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German Pages [352] Year 2012
Dieter Stiefel
Camillo Castiglioni oder
Die Metaphysik der Haifische
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78832-4 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, i nsbesondere die der Über setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar www.boehlau-verlag.com
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Inhalt Winter in Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Triest – Konstantinopel – Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Der Industrielle 1. Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Die Automobilindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Flugzeugindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Finanzier 1. Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Politische Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Die Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Der Bankier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Der Industrielle 2. Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Alpine und Stinnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leykam-Josefsthal AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steweag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semperit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58 84 86 92
Der Finanzier 2. Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Preisrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Die Depositenbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Der Coup gegen Castiglioni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Die Beteiligung an der Notenbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Kriegssteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Kunstschmuggel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Die Unionbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Der kalte Wind in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
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Inhalt
Rien ne va plus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Der Schock der Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Die Franc-Spekulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Der Zusammenbruch der Depositenbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die „Spiritus Affäre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Die kleinen Diebe hängt man . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Sanierung auf Italienisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .227
Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Nachruf zu Lebzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .239 Späte Ehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Die Freundschaft eines Landeshauptmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .262 33 Kisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
Der Industrielle – letzter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 BMW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Donaudampfschifffahrtsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .286
Die 1940er- und 50er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Eine Schweizer Episode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Geschäfte mit Tito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .297
Das „Haus Castiglioni“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Iphigenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Palais Miller-Aichholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Die Villa am Grundlsee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Salonwagen des Kaisers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Der Kunstsammler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
Der Mäzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Salzburger Festspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Theater in der Josefstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Drei Münzen im Brunnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .344
Metaphysik der Haifische „Äußerlich kommt die alles überbietende Popularität der Männer, denen es gelungen ist, in Verbindung mit dem größten Unglück der Menschheit das meiste Geld zu machen, in der Republik darin zum Ausdruck, dass ihnen kaiserliche Ehren erwiesen werden. Sie macht sich geltend in den Formen des gesellschaftlichen und staatlichen Verkehrs, in der lesebuchreifen Anbetung der Haifische.“ Infolgedessen werden Männer wie Castiglioni, „deren Genie darin besteht, reicher zu sein, als man noch vor einer Stunde geglaubt hat, von allen jenen, denen eine solche Begabung fehlt, aber erstrebenswert erscheint, als Titanen verehrt ...“ (Karl Kraus, Die Fackel Nr. 632, Wien Oktober 1923, S. 150/1)
Winter in Rom Die Via dei Monti Parioli ist eine kleine Straße in einem vornehmen Wohnviertel im Norden Roms. In einer der Wohnungen waren die Vorhänge schon seit längerer Zeit zugezogen. Der Butler öffnete die Fenster immer nur kurz, um nicht die feuchte, kalte Winterluft hereinzulassen. Camillo Castiglioni lag im Sterben. Die massige Gestalt war nur zu erkennen, wenn man sich an das Dunkel gewöhnt hatte. Seine Tochter Jolanda war noch bei ihm gewesen, seine Frau Iphigenie und seine zweite Tochter Livia weit weg in den USA. Castiglioni starb am 18. Dezember 1957 im Alter von 78 Jahren an einer Lungenentzündung. Begraben wurde er am katholischen Friedhof in Rom. Er kannte bis zum Ende nicht das Gefühl, irgendwann Unrecht getan zu haben, wie Jolanda sagte.1 Von seinem Vermögen war nicht viel übrig geblieben, die Erbschaft ging weitgehend zur Abdeckung von Steuerschulden auf. Und die Meldungen in den Zeitungen waren spärlich: „Auf keiner Börse Mitteleuropas wurden am 18. Dezember Kursrückgänge verzeichnet; in keiner Bank wusste man, dass an jenem Tag einer der größten Finanzmänner des Jahrhunderts aus der Welt geschieden war“, schrieb die „Wiener Wochenpresse“. Seine Familie hatte auf Wunsch des Sterbenden den Tod erst nach den Feiertagen bekannt gegeben. „Doch auch ohne diese Umsicht hätte die Nachricht kein finanzielles Erdbeben mehr hervorgerufen, wie etwa Jahrzehnte vorher. Castiglioni starb in Wohlstand, aber er war keine Macht mehr. So war sein Tod auch keine Genugtuung für die vielen Feinde, die ihn einst zur Strecke gebracht hatten. Es war ihm nur noch der Glorienschein früherer Größe geblieben.“2 1 2
Interview Dieter Stiefel mit Jolanda Castiglioni, Mailand 1991 Camillo Castiglioni: So endete eine Großmacht, Die Wochenpresse, Wien 11. Jänner 1958. Dieses Todesdatum – und nicht 1961, wie manchmal erwähnt – wird auch von Wolfgang Zorn bestätigt: Unternehmer und Unternehmensverflechtungen in Bayern im 20. Jahrhundert, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, München 3/1979, S. 180
Triest – Konstantinopel – Wien Triest war die wichtigste Hafenstadt der österreichischen Monarchie, weltoffen, wohlhabend, mit wirtschaftlichem Einfluss bis hinunter in die heutige Türkei. Hier waren die großen Versicherungen beheimatet, wie die Generali, und die Schifffahrtslinien, wie der Österreichische Lloyd und der Lloyd Trestino. In dieser Stadt wurde Camillo Castiglioni am 22. Oktober 1879 geboren. Die Familie Castiglioni kam ursprünglich aus der Toskana. Camillos Vater, Vittorio Isacco (1840–1911), war ein bekannter Rabbiner der großen jüdischen Gemeinde, der auch wissenschaftlich arbeitete. Die Mutter, Enrichetta, geb. Bolaffio, entstammte einer angesehenen örtlichen Familie. Camillo hatte zwei Geschwister, Augusto, der später Bankier bei der Banca Nazionale di Credito wurde, und den älteren Bruder Arturo (1874–1953), der es zu hohem Ansehen als Medizinhistoriker brachte.3 3
Arturo Castiglioni schloss sein Studium an der Universität Wien 1896 mit einem Doktorat ab, arbeitete zwei Jahre lang in einem Wiener Krankenhaus und von 1898 bis 1904 am Allgemeinen Krankenhaus in Triest. Von 1899 bis 1918 war er medizinischer Leiter beim Österreichischen Lloyd und von 1918 bis 1938 des Lloyd Trestino. Dabei kombinierte er seine praktische Tätigkeit mit Studien und Vorlesungen über die Geschichte der Medizin. Seine erste Universitätsposition war 1921 Assistenzprofessor für Medizingeschichte an der Universität Siena, von 1922 bis 1938 war er Professor an der Universität Padua. Zusätzlich war er von 1924 bis 1938 Professor für Wissenschaftsgeschichte an der University for Foreigners in Perugia, wohin er nach seiner Tätigkeit in den USA von 1938 bis 1948 auch wieder zurückkehrte. 1939 emigrierte er in die USA und begann dort von 1939 bis 1943 als Research Associate and Lecturer in Medizingeschichte an der Universität Yale, wo er von 1943 bis 1947 eine Professur erhielt. Er war Mitglied der New York Academy of Medicine, 1942 Präsident der New York Society for Medical History und hielt auch bei italienischen wissenschaftlichen Gesellschaften die Position als Ehrenpräsident. Zu seinem siebzigsten Geburtstag 1944 wurde mit einem Dinner im Waldorf Astoria in New York mit 200 Gästen gefeiert. Seine Publikationsliste enthielt über zweihundert Werke in Deutsch, Englisch, Italienisch und Spanisch. Bemerkenswert waren die dreihundert Biografien von Medizinern und Wissenschaftern für die Enciclopedia Italiana und vor allem sein Hauptwerk, die History of Medicine, zuerst 1927 erschienen auf Italienisch und in sechs Sprachen übersetzt. Neben der Medizin hat er sich auch mit Kunstgeschichte befasst, etwa in dem Artikel „Leonardo as Scientist“ oder in dem Katalog für
Triest – Konstantinopel – Wien
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Der Vater zog später als Oberrabbiner nach Rom, heiratete nochmals und hatte weitere drei Kinder. Bei Wikipedia (Englisch) heißt es, Camillo sei der Sohn eines „rubber maker“ (Gummiproduzenten) gewesen.4 Entweder wurde hier „Rabbi“ mit „rubber“ verwechselt, oder es handelt sich um eine besondere Art des Antisemitismus! Über Camillos Ausbildung und frühen Werdegang gibt es mehrere Variationen, die wohl zum Teil von ihm selbst in die Welt gesetzt wurden. Angeblich soll die jüdische Gemeinde die Schulbildung Camillos finanziell unterstützt haben, in der Hoffnung, dass auch er den Weg des Vaters einschlagen würde. Sein Traum sei es aber gewesen, reich zu werden und Millionen zu verdienen. „Die drückende Armut des Triestiner Rabbinerhaushaltes bedrückte ihn sein ganzes Leben lang – auch später noch, als Milliarden durch seine Hände gingen, wurde er die Zwangsvorstellung nicht los, er könnte eines Tages wieder so bettelarm werden wie einst als Kind.“5 Es ist aber kaum anzunehmen, dass die jüdische Gemeinde von Triest ihren Rabbiner in Armut leben ließ. Dagegen spricht auch die akademische Ausbildung seiner beiden Brüder. Camillo selbst soll ein Jusstudium in Padua abgebrochen haben und als Student rauflustig, leichtsinnig und feierfreudig gewesen sein.6 Dass er Recht studierte, Advokat und Bankjurist in Padua war, bevor er diesen Weg abbrach, ist aber nicht belegt.7 Es widerspricht auch den damaligen politischen Verhältnissen. Die österreichisch-ungarische Monarchie verbot ihren italienischen Untertanen, in Italien zu studieren, um nicht deren Nationalismus zu verstärken. Auch Camillos Bruder ging daher nach Wien, dessen Universität auch in einer anderen Liga spielte. Camillo selbst dürfte nach der Mittelschule eine kaufmännische Fachschule absolviert haben und dann in eine Wechselstube eingetreten sein, wo er mit dem Bank-, Börsen- und Devisengeschäft in Berührung kam. Hier konnte er seine wirkliche Lehrzeit absolvieren. Durch einige waghalsige Spekulationen in Wertpapieren und delikate und teilweise vertrauliche Kreditoperationen soll es
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die Kunstsammlung seines Bruders. „The universality of Castiglioni’s interests and the multiplicity of his writings bespeak the spirit of Renaissance man, of which he was a modern exemplar in the fullest sense.“ Die Zeit, welche er als Betreuer seines Bruders in Wien verbracht hatte, wird nicht erwähnt. Jerome P. Webster, Arturo Castiglioni, MD, 1874–1953, Bulletin of the New York Academy of Medicine, 1953 May 29, S. 438–39 Frederic P. Miller, Agnes F. Vandome, John McBrewster (Ed.), Camillo Castiglioni, Mauritius 2011, S. 1. In dem „High Quality Content by Wikipedia Article“ heißt es: „He was the son of a rubber maker, so naturally Camillo found work with the Austro-American Gummiwarenfabrik AG …“ Hellmut Andics, Die Presse, 9. Juni 1961 Wie wird man reich? Der junge Reichtum – Castiglioni, Bosel und die übrigen, Die Stunde 22. Juli 1923 Wolfgang Zorn, Unternehmer und Unternehmensverflechtungen in Bayern im 20. Jahrhundert, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, München 3/1979, S. 180
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ihm gelungen sein, sich innerhalb der Finanzelite Triests einen Namen zu machen. Er bewies Spürsinn bei Investitionen und hatte bereits begonnen, Beziehungen zu Regierungspersönlichkeiten aufzubauen. Angeblich unterhielt er mit seinen Freunden auch eine Autowerkstatt, was sein Interesse an der neuen Technologie zeigte, die ihn auch später noch prägte. Die schmeichelhafte Vision vom abgebrochenen Studium hielt sich aber dennoch weiter. Noch 1953 schrieb eine Schweizer Zeitung über seine Anfänge: „Der junge Camillo studierte an der Universität Padua, doch ohne Erfolg, denn er führte ein lockeres Leben und forderte ununterbrochen Geld von seinem Vater. Der alte Rabbi beschloss deshalb, seinen Sohn nach Konstantinopel zu schicken, zu einem Verwandten, der einen schwungvollen Handel mit der Türkei betrieb. Hier fand Camillo seinen Weg: er wurde zuerst Prokurist einer großen italienischen Zündholzfabrik, hierauf nahm er eine Beamtenstelle in Wien bei der Kautschukfabrik ‚Continentale‘ an. Er war damals 21 Jahre alt und beherrschte sieben Sprachen in Wort und Schrift. Mit 22 Jahren wurde er Prokurist der Continental-Werke, mit 24 Direktor, mit 26 Jahren Generaldirektor. Man sagte von ihm, dass es ihm gelinge, jeden Kunden zu faszinieren; jedenfalls hatte er ein scharfes Auge und eine glückliche Hand fürs Geschäft.“8 Was stimmt nun davon? Tatsächlich nahm er im Jahr 1900 eine Stelle bei der Continentale-Gummifabrik an, die ihn als ihren Vertreter nach Istanbul schickte. Möglicherweise war er bereits vorher als Agent der Kaufmann-Autoreifen dort tätig gewesen. Dort dürfte er sein kaufmännisches Talent bewiesen haben, sodass ihm die Österreichisch-amerikanische Gummifabrik AG in Wien die Leitung ihrer Export-Abteilung übertrug. Gegen den Einspruch des Hauptaktionärs Wiener Bankverein wurde er bereits 1904, als 25-Jähriger, zum kaufmännischen Direktor des Unternehmens bestellt, das damals an die 800 Beschäftigte hatte. 1912 fusionierte die Continentale mit den Semperit-Gummiwerken unter deren Namen. Das Unternehmen wurde damit zum Branchenführer in der Monarchie und begann bereits 1910 mit der Erzeugung von Reifen und den Beziehungen zur Automobil- und Flugzeugindustrie. 1914 hatte es 3.100 Beschäftigte. Mit der Fusion trat Castiglioni als kaufmännischer Direktor zurück, vermutlich wegen überspannter finanzieller Forderungen. Über die Depositenbank kam er aber später in den Aufsichtsrat des Unternehmens und beeinflusste die Geschäftspolitik in den 1920er-Jahren ganz wesentlich, einschließlich der obligaten Kapitalerhöhungen.
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Tito in Italien gepfändet, Der Bund, Bern 20. Februar 1953
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Triest – Konstantinopel – Wien
Bild 1 Camillo Castiglioni 1916 Österreichische Nationalbibliothek
Bild 2 Camillo Castiglioni 1920 Österreichische Nationalbibliothek
Der Industrielle 1. Teil Ab 1912 war Castiglioni daher selbstständig als Unternehmer, vor allem aber als Projektant, denn er hatte ständig neue Ideen, für die er sich selbst und andere begeistern konnte. Hans Habe schilderte Castiglioni als ehrgeizig bis zum Exzess, zu theatralischen Ausbrüchen neigend und stets bereit, die Realität Träumen zu opfern.9 Im von Castiglioni mitfinanzierten „Neues Wiener Journal“ stand 1919 zu lesen: „Hier ist eine Persönlichkeit, die in unsere landläufige Schablone nicht passt ... Denn Camillo Castiglioni ist ein ausgesprochener Glückspilz. Was er in die Hand nimmt, gelingt ihm.“ Die ruhige Sicherheit einer gut dotierten Stellung in der Gummiindustrie genügte diesem Mann nicht, „der mit der Lust des großzügigen Abenteurers den Drang nach Unabhängigkeit, eigener Unternehmenslust, höchsten Wagemut verband“. Er widmete sich der Flugzeug- und Automobilindustrie, wollte aber nicht recht prosperieren, da er zu weit in die Zukunft geblickt hatte. „Dann kam der Krieg, der wiederum mit einem Schlag die Kalkulation Camillo Castiglionis als eine glänzende, zeitgemäße und überaus lukrative hinstellte. Die Unternehmen erfuhren eine geradezu ungeahnte Wertsteigerung; Castiglioni war mit einem Schlage ein reicher Mann ... Was sich in den Kriegsjahren weiterhin an positiven Geschäften ergab, das ist natürlich für einen Außenstehenden nicht leicht zu erkennen, noch schwieriger zu kritisieren. Soviel steht fest, dass die finanzielle Potenz dieses triebstarken Mannes in den Kriegsjahren ganz außerordentliche Fortschritte gemacht hat, dass sein Feingefühl hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen ihm beinahe immer recht gegeben hat, und dass er deshalb, da er seine geschäftlichen Handlungen danach einzurichten verstand, regelmäßig sehr gut abschneiden konnte ... Im Kreise seiner Freunde gilt Castiglioni als eine sehr interessante, merkwürdige Figur. Er ist von einer blitzartigen Impulsivität, von einer geradezu wunderbaren Beweglichkeit des Geistes; sprudelnd von Laune und Witz und einer Flinkheit der Rede, die sogar seiner italienischen Abstammung alle Ehre macht. Über alles liebt er den Luxus, eine gewisse Höhe der Lebenskultur, der er jedes Opfer zu bringen bereit ist. Es ist aber keineswegs Verschwendungssucht, die ihn 9
Hans Habe, Ich stelle mich. Meine Lebensgeschichte, München 1986, S. 129
Der Industrielle 1. Teil
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treibt, immerhin aber weht ein Hauch aus der Renaissancezeit aus dieser Persönlichkeit ... Worin aber der Zauber der Persönlichkeit liegt, lässt sich schwer sagen. Castiglioni ist kein Apoll; nein, nicht im Geringsten! Mittelgroß von Gestalt, macht er infolge eines prächtigen Embonpoints10 einen etwas vierschrötigen Eindruck. Aber die Augen in dem glattrasierten Gesicht, diese schwarzen, glühenden, lebendigen Sterne gewinnen leicht faszinierenden Einfluss. Auch seine leichte Hand, die gute Art, Geld auszugeben, müssen suggestive Wirkung ausüben ... Falsch wäre es, ihm Einseitigkeit vorzuwerfen. Er besitzt Gegengewichte, die ihn zu einem höchst wertvollen Menschen stempeln. Ein Freund aller schönen Künste, ist er gebildet, belesen, strebt für sich und seine Umgebung in den höchsten Höhen der lebendigen Kultur. Malerei und Skulptur locken ihn in gleichem Maße, und er besitzt schon jetzt eine Sammlung alter und moderner Werke, die das Entzücken aller Kenner bildet. Man sieht einen Menschen mit tausend Fassetten [sic], blendend glitzern von Wert und auch mit Kehrseiten dieser Medaille. Alles in allem eine interessante Persönlichkeit, die im geschäftlichen und gesellschaftlichen Leben dieser Stadt noch viel von sich reden machen wird. Ein Mann in den besten Jahren, der auf dem Sprunge steht, sich seine Stellung zu erobern, die seinen Kräften und seinem Ehrgeiz entspricht.“11 Für den italienischen Bankier Josef Toeplitz war Castiglioni der listigste Geschäftsmann, den er je getroffen hatte. Er sagte niemals Nein, ließ den Gegner gründlich einsinken, um ihn dann im Netz einzuschließen, ihn einzufangen, ohne dass er aufbegehren konnte.12 Sein Sohn Ludwig erinnerte sich an einen Besuch 1921: „Ein kleiner, unbedeutender Mann, sehr wenig repräsentativ mit rundlich geformten Linien. Wie ein Ei. Das Gesicht hatte keine besonderen Merkmale, die Nase sprang über dem Mund zwischen den weichen Wangen. Er scheint kein Skelett zu haben unter der Masse des Fleisches. Nur die Augen hatten lebendige Spritzer, gerade so viel, dass sie seinem bleichen Gesicht einen unerwarteten Glanz von intelligenter Ironie gaben. Camillo Castiglioni ließ sicher nicht die enorme Masse an Schlauheit und Willen durchblicken, welche sich unter dem Aussehen eines Schlappschwanzes verbarg. Er sprach, wenn er einen Satz bildete, als ob er wörtlich aus dem Deutschen übersetzen würde, mit einem typisch venezianischen, alt triestinischen Akzent. Er war der wahre Sauhund, aber er erinnerte eher an einen Blutsauger, bereit aus dem Stegreif seine schleimigen Fühler auszustrecken, um die Beute zu fassen.“13 Und an anderer Stelle: „Er war ein Hai, auch wenn er 10 Wohlbeleibtheit 11 Novus, Camillo Castiglioni. Ein Porträt, Neues Wiener Journal, 15. Oktober 1919 12 Valerio Castronovo über Camillo Castiglioni in DBI 22, Rom 1979, S. 133–136 13 Valerio Castronovo über Camillo Castiglioni in DBI 22, Rom 1979, S. 133–136
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eher an eine Krake erinnerte, bereit, plötzlich ihre schleimigen Tentakeln auszustrecken, um die Beute zu packen.“14 Aber sein Auftreten stand im Gegensatz zu seinem Äußeren, zwar sei er „ein Mann mit dem Kopf eines Stieres, mit wulstigen Lippen, fleischigen Ohren, dunkeln, unverbindlichen Augen, aber mit einem unendlichen Charme begabt, dem nicht nur schöne Frauen, sondern auch maßgebliche Beamte der Wirtschaftspolizei, ja sogar Untersuchungsrichter und Staatsanwälte erliegen.“15 Der Aufstieg Castiglionis ist ohne den Ersten Weltkrieg nicht zu denken. „Castiglioni wurde sich rasch dessen bewusst, was ein Krieg für einen tüchtigen Geschäftsmann an Erfolgen und Gewinnmöglichkeiten in sich bergen kann. Fast noch mehr als die deutsche, hatte die österreichische Industrie die Möglichkeit, aus dem Vollen zu schöpfen, das Geld lag dort förmlich auf der Straße. Die hereinströmenden Millionen Kronen steckte Castiglioni nicht in den Strumpf, sondern erwarb Sachwerte, wohl wissend, dass nichts so vergänglich und im Wert so schwankend ist als Papiergeld. Er bahnte sich den Weg zur Industrie ... So wurde Castiglioni zum Kriegslieferanten großen Stils. Er lieferte dem österreichischen Heer fleißig Waffen und Fahrzeuge, damit es erfolgreich gegen seine Stammesgenossen und späteren Landsleute kämpfen konnte.“16 „Ohne den Krieg und den Währungszusammenbruch mit seinem wilden Spekulationstaumel würde Herr Castiglioni wahrscheinlich noch im verborgenen blühen, würde sein Name über einen engen Kreis kaum hinausgedrungen sein, würde er all jene Stellen, die er dank seinem nach Milliarden zählenden Vermögen in sich vereinigt, niemals an sich gerissen haben. Leute, die ihn in seinen Anfängen gekannt haben, versichern, dass er sich, bevor er das Glück hatte, zu den reichen Männern in Österreich zu zählen, nicht über den Durchschnitt erhoben habe, dass er durch keine ungewöhnlichen Begabungen aufgefallen sei und dass nichts in seinem Wesen und Charakter auf jene Erfolge schließen ließ, die ihm das Schicksal beschieden hat. Es gibt Leute, die die Kriegskonjunktur erfasst und durch ihre kaufmännische Beweglichkeit und ihren hoch entwickelten geschäftlichen Instinkt zu ihrem Vorteil ausgenützt haben.“ 17
14 Christian Pierer, Die Bayerischen Motoren Werke bis 1933. Eine Unternehmensgründung in Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise, München 2011, S. 91. Ludovico Toeplitz, Il banchiere. Al tempo in cui nacque, crebbe e fiori la Banca Commerciale Italiana, Milano 1963 15 Martin Rathsprecher, Porträt Camillo Castiglioni, Tagebuch, Wien 24. Oktober 1953 16 Paul Ufermann, Könige der Inflation, Berlin 1924, S. 69 17 Abgedruckt in: Montagszeitung, 31. Oktober 1921
Die Automobilindustrie
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Die Automobilindustrie Castiglioni, hieß es, fuhr bereits im Auto, als andere noch gemächlich im Fiaker saßen.18 Noch vor Ende des Krieges gelang es ihm, in diesem Industriezweig tätig zu werden und innerhalb von wenigen Jahren in den führenden Unternehmen Fuß zu fassen. Die Kontakte stammten bereits aus seiner Zeit bei Semperit und die finanzielle Basis aus seinen Erfolgen an der Börse und später als Hauptaktionär und Präsident der Depositenbank. Am Beginn stand die 1899 gegründete Grazer Firma Johann Puch – Erste Steiermärkische Fahrrad-Fabrik AG, die seit 1906 auch Automobile produzierte. 1917 machten hohe Verluste eine Generalsanierung notwendig, sodass deren Aktienmehrheit in das Eigentum der Gruppe Castiglioni-Depositenbank gelangte. Während des Krieges wurden mit an die tausend Beschäftigten fast ausschließlich Automobile, Motoren und Geschosse für Heereszwecke produziert. Anfang 1918 konnte Castiglioni dann einen erheblichen Aktienanteil der Österreichischen Fiat-Werke AG erwerben. Seine Funktion als Berater der Anglo-Österreichischen Bank, die starken Einfluss auf den Austro-Fiat hatte, dürfte ihm diese Transaktion erleichtert haben. Nach der Gründung durch die Turiner Fiat-Werke und die Anglo-Österreichische Bank im Jahr 1907 hatte diese zunächst nur die aus Turin gelieferten Autoteile in Wien-Floridsdorf zusammengebaut.19 Auch dieses Unternehmen hatte seine Produktion nun auf kriegswichtige Produkte auszudehnen, vor allem Flugzeugmotoren. Mit 5.500 Beschäftigten war Austro-Fiat etwa doppelt so groß wie Puch. Das Aktienkapital von ursprünglich 1,25 Millionen Kronen wurde während des Krieges verzehnfacht und das Unternehmen verfügte über Beteiligungen an den ungarischen Fiat-Werken und den Ganz-Flugzeugwerken. Die Kontrolle durch die italienische Muttergesellschaft wurde mit dem Kriegseintritt Italiens 1915 aufseiten der Westmächte gelöst. Nach Ende des Krieges und dem Wegfall der Heeresaufträge geriet Austro-Fiat in Liquiditätsschwierigkeiten. Zusätzlich verlangte das Turiner Stammhaus nun Entschädigungen für die erzwungene Enteignung und eine Neuregelung der Lizenzverträge. Im Herbst 1919 übernahmen die Italiener bei einer Kapitalerhöhung vorübergehend wieder die Aktienmehrheit, zogen sich aber 1920 wieder zurück. Die Aktienmehrheit ging nun an die Creditanstalt über, deren Direktor, Hugo Marcus, zum Präsidenten und Camillo Castiglioni zum Vizepräsidenten wurde. 1921 wurde 18 Die Börse, 20. April 1922 19 Franz Mathis, Camillo Castiglioni und sein Einfluss auf die österreichische Industrie, in: Sabine Weiss (Hg.), Historische Blickpunkte. Festschrift für Johann Rainer, Innsbruck 1988. Franz Mathis, Big Business in Österreich. Österreichische Großunternehmen in Kurzdarstellungen, Wien 1987
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Austro-Fiat in die Firma „Österreichische Automobil-Fabriks Aktiengesellschaft vorm. Austro-Fiat“ umgewandelt. Das wichtigste Unternehmen der Branche war aber die Österreichische Daimler Motoren GmbH. Nach dem Ausscheiden von Paul Daimler als Konstrukteur 1906 kam 1910 Ferdinand Porsche. Unter ihm wurde das Fabrikationsprogramm wesentlich erweitert und der Personenwagen- und Nutzfahrzeugbau forciert. Um den Absatz zu fördern, wurden Verkaufsniederlassungen in Wien, London, Paris und Berlin errichtet. Die Fabrikseinrichtungen in Wiener Neustadt mussten um ein Vielfaches erweitert werden und zählten zu den modernsten Österreichs. 1910 wurde die Firma unter Leitung des Wiener Bankvereins in eine Aktiengesellschaft umgewandelt mit einer Kapitalaufstockung von 4,4 auf 8 Millionen Kronen. 1911 ging sie eine Interessengemeinschaft mit den Pilsner Škoda-Werken ein, was auf ein verstärktes Engagement in der Produktion von Heeresbedarf hindeutete. Die Mitarbeiterzahl wuchs bis zu Kriegsausbruch auf 900 an. Der Aufschwung des Unternehmens war im Wesentlichen auf die guten Beziehungen zum Kriegsministerium zurückzuführen. Ab der Balkankrise 1908 und den beiden Balkankriegen 1912/13 war es verstärkt an neuen Militärtechnologien interessiert. So wurde der Daimler Motoren AG bereits 1909 ein erster Auftrag für die Lieferung von Zugmaschinen für Škoda-Mörser erteilt, die gebirgstauglich sein sollten. Ferdinand Porsche, dessen Interesse eigentlich der Entwicklung eines leichten und schnellen PKW galt, hatte sich zunehmend mit der Konstruktion von Lastwagen und PS-starken Motoren sowie der Flugmotorenproduktion zu beschäftigen. Dazu kam, dass auch private Automobilkäufe durch die Mitglieder des „k. k. Freiwilligen Automobilkorps“ aus einem 1911 eingerichteten Subventionsfonds des Kriegsministeriums unterstützt wurden. Auch die Österreichische Daimler Motoren AG in Wiener Neustadt wurde schließlich an den Konzern der Depositenbank angegliedert. Das Unternehmen nahm während des Krieges einen starken Aufschwung und zählte zum führenden Automobilproduzenten des Landes, da die anderen ihre Produktion auf kriegswichtige Erzeugnisse verlagert hatten.20 Somit kontrollierte Castiglioni die drei größten Autohersteller Österreichs. Daimler beschäftigte etwa gleich viele Arbeitskräfte wie die beiden anderen Firmen zusammen und sollte nun den Kern des Automobilkonzerns Daimler-Fiat-Puch bilden, den 20 Mit Daimler in Interessengemeinschaft stand die österreichische Brown-Boveri AG. Daimler hatte 1916 30.000 Aktien erworben und damit fast die Hälfte des Aktienkapitals. Diese ging aber bald in den Einflussbereich der Niederösterreichischen Escomptegesellschaft und des Schweizer Mutterhauses über.
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Castiglioni bereits seit 1917 schaffen wollte. Das Kriegsende und die Umstellung auf die Friedenswirtschaft mit Absatzschwierigkeiten und Energie- und Rohstoffmangel verhinderten die Neustrukturierung in den ersten Friedensjahren. Erst 1921 konnte daher die Fusionierung und Produktionsbereinigung in Angriff genommen werden. Es kam zum Aktientausch zwischen den Unternehmen und zur Erhöhung des Stammkapitals, die Firmen blieben aber formell eigenständig. Dabei erfolgte die Automobilproduktion bei Daimler in Wiener Neustadt und die LKW-Produktion bei Fiat in Wien. Puch sollte wieder auf dem Fahrradsektor aktiv werden und einen neuen Kleinwagen produzieren. Die Einkaufs- und Verkaufsorganisation und die Konstruktionsbüros der drei Gesellschaften wurden bei Daimler zusammengelegt. 1921 bestand das Produktionsprogramm für Daimler aus 2.300 Personenwagen, bei den Fiat-Werken aus 1.000 Lastwagen und bei Puch aus 15.000 Fahrrädern und 1.000 kleinen Autos, Feldbahnen und Motorpflügen.21 Castiglioni konnte sich auf ein fähiges Team von Konstrukteuren stützen, vor allem auf Ferdinand Porsche, der ab 1917 als Generaldirektor für das Unternehmen verantwortlich war. Ende 1919 plante Porsche den Bau eines „Volkswagens“. Die Idee stammte angeblich vom österreichischen „Filmgrafen“ Alexander Graf Kolowrat, nach dem der erste, 1921 fertiggestellte Prototyp auch den Namen „Sascha“ erhielt. Die Geschäftspolitik von Daimler wurde aber nun vom Aufsichtsrat der Depositenbank bestimmt, vor allem von Castiglioni. Dieser führte 1920 und 1921 eine Reihe von Kapitalerhöhungen durch, von denen aber weniger die beteiligten Firmen als das von Castiglioni angeführte Syndikat profitierte. Castiglioni war mit Porsche ursprünglich „ein Herz und eine Seele“ und die beiden duzten sich. Die sehr erfolgreichen Starts bei Wagenrennen begeisterten Castiglioni ebenfalls. Als es aber 1922 beim Großen Preis von Italien zu einem tödlichen Unfall kam und sich dies in den Medien negativ niederschlug, kam es zum Bruch zwischen den beiden. Das Sportprogramm wurde nun gestrichen. Vor allem aber Castiglionis Absicht der Produktbereinigung führte zu Konflikten mit Porsche. Castiglioni hielt wenig von dessen Visionen und setzte viel mehr auf die anerkannte Qualität der großen Daimler-Limousine. Er kritisierte Porsches kostspieliges Engagement bei Straßenrennen und forderte generell eine Reduzierung der Betriebskosten. „Generaldirektor Porsche hatte es schwer, sich gegen den Geldmann durchzusetzen. Denn Porsche war das Streben nach persönlichem Vorteil völlig fremd. Er dachte und lebte für seine Arbeit, für das Werk, in dem er groß geworden war. Er hatte in jener Krisenzeit nur ein Ziel: die Substanz des Betriebes, die Arbeitsplätze zu sichern, die Produktion in Gang zu halten. Castiglioni bewunderte Porsche, er moch21 Der Österreichische Volkswirt, 1921, S. 61 f.
