vollendete Tatsachen schaffen (s. LuL 72). So ergebe sich bei genauerer Betrachtung, dass der außerordentliche Gesetzgeber dem ordentlichen Reichsgesetzgeber überlegen ist. Denn der ordentliche Gesetzgeber dürfe nur Gesetze geben. Weil aber der Gesetzgebungsstaate vom Gesetzesanwendungsapparat getrennt sei (LuL 73), vereinige der außerordentliche Gesetzgeber des Art. 48 Abs. 2 „bei sich Gesetzgebung und Gesetzesanwendung und kann die von ihm gesetzten Normen unmittelbar selbst vollziehen“. Zudem habe er die Befugnis, sieben Grundrechte576 außer Kraft zu setzen (LuL 74), was den bisherigen parlamentarischen Gesetzgebungsstaat grundlegend ändere, weil nur der ordentliche Gesetzgeber und ein Gesetz in Grundrechte eingreifen dürfen. (LuL 75). Dass im Ausnahmezustand Grundrechte ausgesetzt werden können, bedeute, dass das Kernstück der Verfassung selbst: Freiheit und Eigentum, suspendiert werden kann (LuL 76; 83). Mit dieser judikativ gebilligten Regierungspraxis, so Schmitt, ist nicht nur ein neuer, heterogener Gedankengang in das Legalitätsregime der Verfassung eingedrungen (ebd.). Die außerordentlichen Befugnisse des Art. 48 Abs. 2 haben zu einer noch weitergehenden Gesetzgebungsmacht des außerordentlichen Gesetzgebers geführt, weil ihm konzediert wurde, in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder einzugreifen (LuL 77; nachst. ebd.).577 Dadurch seien die organisatorischen Grundelemente der

575 Schmitt habe es nicht geschafft, so die Kritik, die Begriffe: „Gesetz“ und „Maßnahme“ zu definieren und gegeneinander abzugrenzen (Neumann 2015, S. 250). 576 Es sind dies die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 WRV. 577 Schmitt exerziert seine Auslegung anhand der Sparkassenverordnung vom 5. August 1931 (LuL 77 f.). Wir vollziehen diese hier nicht nach.

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Verfassung nicht mehr diktaturfest, was es erlauben könne, die gesamte Verfassung umzustürzen (s. LuL 78 f.).578 In der Gesamtschau des bisher Ausgeführten kommt Schmitt zu dem Ergebnis, dass „der Grundsatz der Unantastbarkeit jeder einzelnen verfassungsrechtlichen Bestimmung preisgegeben [ist]“ (LuL 80). Es ist nicht möglich, so fassen wir Schmitts Darlegungen an dieser Stelle zusammen, niedriger eingestufte Interessen für „diktaturfest“ zu erklären, höher eingestufte hingegen nicht (LuL 83). Es ist weiter nicht möglich die niedrigen Interessen dem Zugriff des Gesetzgebers zu entziehen, die höheren aber dem Diktator preiszugeben (s. LuL 82 f.). Grund dieser staats- und verfassungsrechtlichen Verwirrung ist für Schmitt eine Entartung des Gesetzesbegriffs (LuL 83), die dazu führe, eine Maßnahme als Gesetz und ein Gesetz als Maßnahme hinzustellen. „Im Namen der Maßnahme“ könne schließlich auch nicht Recht gesprochen werden (LuL 84):579 „Vielleicht ist das Faktum, daß man heute eine Maßnahme nur noch von Jurisdiktionsakten, nicht von Gesetzgebungsakten unterscheidet, ein sicheres Symptom dafür, daß dem heutigen verfassungsrechtlichen Bewußtsein der Jurisdiktions- und der Verwaltungsstaat unmittelbar einleuchten, während die spezifischen Unterscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates uninteressant und unverständlich sind“ (LuL 86).

Immerhin ein Merkmal des materiellen Gesetzesbegriffs sei bei den Vertretern des rechtsstaatlichen Denkens wieder zu Ehren gekommen: die Dauer. Denn nun werde ausdrücklich betont, dass die Anordnungen des Reichspräsidenten von Art. 48 nur einstweilig, nicht aber dauernd sein dürfen. Leider fehle, so Schmitt, noch die Einsicht, dass das Verbot der „Dauer“ vor allem aus dem Wesen der Maßnahme im Gegensatz zum Gesetz abzuleiten sei, das auf Dauer gestellt ist (s. LuL 86). Die heutige Praxis, resümiert Schmitt, erkläre sich aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber die innere Unterscheidung von Gesetz und Maßnahme längst preisgegeben habe (LuL 87). Kein Parlamentsbeschluss könne im Ernst noch den Anspruch erheben, er sei auf Dauer gestellt. Die Lage der Republik sei inzwischen so wenig berechenbar und abnorm, dass das Gesetz zur Maßnahme mutiert ist. Aber:

578 Fijalkowski (1958, S. 55). 579 Detaillierter s. (LuL 83 ff.).

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„Der Gesetzgeber kann Maßnahmen treffen und der zu Maßnahmen befugte Diktator Gesetze erlassen. In der Praxis allerdings verwirklicht sich die Nichtunterscheidung von Gesetz und Maßnahme wahrscheinlich auf dem Niveau der Maßnahme. Dem Verwaltungsstaat, der sich in der Praxis der Maßnahmen manifestiert, ist der ‚Diktator‘ eher adäquat und wesensgemäß als ein von der Exekutive getrenntes Parlament, dessen Zuständigkeit darin besteht, generelle, vorher und auf die Dauer bestimmte Normen zu beschließen“ (LuL 87).580

7. Schluss. Drei außerordentliche Gesetzgeber also sind es – ratione materiae, ratione supremitatis und ratione necessitatis – die das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates gefährden. Aber anzunehmen, der ordentliche parlamentarische Gesetzgeber könne den drei außerordentlichen Rivalen nicht standhalten, wäre verfehlt, solange diese Annahme „in der Betrachtung der Verfassungskonstruktion selbst verbleibt“ (LuL 88). Denn wo es sich um die grundlegende politische – die Art des gesamten Staatswesens betreffende – Verfassungsentscheidung handle, „ist das System, welches die Verfassung mit Entschiedenheit als Konstruktionsprinzip zugrunde legt, immer überlegen, solange nicht ebenso grundsätzlich und folgerichtig ein anderes System durchgeführt wird“ (ebd.). Das parlamentarische Legalitätssystem hätte trotzdem Sieger bleiben können, „denn die Abweichungen von den Grundsätzen und Konstruktionsprinzipien des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates, die in der Einführung jener drei außerordentlichen Gesetzgeber liegen“ seien in sich selbst nicht klar und in der Verfassung selbst nicht zu Ende gedacht (LuL 89; s. nachst. ebd.). Sie seien eher Versuche, Fehler des parlamentarischen Systems zu beheben. Wichtiger aber sei, dass sie einen Großteil ihrer praktischen Bedeutung verlören, „wenn das Parlament sich mit entschiedenem, einheitlichem Willen auf seine Macht besinnt. Selbst die einfache Mehrheit hat die Mittel, durch ihre Gesetze und die von ihrem Vertrauen abhängige Regierung der Konkurrenz des Jurisdiktionsstaates ohne große Mühe auf legale Weise Herr zu werden“ (LuL 89).

Das Parlament könne erstens die materiell-rechtlichen Verfassungssicherungen in unpolitisch, unbedeutend, uninteressante in politisch bedeutende 580 Scharf kritisiert Neumann (2015, S. 250): „Dieses atemberaubende Ergebnis wird formuliert, obwohl es Schmitt nicht geschafft hat, die zentralen Begriffe ‚Gesetz‘ und ‚Maßnahme‘ zu definieren und voneinander abzugrenzen.“.

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scheiden und der Macht der jeweiligen Mehrheit unterwerfen. Es könne zweitens das plebiszitäre Gesetzgebungsverfahren praktisch bedeutungslos machen581, mit einem Wort: reparlamentarisieren. Und drittens könne der Diktator nach Art. 48 Abs. 2 nur tätig werden, als und solange das Parlament dies toleriert (LuL 89 f.). Auch im Konfliktfall über diese Maßnahmen sei die verfassungsmäßige Machtverteilung derart, „daß die Reichstagsmehrheit bei festem und erkennbarem Willen ohne Schwierigkeit als der legale Sieger das Feld behaupten kann“ (LuL 90). Warum also die ganze Aufregung um diese Problematik ist man geneigt, zu fragen? „Dennoch ist das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates damit nicht weiter restituiert“ (LuL 90) – weil die jeweilige Parlamentsmehrheit seit Langem nur mittels heterogener Mehrheitskompromisse zustande komme und das Parlament nur mehr Bühne für die Kämpfe pluralistischer Machtorganisationen sei. Verharrend im „Zwielicht eines Zwischenzustandes“ als „Staat“, bald als „soziale Größe“, bald als „bloße Partei“ heben sie den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat und seinen Legalitätsbegriff auf (LuL 91; nachst. ebd.). Gleiches gilt für eine Folgewirkung des pluralistischen Systems, nämlich der Verneinung des Prinzips der gleichen Chance. Diese werde praktisch allen nicht zur Sphäre des Pluralismus gehörenden Parteien genommen.582 Unfähig zu einer eigenen, dem Pluralismus adäquaten neuen Art von Verfassungsform, bleibe alles in den Gleisen der überlieferten Rechtfertigungssysteme. Die Parteien suchten zwar die Legalität des jeweiligen Machtbesitzes, doch stoßen sie „in dem gleichem Maße, in welchem sie eben dadurch das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates untergraben, auf das dem Legalismus des Gesetzgebungsstaates entgegengesetzte System einer plebiszitärdemokratischen Legitimität“ (LuL 92).

581 Was nach Schmitt tatsächlich geschehen ist (s. LuL 89). 582 Schneider leitet bei dieser Problematik zum „Hüter der Verfassung“ über: „Das Prinzip der gleichen Chance der politischen Machtgewinnung führt zu keinem Ziel; die Unterscheidung von generellem Gesetz und spezieller Maßnahme erweist sich als illusorisch, da die abnormale Situation, in der keine Normen gelten können, zur normalen Situation geworden ist. In dieser Not muß der Blick zwangsläufig auf das Volk außerhalb der Verfassung und auf den Reichspräsidenten innerhalb der Verfassung fallen. In ihnen müßte die Hoffnung auf eine substantielle Ordnung Halt und Begründung finden“ (Schneider 1957, S. 175.)

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Auf die Legitimität der plebiszitären Volkswahl stütze sich nicht nur der dem Parlament das Gegengewicht haltende Reichspräsident. Auch das Parlament habe die eigene selbstständige Bedeutung nicht mehr, die es als Legalitätsquelle im auf Legalität beruhenden Gesetzgebungsstaat haben sollte, da auch die Wahl ein plebiszitärer Vorgang geworden sei und nicht mehr die Wahl einer Elite. Das Parlament mit seiner jeweiligen Mehrheit selbst sei nur noch eine „plebiszitäre Zwischenschaltung“ (ebd.). So erscheint angesichts der Notverordnungspraxis der gegenwärtige „deutsche Staat in seiner Verfassungswirklichkeit als eine Verbindung von Verwaltungs- und Jurisdiktionsstaat, der auf der Grundlage und im Rahmen plebiszitär-demokratischer Legitimität als eine Verbindung von Verwaltungsund Jurisdiktionsstaat, der auf der Grundlage und im Rahmen plebiszitär-demokratischer Legitimität seine Art letzter Rechtfertigung findet“ (ebd.).

Diese Legitimität sei die einzige Art staatlicher Rechtfertigung, die heute allgemein als gültig anerkannt werde (LuL 93), fährt Schmitt fort, und vermutet hierin den Grund für die vorhandenen Tendenzen zum „autoritären Staat“ (ebd.).583 Das Volk könne im Plebiszit letztlich nur Ja oder Nein sagen, und infolge dieser Abhängigkeit in der Fragestellung setzten alle plebiszitären Methoden eine Regierung mit Autorität voraus, die den richtigen Zeitpunkt für die entsprechende Fragestellung anbahnen kann (vgl. LuL 93 f.), und das Vertrauen genießt – „eine sehr bedeutende und seltene Art von Autorität“ – diese Macht nicht zu missbrauchen (LuL 94). Doch in ungeklärten Übergangszeiten werde jede Regierung von plebiszitären Ja-Nein-Fragen absehen (LuL 95). Die Reichstagsauflösung vom 4. Juni 1932 wurde durch den Reichspräsidenten damit begründet, dass der Reichstag nach den Ergebnissen der vorherigen Landtagswahlen dem politischen Willen des deutschen Volkes nicht mehr entspreche. Die folgende Neuwahl ist für Schmitt mithin weder eine echte Wahl noch ein echtes Plebiszit; sie diene Regierung oder Parteien nur „als Supplement fehlender Legitimierung“ (ebd.). Die organisierten Träger des pluralistischen Systems könnten bei einem derartigen Zustand des Parteienstaates nur noch von Supplementen leben,

583 Diese Tendenz entspringe keiner restaurativen Sehnsucht, sondern sei in „der totalen Politisierung des gesamten menschlichen Daseins zu suchen“; es bedürfe einer stabilen Autorität, um die notwendigen Entpolitisierungen vorzunehmen und – aus dem totalen Staat heraus – wieder freie Lebensgebiete zu gewinnen (LuL 93).

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„da sie keine innere und eigene Autorität aufbringen“ (ebd.). Sie verweigern der Regierung Vertrauen wie Misstrauen und „finden eine Reihe von Zwischenbildungen wie ‚Billigen‘ oder ‚Tolerieren‘ als Ausdruck ihres Zwischenzustandes zwischen Staat und Partei. Sie geben kein Ermächtigungsgesetz, verlangen aber auch nicht Außerkraftsetzung der nach Art. 48 Abs. 2 ergangenen Verordnungen, sondern ziehen auch hier den Zwischenzustand vor“ (LuL 96; nachst. ebd.).

Ein pluralistischer Parteienstaat, diktiert Schmitt wie schon in Der Hüter der Verfassung, werde nur aus Schwäche „total“. Für alle Interessen notwendig offen, interveniert er in jedes Lebensgebiet. Vor der Sphäre der Ökonomie aber, darf er keinesfalls halt mache: „Ein Staat, der in einem ökonomisch-technischen Zeitalter darauf verzichtet, die ökonomische und technische Entwicklung von sich aus richtig zu erkennen und zu leiten, müßte sich gegenüber den politischen Fragen und Entscheidungen für neutral erklären und verzichtet damit auf seinen Anspruch zu herrschen“ (ebd.).

Kein Staat werde aber – so schwach er auch sei – seinen Anspruch zu herrschen aufgeben, und den Verzicht auf das Widerstandsrecht einfordern. Gerade aus Schwäche suche der Staat „unterschiedslos nach Legalisierungen, Legitimierungen und Sanktionen und bedient sich ihrer, wie er sie findet“ (ebd.). Immer stehe er „unter Zwang, den Augenblick der Macht auszunutzen und dem innenpolitischen Gegner zuvorzukommen: „Legalität und Legitimität werden dann taktische Instrumente, deren sich jeder bedient, wie es im Augenblick vorteilhaft ist, die er beiseite wirft, wenn sie sich gegen ihn selber richten, und die einer dem andern fortwährend aus der Hand zu schlagen sucht. Weder die parlamentarische Legalität, noch die plebiszitäre Legitimität, noch irgendein anderes denkbares Rechtfertigungssystem kann eine solche Herabwürdigung zum technisch-funktionalistischen Werkzeug überdauern“ (LuL 96/97).

Auch die Verfassung löse sich in ihre widersprechenden Bestandteile und Auslegungsmöglichkeiten auf, und keine Fiktion irgendeiner Einheit könne mehr verhindern, dass sich Parteien und Gegenparteien der für sie vorteilhaften Verfassungsstücke bedienten: „Legalität, Legitimität und Verfassung würden dann, statt den Bürgerkrieg zu verhindern, nur zu seiner Verschärfung beitragen“ (LuL 97; s. nachst. ebd.).

Das sei die Situation, in der die Frage nach einer Neugestaltung der Verfassung aufgeworfen werde. Dazu muss für Schmitt. eine Frage zuvörderst aufgeworfen und entschieden werden:

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V. Die Reichsexekution gegen Preußen (der „Preußenschlag“).

„Anerkennung substanzhafter Inhalte und Kräfte des deutschen Volkes oder Beibehaltung und Weiterführung der funktionalistischen Wertneutralität mit der Fiktion gleicher Chance für unterschiedslos alle Inhalte, Ziele und Strömungen“ (LuL 97).

Für Schmitt muss sich die Verfassung inhaltlich entscheiden, und nicht alle konfligierenden Klassen, Richtungen und Zielsetzungen in der Illusion belassen, dass sie legal auf ihre Rechnung kommen, legal ihr Parteiziel erreichen und alle ihre Gegner legal vernichten können (ebd.). Dann würde die Verfassung im kritischen Punkt ihre Bewährung wiederum versagen. „Stellt man nun, in der Erkenntnis, daß die Weimarer Verfassung zwei Verfassungen sind, eine dieser beiden Verfassungen zur Wahl, so muß die Entscheidung für das Prinzip der zweiten Verfassung und ihren Versuch einer substanzhaften Ordnung fallen. Der Kern des zweiten Hauptteils der Weimarer Verfassung verdient, von Selbstwidersprüchen und Kompromißmängeln befreit und nach seiner inneren Folgerichtigkeit entwickelt zu werden. Gelingt das, so ist der Gedanke eines deutschen Verfassungswerks gerettet“ (LuL 98).

Verharre man hingegen in einem neutralen Mehrheitsfunktionalismus, schließt Schmitt, „dann rächt sich die Wahrheit“ (ebd.). V. Die Reichsexekution gegen Preußen (der „Preußenschlag“). 1. Der Ablauf des „Preußenschlags“. Hatte die Regierung Brüning hart an der Grenze zum Verfassungsbruch agiert, war die Regierung Papen zum offenen Bruch der Verfassung bereit.584 Deutlich macht dies das Vorgehen beim sog. „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932, mit dem die geschäftsführende preußische Regierung Braun „durch ein staatsstreichartiges Manöver“585 wenige Tage vor der Reichstagswahl abgesetzt und v. Papen als Reichskommissar eingesetzt wurde. Zusätzlich hatte die Reichsregierung den militärischen Ausnahmezustand über Berlin und Brandenburg verhängt. Als Anlass für die Notverordnung v. Hindenburgs mittels „Blankounterschrift“586 diente der sog. „Altonaer Blutsonntag“. Zudem ließ man das falsche Gerücht einer Konspiration von SPD und KPD gegen die Reichsregierung zirkulieren und platzierte den

584 Marcowitz (2012, S. 108; s. nachst. S. 108 ff.). 585 Kolb/Schumacher (2013, S. 143). 586 Neumann (2015, S. 270).

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haltlosen Vorwurf, die preußischen Polizeibehörden hätten im Kampf gegen den politischen Radikalismus versagt. Ziel der Reichsexekution587 war es, die SPD aus der Regierung des größten Flächenstaates mit der höchsten Bevölkerungszahl zu entfernen und so den stärksten Polizeiapparat aller Länder befehligen zu können. Die Planungen zu diesem Schritt liefen seit Anfang Juli über v. Schleicher, Reichskanzler v. Papen und Reichsinnenminister v. Gayl.588 In einer Rundfunkrede begründete Papen seine Einsetzung als Reichskommissar bezeichnenderweise auch mit dem Vorwurf, die Regierung Braun sei nicht bereit gewesen, „die politische und moralische Gleichsetzung von Kommunisten und Nationalsozialisten aufzugeben“.589 Es sei kein Zufall, dass gerade in Preußen der Wahlkampf so große, blutige und schwere Auseinandersetzungen gezeitigt habe590, was, begründete v. Papen, auf die Angriffe kommunistischer Terrorgruppen zurückzuführen sei. In Wahrheit hatte allerdings die Aufhebung des Verbots von SA und SS durch die Reichsregierung am 16. Juni 1932 die Lage dramatisch verschärft.591

587 Art. 48 WRV lautet: „(1) Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. (2) Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. (3) Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen. (4) Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen. (5) Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.“ Dieses Gesetz ist nie ergangen. 588 Kolb/Schumacher (2013, S. 143). Gayl hatte bei einer Konferenz mit den süddeutschen Ministerpräsidenten zwar Gerüchte über eine Reichsexekution dementiert, gleichzeitig aber „die Zusammenfassung der Machtmittel des Reiches und Preußens für den Fall zugesagt, dass nach den Reichstagswahlen vom 31. Juli Unruhen ausbrechen“ (Marcowitz 2012, S. 109 f.). 589 Marcowitz (2012, S. 110). 590 Siehe Winkler (200 o Bd. I, S. 512). 591 Neumann (2015, S. 271 und 271 FN 527).

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V. Die Reichsexekution gegen Preußen (der „Preußenschlag“).

„Zwingende Gründe“592 sprachen dafür, dass weder SPD593 noch Gewerkschaften sich zu aktiven Widerstandsmaßnahmen entschließen konnten. In der frühen historischen Weimar-Forschung hatte Karl Dietrich Bracher den damaligen Akteuren vorgeworfen, sie hätten die letzte Chance zur Rettung der Republik verpasst, hätten zumindest ein Fanal setzen können.594 Dagegen stehen die Ausgangsbedingungen. Die preußische Polizei und das Reichsbanner hätten gegen die Reichswehr gestanden, die zu militärischem Einsatz bereit und entschlossen gewesen wäre. Einem militärischen Widerstand aber wäre das Reichsbanner auch psychologisch nicht gewachsen gewesen, und einen „Bürgerkrieg konnte die demokratische Linke im Sommer 1932 nur unter furchtbarsten Opfern verlieren“.595 Ein Generalstreik bei sechs Millionen Arbeitslosen wäre auch nicht auf große Kampfbereitschaft gestoßen und an eine aktionsfähige Einheitsfront zwischen SPD und KPD, welche die „sozialfaschistische“ SPD als Hauptgegner betrachtete, war nicht zu denken.596 „Mit dem 20. Juli schied die SPD als mitbestimmende Kraft der deutschen Innenpolitik aus; sie befand sich in den folgenden Monaten in vollständiger politischer Isolierung“.597

Zu bedenken sei aber, so Marcowitz, dass für die Zeitgenossen der „Preußenschlag“ keineswegs die Bedeutung hatte, die ihm aus heutiger Sicht zugesprochen wird. Medien und Bevölkerung hätten von den Vorgängen kaum Notiz genommen, auch weil eine Gleichschaltung von Preußen und Reich seit Monaten in der Luft gelegen hatte598 und v. Papen im-

592 Winkler (2000 Bd. I, S. 513). 593 Das Wahlergebnis vom 24. April 1932 legte offen, dass die Mehrheit der Bevölkerung der preußischen Regierung das Vertrauen entzogen und dem demokratischen Legitimitätsbewusstsein der SPD einen schweren Schlag versetzt hatte (Winkler 2000 Bd. I, S. 513). 594 Siehe dazu auch Kolb/Schumacher (2013, S. 264 ff.); a. A. Neumann (2015, S. 287). Goebbels notierte in seinem Tagebuch: „Die Roten haben ihre große Chance verpaßt. Die kommt nie wieder“ (Zit. nach Marcowitz 2012, S. 111). 595 Winkler (2000 Bd. I, S. 286). 596 Die KPD hatte sogar den von der Staatsregierung initiierten Volksentscheid gegen die Preußen-Regierung unterstützt (Kolb/Schumacher 2013, S. 143). 597 Ebd. S. 143. Die SPD erhoffte sich von ihrem strikten Legalitätskurs aber auch Stimmengewinne bei den anstehenden Reichstagswahl (Marcowitz 2012, S. 111). 598 Sogar in der staatsrechtlichen Literatur wurde schon vor dem 20. Juli 1932 über die Verfassungsmäßigkeit einer Reichsexekution in Preußen diskutiert (Neumann (2015, S. 272).