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te ihn sogar.“22 Als Castiglioni Anfang 1923 einen Personalabbau von 2.000 der 5.000 Mitarbeiter forderte und den direkten Zugriff auf die Devisenerlöse des Unternehmens verlangte, kam es zum Bruch. Ferdinand Porsche ging nun als technischer Direktor und Vorstandsmitglied zu den Daimler-Werken nach Deutschland. Er empfahl sich als der Choleriker, der er immer gewesen war, mit: „Leckts mich. Ihr Judenbagasch!“23 Von den Leistungen Porsches zehrte das österreichische Unternehmen aber noch über Jahre, auch wenn er augenscheinlich kein einfacher Partner gewesen ist. „Den Porsche kann ich nicht bezahlen“, hatte sich Castiglioni beklagt. „Er hat die Änderungswut. Der Heinkel macht auch seine Fehler. Aber wenn er erst mal gesagt hat, die Serie mach ich so, dann wird sie so gemacht. Doch wenn Porsche einen Motor baut, dann gibt er um die Serie nichts. Er will nur ändern, ändern, ändern! Und das ist für mich zu teuer.“ Emil Georg von Strauß, später Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank und BMW, erklärte Castiglioni: „Sie können Porsche engagieren. Er ist ein sehr genialer Mann. Aber hören Sie mein Rezept. Sie müssen ihn in einen Käfig mit sieben Schlössern einsperren. Darin soll er seine Motoren zeichnen. Und er soll Ihnen die Motorzeichnungen durch die Gitterstäbe herausreichen, damit er um Himmels willen nicht noch einmal an die Zeichnung oder an den Motor heran kann. Das ist mein Rezept. Ich gebe es kostenlos, obwohl es nicht zu bezahlen ist.“24 Reibungsloser verlief die Entwicklung bei Puch. Das Unternehmen produzierte ab 1919 den Alpenwagen und einen Motorpflug. Trotz der guten Sporterfolge des Alpenwagens verkaufte er sich aber nicht gut, sodass sogar an eine Liquidation des Unternehmens gedacht wurde. Stattdessen entwickelte man 1923 ein Motorrad, das gute Marktchancen hatte und letztlich Geschichte machen sollte. Es war das erste 2-PS-Doppelkolbenmotorrad. Langfristig hatten Castiglionis Fusionsabsichten aber doch Erfolg. 1928, nachdem er bereits aus den Unternehmen ausgeschieden war, kam es unter der Leitung von zwei Wiener Großbanken zur Fusion von Daimler und Puch und 1934 zur Integration der Steyr-Werke zur Steyr-Daimler-Puch AG. Die Zusammenfassung des Großteils der österreichischen Fahrzeugindustrie geschah zwar letztlich ohne Beteiligung Castiglionis, war aber von ihm durch seine Aktienkäufe ab 1917 vorbereitet worden.25
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Hans Seper, Österreichische Automobilgeschichte 1815 bis heute, Wien 1986, S. 292 Der Spiegel, 4. Mai 1950, S. 25 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 63 Franz Mathis, Camillo Castiglioni und sein Einfluß auf die österreichische Industrie, in: Sabine Weiss (Hg.), Historische Blickpunkte. Festschrift für Johann Rainer, Innsbruck 1988
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Die Flugzeugindustrie Auch die Militärs der k. u. k. Armee befassten sich systematisch mit dem Einsatz von Kugelballons und begannen im August 1890 mit der Ausbildung von Heeresoffizieren. Zu den wichtigsten Lieferanten gehörte die Österreichisch-amerikanische Gummi fabrik AG, die schon 1884 die Gummihülle des ersten in Österreich gefertigten Ballons geliefert hatte. Bis zu Kriegsausbruch wurden 12 Ballonabteilungen innerhalb der Armee aufgestellt, mit je zwei Ballons. Bis 1917 kamen noch zwei Abteilungen hinzu, die der Luftfahrttruppe unterstellt wurden. Als die Armee 1897 versuchsweise das erste Luftschiff in Betrieb nahm, stammten die Motoren von den Daimler-Werken und die Gummihülle von den Österreichisch-amerikanischen Gummiwerken. Die Haltung der Armeeleitung war ursprünglich zurückhaltend gewesen. Der entscheidende Durchbruch gelang 1909, als sich der ehemalige Kommandant der k. u. k Militär-Aeronautischen Anstalt, Franz Hinterstoisser, zugleich Präsident des Österreichischen AeroClubs, wiederholt für den Einsatz von Luftschiffen für militärische Zwecke eingesetzt hatte. Die Armee entschloss sich zunächst zum Bau eines Luftschiffhafens in Fischamend, wo Ende 1909 eine Halle von 90 x 20 Metern errichtet wurde. Das erste motorisierte Luftschiff des k. u. k. Heeres war der 50 Meter lange Lenkballon Parseval I, nach den Plänen des preußischen Majors August von Parseval. Castiglionis Gummifabrik lieferte die Ballonhülle und Ferdinand Porsche konstruierte seinen ersten Flugmotor. Am 26. November 1909 stieg das Luftschiff auf. In den Zeitungen war zu lesen: „Gegen elf war alles zur Abfahrt bereit. Das weite Tor der Ballonhalle war geöffnet. Direktor Porsche bediente als Gentleman-Mechaniker selbst den Motor, seinen Motor, dessen sonores Schnurren die Halle erfüllte ... Am Sonntag dem 28. November 1909 fand der sensationelle Flug über Wien statt. Das Luftschiff trug vier Personen und 180 kg. Ballast. Der Ballon kreiste über dem Stephansdom. Der Kaiser hat von seinem Arbeitskabinett im Reichstrakt der Hofburg mit einem Fernglas die Bewegungen des Ballons verfolgt und schickte an Ferdinand Porsche danach ein Telegramm: ‚Seine k.u.k. Apostolische Majestät haben die Nachricht über die Flüge des ersten Luftschiffs mit besonderem Interesse gnädigst zur Kenntnis zu nehmen geruht und danken bestens für die erfreuliche Mitteilung.‘“26 „Als Direktor von Semperit war Camillo Castiglioni schon am 24. August 1909 selbst mit einem Freiluftballon aufgestiegen und unternahm am 13. Mai 1911 einen 390 km lange Nachtballonfahrt. Castiglioni gehörte zu den ältesten Mitgliedern des Öster26 Hans Seper, Österreichische Automobilgeschichte 1815 bis Heute, Wien 1986, S. 119
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Bild 3 Militärballon vor der Rotunde in Wien 1914 150 Jahre Österreichische Kautschukindustrie 1824–1974, Molden Verlag, Wien 1975
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reichischen Aeroclubs, der ihm auch die goldene Medaille verlieh.“27 Hellmut Andics schrieb, dass Castiglioni immer die neuen Industriezweige suchte, Dinge, bei denen nicht Erfahrung zählte, sondern Wagemut. „Castiglioni hatte auf Autos getippt, als Leute, die etwas auf sich hielten, noch mit dem Fiaker fuhren. In dem Augenblick, in dem auch diese Leute begannen, sich auf die Pferdestärken unter der Motorhaube zu verlegen, da dachte Castiglioni schon wieder einen Schritt weiter: Er wollte fliegen. Luftverkehr, das würde das große Geschäft für morgen sein. Flugzeuge – sie würden vor allem die Waffe für morgen sein, die entscheidende Waffe für den nächsten Krieg. 1908, im Jahre der bosnischen Annexionskrise, gab Castiglioni dem Frieden nur wenig Chancen. Für ihn war es nur noch eine Frage der Zeit, wann der allgemeine große Krieg ausbrechen würde. Er kalkulierte, dass jene Partei den Krieg gewinnen würde, die ihn nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in der Luft führen konnte. Castiglioni lief sich die Füße wund, um den alten Generalen im Kriegsministerium diese Zukunftsvision einprägsam genug vorzutragen. Viel Erfolg hatte er dabei nicht. So entschloss er sich zu einem drastischen Mittel: Er ließ sich ein Flugzeug bauen, lernte selbst fliegen und jagte am 18. August 1908 den Wienern einen tödlichen Schrecken ein, als er im Tiefflug über die Innenstadt flog und enge Kreise um den Stephansdom zog. Daraufhin bekam er eine Audienz bei Kaiser Franz Joseph. Dem Kaiser Franz Joseph waren Autos immer schon zuwider. Es machte ihm auch keine besondere Freude, die zahlreichen neu geadelten Industriebarone zu empfangen, die sich bei ihm für Orden und Wappenschilde bedanken wollten. Junge Männer verabscheute er außerdem, weil er an ihrem Lebensernst zweifelte – drei gewichtige Gründe, um den Reifenindustriellen Camillo Castiglioni mit seinen knapp 29 Jahren nicht eben zum übermäßig geschätzten Audienzbesucher zu machen.“28 In jenen Tagen wurde aber auch die Anekdote erzählt, Kaiser Franz Joseph habe Castiglioni bei der Verabschiedung scherzhaft gesagt: „Sie werden es noch so weit bringen, dass unsere Monarchie nicht mehr k. k. heißt, sondern C. C.“29 Auf Castiglioni war es zurückzuführen, dass die Österreichisch-amerikanischen Gummiwerke mit den Daimler-Werken am 23. 4. 1909 die Motor-Luftfahrzeug-Gesellschaft m.b.H. (MLG) gründeten, die auch den ersten Lenkballon konstruierte. Die Firma wurde unter der Patronanz des Wiener Bankvereins aus der Taufe gehoben und beschäftigte sich vorerst mit dem Bau von drei Luftschiffen, Castiglioni ließ sich zum Geschäftsführer bestellen. Die Gesellschaft betrieb die Errichtung eines großen Flug27 Munzinger Archiv 1930 28 Hellmut Andics, Die Presse, 9. Juni 1961 29 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 44
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Bild 4 Flugausweis Castiglioni 150 Jahre Österreichische Kautschukindustrie 1824–1974, Molden Verlag, Wien 1975
felds am Rande von Wiener Neustadt – in der Nähe der Daimler-Werke –, wo 1909 die beiden ersten Aeroplanhallen fertiggestellt wurden. Sie wurden vom österreichischen Flugpionier Igo Etrich bezogen, der eng mit den Lohner-Werken kooperierte. Der Fabrikantensohn Igo Etrich hatte bereits 1906 ein Gleitflugzeug konstruiert, mit dem ein Flug über 250 Meter gelungen war, und dieses dann weiterentwickelt. In der Folge errichteten auch die Daimler-Motorenwerke zwei eigene Hallen auf dem Flugfeld. Im September 1909 wurde in Linz die erste österreichische Luftschifffahrtsausstellung eröffnet und im November des Jahres der Wiener Neustädter Flughafen offiziell seiner Bestimmung übergeben. Bei der österreichischen Flugzeugindustrie spielten neben Daimler vor allem die Lohner-Werke eine wesentliche Rolle, die sich seit 1908 auf den Flugzeugbau konzentrierten. In dieser Zeit wandten führende Militärs und der Kaiser selbst ihr Interesse in verstärktem Maße der militärischen Nutzung der Luftfahrt zu. Diese dienten anfangs vor allem der Aufklärung von Truppenbewegungen, die bis dahin noch immer durch Kavallerie, Ballone oder Luftschiffe durchgeführt wurde. Ende 1909 entschloss sich das Kriegsministerium zur Errichtung eines zweiten Stützpunkts für militärische Luftfahrt in Wiener Neustadt. Von jetzt an gestalteten sich die Beziehungen zu Castiglioni trotz einiger Rückschläge immer enger. Nachdem er bereits als Lieferant von Luftschiffen in Erscheinung getreten war, übernahm er Ende 1910 die Verwertung der Etrich-Flug-
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Bild 5 Flug Castiglionis um den Stephansdom 1914 Ansichtskarte, Archiv Dieter Stiefel
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Bild 6 Lohner-Etrich-Renntaube am Flugfeld Wiener Neustadt 1913. Camillo Castiglioni, Dritter von rechts, daneben Ferdinand Porsche. Am Propeller Österreichs erste Fliegerin Lilli Steinschneider. Martin Pfunder, Austria Daimler und Steyr, Böhlau Verlag 2007
zeugkonstruktionen und übertrug den Bau den Lohner-Werken. Gleichzeitig sicherte er sich ausländische Patente für den Bau militärischer Luftschiffe, wobei Semperit und Daimler weiter als Zulieferer fungierten. Lohner produzierte 1910 die ersten Motorflugzeuge (Simon I), die in der Folge mit Austro-Daimler-Motoren ausgerüstet wurden, welche von Ferdinand Porsche konstruiert worden waren. In weiterer Folge wurde der „Pfeilflieger“ entwickelt, der in großer Stückzahl gebaut wurde. Da Castiglioni mit der Motor-Luftfahrt GmbH (MLG) nicht selbst in den Flugzeugbau einsteigen konnte, schloss er am 6. 9. 1912 mit der Firma Lohner einen Vertrag, der ihm sämtliche Aufträge für Flugzeuge sicherte. Es stand ihm zwar nur 15 % des Reingewinns zu, er partizipierte damit jedoch am Aufbau der österreichischen militärischen Luftfahrttruppe, da es bis 1913 praktisch keine Konkurrenz gab. Die MLG übernahm zusätzlich 2/3 der Kosten des Flugzeugkonstruktionsbüros der Firma Lohner. „Damit begann die reichlich problematische Zusammenarbeit zwischen Ing. Ludwig Lohner
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Die Flugzeugindustrie Bild 7 Camillo Castiglioni mit Eduard Fischer, Lohner Werke, beim Einstieg in die Luftfahrt. Martin Pfunder, Austria Daimler und Steyr, Böhlau Verlag 2007
und Camillo Castiglioni. Hier trafen zwei völlig verschiedene Charaktere und Temperamente zusammen, der Besitzer einer alten soliden Familienfirma und der jähe geschäftliche Aufsteiger mit viel Ellenbogentechnik. Die Sache konnte, wie sich später zeigen sollte, nicht gut ausgehen; aber noch besaß Castiglioni nicht genügend Kapital, um seinen Flugzeugkonzern aus eigener Kraft aufzubauen.“30 In dieser Zeit gelang es ihm, weitere Firmen für den Flugzeugbau zu gründen, 1912 in Budapest gemeinsam mit Lohner u. a. die Ungarische Flugzeugwerke AG (UFAG), die allerdings erst 1915 ihre Produktion aufnahm. In Berlin wurde eine Verkaufsrepräsentanz der MLG errichtet und unter Mitwirkung von Lohner die Deutsche Aero-Gesellschaft ins Leben gerufen. Aufgrund einiger Unfälle von Marineflugzeugen in Erprobung und der zunehmenden Kritik führender Militärs an den Zwischengewinnen der MLG kam es im letzten Friedensjahr zu erheblichen Rückschlägen. Am 9. 3. 1914 stürzte in Aspern wegen Flügelbruchs eine Lohner-Maschine ab und die beiden Insassen kamen zu Tode. Am 28. 4. 1914 kam es zu einem weiteren Flugzeugabsturz aus dem gleichen Grund, wobei wieder eine Person umkam. Gegen Lohner kam es nun zu einer Pressekampagne, die 30 Erwin Steinböck, Lohner zu Land, zu Wasser und in der Luft. Die Geschichte eines industriellen Familienunternehmens von 1823–1870, Graz 1981, S. 36
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ihre Wirkung auf die Militärs nicht verfehlte. Am 20. 6. 1914 kam es zum Unglück von Fischamend, wo ein Doppeldecker mit einem Militärluftschiff zusammenstieß, was neun Menschenleben forderte. Darauf erfolgte die Einstellung der Militär-Luftschifffahrt, wodurch bei Kriegsbeginn die 15 geplanten Fliegerkompanien nicht einsatzfähig waren.31 Die Zusammenarbeit mit den österreichisch-ungarischen Heeresstellen war am Anfang nicht reibungslos, was auch auf den Vorbehalt einzelner jüngerer Offiziere gegen Castiglioni zurückging. „Dass er jüdischer Abstammung war, obwohl schon seit 20 Jahren evangelischer Religion, schien in ihren Augen die kleinere Sünde. Die größere war seine vorwiegend italienische, also feindliche Abstammung. Allein die Tatsache, dass Castiglioni Ende 1914 mit einem päpstlichen Nuntius am Telefon Italienisch gesprochen hatte, führte zu vielen versteckten Angriffen. Die jungen hitzköpfigen und arroganten Offiziere kamen allerdings nicht an der Tatsache vorbei, dass Castiglionis Flugzeugwerke die einzigen waren, die in größerem Umfang wirklich brauchbare Flugzeuge liefern konnten.“32 Der Konflikt spitzte sich mit Hauptmann Weingartner zu, dem Adjutanten des Generals, wie Castiglioni erzählte. „Man unternimmt so vieles gegen Castiglioni, und Castiglioni sieht zu. Ich weiß alles, was Weingartner tut. Ich habe meine Leute, die es mir berichten. Meine Geduld ist lang. Aber vielleicht ist das Maß einmal voll, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen, Sie werden sehen ... Mir gegenüber hat dieser Hauptmann es so weit getrieben, dass die Fliegeroffiziere im Bristol, mit denen ich immer wie mit Freunden meinen Wermut getrunken habe, mich ignorieren. Aber er wird die Antwort bekommen, die er anscheinend braucht.“ Wenige Tage später war es zum endgültigen Konflikt gekommen. Castiglioni war zum General bestellt worden, im Vorzimmer saß Weingartner. Castiglioni: Ich bin zum General gebeten auf zehn Uhr. Es ist jetzt zehn Uhr und ich möchte den General sprechen. Weingartner: Warten Sie ... Castiglioni: Wollen Sie dem General melden, dass ich hier bin. Weingartner: Sie werden mir überlassen, wann ich Sie melde oder nicht. Der General ist nicht da. Castiglioni: Ihr Gehör hat für Ihre Jugend sehr gelitten, Herr Hauptmann, Ich höre die Stimme des Generals durch die Tür. 31 Erwin Steinböck, Lohner zu Land, zu Wasser und in der Luft. Die Geschichte eines industriellen Familienunternehmens von 1823–1870, Graz 1981, S. 37 32 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 49
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Weingartner schreit: Sie werden warten, bis der General Sie empfangen kann, haben Sie mich verstanden? Castiglioni: Sie irren sich, junger Mann. Ich bin auf zehn Uhr bestellt. Da Sie mich nicht melden, werde ich wieder gehen. Weingartner: Wenn der General Sie bestellt, werden Sie hier bleiben und warten und wenn es bis heute Abend dauert! Castiglioni ruhig: Herr Hauptmann, damit Sie endlich lernen, wen Sie vor sich haben, werde ich sogar auf der Stelle gehen. Geht zur Tür. Weingartner: Sie folgen also meinen Befehlen nicht! (schreit) Ordonnanz, Ordonnanz! Castiglioni: Lassen Sie Ihre Ordonnanz weiterschlafen. Sie wird mich nicht anrühren. Ich gehe allein. Aber Sie werden von mir hören. Am nächsten Morgen hatte ihn Castiglioni auf ein Duell mit Säbel gefordert. Zwar waren Duelle während des Kriegs streng verboten, aber Castiglioni wandte sich an Kriegsminister Krobatin, den er gut kannte, und bekam zwei Tage später von diesem einen Zettel: „Duell zwischen Weingartner und Castiglioni morgen früh um drei.“ Bei der Fahrt dorthin wollten ihn die Polizisten noch aufhalten, da das Duell aber auf dem militärischen Gelände des Arsenals stattfand, konnten sie nicht einschreiten. Das Duell dauerte fünf Minuten, Castiglioni erhielt nur einen unbedeutenden Kratzer, traf seinen Gegner aber in die Seite, sodass dieser fortgetragen werden musste. „Sie werden sehen, wie großartig wir in Zukunft zusammenarbeiten werden“, sagte er zu Heinkel.33 Um der Kritik einer bloßen Vermittlertätigkeit zu entgehen, gründete Castiglioni bereits im Mai 1914 die Österreichisch-ungarische Albatros-Werke GmbH mit Sitz in Wien Stadlau, die 1917 in die Phönix-Flugzeugwerke umgewandelt wurde. Bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch kamen die ersten Aufträge von der Luftfahrttruppe. Im Unterschied zur MLG betrieben die Albatros-Werke zumindest eine teilweise Fertigung von Flugzeugen, die zunächst mit Mercedes-Motoren ausgestattet waren. Die Produktion erfolgte ab 1915 auch für die deutsche Heeresverwaltung. Es folgte die Übernahme der Rapp-Werke in München, die 1917 vier Jahre nach ihrer Gründung in den Bayrischen Motorenwerken (BMW) aufging, und weiterer Produktionsgesellschaften in Österreich und im Deutschen Reich. Im Verlauf des Jahres 1915 setzte sich Castiglioni nach und nach in das alleinige Eigentum der Flugzeugwerke, deren steigender Gewinn im allein zugutekam. Als Erstes 33 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 50–52
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schieden am 1. 1. 1915 die übrigen Aktionäre aus, die sich an der Gründung der MLG beteiligt hatten, so dass nur Castiglioni mit 49 % und Lohner mit 51 % übrig blieben.34 Am 16. 2. 1915 übernahmen die beiden zu je 50 % die Anteile der UFAG. Am 7. 6. 1915 kauften sie die Hansa-Flugzeugwerke und vereinigten sie am 10. 7. 1915 mit der DAG und den Brandenburgischen Flugzeugwerken zu den Hansa-Brandenburg-Flugzeugwerken mit dem Chefkonstrukteur Ernst Heinkel. Ludwig Lohner übernahm den Kapitalanteil von Igo Etrich von 200.000 Mark und Caspar und Castiglioni verfügten über je 400.000 Mark. Am 22. 5. 1915 war es zusätzlich zur Gründung einer Exportgesellschaft für Lohner-Flugzeuge gekommen, an dem sich Lohner und Castiglioni mit je 100.000 Kronen beteiligt hatten. Bald jedoch kam es zu ernsten Differenzen mit Lohner, den er bis dahin stets als väterlichen Freund angesehen hatte. „Aufgrund seiner Beteiligung an den Kosten suchte Camillo Castiglioni auch Einfluss auf das Konstruktionsbüro zu gewinnen und versuchte sich die Leute durch Gehaltserhöhungen geneigt zu machen.“ Und er begann mit Bestechungen: „Dabei soll der Geschäftsleiter 10.000 Kronen bekommen haben. Weitere Summen flossen an den Buchhaltungsleiter, den Kalkulationsleiter, den Oberingenieur und den Landsturm-Ingenieur.“35 Am 26. 5. 1915 wurde daher ein Auflösungsvertrag geschlossen, nachdem sich gezeigt hatte, dass Castiglioni zu jedem Preis in die Firma Lohner einsteigen wollte. Lohner dachte aber nicht daran, sein Familienunternehmen mit irgendjemandem anderen zu teilen. Es wurde festgelegt, dass sich Lohner gegen einen Betrag von 232.043 Kronen aus der UFAG, der MLG und der DAG zurückziehen sollte. Mit der UFAG wurde eine gegenseitige Umsatzabgabe von 6,5 % vereinbart und Lizenzgebühren für Lohner-Flugzeuge festgelegt. Außerdem kam es zur Vereinbarung einer Interessengemeinschaft für 20 Jahre, wobei der MLG beim Flugbootverkauf eine Provision von 5 % zugestanden wurde, Castiglioni hatte 25 % gefordert. Im November 1915 verschärften sich die Gegensätze weiter, sodass Ludwig Lohner seinen Anteil an den Hansa-Brandenburg-Flugzeugwerken mit einem Verlust von 145.000 Mark verkaufte. Es scheint, dass Camillo Castiglioni sie über Strohmänner erworben hatte. Da für Castiglioni die Lohner-Werke die bisher einzige Produktionsfirma war, begann er nun seinen Einfluss in die Albatros-Werke (später Phönix) zu stärken, die er 1916 kaufte.36 34 Es waren dies der Wiener Bankverein, die Anglo-österreichische Bank, Ganz-Danubius und Manfred Weiß. 35 Erwin Steinböck, Lohner zu Land, zu Wasser und in der Luft. Die Geschichte eines industriellen Familienunternehmens von 1823–1870, Graz 1981, S. 38 36 Erwin Steinböck, Lohner zu Land, zu Wasser und in der Luft. Die Geschichte eines industriellen Familienunternehmens von 1823–1870, Graz 1981, S. 39
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1917 erreichte der Konflikt seinen Höhepunkt. Die Kriegsmarine hatte Flugboote direkt an die Firma Lohner bezahlt, ohne die MLG einzuschalten. Castiglioni verlangte nun den Kaufpreis. Am 6. 9. 1917 kam es daher zu erheblichen gegenseitigen Forderungen, 300.000 Kronen Lohner an UFAG und 405.000 Kronen Castiglioni an Lohner. Darüber hinaus war es Castiglioni gelungen, die Firma Lohner aus dem Marinegeschäft hinauszudrängen. Er erreichte den Auftrag für die Lieferung von Flugbooten, welche von UFAG und Phönix auf der Basis der Lohner’schen Konstruktionen gebaut wurden. Lohner forderte nun die Auflösung aller bisherigen Verträge und eine Entschädigung von 1.302.700 Kronen, wobei er bei einer Einigung bereit war, auf die Hälfte zu verzichten. Es kam zu einem Schiedsgerichtsverfahren, mit dem die endgültige Trennung von Ludwig Lohner mit Camillo Castiglioni vollzogen wurde. Im Jahr 1918 baute Lohner noch 170 Flugzeuge, stellte aber mit dem Ende des Krieges den Flugzeugbau ein. Am 1. August 1917 wandte sich „Generaldirektor Castiglioni, k. k. Kommerzialrat“ mit einem persönlichen Schreiben an Ludwig Lohner: mit der Bemerkung, dass dieser ein so vollendeter Gentleman sei, dass niemand dieses Papier zu Gesicht bekomme.37 Alles, was geschehen war, sei nicht gegen ihn persönlich oder gegen dessen Firma gemünzt gewesen. Und er wollte ihm sagen, „dass schon mein Bruder, der Doktor Castiglioni, der für mich der beste Psychiater der Welt ist, vor vielen Jahren von mir sagte, ich stünde über die Grenzen von Gut und Böse. So wie es mir absolut kein Opfer ist und ich es als selbstverständlich empfinde, manche Handlungen zu begehen, die mehr als großzügig sind und eine tiefe seelische Güte bezeigen, so fühle ich oder – Gott sei Dank – besser gesagt, fühlte ich bis vor Kurzem keine Bedenken, manche Wege zu betreten und Handlungen zu begehen, die dann im selben Moment von meiner Seele oder meinem Gewissen auf das Schärfste verurteilt wurden. Glauben Sie nicht, dass ich mir ein milder Richter gewesen bin; Im Gegenteil: ich habe mir sehr oft an den Kopf gegriffen und mich gefragt, ob es sich hier nicht bei mir um einen schweren Fall von moral insanity handelt; und dass ich die Kraft finde, dieses Bekenntnis heute für das erste Mal in meinem Leben auf das Papier zu bringen, muss Ihnen einerseits beweisen, wie unendlich viel ich für Sie empfinde, andererseits aber auch, wie hartnäckig und eisern ich an meiner Besserung arbeite und wieweit ich schon mit derselben bin ... Und so seien Sie mir als wieder gewonnener Freund auf das herzlichste gegrüßt und seien Sie weiter der hohen Wertschätzung versichert, mit der ich verbleibe.“ Und handschriftlich hinzugefügt: „Ihr sehr ergebener, treuer, und für die wiedergewonnene Freundschaft tief dankbarer Castiglioni.“38 37 Das Schreiben wurde Jahre später vom Sohn Lohners beim Weisz-Prozess veröffentlicht. 38 Abgedruckt in: Der Abend, 16. April 1926
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Dauerhafter war Castiglionis Freundschaft mit dem Flugzeugkonstrukteur Ernst Heinkel, der ihm seine Biografie mit der Widmung überreichte: „Meinem alten Chef vom Jahre 1914/1918 u. jetzigen treuen Freund ‚Camillo‘ mit den herzlichsten Wünschen. 25. Oktober 1956 Ernst Heinkel“ Bild 8 Widmung, Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953
Von Castiglioni hieß es: „Er war keine Ingenieurnatur, aber er verstand es, Ingenieure anzutreiben. Er verstand, Dinge fertig zu machen, wenn auch nicht zu vollenden.“39 Bei Ernst Heinkel sollte das zutreffen. Er war einer der großen Pioniere im Flugzeugbau, bis hin zum ersten Düsenflugzeug der Welt. Ernst Heinkel war 1914 Konstrukteur bei den Brandenburgischen Flugzeugwerken als er im Juni einen auffälligen Brief erhielt. „Derart feines Papier war mir noch nicht unter die Augen gekommen. Als Absender standen nur zwei große geheimnisvolle Initialen: C.C. Ich öffnete den Umschlag. Auch der Briefbogen trug die gleichen Initialen. Das Schreiben selbst umfasste nur wenige 39 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 281
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Zeilen: ‚Sehr geehrter Herr Heinkel! Ich würde mich freuen, Sie am 5. Juni nachmittags, zu einer Ihnen genehmen Zeit in mein Appartement Nr. 401, Hotel Adlon in Berlin, begrüßen zu dürfen.‘ Gezeichnet war der Brief mit einer schwer zu entziffernden Unterschrift, von leichter Feder hingehaucht und ebenso leicht unterstrichen.“ Heinkel folgte der Einladung und ging in das Luxushotel, das sonst nicht seine Welt war. „Der Portier, ein Turm von Würde und Vornehmheit, verbeugte sich vor mir. ‚Ich werde Sie sofort melden‘, sagte er achtungsvoll. Ich zögerte einen Augenblick, dann fragte ich: ‚Darf ich erfahren, wer der Schreiber dieses Briefs ist?‘ Der Turm von Würde und Vornehmheit antwortete: ‚Mein Herr, Sie sind zu Herrn Castiglioni gebeten Kennen Sie Castiglioni nicht?‘ ... Im Appartement 401 empfing mich ein Herrschaftsdiener in Schwarz mit weißen Handschuhen. Er bat mich, im Salon Platz zu nehmen. Dann verschwand er, kam gleich darauf zurück und öffnete mir die Tür zu einem Raum, in dem unter anderem ein großer Schreibtisch stand. Hinter ihm erhob sich ein ziemlich kleiner Mann, breitschultrig, von gepflegter Eleganz nach damaliger Mode, mit einer schwarzen Perle an der Krawatte. Aber das war nicht das eigentlich Auffallende an ihm. Das Ungewöhnliche waren sein Kopf und sein Gesicht. Dieses nach landläufigen Begriffen sicherlich nicht schöne Gesicht war so anziehend, dass jedes ‚schöne‘ Gesicht davor verblasste. Das schwarze Haar war eng an den Kopf gekämmt. Die Augen sahen mich auf eine wissende und durchdringende Art an. ‚Camillo Castiglioni‘, stellte sich mein Gegenüber vor. ‚Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.‘ Er sprach ein fließendes Deutsch mit einem leichten südländischen Unterton. Aber in der Stimme war ein ausgesprochener Zauber. Dabei war mein Gegenüber sicherlich nicht älter als 36.“ Castiglioni stellte ihm die Frage: „Herr Heinkel, ich möchte Sie engagieren. Welche Bedingungen stellen Sie?“ Da er vor Überraschung nicht sofort antwortete, sagte Castiglioni: „Herr Heinkel. Ich will keine langen Vorreden halten. Ich habe in Österreich und Ungarn im Einvernehmen mit dem österreichischen Luftfahrtarsenal zwei Flugzeugwerke gegründet, die Phönix-Werke in Wien und die UFAG in Budapest. Aber mir fehlt der Konstruktionsdirektor, der die Flugzeuge konstruiert, die in diesen Werken gebaut werden sollen. Ich habe mich über Sie genau informiert. Sie wären der Mann, den ich brauche. Ich engagiere Sie mit 100.000 Kronen Jahresgehalt ...“ Castiglioni war keinen Widerspruch gewohnt und überrascht als Heinkel zögerte und dann sagte: „Herr Castiglioni. Ich weiß Ihr Angebot sehr zu schätzen. Aber ich kann die Brandenburgischen Flugzeugwerke nicht verlassen, ohne dass diese Werke zusammenbrechen. Für die Brandenburgischen Flugzeugwerke hängt doch alles von den Flugzeugen ab, an denen ich jetzt arbeite ...“ Castiglioni sah ihn an, entzündete sich eine Zigarre: „Herr Heinkel, das tut mir leid ...“ Er gab ihm die Hand, lächelte und sagte: „Sie werden in acht Tagen von mir hören.“
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Heinkel hielt das für eine nichtssagende, freundliche Bemerkung, aber nach acht Tagen rief ihn sein Chef zu sich: „Herr Heinkel“, sagte er, „ ich habe Ihnen mitzuteilen, dass ich seit gestern meine Anteile an den Brandenburgischen Flugzeugwerken an Herrn Camillo Castiglioni aus Wien verkauft habe. Ich darf Ihnen gestehen, dass mir das nicht schwer gefallen ist. Sie haben es in wenigen Monaten fertig gebracht, mich davon zu überzeugen, dass der Flugzeugbau zu strapaziös für mich ist. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich meine der Flugzeugbau mit Ihnen ...“ In seinem Büro fand Heinkel neuerlich einen Brief von C. C. vor, in dem er wieder gebeten wurde, ins Hotel Adlon zu kommen. „Castiglioni lächelte vergnügt: ‚Was habe ich Ihnen gesagt, Herr Heinkel. Da ich Sie nicht selbst engagieren konnte, musste ich die ganze Fabrik mit Ihnen kaufen. Das hat mich eine Menge Goldmark gekostet. Ich hoffe, Sie sind so viel wert ...“ Später hatte ihm Castiglioni erzählt, wie sehr sich sein alter Chef bei ihm beklagt hatte: Heinkel bilde sich ein, genial zu sein, er wolle den Himmel erobern und riskiere zu viel! Castiglioni antwortete: „Das alles stört mich nicht. Wenn ein junger Mensch überzeugt ist, dass er etwas Ungewöhnliches leisten kann, dann ist er entweder ein Schwätzer oder er kann wirklich etwas. Man muss ihm aber die Chance geben, sein Können zu beweisen. Wenn er nichts taugt, werde ich das schnell wissen, und Sie können dann sicher sein, Herr Kommerzialrat, dass ich ihn innerhalb von 24 Stunden los sein werde.“ Heinkel wurde unter Beibehaltung seiner Position bei den Brandenburgischen Flugzeugwerken nun auch Konstruktionsdirektor der beiden österreichisch-ungarischen Werke Castiglionis. Praktisch alle Konstruktionen gingen nun auf ihn zurück. Das bekannteste Jagdeinsitzer-Flugboot von Heinkel trug als Typenbezeichnung „CC“ die Anfangsbuchstaben des Namens von Castiglioni. Es war speziell für den erfolgreichsten österreichisch-ungarischen Flieger, Leutnant Banfield, gebaut worden.40 „Wenn Sie halten, was ich von Ihnen erwarte, sagte er, als er mir zum Abschied im Adlon seine merkwürdig weiche Hand gab, wird es Ihnen nicht an Unterstützung durch mich fehlen. Ich habe zuweilen so meine Art, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Aber es kommt dann von selbst wieder zu mir zurück ...“41 Als Heinkel zum ersten Mal nach Wien kam, fuhr er in der damaligen dreiklassigen Bahn in der zweiten Klasse. „Das schien mir damals höchst vornehm und bequem. Castiglioni aber sagte, was für seine Eigenart sehr charakteristisch ist, ‚Ich wünsche, dass meine Direktoren nur in der 1. Klasse fahren.‘ Sobald ich in Wien oder Budapest eintraf, stand einer von Castiglionis Wagen für mich bereit. Stets war ein Zimmer im Grandhotel, im Bristol oder Imperi40 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 64 41 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 39–43
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Bild 9 Eröffnung der Militärflugschule in Brandenburg 1916. Links Ernst Heinkel mit Camillo Castiglioni Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953
al bestellt. Theaterkarten lagen bereit.“ Sein früherer Chef würde sicher sagen, dass er damit restlos verdorben würde. „Bilden Sie sich das nur nicht ein. Ich gebe Ihnen das, was Sie verdienen. Meine Leute müssen anständig und sorgenfrei leben, wenn sie das Äußerste für mich leisten sollen.“42 Heinkel war von Castiglioni zutiefst beeindruckt. „Das Wagnis, das Spiel auch mit dem Risiko war der Reiz, der sein Leben beherrschte und ihn später bis ins hohe Alter jung hielt.“43 Und Castiglioni machte es Spaß, Heinkel zu zeigen, wie man spekulierte. „Herr Heinkel, ich habe eben für 25.000 Mark Aktien für Sie notiert. Um wie viele Mark, schätzen Sie, werden Sie in einer Stunde reicher sein?“ Er hatte keine Ahnung. „Ich wette, 5.000 Mark.“ sagte Castiglioni. Eine Stunde später war genau das Ergebnis erreicht worden.44 42 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 49 43 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 44 44 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 61/2
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In kaum mehr als einem halben Jahrzehnt war es Castiglioni mit seinen Methoden gelungen, zum Eigentümer der wichtigsten Flugzeugfirmen der k. u. k. Monarchie zu werden und auch im Deutschen Reich Fuß zu fassen. Von 1914 bis Kriegsende wurden in Österreich-Ungarn etwa 4.300 Flugzeugmotoren produziert, die Zahl der Flugzeuge lag etwas darunter. Aufgrund der dominierenden Stellung Castiglionis kann angenommen werden, dass etwa zwei Drittel aus seinen Werken kamen, also etwa 3.000 Flugzeuge. Das Aktienkapital seiner Flugzeugwerke dürfte bei Kriegsende zwischen zwei und drei Millionen Kronen betragen haben. Allein die Hansa-Werke hatten bereits 1915 ein Kapital von einer Millionen Mark. Im Vergleich dazu erscheint die an Lohner im Frühjahr 1915 geleistete Abschlagszahlung von 230.000 Kronen für dessen Rückzug eine geringe Summe. Castiglioni erkannte früher als andere, dass der Krieg verloren war. Im Revolutionsjahr 1919 fuhr Castiglioni dennoch nach Berlin in seine Fabrik. „Er war, wie sich später herausstellte, wieder glänzend orientiert. ‚Es wird Deutschland und Österreich verboten werden‘, sagte er, während er hastig seinen Zigarettenrauch in den Raum blies, ‚Flugzeuge zu bauen. Gut, die Leute, die jetzt gesiegt haben, kennen Deutschland nicht. Ich kenne Deutschland. Deutschland wird keine Ruhe geben. Wird wieder Flugzeuge bauen. Es wird ein paar Jahre dauern. Aber so lange werde ich meine Flugzeugwerke abstoßen. Ich kann sie nicht halten, wenn sie nicht arbeiten dürfen, verstehen Sie ...‘“45 Er verkaufte deshalb seine Flugzeugbeteiligungen – wie die Hansa-Brandenburg-Werke – rechtzeitig vor Kriegsende und konzentrierte sich auf die Fahrzeugindustrie, vor allem Austro-Daimler und BMW. „Den sofort nach Kriegsende durchgeführten Abverkauf von Militärausrüstungen nutzte er mit großem Geschick zur Mehrung seines Barvermögens. Die ‚Hauptanstalt für Sachdemobilisierung‘ hatte zum Beispiel 4.606 ‚Feldkraftwagen‘, Personenwagen, Nutzfahrzeuge und Motorräder abzugeben, wofür Willy Herbst als Direktor zuständig war. Vor dem Weltkrieg war dieser für Puch tätig gewesen. Nach Abschluss der Sachdemobilisierung zog er 1920 bei Austro-Fiat als Mitglied der Geschäftsleitung und stellvertretender Direktor ein, unter Castiglioni als Vizepräsident des Verwaltungsrates.“46
45 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 66 46 Martin Pfunder, Austro Daimler und Steyr. Rivalen bis zur Fusion. Die frühen Jahre des Ferdinand Porsche, Wien 2007, S. 80
Der Finanzier 1. Teil Politische Basis Aufgrund der Beziehungen, die Castiglioni zu den höchsten militärischen und Regierungsstellen unterhielt, gelang es ihm noch rechtzeitig vor Ausbruch der beiden Balkankrisen 1912 an der Börse einige erfolgreiche Operationen zu tätigen. Auch wurde er im Auftrag der Anglo-Österreichischen Bank als Kreditvermittler zwischen westlichen Kreditgebern und Balkanregierungen tätig. Durch geschickte Börsengeschäfte soll es ihm gelungen sein, das Vertrauen des späteren Kaisers und damaligen Erzherzogs Karl zu erlangen, der ihn angeblich mit der Veranlagung seines Privatvermögens betraute. Die Nähe zur hohen Politik suchte Castiglioni während seines ganzen Lebens. Auf der Basis seiner wirtschaftlichen Erfolge versuchte er auch auf dieser Ebene eine Rolle zu spielen. So wurde etwa behauptet, dass er bei dem gescheiterten Versuch eines Separatfriedens durch den nunmehrigen Kaiser Karl 1916/17 teilgenommen oder eine vermittelnde Rolle gespielt habe. Die Nähe zur österreichisch-ungarischen politischen Elite hinderte ihn aber nicht daran, den Kriegsausgang realistisch zu sehen und zu seinem Vorteil zu nutzen. Castiglioni begann schon 1917 aus der vorhersehbaren militärischen Niederlage seine Konsequenzen zu ziehen. Sukzessive transferierte er seine flüssigen Geldmittel in die Schweiz, um sie in wertbeständige Währungen umzutauschen. Sofort nach Kriegsende begab er sich nach Italien, wo es ihm mithilfe seiner damals in Mailand lebenden Familie gelang, die italienische Staatsbürgerschaft zu erlangen. So hatte er die Staatsbürgerschaft einer Siegermacht, „die ihn – wirtschaftlich Bürger eines besiegten Reiches – im entscheidenden Augenblick politisch und zum Teil auch währungspolitisch auf die Siegerseite hinüberstellte und ihn jenseits vieler österreichischer Steuerverpflichtungen und Devisenbeschränkungen etablierte, während er doch wirtschaftspolitisch – soweit es ihm
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passte – im Zentrum des österreichischen Staates verbleiben konnte.“47 Dieser Wechsel der Staatsbürgerschaft war ihm später häufig vorgeworfen worden. Castiglioni sei noch nicht Italiener gewesen, „als er der österreichisch-ungarischen Monarchie mit so gutem Erfolge Kriegsmittel gegen Italien lieferte; wie müssen zu jener Zeit seine Gefühle geschwankt haben zwischen dem alten Vaterland, wo sich damals noch verdienen ließ, und dem neuen, wo man erst später verdienen konnte. Jetzt ist der Seelenkampf zu Ende gekämpft; die Krone ist bei einem ständigen Unterwert angelangt, Herr Castiglioni hat seinen k. u. k. österreichisch-ungarischen Patriotismus glücklich nieder gerungen und ist offen und so weit wie möglich ehrlich Italiener, Faschist und überzeugter Anhänger des Signore Mussolini. So zeigt sich wieder einmal, dass auch der Großgeschäftsmann einer Überzeugung nicht entbehren kann. Es muss nur nicht immer ein und dieselbe sein und sicherlich nicht die, mit der sich gerade nichts verdienen lässt.“48 Mit Kriegsende gelang es Castiglioni auch, Beziehungen zu italienischen Finanzgruppen Bild 10 aufzubauen, die für seine spätere Expansion „Der Morgen“, Wien, 27. August 1923 entscheidend wurden. Castiglioni soll während der politischen Unruhen in Wien vier Monate in der Schweiz gewesen sein und dann einige Zeit in Italien verbracht haben. Sein in die Schweiz gerettetes Vermögen habe er kurzfristig in Italien in verschiedene Unternehmen und Anlagen investiert. So erwarb er ein größeres Paket des Fiat-Konzerns und knüpfte enge Kontakte zur Banca Commerciale Italiana und deren Präsidenten Josef Toeplitz. Italien verfolgte als Siegermacht des Ersten Weltkriegs eine offensive Wirtschaftspolitik im Donauraum und Castiglioni als Kenner dieser Region bot sei47 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 282 48 Der Abend, 9. Dezember 1922
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ne Dienste an.49 Über Vermittlung von Toeplitz knüpfte er Kontakte bis in die höchsten Stellen der italienischen Regierung und sicherte sich für sein Vorgehen auch die Unterstützung des Chefs der italienischen Militärmission in Wien, General Roberto Sartorio Segré. Politisch soll Castiglioni bei den Friedensverträgen als Berater eine gewisse Rolle gespielt haben, da man dem „Neuitaliener“ die Kenntnis der politischen Verhältnisse in den Nachfolgestaaten der Monarchie zutraute.50 So schrieb Castronovo, dass er in Italien feste Freundschaften mit politischen und diplomatischen Kreisen geschlossen hatte. Er sei daher im Juli 1920 vom italienischen Außenministerium mit einem diplomatischen Auftrag bei der tschechoslowakischen Regierung beauftragt worden. Dabei ging es um den Rechtsstreit zwischen Italien und Jugoslawien in Bezug auf Fiume. Castiglioni traf sich dabei mit dem Präsidenten des Nationalrates der ČSR, Tusar, dessen Freund er angeblich war, um ein vertrauliches Treffen mit dem italienischen Außenminister Sforza in Venedig zu erreichen. Die Mission soll dazu geführt haben, dass sich die ČSR in dieser Frage neutral verhielt und es am 12. November 1920 zum Vertrag von Rapallo zwischen Italien und Jugoslawien kam, wo die Gebietsstreitigkeiten beigelegt wurden.51 Er soll auch im März 1921 unter Vermittlung Italiens bei den Verhandlungen über Grenzstreitigkeiten zwischen Österreich und Ungarn teilgenommen haben. Vor allem bei der darauf folgenden Konferenz am 7. Juli in Venedig zwischen dem italienischen Außenminister Tomasi della Torreta, dem österreichischen Bundeskanzler Josef Schober und dem ungarischen Grafen Teleki, die mit der Abtretung des Burgenlandes endete. Er soll ebenso eine wichtige Rolle bei der Organisation des Treffens in Verona im Mai 1922 gespielt haben, wo zwischen dem italienischen Außenminister Carlo Schanzer und dem neuen österreichischen Bundeskanzler Ignaz Seipel über eine Zollunion zwischen Österreich und Italien verhandelt wurde. Mussolini hatte seinen Außenminister zwar in einem Artikel in der „Popolo d’Italia“ angegriffen, da er es unternommen hatte, „dem Bankier Castiglioni eine Unterredung zu gewähren, der ein privater Bürger ist, und außerdem – nebenbei gesagt – weder Österreicher, noch Italiener und dessen Tätigkeit während des Krieges sehr umstritten ist“.52 Die Beziehungen zu Mussolini haben sich aber in der Folge gebessert, da seine Ver49 beschrieben in: Luca Segato, L’Espansione Multinazionale Della Finanza Italiana Nell Èuropa Centro-Orientale. La Banca Commerciale Italiana E Camillo Castiglioni (1919–1924), Società e Storia, Jg. 89, 2000, S. 517–559 50 Valerio Castronovo über Camillo Castiglioni in DBI 22, Rom 1979, S. 133–136 51 Un abile colpo diplomatico fu realizzato da Giolitti e Sforza, Corriere della Sera, 25. November 1952 52 Gertrude Burcel, Die österreichisch-italienischen Wirtschaftsbeziehungen 1919–1923, Diss. Universität Wien 1979, S. 53
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mittlerrolle zur Investition italienischen Kapitals in Österreich nicht zu unterschätzen war. Daher erfolgte auch Castiglionis Ernennung zum Cavaliere de Gran Croce der italienischen Krone. Castiglioni gehörte der faschistischen Partei Italiens an, was bis 1938 kein Problem war. 1938 verfasste er ein Selbstporträt für das italienische Innenministerium, um seine Verdienste für den Faschismus hervorzuheben und nach Einführung der Rassenschutzgesetzgebung weiter Mitglied der Partei zu bleiben. Mussolini habe ihn 25-mal in Audienz empfangen und er habe auch in Wien die dortigen Faschisten großzügig unterstützt.53 Am 18. Oktober 1923 wurde Castiglioni vom Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik, Masaryk, auf Schloss Lana zum Lunch eingeladen. „Die Verfolgung politischer Ziele bei einer Persönlichkeit wie Camillo Castiglioni hat zwar niemand weiter in Erstaunen gesetzt. Es ist bekannt, dass der ungewöhnlich begabte und ehrgeizige Mann seit jeher politische Ambitionen gehegt hat ... Dass dieser Anreiz zunächst auf rein privatwirtschaftlichem Gebiete lag, und Castiglioni seine diplomatischen Beziehungen häufig auch spielen ließ, um unter dem Schutz einer gewissen Exterritorialität persönliche Vorteile herauszuschlagen, kann niemand merkwürdig erscheinen, der sich ein wenig in die Psychologie des Geldverdienens vertieft hat. Allein zum Lobe Castiglionis muss hervorgehoben werden, dass seine politischen Ambitionen meist größer waren als das Hinschielen auf den finanziellen Augenblickserfolg, oder, richtiger ausgedrückt, dass es oftmals erst nach geraumer Zeit klar wurde, wie sehr seine wirtschaftlichen Interessen mit der Politik verknüpft waren, die er echapronierte. Er war der Mann des großen Wurfes, dem das Unglaubliche gelang, die tschechoslowakische Politik mit der italienischen zu versöhnen, und der als Lohn dafür die Böhmische Unionbank als einzige böhmische Großbank von der unwillkommenen Kupeegenossenschaft tschechoslowakischen Kapitals befreien konnte.“ Dennoch wurde die Verzahnung von wirtschaftlichen und politischen Interessen auch von „Die Börse“ als problematisch angesehen. „Der Missbrauch wirtschaftlicher Überlegenheit zur Erlangung politischen Einflusses, eine früher nur in Staaten mit einer Bevölkerung von geringem kulturellen und moralischen Niveau beobachtete Tatsache, ist heute auf der ganzen Welt, und, zwar nicht ausschließlich auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Gesetzgebung, sondern in allen Fragen der Politik gang und gäbe.“ Um voll und ganz Geschäftsmann bleiben zu können, wurde Castiglioni notgedrungen auch Politiker. „Die Politik, die er treibt, ist ihm nicht, wie seinen ausländischen Kollegen, Selbstzweck, sie ist ihm Mittel zur Erfül53 Benedikt Hauser, „Eine ölige Geschichte“ Der Skandal um Camillo Castiglioni und Nationalrat Ludwig Friedrich Meyer (1940–1945), Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Basel, Vol.60/2010/Nr. 3, S. 323
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lung der ihm von seinem Herren, dem Geld, gesetzten Aufgabe der Machtgewinnung und der Ausdehnung seines finanziellen Einflusses.“54 „Auch mit NS-Deutschland versuchte der geheimnisvolle Italiener ins Geschäft zu kommen. Er nahm über den damaligen italienischen Handelsattaché Rinzetti, der gleichzeitig ein enger Freund Görings war, Kontakt auf. Es kam sogar zu einem Gespräch zwischen Göring und Castiglioni.55 Rinzetti war bis 1933 inoffiziell der Mittelsmann zwischen Mussolini und Hitler gewesen. Als der Reichskommissar für die Luftfahrt Hermann Göring bereits mit in der Regierung war, traf er Castiglioni bei einem Abendempfang in der italienischen Botschaft in Berlin. „Der italienische Botschafter hatte es sich als besonderes Vergnügen angerechnet, Göring den Millionär Castiglioni vorzustellen. Aber es war etwas völlig Überraschendes geschehen. Göring drückte Castiglionis Hand. Er sagte: ‚Sie sind Castiglioni? Kennen Sie mich?‘ ‚Nein, Excellenz.‘ ‚Aber ich kenne Sie‘, antwortete Göring, so dass alle Umstehenden aufhorchten. ‚Ich habe einmal als Vertreter für die Bayerischen Motorenwerke in Stockholm gearbeitet. Vor langer Zeit. Ich habe versucht, einen Auftrag von der schwedischen Regierung auf Flugmotoren zu bekommen. Es ist mir damals nicht gelungen. Aber nach einem Jahr komme ich nach Berlin zurück und höre, dass inzwischen zwölf Flugmotoren nach Schweden verkauft worden sind. Ich habe an BMW geschrieben, dass ich das Geschäft eingeleitet habe und eigentlich wenigstens 30.000 Mark Provision dafür bekommen muss. Aber die Bayerischen Motorenwerke antworteten mir, es täte ihnen leid, diese Provision hätten sie bereits einem anderen Vertreter bezahlt. Ich hatte kein Geld, um einen Prozess zu führen. Aber dafür treffe ich eines Tages einen Freund, und der sagte mir: ‚Hör zu. Besitzer oder Mitbesitzer der BMW ist ein großzügiger Mensch, Camillo Castiglioni. Ich würde ihm einfach schreiben. Vielleicht bekommst du von ihm dein Geld.‘ Ich schrieb, und nach vierzehn Tagen bekam ich meine 30.000 Mark. Erinnern Sie sich jetzt?“ Castiglioni konnte sich immer noch nicht erinnern, wurde aber am nächsten Morgen zum Frühstück bei Göring eingeladen. „Er war bei Göring mit mehren amerikanischen Pressevertretern zusammengetroffen, die ihn auf die gerade erfolgten antisemitischen Demonstrationen hinwiesen. Aber Göring sagte: ‚Es ist ein Unglück, ein Zufall, es wird nicht mehr geschehen. Herr Castiglioni, meine besten Jugendfreunde sind Juden gewesen und haben mich gut behandelt. Ich denke gar nicht daran, gegen sie vorzugehen.‘ ‚Aber Hitler ist Antisemit‘, wandte Castiglioni ein. Und Göring antwortete: ‚Ich werde ihn noch davon abbringen, verlassen Sie sich darauf. ‘“56 54 F. K., Politik und Geschäft, Die Börse, 26. Juli 1923 55 Der Spiegel, CC baut Brücken. Mehr weiß man nicht, Nr. 32, 4. August 1949 56 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 68/9
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Die Presse Castiglioni war klar, dass er für seine Geschäfte die öffentliche Meinung beeinflussen musste. Bis 1920 verfügte er aber über kaum einen direkten Einfluss auf die Presse. „Er hatte wohl seinen Pressechef, der mit den Zeitungen des In- und Auslandes Fühlung halten musste, er bedachte eine große Zahl von Journalisten mit Syndikatsbeteiligungen ... er war gern gesehener Gast bei Herrn Benedikt (Neue Freie Presse), dessen damaliger volkswirtschaftlicher Redakteur auf allen Bestechungslisten an erster Stelle figurierte; mit der ihm eigenen Gabe der Überredungskunst machte er sich da und dort auch ganz unabhängige Leute der Presse dienstbar ...“57 Erst mit dem Ankauf der Elbmühl-Papierfabriks- und Verlags-AG übte Castiglioni eine Zeit lang die direkte Kontrolle über drei Wiener Tageszeitungen, „Extrablatt“, „Mittagszeitung“ und „Wiener Allgemeine Zeitung“, aus, dazu auf die „Sonntags- und Montagszeitung“ und ein illustriertes Wochenblatt. Bei der Elbmühl-Papierfabriks- und Verlags-Gesellschaft gab es ein Syndikat aus Richard Kola, Camillo Castiglioni und der Allgemeinen Industriebank, dessen Leitung aber bei Kola lag.58 Im April 1924 traten die Vertreter des Hauses Castiglioni vom Verwaltungsrat zurück. Unmittelbarer Anlass waren Meinungsverschiedenheiten über die Deckung des Verlustes beim „Extrablatt“, das nach der Loslösung der anderen Zeitungsbeteiligungen beim Unternehmen verblieben war und in eine GmbH umgewandelt werden sollte, zu dem es aber nicht gekommen war. Die Elbemühle weigerte sich, die über das neue Gesellschaftskapital hinausgehenden Verluste zu tragen. „Es hat den Anschein, dass das Haus Castiglioni, das die dem Unternehmen wenig heilsame Führung durch das Haus Kola mitgemacht hat, solange dadurch verdient werden konnte, da die Marktverhältnisse dies jetzt ausschließen, sich gerne zurückziehen möchte.“59 Castiglioni sprang daher ab, „seitdem mit Bezugsrechtsentziehungen und ähnlichen Methoden keine Finanzgewinne mehr zu erzielen sind“, die Industriebank hatte die Zahlungen eingestellt und die Firma Kola war immobilisiert, sodass nach neuen Finanzgruppen Ausschau gehalten werden musste.60 Ferner hat Castiglioni die Zeitungsunternehmen des Emmerich (Imre) Békessy, 57 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 83 58 Franz Mathis, Camillo Castiglioni und sein Einfluss auf die österreichische Industrie, in: Sabine Weiss (Hg.), Historische Blickpunkte. Festschrift für Johann Rainer, Innsbruck 1988. Zum Verlagskonzern von Richard Kola siehe: Murray G. Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938, Wien 1984 59 Der Österreichische Volkswirt, 1924, S. 220 60 Der Österreichische Volkswirt, 1924, S. 278
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die Tageszeitung „Die Stunde“ und die Finanzzeitschrift „Die Börse“, mitfinanziert. Sie dienten nach seiner eigenen Aussage zur leichteren Erlangung börseninterner Informationen. Békessy stammte aus einer jüdischen Familie und war ebenso wie Castiglioni zur evangelischen Kirche konvertiert. Er war in Budapest Herausgeber und Chefredakteur einer wirtschaftlichen Zeitschrift. 1919 zog er nach Wien und wurde 1923 österreichischer Staatsbürger. In Wien gab er ab 1920 die Wochenzeitung „Die Börse“ und ab 1923 die Tageszeitung „Die Stunde“ heraus. „Die Börse“ war für Castiglioni bei Weitem das wichtigste Organ. Die erste Nummer erschien im November 1920. Der erste Chefredakteur, Ernst Ely, stellte fest, dass es die Aufgabe der Zeitung Bild 11 war, anders zu schreiben als die übrigen ZeiEmmerich Békessy, tungen. Man musste „wirtschaftliche Probleme, Békessy’s Panoptikum, Wien 1928 die man bisher nur als ein privilegiertes geistiges Gut einer exklusiven Klasse betrachtete, populär mit allen drastischen Mitteln des modernen propagandistischen Stiles behandeln lassen“. Békessy bestand darauf, „dass von seinen Redakteuren so fesselnd als nur möglich geschrieben werde. Gerade bei der Erörterung schwerer wirtschaftlicher Probleme sollten Witz und Esprit nicht ausgeschaltet werden.“ Daher stand man in Feindschaft zum „alten Reichtum“, da man gegen Aktienschwindel, Syndikatsgewinne, enorme Gehälter der Bankdirektoren und den kostspieligen Leitungsapparat zu Felde gezogen war. Dazu benötigte man neue Informationsquellen, auch auf den Vorwurf hin, dass es dadurch zu einer engen Nachbarschaft mit den neuen wirtschaftlichen Größen kam. Rückblickend sagte er selbst, „er hätte dickere Trennungsmauern aufrichten sollen. Aber man muss bedenken, die neuen wirtschaftlichen Potenzen, die aus dem kranken Boden einer verseuchten Volkswirtschaft wuchsen, hatten keine Vorurteile, sie sahen ohne Brille, sie waren auch behänder und einfallsreicher als die alten. Von ihnen waren auch in der ersten Zeit der ‚Börse‘ die besten Informationen zu erhalten. Das brachte Békessy ihnen näher.“61 „Die Stunde“ betrieb daher als erste in Österreich so etwas wie Aufdeckungsjournalismus, was ihr den Vorwurf eines „Revolverblattes“ einbrachte. Békessy war damit ebenso beliebt 61 Ernst Ely, „Die Börse“ und was sie wollte, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 19–23
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wie gefürchtet und kannte für den journalistischen Erfolg keine Rücksichten. So war es nicht verwunderlich, dass ursprüngliche Sympathien, wie etwa die der sozialistischen „Arbeiter-Zeitung“, in Gegnerschaft umschlugen. Am vehementesten wurde er von Karl Kraus („Die Fackel“) bekämpft, der im Sinne des „ceterum censeo“ seine Vorlesungen mit den Worten beendete: „Hinaus aus Wien mit dem Schuft!“ Békessy nahm für sich in Anspruch, dass Castiglioni ihn niemals als unabhängigen Journalisten beeinflusst habe, auch nicht in den ersten zwei Jahren von „Die Börse“, als diese unter dessen direktem finanziellem Einfluss stand. „Camillo Castiglioni stand zu dieser Zeit mit einem lachenden und einem weinenden Auge zur ‚Börse‘ ... Unerschöpflich war er in dieser Zeit als Informator, als Kenner der Geheimwege und Schliche der Finanz und Politik ... Sein Zynismus konnte Freude finden an dem lustigen Draufgängertum der ‚Börse‘, die Verspottung und Demaskierung der öffentlichen Lüge musste ihm Spaß bereiten, ja manches treffende, geistreiche Wort über die damals Agierenden stammte aus seiner eigenen geistigen Küche.“ Und dann deutete er doch die Unterstützung an, die Castiglioni durch ihn erfahren hatte. „Im Mai 1921 stürzte er mit Hilfe der ‚Börse‘ den unbequemen Wilhelm Kestranek, der Stinnes nicht zu Gesicht stand ... Genug an dem, dass Castiglioni in seinen eigenen Kämpfen in der ‚Börse‘ eine Stütze fand. Ohne mit den Bestrebungen des Blattes auf politischem oder wirtschaftspolitischem Gebiete in Gegensatz zu geraten. Durch manche Veröffentlichungen, deren Hintergründe ich gar nicht kannte, gelang es gewiss Castiglioni, seinen Gegnern gegenüber oft einen taktischen Vorsprung zu gewinnen, sicherlich auch oft aus diesem einen unmittelbaren Börsennutzen zu ziehen.“ 62 Im Sommer 1922 kam es jedoch zum Bruch zwischen Békessy und Castiglioni, als dieser sich weigerte, an der Gründung der Österreichischen Notenbank teilzunehmen. Die Freundschaft wurde von Békessy gekündigt, da Castiglioni „blind für die Pflichten des Besitzes“ nicht bereit war, an der Rettung Österreichs mitzuarbeiten.63 Die Aufforderung Békessys, dies sei die Gelegenheit, durch eine noble Geste die Vergangenheit vergessen zu machen, blieben ungehört. Schließlich habe Castiglioni durch eine einzige Spekulation mehr verdient, als jetzt zur Rettung Österreichs notwendig war. „Er hat bisher nichts geschaffen, er hat dieses Land mit positiven Leistungen nicht bereichert. Ich habe zwei Jahre lang in seinem Banne gelebt und immer wieder geglaubt, die in ihm inne wohnende schöpferische Kraft werde sich doch entfalten und es wird eine Lust sein, ein solches Talent auf dem Wege der Schöpfung zu begleiten. Ich sah aber bis 62 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 83–127 63 Die Börse, 17. August 1922
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zum heutigen Tage nichts anderes als hemmungsloses Verdienen auf jede Art und Weise – immer auf Kosten anderer. The rest is silence.“ Am 17. August 1922 nahm er daher in „Die Börse“ öffentlich Abschied von Castiglioni. Man konnte ihm vorwerfen, dass er zwei Jahre gebraucht hatte, um zu dieser Erkenntnis zu kommen. Die „Arbeiter-Zeitung“ ging im August 1926 so weit, ihm vorzuwerfen, dass er Castiglioni immer erpresst hatte und der Abschied nur erfolgt sei, weil sich dieser der weiteren Zahlung von Bestechungen verweigert hatte. Castiglioni hat das nie dementiert und damit wohl bewusst den Vorwurf in Schwebe gehalten. Castiglioni reagierte gelassen. Seine Meinung zu der Brandmarkung in „Die Börse“ war lediglich: „Der Artikel ist ausgezeichnet geschrieben.“ Und als am 1. März 1923 die erste Nummer von „Die Stunde“ erschien, beglückwünschte er Békessy mit einem persönlichen Brief. Nachdem sich Castiglioni mit einer italienischen Gruppe dann doch mit drei Millionen Schweizer Franken an der Nationalbankgründung beteiligte, kam es zu einer Aussöhnung. Békessy trat dennoch auch vehement gegen die Kapitalerhöhung der Alpine 1923 auf, bei der das Syndikat von Castiglioni und Freunden auch für die damaligen Verhältnisse einen geradezu unmoralischen Emissionsgewinn machte. Auch hier warf ihm die „Arbeiter-Zeitung“ vor, dies sei nur die Reaktion auf einen erneuten missglückten Erpressungsversuch gegen Castiglioni gewesen. Im Juli 1923 kam es in Karlsbad – auf Einladung Castiglionis, er habe ihm Wichtiges, nicht für die Öffentlichkeit Bestimmtes mitzuteilen – wieder zu einem Treffen. Dabei wurde zuerst über die Alpine diskutiert. „Castiglioni war ein ausgezeichneter Fechter und ein rabulistischer Debatter von einzigartiger Überzeugungskraft. Wo die Argumente nicht verfingen, half ein italienisches Theater aus. Kein Schauspieler vermochte jemals mit den durchsichtigen Mitteln einer abgetakelten Theaterschule solche Wirkungen zu erzielen, wie Castiglioni. Jeder Zuhörer begeisterte ihn. Er sprach von sich immer in dritter Person. ‚Herr Castiglioni geht seiner eigenen Wege ... Herr Castiglioni sieht weiter, als die Herren in Wien glauben ... Herr Castiglioni hat schon manches fertiggebracht, was anderen unmöglich erschien ... Herr Castiglioni sieht die Bäume auf der Ringstraße von einem Sturm niedergelegt, aber er wird ungebeugt dastehen ...‘. Auf und ab marschierend im Salon des Fürstenappartements im Hotel Imperial, begeistert von sich selbst, durchglüht von dem Glauben an eine Auserwähltheit entwickelt er sein künftiges Programm.“ Er sei kein Börsenspieler und sei nie einer gewesen. Worauf es ihm ankomme, sei die Frage, wer in Österreich herrschen solle. Die paar Großbanken, „die sich einen Schmarrn um Österreichs Zukunft kümmern oder er, der der einzige Optimist ist und unerschütterlich daran glaube, Österreich könne und müsse leben, wenn es nur wolle“. Das war aber nur ein Vorspiel zu dem, worauf es Castiglioni eigentlich ankam. Er machte Békessy das Angebot, einen Pressekonzern auf die Beine zu stellen, wobei
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„Die Stunde“ und „Die Börse“ der Kern sein sollten. „Dazu kämen die sogenannten Elbemühl-Blätter (Allgemeine Zeitung, Extrablatt, Mittagszeitung). Der ‚Morgen‘ des Maximilian Schreyer wäre zu erwerben, Die ‚Sonn- und Montagszeitung‘ ... sei tief bei ihm verschuldet und überdies jederzeit zu haben, da die Anteilscheine an Castiglioni verpfändet oder formell gar verkauft sind. Damit hätte man die größte Wirtschaftszeitung, zwei Montagsblätter, zwei Mittagsblätter, ein Spätabendblatt, ein Morgenblatt. Die Reichspost sei freundschaftlich gesinnt, das Neue Wiener Journal nicht weniger. Und Benedikt betreibt das von seinem Vater ihm aufgedrängte Handwerk ungern; eines Tages wird die Erbhüterin, die Witwe nach Moritz Benedikt doch ihre Einwilligung geben, die Neue Freie Presse zu verkaufen. Auch diese möchte man dann erwerben ... Und dies alles soll in einem Zeitungspalais am Schwarzenbergplatz, das Herrn Castiglioni gehört, vereinigt werden ... Sie müssen mit mir gehen, Békessy, wir haben das Recht und die Begabung, die Herren von Wien zu werden.“ Békessy war so begeistert, dass er Castiglioni eine Option auf 40 Prozent seines Zeitungsunternehmens überließ.64 Békessy hatte dabei nicht bemerkt, dass ihn Castiglioni eigentlich über den Tisch zog. Das Projekt wurde in den folgenden Monaten weiter diskutiert, aber es gab keine schriftlichen Abmachungen und schon gar keinen Vertrag. Castiglioni hielt bei dem ehrgeizigen Journalisten eine Fantasie aufrecht, die ihn nichts kostete und ihm dennoch dessen Wohlwollen sicherte. Ein Jahr später war alles vorüber. Das Haus am Schwarzenbergplatz hieß „Atlantis“, wie die verschwundene Welt. 1924 saß dort ein Vertreter der Banca Commerciale, der das Vermögen Castiglionis abzuwickeln hatte. 65 Castiglioni war Békessy immer mit Vorsicht begegnet. Als sein Pressereferent Leo Lederer im Mai 1923 in das Haus Castiglioni eintrat, dachte er sogar daran, einen Prozess gegen ihn zu führen. Lederer bekam den Auftrag, „vorhandenes Material über die bisherige Tätigkeit Békessys, insbesondere über seine Budapester Ära zu sichten und aufzuarbeiten, was ich auch getan hatte. Das Material wurde von Castiglioni zur Veröffentlichung erwogen und verschiedenen Journalisten davon Andeutungen gemacht.“66 1926 warf ein ehemaliger Mitarbeiter der Zeitung Korruption vor.67 Daher wurde der Leiter der Anzeigenabteilung, Eugen Forda, am 12. Juli 1926 wegen Verdachts der Erpressung in Untersuchungshaft genommen, da er Kaffeehausbesitzer zu Inseraten 64 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 83–127 65 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 83–127 66 Landesgericht für Strafsachen Wien I, Zeugenvernehmung am 7. November 1927, Strafsache gegen Alexander Weisz, Österreichisches Staatsarchiv, Geschäftszahl XXVII 946/26 67 Ernst Spitz, Békessys Revolver, Wien 1926
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gezwungen habe. Allerdings kam es zu keinem Prozess, es war eine der vielen gerichtlichen Verfahren dieser Zeit, die nur dazu dienen sollten, den Gegner in die Knie zu zwingen, was auch gelang. Da auch Békessy die Verhaftung drohte, kehrte er von einem Kuraufenthalt in Chamonix/Frankreich nicht mehr zurück. Am selben Abend kam ein Abgeordneter der Redaktionen seines Verlages mit einem Schreiben, in dem er zum Verkauf aufgefordert wurde. Man sei zwar von seiner persönlichen Integrität voll überzeugt, aber durch die Vorwürfe stehe der Verlag bald vor dem finanziellen Ruin. Vier Stunden entfernt von Chamonix, in Aix-les-Bains, saß der Mitbesitzer des Verlages, Camillo Castiglioni. Was nur wenige wussten: Castiglioni hielt zwanzig Prozent des Aktienkapitals des Verlages, zehn Prozent waren für einen Kredit an ihn verpfändet und auf weitere zwanzig Prozent hatte er ein Vorkaufsrecht. Eine Veräußerung war daher nur mit seinem Einverständnis möglich. Békessy rief daher Castiglioni an, der bereits informiert war und selbst den Brief der Redaktion in der Hand hielt. „Das war ja immer die Stärke des Castiglionischen (wie des Napoleonschen) Machtapparates: der präzise Spionagedienst, die Informiertheit, die vor Überraschungen schützt.“ Castiglioni, der bereits finanziell angeschlagen war, warnte ihn, wieder nach Wien zu gehen, und riet ihm zum Verkauf. „Meine Aktien stehen auch zu Ihrer Verfügung ... Wir bleiben weiter gute Freunde, aber unsere Wege gehen auseinander. Sauve qui peut ...“ So verkaufte Békessy seine Anteile am Verlag an eine Gruppe, die aus Inseratenfirmen bestand.68 Karl Kraus erwies Békessy und Castiglioni eine besondere Ehre, indem er den beiden bei seinem Theaterstück „Die Unüberwindlichen“ den dritten Akt „Pariser Leben“ widmete.69 Dabei wird ein wehleidiger und ängstlicher Castiglioni, der sich in einem Pariser Hotel versteckt hält, von dem ebenso auf der Flucht befindlichen Békessy erpresst. Die Hauptfiguren waren Camillioni und Barkassy. Das Stück wurde nicht in Wien, sondern am 5. Mai 1929 im Residenz-Theater in Dresden uraufgeführt, allerdings ohne den dritten Akt. Castiglioni hatte mit einer einstweiligen Verfügung und einem Zivilprozess gedroht, der für das Theater zu riskant gewesen wäre.70 Castiglionis Verhältnis zur Presse kam auch beim Prozess gegen den langjährigen Chefredakteur des linkssozialistischen „Der Abend“, Alexander Weisz, zur Sprache. Die Zeitung, mit einer für das damalige Wien beachtlichen Auflage von bis zu 100.000, 68 Emmerich Békessy, Wie es zu meiner Abdankung kam, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 59–68 69 Dazu auch: Claudia Attlmayr, Die Verwandlung des Bankiers Camillo Castiglioni in eine satirische Figur von Karl Kraus, DiplA., Universität Innsbruck 1990 70 Karl Kraus, Die Unüberwindlichen, Die Fackel Nr. 811, Wien August 1929, S. 143 ff.