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merhin vorerst der NSDAP den Zugriff auf die Macht in Preußen verbaut hatte. Folglich prangerte die entmachtete preußische Regierung in Briefen an den Reichskanzler nur den klaren Verfassungsbruch an und beschritt den justizförmigen Weg zum Staatsgerichtshof. Der Vermeidung eines Bürgerkriegs den Vorrang gebend, hielt sich die SPD an das Gesetz, „nach dem sie 1918, bei der Gründung der ersten deutschen Republik, angetreten war“.599 2. Die Vorgeschichte. Die Regierung Preußens war seit 1920 von einer Koalition aus den demokratischen Parteien SPD, Zentrum und DDP getragen worden und galt deshalb als „Bollwerk der deutschen Republik“.600 Nach den Ergebnissen der Wahl zum Reichspräsidenten im März 1932 stand aber für die Landtagswahlen am 24. April 1932 ein starker Rechtsruck zu befürchten. Dass das preußische Recht die Wahl des Ministerpräsidenten mit einer relativen Mehrheit im zweiten Wahlgang zuließ, machte die politische Lage für die regierende Koalition noch prekärer.601 Um die Wahl eines Nationalsozialisten – wahrscheinlich Hermann Göring – zum Ministerpräsidenten zu verhindern, der dann ja das Machtpotenzial der preußischen Polizei und Justiz in Händen gehabt hätte, strich man am 11.4.1932 aus der Geschäftsordnung des Landtags eben die Möglichkeit der Wahl des Ministerpräsidenten mit relativer Mehrheit. Da nach dem Wahlergebnis für die Wahl des Ministerpräsidenten eine absolute Mehrheit – wie erwartet – für keine Seite möglich war, trat die Regierung Braun zurück, blieb aber geschäftsführend im Amt. 3. Zum Grundsatz der Diskontinuität. Im Parlamentsrecht gilt heute unstreitig der Grundsatz der Diskontinuität. Nach ihm endet die Geltungsdauer einer parlamentarischen Geschäftsordnung mit dem Ende der Legislaturperiode. Soll diese übernommen wer-

599 Winkler (2000 Bd. I, S. 514). 600 Winkler (2000, Bd. 1, S. 413). 601 Siehe Mehring (2015, S. 265; s. nachst. ebd. S. 266 f.).

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den, hat dies das neue Parlament zu beschließen. Sinn der Regelung ist, dass das neue Parlament nicht von Anfang an gebunden werden soll. Genau dieses aber war in Preußen möglich, obwohl der Diskontinuitätsgrundsatz im Preußischen Verfassungsrecht ebenso anerkannt war wie im Weimarer und für die Geschäftsordnung des preußischen Landtags galt. Nach der Änderung der Geschäftsordnung gab es für eine Wahl des Ministerpräsidenten mit relativer Mehrheit keine Rechtsgrundlage mehr. Der Antrag der Fraktion der Deutschnationalen, dass zunächst die alte Geschäftsordnung in der Fassung bis zum 11.4. 1932 weitergelten solle, wurde mit 212 zu 202 Stimmen abgelehnt. Die Klage der NSDAP-Fraktion – sie hatte vorgetragen, dass die Änderung der Geschäftsordnung mit dem Ziel erfolgt sei, einer bestimmten Partei den Zugang zum Amt des Ministerpräsidenten zu versperren, was den Grundsatz der „gleichen Chance“ verletze – ließ das Gericht dahinstehen, „weil der Landtag mit der Ablehnung des Antrags der Deutschnationalen sein Einverständnis mit dem Ausschluss der Stichwahl erklärt habe. Zu entscheiden war dann nur noch, ob der Ausschluss der Stichwahl mit der Preußischen Verfassung zu vereinbaren war“.602

4. Die Machtprämienlehre Carl Schmitts. Die Machtprämienlehre besagt, der Besitz der staatlichen Macht bewirke „einen zur bloß normativistisch-legalen Macht hinzutretenden zusätzlichen politischen Mehrwert, eine überlegale Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht“.603

Als Beispiel führt Schmitt die Möglichkeit einer parlamentarischen Mehrheit an, die gesetzlichen Wahlbedingungen für die nächste Wahl in ihrem Sinne und zum Nachteil der anderen Parteien zu ändern. Überträgt man diese Lehre auf die strittige Frage der Geschäftsordnungsänderung, hat die Landtagsmehrheit mit dem Beschluss vom 11.4.1932 dem politischen Gegner die gleiche Chance entzogen (ebd.). In einem zweiten Aufsatz argumentiert Schmitt:

602 Ebd. S. 267/268). Siehe hier die Ausführungen im Kapitel Legalität und Legitimität. 603 Mehring (2015, S. 268; Herv. im Original).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

„Der geschäftsführenden Regierung in Preußen hafte aufgrund des Vorgangs, den er als ‚staatsstreichähnlich‘ bezeichnet, ein ‚Makel‘ an. Die Korrektur der Legalität zugunsten politischer Parteien sei nicht nur moralisch anrüchig, sondern auch verfassungsrechtlich unzulässig, weil dadurch das ‚Existenz- und Gerechtigkeitsprinzip des parlamentarischen Legalitätssystems‘, die gleiche Chance, untergraben werde“.604

In seinem Schlussplädoyer vor dem Staatsgerichtshof wird Schmitt aber nur von einer Belastung der preußischen Regierung mit dem „Odium“ bzw. dem „Kunstgriff“ vom 11.4.1932 sprechen. In einem mit Huber verfassten Aufsatz hingegen ist dann wieder von einem „Verstoß gegen die Grundlagen der verfassungsmäßig festgelegten demokratischen Ordnung und eine Vernichtung des Prinzips der gleichen Chance“ die Rede, die Aktion sei „eine Illegalität“ gewesen.605 Der Staatsgerichtshof teilte diese Auffassung keineswegs, sondern stellte unmissverständlich fest, dass der Änderungsbeschluss „keine Ausschaltung einer Verfassungsvorschrift bewirkt hat“. Der Ausschluss der Stichwahl habe lediglich bewirkt, dass die Notwendigkeit zur Verständigung der Landtagsfraktionen untereinander verstärkt worden sei. Auch könne aus dem demokratischen Gleichheitssatz nicht abgeleitet werden, dass die Bedingungen einer Regierungswahl durch ein Parlament stets unverändert zu bleiben hätten, weil, so Neumann, Änderungen des Wahlrechts, die nicht von allen Fraktionen gemeinsam beschlossen würden, ansonsten den „Grundsatz der gleichen Chance“ verletzten. Da der Gleichheitssatz nur gleiche Bedingungen für alle Parteien verlange, sei dies mit dem Ausschluss der Stichwahl offenbar der Fall gewesen.606 5. Schmitts staatsrechtliche Würdigung des „Preußenschlags“. Für eine direkte Beteiligung Schmitts – „Traurig, daß ich nicht dabei war“ (TB III 201) – an der Preußenaktion selbst finden sich keine Belege, 607 auch wenn er persönlich ein Befürworter von Maßnahmen gegen Preußen war.608 Seiner Schrift Legalität und Legitimität hatte er ja vorangestellt:

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Ebd. Neumann (2015, S. 268/269). Siehe ebd. S. 269. Zu weiteren Meinungen s. ebd. S. 269 f.. A.A. Bracher (s. Neumann 2015, S. 272).Ernst Rudolf Huber geht davon aus, dass Schmitt in das Vorhaben eingeweiht gewesen war (Huber 1988, S. 37). 608 Siehe Neumann (2015, S. 272).

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„Diese Abhandlung lag am 10. Juli 1932 abgeschlossen vor.“ In ihr hatte Schmitt die Machtprämienlehre in einem tagesaktuellen politischen Kontext erläutert. Sprächen sich die Parteien gegenseitig die legale Gesinnung ab, so müsse die aktuell Regierende die Machtprämie rücksichtslos ausspielen, um die Tür der Legalität für den politischen Gegner zu versperren, bevor dieser es tue. Erläutert wird dies anhand der Auseinandersetzung um die Änderung der Geschäftsordnung des Preußischen Landtags. Auch das Institut eines geschäftsführenden Ministeriums sei nicht mehr praktizierbar, „weil die interparteiliche Illoyalität gegenüber der Legalität die Unterscheidung zwischen ‚laufenden‘ und ‚allen‘ Geschäften nicht mehr zulasse“. Diese ‚Bestandsaufnahme‘ legt den Schluss nahe, dass nur noch die Alternative einer gewaltsamen Lösung des politischen Konflikts, also des Bürgerkriegs, oder der Intervention einer ‚überparteilichen Instanz‘ besteht“.609

Als v. Papen in einer Ministerbesprechung am 25. Juli 1932 Schmitt als einen der Prozessvertreter des Reiches im Verfassungsstreitverfahren vor dem Staatsgerichtshof bekannt gab und zugleich ankündigte, ein Aufsatz Schmitts, der das Verhalten der Reichsregierung als rechtmäßig bewerte, würde in Kürze erscheinen, war Schmitt im Auftrag v. Schleichers bereits für die Regierung tätig und hatte ein Team der Prozessvertretung mit ihm, Carl Bilfinger und Erwin Jacobi gebildet und die Prozessstrategie vorbesprochen.610 Schmitt war nun „der wichtigste Anwalt des Reiches im wichtigsten politischen Prozess der Weimarer Republik. Es ist der Höhepunkt seiner öffentlichen Wirksamkeit vor 1933“.611

Der avisierte Aufsatz erschien wenige Tage nach der Preußenaktion unter dem Titel Die Verfassungsmäßigkeit der Bestellung eines Reichskommissars für das Land Preußen. Das Ergebnis seiner staatrechtlichen Prüfung war damit vorweggenommen. Die Verordnung des Reichs sei mit Art. 48 Abs. 1 und 2 WRV gerechtfertigt. 612 Schmitt begründete, dass einmal die Diktaturgewalt nach Abs. 2 die Ausübung von Landesstaatsgewalt auf Anweisung des Reichspräsidenten sei und zweitens die Reichsexekution nach Abs. 1 die reichsverfassungsrechtliche Befugnis einschließe,

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Neumann (2015, S. 273; s. nachst. ebd.). Siehe a. Seiberth (2001, S. 97 ff.). Mehring (2009, S. 293). Herv. im Original.

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„einen Zwang auszuüben, durch welchen eine bestimmte Art der Ausübung von Landesstaatsgewalt unmittelbar von Reichs wegen herbeigeführt werden soll“.613

Beide Befugnisse seien also „auf der Rechtsfolgeseite Ausübung von Landesstaatsgewalt auf Anweisung des Reichs.614 Auf der Tatbestandsseite könne der gleiche Sachverhalt sowohl von Art. 1 wie auch von Art. 2 erfüllt werden, weil in einer „Bürgerkriegssituation“ ein offener politischer Gegensatz zwischen Landes- und Reichsregierung beide Tatbestände erfülle. Die Beurteilung der Gesamtlage und das Treffen geeigneter Maßnahmen sei eine „Tat- und Ermessensfrage“, im Konfliktfall aber müsse die „Vermutung verfassungsmäßiger Ziele und loyaler Gesinnung in vollem Umfange der von dem überparteilichen Reichspräsidenten ernannten Reichsregierung zugute“ kommen. Schmitt stellt weiterhin die Behauptung auf, dass die „Vermutung, solange das Reich besteht, immer noch für den zuständigerweise vorgehenden Reichspräsidenten“ spreche, der mit den Mitteln des Art. 48 WRV die Einheit des Reiches gegen den pluralistischen Parteienstaat wahren müsse. Weil die eigentlichen Streitparteien „nicht Reich gegen Preußen oder Reich gegen Länder, sondern Reich und Staat gegen Partei und Fraktion“ seien, folgert Neumann, im Ergebnis heiße dies, dass die Entscheidung des Reichpräsidenten der gerichtlichen Überprüfung entzogen sei.615 Diese Prozesslinie verfolgte Schmitt im Prozess vor dem Staatsgerichtshof: „Die ursprünglich staatsstreichartigen, ‚systemsprengenden Absichten‘ müssen verleugnet und die verfassungskonformen Züge betont werden“.616

Außerdem sei immer wieder der Vorrang des Reiches zu betonen, denn ein Land sei immer nur ein Glied des Deutschen Reiches. In der Frage der Voraussetzungen und Befugnisse der Diktaturgewalt des Art. 48 Abs. 2 WRV stützte Schmitt sich auf Positionen, die er vor der Vereinigung der Staatsrechtslehrer in Jena 1924, im Der Hüter der Verfassung und im genannten DJZ-Aufsatz erarbeitet hatte. Schmitt konzedierte, dass es diktaturfeste Verfassungsnormen gebe und stellte dann die Frage, 613 Schmitt, DJZ 37 (1932), Sp. 955, hier zit. in Neumann (2015, S. 273/274). 614 Neumann (2015, S. 274; s. nachst. ebd.). 615 Mit diesem Argument – zur Frage nach den Grenzen der gerichtlichen Überprüfung des Ermessens – stand Schmitt keineswegs allein oder isoliert s. (ebd. S. 276 f.). 616 Mehring (2009, S. 292; s. nachst. ebd.).

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ob dies für die Art. 17, 63 und 129 WRV gelte. Diese Frage sollte für den Prozessausgang wichtig werden.617 Sie wurde für Art. 17 WRV klar, für Art. 63 WRV im Ergebnis verneint.618 Im Verfahren war versucht worden, die Stellung und die Person des Reichspräsidenten Hindenburg im Prozessverfahren nicht zu behandeln, der als letzte Säule der staatlichen Ordnung der Republik galt. Schmitt jedoch zielte in seinem Schlussplädoyer genau in diese offene Wunde und stellte eine Frage nur sich selbst: „Wo ist dieses alles, die Dignität und die Ehre Preußens besser aufgehoben? Bei den am 20. Juli ihres Amtes enthobenen geschäftsführenden Ministern, die nur noch dank dem Kunstgriff vom 12. April noch geschäftsführende Minister waren (Zuruf: Situationsjurisprudenz), oder bei dem Reichspräsidenten von Hindenburg?“ (PuB 184).619

6. Das Urteil des Staatsgerichtshofs vom 25. Oktober 1932. Bei der Frage der Zulässigkeit von drei Antragsgruppen, die der Staatsgerichtshof gegliedert hatte, wurden nur die Anträge der ersten Gruppe für zulässig erachtet, die sich unmittelbar gegen die Verordnung vom 20. Juli 1932 richteten.620 Bei der Begründetheitsprüfung stellten die Richter zunächst fest, dass die Verordnung den Reichskommissar ermächtigt habe, preußische Staatsminister endgültig ihres Amtes zu entheben, stellten aber umgehend infra617 Vgl. Neumann (2015, S. 275). 618 Art. 17 WRV lautet: „1) Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben. Die Volksvertretung muß in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung. (2) Die Grundsätze für die Wahlen zur Volksvertretung gelten auch für die Gemeindewahlen. Jedoch kann durch Landesgesetz die Wahlberechtigung von der Dauer des Aufenthalts in der Gemeinde bis zu einem Jahre abhängig gemacht werden.“ Und Art. 63 WRV lautet: „(1) Die Länder werden im Reichsrat durch Mitglieder ihrer Regierungen vertreten. Jedoch wird die Hälfte der preußischen Stimmen nach Maßgabe eines Landesgesetzes von den preußischen Provinzialverwaltungen bestellt. (2) Die Länder sind berechtigt, so viele Vertreter in den Reichsrat zu entsenden, wie sie Stimmen führen. 619 Der Zwischenruf „Situationsjurisprudenz“ kam von Hermann Heller. Auch der Reichsgerichtspräsident Bumke war wegen des politisch jedenfalls schlagkräftigen Arguments Schmitts gereizt (s. Neumann 2015, S. 276 FN 555). 620 Siehe Neumann (2015, S. 277; s. nachst. S. 278).

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ge, ob diese weite Ermächtigung mit der Verfassung vereinbar sei. Als Erstes wurde die Reichsexekution des Art. 48 Abs. 1 WRV geprüft. Das Gericht stellte klar, dass die Frage, ob ein Land seine Pflichten gegenüber dem Reich erfüllt habe, keine reine Ermessensfrage, mithin gerichtlich überprüfbar sei.621 Bei der Prüfung, ob eine Pflichtverletzung vorliege, wurde klar im Sinne Preußens entschieden: Preußen habe gegenüber dem Reich keine ihm obliegende Pflicht verletzt. Im zweiten Schritt wurde Art. 48 Abs. 2 WRV geprüft. Offenkundig sei, so der Tenor, „dass die Verordnung vom 20. Juli 1932 in einer Zeit schwerer Störung und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlassen worden ist“. Damit seien die Voraussetzungen für ein Eingreifen aufgrund des Art 48 Abs. 2 WRV ohne Weiteres gegeben. Auch sei die Zwecksetzung des Artikels nicht überschritten, so dass auch kein Fall des Ermessensmissbrauchs vorliege: „Den Vortrag Preußens, der Aktion hätten Absprachen des Reichskanzlers mit den Nationalsozialisten zugrunde gelegen, sehen die Richter durch Erklärungen Papens im Prozess als widerlegt an“.622

Auch Ermessensüberschreitungen über den Zweck der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinaus seien nicht ersichtlich. Der Reichspräsident habe nach pflichtgemäßem Ermessen zu der Auffassung gelangen dürfen, in Preußen eingreifen zu müssen. Damit aber, fährt Neumann fort, war die Verordnung vom 20. Juli 1932 noch nicht gerechtfertigt, weil der Reichspräsident grundsätzlich an alle Bestimmungen der Verfassung gebunden sei.623 Das Gericht habe sich damit an die herrschende Lehre von der Unantastbarkeit der Reichsverfassung angeschlossen. Unstrittig war die Ausnahme von dieser Bindung für die sieben Grundrechte in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 WRV. Die zweite Ausnahme bildeten für das Gericht Normen, die lediglich Zuständigkeiten im Verhältnis von Reich und Ländern regeln. Daneben existierten für das Gericht Bestimmungen, die nicht lediglich Zuständigkeiten abgrenzen und an die der Reichspräsident gebunden bleibt – das sind die Art. 17, 60, 63 WRV – wozu vor allem die Vertretung der Länder im Reichsrat gehört. So gelangt das Gericht zu folgendem Ergebnis:

621 Zur Begründung s. Neumann (2015, S. 278). 622 Ebd. S. 278; s. nachst. S. 279. 623 Ebd. S. 279; s. nachst. ebd.

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„Die Verordnung ist unter dem Gesichtspunkt einer bloßen Zuständigkeitsverschiebung innerhalb der erläuterten Grenzen gerechtfertigt, d.h. die Zuständigkeit der Landesregierung durfte von einem Reichsorgan wahrgenommen werden. Aber die Landesregierung muss bestehen bleiben, und das heißt, dass ihr die Vertretung des Landes gegenüber dem Reich, insbesondere im Reichsrat und Reichstag sowie gegenüber anderen Ländern belassen werden muss“.624

Die Judizierung des Staatsgerichtshofs, die Voraussetzungen des Art. 48 Art. 1 WRV lägen nicht vor, ist als Sieg Preußens zu verbuchen, ebenso wie die Entscheidung, dass die Preußenregierung weiter bestehe und nur einzelne Zuständigkeiten von einem Reichskommissar ausgeführt würden.625 Schmitt habe diesen Ausgang des Verfahrens zunächst als eine deprimierende Niederlage bewertet. Machtpolitisch habe sich aber in entscheidenden Punkten die Reichsregierung durchgesetzt, und so resümierte Huber, „dass das Urteil (…) der Kommissionariatsregierung die eigentlichen Machtbefugnisse der Exekutive vorbehielt, während das restituierte Preußen-Kabinett auf die sogenannten ‚Hoheitsbefugnisse‘ beschränkt war, die der Sache nach nichts als bloße ‚Ehrenfunktionen‘ ohne effektiven Machtgehalt waren“.626

Dieser Bewertung schloss sich im Ergebnis auch Jellinek an. Allerdings ist das Urteil wegen der grundsätzlichen Anerkennung eines richterlichen Prüfungsrechts auch als eine Schwächung des Präsidialsystems zu lesen, könne doch die Diktaturgewalt nicht mehr uneingeschränkt ausgeübt werden.627 Huber sieht den eigentlichen Prozesserfolg Schmitts in einer Vorbehaltsklausel des Leipziger Urteils: „Sollte die wiedereingesetzte ‚Hoheitsregierung‘ sich künftig einer Verletzung der Landespflichten gegenüber dem Reich, insbesondere einer Überschreitung der ihr durch das Urteil entzogenen Zuständigkeitsschranken schuldig machen, werde der Reichspräsident über die Diktaturgewalt hinaus zur Reichsexekution und damit zur vollen Übernahme aller preußischen Regierungsfunktionen auf das Reicht befugt sein“.628

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Ebd. S. 279, mit Verweis auf StGH, RGZ 138 Anhang S. 1 (36-39). Neumann (2015, S. 286; s. nachst. ebd.). Huber (1988, S. 45). Mehring (2009, S. 295). Ebd.; s. nachst. ebd.

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Die Drohung einer allfälligen Pflichtverletzung gegenüber dem Reich, so folgert Huber, habe der „Hoheitsregierung“ lähmende Fesseln angelegt. Winkler kommt zu dem Schluss, das Urteil wäre – „wie immer man die Dinge drehen und wenden mochte“ – eine Niederlage der Reichregierung, was aber nicht dasselbe bedeute, wie es ein Sieg des alten preußischen Kabinetts wäre, und zitiert einen Kommentar des Vorwärts: „Der Staatsgerichtshof ist dem schweren Konflikt mit dem Reich ausgewichen, der sich ergeben hätte, wenn er den Anspruch der preußischen Regierung in vollem Umfang anerkannt haben würde (…). Sein Urteil ist das Gegenteil eines salomonischen: es hat das strittige Kindlein fein säuberlich in zwei Hälften zerlegt und jeder der streitenden Mütter je eine Hälfte zuerkannt (…). Wie sich das praktisch auswirken wird und soll, wissen die Götter“.629

Erste Auswirkungen zeigten sich bald. Der Preußen-Schlag diente als Vorbild für die gewaltsame „Gleichschaltung“ der Länder durch die Nationalsozialisten.630 VI. Carl Schmitt als Akteur in der Endphase Weimars. Zum privaten Carl Schmitt gibt es – etwa zur Konstanz seiner Frauendilemmata – wenig Neues zu berichten. Neben seiner immer wieder kränkelnden Ehefrau Duska hat er eine feste Geliebte, von deren Existenz die Ehefrau weiß, denn sie „sprechen sich aus“.631 Kurze Zeit später beendet Schmitt aber diese Beziehung. Näheres ist für unsere Arbeit weder notwendig noch zielführend. Wer dem nachspüren will, sei auf die Tagebücher verwiesen. 1. In der Nähe der Macht. Carl Schmitt hatte, obwohl er als Teilnehmer ins staatliche Entscheidungszentrum drängte, bis zum Herbst 1932 „vergleichsweise wenig beraterischen Einfluss“ und er wurde – anders als seine Mentoren van Calker und am Zehnhoff – auch kein einflussreicher Politiker.632 Mit Der Hüter der

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Winkler (2000 Bd. I, S. 525). Stolleis (2002, S. 122). Mehring (2015, S. 283, s. S. 283 f.). Mehring (2009, S. 281).