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hatte im Titelkopf das Motto: „Wo Stärkere sind, immer auf Seite des Schwächeren.“ Rudolf Olden verteidigte Weisz in der Berliner „Die Weltbühne“ auf seine Weise.71 Es sei nicht zu vergessen, „dass dieser Mann der größte Könner des Journalismus ist, den Wien, die Stadt journalistischer Talente, jemals gehabt hat. Er hat die ins Herz treffende Sprache des ganz großen Demagogen. Dabei war er radikal gegen die Mächtigen, auch gegen Castiglioni vorgegangen ... Beleidigt, formal beleidigt hat dieser Tages-Pamphletlist unzähliche Menschen, Firmen, Institutionen.“ Seine Eltern, ärmste jüdische Kleinbürger, waren aus der Slowakei zugewandert, er selbst hatte es aber zu einem Goldmillionenvermögen gebracht, was man ihm nicht ansah. „Wenn man den Vierzigjährigen abends im Café oder in der Bar sitzen sah, wo er einen Türkischen nach dem Anderen, nichts Anderes, konsumierte – breit, fett, glatzköpfig, schwarzes Bärtchen, funkelnde Jettaugen in einem schwammigen Gesicht – so schien der berühmte Wiener Schwindelleitsatz ‚Leben und leben lassen‘ sein Wahlspruch zu sein. Aber er hatte eine kindlich-raubtierhafte Freude daran, Menschen zu quälen.“ Zum Krach war es schließlich gekommen, als Weisz das Annoncenbüro der Zeitung wechseln wollte. Der Chef der bisherigen Anzeigenfirma versuchte ihn umzustimmen, drohte ihm schließlich, was Weisz unbeeindruckt ließ. Darauf ging er zum Mitbesitzer der Zeitung und enthüllte die Provisionszahlungen bei diesem Geschäft. Dieser erneuerte den bestehenden Vertrag, suspendierte den Chefredakteur, wollte ihn vor ein Schiedsgericht bringen, aber gab ihn dann völlig preis. Weisz schied am 6. Februar 1926 aus der Zeitung aus. Weisz wurde in Untersuchungshaft genommen und nach acht Wochen kam es zu einem Prozess, der ebenfalls in der „Weltbühne“ analysiert wurde.72 Weisz wurde verurteilt, da er 1922 an dem Bankier Camillo Castiglioni wegen eines Betrages von 24 Millionen Kronen das Verbrechen der Erpressung begangen habe. Er wurde zu sieben Monaten schweren Kerkers verurteilt. Dem Herausgeber des „Abend“ waren Beweise in die Hand gespielt worden, „dass der Chefredakteur Weisz in den Jahren der Spekulationsseuche an der Börse spekulierte, dass er mit Bankleuten in geschäftlicher Verbindung gestanden, dass er von denen, die er im ‚Abend‘ bekämpfte, sich Spekulationsgewinne hatte auszahlen lassen“. Neben den Börsengewinnen hatte er Provisionen für die Vermittlung von sehr großen Geschäften genommen, in erster Linie solche, die mit SowjetRussland abgeschlossen worden waren. Weisz gab das zu, es mag vielleicht unmoralisch gewesen sein, aber es war nicht verboten. Von den nun erhobenen Anklagepunkten blieb letztlich nur der bezüglich Castiglioni übrig. „Der Inseratenchef des ‚Abend‘, 71 Rudolf Olden, Österreichische Köpfe X: Alexander Weisz, in: Die Weltbühne, Berlin 1926, S. 329– 333 72 Bruno Frei, Der Prozess Alexander Weisz, Die Weltbühne, Berlin 1926, S. 658–662
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der neben Weisz angeklagt und zu vier Monaten verurteilte Artur Fuchs, erzählte vor Gericht, das Haus Castiglioni habe ihn durch Mittelsleute gebeten, auf den ‚Abend‘ den Einfluss zu nehmen, dass die Angriffe gegen Castiglioni gemildert würden. Er habe sich dazu bereit erklärt und im Namen des Weisz einen Betrag von 50 Millionen gefordert. Das war dem Castiglioni zu viel; er hatte sich das billiger vorgestellt, und es begannen nun die üblichen Verhandlungen zwischen Fuchs und dem Vertreter Castiglionis. Man hatte sich am Ende auf einen Betrag von 40 Millionen geeinigt, wovon 24 Millionen ausgezahlt wurden ... Castiglioni wollte den ‚Abend‘ nur bestechen; aber da Fuchs mehr verlangte, als Castiglioni geben wollte, so lag in der Mehrforderung die Erpressung.“ Weisz erklärte, er habe erst am Tag seines Austritts aus der Zeitung erfahren, „was für Schandtaten er begangen habe. Er habe mit Fuchs zusammen Börsengeschäfte gemacht, und da er mit Rücksicht auf seine Stellung nicht selbst Börsenmanipulationen ausführen durfte, so habe er Fuchs, mit dem er freundschaftlich verbunden war, bevollmächtigt, es für ihn zu tun. Er hatte nie eine Ahnung, dass sich Fuchs Geldzuwendungen von den Bankleuten machen lasse, die der ‚Abend‘ ununterbrochen angriffe, und ihm selbst sei von diesen Beträgen seines Wissens nichts zugeflossen.“ Der Pressechef von Castiglioni, Dr. Leo Lederer, sagte vor Gericht aus, dass er wiederholt von Castiglioni zu Weisz geschickt worden war, um ihn zu bestechen, was aber nie gelungen war. Eine wesentliche Rolle bei dem Prozess spielte ein Gedächtnisprotokoll von Castiglionis Generaldirektor Schweiger, wobei aber selbst dem Staatsanwalt klar war, dass solche Protokolle bei Castiglioni systematisch gefälscht worden waren. Weisz selbst sah sich daher als Opfer: „Zehn Jahre lang hat es zwischen mir und den anderen Zeitungen, zwischen mir und den Banken, zwischen mir und den einflussreichsten Politikern Krieg gegeben. In einem Krieg kommt es vor, dass man dem Feind in die Hände fällt.“ Und Polizeipräsident Schober soll mit erhobener Faust gesagt haben: „Jetzt wird ihm endlich der Kragen umgedreht werden!“ Selbst die „ArbeiterZeitung“ rückte von ihm ab und sprach von „kleinbürgerlichem Radikalismus“ und sein Kollege im „Der Abend“, Carl Colbert, nannte ihn einen Schuft. Für Bruno Frei war Alexander Weisz aufgrund seiner Börsentätigkeit und seiner Geschäfte zwar alles andere als eine sittlich einwandfreie Erscheinung, aber dass ihn die bürgerliche Justiz zum Verbrecher stemple, sah er als einen politischen Prozess. 1927 stellte Weisz den Antrag auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Dabei nahm auch Emmerich Békessy in einem Brief an dessen Rechtsanwalt Stellung, in dem er Weisz entlastete.73 „Soweit ich mich erinnere hatte ich im Jahre 1922 – möglicherweise 73 Emmerich Békessy, Budapest, Hotel Royal am 12. Oktober 1927, an Herrn Rechtsanwalt Dr. Hans Gürtler Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Geschäftszahl XXVII 946/26
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auch in der zweiten Hälfte des Jahres 1921 – mit Camillo Castiglioni ein sehr eingehendes Gespräch über seine Beziehungen zur Wiener Presse. Mir war bekannt, dass das Haus Castiglioni und die Depositenbank zu verschiedenen Wiener und ausländischen Zeitungen Beziehungen unterhält, welche Beziehungen durch Zuwendungen verschiedener Art gestützt wurden. Als die Rede auch auf den ‚Abend‘ kam, erklärte Herr Castiglioni, auch diese Zeitung beeinflussen zu können. Auf meine Einwendung, ich hielte dies nicht für möglich, ließ Herr Castiglioni glaublich von seinem Pressebüro eine Quittung herunterbringen, die – soweit ich mich erinnern kann – über zwei Millionen Kronen lautete und mit einem Buchstaben unterfertigt war. Herr Castiglioni erwähnte, dieses Geld hätte der junge Colbert erhalten, die Beziehung zum ‚Abend‘ sei also gefestigt.“ Die Höhe der Beträge, die für die Veröffentlichung oder Unterdrückung von Informationen ausgegeben wurde, hatte für Castiglioni keine Rolle gespielt, „zumal das sogenannte Pressebudget des Herrn Castiglioni mit hohen Ziffern zu rechnen gewohnt war. Jedenfalls hat sich Herr Castiglioni mir gegenüber nicht beklagt, dass ihm der ‚Abend‘ zu hoch gekommen wäre, wiewohl er sonst über derlei Dinge mit mir ganz offen gesprochen hat.“ Dr. Leo Lederer, der vom Mai 1922 bis Februar 1925 Pressereferent bei Castiglioni gewesen war, hatte von dem Gedächtnisprotokoll erst später erfahren und konnte nicht sagen, wann es angefertigt worden war. Er selbst habe mit Weisz im Auftrag Castiglionis nur Verhandlungen wegen einer Beteiligung an der Druckerei des „Abend“ geführt, die aber von diesem abgelehnt wurde. „Eine Äußerung dahin gehend, dass Castiglioni bei einem Journalisten, bei dem er etwas durchsetzen wollte, immer nur zwei Mittel anwendete, nämlich die Drohung mit Bloßstellung oder eine Bestechung, habe ich niemals gemacht.“ Nach seinem Wissen sei Castiglioni auch nie so vorgegangen. Als er gegen Ende des Jahres 1926 Castiglioni in Berlin traf, gab er der Meinung Ausdruck, „dass Herr Castiglioni die ganzen Unannehmlichkeiten, die dieser Prozess ja auch für ihn hatte, nur der Ungeschicklichkeit des Generaldirektor Schweiger zu verdanken habe. Darauf hatte Castiglioni gesagt: Sie kennen doch den Generaldirektor Schweiger. Ich habe gegen den Weisz ja nichts gehabt, ich hätte ihm auch mehr Geld gegeben, aber Sie wissen ja wie der Generaldirektor Schweiger in solchen Sachen ist ... Sie kennen mich doch, Sie wissen ja dass ich Journalisten gegenüber nie kleinlich war.“74 Am 29. März 1928 wurde dann Castiglioni selbst als Zeuge vernommen.75 Da Castiglioni unter Eid stand, erklärte er lang und breit, dass er sich aufgrund seiner beruf74 Landesgericht für Strafsachen Wien I, Zeugenvernehmung am 7. November 1927, Strafsache gegen Alexander Weisz, Österreichisches Staatsarchiv, Geschäftszahl XXVII 946/26 75 Landesgericht für Strafsachen Wien I, Zeugenvernehmung am 29. März 1928, Strafsache gegen Alexander Weisz, Österreichisches Staatsarchiv, Geschäftszahl XXVII 946/26
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lichen Inanspruchnahme natürlich nur mehr bedingt an Dinge erinnern könne, die sechs Jahre zurückliegen. Er könnte sich nur auf das seinerzeitige Gedächtnisprotokoll verlassen. „Ich muss aber auch hervorheben, dass ich persönlich niemals mit Herrn Weisz oder irgend einem Mitglied des ‚Abend‘ ein Wort gesprochen oder auch nur schriftlich verkehrt hätte ... Wenn von Geld an den ‚Abend‘ oder an Herrn Weisz die Rede ist, so kann dies nur verstanden werden, dass mir gesagt wurde, dass das Geld für diesen Zweck bestimmt war. Ob es diesen angeblichen Bestimmungsort erreichte, weiß ich nicht und habe ich dies auch nie kontrolliert. Was nun die Hingabe von Geldern für Pressezwecke angelangt, so muss ich erklären, dass selbstverständlich meine Unternehmungen, wie alle Industrien auf der ganzen Welt und wie auch staatliche Unternehmungen auf wirtschaftlicher Grundlage in Form von Inseraten, Subventionen u. dgl. Beziehungen zu Zeitungen, die ja auf Gewinn berechnete Unternehmungen sind, unterhalten habe. Ob man das Bestechung nennen kann, kann wohl dahingestellt bleiben ... Wenn ich gefragt werde, ob die im gegebenen Fall von mir geleisteten Geldbeträge bei meinen damaligen Vermögensverhältnissen mit Rücksicht auf ihre Höhe als drückend empfunden wurden, oder meine Existenz gefährdeten, so muss ich dies natürlich verneinen. Tatsache ist nur, dass wenn man mir nicht gesagt hätte, dass bei Nichtzahlung dieser Beträge eine Artikelserie gegen mich erscheinen würde, ich mich zu den Zahlungen nicht verstanden hätte ... Ich hatte das Bestreben, die Angriffe des ‚Abend‘ hintanzuhalten, war mir im Klaren, dass die Ordnung dieser Angelegenheit Geld kosten werde, glaube aber bestimmt, dass von unserer Seite zunächst überhaupt kein Betrag genannt wurde ... Erst als von der Gegenseite eine bestimmte Forderung aufgestellt wurde, begannen die Verhandlungen zwischen Schweiger und Fried. Ich kann mich genau nicht mehr erinnern, glaube aber ganz sicher, dass ich den Betrag von 50 Millionen Kronen als zu hoch bezeichnet habe ... An sich war der Betrag, der von uns schließlich zugestanden wurde, im Verhältnis zu den sonstigen großen Transaktionen meines Hauses und im Verhältnis zu meinem damaligen Vermögen für mich uninteressant. Wir wehrten uns aber dagegen, dass wir gegen unseren Willen einen zu hohen Betrag zahlen sollten.“ Und Castiglioni kehrte schließlich seine menschliche Seite heraus: „Sicher ist, und das möchte ich bei dieser Gelegenheit betonen, dass ich nach dem Urteile im Prozess Weisz öfter verschiedenen Personen gegenüber mein Bedauern ausgesprochen habe, dass es zu einer Verurteilung gekommen ist und zwar ohne nur eine Sekunde auf die Frage der Berechtigung oder Nichtberechtigung der Verurteilung zu denken, sondern rein aus menschlichen Gründen.“
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Weisz sah in seinem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens den Sachverhalt völlig anders.76 Castiglioni, der sich in diese Strafsache als möglichst uninteressiert darstelle, habe das ganze bewusst ins Rollen gebracht und es sei heuchlerisch, wenn er davon spreche, dass er seine Verurteilung menschlich bedauere. „Ende Jänner 1926 hatte ich einen Konflikt mit den beiden Herren Colbert und dem ihnen nahestehenden Arthur Fuchs. Die ganze Angelegenheit spielte sich damals innerhalb der vier Wände der Redaktion ab, ohne dass die Öffentlichkeit von diesem Konflikt auch nur eine Ahnung gehabt hätte. Herr Camillo Castiglioni, von dem im Laufe des Prozesses der Nachweis erbracht wurde, dass er einen organisierten Nachrichtendienst eingerichtet hatte, der in alle Wiener Redaktionen reichte, scheint nun von dieser Affäre Wind bekommen zu haben.“ Castiglioni ging nun zu „Bundeskanzler Dr. Ramek und teilte ihm mit, dass er im Besitze eines Gedächtnisprotokolles sei, welches den ‚Abend‘ belaste und daher politisch von großer Tragweite sei. Castiglioni gab zu verstehen, dass er durch seine Enthüllungen der Regierung einen großen Gefallen erweisen wolle.“ Ramek fertigte ihn jedoch kurz ab, wenn er eine Beschwerde gegen den „Abend“ habe, so solle er zur Polizei gehen. Castiglioni ging nun zum Chef der Staatspolizei Bernhard Pollak und legte ihm das Gedächtnisprotokoll vor. Der sagte: „Herr Präsident, haben Sie über alle Vorfälle in Ihrem Büro derartige Protokolle verfertigt?“ Das Interesse Castiglionis erklärte sich Weisz, dass dieser damals finanziell geschwächt und durch seine diversen Skandale einen entsprechenden Ruf gehabt hat, den er nun verbessern wollte. Er habe sich bei österreichischen und ausländischen Politikern dieser Vorgangsweise gerühmt, unter anderem auch bei Mussolini. Das Gedächtnisprotokoll war seiner Meinung nach eine Fälschung, da schon das Datum nicht ganz den Tatsachen entsprach. Und in seiner alten kämpferischen Weise rechtfertigte er sich: „Ich habe die vorliegenden Anträge deshalb gestellt, um Herrn Castiglioni die Maske vom Gesicht zu reißen. Ich habe dies nicht deshalb getan, um eine persönliche Ranküne auszuüben, sondern deshalb, weil ich der Überzeugung bin, dass auf diesem Wege durch Kennzeichnung des Herrn Castiglioni, wie er wirklich ist, der durch meinen Wiederaufnahmeantrag beabsichtigte Effekt rascher und besser zu erzielen ist.“
76 Landesgericht für Strafsachen Wien I, 9. Mai 1928, Strafsache gegen Alexander Weisz, Österreichisches Staatsarchiv, Geschäftszahl XXVII 946/26
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Der Bankier Wenige Monate nach seiner Thronbesteigung im Kriegsjahr 1916 setzte der neue Kaiser Karl Maßnahmen, um Auswüchse der Spekulation und des Schiebertums zu bekämpfen und einen Selbstreinigungsprozess in der Industrie und der Hochfinanz einzuleiten. Dazu gehörten verschärfte Bestimmungen gegen Preistreiberei und die Entfernung führender Exponenten der Hochfinanz, wie Rudolf Sieghardts, des Präsidenten der BodenCredit-Anstalt, und Dr. Josef Kranz’, des Präsidenten der Allgemeinen Depositenbank. Die 1871 gegründete Depositenbank gehörte zu den Mittelbanken. Das Aktienkapital betrug bei der Gründung 5 Millionen Gulden und erhöhte sich bis 1905 auf 8 Millionen Gulden, was 16 Millionen Kronen entsprach. Im letzten Friedensjahr 1913 war dies auf 33 Millionen angestiegen. Charakteristisch für die vorsichtige Führung der Bank waren die beinahe völlige Abstinenz bei der Industriefinanzierung und die Konzentration auf das Einlagengeschäft, vor allem von kleinen und mittleren Geschäftsleuten. Der Wechsel der Geschäftspolitik kam mit der Übernahme durch Dr. Joseph Kranz im Jahr 1915 und fand seinen Niederschlag in einem raschen Ansteigen der Kreditoren, des Effektenbesitzes und des Konsortialgeschäftes. Die Bank verfügte über vier Filialen in Galizien, eine in Odenberg und zwei in Oberösterreich, neben neun Wechselstuben in Wien. Von den Filialen verblieben nach Kriegsende nur jene in Oberösterreich und Czernowitz. Die Depositenbank hatte ihren Sitz am Trattnerhof in Wien und siedelte dann in die Schottengasse 1 um, mitten ins Herz des Bankenviertels. Gegen Kranz wurde im Frühjahr 1917 ein Strafprozess eingeleitet, um ein öffent liches Exempel gegen das in Industrie- und Bankkreisen weit verbreitete Schiebertum zu statuieren. Der Industrielle Josef Kranz war ursprünglich Rechtsanwalt, dann im Finanzministerium tätig und schließlich vor dem Krieg mit Industriegründungen in Bosnien-Herzegowina sehr erfolgreich gewesen. Er spielte auch im Gesellschaftsleben eine bedeutende Rolle, sein Palais in der Liechtensteinstraße enthielt eine umfangreiche Kunstsammlung.77 Ihm war 1916 vom Kriegsministerium die Aufgabe übertragen worden, den Heeresbedarf an Bier während der Sommermonate zu besorgen. Dafür war eine „Biereinkaufsstelle des k. u. k. Kriegsministeriums“ eingerichtet worden, den Brauereien wurden die Rohstoffe zugeteilt und verbindliche An- und Verkaufspreise festgelegt. Kranz schaltete jedoch die Warenabteilung der Depositenbank dazwischen und begann, über den Heeresbedarf hinausgehende Mengen an Bier zu beschaffen und an Großhändler mit erheblichem Gewinn abzugeben. Das Gleiche geschah auch mit Marmelade, Zucker, Rum und Malzkaffee, wobei die Gewinne aus der Bilanz ver77 Dr. Josef Kranz gestorben, Der Wiener Tag, 15. September 1934
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schwanden und an den Großaktionär der Bank, den Privatbankier Hans Reitzes, übertragen wurden. Josef Kranz selbst wurde keine Bereicherung vorgeworfen, wohl aber Spekulation und Preistreiberei mit Nahrungsmitteln. Am 4. April 1917 wurde er schuldig gesprochen und erhielt eine Strafe von neun Monaten strengem Arrest und eine Geldstrafe von 20.000 Kronen.78 Das Urteil wurde jedoch später vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. Der Prozess erzeugte ein erhebliches öffentliches Aufsehen, das weit über den eigentlichen Anlass hinausging. Bild 12 Der nachfolgende Leiter der Bank, Paul GoldBékessy’s Panoptikum, Wien 1928 stein, war auch später noch der Meinung, dass dies ein politischer Prozess gewesen war, der nur den Zweck hatte, dem durch den Krieg erbitterten Volk ein Opfer hinzuwerfen und zu zeigen, dass man sich auch an die Großen herantraute. „Dr. Josef Kranz war vielleicht ein bisschen zu großzügig, aber damals ist ihm bitteres Unrecht geschehen. Die Biereinkaufstelle hat er nur aus Gefälligkeit für den Kriegsminister Krobatin mit hohen Spesen und winzigem Gewinn eingerichtet, da die Brauereien einen passiven Widerstand dagegen erhoben, dass sie das Bier, in Eis gekühlt, an die Front schicken mussten. Aber Kranz hatte mit der Geschäftsführung überhaupt nichts zu tun, sondern ausschließlich Doktor Freund, der ja Fachmann war. Kranz hatte sich die Feindschaft der Brauereien zugezogen.“79 Carl Colbert (1855–1929), der Herausgeber der Tageszeitung „Der Abend“ zählte es zu seinen Verdiensten, dass es zu diesem Prozess gekommen war. Er verband damit die Hoffnung einer Bereinigung der wirtschaftlichen Verhältnisse. „Zu allen Zeiten hat der Krieg wie alle bösen Triebe auch die im stillen schlummernde Gewinngier entfesselt und mit so vielen Schranken auch die niedergeworfen, die das Gesetz dem Erwerb gezogen hat.“ Der Prozess habe deshalb Bedeutung, da er einem System galt. „Der Aberglaube, der die Millionen über das Gesetz stellt, ein Aberglaube, gleich schädlich 78 Carl Colbert, Der Preistreibereiprozess gegen Dr. Josef Kranz, Wien 1917. Der Direktor der Depositenbank Dr. Richard Freund erhielt ebenso neun Monate strengen Arrest und 15.000 Kronen Geldstrafe und die Biergroßhändler Eisig/Rubel strengen Arrest von drei Monaten und 10.000 Kronen Geldstrafe und Fritz Felix strengen Arrest von sechs Monaten und 10.000 Kronen Geldstrafe. 79 Paul Goldstein, Der Konflikt mit Castiglioni, Wiener Journal, 7. Mai 1922
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für uns wie für die Millionäre, ist nun dahin, wir wollen hoffen, für immer.“ Er habe in das Wespennest der Depositenbankgeschäfte gegriffen, um zu zeigen, dass die Straflosigkeit des Finanzkapitals keineswegs eine unerschütterliche Wirklichkeit sei. „Hat der Krieg die Machtfülle des Finanzkapitals fast bis zur Alleinherrschaft gesteigert, so zeigen sich doch andererseits Erscheinungen, die deutlich erkennen lassen, dass sich der unvermeidliche Rückschlag vorbereitet ... Es mangelt nicht an Vorzeichen, und nicht das geringste ist vielleicht das ärgerlich-ängstliche Gekrächze der Nachtvögel, die um bedrohte Bankpaläste herumstreichen. Ihr Geschrei kündet nicht, wie man uns glauben machen will, Unheil, sondern es zeigt an, dass der Tag der wirtschaftlichen Befreiung heraufzieht.“80 Im „Österreichischen Volkswirt“ zog Walter Federn für die Depositenbank den Schluss, es sei ein Glück für die Bank, „dass der Prozess nicht nur den ungeeigneten Präsidenten, sondern auch die weitere Wirksamkeit der Vertreter der Großaktionäre unmöglich gemacht hat“.81 Ihre Tätigkeit habe für die Bank einen Zustand voller Gefahren heraufbeschworen. Es wäre zu wünschen, dass ein solcher Zustand für die Wiener Banken nicht wieder eintrete. Da er auch auf die bestehende Praxis verwies, wonach die Besetzung von Führungspositionen in Großbanken durch politische Entscheidungen erfolgte, richtete sich die Warnung auch an die Spitze des Staates. „Die Depositenbank war eigentlich in keiner Weise zu einem solchen Skandalprozess prädestiniert. Ruhiger, vorsichtiger, ängstlicher, als sie jahrzehntelang geleitet worden ist, ist keine Wiener Bank verwaltet worden, und wenn es gelingt, der Bank eine neues Ansehen verdienende Verwaltung zu geben, so wird die Direktion und der Beamtenkörper, denen die Verhältnisse der letzten Jahre alles eher als willkommen waren, den guten Ruf der Bank gewiss wieder herzustellen vermögen, die ja finanziell durchaus gefestigt dasteht.“ Mit der Kritik an der Vorherrschaft des Großaktionärs Hans Reitzes82 traf Federn ins Schwarze, aber nun hatte man erst recht den Bock zum Gärtner gemacht. Er und Carl Colbert konnten aber nicht vorhersehen, dass sich genau das wiederholen sollte, wovor sie gewarnt hatten: Mit Camillo Castiglioni sollte bald ein neuer Großaktionär entscheidenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Bank gewinnen. Vorerst gab es aber keine Hinweise, die auf den langsam steigenden Einfluss Castiglionis hindeuteten. Geschäftsführender Direktor wurde Paul Goldstein, Castiglioni selbst wurde Vizeprä80 Carl Colbert, Der Preistreibereiprozess gegen Dr. Josef Kranz, Wien 1917, S. 3–6 81 Walter Federn, Der Prozess Kranz, Der Österreichische Volkswirt, 7. April 1917 82 Reitzes, der in Wien geboren und mit einer Wienerin verheiratet war, nahm nach dem Krieg die polnische Staatsbürgerschaft an, um den österreichischen Steuerbehörden zu entgehen. In: Noch eine Anfrage über Castiglioni und andere, Der Abend, 6. Oktober 1922
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sident, zum Präsidenten wurde mit Justizrat Mintz ein höherer Beamter, der sich mit repräsentativen Funktionen begnügte und seinem Vizepräsidenten die Initiative überließ. Die Umstände, die Castiglioni das Amt des Vizepräsidenten erreichen ließen, sind ungeklärt. Es wäre durchaus möglich, dass dies – wie Federn kritisierte – über höheren Wunsch erfolgt ist. Die im Gefolge des Kranz-Prozesses beginnende Bankkarriere Castiglionis ab 1917 wird vor dem Hintergrund seiner Nähe zu Kaiser Karl zu sehen sein. Der neue Geschäftsführer Paul Goldstein hob aber im „Wiener Journal“ 1922 seine eigene Rolle hervor: „Als ich am 1. Januar 1917 als leitender Direktor eintrat, war infolge des Kranz-Prozesses von meinem Verwaltungsrat nur der alte Herr Goldschmied übrig geblieben ... Ich musste mir damals einen neuen Verwaltungsrat zusammenstellen und gewann neben dem Justizrat Mintz und Robert von Schoeller auch den Industriellen Castiglioni, der damals noch kein bedeutendes Vermögen hatte. Mit meiner Hilfe wurde er Mitglied des Exekutivkomités, auf meinen Antrag Vizepräsident und dann Präsident.“83 Die Depositenbank ermöglichte Castiglioni den Eintritt in die geschlossene Gesellschaft der österreichischen Industriebarone.84 Im – von Castiglioni mitfinanzierten – „Neuen Wiener Journal“ stand bei seiner Ernennung in der Depositenbank zu lesen: Wenn Castiglioni sich entschlossen hatte, „ein sehr bedeutendes Wiener Bankinstitut vor seinen Wagen zu spannen, so liegen für ihn zweifellos sehr gute, gewichtige Gründe vor, die aber freilich für andere Menschenkinder vorerst nicht zu durchschauen sind. Dass es gerade die Depositenbank ist, mag in dem Umstande seine Erklärung finden, dass diese Bank nach den mannigfachen Affären mit Kranz, mit Reitzes etc. für einen unternehmenslustigen Finanzmann viel leichter zugänglich war; da ja schließlich auch der bisherige Präsident Sektionschef Dr. Karl Marek mehr oder weniger eine repräsentative Attrappenrolle spielt.“85 Bankpolitisch entfaltete Castiglioni bis zum Frühjahr 1919 nur mäßige Initiative. Die anfängliche Zurückhaltung erklärt sich daraus, dass seine Bestellung in den Verwaltungsrat auch auf Widerspruch gestoßen war. „Er ist im Krieg weniger hervorgetreten als andere prononcierten Kriegslieferanten und war eigentlich ein Unbekannter, als ihn die Depositenbank nach dem Mißgeschick, das ihr mit dem Kranz-Prozess widerfahren war, in das finanzielle Leben einführte. Er hat bei seinem ersten Debüt als Verwaltungsrat dieser Bank nicht einmal eine freundliche Auf83 Paul Goldstein, Der Konflikt mit Castiglioni, Wiener Journal, 7. Mai 1922 84 Gertrude Burcel, Die österreichisch-italienischen Wirtschaftsbeziehungen 1919–1923, Diss. Universität Wien 1979, S. 52 85 Novus, Camillo Castiglioni. Ein Porträt, Neues Wiener Journal, 15. Oktober 1919; Dr. Karl Marek verstarb im Sommer 1923
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nahme gefunden.“ 86 Der Aktionär Emil von Hofmannsthal warf Castiglioni vor, dass er nicht die moralische Eignung besitze, dem Verwaltungsrat einer Bank anzugehören.87 „Eine Gruppe von Aktionären sprach ihm die Eignung ab, diese Vertrauensstellung zu bekleiden, indem sie ihm vorwarf, dass es in seiner Vergangenheit dunkle Punkte gebe, die einer Aufklärung bedürftig seien. Über diese dunklen Punkte hat man nie etwas Genaues erfahren. Die einzige Andeutung hierüber brachte seinerzeit das Organ des Österreichischen Aktionärsvereins, welches in einer kleinen Notiz mitteilte, dass er die Angelegenheit, auf die in der Generalversammlung angespielt worden war durch Erlag eines Betrages von 151.310 Kronen an einen Geschäftsfreund, mit dem er in Verbindung stand, aus der Welt geschaffen habe.“ 88 Angeblich soll auch von der deutschen Heeresleitung gegen ihn der Vorwurf der Preistreiberei erhoben und ein Haftbefehl beantragt worden sein. Erst nach Beendigung des Krieges erreichte Castiglioni, nun bereits in Besitz eines erheblichen Aktienanteils mithilfe seiner italienischen Freunde, das Amt des Präsidenten der Bank.
86 Abgedruckt in: Montagszeitung, 31. Oktober 1921 87 Minkus und Bosel, die Börse, 11. November 1922 88 Abgedruckt in: Montagszeitung, 31. Oktober 1921
Der Industrielle 2. Teil Alpine und Stinnes Bereits 1917 versuchte Castiglioni mit dem deutschen Industriellen Hugo Stinnes in Geschäftsbeziehungen zu treten. „Stinnes reagierte mit einigen argwöhnischen Fragen zu dem Mann, dem er als Aushängeschild dienen sollte, und zog durch die Firma R.G. Dunn & Co. und mehrere Banken Erkundigungen über seine Vergangenheit und Kreditwürdigkeit ein. Es stellte sich heraus, dass Castiglioni ein recht bemerkenswerter Unternehmer war. Auf jeden Fall beschloss Stinnes, sich geschäftlich mit dem Mann zusammenzutun, der später das Prädikat „österreichischer Stinnes“ erhalten sollte, und in den folgenden Jahren stellten die beiden Männer eine Reihe von Dingen auf die Beine.“89 Der deutsche Industrielle Hugo Stinnes, der im Krieg und in der Inflationszeit einen mitteleuropäischen Industrie- und Bergbaukonzern aufbaute, war das eigentliche Vorbild des Italo-Österreichers. „Camillo Castiglioni wird vielfach als der österreichische Stinnes bezeichnet. In der Tat hat er manche Ähnlichkeit mit ihm, wenn beide auch im Wesen sehr verschieden sind. Stinnes war ein rücksichtsloser Draufgänger, bar jeder Sentimentalität, den außer dem Geschäftlichen wenig berührte; Castiglioni hat trotz aller Hartnäckigkeit im Geschäftsleben ein weicheres Gemüt, außerdem interessiert er sich für die Schöpfungen der Kunst.“90 „In einem freilich unterscheidet sich Castiglioni wesentlich von Hugo Stinnes. Sein prunkvoller Renaissancepalast in der Prinz Eugenstraße in Wien, seine Gemäldesammlung, seine Ehe mit einer vielbewunderten Wiener Theaterschönheit zeigen, dass sein Leben nicht allein auf Geld und Macht eingestellt war. Wo es für sein Geschäft und den guten Ruf förderlich war, gab er auch für andere etwas her.“91 Das größte Projekt der beiden war die österreichische Alpine-Montan. Das Unternehmen war 1881 aus der Zusammenfassung mehrere Steirischer und Kärntner Eisen89 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, S. 442/3 90 Paul Ufermann, Könige der Inflation, Berlin 1924, S. 68 91 Richard Lewinsohn, Die Umschichtung der europäischen Vermögen, Berlin, 1925, S. 240
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und Stahlwerke entstanden und stand am Vorabend des Ersten Weltkriegs unter dem Einfluss der Prager Eisenindustriegesellschaft und ihr nahestehender Aktionäre. Bis Ende des Krieges verschärfte sich der Kohlemangel derart, dass an eine normale Produktion nicht zu denken war. Die Situation spitzte sich nach dem Krieg noch zu, da sich Prag der Kohle als Druckmittel gegen Wien bediente und Lieferungen von Zugeständnissen in politischen Fragen abhängig machte. Außerdem traten Transportprobleme durch den Mangel an Waggons auf. Um überhaupt erzeugen zu können, blies man sogar die alten Holzkohleöfen wieder an. Durch den Mangel an Kohle war das damals größte Industrieunternehmen Österreichs daher in eine schwere Krise geraten. Die kurzfristigen Bankschulden wuchsen auf fast 50 Millionen Kronen an und zwangen zu einer Kapitalerhöhung von 72 auf 90 Millionen im Frühjahr 1919 und auf 100 Millionen im Herbst des Jahres. Die zweite Erhöhung wurde von der Republik Österreich aufgrund des Gesetzes zur Errichtung gemeinwirtschaftlicher Betriebe übernommen. Das Unternehmen bildete damit einen Eckstein im sozialistischen Sozialisierungskonzept.92 Das größte österreichische Unternehmen wurde so zum Spielball der Politik, wobei die bürgerliche Seite alles unternahm, um den von den Sozialisten angestrebten Übergang in öffentliches Eigentum zu verhindern. Der einfachste Schritt dazu war eine ausländische Beteiligung, welche den linken Plänen einen Riegel vorschieben sollte. Dabei spielte Roberto Segré, der Leiter der italienischen Militärmission in Wien, der für die militärische Demobilisierung zuständig war, eine wesentliche Rolle. Dieser versuchte der italienischen Wirtschaft neue Anlagemöglichkeiten in Österreich zu erschließen. Das entsprach den Interessen von Fiat und der Banca Commerciale Italiana. Die Möglichkeit ergab sich, da sich ein Großaktionär, die Prager Eisenindustriegesellschaft, zurückzog und ihre Aktien an der Wiener Börse zum Kauf anbot. Die italienische Gruppe erwarb daher im Frühjahr und Sommer 1919 an die 50 % der Aktien, für die durchschnittlich 800 Kronen bezahlt wurden. Sie trat aber nicht selbst in Erscheinung, sondern betraute das Bankhaus Arthur und Richard Kola. Die Bank agierte mit stiller Unterstützung des österreichischen Staatssekretärs für Finanzen, Joseph Schumpeter. Neben dessen Skepsis gegenüber den Sozialisierungsvorhaben bewog ihn vor allem der chronische Devisenmangel des Staates zumindest zu einer Tolerierung des Vorgangs. Der parteifreie Schumpeter war von dem Leiter der Sozialistischen Partei, Otto Bauer, als Fachmann in die Regierung geholt worden. Ihm war er nun in den Rücken gefallen. Otto Bauer meinte 1923, dass der Verkauf durch die Haltung des damaligen österreichischen Finanzministers Josef Schumpeter zustande gekommen sei. Julius Deutsch fügte 92 Helmut Fiereder, Die Österreichisch-Alpine Montangesellschaft von 1881 bis 1938, in: Scripta Mercaturae, Heft 1/1981
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dem 1932 hinzu, dass der Verkauf mit Wissen und Zustimmung aller christlich-sozialen Regierungsmitglieder geschehen sei. Demgegenüber erklärte das Finanzministerium noch 1919 offiziell, dass man im Ministerium vom Verkauf der Alpine-Aktien erst danach erfahren habe. Schumpeter selbst bestritt seine Beteiligung ebenfalls, da er als Finanzminister nicht in die Transaktionen des freien Marktes eingreifen konnte. Auch von Richard Kola wurde bestätigt, dass die österreichische Regierung bis zum Sommer 1919 keine Ahnung davon gehabt hatte. Für Richard Kola sah überhaupt alles ganz anders aus. Er war durch die Empfehlung von Dr. Gottfried Kunwald dem Minister Josef Schumpeter als Praktiker empfohlen worden. Bei der folgenden Besprechung bot er sich an, ausländische Valuten und Devisen zur Stützung der Währung unter Umgehung der Devisenzentrale zu beschaffen. „‚Ist nicht der Kauf fremder Devisen verboten?‘ fragte Schumpeter lächelnd. ‚Jawohl, Herr Staatssekretär‘, erwiderte ich, ‚Aber das Verbot ist nur dazu da, damit es umgangen wird.‘“ Schumpeter stellte ihm unter der Auflage strenger Vertraulichkeit 50 Millionen Kronen zur Verfügung und Kola war Bankier des Staates geworden. Er besorgte dem österreichischen Staat fremde Währungen, die für den Import von Nahrungsmittel, Energie und Rohstoffen ausgegeben wurden.93 Als dann doch der Direktor der Devisenzentrale informiert wurde, sagte er voller Bewunderung: „Dass ein Schleichhandel existiert, das weiß ich; es ist auch undenkbar, ihn ganz auszurotten. Dass aber jemand so enorme Quantitäten und so billig aufbringt, das hätte ich nicht für möglich gehalten! Ich sag’s aufrichtig – ich wäre nicht imstande gewesen, diese riesigen Beträge anzuschaffen.“94 In dem Zusammenhang präsentierte Kola auch den Plan, das Ausland am Kapital der österreichischen Industrie zu beteiligen, was in Österreich aber auf wenig Gegenliebe stieß. Bei einem Aufenthalt in Zürich verweilte er vor dem Hotel Baur au lac. „Eines Tages saß ich allein auf der Bank, die am Ende des schönen Parkes steht, gegenüber dem See, und ich sah träumend ins Wasser ...“ Da setzte sich ein italienischer Bankdirektor, den er kurz vorher kennengelernt hatte, neben ihn. Nach ein paar belanglosen Worten kamen sie auf die österreichische Wirtschaft zu sprechen und dass diese für das Auslandskapital ein reiches Betätigungsfeld bieten würde. Dabei erwähnte er die Alpine-Montan. Zwei Tage später war er in Mailand, wo sein Vorschlag auf fruchtbaren Boden fiel. Er wurde beauftragt, unter strenger Vertraulichkeit für die Italiener die Alpine-Aktien vom freien Markt zu kaufen. Zuerst 100.000 Stück, wofür ihm 15 Millionen Lire überwiesen wurden, welche er wieder – unter Umgehung der Devisenzentrale 93 Richard Kola, Rückblick ins Gestrige. Erlebtes und Empfundenes, Wien 1922, S. 232 ff. 94 a.a.O., S. 254
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– an den österreichischen Finanzminister ablieferte. Nachdem das erfolgt war, bekam er weitere 20 Millionen Lire – die Alpine-Aktien waren nun gestiegen – und konnte den Anteil auf 200.000 von insgesamt 500.000 erhöhen.95 Keine Rede von Politik, davon, dass die Alpine für die Sozialisierung vorgesehen war, was nun, da sich die Aktienmehrheit im Eigentum eines Siegerstaates befand, verhindert wurde. Der Name Castiglioni tauchte damals in der Öffentlichkeit nicht auf. Die österreichische Regierung hatte bei der Kapitalerhöhung der Alpine 1919 aufgrund des Sozialisierungsgesetzes 50.000 neue Aktien erworben, davon aber 20.000 an Castiglioni verkauft, und ihm eine Option auf die restlichen 30.000 zugestanden, die er tatsächlich ausübte, sodass er einen Anteil von 50.000 Stück besaß. Damit verfügte die Gruppe Castiglioni-Banca Commerciale mit Bild 13 250.000 Aktien über die Hälfte des Kapitals. Der „Der Morgen am Montag“, Wien, Erwerb dürfte für Castiglioni sehr günstig gewe24. Mai 1920 sen sein, was ihm von der sozialistischen Seite vorgeworfen wurde. Sein Gewinn aus der Kurssteigerung – ohne Berücksichtigung des Zwischengewinns durch die Weitergabe der Aktien an die Fiat-Credito Italiano Gruppe – wurde auf 130 Millionen Kronen geschätzt. Minister Dr. Reisch habe „ohne Zustimmung der Volksvertretung in verdächtiger Heimlichkeit dem Herrn Castiglioni aus dem Staatsschatze zu etwa 2.500 verkauft – anderwärts stünde er dafür vor einem Staatsgerichtshof, einem Spekulanten 180 Millionen schenkend“.96 Es sieht nun so aus, als ob niemand außer Castiglioni und Kola an der Aktion gewonnen hätte. Für die italienische Gruppe erfüllten sich die hohen gestellten Erwartungen nicht. Denn die Produktion der Alpine erhöhte sich in den folgenden zwei Jahren kaum. Noch 1921 lag der Erzberg, die Rohstoffbasis des Unternehmens, brach und die Eisenerzeugung war auf weniger als ein Zehntel der Kriegszeit zurückgegangen. Das Problem war weiter, dass die nunmehrige Republik Österreich über keine nennens95 Richard Kola, Rückblick ins Gestrige. Erlebtes und Empfundenes, Wien 1922, S. 242 ff. 96 Sozialpolitische Wochenplaudereien: Die Alpine, Der Abend, 3. März 1921
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werte Kohlevorkommen verfügte. Diese lagen im Gebiet um Ostrau, in der jetzigen Tschechoslowakei, und mussten mit Devisen beschafft werden, die kaum zu erlangen waren. 1921 war nur ein Hochofen in Betrieb und der Großteil des Roherzes musste – statt zu Eisen verarbeitet zu werden – an die Tschechoslowakei als Gegenleistung für Hüttenkoks überlassen werden. Die Alpine erwies sich für die italienische Eisenindustrie, die selbst eine Krise durchmachte, als ein Klotz am Bein. Daher entschloss man sich bei Fiat im Frühjahr 1921 zum Verkauf der Alpine-Aktien. Anfang Oktober 1920 kam es an der Börse zu einem „Haussewirbel“, der unter anderem auch auf eine Steigerung der Alpine-Werte zurückzuführen war. Nach Gerüchten sollte sich die französische Gruppe Schneider-Creuzot oder Stinnes dafür interessieren.97 Dabei wurde nun auch Castiglioni genannt, „ein Name, den die Börse jetzt fast immer nennt, wenn es sich um eine fulminante Bewegung auf dem Effektenmarkt handelt. Die italienische Gruppe, deren erster Vertrauensmann der Präsident der Depositenbank ist, wolle ihren Besitz an Alpinen vergrößern, hieß es. Welche Motive sie dabei leiten ist allerdings unerfindlich. Sie verfügen, wie bekannt, über einen genug umfangreichen Besitz an Aktien unseres bedeutendsten Bergwerkunternehmens, um jenen Einfluss, den sie sich als Großaktionär sichern könnten, auszuüben. Im übrigen muss der Alpine-Besitz industriell den Italienern, wie wir glauben, infolge der Entwicklung der ganzen durch den Kohlemangel gedrosselten österreichischen Eisenerzeugung eher eine Enttäuschung gebracht haben, die durch Vermehrung ihres Alpinen-Bestandes nicht kleiner würde.“98 Nun tauchte der Name Hugo Stinnes auf, der sich bereits im Sommer 1919 in Sachen Alpine-Anteile an Castiglioni gewandt hatte. Dieser ließ Stinnes Anfang August wissen, er habe wegen einer Reise in die Schweiz die Gelegenheit verpasst, die 200.000 Alpine-Anteile zu erwerben, die in Wien zum Kauf angeboten worden waren. So habe eine italienische Unternehmensgruppe zugegriffen. Nach Castiglionis Einschätzung war diese Gruppe jedoch durchaus daran interessiert, mit den Deutschen ins Geschäft zu kommen. Am 2. August 1919 schrieb daher Castiglioni an Stinnes: „Ich dagegen bin der Meinung, dass die Alpine eine unvergleichlich größere Zukunft hätte, wenn man auch in der Lage wäre, sie mit Kohle zu versehen und dort wie bisher Fertigfabrikate zu erzeugen. Dies habe ich auch dem Konsortium, welches die Alpine in Wien gekauft hat und das ich in Italien zu sprechen die Gelegenheit hatte, gesagt und es ist nicht ausgeschlossen, dass ich, wenn Sie für die Sache Interesse haben, eine Annäherung zustande bringen könnte.“99 97 Alpine Montan Aktien, Der Morgen, 3. Jänner 1921 98 Haussefeuer, Der Morgen, 11. Oktober 1920 99 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, S. 589
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Anfang 1921 brachte Castiglioni die Übernahme der Alpine wieder aufs Tapet. „Wie von Castiglioni vorausgesagt, hatte Fiat bald festgestellt, dass man sich mit der Alpine eher einen Bremsklotz als einen Motor ins Haus geholt hatte, denn die Firma schaffte es nicht, sich aus der Tschechoslowakei mit den benötigten Kohlemengen zu versorgen und Fiat die Stahlmengen zu liefern, derentwegen die Italiener sich in das Unternehmen eingekauft hatten. Fiat war daher bestrebt, für seine 200.000 Anteile einen Käufer zu finden, der in der Lage wäre, die Versorgung der Alpine mit Koks zu garantieren.“ Castiglioni war ebenfalls bereit, seine 50.000 Anteile zu verkaufen, wenn damit eine Kontrollmehrheit der Stinnes-Gruppe sichergestellt wäre. Er drängte daher Stinnes zu einer Entscheidung, da er seine Freunde bei Fiat dazu gebracht habe, ihre Aktien zu einem mäßigen Preis und gegen Ratenzahlung und in Lire anstatt in Dollar zu verkaufen. Die Zeit dränge jedoch, da sich Fiat auch nach anderen Käufern umschaue. Hugo Stinnes, den die linke Presse als „Rayonchef des Großkapitals und Versinnbildlichung größter Geldzusammenballung“100 bezeichnet hatte, kam daher am 17. Jänner 1921 persönlich nach Wien. Nach längeren Verhandlungen erwarb Hugo Stinnes von der Fiat-Gruppe die 200.000 Aktien zu einem Stückpreis von 1.080 Reichsmark, was phantastisch hoch zu sein schien. Der Preis, um den die Stinnes-Gruppe die Aktien erworben hatte, betrug 450 Lire, der Kaufpreis, um den die Italiener 1919 die Aktien erworben hatten, wurde zusätzlich Zinsen mit 400 Lire angegeben. Insgesamt waren daher 90 Millionen Lire aufzubringen, die in italienischer Valuta an die Fiat-Gruppe bezahlt wurden.101 Stinnes gründete für diesen Zweck die Promontana AG Zürich mit einem Kapital von 500.000 Schweizer Franken, auch Castiglioni verkaufte seine Aktien 1923 an diese Holding. In rascher Folge wurde nun das Kapital der Alpine 1922 und 1923 von 100 Millionen auf 600 Millionen Kronen erhöht. Die Übernahme schlug in der Presse große Wellen, wie der Sohn von Hugo Stinnes, Edmund, feststellte: „Inland und Ausland haben schön gebrüllt über die Sicherung der Aktienmajorität, die nebenbei im neutralen Ausland erfolgt ist. Nun bedarf es der Kohlelieferungen, die Papa persönlich regeln wird, wobei er noch innerdeutsche Schwierigkeiten überwinden muss. Unsere Bürokraten sind von einer gemeingefährlichen Einfalt und Kurzsichtigkeit desgl. die Presse.“102 Castiglioni wurde Vizepräsident der Alpine und nach dem Tod von Stinnes kurzfristig der Präsident des Verwaltungsrates. Mit Stinnes konnte er auch ein Abkommen über 100 Hugo Stinnes in Wien, Der Abend, 19. Jänner 1921 101 Verkauf von 200.000 Alpine Montan-Aktien an die Stinnes-Gruppe, Neue Freie Presse, 15. März 1921 102 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, S. 677
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ein gemeinsames Vorgehen in den Nachfolgestaaten der Monarchie geschlossen, wobei er die Unterstützung der italienischen Bank und der Depositenbank einbrachte. Auch die deutsche sozialdemokratische Presse kritisierte, dass Devisen für den Kauf von Unternehmensanteilen in Österreich aufgewendet würden, während sie für die dringend notwendigen Lebensmittel im Land fehlten. Und die linke österreichische Presse stellte fest, dass sich die „Börsenwegelagerer dreier Länder“ jetzt um die AlpineAktien rauften. „Es ist unerfreulich aber lehrreich zu sehen, wie die Schätze des Bodens Gegenstand des Schachers der Börsenleute sind ... Und dieser Tage werden die Arbeiter mit dem Schlögl, dem Hammer oder dem Reißbrett eines Morgens wieder aufwachen und wieder einen neuen Herren haben, diesmal keinen aus dem Lande, wo man ‚favorisca!‘, belieben Sie, sagt, höflich, auch wenn man noch mehr zu arbeiten befiehlt; der neue Herr wird sehr deutsch mit ihnen reden ... Zum Herren macht ihn die Aktie. Mag das Blatt Papier erworben, erpresst oder ererbt, gekauft oder gestohlen sein: möge, der es besitzt, gestern Rappaport, heute Castiglioni, morgen Stinnes und nächste Woche Schneider in Creuzot oder Stahtrust heißen: mag er Freund oder Feind sein: Eigentümer des Bodens und seiner Schätze und Herr derer, die auf dem Boden leben und seine Schätze zutage fördern, ist der Überbringer. Ihm gehört die bewohnte Erde, mit dem bedruckten Blatte Papier hat er sie erobert, und respektvoll beugen wir uns unter dem Fuße, den uns der Überbringer auf den Nacken setzt. Der Überbringer ist der Herr der Welt.“103 In der Öffentlichkeit spielte Castiglioni seine Rolle bei der Alpine herunter. In einem Schreiben an die „Arbeiter-Zeitung“ stellte er fest: „Es ist unwahr, dass ich mich kurz nach dem Umsturz der Alpine bemächtigt und durch bis heute nicht abgeklärte Unterstützung des Herrn Schumpeter 250.000 Stück in italienische Hände gebracht habe. Wahr ist vielmehr, dass, als durch das Bankhaus Kola und Komp. in Wien für eine italienische Gruppe die Alpine-Aktien bis zu einer Zahl von rund 200.000 Stück angekauft wurden, ich mich in der Schweiz befand, und keine wie immer geartete, weder direkte noch indirekte Kenntnis dieser Transaktion hatte. Bei diesen Alpine-Aktien, welche ohne meine Vermittlung und ohne mein Zutun in die Hände der Fiat-Gruppe gelangten, habe ich in keinem Stadium der bezüglichen Transaktion einen direkten oder indirekten Gewinn für mich oder irgend eine mir nahestehende Person, Bank oder Gruppe erzielt. Ich habe bis Dezember 1919 mit den Alpine-Aktien nicht das mindeste zu tun gehabt und bis dahin keine einzige Alpine-Aktie für mich oder meinen Konzern besessen. Im Dezember 1919 wurden mir 50.000 Stück Alpine-Aktien angeboten, welches Paket ich für mich und eine mir nahestehende italienische Gruppe zu kaufen mich 103 Sozialpolitische Wochenplaudereien: Die Alpine, Der Abend, 3. März 1921
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entschlossen habe ... Bei meinen Unterhandlungen mit Herrn Hugo Stinnes habe ich ihm ausdrücklich mitgeteilt, dass ich mich nur aus dem Grunde veranlasst sehe, ihm, mit dem ich bereits seit Jahren in Verbindung stehe, den Vorschlag des Ankaufes der Alpine-Aktien zu machen, weil ich glaube, der italienischen Gruppe, Österreich und Deutschland einen Dienst zu erweisen, da meiner Meinung nach Herr Stinnes der einzige sei, der die 600.000 Tonnen Koks, welche die Alpine in nächster Zeit brauchen würde, zu sichern in der Lage wäre. Dass ich einzig und allein an eine freundschaftliche Vermittlung in der Alpine Angelegenheit zum Zwecke der Beschaffung von Koks für die Gesellschaft gedacht habe, kann durch die Zeugenschaft der Direktoren der Deutschen Bank, Dresdner Bank und der Diskontgesellschaft bewiesen werden, welchen Herren ich wiederholt erklärte, dass ich mich nie zu einer Unterhandlung hergegeben hätte, wenn nicht die nötigen Koksquantitäten für die Alpine zu sichern gewesen wären. Es ist ganz unrichtig und den Tatsachen in keiner Weise entsprechend, wenn die Arbeiter-Zeitung schreibt, dass ich nun auch verdiene, da die Aktien aus italienischen in deutsche Hände gelangen, denn ich und meine Gruppe behalten die Stücke, wodurch ich dem volkswirtschaftlichen Interesse Österreichs bestens zu dienen glaube.“104 Auch die „Neue Freie Presse“ stellte Castiglioni eine Kolumne zur Verfügung, in der er seine volkswirtschaftliche Verantwortung im Zusammenhang mit der Alpine hervorheben konnte. „Die österreichische Industrie konnte während des Krieges beträchtliche Gewinne erzielen“, argumentierte er, „und daran wurden für ihre Zukunft große Erwartungen geknüpft, welche nicht in Erfüllung gegangen sind ... Mangelnde Arbeitsfreudigkeit der Arbeiterschaft, drohende Enteignung, Mangel an Kohle und Rohstoffen waren es hauptsächlich, welche die Aufgabe der Umstellung auf die Friedenswirtschaft überaus erschwerten.“ Inzwischen war kein Rohstoff- und Kohlemangel mehr zu beobachten, aber die gesunkene Kaufkraft der österreichischen Währung ließ den Erwerb nur beschränkt zu. Die Lösung dieser misslichen Lage konnte in der Beteiligung des Auslandes an der österreichischen Industrie liegen. „Es ist solcherart schon vielfach gelungen, ausländische Finanzgruppen an österreichischen Industrien zu interessieren und auf diese Weise der österreichischen Industrie die Mitnutzung jener Mittel zu sichern, über welche das Ausland verfügt. Der ausländische Kapitalist, der sein Geld in einem österreichischen Unternehmen anlegt, wird in seinem wohlverstandenen Interesse auch dafür sorgen, dass das Unternehmen in die Lage versetzt wird, seine Leistungsfähigkeit ausnützen zu können. Nur in diesem Falle kann sich seine Kapitalanlage für ihn als gewinnbringend erweisen; ... Leider wird diese meine Meinung nicht von allen Österreichern geteilt. Das Wort von der Überfremdung ist heute in aller Munde, 104 Die Alpine unter Stinnes, Arbeiter-Zeitung, 22. März 1021
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und alles was nicht offen mit den Worten: Eigendünkel, Eitelkeit, Eifersucht, gekränkter Ehrgeiz und wie alle diese schönen Eigenschaften heißen mögen, bezeichnet werden kann, wird mit dem netten und sympathischen Mäntelchen der ernsten Sorge der Bedrohung der österreichischen Interessen, Furcht vor der Überfremdung usw. zugedeckt ... Vielleicht wird man meinen Behauptungen gegenüber einwenden, dass ich als Nicht-Österreicher nicht so voll und ganz die Interessen Österreichs zu schützen in der Lage und gewillt bin, wie ein Österreicher vielleicht an meiner Stelle täte. Das wäre aber bewusste Entstellung der Tatsachen ... Sicherlich dürfen diese Transaktionen technisch nicht in der Form durchgeführt werden, wie diejenigen der Käufe der Alpine-Aktien für die italienische Fiat-Gruppe ... Man muss eben den Fremden offen sagen, dass man ihnen eine Beteiligung an einer guten, gesunden Industrie anbietet, dass man für ihre Interessen genauso sorgen wird wie für die eigenen, aber dass man es nie zulassen würde, dass sie hier befehlen und dass sie von ihrem Lande aus die betreffende Industrie führen und kontrollieren. Das ist im großen und ganzen eigentlich gar nicht möglich, man kann weder von Turin noch von Mühlheim aus ein österreichisches Werk leiten ... Den Menschen, die sich, angeregt durch unsere Beziehungen, durch die große Beliebtheit des Österreichers im Ausland und aus vielen anderen Gründen an österreichischen Industrien beteiligen wollen, sollten goldene Brücken gebaut werden, denn diese Leute verlangen nicht nach Herrschaft und Österreich kann ruhig sein: wenn solche Transaktionen mit dem vollen Bewusstsein der ungeheueren Verantwortung, die jeder einzelne diesem Lande schuldet, durchgeführt werden, dann werden sie Österreich zugute kommen und durch das Wiederaufblühen der österreichischen Industrie und damit des österreichischen Handels, dieser zwei stärksten Stützen des Landes, uns der endgültigen Gesundung entgegen führen.“105 Die westlichen Siegermächte sahen diese Vorgänge mit großer Sorge, da der Expansionspolitik nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Absichten zugrunde lagen. Der Verkauf der Alpine-Aktien an die deutsche Gruppe war auch ohne vorheriges Ansuchen an die Regierung in Rom und ohne die notwendigen Vorschriften für Kapitalexport erfolgt. Als der italienische Außenminister davon erfuhr, musste er der französischen Regierung gegenüber erklären, warum er diese Verstärkung der deutschen Industrie zugelassen hatte. Auch musste er begründen, warum die Bemühungen der italienischen Wirtschaft auf einen finanziellen Einfluss im Donauraum und damit den Erhalt der Stellung von Triest aufgegeben wurden, nachdem die Finanzgruppen und Werften in Triest sich an der Transaktion ursprünglich beteiligt hatten. 105 Camillo Castiglioni, Die Frage der Neubelebung der österreichischen Industrie, Neue Freie Presse, 27. März 1921
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Unter Strafandrohung brachte Fiat nun den Namen Castiglioni ins Spiel. In den italienischen Tageszeitungen vom 16. August 1921 erklärte Fiat, man habe sich nur darauf beschränkt, die Alpine-Aktien an einen anderen italienischen Staatsbürger, eben Castiglioni, zu verkaufen, wofür eine Genehmigung der Regierung nicht notwendig gewesen wäre. Castiglioni erklärte demgegenüber, er habe die Aktien nicht gekauft, sie seien ihm nur anvertraut worden, während die Verhandlungen von Fiat mit der Stinnes-Gruppe in Berlin direkt erfolgt seien.106 Die italienische Regierung legte einen förmlichen Protest ein. Castiglioni, der sich als „politischer Exponent der Stinnes-Gruppe in Italien“ bezeichnete, erklärte, dass die Italiener unter großem Druck vonseiten Englands und Frankreichs stünden. Diese Mächte versuchten mit allen Mitteln „Deutschland abzuschnüren, und man sieht es mit äußerster Empörung, dass Deutschland sich durch die Alpine-Beteiligung aus der Umklammerung herauswindet“. Insgeheim sähen die Italiener aber die Übernahme mit Wohlwollen.107 Ohne Zweifel verfolgte Stinnes nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Interessen. Er beschwor zwangsläufig das Gespenst des Zusammenschlusses von Deutschland und Österreich herauf. Hugo Stinnes stand seit mindestens Anfang 1920 in sehr engem Kontakt zu anschlusswilligen Elementen in Österreich. „Castiglioni hatte deswegen schon Anfang 1920, also zum Zeitpunkt seiner ersten Kontaktaufnahme mit Stinnes in Sachen Alpine, den italienischen Außenminister Sforza kontaktiert. Sforza hatte Castiglioni ‚genaue Instruktionen‘ mitgegeben, die besagten, dass man (in Italien) wohl momentan keinen Anschluss Österreichs an Deutschland wünsche, dass man aber das größte Interesse habe, sich mit Deutschland gut zu halten, und dass ich ruhig den Weg freundschaftlicher Beziehungen gehen soll.“108 Am meisten verärgert waren die Franzosen. Auf der einen Seite unterstellten sie Stinnes, er wolle die Alpine nutzen, um neue Erzquellen zu erschließen und die Kohleversorgung durch Frankreich zu hintertreiben. Auf der anderen Seite meinten sie, es wäre besser gewesen, mit dem Geld Reparationsschulden zu tilgen. Am 17. März 1921 beschrieb der französische Außenminister den Botschaftern in Rom, London und Brüssel den Vorgang und schlug vor, dass die italienische Regierung ein Veto einlegen sollte. Es scheint, dass Deutschland beachtliche Summen ins Ausland exportieren konnte, während es bei den Reparationszahlungen rückständig war. Außerdem sollte man bei der österreichischen Regierung intervenieren, sie solle die Stinnes-Aktien 106 Valerio Castronovo über Camillo Castiglioni in DBI 22, Rom 1979, S. 133–136 107 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, S. 677/8 108 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, S. 693
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beschlagnahmen und der Reparationskommission übergeben.109 Wenig später bezeichnete der französische Botschafter in Wien den ursprünglichen Kauf durch die Italiener zwar als einen „Coup de maitre“, da aber die Kokslieferungen nicht zu bewerkstelligen waren, trat Stinnes auf den Plan. Er sei schon längere Zeit in Österreich aktiv, habe Zeitungen und Unternehmen gekauft und subventioniert die pangermanische Bewegung. Der Vermittler beim Kauf der Aktien sei Castiglioni gewesen, der Fiat von der Vorteilhaftigkeit überzeugen konnte. Nur wenige österreichische Zeitungen hätten Bedenken, dass ein ebenso mächtiger wie brutaler Magnat seinen Fuß nach Österreich setzt, die meisten begrüßten das Engagement. Die italienische Legation verheimlichte aber nicht ihr Bedauern über den Verkauf. Der deutsche Einfluss in Österreich nehme zu und zeigt die Tendenz, dass Deutschland seine Interessen ausbaut, um der Überwachung durch die Alliierten zu entgehen.110 Am 14. Mai 1921 schien die französische Botschaft eine Lösung gefunden zu haben. Die österreichische Regierung habe sich an Frankreich um finanzielle Unterstützung gewendet. Man könnte doch als Bedingung fordern, dass die in deutscher Hand befindlichen Alpine-Aktien an Frankreich übergeben werden. Dazu müsste man aber eine industrielle oder finanzielle Gruppe wie Creuzot finden. Auch eine englische Beteiligung wäre durchaus wünschenswert.111 Wenig später musste aber die entsprechende Abteilung im französischen Außenministerium feststellen, dass es für alle diese Aktionen schon zu spät war. Der Verkauf war bereits vollzogen und die Aktien von Wien in die Schweiz transferiert worden.112 Die tschechoslowakische Regierung, welche die aggressive Expansionspolitik von Stinnes mit Misstrauen betrachtete, hatte im Innenministerium sogar eine eigene Abteilung zu dessen Überwachung eingerichtet. Im Juni 1922 errichtete Stinnes sein Hauptquartier im Hotel Pupp in Karlsbad, wo er mit Camillo Castiglioni, Baron Simon de Krauss von Budapest, M. Margulies von Brüssel, Baron Skoda von Zürich und Baron Gutmann und Rothschild von Wien zusammentraf. Hier soll die Übernahme der Vitkovicer Werke, des größten Eisen- und Stahlwerks des Landes, besprochen werden, was einen entsprechenden Aufschrei in der tschechoslowakischen Presse hervorrief. Außerdem hatte er einige Beteiligungen in den Banken des Landes. Die Gerüchte über seinen 109 Le Ministre des Affaires Etrangeres à Ambassadeur Francaise à Rome, Londres, Bruxelles, Paris, le 17 Mars 1921, Archives Economiques et Financières, Paris F30 626 110 Le chargé d’affaires de France à Vienne a Monsieur le President du Conseil, Ministre des Affaires Etrangères, Vienne la 23 Mars 1921, Archives Economiques et Financières, Paris F30 626 111 Monsieur Seydouc, Ministre plénipotentiare, 14 Mai 1921, Archives Economiques et Financières, Paris F30 626 112 Affaires Étrangerès, Direction Politique, Sous-Direction des Relations Commerciales, Paris, le 18 Mai 1921, Archives Economiques et Financières, Paris F30 626
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maßgeblichen Einfluss erschienen aber in der Regel weitgehend übertrieben, von einer Kontrolle konnte keine Rede sein. Der tschechoslowakische Finanzminister M. Novak stellte fest, dass, wenn Stinnes auch nur ein Zehntel der Transaktionen vorgenommen hätte, die erzählt werden, so hätte er das Vermögen von einem Dutzend Rockefeller erworben.113 Und die tschechische Zeitung „Tribuna“ schrieb, „dass der tschechoslowakische Apfel doch nicht so leicht zu verschlingen sein wird, wie es ihm in Karlsbad schien, wo Herr Stinnes von Deutschen, Tschechen, Christen und Juden wie das goldene Kalb umtanzt werde“.114 Die Briten sahen das Ganze etwas gemäßigter, auch wenn sie die Aktivitäten von Stinnes in den Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie beobachteten. Sie zollten ihm sogar einiges an Bewunderung. Die Stärken und Schwächen von Hugo Stinnes lägen in seinem einseitigen Charakter. Er sei ein Businessmann par excellence, der alles nur von der Seite des finanziellen Erfolgs sehe. Außer dieser engen Sichtweise sei er unter dem Durchschnitt. Das zeigten auch seine Reden im Reichstag, wo er vor allem Widerstand gegen die deutschen Reparationsverpflichtungen zeige. Der Mann sei unfähig, zwischen privaten und öffentlichen Interessen zu unterscheiden. Er, der sich während des Debakels der Staatsfinanzen bereichern konnte, sei der ehrlichen Überzeugung, dass er und seine Freunde auch das Land regieren könnten. Da er keine Interessen außerhalb seiner Unternehmungen habe, arbeite er hart bis 2 Uhr morgens und sei nicht an Gesprächen interessiert, solange sie nicht seinen Gewinninteressen dienten. Natürlich habe er deshalb wenig Freunde und viele Feinde, aber werde dennoch allgemein akzeptiert. Er sei skrupellos ehrlich, verlässlich und ohne Vorurteile in seinen Geschäftsbeziehungen. Obwohl rücksichtslos und intellektuell stark begrenzt, so sei doch nichts bösartig oder kleinlich an ihm.115 Auch die Londoner „Times“ beschäftigte sich zu diesem Anlass mit Hugo Stinnes. Die österreichische Zeitung „Der Abend“ druckte den übersetzten Artikel ab und leitete ihn entsprechend ein: „Die Times, ein großkapitalistisches Blatt, das die eigenen Kriegsgewinner verherrlicht, sieht Hugo Stinnes mit den geschärften Sinnen des Hasses. Trotzdem ist ihre Darstellung zu unterschreiben, insbesondere soweit sie den Unterschied zwischen dem wagenden, unternehmenden Industriellen der Vorkriegszeit und der mehr oder weniger gedankenlosen Profithyäne der Nachkriegszeit her113 Sir G. Clerk, Prague, Memorandum Activities of Herr Stinnes in Czecho-Slovakia, June 29th, 1922, Public Record Office London, FO3221/7558/02354 114 Der siegreiche „Boche“ Stinnes, Der Abend, 11. August 1921 115 Mr. Thelwall, Memorandum on the personality and business undertakings of Herr Hugo Stinnes, Berlin, August 29, 1922, Public Record Office London, FO 371/7558/02354
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aus arbeitet. Der Unternehmer der Friedensjahre, der neue Gedanken hatte und, wenn auch mit dem Gewinn als letztes Ziel vor seinem geistigen Auge, dennoch Geld und Arbeitskraft im Dienste dieser Idee einsetzte, war immerhin ein anerkennenswertes Werkzeug wirtschaftlicher Fortentwicklung. Der Unternehmer der Kriegs- und Nachkriegsjahre ist fast immer nichts als ein lederner Geldverdiener, ein dummes, gedankenloses Tier, die Hyäne, die das Trümmerfeld der Schlacht absucht.“ Auch die „Times“ sage dies in gemilderter Form von Hugo Stinnes. Es gelte in viel höherem Maße von den Castiglioni, den Kola und den Bankdirektoren modernen Stils, die man uns als Stützen der Gesellschaft vorführe. Die „Times“ schrieb demnach über Hugo Stinnes: „Er steht nicht selbst weithin sichtbar in der Öffentlichkeit und tritt nicht als der unmittelbare Führer und Leiter seiner zahllosen Unternehmungen auf, sondern spielt meist die Rolle des heimlichen Antreibers seiner Geschäfte. Als Reichtagsabgeordneter tut er fast nie den Mund auf und begnügt sich damit, seine Ansichten irgendeinem Abgeordneten-Unterläufel in der Volkspartei bekanntzugeben ... Auch äußerlich sieht er nichts weniger als einem Genie gleich. Fünfzig Jahre alt, von mittlerer Größe, derb gebaut, stechen sein schwarzes Haar und sein Bart im Gegensatz zu seiner gelblichen Gesichtsfarbe ab. Stinnes ist eine ganz unbedeutende Gestalt, wie sie zu Dutzenden im Hotel Adlon ein und aus gehen, den Hut etwas schief auf das eine Ohr gedrückt, eine Hand in der Tasche, von ein oder zwei Sekretären in ihren schäbigen schwarzen Röcken und Halstüchern gefolgt. Er bleibt nie stehen, um mit jemand zu sprechen. Er hat nie Zeit zu einem kurzen Gespräch in Muße mit den anderen Gästen des Hotels. Wenn er im Gasthause speist, so nimmt er Platz, steht ohne jede Feierlichkeit auf und geht nach Beendigung der Mahlzeit sofort wieder zu seinem Gefolge oder zu dem wartenden Kraftwagen. Er ist eine unbarmherzig tätige, kühl berechnende menschliche Maschine.“ Und die Zeitung bezeichnete ihn als wohl den größten Kriegsgewinner der Welt. „Hugo Stinnes ist noch ein ziemlich junger, energischer Mensch, umgeben von einer Anzahl gleich gearteter Männer. Er festigt noch immer seine Stellung. Zu seinen Privatsekretären gehört ein ehemaliger Offizier des Lüttwitz-Korps, und einer seiner Leiter ist ein Mann, der eine Gesetzesfolge mit so großem Geschick gegen ihn vertrat, dass er ihn in seine Dienste nahm.“116 „Der Österreichische Volkswirt“ sah den Eigentumsübergang der Alpine nach Deutschland vorerst recht positiv. „Nach langen Umwegen“, schrieb die renommierte Wochenschrift, „hat die Alpine Montangesellschaft den Anschluss an die reichsdeutsche Schwerindustrie vollzogen, der unter den gegebenen Verhältnissen der einzige und natürliche Weg ist, um die deutschösterreichische Eisenindustrie soweit als möglich 116 Hugo Stinnes der Über-Kriegsgewinner, Der Abend, 5. März 1921
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aus ihrer Notlage zu befreien.“ Der Preis erschien recht hoch, „im Gegensatz zur FiatGruppe, die seinerzeit die Aktien im Ramsch zu kaufen vermeinten. Mit diesem Kauf haben die Italiener allerdings ihre Ziele nicht erreicht ... während die Italiener im ersten Rausch des Sieges und der Kriegsgewinne ohne viel Überlegung in Deutschösterreich und anderen Ländern mit schlechter Währung zusammenkauften, was zu erlangen war, empfanden sie bald diese Engagements als Überlastung ... Für die Stinnes-Gruppe handelt es sich jedenfalls um eine dauernde Anteilnahme, schon deshalb, weil wohl niemand da ist, der ihr in absehbarer Zeit einen Gewinn auf den von ihr ausgelegten Kaufpreis von 1040 Mark pro Aktien, das sind derzeit etwa 12.000 Kronen, bieten könnte ... Welches also immer die nicht ganz klar zu durchschauenden Beweggründe der StinnesGruppe sein mögen, in Deutschösterreich kann die Transaktion nur mit großer Befriedigung begrüßt werden. Zu einer Zeit, wo die Entente unfruchtbare Beratungen darüber abhält, wie uns zu helfen sei, gehen deutsche Unternehmer, nicht aus angeblichem Wohlwollen, sondern einfach in Verfolgung ihrer wirtschaftlichen Interessen daran, einem der wichtigsten Produktionszweige Deutschösterreichs auf die Beine zu helfen. Das ist ein neuer Beleg dafür, dass uns Hilfe nur von Deutschland und im Anschluss an Deutschland kommen kann. Es ist die natürliche Wirtschaftsverbindung, die zu ihrem Recht gelangt.“117 Andere Zeitungen sahen das Engagement nicht so positiv: „Herr Camillo Castiglioni erlässt, von Richard und Arthur Kolas journalistisch-literarischem Ruhme zu höchster Ekstase entfacht, einen tosenden Zeitungsprotest gegen die Schieber und Börsengewinner, Herr Stinnes investiert Hunderte Millionen in die Österreichische Alpine Montangesellschaft nur, um – wie seine publizistischen Schildknappen auf seinen Befehl in allen Tonarten und Varianten verkünden – die österreichische Industrie zu retten und blutenden Herzens – er kann den Jammer der stillstehenden Betriebe nicht mehr ertragen – den Österreichern jene Koksmengen zu liefern, die ihnen die italienischen Fiatler nicht beizustellen vermochten. Was schert ihn Weib, was schert ihn Kind – sie mögen darüber zugrunde gehen, dass Vater eine solche altruistisch-törichte Transaktion durchführt: Österreich wird saniert werden ...“118 Doch auch die positive Haltung des „Österreichischen Volkswirt“ ging bald in Skepsis über. Es schien so, als ob der „österreichische Stinnes“ in diesem Fall klüger gewesen war als der deutsche, „denn jener hat rechtzeitig einen machthungrigen Irrtum auf Kosten des anscheinend glücklichen Erwerbers korrigiert und sich von einem großen Engagement, das ihm dermaleinst zur Last werden musste, in einem Augenblick 117 Der Österreichische Volkswirt, 19. März 1921, S. 444–446 118 Dr. Alexander Salkind, Die Masken fallen ..., Wiener Montagspresse, 11. April 1921
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befreit, wo es noch eine große aktive Potenz zu sein schien.“119 Denn das Problem war weiter die Versorgung mit Koks. „Der Besitzerwechsel hatte für die Alpine zunächst die Folge, dass vom April an die Koksversorgung, die bis dahin dem Zufall überlassen war, was einen geordneten Betrieb unmöglich machte, reichlicher und regelmäßiger sich gestaltete. Die Alpine, die bis dahin bloß einen Hochofen in Betrieb hatte, konnte am 26. Juni einen zweiten und am 13. Oktober einen dritten Hochofen unter Feuer setzen. Mit Ende Dezember mussten jedoch bekanntlich auf Weisung der Reparationskommission die deutschen Kokslieferungen eingestellt werden, weshalb im Laufe des Monats Dezember der Betrieb wieder auf einen Ofen reduziert wurde. Seither konnten allerdings die Schwierigkeiten der Kokslieferung bekanntlich durch ein neues Abkommen wieder behoben werden, das jedoch für die Alpine zur Folge hatte, dass sie den deutschen Koks in englischen Pfund bezahlen muss, weil anstelle des ihr gelieferten Koks von den deutschen Reichsbahnen englische Kohle bezogen werden muss. Im Übrigen hat sich aus dem Übergang der Alpine an den Stinnes-Konzern für die Gesellschaft nur wenig geändert. Herr Hugo Stinnes selbst ist nur ganz selten in der Lage, sich mit den Angelegenheiten der Alpine intensiv zu befassen. Wie wichtig ihm der ganze Besitz ist, lässt sich vorläufig noch nicht klar erkennen. Im Rahmen des ganzen Stinnes-Konzerns, ja selbst im Rahmen des bloßen Montantrusts der Rhein-Elbe-Union spielt dieses größte österreichische Eisenwerk nur eine verschwindende Rolle.“ Von Zukunftsplänen sei bisher nichts zu vermerken und auch die Investitionstätigkeit hielt sich 1921 in engen Grenzen.120 Eine Lösung sollte schließlich durch eine Verbindung der Alpine mit der Friedrich Flick gehörenden Bismarckhütte in Oberschlesien hergestellt werden. Nun erklärte sich die Tschechoslowakei bereit, die Kohlelieferungen an die Alpine wieder aufzunehmen, wodurch der Bedarf an Ruhrkohle geringer wurde. In Wirklichkeit sollten sich mehr Probleme ergeben, als man sich vorgestellt hatte. In der Folge verschuldete sich die Alpine zunehmend an die deutsche Muttergesellschaft, die österreichischen Banken und die tschechischen Kohlelieferanten. Im Oktober 1921 richtete Castiglioni daher an Stinnes die dringende Bitte um weitere Vorauszahlungen an die Alpine, um Bankschulden abdecken zu können. Und im Dezember bat er unverzüglich um 15 bis 20 Millionen Mark, weil er einen Wertverlust der Mark gegenüber der Krone erwarte und die Alpine in den folgenden Wochen 700 Millionen österreichische Kronen an die Banken überweisen müsse. Er erklärte, das Geld könne in den nächsten Monaten aus den Ver119 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 283 120 Der Österreichische Volkswirt, 15. April 1922, S. 167
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kaufserlösen zurückbezahlt werden. Die Frage war daher nicht Kredit oder Kapitalerhöhung, die Alpine brauchte beides. Man war im April 1922 bei Stinnes mit der bitteren Erkenntnis konfrontiert, dass das Aktienkapital der Alpine verdoppelt werden müsste. Die dafür aufzubringenden 7 bis 8 Milliarden österreichische Kronen würden allerdings nicht ausreichen, um die Kosten für die betrieblichen Neubauten und die dringend notwendigen Arbeiterwohnungen zu decken, sodass man zusätzlich einen Kredit über 5 Millionen Schweizer Franken aufnehmen musste. Die Börseneinführung zog sich aber hin, sodass man zusätzlich einen Überbrückungskredit in Schweizer Franken benötigte. Nachdem die Kapitalerhöhung am 17. Juli 1922 endlich über die Bühne gegangen war, registrierte Stinnes mit zunehmendem Schrecken, dass die Alpine einen wachsenden Schuldenberg in tschechischen Kronen ansammelte. Das war zu diesem Zeitpunkt die schlimmste Währung, in die man sich verschulden konnte, da sie im Steigen begriffen war. Stinnes legte daher der Alpine nahe, sich einen tschechischen Stammlieferanten zu suchen, mit dem man langfristige Verträge abschließen konnte. So erhielt die Alpine Kredite über 5 Millionen Schweizer Franken und 3 Millionen holländische Gulden, um die Hälfte ihrer tschechischen Schulden abzutragen. Nachdem sich die Situation im September 1922 weiter verschlechterte, entschied sich Stinnes, die Dienste Castiglionis in Anspruch zu nehmen, da er der Meinung war, dass die Alpine ein schlechtes Devisenmanagement an den Tag gelegt hatte. Castiglioni hatte gute Beziehungen zu den österreichischen Banken und zum Direktor der Banca Commerciale, Giuseppe Toeplitz. Dieser war – ebenso wie Castiglioni mit 10 % Gesellschafter der Schweizer Holdinggesellschaft Promontana und arbeitete mit Stinnes in Süd europa zusammen. Der anscheinend unverwüstliche und stets optimistische Castiglioni war offenkundig sehr daran interessiert, die Alpine zu retten, und bemühte sich Anfang Oktober, die Tilgung der am dringendsten fälligen Schulden in tschechischen Kronen zu ermöglichen sowie über seine österreichischen und schweizerischen Kontakte einen Goldkredit zu besorgen. Für die Bewältigung einer solchen Situation bildeten Stinnes und Castiglioni das perfekte Gespann, nicht nur weil sie bei allem Krisenmanagement nie ihre expansionistischen Ambitionen aus den Augen verloren, sondern auch weil sie eine nützliche Arbeitsteilung praktizierten. Während Castiglioni die Banken bearbeitete, kümmerte sich Stinnes um die betriebswirtschaftlichen Probleme. Hugo Stinnes schickte daher seinen Sohn nach Österreich, der ein wirtschaftlich am Boden liegendes Land vorfand und als einzig Positives melden konnte, dass es der Alpine mithilfe Castiglionis gelungen war, an britische Pfund heranzukommen und einen weiteren Teil der tschechischen Schulden zu tilgen. Die Leitung der Alpine zögerte aber, weitere Pfundbeträge zu erwerben, worauf ihr Hugo Stinnes vorwarf: „Sie spielen um die Existenz der Alpine, das darf nicht sein.“ Stinnes war ein Gegner unnötiger Risiken und