VI. Carl Schmitt als Akteur in der Endphase Weimars.

Verfassung war er jedoch zu einem gefragten Gesprächspartner und Ratgeber avanciert und hatte engere Kontakte insbesondere zur Wehrmachtsabteilung, dem politischen Zentrum der Reichswehr.633 Über am Zehnhoff wurde Schmitt auch in die Ministerialbürokratie eingeführt und 1928 lernte er auch Brüning kennen. Seit 1928 in Berlin vor Ort bewegte sich der Staatsrechtswissenschaftler fast zwangsläufig „in Kreisen der politischen Elite“ und wurde um gutachterlichen Rat gefragt: „Allerdings fand er nur langsam Zugang und hatte bis zum Herbst 1932 vergleichsweise wenig beraterischen Einfluss“.634

Nach unspektakulären Gutachten u.a. für die Regierung Müller im Januar 1930, lernte er über den Historiker Horst Michael die engen Mitarbeiter Kurt von Schleichers, die Majore Eugen Ott und Erich Marcks jun., kennen, die auch die engsten Kontaktpersonen zu den späteren Reichskanzlern Franz von Papen und Schleicher blieben.635 Ein engeres persönliches Verhältnis zu Brüning, Papen, Schleicher und v. Hindenburg entwickelte sich nicht. Schmitt bewegte sich nur „im ‚Vorhof‘ der Macht, in den Planungsstäben“.636 Ende April 1932 erhält Schmitt überraschend eine erste Anfrage der Universität Köln als Nachfolger des verstorbenen Stier-Somlo: „Als er endlich im präsidialen Machtzentrum ankommt, bietet sich ihm die Alternative einer Rückkehr an die Universität“.637

Obwohl der Kölner Oberbürgermeister Adenauer Bedenken gegen den Ruf Schmitts wegen dessen „schwierigen Charakters“ anmeldet, setzt ihn das Universitätskuratorium gleichwohl an die erste Stelle der Bewerberliste. Der Ruf erfolgt Anfang August. Bei einem Gespräch mit Adenauer hatte Schmitt auch angesprochen, dass ein Wechsel zum Wintersemester wegen des Preußen-Prozesses nicht infrage komme. Am 5. Oktober unterschreibt er eine Vereinbarung über den Ruf nach Köln zum Sommersemester 1933, im Wintersemester wird er noch an der Handelshochschule lehren. Neben dem Gehalt638 locken

633 Siehe Berthold (1999; S. 32). 634 Ebd.; zur politischen Betätigung der Staatsrechtswissenschaftler s.a. Stolleis (2002, S. 120 f.). 635 Siehe Mehring (2009, S. 282). 636 Ebd. 637 Mehring (2009, S. 287). 638 15.000 RM Grundgehalt plus 12.000 RM Kolleggarantie pro Jahr.

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

„die Universität, die Konkurrenz mit Kelsen, die akademische Muße, neue pädagogische Wirkung, der Abstand von den chaotischen Jahren im ‚Malstrom‘. Er blickt wohl auch auf die Berliner Universität voraus, das Endziel jedes ‚Kronjuristen‘“.639

Worauf er vermutlich schon bei seinem Wechsel an die Handelshochschule Berlin geblickt hatte. 2. Staatsnotstandspläne. Nach einem Tagebucheintrag von Graf Kessler, sei Schmitt zu diesem Zeitpunkt politisch nicht sehr optimistisch gewesen und habe sich mit einem Sieg der Nazis abgefunden,640 setzte aber auch nach den Wahlen vom 31. Juli 1932 noch auf die Institution des Präsidialsystems, auch wenn er um dessen prekäre Lage gewusst habe.641 An dem juristischen Teil der Entwürfe für den September-Notstandsplan Papens arbeiten Schmitt und Huber mit.642 Irritierend ist, dass sich Schmitt nun nach Plettenberg zurückzieht und Huber damit beauftragt, die rechtstechnische Formulierung präsidialer Notverordnungen und eines rechtfertigenden Aufrufs des Reichspräsidenten an die Nation zu formulieren.643 Mehring fährt fort: „Dass er dem jungen Huber die direkte Beteiligung überlässt und sich nach Plettenberg zurückzieht, lässt sich als Zumutung, Vorsicht oder auch Handlungslähmung deuten“.644

Der Notstandsplan sah die Auflösung des arbeitsunfähigen Parlaments, die Verschiebung der dann notwendigen Neuwahl auf unbestimmte Zeit vor, während der mit dem – der parlamentarischen Kontrolle entzogenen – Notverordnungssystem regiert werden sollte. Zur Sicherung der Macht

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Mehring (2009, S. 296). Ebd. S. 287. Ebd. S. 290; s. nachst. S. 290 f. Zum Thema Staatsnotstandsplan s. Berthold (1999). Siehe zu „Staatsnotstand“ (Marcowitz 2012, S. 117). 643 Siehe Huber (1988, S. 40). Papen erklärte in ihr am 12. September 1932 über den Rundfunk die Notwendigkeit einer Verfassungsreform, weil „das System der formalen Demokratie im Urteil der Geschichte und in den Augen der deutschen Nation abgewirtschaftet hat und (…) es nicht mehr zu neuem Leben erweckt werden kann“ (Marcowitz 2012, S. 117),. 644 Mehring (2009, S. 291).

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VI. Carl Schmitt als Akteur in der Endphase Weimars.

sollte die Polizeigewalt der Länder unter die Oberhoheit des Reichs gestellt werden; das Verbot von KPD und NSDAP wurde in Erwägung gezogen. Oberstleutnant Ott hatte am 14. September den Staatsrechtlern Schmitt, Bilfinger und Jacobi die Frage vorgelegt, ob die Verschiebung der Neuwahlen staatsrechtlich zu decken sei. Laut Aktennotiz wurde dies von allen dreien bejaht: „Wenn Verschiebung der Neuwahl gestützt wird auf Verfassungseid (Schaden vom Volke abzuwenden) und begründet wird mit der schweren gegenwärtigen Notlage des deutschen Volkes, das unbedingt Ruhe braucht, so entsteht echtes Staatsnotrecht“.645

Folgt man der Analyse Bertholds, war Schmitt zu diesem Zeitpunkt ein Befürworter des Notstandsplans und auch in die konkreten juristischen Aspekte des Parteienverbots involviert.646 Der Notstandsplan erhielt bei einer Konferenz in Neudeck am 30. August 1932 das Placet v. Hindenburgs.647 Am 12. September 1932 war die zweite Reichstagssitzung anberaumt, deren einziger Tagesordnungspunkt die Abgabe einer Regierungserklärung Reichskanzler Papens war. Sie verlief gänzlich anders denn erwartet. Gleich zu Beginn wurde ein Antrag auf Änderung der Tagesordnung gestellt, dem nicht widersprochen wurde: die Stimme eines Abgeordneten hätte dazu genügt.648 Infolge taktischer Fehler kam es nach einer Sitzungsunterbrechung plötzlich zu einem Zusammenwirken von NSDAP und KPD, was Papen völlig überrumpelte. Dieser musste sich nun zuerst die Blanko-Order zur Reichstagsauflösung kommen lassen – die v. Hindenburg noch ohne Datum ausgestellt hatte. Als sie endlich verfügbar war, ignorierte Reichstagspräsident Göring schlicht die Wortmeldungen des Reichskanzlers und ließ über zwei Anträge der KPD namentlich abstimmen, 512 Abgeordnete hatten mit Ja, 42 mit Nein gestimmt und 5 hatten sich enthalten – die kommunistischen Anträge waren angenommen. Dass die Abstimmung ungültig war, weil der Reichstag bereits aufgelöst war, geriet zur Nebensache. Es blieb die Tatsache, dass mehr als vier Fünftel der Abgeordneten der Regierung v. Papen wegen v. Papens

645 Berthold (1999, S. 33). 646 Siehe Berthold (1999, S. 34). 647 Siehe Huber (1988; bes. 1988, S. 41 f. und S. 47 f.). Anwesend waren in Neudeck neben Hindenburg: Papen, Gayl und Schleicher (s. Winkler 2000 Bd. I, S. 519 ff.). 648 Zu den einzelnen Anträgen s. Winkler (2000 Bd. I, S. 521).

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Schludrigkeit das Misstrauen ausgesprochen hatten. Was Wunder, wenn Schmitt zum 12.9.1932 im Tagebuch vermerkt: „Ott kam nachher vorbei, sehr aufgeregt. Wut über den dummen Papen“.649 Mit v. Papens Notstandsplan waren auch Schmitts Bemühungen geplatzt. Seine Pläne zu einer Verfassungsreform hatte v. Papen gleichwohl noch nicht aufgegeben. Die Münchner Neuesten Nachrichten vermelden, Schmitt sei mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beauftragt. Schmitt notiert: „Um 7 kam Ott, soll Dienstag zu Papen, will Verfassungsentwurf, erschrak vor der Aufgabe, fühlte mich aber sicher und kompetent bei Staatsgesetzen“ (TB III 29.5.1932).

Bei dem Gespräch mit v. Papen, den er als „freundlich, höflich, bescheiden, angenehm“ empfindet, will dieser nun doch v. Gayl und Kettner beiziehen. „Ich war innerlich ganz gleichgültig“, konstatiert Schmitt im Tagebuch (TB III 28.9.1932). Dass die Verfassungspläne mit Innenminister v. Gayl in die Hände restaurativer Ideologien übergehen, widerspricht ihm, und nur ganz zögerlich macht er sich an die Arbeit. Doch erledigt sich das Thema schnell, weil die Reichstagsauflösung Neuwahlen erzwang und Papen Rücksicht auf den Preußen-Prozess zu nehmen hatte. Er musste „auf eine Verschiebung der Neuwahlen, wie es der Notstandsplan vorsah, ebenso verzichten wie auf die Verfassungsreform, die doch sein zentrales Vorhaben ist. Schmitts große Pläne – Notstandsplan und Verfassung – verlaufen im märkischen Sand“.650

Am 17. November tritt v. Papen zurück und bleibt nur noch geschäftsführend im Amt. Ob dieses Autoritätsverlustes rückte Schmitt von einer Umsetzung des Notstandsplanes unter v. Papen offensichtlich gänzlich ab.651 Schmitt hält in der Folge etliche Vorträge, auf die wir im Rahmen dieser Arbeit im Einzelnen nicht eingehen können. Aber als Grundtenor lässt sich festhalten, dass mit der Beerdigung der Verfassungsreformpläne Raum geschaffen wurde, für eine pragmatischere Betrachtung der krisengeschüttelten Republik und ihrer Verfassungswirklichkeit:652

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Mehring (2009, S. 291). Mehring (2009, S. 292). Berthold (1999, S. 34). Vgl. Seiberth (2001, S. 239).

VI. Carl Schmitt als Akteur in der Endphase Weimars.

„Wir brauchen zuerst einmal einen starken, handlungsfähigen, seinen großen Aufgaben gewachsenen Staat. Haben wir ihn, so können wir neue Einrichtungen, neue Institutionen, neue Verfassungen schaffen“ (SGN 83).

3. Die Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland (1933). Zu diesem starken, dem „totalen Staat“ zählt Schmitt auch die Verfügungsgewalt über die modernen Massenbewegungen.653 Wir befassen uns kurz mit diesem Aufsatz Schmitts. Bereits 1931 hatte Schmitt in dem Aufsatz Die Wendung zum totalen Staat654die These aufgestellt, dass der „totale Staat“ zur „Selbstorganisation der Gesellschaft“ werde, wenn die dualistische Konstruktion von Staat und Gesellschaft, Regierung und Volk ihre Spannung verloren habe (PuB 151).Nunmehr, so schildert Schmitt die Lage im Jahr 1933, habe der Staat in alle menschlichen Bereiche interveniert und seine Aktivitäten exzessiv ausgeweitet. Unfähig sei er, „Nein zu den Interventionsansprüchen der Parteien und pluralistischen Gruppen zu sagen“.655 Heute herrsche in Deutschland noch eine weitgehende „Preßfreiheit“, an eine Zensur denke man noch nicht; aber Schmitt warnt: „Auf die neuen technischen Mittel. Film und Rundfunk, dagegen muß jeder Staat selbst die Hand legen. (…) Kein Staat kann es sich leisten, diese neuen technischen Mittel der Nachrichtenübermittlung, Massenbeeinflussung, Massensuggestion und Bildung einer ‚öffentlichen‘, genauer: kollektiven Meinung einem anderen zu überlassen“ (PuB 186).

Schmitt sieht den Staat durch die neuen Medien der Massenbeeinflussung gefährdet. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Schmitt seine Warnung auf die vollkommen neue und den liberalen Weltanschauungsparteien haushoch überlegene Wahlpropaganda der NSDAP in den Wahlkämpfen des Jahres 1932 bezogen.656 Deshalb integriert Schmitt diese Erkenntnis in seinen Begriff des „totalen Staates“:657

653 Siehe Schmitts Aufsatz Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland vom Januar 1933 (PuB 185-190). 654 Siehe (PuB 146-157). 655 Quaritsch (1991, S. 40). 656 Dazu ebd. S. 41 ff. 657 Zu beachten ist, dass Schmitt sowohl den pluralistisch geschwächten wie auch den autoritär starken als „totalen Staat“ bezeichnet, wahrlich „kein begrifflicher Volltreffer“ (Quaritsch 1991, S. 41).