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wenn die Inflation ein gewisses Maß an Spekulation in ausländischen Währungen notwendig machte, so sollte der Wahnsinn doch Methode haben. Auf dem Devisenmarkt sollte man vorausschauend handeln, sich in tschechische Kronen zu verschulden, war aber eine törichte Spekulation gewesen. Doch die Probleme der Alpine beschränkten sich nicht alleine auf das Devisenmanagement, sondern auch auf die Unternehmensleitung. „Es darf uns nicht passieren“, schrieb Stinnes an Castiglioni, „dass wir uns der über Österreich hereinbrechenden Katastrophe nicht gewachsen zeigen.“ Bei der Übernahme wurde bereits die Vermutung geäußert, dass die neuen Machthaber die Leitung der Alpine „verpreußen“ werden.121 Der Präsident des Verwaltungsrates der Alpine, Wilhelm Kestranek, trat nun zurück, da die neue Aktienmehrheit Sondervorteile auf Kosten der Minderheit verlangte, mit denen er nicht einverstanden war.122 Für die linke Presse war das die Art „Wie Herr Stinnes Deutschösterreich rettet“, ein überzeugendes Beispiel, „mit welcher brutalen Rücksichtslosigkeit der erfolgreiche Macher größten Stils seine Profite zusammen rauft“. Und die Zeitung höhnte über den „gutherzigen, patriotischen“ Unternehmer, der der Alpine aus der Kohlenot half. „Man kann es ihm billigerweise nicht weiter übel nehmen, wenn er damit ein kleines Spekulationsgeschäft in der Höhe von zwei Milliarden verband.“ Stinnes verlangte die Hälfte des Gewinns aus der Mehrerzeugung des von ihm gelieferten Koks, dann die Hälfte des verbleibenden Reingewinns und schließlich stand seiner Gruppe noch aufgrund des Aktienbesitzes die Hälfte der Dividende aus dem verbleibenden Gewinn zu. Wilhelm Kestranek war kein Mann, der leicht einem anderen seinen Platz einräumte, aber es war zu verstehen, „dass selbst einem so geübten Bergsteiger angst und bang wird und er vorzieht, an diesem Ausfluge nicht teil zu nehmen“.123 Stinnes entschloss sich daher, „den herrschenden Schlendrian“ zu beenden und setzte bei der Generalversammlung vom 5. Dezember 1922 Dr. Anton Apold als neuen Leiter ein, der schon einmal bei der Alpine gewesen war. Apold blieb durch seinen Ausspruch zur österreichischen Budgetpolitik in Erinnerung: „In diesem Drecksstaat muss endlich einmal gespart werden!“ Die durch ihn eingeleitete Sanierung des Unternehmens bedeutete Entlassungen und Lohnsenkungen. Den Mitarbeitern machte er deutlich, dass das Land sich die bisherige Beschäftigungs- und Sozialpolitik nicht mehr leisten könne. Es gebe nur ein Heilmittel, Verbilligung der Erzeugung durch Mehrarbeit, bessere Ausnutzung der Arbeitskräfte und Lohnabbau. Inzwischen hatte sich die 121 Die Verpreußung der Alpine, Der Morgen, 28. Februar 1921 122 Der Economist, Neue Freie Presse, 21. April 1921 123 Wie Herr Stinnes Deutschösterreich rettet, Der Abend, 28. April und 30. April 1921
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österreichische Wirtschaft im Zusammenhang mit den Genfer Protokollen und dem Kredit des Völkerbundes stabilisiert. Anfang 1923 trat eine deutliche Besserung ein, da es Castiglioni verstanden hatte, in Italien und anderswo Kredite herbeizuschaffen, vor allem aber wegen der Ruhrbesetzung, welche die Marktchancen der Alpine wesentlich verbesserte. Anfang März erreichte die Alpine die volle Kapazitätsauslastung.124 Auch in den Jahren 1922 und 1923 ließ Castiglioni keine Gelegenheit aus, im Zuge mehrerer Kapitalaufstockungen beachtliche Emissionsgewinne zu realisieren. So wurde das Aktienkapital der Alpine-Montangesellschaft im Juli 1922 verdoppelt, indem 500.000 neue Aktien ausgegeben wurden. Die Hälfte bekamen die Aktionäre, die andere Hälfte Stinnes und Castiglioni. Der Ausgabepreis lag bei 60.000 Kronen, während der Börsenkurs auf 195.000 Kronen stand und sich bis August 1922 auf 800.000 erhöhte.125 Der größte Coup gelang ihm aber im Sommer 1923. Am besseren Geschäftsgang konnte die Alpine selbst nur zum Teil profitieren. Der Schweizer Holding von Stinnes war die Verwertung eines großen Teils der Exportüberschüsse zugestanden worden, die daran beachtlich verdiente. Der Kreditgeber der Gesellschaft, die Niederösterreichische Escomptegesellschaft, bestand auch auf die Abführung der Deviseneingänge, sodass die Alpine einen Schuldenberg von einer halben Million britischer Pfund aus Kohlelieferungen aufbaute. Dies führte zu einem Hypothekardarlehen, das neben der Niederösterreichischen Escomptegesellschaft die Anglo-Austrian-Bank zur Hälfte übernahm, was zu einiger Hoffnung führte. „Durch den Eintritt des prüden, auf strenge Honetität achtenden englischen Kapitals dürfte den Bereicherungstendenzen zu ungunsten der Alpine Montangesellschaft ein Riegel vorgeschoben sein; die hoch fliegenden Illusionen der Schweizer Handelsgesellschaft Hugo Stinnes dürfte bald ein erkältender Reif streifen, und auch die Devisengebarung wird sich frei von schädlichen Nebeneinflüssen bewegen ...“126 Im Mai 1923 kam Hugo Stinnes zur Bilanzsitzung der Alpine nach Wien, was „Die Börse“ höhnisch kommentierte. „Und da Camillo Castiglioni seine Sympathien zwischen Hugo Stinnes und Mussolini teilt, das heißt, in Italien sich auf seine Freundschaft zu Hugo Stinnes und in Deutschland zu Mussolini beruft, so hat er selbstverständlich sofort zum Lob und Preis seines erlauchten Gastes eine Ehrenkompanie aufgestellt. Herr Camillo Castiglioni hat alle führenden Männer der österreichischen Stahl- und Eisenindustrie zu sich geladen, damit sie mit Hugo Stinnes die allgemein wirtschaft124 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, S. 811 ff. 125 Von den Haifischen, Der Abend, 24. August 1922 126 Die Alpine Montanaktien, Die Börse, 10. Mai 1923
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liche und namentlich die Lösung des komplizierten Kohleproblems besprechen. Herr Camillo Castiglioni fungierte als Zeremonienmeister und führte die interessantesten Köpfe der österreichischen Industrie seinem edlen preußischen Vorbild Hugo Stinnes vor. Rout oder Entrevue bei Camillo Castiglioni? Zwanglose Besprechung oder eisenklirrendes Pathos? Wie immer dem sei, jedenfalls erschien Herr Camillo Castiglioni bei sich selbst als Eisenindustrieller. Wer so vieles ist, wie Herr Camillo Castiglioni, kann immer etwas Neues bringen oder zumindest etwas Neues vorstellen. Ein wahrer Billionensassa, dieser österreichische Freund von Hugo Stinnes und Mussolini.“127 Eine Woche später war klar, warum sich die Herren getroffen hatten und „Die Börse“ begann mit einem Aufdeckungsjournalismus der heftigsten Art. Der Hintergrund war vorerst die Beziehung der Alpine zu ihrer Hausbank. „Es hat schwere Kämpfe gekostet, die die Niederösterreichische Escomptegesellschaft, die seit dem Eintritt Castiglionis in die Alpine Montangesellschaft dem Unternehmen gegenüber eisige Zurückhaltung bekundete, sich zur Zusammenarbeit mit dem Vizepräsidenten Castiglioni entschließen konnte. Maxim Krassny lehnte es die längste Zeit ab, sich mit Castiglioni an einen und denselben Verwaltungsrattisch zu setzten. Die Alpine Montangesellschaft konnte aus ihrer finanziellen Bedrängnis, nachdem Stinnes als Heilbringer erschienen war, nicht heraus kommen.“ Durch diese Feindschaft kam der Gedanke auf, sich eine neue Finanzierungsquelle zu suchen, welche die Niederösterreichische Escomptegesellschaft ersetzen konnte. Diese wurde im Februar 1923 in der Anglo-Austrian-Bank gefunden und so erklärte sich auch die Niederösterreichische Bank bereit, die Hälfte des 500.000 GP Kredits zu übernehmen, um nicht völlig ihre Position bei der Alpine einzubüßen. Bedingung des Kredits war die Hypothek auf die Betriebe der Montangesellschaft und dass jeder weitere Kreditbedarf von den beiden Banken zur Hälfte übernommen werde. „Die Engländer sind kühle, vorsichtige Rechner, den auf sie entfallenden Anteil wollten sie für das Unternehmen erst flüssig machen, sobald erst sämtliche Formalitäten der hypothekarischen Eintragung erledigt wären. Das Misstrauen gegenüber Castiglioni hatte sie zu dieser Vorsichtsmaßnahme veranlasst, da sie sich der Gefahr nicht verschließen konnten, dass Castiglioni unter Umständen einem anderen Kreditor die hypothekarische Eintragung zuzusichern imstande wäre. Man hatte also in England Herrn Castiglioni in einer Weise eingeschätzt, die von der ihm in manchen österreichischen Kreisen entgegengebrachten Wertschätzung ziemlich weit abwich. Die Person Castiglionis erwies sich so als Hindernis für die Erfüllung des Geldbedarfs der Montangesellschaft ... In dieser Not erwies sich Herr Krassny als wahrer Helfer.“ Er streckte der Montangesellschaft sukzessive Beträge vor, die schließlich die Summe 127 Rout bei Castiglioni, Die Börse, 31. Mai 1923
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von 440.000 GP erreichten. Als die Eintragung erfolgt war, konnte die Alpine auch den Kredit der Anglo-Austrian-Bank abrufen. „Da geschah aber Merkwürdiges. Herr Castiglioni, der bereit war, jede Verbindung mit der Escomptegesellschaft abzubrechen, nur um den Pfundkredit der Anglo-Bank zu erhalten, setzte sich auf den hohen Bock und machte keine Miene, den Kredit für die Alpine in Anspruch zu nehmen.“ Die Engländer hatten wenig in der Hand, ihnen war nur ein Sitz im Verwaltungsrat zugestanden worden, sie hatten nicht die Beteiligung an zukünftigen Kapitalerhöhungen festgelegt und lediglich ein dreimonatiges Kündigungsrecht für den Kredit. „Die Engländer, unkundig der Räubersitten eines Syndikats, das sich aus der Escomptegesellschaft und Herrn Castiglioni zusammen setzt, hatten aber ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht.“ Während die Engländer auf die Sicherung ihres Kredites gewartet hatten, versuchte der Bosel-Konzern gemeinsam mit der Weinmann-Gruppe in Oberschlesien ein großes Kohlesyndikat zu schaffen, das den österreichischen Bedarf sichern konnte. Dazu sollte die Majorität der Bismarckhütte erworben werden, die auch 40 % der Aktien des Kattowitzer Bergbauvereins hielt. Dieses Projekt wurde von Stinnes aufgegriffen und seine Schweizer Holding „Promontana“ erwarb 80 % der Bismarckhütte. Die Bosel-Gruppe erhielt 5 Milliarden Kronen für den Rücktritt vom Geschäft. Für den Erwerb des Aktienpaketes waren 1,5 Millionen GP notwendig, was auch für Stinnes ein enormer Betrag war. Stinnes selbst erklärte aber, dass die Kattowitzer AG gar keine Kokskohle besitze. Vermutet wurde, dass Castiglioni, der gerade von Bosel aus der Unionbank hinausgedrängt worden war, ihm dieses Geschäft wegschnappen wollte. In dieser Situation wurde eine Kapitalverdoppelung der Alpine beschlossen, von der weder der Verwaltungsrat noch die Generalversammlung informiert war. 750.000 Aktien zum Preis von 250.000 Kronen wurde den alten Aktionären angeboten, die restlichen 750.000 Aktien zum selben Kurs der Promontana überlassen. Den Kredit der Anglo-Austrian-Bank hatte die Alpine inzwischen in Anspruch genommen, um die überzogene Kreditlinie bei der Escomptegesellschaft abzudecken. Von der Kapitalerhöhung waren auch die Engländer nicht informiert worden und es stand ihnen auch keine Beteiligung zu. „Man muss, um die ganze Perfidie dieses Vorgehens der Escomptegesellschaft würdigen zu können, sich vor Augen halten, dass die Anglo-Bank zu einer Zeit, als es vollkommen in ihrer Macht lag, die Escomptegesellschaft ganz aus der Alpine zu entfernen, sich deren Interessen in kollegialster Weise annahm und als Dank hiefür bei der ersten Gelegenheit in der schmählichsten Weise hintergangen wurde.“ Die Kapitalerhöhung sollte der Alpine 1,25 Millionen Pfund bringen, knapp ausreichend, um die Bismarckhütte zu erwerben. Um den Rest aufzubringen, fuhr Maxim Krassny nach Paris, trat mit Schneider-Creuzot in Verbindung und eröffnete, „wie leicht sie es jetzt haben könnte, sich Eingang in den
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größten Montanbetrieb Österreichs zu verschaffen und eventuell in einem späteren Zeitpunke sogar Stinnes zu verdrängen. Herr Krassny ließ durchblicken (was übrigens in Wien längst ein offenes Geheimnis war), dass Stinnes unter Umständen, wenn er für seine Aktien einen anständigen Preis bekomme, bereit sei, aus der Alpine auszutreten. Angesichts der herrschenden Mentalität der Franzosen, die die größte Angst davor haben, dass Stinnes ihnen eine Montanunternehmen nach dem anderen auf dem Kontinent weg nehmen könnte, fand Krassny bei Schneider-Creuzot das größte Entgegenkommen und es wurde vereinbart, dass die Franzosen für die Transaktion mit der Bismarckhütte das notwendige Geld zur Verfügung stellen werden.“ Diese Verhandlungen fanden ohne Zweifel mit Zustimmung Castiglionis und damit auch Hugo Stinnes statt. Der österreichischen Regierung gegenüber hatte Castiglioni angedeutet, „dass seitens der Alpine die Absicht bestehe, den Einfluss Stinnes einzuschränken und Ententekapital heranzuziehen. Er führte auch politische Argumente ins Treffen, indem er darauf verwies, welchen günstigen Eindruck es bei der Entente hervor rufen müsse, wenn das größte österreichische Unternehmen unter den Einfluss der Franzosen gelange und dem Einfluss des alldeutschen Stinnes entzogen werden würde. Ob dieser Kameradschaftsbruch Castiglionis mit Stinnes abgekartete Sache oder blutiger Ernst war, bleibe dahin gestellt.“128 Die französische Einfluss begann, indem sich die Union Européen Industrielle et Financière, an der Schneider-Creuzot einen maßgeblichen Einfluss besaß, einen größeren Posten Aktien der Niederösterreichischen Escomptegesellschaft erwarb, in den Verwaltungsrat einzog und es zu einer Interessengemeinschaft bei den industriellen Geschäften in Österreich und den Nachbarländern kam. Die französische Beteiligung erklärte sich auch dadurch, dass die polnische Regierung das Recht hatte, in deutschem Besitz befindliche Großindustrien, die sich auf dem ehemaligen Gebiet des Deutschen Reiches gehörigen Teil Polens befinden, zu enteignen. Mit SchneiderCreuzot war diese Gefahr aufgehoben. „Die Börse“ bezeichnete diese Vorgänge als „einen geradezu gigantischen Betrug aller an allen“ und als eine der „größten Aktienverschiebungen und Syndikatsschwindel, die jemals versucht worden sind“. Die Bismarckhütte war zuerst an die zum Stinnes-Konzern gehörige Siemens-Rhein-Elbe-Union verkauft worden, die Aktien wanderten dann durch mehrere Hände, „die im Grunde stets die rechte Hand des Stinnes oder die linke Hand des Castiglionis sind“, und wurden schließlich an die Alpine verkauft. Die Bezahlung erfolgte über die Kapitalerhöhung der Alpine, die zur Hälfte dem Konsortium Castiglioni-Escomptegesellschaft zustand. Bei einem Börsenkurs von 700.000 Kronen war vom Finanzministerium ein Übernahmekurs von 250.000 Kro128 Alpine, Stinnes und Schneider-Creuzot, Die Börse, 7. Juni 1923
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nen bewilligt worden, mit der Verpflichtung, die Aktien in Österreich zu halten. In Umgehung dieser Bestimmung wurde ein großer Teil der Aktien an Schneider-Creuzot und andere französische Unternehmen weitergegeben. Die Anglo-Austrian-Bank war davon völlig ausgeschaltet. „So viele Abschlüsse, ebenso viele Betrügereien: beim ersten Geschäft war es die Alpine und die Escomptegesellschaft, die von Castiglioni und Stinnes in Gemeinschaft mit Generaldirektor Flick (Bismarckhütte) in unerhörtester Weise hereingelegt wurden. Im zweiten wurde die Alpine zur Abwechslung von Castiglioni und der Escomptegesellschaft übervorteilt, wobei die Hintergehung der Anglo-Bank als Delikt minderer Art nebenher lief. Auf allen Seiten gab es demnach betrogene Betrüger und bezeichnend ist nur das eine, dass Castiglioni der einzige war, der bisher in sämtlichen Phasen obenauf blieb.“ Insgesamt soll das Syndikat durch alle diese Transaktionen einen Gewinn von 330 Milliarden Kronen gemacht haben.129 Die ganze Kapitalerhöhung war daher äußerst eigenartig. Einmal lag im Frühjahr 1923 die Völkerbundanleihe zur Zeichnung auf, mit der die österreichische Währung saniert werden sollte. Im Mai erklärte daher Finanzminister Dr. Kienböck, dass während dieser Zeit keine weitere Anspruchnahme des Kapitalmarktes zugelassen werde. Anfang Juni überraschte jedoch die Alpine-Montan mit der Mitteilung, dass sie ihr Kapital um eineinhalb Millionen neue Aktien erhöhen werde, was bis dahin eine der größten Emissionen darstellte. Der Kurs der Alpine-Aktien war schon vorher in kurzer Zeit von 290.000 Kronen auf 670.000 Kronen gestiegen. Trotz aller Bemühungen des Syndikats, den Kurs zu drücken, stand er damals auf fast 700.000 Kronen. Nun wurde auch noch bekannt, dass das Finanzministerium einen Übernahmekurs für das Syndikat von 250.000 Kronen bewilligt hatte. Warum der Finanzminister dem zugestimmt hatte, war völlig unerklärlich. Die „Arbeiter-Zeitung“ hatte den Verdacht, dass dies mit Zuwendungen an den christlichsozialen Wahlfonds zusammenhing. Den Vorwürfen begegnete Castiglioni mit der Ansicht, „dass er Geschäftsmann und kein Wohltäter sei, das Geldverdienen sei sein Metier und wenn ihm dabei noch der Finanzminister zur Hilfe komme, so sei das eine Frage, die mit dem Finanzminister auszumachen wäre, der die öffentlichen Interessen zu hüten hätte“. Und er stellte fest, was dem Finanzminister recht sei, müsse für ihn auch billig sein. Er befolge den Rat des Marquis von Keith: „Je ergiebiger Sie Ihre Mitmenschen übervorteilen, umso gewissenhafter müssen Sie darauf achten, dass Sie das Gesetz auf Ihrer Seite haben.“130
129 Die Geheimnisse der Alpine-Transaktion, Die Börse, 14. Juni 1923 130 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 105 und 109
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Das wurde auch von der „Arbeiter-Zeitung“ kritisiert, die unter Syndikat den börsentechnischen Namen für jene Vereinigung darstellte, „die bei Emissionen von neuen Aktien den großen Schab machen“. Sie schlug die Übernahme der neuen Aktien durch den Staat vor, um sie nicht „dem Einfluss internationaler Ausplünderer, wie es die Herren Stinnes und Castiglioni sind“, ausgeliefert zu sehen, was der christlichsoziale Finanzminister Kienböck natürlich ablehnte. Sie warfen ihm vor, dass er sich von Erwägungen leiten ließ, die nur Castiglioni dienten: „Der Bild 14 Profit der Finanzhaie ist für die Regierung SeipelBékessy’s Panoptikum, Wien 1928 Kienböck das heiligste. Und diese christliche und soziale Regierung hat noch einen besonderen Grund, Leuten, wie dem Herrn Castiglioni, ungezählte Milliarden zuzuschanzen: das sind ja die Geldgeber für den Wahlfonds, das sind die Geldgeber für alle Bewegungen und Organisationen gegen die Arbeiter.“131 Als Folge kam es zu einem Erlass des Finanzministeriums, dass künftige Syndikate die Aktien nicht mehr unter 75 % des Börsenkurses erhalten durften. Als Reaktion trat das Vorstandsmitglied der Anglo-Austrian-Bank bei der Alpine, Herr Neubroch, von seinem Posten zurück. Als Begründung gab er an: 1. Es war unvereinbar mit dem Prestige der Bank, dass sie bei einer Angelegenheit von solcher Bedeutung im Dunkeln gelassen worden war, 2. dass die Vereinbarung des Vertrages, bei neuen Kapitalerhöhungen beteiligt zu sein, verletzt wurde, 3. dass die Art und Weise, wie die Kapitalerhöhung vor sich ging, eine Beraubung der Aktionäre der Alpine war, denn das Syndikat bekam die Aktien praktisch zum halben Wert des Tageskurses, 4. dass keine ausreichende Erklärung über die Bedingungen des Kaufs der Bismarckhütte gegeben wurden. Diese Aktien gingen durch eine Reihe von Händen, einschließlich zweier holländischer Unternehmen, und man muss annehmen, dass die Herren Stinnes und Castiglioni an allen diesen Transaktionen erheblich verdient hatten, 5. dass keine adäquaten Unterlagen dem Verwaltungsrat über die Position des zu erwerbenden Unternehmens vorgelegt wurden. Die Kohlebasis sei viel zu gering für die Alpine und die Bismarckhütte selbst ein direkter Konkurrent, 131 Ein fetter Nutznießer der Sanierung, Arbeiter-Zeitung, 26. Juni 1923
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Alpine und Stinnes Bild 15 „Der Abend“, Wien, 29. März 1921
6. und schließlich hatte Herr Castiglioni dem Vertreter der Anglo-Austrian-Bank ein Schweigegeld von 15.000 GP angeboten, wenn er die ganze Sache stillschweigend und ohne Aufsehen vorübergehen lassen würde. Der britische Botschafter sprach auch bei Finanzminister Kienböck vor, der mit der Kohleversorgung der Alpine argumentierte und den niedrigen Ausgabepreis damit rechtfertigte, dass damit die Aktien nicht in unerwünschte Hände fallen. Er wisse, dass dies in England nicht üblich sei, aber die Bedingungen in Österreich seien nun einmal wegen des Kapitalmangels anders.132 Es ist zu bedenken, „dass die Alpine für den Stinneskonzern nur eine industrielle Nebenprovinz ist, also keineswegs eine Bedeutung ersten Grades besitzt, so dass also das Unternehmen in seinem Gedeihen und seinen Erfolgsmöglichkeiten in erster Linie auf die Wiener Leitung angewiesen bleibt, die gewissermaßen gleichzeitig Statthalter des Stinnesschen Imperiums ist“.133 Durch die Kapitalerhöhung 1923 und Aktienverkäufe von Stinnes ging sein Anteil an der Alpine maßgeblich zurück, Ende 1923 soll er nur mehr an die 20 % gehalten haben und es wurde von einem völligen Rückzug gesprochen.134 Aber noch stand die Achse Stinnes-Castiglioni: „Dass Camillo Castiglioni seinen Freund Hugo Stinnes vom Prä132 O. S. Phillpotts, Commercial Secretary, British Legation Vienna, June 22nd 1923, Public Record Office, FO371 8552 02382 133 Österreichische Alpine Montan-Gesellschaft, Die Neue Wirtschaft, 4. Juni 1924 134 Stinnes und die Alpine, Der Morgen, 26. November 1923
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sidentensitz stoßen und danach sofort seinen Platz einnehmen sollte, klingt selbstverständlich höchst unglaubwürdig. Camillo Castiglioni verbindet mit Stinnes eine enge Waffenbrüderschaft, beide haben eine Unzahl Geschäfte miteinander abgeschlossen, sind in zahlreichen Unternehmungen gemeinsam vertreten, weshalb von keinem eine Felonie gegen den anderen erwartet werden kann. Camillo Castiglioni wird Hugo Stinnes so lange schützen, als er es vermag und er wird der Letzte und nicht der Erste sein, der von ihm Abschied nimmt.“135 Der Abschied kam aber mit dem Tod von Hugo Stinnes. Obwohl Castiglioni nur mehr einen geringen Aktienbesitz an der Alpine-Montan hatte, wurde er bei der Generalversammlung 1924 für kurze Zeit zum Präsidenten der Gesellschaft gewählt. „Diese Wahl erfolgte auf Vorschlag der Erben Hugo Stinnes’ und der ihnen nahestehenden deutschen Gruppe. Sie verwiesen darauf, dass es Wunsch des verstorbenen Hugo Stinnes wäre, dass Camillo Castiglioni zum Präsidenten der Alpine Montangesellschaft gewählt würde.“136 Castiglioni von der Pracht der Beisetzung seines wichtigsten deutschen Partners: „Die Familie Stinnes habe aus Belgien und Holland für 100.000 Mark Orchideen mit dem Flugzeug kommen lassen und das ganze Krematorium damit geschmückt.“ Aber das ist das Ende, prophezeite Castiglioni. „Hugo Stinnes hat einen großen Fehler gemacht. Er hat sein Reich ganz auf sich selbst gestellt. Es ist, wie es bei uns in Österreich-Ungarn war. Niemand hat an Österreich-Ungarn gehangen. Alle haben an Kaiser Franz Joseph gehangen. Und als er tot war, war es das Ende. So wird es bei Stinnes sein.“137 Mit dem Tod von Hugo Stinnes zerbrach das Firmenkonglomerat, das er sich aufgebaut hatte.138 Sein Sohn, Hugo Stinnes jun., übernahm die Leitung, erlitt aber durch Warenspekulationen, vor allem in Wolle und Erdöl, innerhalb weniger Jahre Verluste von etwa 50 Millionen Goldmark. Vierzig Banken bildeten nun ein Gläubigerkonsortium und der junge Stinnes wurde wegen finanzieller Schiebungen zum Schaden der Gesamtheit verhaftet.139 Dementsprechend waren die Folgen für die österreichischen Beteiligungen. Nach 1924 gingen die Alpine-Aktien an die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft über und ab 1926 an die Vereinigten Stahlwerke in Düssel135 Stinnes und die Alpine, Der Morgen, 26. November 1923 136 Der Economist. Die Untersuchungen gegen Castiglioni, Goldstein und Neumann, Neue Freie Presse, 30. September 1924 137 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 68 138 Siehe dazu: Barbara Schleicher, Heißes Eisen. Die Unternehmenspolitik der Österreichischen Alpine Montangesellschaft in den Jahren 1918–1933, Frankfurt am Main 1999, S. 61 und 169 ff. 139 Die letzten Nachrichten über das Stinnes-Debacle, Die Börse, 11. Juni 1925; Stinnes und Castiglioni, Freiheit, 4. Oktober 1928
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dorf, die in der Folge die Mehrheit kontrollierten. Die Vereinigten Stahlwerke waren die Nachfolger des Stinnes-Konzerns. Im Mai 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, wurde das Treuhandverhältnis mit der Promontana aufgelöst und der Stahlverein, eine Tochtergesellschaft der Vereinigten Stahlwerke, trat auch nach außen als Eigentümer der Alpine auf. Die Verhaftung des jungen Stinnes verleitete Camillo Castiglioni, der bereits seine eigene Krise durchgemacht hatte, zu einer Stellungnahme in dem ihm nahestehenden „Neuen Wiener Journal“, die einen Einblick in sein Denken gab.140 „Wie viele der Großen, der ganz Großen, waren nach schweren Erschütterungen mit eisernem Willen und ehrlicher Einhaltung der übernommenen Pflichten wieder emporgekommen, und so sehr auch solche Männer immer viele und mächtige Feinde gegen sich gehabt haben, eines muss man anerkennen: Die Öffentlichkeit, die große Öffentlichkeit ist auf die Dauer gerecht und versagt einem anständigen Menschen nie die endliche Anerkennung für die loyale und restlose Erfüllung seiner Pflichten ... Nur eines muss als schauerliche Lehre aus diesem entsetzlichen Fall gefolgert werden, dass nur wenige Menschen zu Führern berufen sind, solche Menschen, die die innere Reinheit besitzen, sich niemals von dem enggezogenen harten Weg der Pflicht und Ehrlichkeit abbringen zu lassen, und die es verstehen, sich in Ehrfurcht vor dem ewigen Gesetz zu beugen, dass je höher die Stellung ist, die sie in der menschlichen Gesellschaft einnehmen, desto tiefer der Sturz sein muss, wenn sie aus Macht oder Geldgier Handlungen begehen, zu denen sie sich in ihrer Selbstüberschätzung, als über den Grenzen des Guten und Bösen stehend, verleiten lassen.“ In Marmortafeln sollte man es meißeln, schrieb „Der Österreichische Volkswirt“.141 Im Falle Stinnes’ erfuhr „die Öffentlichkeit von den unerhörten Vorgängen, von den dunklen Manipulationen und ... die kaum fassbaren, in ihrer erschreckenden Nüchternheit fast grausamen Worte: Hugo Stinnes jun. wurde gestern in das Untersuchungsgefängnis Moabit eingeliefert.“ Das sei „ein solch furchtbarer Makel, der nicht nur auf die Familie Stinnes, sondern auf die ganze deutsche Wirtschaft wie ein Brandmal wirken muss“. Dies sei unverzeihlich, „denn nur solche Vorkommnisse geben der breiten Masse das Recht und die Berechtigung, an der moralischen Qualität solcher Männer zu zweifeln, welche jahrelang zu den Führern der Industrie und Finanz, ja vielleicht sogar des Volkes gezählt haben“.142 „So etwas habe der Altmeister der Finanzkunst, der zu besonderen Fällen zur Feder greift, schreiben können, ohne dass der Kah140 Camillo Castiglioni, Das tragische Ende der Dynastie Stinnes, Neues Wiener Journal, 2. September 1928 141 Der Österreichische Volkswirt, 29. September 1928 142 Stinnes und Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1927/8, S. 137/8
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lenberg zu speien begann“, schrieb Karl Kraus. So komme heraus, „dass der Castiglioni ein Führer des Volkes ist, so etwas wie ein Hort der Republik, mit dem er ja schon die Pflichterfüllung gemeinsam hat ... Das Überraschendste ist dabei die Enthüllung, dass der Castiglioni, der so viel von Pflicht redet, als ob er für den unwahrscheinlichen Fall der Demission Schobers zum Polizeipräsidenten ausersehen wäre ..., dass der Castiglioni die innere Reinheit besitzt. Dass das eines Tages herauskommen wird, habe ich mir immer schon gedacht ... Mit dem Schauspiel, wie der Castiglioni sich vor Ekel schüttelt, wenn er an das Laster der Geldgier denkt; mit der Dankesträne dafür, dass er wegen seiner inneren Reinheit und der Unschuld der österreichischen Behörden auf freiem Fuß geblieben ist und Feste geben kann – mit diesem Erlebnis dürfte wohl der Gipfel bezeichnet sein, den unsere kulturelle Entwicklung seit dem Umsturz erklommen hat.“143 Zwei der Geschichten, die man sich von Castiglioni erzählte, zum Abschluss: Es gab einmal eine Beschwerde des jungen Stinnes über die durch Castiglioni verursachten Verluste bei der Alpine. Sein Vater glaubt ihm aber nicht und es kam in Wien zu einer Gegenüberstellung. Im Palais saß Castiglioni auf einer Art Thron, Stinnes’ Vater auf einem gewöhnlichen Stuhl und für den Junior gab es nur einen kleinen Schemel, um die Rangordnung festzulegen. Stinnes junior brachte seine Vorwürfe vor, Castiglioni ließ ihn ruhig ausreden und sagte dann: „Schauen Sie, junger Herr, bei uns in Österreich geht’s halt nicht so genau.“ Stinnes Vater lachte und die Sache war damit erledigt. Der Sohn von Hugo Stinnes erinnerte sich, dass Castiglioni eine Schwäche für seine Schwester Hilde hatte und ihr ein Pferd schenken wollte. Sein Vater protestierte: „Das geht doch nicht!“ Worauf Castiglioni antwortete: „Herr Stinnes, nur wenn man ganz reich oder ganz arm ist, soll man Geschenke für eine Tochter annehmen.“ Und Hilde bekam dann auch ihr ungarisches Reitpferd.
Leykam-Josefsthal AG Vorübergehend beherrschte Castiglioni auch das größte Unternehmen der österreichischen Papierindustrie, die Leykam-Josefsthal AG in Gratkorn bei Graz. Die Papier fabrik Gratkorn war in den 1820er-Jahren errichtet worden und wurde 1870 mit anderen Papierfabriken des Grazer Raumes in eine AG eingebracht. Ihr wurden mehrere Betriebe in Krain und anderen Teilen der Monarchie angeschlossen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie trennte sie sich von allen ausländischen Fabriken, sodass sie 143 Karl Kraus, Rechenschaftsbericht, Die Fackel Nr. 795, Wien Dezember 1928, S. 18–20
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ein rein österreichisches Unternehmen wurde. Ende 1920 ging das Unternehmen vom Wiener Bankverein auf die Kohlefirma Weinmann, Castiglioni und Kola über, welche 1921 das Kapital von 12,5 Millionen auf 30 Millionen Kronen erhöhten.144 Obwohl Castiglionis Anteil nur 18 % betrug, bildete er gemeinsam mit Richard Kola und anderen Aktionären ein Syndikat, das über eine qualifizierte Minderheitsbeteiligung verfügte und Castiglioni den Posten des Verwaltungsratspräsidenten übertrug. Zwar konnte Castiglioni durch Aktienankäufe seine Position weiter festigen, doch konnte sich gleichzeitig der deutsche Papierkonzern Hartmann als zweiter Großaktionär etablieren, mit dem nach anfänglichen Kämpfen 1923 eine Einigung zustande kam. Wenige Monate später sah sich Castiglioni durch seine Finanzkrise zur Abgabe der Aktien gezwungen. Bei Richard Kola sah die Sache so aus: Er kannte Castiglioni schon, seit dieser Direktor bei der Semperit war. Nachdem dieser Präsident der Depositenbank wurde, besuchte er ihn im September 1920, um den Kontakt wiederherzustellen. Dabei erklärte Kola, dass er mit dem Kauf der Aktienmehrheit einer angesehen Firma beschäftigt sei. „Castiglioni, ein Mann von ungemein rascher Auffassungsgabe und durchdringendem Verstand, erfasste sofort die Bedeutung der Transaktion und sagte: Ich bin bereit, die Sache mit Ihnen gemeinsam zu machen und überlasse Ihnen vollständig die Durchführung. Aber da Sie an so vielen Papierfabriken und Druckereien interessiert sind, bin ich im Nachteile, wenn ich mich nur an der Leykam-Josefsthaler allein beteilige. Deshalb mache ich das Geschäft nur, wenn Sie mir von Ihrem Besitze an ‚Elbemühl‘ und ‚Graphischen‘ eine angemessene Anzahl an Aktien verkaufen. Ich lasse die Aktien bei Ihnen und gebe Ihnen das Stimmrecht, aber ich will eine Beteiligung in Ihrem Konzern haben. Nach kurzem Bedenken nahm ich den Vorschlag Castiglionis an, da ich mir sagte, dass der Ausbau der von mir geplanten großen Papier- und Druckerei-Konzerne durch den Hinzutritt einer so bedeutenden Kapitalmacht wesentlich beschleunigt werden könnte.“ Er kaufte nun die Aktien vom Markt, allerdings trat auch ein anderer Käufer auf. Schließlich fand Kola heraus, dass dieser Käufer Fritz Weinmann war, der jüngere Chef der großen Kohlenfirma Ed. J. Weinmann in Aussig. Die Firma Weinmann zählte seit Langem zu den größten und unternehmenslustigsten Firmen der alten Monarchie und nahm im Wirtschaftsleben der Tschechoslowakei einen führenden Platz ein, da sie außer den Kohlebergwerken noch eine Reihe anderer Industrien und Banken kontrollierte. Weinmann trat nun als Dritter in das Syndikat ein und die Aktienmehrheit wurde erworben.145 144 Der Österreichische Volkswirt, 1921, S. 208 f. 145 Richard Kola, Rückblick ins Gestrige. Erlebtes und Empfundenes, Wien 1922, S. 275 ff.
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Schließlich konnte Castiglioni die Anteile Weinmanns und Kolas kaufen. Im Sommer 1923 kam es innerhalb eines Monats zu einer Vervierfachung des Aktienkurses bei der Leykam. Die Ursache war der Majoritätskampf zwischen den beiden Hauptaktionären Hartmann und Castiglioni. Die Hälfte der 600.000 Aktien wurde von einem Syndikat dieser beiden gehalten und auch das Stimmrecht konnte nur von beiden gemeinsam ausgeübt werden. Da der offene Kampf ausgebrochen war, wollten beide unter Bruch des Syndikatsvertrages jeder für sich sein Stimmrecht von 150.000 Aktien bei der nächsten Generalversammlung einsetzen. Um ihren Anteil zu erhöhen, kauften sie zusätzliche Aktien an der Börse auf. Von den rechtlichen Aktien befanden sich 100.000 Stück bei den Großbanken, die sich neutral verhielten. Daher kam es darauf an, von den übrigen 200.000 so viele wie möglich zu erwerben. Der Preis spielte dabei keine Rolle, da sie ihren ursprünglichen Aktienbesitz sehr billig erworben hatten, sodass der Durchschnittspreis inklusive der neu erworbenen immer noch unter dem inneren Wert der Aktien zu liegen kam.146 Mithilfe von Bosel und der Unionbank gewann Castiglioni die Auseinandersetzung mit Hartmann.