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„Hinter der Formel vom totalen Staat steckt also die richtige Erkenntnis, daß der heutige Staat neue Machtmittel und Möglichkeiten von ungeheurer Intensität hat, deren letzte Tragweite und Folgewirkung wir kaum ahnen, weil unser Wortschatz und unsere Phantasie noch tief im 19. Jahrhundert stecken“ (PuB 186).

Der „totale“ sei in diesem Sinne der autoritär starke Staat, definiert Schmitt, der in seinem Inneren keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen und die neuen Machtmittel seinen Feinden überlässt, um seine Macht unter Verwendung irgendwelcher Stichworte – Liberalismus, Rechtsstaat oder anderen – untergraben zu lassen. Ein solcher Staat könne Freund und Feind unterscheiden (s. ebd.): „In diesem Sinne ist, wie gesagt, jeder Staat ein totaler Staat; er ist es, als eine societas perfecta der diesseitigen Welt, zu allen Zeiten gewesen; seit langem wissen die Staatstheoretiker, daß das Politische das Totale ist, und das Neue sind nur die neuen technischen Mittel, über deren politische Wirkungen man sich klar sein muß“ (PuB 186).

Der Gegensatz zum Schmittschen „totalen Staat“ ist der 1933 vorherrschende Staat, der sich unterschiedslos in alle Sachgebiete des menschlichen Daseins eingemischt hatte und deshalb keine staatsfreie Sphäre mehr kennt, weil er nichts mehr unterscheiden kann: „Er ist total in einem rein quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität und der politischen Energie“ (PuB 187).

Gemeint ist damit natürlich der pluralistische Parteienstaat Weimars, der „diese andere Art des totalen Staates entwickelt“ hat. Sein Volumen ist, so beschreibt ihn Schmitt, durch seine exzessive Interventionstätigkeit in alle möglichen Gebiete menschlichen Daseins ungeheuer ausgedehnt – was jedoch keineswegs ein Zeichen der Stärke sei: „Der heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit, aus der Unfähigkeit heraus, dem Ansturm der Parteien und der organisierten Interessen standzuhalten“ (PuB 187).

Näher betrachtet, konkretisiert Schmitt, habe der pluralistische Parteienstaat in Deutschland diese Art des totalen Staates entwickelt. Eigentlich habe man in Deutschland keinen totalen Staat, sondern eine Mehrzahl totaler Parteien, die die Menschen von der Wiege bis zur Bahre total politisieren und so „die politische Einheit des deutschen Volkes parzellieren“ (ebd.). Die alten liberalen Meinungsparteien würden zwischen den totalen Parteien, die alle ihre je eigene Totalität durchzusetzen versuchten, zerrieben.

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Im Nebeneinander dieser totalen Parteiengebilde, die über das Parlament den Staat beherrschen und ihn, solange es pluralistische zugehe, zum Objekt ihrer Kompromisse machen, sieht Schmitt die Ursache „jener merkwürdigen quantitativen Ausdehnung des Staates“ (PuB 188). Zwischen den Staat mit seiner Regierung und der Masse der Staatsbürger haben sich für ihn mehrere totale Parteien – in pluralistischem Nebeneinander – platziert, die das Monopol der Politik handhaben: „Aller politischer Wille, alle Umschaltung der Interessen, die es selbstverständlich geben muss, in den Staatswillen, ist auf den Weg über einen Parteiwillen angewiesen“ (ebd.).

Nur sei eben an die Stelle der alten liberalen Meinungspartei die aktivistische Partei getreten, die alle Institutionen des Staates als Instrument ihrer Aktion benutze und so „auch die bisher liberalen Parteien zu dieser verfassungszerstörenden Wandlung“ zwängen: „Der Zwang, sich ihrem politischen Monopol zu unterwerfen, unter dem heute jedes Lebensgebiet und jede größere Menschengruppe in Deutschland steht, verändert und verfälscht alle Einrichtungen der Weimarer Verfassung. Wichtiger als jedes wirtschaftliche Monopol ist dieses politische Monopol einer Reihe von starken politischen Organisationen, die eine Regierung nur unter der Bedingung tolerieren, daß der Staat ihr Ausbeutungsobjekt bleibt“ (ebd.).

Das eigentliche Instrument dieses politischen Monopols, stellt Schmitt klar, sei die Aufstellung der Kandidatenliste, auf die der Wähler keinerlei Einfluss habe. Entgegen der Verfassung handele es sich um keine direkte Wahl mehr: „Der Abgeordnete wird von der Partei ernannt, nicht vom Volk gewählt. Die sogenannte Wahl ist eine durchaus mittelbare Stellungnahme der ‚Wähler‘ zu einer Parteiorganisation“ (ebd.).

Zwischen fünf organisierten Systemen, von denen jedes in sich total sei und jedes, konsequent zu Ende gedacht, „das andere aufhebt und vernichtet, also z.B. zwischen Atheismus und Christentum, gleichzeitig zwischen Sozialismus oder Kapitalismus, gleichzeitig etwa zwischen Monarchie oder Republik, zwischen Moskau, Rom, Wittenberg, Genf und Braunem Haus und ähnlichen inkompatiblen Freund-Feind-Alternativen, hinter denen feste Organisationen stehen, soll ein Volk mehrmals im Jahr optieren“ (PuB 189).

Dies führe aber nur dazu, dass der Volkswille in fünf verschiedene Richtungen und Kanäle abgeleitet wird und niemals zu einem Strom zusam-

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menfließen kann. Übrig blieben nur „fünf verschiedene Volksteile“ (PuB 189), aber kein Grundkonsens. Deshalb sei, folgert Schmitt, die Wahl keine Wahl, der Abgeordnete kein Abgeordneter, das Parlament kein Parlament mehr: „Auf dem demokratischen System der Weimarer Verfassung lastet ein solches Parlament mit seiner gleichzeitig machtunfähigen und machtzerstörenden Negativität wie ein körperlich und geistig kranker Monarch auf den Einrichtungen und dem Bestand einer Monarchie“ (ebd.).

Das aus einer solchen Gemengelage resultierende Chaos ist für Schmitt bislang nur deshalb nicht sichtbarer geworden, weil „eine letzte Säule der Weimarer Verfassungsordnung, der Reichspräsident und seine aus vorpluralistischen Zeiten stammende Autorität, bisher standgehalten“ habe. Ohne diesen Stabilitätsfaktor wäre „selbst der Schein der Ordnung verschwunden“ (PuB 190). Baut Schmitt im Januar 1933 immer noch auf das System des autoritären Präsidialregimes? 4. Eine letzte Chance für die Weimarer Republik? Zwar erleidet die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 6. November 1932 erhebliche Verluste, das Gesamtergebnis der Wahl bestätigt jedoch – bei Gewinnen der KPD – erneut die parlamentarische Unregierbarkeit der Republik.658 V. Hindenburg hatte zwar nochmals v. Papen mit der Regierungsbildung beauftragt, als jedoch Sondierungen bei den Rechtsparteien ergebnislos blieben, musste das Kabinett am 17. November seine Demission erklären, weil es keine Mehrheit im Reichstag hatte. Geschäftsführend blieb es aber im Amt. „In dieser Situation erwies es sich als entscheidend, dass Papen die Unterstützung Schleichers und damit der Reichswehr verlor, die ihn ein halbes Jahr zuvor überhaupt erst ins Amt gebracht hatte“.659

Hatte v. Papen sich bei seiner Suche nach einer Mehrheit letztlich an Hitlers „Alles-oder-nichts“-Kurs die Zähne ausgebissen, obwohl auch Hitlers 658 Siehe dazu Marcowitz (2012, S. 118). 659 Ebd.; Papens Adlatus, Oberstleutnant Ott, hatte im Kabinett anhand eines Planspiels dargelegt, dass im Falle eines Staatsstreichs ein Generalstreik und ein etwaiger Bürgerkrieg im Reich militärisch nicht zu verhindern sei. Ott nahm aber unrealistisch an, dass gleichzeitig ein polnischer Angriff auf Ostpreußen abzuwehren sei (Marcowitz 2012, S. 118 f.).

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Taktik – bei schrumpfenden Wählerzahlen und ersten Auflösungserscheinungen in Partei und SA Ende 1932 – innerparteilich zunehmend umstritten war und einigend nur noch die Aussicht auf einen baldigen Erfolg wirkte?660 Das Fragezeichen ist angebracht, weil die Position v. Papens nicht die klarste war. 4.1. Das Präsidialkabinett v. Schleicher 1932/33. In dieser Lage ernannte v. Hindenburg am 3. Dezember 1932 – höchst ungern – den bisherigen Reichswehrminister v. Schleicher zum Kanzler. Dessen Kabinettsbildung signalisierte einen politischen Kurswechsel, der sicherlich nicht mit den Intentionen v. Hindenburgs übereinstimmte. Sinnfällig wurde dies vor allem an der Entlassung von Reichsinnenminister v. Gayl und weiterer Minister. Sie bedeutete „eine Absage an dessen reaktionäre Verfassungsreformpläne, die Auswechslung Schäffers signalisierte die Aufgabe der Politik einseitiger sozialpolitischer Einschnitte, und Gerkes Berufung belegte ein Umdenken in der zentralen Frage der Arbeitsmarktpolitik“.661

V. Schleicher, keineswegs ein politischer Anfänger, setzte auf das sogenannte Konzept einer „Querfront“. Diesem lag die Prämisse zugrunde, dass auch eine Präsidialregierung nur regierungsfähig sei, wenn sie in der Bevölkerung eine ausreichend breite politische Basis hatte. v. Schleicher setzte deshalb auf ein Bündnis mit den relevanten gesellschaftlichen Gruppen, vor allem den verschiedenen Gewerkschaften vom sozialdemokratisch orientierten ADGB über die Christlichen Gewerkschaften und den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband bis zum sozialistischen Straßer-Flügel in der NSDAP, Wehrverbänden und Standesorganisationen – eben „quer“ durch alle politischen Lager.662 Entsprechend waren v. Schleichers politische Ziele ausgerichtet: Rücknahme des Sozialabbaus, Arbeitsbeschaffungsprogramme und natürlich die Postenvergabe für ein Kabinett mit NSDAP-Beteiligung und NSDAP-Vizekanzlerschaft. Insbesondere auf gewerkschaftlicher Seite schien dabei nach v. Schleichers

660 Siehe Kolb/Schumacher (2013, S. 145 f.). 661 Marcowitz (2012, S. 120). 662 Ebd. S. 121.

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Sondierungen – selbst Verstaatlichungen wurden ins Auge gefasst – eine Basis gegeben.663 V. Schleicher hielt für den Erfolg seines Konzepts die Einbindung zumindest eines Teiles der NSDAP für unumgänglich.664 Im Reichstag stellte sie die größte Fraktion und war für eine Tolerierung der Regierung entscheidend. Aufseiten der NSDAP zielte v. Schleicher auf deren Reichspropagandaleiter Gregor Straßer, den er bereits am 4. Dezember 1932 zu Gesprächen traf. Straßer erwog eine Beteiligung durchaus665, und es hatte den Anschein, als ob sich die nationalsozialistische Bewegung in der Frage der richtigen Taktik zerstreiten würde. In der Fraktion der NSDAP gab es eine mehr als beachtliche Gruppe von geschätzten 60 bis 100 Abgeordneten, die eine Regierungsbeteiligung auch ohne Kanzlerschaft für erstrebenswert hielten.666 Auf Hitlers Seite standen die meisten anderen Führungspersonen der Partei, insbesondere Goebbels. In dieser Konstellation verlor Straßer wohl den Mut und die Nerven, Hitler offen herauszufordern, legte alle Ämter nieder und zog sich ins Privatleben zurück. Auch die SPD hatte inzwischen massiven Druck auf den ADGB ausgeübt, der von seiner Kooperationsbereitschaft wieder abrückte. v. Schleichers „Querfront“-Plan war gescheitert und er war mit seinem Kabinett letztlich isoliert.667 V. Schleicher war zudem ins Schussfeld der im Reichslandbund organisierten und bei v. Hindenburg einflussreichen Großagrarier geraten, weil er an der „Bolschewisierungspolitik“ v. Papens festgehalten hatte (s.o.). Zwar überstand v. Schleicher die Reichstagssitzungen zwischen dem 6. und dem 9. Dezember, indem er eine Vertagung erreichte. Angesichts eines drohenden Misstrauensvotums im Januar konnte v. Schleicher Rettung aber nur mehr in der Proklamierung eines verfassungswidrigen Staatsnotstands suchen. Auf ein Angebot des gestürzten preußischen Ministerpräsidenten Braun vom 6. Januar 1933 ging v. Schleicher nicht ein, er vertrös-

663 Ebd. S. 121-123. 664 Ebd. S. 123; s. nachst. S. 125 ff.; vgl. aber a. die Darstellung von Evans (2005 Bd. I, S. 405 f.). Für Evans entbehrten Schleichers „Querfront“-Pläne „jeder Grundlage“ (ebd.). 665 Siehe Kolb/Schumacher (2013, S. 147). 666 Siehe Marcowitz (2012, S. 125). 667 Kolb/Schumann (2012, S. 147); Marcowitz (2013, S. 126).

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tete ihn nur.668 Als Gegenleistung hatte Braun die Wiedereinsetzung in sein Amt beansprucht (s. Marcowitz 2012, S. 129). Im entscheidenden Gespräch mit v. Schleicher am 25.1.1933 aber verweigerte v. Hindenburg dem ungeliebten Reichkanzler die Zustimmung, die er v. Papen noch gewährt hätte.669 4.2. Ausgebotet: „Der alte Herr ist verrückt geworden.“ Schmitts Stellung im politischen Feld ist nach dem Amtsantritt v. Schleichers irritierend.670 Einerseits war er „Vertrauter der Vertrauten“ Marcks und Ott, die er fast täglich traf, hatte das Reich im Preußen-Prozess vertreten und an Verfassungsänderungsentwürfen gearbeitet: „[Nun] setzt ihm Schleicher mit seiner Kanzlerschaft den Stuhl vor die Tür der Macht. Demütigender noch: Er meldet sich einfach nicht. Dabei besitzt Schmitt doch ein Instrumentarium, den Kampf gegen extremistische Parteien und negative Mehrheiten zu führen“.671

Vielleicht, so wird vermutet, habe v. Hindenburg am Sturz oder vorläufigen Abschied von Schmitt mitgewirkt, weil ihm ein Entwurf Schmitts nicht gefallen habe. Schmitt notiert: „Erste Reichstagssitzung. Gut verlaufen, alles ist lächerlich (…) Schleicher ist ein guter Regisseur (…) Holte mir Zeitungen, setzte mich traurig an den Schreibtisch, völlig fertig mit Hindenburg, Sehnsucht nach Ruhe und Problemlosigkeit“ (7.12.1932, TB III 242)672.

Der „Kronjurist“ Schmitt hatte wohl ein schwächeres Standing als Berater selbst bei v. Schleicher, als dies in Teilen der Literatur angenommen wird: „Er wird nur ‚okkasionell‘ herangezogen und gebraucht“.673

668 Braun: „Wir schieben die Wahlen bis weit in das Frühjahr hinaus und führen einen einheitlichen nachdrücklichen Kampf gegen die Machtansprüche der Nationalsozialisten. Diese haben bei der Novemberwahl bereits zwei Millionen Stimmen verloren, haben ihren Höhepunkt überschritten und befinden sich im Rückgange. Wir brauchen nur noch nachzustoßen, und ihnen bei den Frühjahrswahlen eine vernichtende Niederlage zu bereiten“ (zit. n. Marcowitz 2012, S. 129). 669 Gesprächsausschnitt s. Marcowitz (2012, S. 128). 670 Mehring (2009, S. 300). 671 Ebd. 672 Herv. w.a.m. 673 Mehring, (2009, S. 300; nachst. s. S. 301 f.).

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Im Januar 1933 sucht Schmitt noch einmal einen direkten Einfluss. Als v. Schleicher sich bereits gezwungen sieht, den Notstandsplan zu reaktivieren, um die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zu verhindern, will ihm Schmitt über die Mittelsmänner Horst Michael und den Reichsminister Franz Bracht ein „Papier“ zukommen lassen, das für folgende Frage eine Lösung anbietet: „Wie bewahrt man eine arbeitsfähige Präsidialregierung vor der Obstruktion eines arbeitsunwilligen Reichstages mit dem Ziel, ‚die Verfassung zu wahren‘.“674

In dem Papier werden zwei grundsätzlich gangbare Wege aufgezeigt: „I. den schweren Weg, der mit einem Maximum an Verfassungsverletzung, entweder Zwangsvertagung = Bruch mit Art. 24 oder Auflösung mit hinausgeschobenen Neuwahlen = Bruch mit Art. 25 Abs. 2 II. den milderen Weg, der ein Minimum an Verfassungsverletzung darstellt: die authentische Auslegung des Art. 54 in der Richtung der naturgegebenen Entwicklung (Mißtrauensvotum gilt nur von seiten einer Mehrheit, die in der Lage ist, eine positive Vertrauensgrundlage herzustellen)“.675

Schmitt schlägt den milderen Weg mit dem juristisch weniger strittigen Vorgehen vor. Die Regierung solle einem Misstrauensvotum über eine extensive Auslegung von Art. 54 WRV676 die Anerkennung verweigern und sich durch den Reichspräsidenten bestätigen lassen, „daß der Reichstag seine Rechte mißbrauchte, wenn er eine bestehende Regierung stürzte, ohne selbst in der Lage zu ein, die politische Gesamtentscheidung über eine neue Regierung und ein neues Regierungsprogramm zu treffen“.677

Es sei daran erinnert, dass Schmitt schon in seiner Verfassungslehre das Misstrauensvotum einer Reichstagsmehrheit, die selbst nicht regierungsfähig ist, als eine reine Obstruktionspolitik bewertet hat, weshalb dieses Votum eine Pflicht zum Rücktritt der Regierung nicht begründen könne, wenn zudem die Auflösung des Reichstags angeordnet ist. Auch Schmitts sozialdemokratischer Schüler Ernst Fraenkel wollte die Rechtsfolge des

674 Horst Michaels „Papier“, abgedruckt in Berthold (1999, S. 80-85). 675 Berthold (1999, S. 80). 676 Art. 54 WRV lautet: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“. 677 Berthold 1999, S. 65).

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Rücktritts erst eintreten lassen, wenn sie mit dem positiven Vorschlag eines neuen Kanzlers oder Ministers an den Reichspräsidenten gekoppelt war. Dieses, in heutiger Diktion, „konstruktive Misstrauensvotum“ wurde um die Jahreswende 1932/33 dem Reichskanzler von politischen Praktikern vorgeschlagen.678 Aber v. Schleicher hält an seiner Notstandsplanung fest, die auf heftigen Widerspruch bei den Parteien, in der Öffentlichkeit und bei v. Hindenburg gestoßen war.679 Nach etlichen Vorgesprächen verweigert v. Hindenburg am 28. Januar seine Unterstützung endgültig. Die letzte Präsidialregierung Weimars ist gescheitert.680 Schmitt ist offensichtlich vorinformiert. Im Tagebuch hält er fest: „Marcks ist tief deprimiert. Der Hindenburg-Mythos ist zu Ende. Scheußlicher Zustand. Schleicher tritt zurück, Papen oder Hitler kommen. Der alte Herr ist verrückt geworden“ (27.1.1933, TB III 256).

Seinen letzten Aufsatz in der Weimarer Republik ließ Schmitt mit folgenden Worten enden: „Hätte nicht eine letzte Säule der Weimarer Verfassungsordnung, der Reichspräsident und seine aus vorpluralistischen Zeiten stammende Autorität, bisher standgehalten, so wäre wahrscheinlich das Chaos auch in aller Sichtbarkeit und in der äußerlichen Erscheinung bereits vorhanden und selbst der Schein der Ordnung verschwunden“ (PuB 190).

Am 30. Januar 1933 wird die letzte Säule nicht mehr standhalten. 5. Sie machen den Weg frei. Die restaurativen Kräfte, die nach wie vor ein autoritäres Programm für Staat und Gesellschaft durchsetzen wollten, trieb es nach den Fehlschlägen von v. Papen und v. Schleicher „mit innerer Logik“ auf die Seite Hitlers. Ihnen war klar,

678 Siehe Winkler (2000 Bd. I, S. 541); s. a. Berthold (1999, S. 68 ff.). 679 Nach Berthold habe Schleicher, nach bestehender Quellenlage, den Alternativplan Schmitts, dem Reichspräsidenten Hindenburg erst gar nicht in Kenntnis gesetzt, war mithin eine verpasste Chance der Weimarer Republik (Bertold 1999, S. 66). 680 Siehe Mehring (2009, S. 301).

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„dass die antidemokratischen und ‚antimarxistischen‘ Zielsetzungen nicht zu verwirklichen sein würden ohne eine plebiszitäre Basis. Eine solche aber konnte nur die NSDAP bieten“.681

Diese war aber mit Hitler nur zu haben, wenn ihm die eindeutige Führerschaft zufiel. Die Initiative dazu ging von v. Papen aus, dessen verletzter Ehrgeiz sich gegen v. Schleicher richtete, der v. Papens Kanzlerschaft beendet hatte.682 Erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung weckten bei politischen Beobachtern durchaus die Erwartung, dass die Republik das Schlimmste überstanden habe, und diese Verbesserung der Lage dem Radikalismus der NSDAP die Spitze nehmen würde.683 Doch am 4. Januar 1933 begann im Haus des Kölner Bankiers und Wirtschaftsberaters Kurt v. Schröder das Finale im Machtpoker: Hitler und v. Papen berieten ein mögliches Regierungsbündnis, obwohl v. Papen wusste, dass v. Hindenburg zu diesem Zeitpunkt einen Reichskanzler Hitler nach wie vor ablehnte. Aber eine ganze Reihe von Gesprächen, so Hitlers mit Hugenbergs DNVP und dem „Stahlhelm“, zielten letztlich auf eine Reanimierung der „Harzburger Front“. Zu einem Treffen in der Villa Joachim v. Ribbentrops wurden dann v. Hindenburgs Staatssekretär Meißner und v. Hindenburgs Sohn Oskar beigezogen, dessen Einfluss kontinuierlich größer geworden war. Die ganze Reihe der verschiedenen Konsultationen im Januar 1933 konnten nicht vollständig geheim bleiben. Sie werteten die NSDAP – vor einem Monat noch kurz vor der Spaltung – und ihren Führer wieder auf. Auf der anderen Seite war es v. Schleicher klar, dass er bei der Reichstagssitzung am 31. Januar mit einem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen sich zu rechnen hatte, denn zwischenzeitlich war auch die DNVP-Fraktion in offene Opposition zu ihm gegangen. Auch die Gewerkschaften und das Zentrum verweigerten ihm auf nochmalige Anfrage die Gefolgschaft. Am 28. Januar trat v. Schleicher zurück.684 Am 30. Januar ernannte v. Hinden-

681 Kolb/Schumacher (2013, S. 149). 682 Siehe ebd. 683 Siehe Marcowitz (2012, S. 131). Der Simplizissimus formulierte den Neujahrsgruß: „Geht mit euren Horoskopen, denn ihr prophezeitet schlecht. Pessimisten, Misanthropen haben leider meistens recht. Eins nur läßt sich sicher sagen, und das freut uns ringsumher: Hitler geht es an den Kragen“ (zit. in Marcowitz S. 131). 684 Siehe ebd. S. 132; nachst. ebd. S. 132 f.