Steweag Im Oktober 1923 gelang Castiglioni ein finanzieller Coup, der ihm sicher viel Freude bereitete: Unter seiner Leitung beteiligte sich italienisches Kapital völlig überraschend an der Steirischen Wasserkraft- und Elektrizitäts-AG (Steweag). Die Elektrizitätswirtschaft war den Bundesländern übertragen worden und 1921 wurde die Steweag in der Steiermark errichtet, um den Ausbau der Wasserkräfte vorwärtszutreiben. An der Aktiengesellschaft waren neben dem Land Steiermark und der Stadt Graz sämtliche Wiener Großbanken beteiligt. Im Verwaltungsrat hatten die Banken sechs Sitze, ebenso wie die steirische Handelskammer, und acht Sitze wurden durch das Land Steiermark und die Stadt Graz vergeben. Präsident war Landeshauptmann Dr. Anton Rintelen. Der Ausbau der Wasserkräfte war sehr kapitalintensiv, von eher bescheidener Rentabilität und mit einem Risiko behaftet, da noch nicht vorauszusehen war, wie Elektrizität die Kohle verdrängen konnte. Für die beteiligten Banken war es dennoch ein Geschäft, da sie die Aktienemissionen mit einer Provision von 14 % durchführen konnten. Gleichzeitig erhofften sie Aufträge für ihre Konzernunternehmen am Bau der neuen Anlagen. Sie selbst übernahmen aber nicht die neuen Aktien, sondern platzierten sie 146 Die Börse, 2. August 1923
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an der Börse, was immer schwieriger wurde. Die unaufhörlich in das Publikum hineingepumpten Aktien hatten keinen allzu guten Markt, da die in der Verwaltung vertretenen Institute es nicht einmal der Mühe wert fanden, in kritischen Börsensituationen den Kurs des Papiers einigermaßen zu stützen. Offenbar betrachteten die Banken ihre finanziellen Verpflichtungen gegenüber der Steweag als eine der von ihnen wohl oder übel zu tragende öffentliche Last und Rintelen als einen lästigen Schnorrer, dem man notgedrungen Geld borgen müsse. Die Zurückhaltung der Banken zeigte sich, als man im September 1923 für den Ausbau des Teiglitsch-Kraftwerkes weitere 120 Milliarden Kronen benötigte. Dr. Rintelen wandte sich an das Bankensyndikat, das sich aber lediglich bereit erklärte, 60 Milliarden kommissionsweise zum Verkauf zu übernehmen, um die restlichen 60 Milliarden sollte sich Dr. Rintelen selbst kümmern. Der Landeshauptmann wandte sich daher an die Leitung der Alpine, die am Ausbau der Wasserkräfte interessiert war. Camillo Castiglioni war die Annäherung „hoch willkommen“ und er erfasste „mit Freuden“ die Gelegenheit, einen maßgebenden Einfluss auf die steirische Elektrizitätsindustrie zu gewinnen. „Er war zu dieser Zeit mit dem steirischen Landeshauptmann, dem tüchtigsten und schlauesten Geschäfts-Politiker, Dr. Rintelen, aufs engste verknüpft. Rintelen ging im Hause Castiglioni ein und aus. Persönlich ein bedürfnisloser Mensch versippte sich Rintelen mit der ganz jungen Finanz; doch Castiglioni stand ihm von allen am nächsten.“147 Castiglioni setzte seine italienischen Verbindungen ein und es gelang ihm, ein Finanzkonsortium, bestehend aus der Banca Commerciale, der Credito Italiano, der Holzfirma Carlo Feltrinelli und der italienischen Edison Gesellschaft, für das Projekt zu gewinnen. Die italienische Gruppe erklärte sich nicht nur bereit, die Neuemission von 120 Milliarden fix zu übernehmen, sondern auch den weiteren Betrag von 180 Milliarden für den Ausbau des Kraftwerks bereitzustellen. Zur Vorbereitung hatte Castiglioni an der Wiener Börse bereits 26 % der Steweag-Aktien aufgekauft, was umso leichter war, als diese ständig angeboten wurden. Damit hatte man bereits eine qualifizierte Minderheit, an der man nicht vorüberkam. Die Italiener forderten aber eine kommerzielle Führung der Steweag durch die Aufhebung der Tarifhoheit des Landes und sechs Sitze im Verwaltungsrat auf Kosten der Landesvertreter. Beidem stimmte der Landeshauptmann zu. Dr. Rintelen berief daher am 18. Oktober 1923 eine Generalversammlung ein. Die Wiener Banken nahmen an, es handle sich lediglich um eine Formalität bezüglich der von ihnen zugesagten Kapitalerhöhung von 60 Milliarden. Sie deponierten nicht mehr als 300.000 Aktien und erst nach einigem Zögern kamen zwei Vertreter, einer 147 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 111
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vom Wiener Bankverein und einer von der Anglo-Österreichischen Bank nach Graz. Die italienische Gruppe hatte 650.000 Aktien deponiert und einer ihrer Vertreter kam persönlich. Jetzt erst wurden die Wiener Banken vom italienischen Offert informiert, sie waren maßlos überrascht und protestierten gegen diese „Überrumplung“. In der Generalversammlung wurden sie überstimmt, aber sie konnten die Einberufung des Verwaltungsrates um eine Woche verschieben. In dieser Zeit forderten sie vom Landeshauptmann wie von der italienischen Gruppe den Einstieg in das Geschäft, um wenigstens die Hälfte, also 150 Milliarden, zu übernehmen. Sie hätten auch ausländisches Kapital herbeischaffen können, was aber unter den bisherigen Bedingungen schwer möglich war. „Heute jedoch, wo das italienische Offert die vollständige Kommerzialisierung der ‚Steweag‘ und die Aufgabe der Tarifhoheit des Landes vorsieht, sei das Geschäft auch für sie durchaus akzeptabel.“ Dr. Rintelen hätte ihnen auch das Offerte vorlegen müssen mit der Frage, ob sie zu solchen Bedingungen zur Finanzierung bereit waren. „Die Wiener Banken haben das Rennen verloren, wenn auch ihre Farben in letzter Minute noch beim Start werden erscheinen können“, schrieb „Die Börse“, um Castiglioni überschwänglich zu loben: „Und so sehr wir mit den Finanzierungsmethoden Camillo Castiglionis manchmal auseinandergehen, diesmal verdient er für seinen Weitblick rückhaltlose Anerkennung; diesmal hat er gezeigt, dass er nicht nur als Vize-Präsident der Alpine Montangesellschaft, nicht nur als Großinteressent in Steiermark, sondern auch als Finanzier über das richtige Konzept verfügt, und dass nur er durch den Verzicht auf momentan erreichbare Profite dem schöpferischen Willen Rintelens auf halbem Wege entgegenkam. Castiglioni hat nicht um Beträge geschachert, sondern er besaß den großen Wurf, die dekorative Geste und den aufs Konstruktive gerichteten Ernst.“148 Nicht nur die „Arbeiter-Zeitung“ sah das ganz anders,149 sondern auch „Der Österreichische Volkswirt“, der das Ganze als einen steirischen Elektrizitätsskandal bezeichnete. Angesichts dieser ungeheuerlichen Vorgänge „würde in jedem anderen zivilisierten Land ein Sturm der Entrüstung in der ganzen Öffentlichkeit ohne Unterschied der Partei alle Politiker hinwegfegen, die in diesen Skandal verwickelt sind. In Deutschösterreich aber ist es still geblieben, nur die von Herrn Castiglioni notorisch bezahlten Blätter haben den bei ihnen bereits oft erprobten Mut aufgebracht, das Verhalten des steirischen Landeshauptmannes und seiner Hintermänner unter Verfälschung der Tatsachen zu glorifizieren. Aber wenn die österreichische Demokratie diesen Skandal hinnimmt, ohne ihn von Grund auf zu sanieren, dann hat sie ihr moralisches Lebens148 Der Kampf um die „Steweag“, Die Börse, 25. Oktober 1923 149 Arbeiter-Zeitung, 23. Oktober 1923
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recht verloren. Wir sind es in diesen Blättern nicht gewohnt, starke Worte zu gebrauchen. Aber diesmal handelt es sich um nichts Geringeres als um eine entscheidende Machtprobe zwischen Staat und Plutokratie.“ Herr Castiglioni wisse die Machtinteressen eines ausländischen Großstaates für seine Privatinteressen dienstbar zu machen. Mit dem Verzicht auf die Tarifhoheit des Landes Steiermark würde diese Gruppe zum Herren über die steirische Industrie aufsteigen. Man brauche den Unternehmen bloß den Strom zu sperren oder ihn zu einem Preis zu liefern, der sie konkurrenzunfähig machen würde. Das Angebot der Italiener war so ungeheuerlich, wie die Form, in der es vorgebracht worden war. Denn die zweite Tranche von 170 Milliarden Kronen sollte nur erfolgen, wenn die Stromabnehmer gesichert waren. Sie war daher keineswegs garantiert. Außerdem sollte die Steuerfreiheit der Steweag von 10 auf 20 Jahre verlängert werden und bei jeder Neuemission sollte die italienische Gruppe 12 Prozent Emissionsprovision und 60 Prozent der Aktien zu 60 Prozent des Durchschnittskurses der letzten drei Monate bekommen. „Das sind Bedingungen, die an die berüchtigte letzte Kapitalerhöhung der Alpine erinnern, nur mit dem Unterschied, dass sich der Kurs der Steweag-Aktien beliebig nach unten manipulieren lässt.“ Da es sich bei der Steweag um ein Monopolunternehmen handelte, war dies nicht ein Privatgeschäft, sondern von lebenswichtiger Bedeutung für das ganze Staatswesen.150 Dass sich die österreichischen Banken an dieser Angelegenheit beteiligten, sei nicht verwunderlich. „Und es wäre unbillig, von ihnen zu fordern, dass sie päpstlicher seien als der Papst ... Was die italienische Gruppe bei der Landesregierung durchsetzte, und was österreichische Banken nie zu fordern wagen durften, ist ihnen begreiflicherweise sehr willkommen.“ Die Verhandlungen mit den Wiener Banken zogen sich aber hin, „weil Herr Castiglioni nach Italien verreisen musste. Offenbar soll gegen die auftauchenden politischen Widerstände im Inneren wieder diplomatischer Sukkurs von außen geholt werden, wie man es bei allen wichtigen Geschäften des Hauses Castiglioni immer wieder erfährt. Denn das ist das Entsetzliche an der Lage dieses Landes, dass es nicht nur in seiner Ohnmacht derartige Interventionen nicht gebührend zurückweisen kann.“ Für den „Österreichischen Volkswirt“ war dies der „größte Skandal“, den Österreich seit Jahrzehnten erlebt hatte: „Es handelt sich klipp und klar um die Frage, wie weit sich in diesem Lande Geschäftspolitiker vorwagen dürfen, ohne unmöglich zu werden. Es handelt sich, wie wir letzthin bereits sagten, um die letzten Reste der inneren Freiheit, die diesem von außen geknebelten Land geblieben ist. Es handelt sich um die Entscheidung, ob wir endgültig zu einem Staat hinsinken wollen, in dessen öffentlichem Leben schließlich alles irgendwie feil ist und dessen wahre Herren am Ende jene 150 Der steirische Elektrizitätsskandal, Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 95–97
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Auslese der Plutokratie ist, die es am skrupellosesten verstanden hat, die Korruptionsmöglichkeiten der Demokratie auszunutzen. Wir sind diesem Punkt schon unheimlich nahe gekommen.“151 Auch die ausländischen Vertretungen in Wien beschäftigten sich mit diesen Vorgängen. Der französische Botschafter gab zu überlegen, ob nicht der Völkerbundkommissar Dr. Alfred Rudolf Zimmermann, der seit 1922 das österreichische Budget zu kontrollieren hatte, sich damit beschäftigen sollte. Von Dr. Rintelen sei seine Vorliebe für Italien als Gegengewicht zu Jugoslawien bekannt und man sah den ausländischen Einfluss auf die steirische Elektrizitätswirtschaft durchaus mit Sorge.152 Die britische Botschaft in Wien beschrieb in einem Memorandum den Vorgang und wies darauf hin, dass politische Motive eine gewisse Rolle gespielt haben könnten. Die Italiener sind immer bemüht, von allen Großmächten ihr Interesse an Österreich zu zeigen, zumal die Steiermark an Jugoslawien grenze. Und es wird ein Wiener Bankmanager zitiert, der Castiglioni für den größten Finanzier Europas hielt, wenn er nur sein Wort halten würde. Beim handschriftlichen Kommentar des britischen Finanzministeriums hieß es, dass dies ein anderer erfolgreicher und gut vorbereiteter Coup von Castiglioni gewesen sei, der die Stinnes-Gruppe in Südosteuropa repräsentiert. Dieser Coup ging auf Kosten der Anglo-Österreichischen Bank, die aber diesmal ein Opfer unter vielen war. Die Transaktion werfe auch ein Licht auf die Anti-Jugoslawien-Haltung der italienischen Politik.153 Die Wiener Banken entschlossen sich schließlich zu einem stärkeren Engagement, sodass die beiden Finanzgruppen im Herbst 1923 die erforderlichen Mittel je zur Hälfte bereitstellten.154 Die beiden Gruppen hatten sich unter der Führung von Castiglioni gefunden, wie „Der Österreichische Volkswirt“ schrieb. „Die Banken, denen diese Finanzierung schon längst eine schwere Last war, sind wahrscheinlich sehr erfreut, dass ihnen die Last teilweise abgenommen wird. Castiglioni hat erreicht, was er angestrebt hat, einen maßgebenden Einfluss auf die Steweag und damit eine Festigung seiner Position in der steirischen Industrie, und Herr Dr. Rintelen lässt sich als Retter des Landes preisen und bleibt Landeshauptmann der Steiermark und Castiglionis Kompa151 Der Steirische Skandal, Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 125/6 152 M. Lefèvre-Pontlis, Ministre de la République Francaise en Autriche a son Excellence Monsieur Poincare, Président du Conseil, Ministre des Affaires Etrangères, Vienne, le 24 Novembre 1923 und 26 Novembre 1923, Archives Economiques et Financières, Paris F30 621 153 Mr. O. S. Phillpotts, Commercial Secretary, British Embassy Vienna, 26. Oktober 1923, Public Record Office, London, FO371 8554 02354 154 Franz Mathis, Camillo Castiglioni und sein Einfluss auf die österreichische Industrie, in: Sabine Weiss (Hg.), Historische Blickpunkte. Festschrift für Johann Rainer, Innsbruck 1988
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gnon zugleich. So ist alles zur allgemeinen Zufriedenheit geregelt und die bösen Nörgler haben glücklicherweise wieder einmal unrecht behalten.“ Durch die Beteiligung der österreichischen Banken war der italienische Einfluss zurückgedrängt worden, was ein Schutz der österreichischen Industrie schien. Das Privatkapital hatte allerdings mit 20 von 30 Sitzen die Mehrheit im Verwaltungsrat und die Tarifhoheit war nicht einmal angesprochen worden. „Das öffentliche Gewissen schläft hier wie in vielen anderen Fällen. Man lasse es weiter schlafen und in wenigen Jahren ist die österreichische Demokratie gewesen.“155 Es gibt noch eine andere Interpretation dieser Geschichte: Mussolini soll Castiglioni gegenüber bemerkt haben: „‚Ich habe erzählen hören, dass Sie die Interessen Italiens vertreten, besonders aber die Ihren. Ich möchte, dass Sie mir einmal den Beweis erbringen, dass Sie nur das Interesse Italiens vertreten.‘ Um Mussolini zufriedenzustellen, kehrte er nach Wien zurück, attackierte an einem einzigen Tag zwölf Banken und gründete im Einvernehmen mir der Regierung in Rom die Steweag. Die Steweag ist eine Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Wasserkräfte Steiermarks. Steiermark und Kärnten sind die wichtigsten österreichischen Gebiete für eine italienische Durchdringung. Abgesehen von dem Reichtum an Mineralien und Industrien ist Italien an diesem Gebiet auch aus eventuellen militärischen Gründen und mit Rücksicht auf die Grenze gegen Südslawien und Ungarn interessiert. Der ‚Duce‘ honorierte Castiglionis Finanzierungskünste mit dem Großkreuz der Krone von Italien, einer der höchsten italienischen Auszeichnungen.“156 Im Mai 1924 jedenfalls, als bereits erste Zeitungsberichte über die problematischen Vorgänge in der Depositenbank erschienen, sonnte sich Castiglioni, wie die „Wiener Morgenzeitung“ schrieb, noch „im vollsten Glanz der Macht“. Im Anschluss an eine Kraftwerkseröffnung der Steweag in der Oststeiermark „beugten sich Minister und Abgeordnete tief, als er im Auto wegfuhr“.157 Und am 10. Mai 1924, vier Tage nach dem Zusammenbruch der Depositenbank, hielt Bundeskanzler Seipel bei der Stollendurchschlagsfeier im Teigitschwerk eine Rede vor dem Bundespräsidenten, dem Handelsminister und dem steirischen Landeshauptmann, „voll des Ruhmes und der Lobpreisung auf den größten Haifisch, der sich im Österreich des Krieges und der Nachkriegszeit vollgemästet hat. Er trat dem Vorwurf entgegen, ‚dass die Geldinstitute mehr der Spekulation als der Förderung unserer Wirtschaft im eigentlichen Sinne und unserer Entwicklung 155 Der Fall Steweag, Der Österreichische Volkswirt, 1923, S. 225/6 156 Max Schäfer, Die Mächtigen der Wirtschaft. Porträts bedeutender Unternehmerpersönlichkeiten aus fünf Jahrhunderten, Würzburg 1972, S. 294 157 Wiener Morgenzeitung, 22. Mai 1924
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dienen, in einer solchen Zeit sind wir hierher gekommen und haben gesehen: hier wird wackere Arbeit geleistet.‘ Und zu Camillo Castiglioni gewendet, der kraushaarig, breitnäsig und mit wulstigen Lippen dastand und sich bemühte, wie ein römischer Cäsar auszusehen, sagte er, nachdem er den Technikern und Arbeitern Dank ausgesprochen hatte: ‚Wir gedenken auch jener, die hinter diesen unmittelbar Arbeitenden stehen ... die Kapital zur Verfügung gestellt haben, durch das so viele Menschen, redliche und ernste Arbeit im Interesse der Allgemeinheit leisten ... wir haben den Glauben, dass die Stärkeren im Ausland draußen wirklich den Willen haben, unserem Österreich aufzuhelfen.‘“158 Doch der eigentliche Gewinner war Dr. Rintelen. Castiglioni gelang es nicht, die Wiener Großbanken völlig auszuschalten und die Steirer hatten nun zwei Partner beim Ausbau der Wasserkräfte. Castiglioni selbst hatte sich finanziell weit vorgewagt, die Kapitalerhöhung, die er selbst zu übernehmen hatte, musste er mit Taggeldern bestreiten.
Semperit Castiglioni blieb auch nach dem Krieg für die Semperit von Bedeutung, vor allem seit er als Präsident der Depositenbank über den entsprechenden finanziellen Spielraum verfügte. Anfang 1920 erfolgte eine Kapitalerhöhung der Semperit von 8 auf 16 Millionen Kronen zu einem Agio von 550 Prozent. Dadurch flossen dem Unternehmen rund 44 Millionen Kronen zu – etwa das Vierfache des bisherigen Eigenkapitals. Die neuen Aktien wurden zur einen Hälfte den bisherigen Aktionären angeboten, zur anderen von einem Konsortium übernommen, dem neben dem Wiener Bankverein und der Niederösterreichischen Escomptegesellschaft auch Camillo Castiglioni mit der Depositenbank angehörten. Dadurch wurde Castiglioni als Präsident der Depositenbank in den Verwaltungsrat aufgenommen. In diesem bestimmte er während der Inflationsperiode maßgeblich die Unternehmenspolitik. „Castiglioni erwies sich als Meister der Anpassung an die fast täglich wechselnden Ereignisse auf dem Finanz- und Kapitalmarkt. Schon im Oktober 1920 folgt eine weitere Verdoppelung des Kapitals auf 32 Millionen Kronen. Die Aktien wurden den Aktionären zum Kurs von 725 Prozent angeboten, schließlich aber fast durchwegs vom Syndikat Wiener Bank Verein, Niederösterreichische Escompte Gesellschaft und Depositenbank übernommen. Bei weiteren Kapitalerhöhungen wurde ähnlich verfahren. Anfang 1922 wurde das Kapitel mit einem Agio von 5.500 Prozent auf 50 Millionen Kronen erhöht, im Oktober folgte eine weitere Erhöhung auf 500 Millionen.“ 159 158 Der Abend, 16. April 1926 159 Semperit Aktiengesellschaft, 150 Jahre österreichische Kautschukindustrie 1824–1974, Wien 1974,
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Die Geschäftsführung unter Castiglioni verstand es auch, andere Unternehmungen der österreichischen Kautschukindustrie zu beeinflussen. Während der Inflationszeit waren alle bedeutenden Gummifabriken Österreichs in das Eigentum der Semperit gekommen. Damit war sie 1923 mit fünf Fabriken und rund 5.000 Beschäftigten zum zweitgrößten Industrieunternehmen Österreichs geworden, nach der Alpine. Bereits bei der ersten Fusionswelle 1912 hatte Semperit versucht, das zweitgrößte Unternehmen dieser Art in Österreich, die Vereinigten Gummiwaren-Fabriken Wimpassing, zu integrieren. Im April 1922 kam es zu Verhandlungen mit dem deutschen Eigentümer, der Harburger Gummiwaren-Fabrik Phönix AG Harburg a. d. Elbe. Die Gesellschaft wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt mit einem Kapital von 100 Millionen Kronen, von dem Harburg die eine Hälfte und der Wiener Bank-Verein zu einem Preis von 700 Millionen Kronen die andere Hälfte erhalten sollte. An den Verhandlungen hatte auch Castiglioni teilgenommen. Castiglioni bestand aber auf 51 Prozent des Grundkapitals und die Einräumung einer Option auf die restlichen 49 Prozent. Diese Option sollte frühestens am 1. Juli 1924 in Kraft treten, und zwar zu einem Kurs von 200 Mark je Aktie mit einem Nennwert von 200 Kronen – ohne Wertsicherung. Harburg erkannte anscheinend die Hintergründe dieses Vorschlags nicht deutlich genug und stimmte der Forderung Castiglionis nach längeren Verhandlungen zu. Schon am 19. März 1923 war die Harburger Gummiwarenfabrik mit der vorzeitigen Abberufung der Option durch den Wiener Bank-Verein und die Semperit einverstanden. Durch den inflationsbedingten Kursverfall der Mark in Deutschland konnte der Rest des Aktienkapitals zu äußerst günstigen Bedingungen erworben werden: Die Zahlung der 49 Millionen Papiermark und einer Entschädigung in gleicher Höhe – für die vorzeitige Ausübung der Option und den Verzicht auf alle aus dem Konsortialvertrag erwachsenden Rechte – fiel in die Zeit des Höhepunkts der deutschen Inflation. Harburg erhielt insgesamt etwa 1.200 Dollar oder 5.000 Goldmark. „Um einen derart niedrigen Preis war wohl noch nie in der Geschichte eine große Fabrik verkauft worden.“160
S. 50. In Zusammenarbeit mit dem Verein der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der Unternehmensbiographie und Firmengeschichte an der Wirtschaftsuniversität Wien. 160 Semperit Aktiengesellschaft, 150 Jahre österreichische Kautschukindustrie 1824–1974, Wien 1974, S. 50. In Zusammenarbeit mit dem Verein der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der Unternehmensbiographie und Firmengeschichte an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Der Finanzier 2. Teil Preisrevolution Die Inflation der 1920er-Jahre ist lange in Erinnerung geblieben. Einmal war sie ein Kind des Krieges, der weitgehend über die Notenpresse finanziert wurde. Bis 1918 hatte daher die österreichische Krone bereits zwei Drittel ihres Wertes verloren. Aber das war nur der Auftakt: In den folgenden vier Jahren bis 1922 fiel ihr Wert auf 1/15.000 der Vorkriegszeit. Die amtliche Statistik stellte die monatlichen Lebenshaltungskosten pro Person für das erste Halbjahr 1914 mit 86 Kronen fest, im Oktober 1921 mit 9.353 Kronen und im Oktober 1922 mit 793.066 Kronen.161 Ein Kilogramm Zucker verteuerte sich von 80 Heller auf 21.000 Kronen, das Kilo Brot von 46 Heller auf 5.760 Kronen, Mehl von 36 Heller auf 11.000 Kronen, ein Straßenbahnfahrschein von 12 Heller auf 430 Kronen, ein Paar Schuhe von 18 auf 150.000 Kronen und ein Hemd von 20 auf 90.000 Kronen.162 Die Banknotendruckerei fand in Wien in der Herrengasse statt. Vor deren Toren stellten sich die Bankbeamten an, um die notwendige Menge an Papiergeld zu bekommen. Die Massenerzeugung der Noten fand in einer modernen Werkstatt statt, wo neben der Verwaltung 1.500 Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt waren. Nicht nur der Papierbedarf war enorm, sondern allein der Farbenverbrauch betrug Anfang 1922 täglich fast eine halbe Tonne. „Während in der Vorkriegszeit die tägliche Notenerzeugung nur einige hunderttausend Kronen betrug, werden gegenwärtig im Tag durchschnittlich vier Milliarden erzeugt. Würde man diese Riesensumme nur in Tausendkronennoten herstellen und diese aufeinander legen, so würde die dadurch entstehende Säule doppelt so hoch als der Stephansdom sein. Die größten Abnehmer der 161 Die Kosten der Lebenshaltung zu Anfang Oktober, Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 21 und 22 162 Zur Währungsgeschichte Österreichs: Bachinger/Butschek/Matis/Stiefel, Abschied vom Schilling. Eine österreichische Wirtschaftsgeschichte, Wien 2001
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Bank sind der Staat und die Industrie; nach Bewilligung der neuen Gehaltsforderungen wird die Bank täglich eine Milliarde allein für die Staatsangestellten erzeugen müssen.“ Die Erzeugung von kleinen Noten war bereits unrentabel geworden, die von Ein- und Zweikronennoten kamen bereits auf das Zwei- bis Vierfache ihres Nennwertes, daher erzeugte man nun auch 5.000er- und 50.000er-Noten.163 Die inflationäre Entwicklung hing einmal mit der politischen Lähmung der Republik Österreich zusammen, wo man sich nach dem Auseinanderbrechen der Monarchie als der eigentliche Verlierer empfand, was durch die Friedensverträge noch bestätigt wurde. Die Tschechoslowakei, deren Bürger loyal auf der Seite Österreichs gekämpft hatten, fühlte sich dagegen als Sieger. Sie baute mit Optimismus ihre neue Volkswirtschaft auf und brachte auch die Währung bald in Ordnung. Zum anderen war die politische Situation in der ersten Nachkriegszeit außerordentlich brisant. Österreich war nicht von den Siegermächten besetzt worden, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern die Soldaten strömten nach vier Jahren Krieg von der Front zurück. Die russische Revolution 1917 und sogenannte „Räterepubliken“ in Bayern und Ungarn 1919 zeigten, wie gefährlich die Situation war. Um revolutionären Tendenzen entgegenzuwirken, hielt man daher staatliche Transferzahlungen aufrecht und kaufte vor allem Lebensmittel teuer am Weltmarkt, um sie im Inland zu mäßigen Preisen abzugeben. Da die Wirtschaft am Boden lag, erfolgte die Finanzierung weitgehend über die Notenpresse. In der zweiten Hälfte des Jahres 1921 machten so die Steuereinnahmen nur mehr ein Drittel der Staatsausgaben aus. Und dann gewann die Inflation auch eine eigene Dynamik. Der Kaufmann setzte seine Preise in Erwartung der Geldentwertung hinauf und die Gewerkschaften forderten dementsprechende Löhne. Vor allem aber hatte man sich in den acht Jahren an die Inflation gewöhnt und man konnte an ihr auch glänzend verdienen. Wer über die nötige Geschicklichkeit, Anpassungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit verfügte, dem bot die Inflation unbeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten.164 Von wirtschaftlicher Seite wurde das schon in der Zeit mit Bedenken gesehen. „Wer die Lage der Wiener Banken bloß nach ihren Abschlussziffern beurteilen wollte, der würde den falschen Eindruck einer nie da gewesenen Hochkonjunktur gewinnen“, schrieb Walter Federn im Hinblick auf das Jahr 1919. „Die meisten Banken weisen einen Reingewinn in nie erlebter Höhe aus und man weiß, dass die ausgewiesenen Gewinne kaum jemals so weit hinter den wirklich erzielten zurückgeblieben sind wie heuer. Zumeist schütten sie auch Rekorddividenden aus.“ Im Allgemeinen war die Bilanzsum163 Die Milliardenfabrik in der Herrengasse. Das österreichische perpetuum mobile, Der Morgen, 30. Jänner 1922 164 Richard Lewinsohn, Die Umschichtung der europäischen Vermögen, Berlin, 1925, S. 236
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me auf das Doppelte angestiegen. Die Ursache war jedoch die Geldentwertung, die das Ausmaß aller vorangegangenen Kriegsjahre weit hinter sich ließ. „Mit der Inflation geht Hand in Hand die Preisrevolution und sie schafft direkt und indirekt die außerordent lichen Gewinnmöglichkeiten, welche die Kassen der Banken füllen ... Dem Effektenmarkt strömten Milliarden zu, unter dem Schlagwort ‚Flucht vor der Krone‘ erfasste große Teile der Bevölkerung eine wahre Spielwut, für die viele Kreise des Mittelstandes die Motivierung hatten, dass man von dem normalen Einkommen nicht mehr leben könne.“ Riesige Umsätze und ungeheure Gewinne wurden auch im Devisengeschäft gemacht, seit nur ein paar Stunden von Wien im „Neuausland“ bereits mit ausländischem Geld gezahlt wurde. Auch die Geschäfte mit den Devisen des „Altauslandes“ ließen sich nicht verachten, was zum Teil davon abhing, „wie weit sich die Banken an die Vorschriften halten, was im Geschäft mit Altauslandsdevisen durchaus nicht allgemein und mit der Zeit immer weniger der Fall war. Eine indirekte Wirkung der Geldinflation und Preisrevolution ist es auch, dass das Publikum den Sinn für große Zahlen eingebüßt hat und willig jede Belastung auf sich nimmt ... Dazu kommen die eigentlichen Konjunkturgewinne des Ausverkaufs und aus Finanzierungen und Kapitalserhöhungen. Sie sind die größten. Was da buchmäßig an den tief abgeschriebenen Effekten verdient wird, wenn sie ins Ausland oder auch nur wenn sie an die aktienhungrige Inlandsspekulation verkauft werden, das ist nicht abschätzbar ...“ Am Ende werden die Banken doch viel ärmer dastehen als zuvor. „Aber das ist eben das Beängstigende an dieser Hochkonjunktur, dass sie aus dem Niedergang des Gemeinwesens sich voll saugt, ein Niedergang, von dem die Banken, wenn man unter die Oberfläche blickt, mit erfasst sind. Die Leiter der Banken selbst empfinden, wie unsicher der Boden geworden ist, auf dem sie arbeiten, und können sich doch nicht helfen. Gewiss, die Banken nützen die Konjunktur weidlich aus, sie erhöhen die Konditionen mehr als notwendig und nützlich, sie schröpfen die Kunden im Devisen- und Effektengeschäft, sie wirken dem Börsenspiel nicht entgegen, das ihnen die großen Effektengewinne zuführt ...“ Aber schließlich konnten sie auch nicht ändern, „dass ein Industrieller 50 bis 100 mal so große Kredite braucht, wie einst, weil die Löhne auf das 10 bis 20fache gestiegen sind und weil die gleiche Menge Baumwolle, Kupfer oder Leder 50 bis 100 mal so viel kostet wie vor dem Kriege. Weil die Kreditansprüche infolge dessen ins Ungemessene wachsen, veranlassen die Banken alle nahestehenden Aktiengesellschaften, ihr Kapital immer wieder zu erhöhen, um ihr Risiko zu beschränken und in der Aktienform auf das Publikum abzuwälzen. Bei den hohen Kursen, welche für die neuen Aktien gezahlt werden, erreichen die Garantie- und Syndikatsprovisionen, die sie dafür einheimsen, ungeheuere Summen.“165 165 Walter Federn, Die Wiener Banken, Der Österreichische Volkswirt, 1920, S. 783 f.
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Diese Inflation war durch einen neuen Spekulanten und Kriegsgewinner gekennzeichnet. 1921 erschien in der Prager Zeitung „Die Wirtschaft“ ein Artikel über Castiglioni, der seinen Werdegang und Position aufzeigte.166 „Herr Castiglioni ist der Typus einer Zeit“, hieß es dort, „die wie kaum eine andere die Welt aus den Angeln gehoben die Menschen sozial umgeschichtet, alte Größen gestürzt und neue auf den Schild gehoben hat. Überlieferter Reichtum und Kultur sind zerstört worden und an ihre Stelle ist ein neuer Reichtum getreten, der sich in den Regionen, in die er aufgestiegen ist, noch nicht heimisch fühlt und in dem ungewohnten Machtgefühl zu Übertreibungen und Geschmacklosigkeiten hinneigt ... Wo früher im Bankbetrieb und in der Industrie die geistige Überlegenheit herrschte, da herrscht heute die tote Materie, die brutale Macht des Geldes.“ 167 Die Gefahr für den „alten Reichtum“ wurde immer wieder beschworen. Den erbeingesessenen Finanzmächten drohten auch Gefahren vonseiten aggressiver und sich rasch emporarbeitender Mittel- und Kleinbanken, die oft von Homines novi geführt wurden, die erst während des Krieges zu Macht und Reichtum gekommen waren.168 „Die unsicheren Verhältnisse haben gerade die erfahrenen bedächtigen Bankleiter zurückhaltend gemacht, während jüngere Kräfte im Kriege sich bereicherten und sich dann mit vollem Wagemut in die Konjunktur stürzten. Die einen werden von der Konjunktur getragen, die anderen schaffen sie mit. Die fortschreitende Inflation hat den Wagemutigen bisher recht gegeben und manches Unternehmen, das eine Bank gerne abstieß, weil ihr das Risiko zu groß schien, wurde zur Quelle großer Gewinne der minder Ängstlichen, welche es ihr abnahmen.“169 Es sei daher ein offenes Geheimnis, „dass die Banken ohne Vergangenheit, ohne den matten Patinaglanz und ohne sonderliche Hemmungen die Konjunktur viel besser meistern konnten als die alten konservativen Finanzgebilde. Ehe sich die früheren Finanzgrößen die Glacéhandschuhe anzogen, um eines der jetzt modernen Geschäfte anzufassen, hatten die neuen Geister schon den Gewinn in die roheren und ungeschützteren Hände eingestrichen ... Der alte Bankreichtum hat über den neuen so sehr die Nase gerümpft, dass diese die Witterung für die konjunkturalen Möglichkeiten beinah verlor.“ Während die alten Banken teilweise durch ihre Auslandsschulden, teilweise durch ihre Rigorosität um die Erhaltung ihrer früheren Positionen besorgt sind, wird das volkswirtschaftliche Leben durch die Existenz gerade von solchen neuen Banken bestimmt. „Einige 166 Abgedruckt in: Montagszeitung, 31. Oktober 1921 167 M. W., Großbanken-Panama, Wiener Montagspresse, 5. Oktober 1921 168 Eduard März, Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913–1923. Am Beispiel der Creditanstalt für Handel und Gewerbe, Wien 1981, S. 358 169 Walter Federn, Die Wiener Banken, Der Österreichische Volkswirt, 1920, S. 819
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von diesen Unternehmungen haben gewiss seriöse Grundlagen, andere wieder bedeuten Glücksrittertum in Aktienform. Der Vorläufer der meisten dieser Finanzgeschöpfe war das Schiebertum, vor dem man sich vor aller Welt bekreuzigt, dem man aber im geheimen Altäre errichtet. Während die alten Banken unter der Last ihrer Vergangenheit keuchen, bricht leider unsere Zukunft durch die Last der neuen Banken allmählich zusammen.“170 Nach dem Weltkrieg hatte die Errichtung neuer Staaten und die Trennung der Währung den Wiener Banken einen neuen Geschäftszweig, den Handel mit den neu geschaffenen Zahlungsmitteln zugeführt, der sich um so lukrativer gestaltete, wie die Noteninflation immer größere Dimensionen annahm.171 Mitte November 1920 wurde der vorher staatlich kontrollierte Devisenhandel weitgehend freigegeben. Die Verhältnisse im Devisenverkehr waren inzwischen so verwildert, dass die Liberalisierung das einzig Mögliche erschien. „Von den außerhalb der Devisenzentrale stehenden Schleichhändlern und Schiebern, die von jeher gemacht haben, was sie wollten, ganz abgesehen, kümmert sich kein Bankier und keine Bank mehr um die Vorschriften, unter dem Vorwand, dass sie nicht einsehen, warum sie sich das Geschäft von den weniger gewissenhaften Elementen ganz weg nehmen lassen sollen.. Der Regierung hat es an der nötigen Energie gefehlt, den verbotenen freien Devisenmarkt, der gar nicht mehr geheim, sondern ganz öffentlich an der Börse war, zu unterbinden.“ Dieser freie Devisenmarkt war inzwischen weit größer geworden als der von der Devisenzentrale organisierte. Die Devisenzentrale hatte 1919 an die 20 Milliarden Kronen an Devisen beschaffen können, allerdings indem sie selbst zum Teil den sogenannten freien Markt aufgesucht hatte. Dabei kam sie darauf, „dass in letzter Zeit Wiener und Berliner Spekulanten gemeinsam für viele Millionen Kronen Wertpapiere hier gekauft haben, diese verbotswidrig durch geheime Kuriere nach Berlin gebracht und von dort wieder nach Wien verkaufen haben lassen und das dadurch bewirkte Kronenguthaben zum Ankauf von Devisen in Zürich verwendet haben, sei es, um sie billiger zu erwerben, als es in Wien möglich wäre, sei es, um sie in Wien mit einem Nutzen von 20 bis 30 % wieder zu verkaufen.“172 1920 gab es einen eigenen Valuten-Schleichhandel vor der Wiener Börse zur Umgehung der Devisenzentrale. Eine Person kam zwischen 11 und 13 Uhr aus der Börse gestürzt und raunte einige Zahlen, die sofort zu Aufregung führten. Dies wurde von kleinen Bank- und Wechselgeschäften genutzt, die in großer Zahl in der Nähe der Börse entstanden waren. Der Devisenschmuggel selbst erfolgte zum großen Teil durch diploma170 Der Morgen, 18. April 1921 171 Die Banken im Jahre 1919, Der Morgen, 25. Dezember 1919 172 Walter Federn, Die Freigabe des Devisenhandels, Der Österreichische Volkswirt, 1920, S. 35 f.