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burg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Noch glaubte der greise Reichspräsident, dass das Gewicht der NSDAP in der Regierung austariert und der Gefahr einer Diktatur vorgebaut war − eine fatale Fehleinschätzung, er hatte dem erklärten Verfassungsfeind die Macht übertragen, und dieser machte alsbald „die Türe zu“. 6. Abgesang und Neuorientierung. Carl Schmitt zählte bei den letzten Gefechten und Ränken vor der „Machtergreifung“, „Machtübernahme“ oder „Machtübertragung“ nicht mehr zum Kreis der aktiv handelnden Akteure. Es kann aber heute als gesichert gelten, dass Schmitt die Machtergreifung Hitlers ablehnte bzw. verhindern wollte und vor 1933 der „totale Führerstaat“ keine Option für ihn war. Carl Schmitt hat Hitler auch nicht herbeigeschrieben. Diese Ansicht erfährt Unterstützung unter anderem durch folgende Indizien: In Legalität und Legitimität bezog Schmitt Stellung zu den staatlichen Maßnahmen gegen die NS-Organisationen. Er war zu dem Ergebnis gekommen, diese Maßnahmen seien nur dann verfassungswidrig, wenn man den „politischen“, den ersten Teil der Weimarer Verfassung, „also die Bestimmungen über die Staatsform und die Staatsorgane, im Sinne der Wertneutralität eines funktionalistischen Legalitätssystems mißverstehe“.685 Die Veröffentlichung eines zentralen Teils der Legalitäts-Schrift in der Tageszeitung der „Täglichen Rundschau“ wurde von der Redaktion – von Schmitt unwidersprochen – so kommentiert: „Wer den Nationalsozialisten am 31. Juli die Mehrheit verschafft, obwohl er nicht Nationalsozialist ist und in dieser Partei nur das kleinere Übel sieht, der handelt t ö r i c h t. Er gibt dieser weltanschaulich und politisch noch gar nicht reifen Bewegung die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern, das Staatskirchentum einzuführen, die Gewerkschaften aufzulösen usw. Er liefert Deutschland dieser Gruppe völlig aus“.686

Vielleicht noch wichtiger zu der Frage, wie Legalität und Legitimität auf der Leserseite aufgefasst wurde, ist die Reaktion des Syndikus der Bauarbeitergewerkschaft und Rechtsberaters des SPD-Vorstandes Franz L. Neumann:

685 Quaritsch, (1991, S. 42). 686 Zit. in Quaritsch (1991, S. 43).

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„Ich stimme mit den kritischen Teilen des Buches restlos mit Ihnen überein. Auch ich stehe auf dem Standpunkt, daß die parlamentarische Demokratie nur so lange funktionieren kann, wie die Durchführung des Prinzips der gleichen Chance möglich ist. Stellt sich heraus, daß dieser Grundsatz zur Gewinnung innerpolitischer Macht versagt, dann muß notwendig auch der parlamentarische Gesetzgebungsstaat handlungsunfähig werden“.687

In der Literatur war umstritten, ob Schmitt denn nun ein Mann v. Papens oder ein Mann v. Schleichers war. Inzwischen dürfte auch hier weitgehend Einigkeit bestehen, dass Schmitt mit dem Ziel der Verhinderung Hitlers auf v. Schleicher gesetzt hatte.688 Dies ändert aber nichts daran, dass er dem liberalen parlamentarischen System Weimars zunehmend kritisch und ablehnend gegenüberstand. Eine entscheidende Frage ist die politische Bewertung des Präsidialsystems, und damit die Frage: „War es, mit Schmitt gesprochen, ein ‚Aufhalter‘ oder ein ‚Beschleuniger wider Willen‘“? Mehring weist mit Recht ausdrücklich darauf hin, dass diese Frage für die verschiedenen Kanzler unterschiedliche Antworten finden kann – auch wenn Schmitt alle Präsidialkanzler unterstützt habe.689 Mit Brünings „Zentrum“ und insbesondere dessen Fraktionschef, dem Prälaten Ludwig Kaas, hatte Schmitt sich überworfen und wurde als Ratgeber folglich abgelehnt. Kaas hatte Schmitt am 26. Januar 1933 wegen dessen Unterstützung des Notstandsregimes in einem – veröffentlichten – Brief an den Reichskanzler vor der Illegalität der „das ganze Staatsrecht relativierenden Grundtendenzen von Carl Schmitt und seinen ‚Gefolgsmännern‘“ gewarnt und eine Rückkehr zu den in der Verfassung ruhenden Mehrheitsverhältnissen gefordert. Quaritsch hat Recht, wenn er lapidar feststellt: „Das konnte in diesem Zeitpunkt und bei den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag nur auf die Beauftragung Hitlers mit der Regierungsbildung hinauslaufen. Die ‚legale‘ Regierungsübernahme Hitlers nahm Kaas in Kauf, um die Verletzung des Art. 25 Abs. 2 RV zu vermeiden“.690

Der über den Brief von Kaas aufgebrachte Schmitt erwiderte: „Ich relativiere nicht das Staatsrecht, sondern kämpfe gegen einen Staat und Verfassung zerstörenden Mißbrauch, gegen die Instrumentalisierung des Le-

687 688 689 690

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Zit. in Quaritsch (1991, S. 44). Siehe dazu die Argumentation Bertholds (1999, S. 67). Vorst. s. Mehring (2009, S. 301 f.). Quaritsch (1991, S. 49; zu weiterer Kritik an Kaas s. ebd. S. 49 ff.).

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galitätsbegriffes und gegen einen wert- und wahrheitsneutralen Funktionalismus. Zu der Frage des Staatsnotstandsrechts habe ich mich, zum Unterschied von anderen Kollegen, bisher nur mit größter Zurückhaltung geäußert. Ich kenne die Verantwortung, die mit der Auslegung von Verfassungsbestimmungen verbunden ist“.691

Die Tage nach der Kanzlerschaft Hitlers, sehen einen niedergeschlagenen Carl Schmitt, enttäuscht über seine und v. Schleichers Niederlage und den verlorenen Kampf gegen Hitler. In einer ersten öffentlichen Reaktion auf die Ernennung Hitlers äußert er sich in einem Rundfunkgespräch vorsichtig: „Ich bin Theoretiker, lieber Dr. Rosskopf, reiner Wissenschaftler und nichts als Gelehrter“.692 In der Sache wiederholt er seine Parteienkritik und bezeichnet die Reichsreform als Zentralproblem. Für die Vorbemerkung einer von ihm abgenommenen Dissertation formuliert er: „Inzwischen hat in Deutschland die politische Wirklichkeit die Konsequenzen aus den in dieser Arbeit aufgestellten Thesen über Parteien und Parteienstaat gezogen“.693

Zu dieser Zeit, so Mehring, habe sich Schmitt noch nicht für den Nationalsozialismus entschieden gehabt. Am 20.3.1933 wertet er über Hitler, es sei wie im Urwald: „man weiß nicht, ist er eine Taube oder eine Schlange“.694 Die Nationalsozialisten schaffen bekanntlich schnell Tatsachen: Auflösung des Reichstags und Neuwahlen im März; Verordnungen, die bereits ein Klima der Angst erzeugen; Ausnahmezustand nach dem Reichstagsbrand; trotz Manipulationen zwar nur 43,9% bei den Wahlen,695 aber eine Mehrheit mit der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“; das Schauspiel: der „Tag von Potsdam“, inszeniert als Versöhnung mit dem Bürgertum. Und schließlich das erwartete „Ermächtigungsgesetz“, dem parlamentarisch alleine die Abgeordneten der SPD die Zustimmung verweigern: „Es ist eine zweite ‚legale Revolution‘. Nach der Exekutive übergibt nun auch das Parlament Hitler die diktatorische Macht“.696

691 Zit. in Huber (1988, S. 53). 692 Mehring (2009, S. 304). 693 Dissertationsthema war: Der Begriff der politischen Partei im System des politischen Liberalismus. 694 Mehring (2009, S. 305). 695 „Die „Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes“ vom 4. Februar legalisierte massive Eingriffe in die Wahlwerbung vor allem von KPD und SPD und mündete in einen regelrechten Terror gegen die Opposition“ (Mommsen 2003, S. 11). 696 Mehring (2009, S. 305).

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Drittes Kapitel: Der Beginn der Präsidialkabinette.

Bereits am nächsten Tag verfasst Schmitt einen Artikel für die Deutsche Juristen-Zeitung.697 Unter schweigender Zurückstellung legaler Bedenken, betont er die revolutionäre Bedeutung des Gesetzes, das die neue Regierung nunmehr als unumschränkten neuen Gesetzgeber eingesetzt habe. Das Gesetz bewertet er als einen „Wendepunkt von verfassungsgeschichtlicher Bedeutung“. Die zweite Besonderheit des Gesetzes sei die Befugnis der Regierung, Verfassungsgesetze im formellen Sinne zu erlassen, die ein neues materielles Verfassungsrecht schaffen, das an die Stelle des alten tritt; diese Befugnis sei somit ein „Stück verfassunggebender Gewalt“. Schmitt bescheinigt der Nazi-Partei die Legalität ihrer Machtergreifung, weil nach Reichsgericht „die Rechtmäßigkeit der Begründung kein wesentliches Merkmal der Staatsgewalt“ sei. Das Ermächtigungsgesetz bezeichnet in Art. 2 die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats sowie die Rechte des Reichspräsidenten als verfassungsänderungsfest – gleichwohl dürfen nicht unerhebliche Änderungen vorgenommen werden: „Vor allem soll die Garantie des Reichstags die Reichsregierung nicht hindern, die vermeintlichen ‚Entstellungen‘ des pluralistischen Parteienstaates zu beseitigen. Kompromisslos zeigt er sich beim Vorbehalt der Rechte des Reichspräsidenten, die er im Sinne einer Garantie des status quo versteht; das Recht den Reichskanzler zu ernennen und zu entlassen, wird ausdrücklich erwähnt“.698

Von Gewicht ist die Einschätzung Neumanns, dass der Schmittsche Beitrag „auffällig unsicher“ argumentiere und erkennen lasse, „dass der Autor nicht weiß, wohin die Reise geht und wie er sich positionieren soll“.699 Die starke Hervorhebung der Stellung des Reichspräsidenten bei abgewerteter Stellung des Reichstags „deuten auf eine Fortführung der Politik der Präsidialdiktatur unter anderen Vorzeichen hin“. Inwieweit neben der Ablösung des politischen Führers künftig Änderungen der Bestandteile der gegenwärtigen Reichsregierung erfolgten, sei eine politische Frage. Schmitt selbst schließt seinen Aufsatz: „Hüten wir uns davor, mit der Sophistik des alten Parteienstaates die Rechtsgrundlage des neuen Staates zu untergraben. Mit dem Staat wird auch das

697 DJZ 38 (1933) S. 455. Wir folgen in der Darstellung Neumann (2015, S. 314-316). 698 Neumann (2015, S. 315). 699 Neumann (2015, S. 315 f.; s. nachst. S. 316).

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VI. Carl Schmitt als Akteur in der Endphase Weimars.

Staatsrecht und die Staatsrechtslehre gereinigt und erneuert werden müssen“.700

Schmitts Artikel über das Ermächtigungsgesetz sei noch kein klares Votum für den Nationalsozialismus, auch wenn er bereits erkannt habe, „dass er seine bisherige Rolle als Staatsrechtslehrer nur unter nationalsozialistischen Vorzeichen wird spielen können“.701 Popitz erzählt ihm einiges über die neuen Herrn und ihre Politik, Weggefährten wie Reichsminister Bracht fordern ihn zur Mitgestaltung auf und in München trifft er neben van Calker seinen alten Hauptmann Roth wieder. Sein Antisemitismus steigert sich nun auffällig, was sein Tagebuch hinreichend beweist. Irgendwann in diesen Tagen stellt Schmitt „von Differenzen auf Affinitäten um“. Diese Tendenz verstärkt sich, als ihm Popitz und v. Papen die Mitarbeit am Reichsstaathaltergesetz anbieten. Nach seiner Ausbootung nunmehr eine neue Mitarbeit im Zentrum der Macht – das entschädigt und reizt. Ganz ohne Sorge – Schmitt war eigentlich immer über irgendetwas in Sorge oder gar in Angst – ist er freilich nicht. Bekanntlich frisst die Revolution ihre Kinder. Schmitt wird sich fressen lassen. Am 27. April 1933 tritt er mit Wirkung zum 1. Mai 1933 in die NSDAP ein. Er bekommt die Mitgliedsnummer 2098860.

700 Carl Schmitt, zit. in (Mehring 2009, S. 306). 701 Mehring (2009, S. 307; s. nachst. S. 307 f.).

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