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Preisrevolution Bild 16 Die Wiener Börse um 1900, Ansichtskarte, Archiv Dieter Stiefel
tische Kuriere der Entente und der Nachfolgestaaten. Auch Castiglioni soll persönlich in die Niederlande geflogen sein, um Valuten zu schmuggeln. Das Zentrum des Wiener Lebens war nun die Börse. Richard Kola beschrieb seinen Eindruck, als er vor dem Krieg zum ersten Mal in diese heiligen Hallen kam: „In dem ungeheuer großen Saale, in dessen Mitte eine lange Holzellipse lief, der sogenannte ‚Schranken‘, saßen, standen und gingen etwa tausend Personen, die sich anscheinend gut unterhielten und Witze erzählten. An der Peripherie des Saales standen Leute in einzelnen Gruppen beisammen, redeten lebhaft mit den Händen, hin und wieder gaben sie mit lauter Stimme Zahlenworte von sich. Wie ich erfuhr, waren diese Gruppen die sogenannte ‚Kulisse‘, und die Zahlenworte, die die ‚Kulissiers‘ riefen, waren die Kurse, zu denen sie Aktien kaufen oder verkaufen wollten. Innerhalb des Holzschrankens liefen Leute hin und her, die mit den anderen, die außerhalb des Schrankens saßen oder standen, freundschaftlich diskutierten. Die Leute innerhalb waren die Sensale, die außerhalb des Schrankens die Auftraggeber. Ich sah verwundert um mich und dachte: ‚Ist das alles?‘ Jawohl, das war alles. Das war die Börse!“173 Diese geradezu gemütliche Stimmung hatte sich nach dem Krieg grundlegend verändert. „Für die Unterordnung aller geistigen Werte unter den Mammon mag man ein Gleichnis darin finden, dass die Ringstraße, diese via triumphales, von Parlament und Rathaus, Burgtheater und Universität flankiert, sozusagen ihren Höhepunkt und Schlusspunkt in der Börse findet. Wer die klassizistische Harmonie des bald fünfzig Jahre alten Hansenschen Gebäudes auf sich wirken lässt, empfindet es als ein bisschen stilwidrig, dass dieses Gebäude von dem nicht gerade harmonischen Geschrei: ‚Ich geb’!‘ und ‚Ich nehm’!‘ heftig gestikulierender und keineswegs klassizistischer Börsen173 Richard Kola, Rückblick ins Gestrige. Erlebtes und Empfundenes, Wien 1922, S. 85/6
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besucher erfüllt ist ... In der Nähe der Börse haben sich alle möglichen Winkelbörsen eingenistet, die sich mit unerlaubtem Effektenhandel befassen. Auch in vielen Kaffeehäusern haben sich solche Winkelbörsen, deren Praktiken meist nur dem sehr gründlich Eingeweihten verständlich sind, angesiedelt ... Während früher für das Steigen und Fallen der Kurse vor allem die politische Lage und die Konjunktur der betreffenden Branche wichtig waren, spielt jetzt der Stand der Valuta die Hauptrolle. Die Entwertung des Geldes bewirkt eine gesteigerte Nachfrage nach Effekten, die dem entwerteten Gelde vorgezogen werden. Folglich gilt hier der Merkspruch: Wenn die Krone fällt, so steigen die Kurse.“174 Wien wurde von einer Spielwut geschüttelt. „Alt und jung, hoch und niedrig, der Moralische und Unmoralische, der Ängstliche und Feurige alle tragen ihre verfügbaren Spargroschen zur Börse, die tagtäglich neu bedruckte Papierstreifen als sogenannte Gewinne aus ihrem glühenden Rachen herausschleudert ... Wer irgendwie Gelegenheit hat, sich gegen die Wertzerstörungen der Notenpresse zur Wehr zu setzen, wer irgendwie Geld zusammenkratzen, Kredit ergattern oder Beziehungen verwerten kann, gibt seinen Radikalismus an ein Bankkonto ab.“ Ein Bankdirektor erzählte, dass er seinen Angestellten erlaubt habe, bei 50-prozentiger Anzahlung mit Effekten an der Börse zu spekulieren. Das habe aber solche Ausmaße angenommen, dass er erhebliche Kürzungen vornehmen musste. „Einige bevorzugte Beamte haben so im Laufe weniger Monate ein Vielfaches ihrer Jahresbezüge verdient, konnten ihre Familienangehörigen in die Sommerfrische senden, verschiedenartige Gebrauchsgegenstände sich anschaffen und besitzen trotzdem eine nicht unbeträcht liche Spekulationsreserve.“ Anlässlich eines großen Scheckbetruges schrieb „Der Morgen“: „In den Organismus der Finanzinstitute hat sich das Schleichhandelsgift tief eingefressen, und daher zeigt es sich, dass diesseits und jenseits des Glaubensufers, bei Jud und Christ, eine rührende Harmonie herrscht. Man hat es eben mit einer allgemeinen Verfallserscheinung der finanziellen Moral zu tun, man sieht von allen Seiten schmierige Hände nach neuem Reichtum haschen, bis endlich ein Hohngrinsen des Betruges dem wüsten Traumspuck ein Ende macht. Wenn dann der Internist gerufen wird, um die besonders kranke Stelle des Wirtschaftskörpers abzutasten, so merkt er natürlich, dass auch die benachbarten Organe nicht ganz in Ordnung sind. Vom Schleichhandelsgeschäft in Devisen, das besonders knifflige Bankbeamte und Bankfunktionäre auf der Hinterstiege und im Nebenberufe betrieben, führt ein schmaler Gang zu den Nostrogeschäften der Banken überhaupt.“ Die Banken hatten dadurch große Mittel in Effekten gebunden. „Aber auch einzelne Bankdirektoren und ihr nächster Hofstaat besitzen ganze Effektenplantagen, 174 Dr. Kurt Sonnenfeld, Rundgang durch die Börse, Wiener Montags-Presse, 16. Mai 1921
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die sie selbstverständlich nicht voll ausbezahlten und deren Durchhaltung namhafte Geldmittel der Banken fesseln.“ Die Differenz zwischen dem niedrigen Leihpreis, den die Bankdirektoren und Bankprokuristen ihrem Institut vergüten und dem nun üblichen Zinssatz von 2 % bis 5 % pro Woche kassierte der Wucher ein.175 „Ein altes Sprichwort sagt: Wenn man nicht steigen kann, so muss man fallen. Und da an der Börse volkswirtschaftliche Lehrsätze gleichgültig sind, verlässt man sich auf Sprichworte.“176 Schriftsteller, Gelehrte und Intellektuelle, die sonst auf das Gewimmel der Habgierigen zürnend herabblicken, studierten jetzt Bilanzen, machten psychoanalytische Studien über den inneren Wert einer Aktie und benützten Kurszettel als Lesezeichen in philosophischen Büchern. „Das Ergötzlichste sind die kleinen Konsortien, zu welcher sich das Büropersonal vieler Firmen plötzlich zusammenschließt. Aus zehn kleinen, verschrumpften Portemonnaies fließen auf einmal 2 bis 3 Millionen, die heute notwendig sind, um ein nicht völlig halbwüchsiges Effekt zu erstehen. Einer aus dieser Gruppe, von dem man annimmt, dass er über den entsprechenden Fonds an Erfahrungen besitzt, wird zum Geschäftsführer bestellt und erhält den ehrenvollen Namen ‚Der Herr Präsident‘ ... Alles spielt. Jeder, der es sich leisten kann, sucht der Geldvernichtung durch eine Hintertüre zu entrinnen, eine Hintertüre, die in der Regel zur Börse führt. Dann sieht man sie tief gebeugt über dem Kursblatte, und eine Vision steigt auf: Ein wirklich tief gebeugtes Volk über dem Kursblatte.“177 Beklagt wurden auch die moralischen Folgen der Inflation, wie sie Hugo Bettauer literarisch beschrieben hatte.178 Aber diese Folgen zeigten sich auch an Details. Ein Kutscher setzte einen Fahrgast bei der Börse ab. „Bei Empfangnahme des Fuhrlohns bat der brave Bändiger von Pferdekräften um einen guten Tipp, worauf ihm der Bankier ein leichtes Papier, etwa vom Range der Depositenbankaktie empfahl. ‚Na, na‘ wehrte der brave Mann aus dem Volke ab, ‚wissen Sie nicht etwas über 100.000 Kronen?‘ Der spekulationslüsterne Chauffeur dürfte, nach seinen Ambitionen zu schließen, schon einige Bankiers bis an die Börsentür geleitet haben.“ Auch Kellner in besseren Kaffeehäusern oder Bars verlangten kein Trinkgeld mehr, sondern einen Börsentipp. „In den Haushaltungen führender Großindustrieller oder Finanziers bringen dienstbare Gei ster nach einem Ausflug zu zärtlichen Verwandten auf dem Lande säuberlich verpackte Notenmassen mit und bitten den Hausherren mit verschämtem Augenaufschlag, irgend 175 176 177 178
Die Nostrospekulation, Der Morgen, 12. Februar 1923 Der Morgen, 22. Jänner 1922 Alles spielt. Das Universalmittel gegen die Teuerung, Der Morgen, 14. August 1922 Hugo Bettauer, Die freudlose Gasse, Wien 1924. Für München gibt es eine umfassende Studie: Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne: München 1914–1924, Göttingen 1998
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ein gutes Börsenpapier hiefür zu kaufen. In Wien liegen in einem Kaffeehaus fünfzig Heller auf dem Fußboden, die der Herr Ober hingeworfen hat, als sie ihm ein Gast als Trinkgeld zu geben wagte.“179 Niemand hob die Münze auf, da ihr Wert zu gering war. Selbst die Zeitung, die das schrieb, kostete das Doppelte. Bei künstlerischen Darstellungen warf man Zigaretten oder ausländische Banknoten auf die Bühne, österreichische Noten wurden ignoriert. Der sterbenden Stadt bemächtigten sich die Spekulanten. „Nachdem die Kriegskaste ganz und gar abgewirtschaftet hatte, drangen in die verfallenden Häuser Männer ein, die aus gewaltigen Spritzern einen Wunderbalsam in die Lüfte verstäubten ... Ein Gezeter und Gejohle von Besessenen entstand fünf Minuten vor dem Hungertod: Börsenfieber.“ Früher war der Handel ein notwendiges Instrument, „das Mittel zum Zweck zu machen, war unserer geistesarmen Zeit vorbehalten. Heute produziert niemand mehr, die Bautätigkeit ruht: man hat sich entschlossen, nicht weiter Probleme zu knacken, und auch die Politik tritt hinter die Kulissen. In der Mitte des Hauptplatzes sitzt ein Spielautomat, der gegen Einwurf einiger Münzen je nach Laune mehr oder weniger Münzen von sich speit.“ Der Handel habe das Gebiet des für den normalen Menschen Vorstellbare verlassen, fern jener Zeit, in der Soll und Haben einander treuhändisch gegenübergestanden waren. Welcher böse Dämon habe die Aktie ersonnen, Pfandbriefe und Obligationen und ihnen Namen gegeben, die erdfern und sinnlos sind? Die Stadt sei in die Hände der Maschinisten gefallen, welche die geheimnisvollen Triebräder der Börse bedienen und alle spielten mit. „Von Hunger gepeinigte Beamte nehmen es auf sich, Verordnungsblatt mit Kursblatt zu vertauschen ... Ein zarter, aber schon erfahrener Doktor der Philosophie, fremder Valuten schwer, vergönnt sich nach einem Gläschen Likör und einer Zigarre noch einige Petroliumaktien zum Nachtisch ... Vom Kaffee- und Teetisch sind längst alle alten Gesprächsstoffe abgeräumt worden. Was schert mich das Liebesverhältnis meines Neffen mit einer Tänzerin? Tante Anna hat jetzt andere Sorgen als Dienstboten und Waschtag und fremder Leute fremde Liebe. Sie hat es den Männern im Pelz abgeguckt, sie kann nun auch schon ihr Geschäftsgesicht aufsetzen ... Auch die Knaben, noch zarten Flaum auf den Wangen, wissen, wo Gott wohnt ... Fußball, Eislaufen? Gewiss, wenn wir Zeit haben. Zuerst das Geschäft, dann das Vergnügen ... Schreiend absolvieren sie ihren Spaziergang. Ihre temperamentvollen Hände streichen erläuternd heraus, beloben die gute Hausse, klopfen auf, wenn es schief geht: Schiebertanz und Jugendspiel ... Die Leute kaufen, scheue Besucher drücken sich die Wand entlang. Gesichter, in denen einmal der Geist wohnte, sind von Zahlen übermalt. Vor dem Geld sind alle Menschen gleich ... Die Börse ist die Kon179 Das Geld am Boden, Der Morgen, 28. Dezember 1919
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sequenz unserer Lebensform, das Börsenfieber die Konsequenz unseres Lebenswillens. Uns geschieht, wie wir es verdienen.“180 Die Kriegswirtschaft hatte mit Milliardenrechnungen vertraut gemacht, und der Frieden ließ alles, was unter sieben Ziffern blieb, als Bagatelle erscheinen. „Die Lumpen dieser Zeit geben sich nicht mit lumpigen Kleinigkeiten ab ... Sie haben nicht die kleinbürger lichen Methoden der Gauner von einst, sie wohnen in vornehmen Hotels, kleiden sich elegant, speisen nach der teuersten Karte, verkehren nur mit Leuten von gleich distinguiertem Zuschnitt und gleich kostspieliger Lebensweise ... Warum lassen sich ganze Schwärme skrupelloser Profitjäger aus allen Weltgegenden gerade auf unserer Ringstraße nieder? Weil Österreich der Kadaver ist, der die Aasvögel anzieht. Aus diesem einfachen Grunde. Weil hier alles faul und morsch ist, weil die Ordnung geschwunden, die Verwaltung unfähig, die Finanzen bankrott sind, weil die Zerrüttung der Valuta und die Unstetheit aller Warenpreise zu den frechsten Spekulationen anreizt, weil auf diesem Markt nichts zu haben und doch alles feil ist, weil der Handel hier zum Schleichhandel, die Börse zur Spielhölle, die Arbeit zur Lotterie und die Geselligkeit zum Dirnenjux geworden ist.“181 Diese Entwicklung führte jedoch auch zu Angst. Der Hexenkessel auf dem Schottenring werde immer aufs Neue mit Illusionen und Währungsangst geheizt.182 „Wenn die Elemente heulen, kann sich gegen ihre Lungenkraft die zarte Stimme der erwägenden Vernunft nicht durchsetzen. Die stürmische Hausse der letzten Tage ist eine restlose Folgeerscheinung der galoppierenden Schwindsucht der Krone ... Die Kurssprünge sind von so gewaltiger Art, dass die Besonnenheit nicht mehr mit kann, dass der Atem stockt und dass man das Empfinden hat, unsere regierenden Kreise seien auf einem Vulkan eingeschlafen.“183 Die Niebelehrten waren wieder bereit, sich von den Nieeingesperrten betrügen zu lassen.184 An die Stelle der früheren Herrschaft mit Säbel und Verordnungen sei nun die neue getreten, welche die Gewalt mittels der Filialen an den belebten Straßenecken ausübt.185 1921 sperrte das Café Fenstergucker in der Kärntner Straße zu, um einer Bankfiliale Platz zu machen. Nach der Zeitung „Der Morgen“ war dies im letzten Jahr an die hundert Mal geschehen und man sprach von einer „Bankenseuche“. Dies wurde vor allem auf die kleinen Börsenmakler zurückgeführt, deren Gewinne die Öffentlichkeit scheuten, nun aber den Mut fanden, sich in vollem Licht zu präsentieren. Wenn man den Umbau und die 180 181 182 183 184 185
Adam, Börsenfieber, Der Morgen, 28. Dezember 1919 Schiebermilieu, Der Morgen, 25. März 1920 Der Sturmlauf der Kurse, Der Morgen, 7. November 1921 Der Sturmlauf der Kurse, Der Morgen, 7. November 1921 Sozialpolitische Wochenplauderei: Die Alpine, Der Abend, 3. März 1921 Der Schrecken der Ziffern, Der Abend, 3. November 1921
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Ablöse mit 5 bis 10 Millionen ansetzte, so waren 1920 eine halbe bis eine Milliarde Kronen dafür ausgegeben worden.186 „Monarchisten und Kommunisten sagen, dass die bürgerliche Republik sich von der Monarchie nur dadurch unterscheide, dass an Stelle eines Kaiserthrones die Throne von Bankdirektoren aufgerichtet wurden ... In der Kaiserzeit war Österreich-Ungarn die Familienplantage der Habsburger, die demokratische Republik Österreich entwickelt sich zur Familienplantage einiger Bankdirektoren ... In Wien gehören gefahrlose Bankgewinne auf Kosten der Bankkundschaft zu den Vorrechten einer Direktorstelle. Kein Potentat lässt sich ohne weiteres eine Schmälerung seiner Einkünfte gefallen.“187 Im September 1921 fanden dementsprechend Demonstrationen „monarchistischer Frontkämpfer“ gegen die Börse statt. „Die Börse, gegen die sich der Hass großer Schichten richtet, ist als Treffpunkt pogromistischer Strömungen vorzüglich geeignet. Für die Börse kann sich keine ehrliche republikanische Hand erheben, Valutenspieler kann keiner ohne Gefahr für die eigene Reputation schützen und die Monarchisten sind weiterer Applaussalven sicher, wenn sie ihr durchsichtiges Spiel beliebig oft wiederholen“, schrieb „Die Börse“.188 Die Zeitung trat daher für eine zeitweise Schließung der Börse ein, um einschneidende Reformen der Devisenordnung durchführen zu können. „Politische und ökonomische Gründe sprechen beredt für den Börsenschluss, dagegen kann sich nur die Angstneurose ob der Verantwortung und der unersättliche Gewinnhunger aussprechen, der vor kleinen Gefahren zurückschreckt, weil er die großen Gefahren nicht sieht.“ Ein besonderer Kurssturz wurde im Dezember 1919 gemeldet: der von Christbäumen. Während vorher unverschämte Preise gefordert wurden, war er nun „fast zu Friedenspreisen“ zu haben. „Die Ursache dieser erfreulichen Erscheinung ist allerdings eine recht traurige. Zum Weihnachtstisch gehört nämlich nicht nur der Baum, sondern auch Kerzen, um ihn zu beleuchten, und allerlei dekorative oder essbare Kleinigkeiten, um die Zweige damit zu behängen. Das alles ist aber so unerschwinglich teuer geworden, dass viele Volkskreise gezwungen sind, auf den Baum zu verzichten, weil sie nichts haben, um die leeren Zweige zu füllen.“ Eine zum Märchen gewordene ökonomische Wahrheit, das Gesetz von Angebot und Nachfrage, sei wieder in Erscheinung getreten. „Den ökonomisch denkenden Geist überkommt ein Gefühl der Trunkenheit, wenn er an die Möglichkeit einer Welternüchterung denkt, an die Möglichkeit, dass es wieder einmal einen gefüllten Markt, eine regelrechte Konkurrenz und eine verständige kaufmännische Rechnung geben wird.“ 189 186 187 188 189
Der Morgen, 23. Mai 1921 Bankendynastien, Der Abend, 3. Jänner 1922 Soll man die Börse schließen?, Die Börse, 26. September 1921 Auch ein Kurssturz, Der Morgen, 25. Dezember 1919
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Die Depositenbank Wenn Castiglioni bei seinem Eintritt in die Bankleitung 1917 vorerst Grenzen gesetzt waren, so konnte er doch die neue Position zur Erweiterung seines Einflusses auf neue Industrieunternehmen nutzen. Dabei kam ihm entgegen, dass die frühere Geschäftspolitik weiter fortgesetzt wurde. Die neue Direktion ging daran, wie „Der Österreichische Volkswirt“ in seinem ersten Bilanzbericht nach dem Führungswechsel feststellte, die Verbindung mit der Industrie mit doppelter Energie auszugestalten und beteiligte sich an einer Reihe neuer Unternehmen sowie an einer Fusion im Budapester Bankwesen. Anstatt die Bank in der Tradition der Ära vor Kranz zu führen, setzte sich während des Krieges die Expansion in großem Maßstab fort, wie kritisch bemerkte wurde. „Dieser Zuwachs an Engagements ist eine Folge der forcierten Angliederung von Industrieunternehmen, die von der früheren Verwaltung eingeleitet und zum Teil erst im abgelaufenen Jahr zur Durchführung gelangt ist ... Ob die Bank an dieser Expansion Freude haben wird, das hängt vor allem von der Entwicklung der allgemeinen Verhältnisse ab ... Die Bankleitung bekundet in ihrem Kommentar große Zurückhaltung bei der Aufzählung dieser Geschäfte ... Das Halbdunkel mag den Interessen der Bank zuträglicher sein, als helles Licht..“ 190 Die erste Kapitalerhöhung 1920 von 150 auf 300 Millionen Kronen war schon von der vorherigen Direktion vorbereitet worden. Freilich fiel ein Hemmnis weg, das bei den meisten anderen Banken eine große Rolle spielte, die Scheu vor „Überfremdung“, vor der Einräumung maßgebenden Einflusses an ausländische Gruppen. „Der aus Triest stammende Präsident der Bank ist Italiener, was ihm sowohl bei der Verwertung seines eigenen durch die Beteiligung an der Kriegsindustrie in außerordentlichem Maße vermehrten Vermögens wie auch bei der Leitung der Bank sehr zugute gekommen ist und Bedenken, dass italienisches Kapital maßgebenden Einfluss auf die Bank gewinnen könne, bei ihm gar nicht aufkommen lässt.“ Bei der außerordentlichen Generalversammlung zur Kapitalerhöhung legte der Direktor Paul Goldstein einen bemerkenswerten Optimismus an den Tag. Er war überzeugt, „dass die Stadt Wien als Handelszentrum eine größere Bedeutung gewinnen wird, als ihr in der alten Monarchie zukam. Wien ist bereits der Umschlagplatz im Warenverkehr mit den Nationalstaaten geworden, und auch für die Balkanländer sowie für den weiteren Orient wird sich der Zwischenhandel zwischen dem Auslande und diesen Ländern in Wien abspielen, wenn es nicht schon jetzt der Fall ist.“ Und er bemerkte mit Befriedigung, „dass die acht Großbanken in dem kleinen Deutschösterreich, welchen man schon vor zwei Jahren vielfach das 190 Der Österreichische Volkswirt, 28. Juni 1919
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Sterbeglöckchen zu läuten versuchte, an Geschäftsumfang um ein Vielfaches zugenommen und auch unsere internationalen Beziehungen eine erfreuliche Ausdehnung genommen haben.“ Seit er die Bank leite, habe sie eine starke Entwicklung genommen, „und seitdem unser verehrter Präsident in unseren Verwaltungsrat eingetreten ist, hat speziell unsere industrielle Tätigkeit einen noch größeren Aufschwung genommen, so dass wir zur Zeit zirka 120 indus trielle Unternehmungen und Geldinstitute kontrollieren ... Wir verfügen zur Zeit über 42 Wechselstuben und Filialen in Deutschösterreich und sind unermüdlich mit dem Ausbau unseres Filialnetzes beschäftigt ...“191 Die Kapitalerhöhung erfolgte im Juni 1920 „unter Mitwirkung einer italienischen Banken- und Industriellengruppe, so Bild 17 „Die Börse“, Wien, 6. Dezember 1921 dass der Bank 250 Millionen Kronen zugeflossen waren“.192 Die Bilanzsumme hatte sich von 1919 auf 1920 verdreifacht, der Reingewinn vervierfacht und die Dividende wurde von 10 % auf 12,5 % erhöht. Die Ausweitung des Konzerns wurde dennoch vom „Österreichischen Volkswirt“ mit Bedenken gesehen. „Aber dieses Eindringen und baldige Wiederveräußern ganzer Unternehmungen, auch wenn es mit großem Gewinn geschieht, macht einen unsteten Eindruck, der kaum das Prestige der Bank hebt.“193 Mit der Kapitalerhöhung 1920 erlangte Castiglioni mit seinen italienischen Partnern die absolute Aktienmehrheit an der Depositenbank. Die Hälfte der neuen Aktien wurde den alten Aktionären und die andere Hälfte der Gruppe der Banca Commerciale Italiana im Verein mit Castiglioni übergeben. Die italienische Gruppe erhielt die Aktien 191 Die Börse, 7. April 1921 192 Die Börse, 19. Mai 1921 193 Der Österreichische Volkswirt, 1921, S. 133 ff.
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zu einem sehr günstigen Kurs, zahlte aber in Lire, was für die Bank von Vorteil war. Die Depositenbank war damit die finanzielle Basis für Castiglioni geworden und als Präsident war er auch ein potenter Ansprechpartner für die Italiener. Sein Aktionsfeld wurde durch die fast ständige Zusammenarbeit mit der Banca Commerciale erheblich erweitert, die versuchte, in den wirtschaftlichen Einflussbereich der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie einzudringen. Gemeinsam mit der Depositenbank gründete sie in Wien 1920 die Exportbank mit einem Kapital von 30 Millionen Kronen. Außerdem beteiligte sich die italienische Gruppe in großem Maßstab an den Geschäften der Depositenbank und eine Reihe von Unternehmungen war bereits in italienische Hände übergegangen. Die zahlreichen Beteiligungen, die Castiglioni mit den finanziellen Mitteln der Bank und seiner italienischen Partner kaufte und verkaufte, können hier nur angedeutet werden. Vor allem stechen die Beteiligungen an Holzunternehmungen hervor, die 1920 bereits ein Kapital von 100 Millionen Lire ausmachten. Diese waren in der „Foresta“ konzentriert, die immer neue ehemalige österreichisch-ungarische Unternehmen aufsaugte, wie die Union-Forstindustrie AG, die der Niederösterreichischen Escomptegesellschaft nahestand, und die Arader Waggonfabrik, die vorher von der Verkehrsbank kontrolliert wurde.194 Der Werdegang der Foresta wurde in der – Castiglioni freundlichen – „Die Börse“ beschrieben. 1905 gründete Aladár Fónagy in Budapest mithilfe einiger befreundeter Holzhändler das Kredit-Institut Ungarischer Holzhändler mit einem Aktienkapital von einer Million Kronen. Trotz aller Krisen, welche die Holzindustrie immer wieder durchmachte, war die kleine Holzbank so erfolgreich, dass sie 1919 ihr Kapital auf drei Millionen erhöhte und im Verein mit der Allgemeinen Verkehrsbank die Finanzierung der Ungarischen Holzhandels AG übernahm. Mit dem Krieg stiegen die Aktien und das Kapital erreichte schon 1917 die Höhe von 40 Millionen. Dabei hatte sie sich weitgehend zu einer Emissionsbank entwickelt, die bereits über 24 Holzunternehmen verfügte und das mitteleuropäische Holzgeschäft überlegen beherrschte. Mit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie kam die Bank in eine Krise. Auch Ungarn zählte zu den Verlierern des Weltkrieges. Die Bank sah sich daher einer weitgehend feindlichen wirtschaftlichen Stimmung im Alt- und Neuausland gegenüber. Dazu kam 1919 die – kurzlebige – Rätediktatur in Ungarn, welche die Geschäftstätigkeit für Aladár Fónagy nahezu unmöglich machte. „Geflüchtet aus dem Ungarn der 194 Die genaue Beteiligung an der Foresta: beschrieben in: Luca Segato, L’Espansione Multinazionale Della Finanza Italiana Nell Èuropa Centro-Orientale. La Banca Commerciale Italiana E Camillo Castiglioni (1919–1924), Società e Storia, Jg. 89, 2000, S. 517–527
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Rätediktatur, traf er mit dem ausgezeichneten Präsidenten der Depositenbank Camillo Castiglioni, zusammen und suchte durch die italienischen Verbindungen dieses hervorragenden Bankmannes das ausländische Kapital für die Holzbankunternehmungen zu interessieren. Der Scharfblick des Präsidenten Castiglioni erkannte sofort, dass ein Zusammengehen mit dem Generaldirektor Fónagy und seinen Unternehmungen eine Vorherrschaft auf dem mitteleuropäischen Holzmarkt, ja sogar auf dem Weltholzmarkt bedeuten würde.“195 So wurden durch Castiglioni und die Banca Commerciale Italiana die „Foresta Societa Anonyma Industria et il Commercio Legnane“ mit einem Aktienkapital von 50 Millionen Lire gegründet. Danach fusionierte die Holzbank mit der ungarischen Landesbank durch Aktientausch zur Ungarisch-Italienischen Bank. Es wurden weitere Unternehmen nicht nur der Holzbranche übernommen, die Reorganisation erfolgte vorerst über die Generaldirektion in Wien, der Sitz der Gesellschaft wurde schließlich nach Mailand verlegt. Bei dieser Gelegenheit legte Fónagy seine Funktion zurück. 1921 wurden die Aktien auch an der Wiener Börse eingeführt.196 Präsident der Ungarisch-Italienischen Bank war nun Camillo Castiglioni, Vize-Präsident Giuseppe Toeplitz, in der Direktion schienen auch die Direktoren der Depositenbank Paul Goldstein und Gabor Neumann auf. Die Errichtung der Ungarisch-Italienischen Bank wurde jedoch von der „Neuen Freien Presse“ etwas anders beschrieben: „Camillo Castiglioni begann seine Tätigkeit in Ungarn mit der Begründung der Flugzeugfabrik in Albertfalva, an der er führenden Anteil genommen hat. Später schuf er eine Interessensgemeinschaft zwischen dieser Flugzeugfabrik und der Lichtig-Möbelfabrik, welche letztere dem Konzern der Agrarbank angehörte. Auf diese Weise gelangte Castiglioni mit der Agrarbank und dessen Generaldirektor Dr. Anton Eber in Verbindung. Dr. Eber führte mit diesem die Fusion der Agrarbank, der Holzbank und der Ungarischen Landesbank die Schaffung der Ungarisch-Italienischen Bank durch. An diesen Transaktionen beteiligte sich auch die Banca Commerciale Italiana. Castiglioni erwarb die Aktienmehrheit der Ungarisch-Italienischen Bank und wurde deren Präsident ... Die bedeutendste Transaktion Castiglionis in Ungarn war die Überführung der zum Konzern der ehemaligen Holzbank ausgedehnten Waldbesitze in die neu gegründete italienische Gesellschaft Foresta. Castiglioni kam nur zu den Generalversammlungen der Ungarisch-Italienischen Bank nach Budapest, wo er im Hause des Generaldirektors Eber mit den Spitzen der Gesellschaft verkehrte.“197 195 Die Börse, 11. November 1920 196 Die Börse, 4. August 1921 197 Der Economist. Die Untersuchungen gegen Castiglioni, Goldstein und Neumann, Neue Freie Presse, 30. September 1924
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Aber auch hier dürfte Castiglioni nicht immer zum Vorteil aller Beteiligten vorgegangen sein. „Die Börse“ warf ihm vor, dass er dieses an sich gut geleitete Unternehmen bei jedem Anlass zu Neuemissionen missbrauchte und aus der Entwicklungsbahn warf. „Camillo Castiglioni hat im Lauf der Jahre von seinen italienischen Freunden die ihnen für gute Lire überlassenen Aktien gegen schlechte ungarische Kronen wieder zurückgekauft ... Ein um sein Geld besorgter Italiener verkaufte Camillo Castiglioni seine ziemlich umfangreiche Position zu sage und schreibe 600 ungarische Kronen, die sich Camillo Castiglioni gnädigst erbötig machte, zwei Monate lang schuldig zu bleiben. Der Kurs der ungarischen Krone fiel in dieser Zeit so sehr, dass der Verkäufer fast nichts mehr dafür bekam ... Was der in Ungarn schwer misshandelte edle Römer Herrn Camillo Castiglioni nachher gewünscht hat, wissen wir nicht, weil unser Gewährsmann des Italienischen zu wenig mächtig ist. Jedenfalls ist jetzt die Aktienfarm Camillo Castiglionis komplett, die Kurse steigen rapid, die letzte Notiz lautete auf über 4.000.“198 Die Ungarisch-Italienische Bank baute ihr Filialnetz aus und die Beteiligung an zahlreichen ungarischen und italienischen Unternehmen. Darunter auch die NeuschloßLichtig Flugzeugwerke und Holzindustrie AG, die ihre Anlagen in Albertfalva erweiterte und ihren Betrieb auf die Herstellung von neuen Industrieartikeln ausdehnte. Die Fabrik war so gut beschäftigt, dass sie ihr Aktienkapital auf 50 Millionen erhöhte, woran auch die Depositenbank teilnahm. „Des weiteren haben wir behufs leichterer Abwicklung des lebhaften Geschäftsverkehres, welchen wir mit Italien unterhalten, vorerst eine Repräsentanz in Mailand in den Lokalitäten der Banca Commerciale Italiana errichtet, welche später unter der Firma Banca Ungaria-Italiana (Italia) in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird. Dieses Institut zählt bereits zu den nennenswerten Faktoren bei der Vertiefung des ungarisch-italienischen wirtschaftlichen Verkehres.“199 Für die Geschäfte im Osten bestand somit die Societa del Credito Commerciale in Mailand, welche die Triester Filiale der Depositenbank erworben hat und dafür Aktien ausgefolgt hatte. An dem Kapital von 20 Millionen Lire waren die Banca Commerciale und die Depositenbank mit ihrem Präsidenten je zur Hälfte beteiligt. Die Gruppe der Banca Commerciale gründete 1920 ebenfalls eine neue Bank in Rumänien, an der sich auch die Depositenbank beteiligte und der sie ihre Filiale in Czernowitz überließ. In Polen war die Depositenbank bei der Bank für Handel und Industrie beteiligt, welche ihre drei galizischen Filialen übernahm. Die Oderberger Filiale der Depositenbank ging an die Bankfirma A.Wechsberg & Co in Mährisch-Ostrau über, welche vorher von der Depositenbank kommanditiert wurde. In den anderen 198 Castiglioni in Ungarn, Die Börse, 31. Mai 1923 199 Der Österreichische Volkswirt, 1920, S. 695
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Nachfolgestaaten der Monarchie hatte die Depositenbank damit keine Filialen mehr, dafür aber große industrielle und kommerzielle Interessen. In der Tschechoslowakei hatte sie zahlreiche industrielle Beteiligungen, vor allem führte sie dort das „Spiritussyndikat“, welches sehr einträglich war und durch den starken Export nach Deutschland große Guthaben in tschechoslowakischen Kronen und Auslandsdevisen erwirtschaften konnte. 1920 waren die Banca Commerciale gemeinsam mit Castiglioni damit an einer Reihe von Banken beteiligt, darunter die Banca Italiana di Credito Commerciale (31 %), Böhmische Unionbank (20 %), Banca Commerciale Italiana e Romena (60 %), Banca Ungaro Italiana (27 %) und die Banca Commerciale Italiana e Bulgara (63 %).200 1920 konnte die Castiglioni-Gruppe die „Clotilde, Erste Ungarische AG für chemische Industrie“ an sich bringen. Diese war ursprünglich vom Wiener Bankverein kon trolliert worden, doch gelang es Castiglioni, unbemerkt die Aktienmehrheit zu erlangen. Der Bankverein blieb allerdings in der Verwaltung der Gesellschaft und behielt auch einen Teil der Bankverbindungen. Die Hauptfabrik befand sich in Nagy-Bocsko, deren staatliche Zugehörigkeit lange umstritten war. Erst Ende Juni 1920 kam der Ort unter tschechische Verwaltung, nachdem er vorher seit 1919 von Rumänien und der Ukraine besetzt war. Die Nationalisierung wurde im Mai 1922 durchgeführt, an der Gründung nahmen neben der Clotilde die sie finanzierenden Banken teil, darunter auch Castiglioni mit der Banca Ungaro-Italiana. Das Aktienkapital wurde von 10 Millionen Kronen 1921 auf 25 Millionen und 1922 auf 50 Millionen erhöht. Die Gesellschaft sollte ursprünglich als Trustgesellschaft fortbestehen, was jedoch fallen gelassen werden musste. Sie konzentrierte sich dann im Wesentlichen auf die Holzdestillation.201 1921 berichtete „Der Abend“ von einem „sonderbaren Geschäft“, bei dem Castiglioni das ehemalige Majestic-Hotel am Schwarzenberglatz 1 um 17 Millionen gekauft habe und nun an die Depositenbank um 80 Millionen Kronen verkaufen wollte, also mit einem Gewinn von 63 Millionen. Die Depositenbank sollte ihren Sitz dorthin verlegen. Doch Castiglioni konnte an dieser Transaktion, „so nennt man nämlich in Bank- und Börsen-Rotwelsch die Geschäfte, die das Licht und den Staatsanwalt zu scheuen hätten, aber nicht zu scheuen haben“, noch wesentlich mehr verdienen. Neben dem Kaufpreis sollen ihm noch die Häuser Schottengasse 1 und Teinfaltstraße 2 übergeben worden sein, in der die Depositenbank ihren bisherigen Sitz hatte. Damit hätte sich der Gewinn auf an die 100 Millionen Kronen erhöht. Es kümmere die Zeitung „Der Abend“ nicht, wie 200 Luca Segato, L’Espansione Multinazionale Della Finanza Italiana NellÈuropa Centro-Orientale. La Banca Commerciale Italiana E Camillo Castiglioni (1919–1924), Società e Storia, Jg. 89, 2000, S. 532 201 Clotilde, Erste Ungarische AG für chemische Industrie, Der Österreichische Volkswirt, 1923, S. 123/4
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Castiglioni den Aktionären, die ihm das Vertrauen geschenkt haben „die Haut über die Ohren zieht, aber es zeige die Sozial- und Sittengeschichte, wie man Milliardär wird und wie nützlich es ist, Milliardär zu sein“.202 Da die geplante Transaktion in die Öffentlichkeit gelangt war, musste man davon Abstand nehmen und dementierte diese „Transaktion“. Castiglioni schlug dann vor, dass die Depositenbank das Haus am Schwarzenbergplatz von ihm miete, dem widersetzte sich aber einer der Direktoren der Bank, so dass auch dieser Plan aufgegeben wurde. Dieser Direktor gehörte danach nicht mehr der Leitung der Bank an, aber Castiglioni hatte zwei „gestrandete Kaperschiffe“, wie sich „Der Abend“ ausdrückte.203 Im Februar 1921 wurden die Ternitzer Stahlwerke, die im Privatbesitz des Hauses Schoeller waren, in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Das Kapital wurde mit 30 Millionen Kronen festgesetzt, 15 Millionen brachte Schoeller in Form des Sachvermögens ein, 15 Millionen Castiglioni mit seinen italienischen Freunden und vier Großbanken mit einem nicht erheblichen Agio, obwohl das Aktienkapital für die damalige Zeit nicht sehr hoch erschien. Angeblich war das Werk aber mehrere Hundert Millionen wert. Der Grund für die niedrige Bewertung wurde in der 5-prozentigen Gebühr, die bei einer Umwandlung eines Privatunternehmens in eine Aktiengesellschaft an das Finanzamt abzuführen war, gesehen. Diese betrug nun lediglich 1,5 Millionen Kronen und wäre bei richtiger Bewertung ein Vielfaches gewesen. Dieses Geschäft war zuerst der Bodenkreditanstalt angetragen worden: „Herr Sieghart hat aber abgelehnt; nicht etwa wegen moralischer Bedenken, er hat sich vor dem Skandal gefürchtet.“ Die Dimension dieser Steuerhinterziehung zeigte sich bei einem Brand im Werk am 10. März 1921, der einen Schaden von 30 Millionen Kronen anrichtete. Dabei war nicht das ganze Werk abgebrannt, sondern nur ein geringer Teil der Anlage. Der Skandal lag vor allem in der Genehmigung dieser Transaktion. „Es ist jetzt anders geworden im Finanzministerium. Dafür haben sich auch die Übertritte von Beamten dieses Ministeriums in den Handel und in die Privatindustrie gehäuft. Aus schlecht bezahlten Beamten werden Verwaltungsräte und Direktoren mit Millioneneinkünften.“204 Die neue Aktiengesellschaft führte in der Folge mehrere Kapitalerhöhungen durch, bereits zwei Monate nach Gründung auf 100 Millionen Kronen und bis 1922 auf 300 Millionen Kronen. Castiglioni, schrieb ein Kritiker, betrachtete jede Gesellschaft, deren Aktien er erwerben konnte, „wie ein Fuchs das Huhn betrachtet, das ihm über den Weg läuft“.205 202 Der Abend, 29. Dezember 1920 und 4. Jänner 1921 203 Der Abend, 29. Jänner 1921 204 Der Abend, 17. und 22. März 1921 205 Martin Rathsprecher, Porträt Camillo Castiglioni, Tagebuch, Wien 24. Oktober 1953
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Das Gründen, Kaufen, Verkaufen und Fusionieren waren das eigentliche Geschäft Castiglionis, hier lebte er auf und war den anderen zumeist einen Schritt voraus. Der Hintergrund war aber nicht nur die Neuorientierung der Banken und Industrie nach dem Auseinanderfallen der österreichisch-ungarischen Monarchie, sondern die Inflation in den meisten dieser Länder, deren wirtschaftliche Zukunft noch unsicher war. Die Expansion des Geschäfts stand daher auf einem schwachen Boden und es fehlte nicht an warnenden Stimmen. Die Depositenbank war weitaus die unternehmendste Wiener Bank, schrieb „Der Österreichische Volkswirt“ 1920. „So wie ihr Präsident selbst hat sie es verstanden, alle die Möglichkeiten, die die Kriegskonjunktur und ihre Liquidation wagemutigen Unternehmern so reichlich geboten hat, in vollen Zügen auszunutzen. Aber es sind doch meist Unternehmungen, die zu den hohen Preisen, die die Geldentwertung hervorruft, erworben oder geschaffen worden sind, und mögen auch aus dem Kauf und Verkauf von ganzen Unternehmungen, den die Depositenbank gerne betreibt, und aus anderen Transaktionen, die der Auflösungsprozess der Volkswirtschaft ermöglicht, große Gewinne fließen, der alte solide Reichtum der aus abgeschriebenen Fabriken, aus den Mehrwert der Preisumwälzung als latente Reserve führen, ist es nicht und auch die erstklassige vornehme Kundschaft, die die alten Großbanken haben, kann die Depositenbank nur allmählich erwerben. Die Probe auf ihre Prosperität wird die Bank daher erst abzulegen haben.“206 Da die Depositenbank bereit war, für jedes Unternehmen höhere Preise zu zahlen als andere Banken, hatte sie teils die Kontrolle, teils Beteiligungen an einer großen Zahl von Unternehmungen erworben, die bisher zum Konzern anderer Banken gehörten. „Solange die Geldentwertung andauert und die Gewinne vieler Unternehmungen maßlos sind, können die Gefahren der wagelustigen Geschäftsmethoden nicht in Erscheinung treten, ja wenn die Konjunktur lange genug anhält, kann man die hohen Einstandspreise aus den Gewinnen abschreiben, so dass die Gefahren endgültig beseitigt werden, vorausgesetzt, dass zur rechten Zeit mit dem Zusammenraffen von Unternehmungen zu hohen Preisen Einhalt geboten wird ... Der Depositenbank kommt auch zugute, dass sie selbst an den Unternehmungen und den Krediten gewöhnlich nur mit einem verhältnismäßig bescheidenen Kapital beteiligt bleibt, während der größere Teil von dem Präsidenten und seinen Freunden und anderen Banken beigestellt wird, während ihr große Gewinne aus der Erweiterung ihrer Kundschaft und der Führung der Syndikate zufallen.“207
206 Der Österreichische Volkswirt, 1920, S. 484/5 207 Der Österreichische Volkswirt, 1920, S. 143
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Der Coup gegen Castiglioni Die Ära Castiglioni in der Depositenbank dauerte von 1917 bis 1922 und war mit einer außerordentlichen Ausdehnung der Geschäftstätigkeit verbunden. Während die Bank vorher auf industriellem Gebiet nur in geringem Umfang tätig war, kam mit Castiglioni eine große Zahl von Industrieunternehmen in die Interessensphäre der Bank, was eine Steigerung des Kapitalbedarfs bedeutete. Das Kapital war von 1917 bis 1922 von 80 Millionen auf eine Milliarde Kronen erhöht worden und die Bank verfügte nun über 59 Filialen und Wechselstuben und war an etwa 80 Unternehmungen beteiligt. Die rasche Expansion war aber nicht mit dem entsprechenden Ausbau des Kontrollapparats verbunden, es gab Unregelmäßigkeiten in den Filialen und deren Direktoren waren am Gewinn beteiligt, was zu recht gewagter Geschäftstätigkeit führte. Die besondere Geschäftspolitik der Depositenbank unter Castiglioni wurde aber auch kritisch beschrieben: „Herr Castiglioni hat sich überraschend schnell in seine neue Stellung als Finanzmann hineingefunden. Mit seinem Eintritt in die Depositenbank kam eine neue Note in das Wiener Bankwesen. Nie zuvor hat sich eine Bank mit ähnlichem Vermögen in eine Flut von Geschäften gestürzt, nie zuvor hat eine Bank in ähnlichem Tempo ihr Aktienkapital erhöht ... Immerhin hat selten eine Bank einen Teilnehmer gefunden, der sich mit seiner ganzen Kapitalkraft so bereitwillig in ihre Dienste gestellt hätte, der eine so lichte Hand in Geschäften besaß und zu jedem Unternehmen ohne viel Überlegung bereit war ... Das Übergewicht eines Großaktionärs in einer Bank und noch dazu eines so vielseitigen und unternehmungslustigen hat freilich auch seine Kehrseite ... Für eine Bank mag es gewiss von Vorteil sein, eine starke Kapitalkraft hinter sich zu haben, die ihr das Risiko ihrer Unternehmungen zu tragen hilft. Aber nur zu leicht verschieben sich die Rollen und oft ist der Großaktionär nicht mehr der Kompagnon der Bank, sondern die Bank der Kompagnon des Großaktionärs. Und ist dieser Großaktionär gar ein Mann von noblen Allüren, der lebt und leben lässt, der freigiebig seine Mitarbeiter, Geschäftsfreunde und Bekannten, ja sogar Schmeichler und Bewunderer bedenkt und sie an den Geschäftserfolgen der Bank teilnehmen lässt, dann sinkt der Minderheitsaktionär zu einer bloßen Staffage herab und muss sich mit den Brosamen begnügen, die von der reich besetzten Tafel abfallen. Es ist bekannt, dass die Direktoren, Sekretäre und Prokuristen bei keiner Bank so glänzend gestellt sind wie bei der Depositenbank. Und wenn man sich wundert, dass die Aktien einer so überaus rührigen Bank niedriger stehen als die Aktien der meisten anderen Banken, so ist dies nur zu verständlich, wenn der Aktionär sieht, in welchem Missverhältnis seine Dividenden zu dem Vermögen stehen, die die Funktionäre der Bank anzusammeln in der Lage sind.“ 208 208 Abgedruckt in: Montagszeitung, 31. Oktober 1921
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Doch nicht immer kam Castiglioni an Dümmere und Schwächere.209 Am 11. März 1922 berichtete „Der Österreichische Volkswirt“ von einem Majorisierungsversuch bei der Depositenbank. Die Öffentlichkeit war durch eine Erklärung Castiglionis aufmerksam geworden, dass er die Majorität fest kontrolliere. Im Zuge der laufenden Kapitalerhöhung der Bank habe eine Finanzgruppe den Versuch gemacht, die Mehrheit der Aktien und damit die Herrschaft über die Bank an sich zu bringen. Der Versuch sei jedoch gescheitert und die Steigerung des Aktienkurses sei zurückgegangen, da die großen Aktienkäufe aufgehört hatten. Die Aktion war von dem Holzindustriellen Oskar von Körner und seiner Gruppe ausgegangen, die 300.000 bis 400.000 Aktien an sich gebracht hatten. Das war bei einer Aktienzahl von 1.875.000 immerhin eine ansehnliche Minderheit. „Was die Körnerguppe zu dem Majorisierungsversuch veranlasst hat, welcher von vornherein nicht sehr aussichtsreich schien, ist nicht ganz klar, er erklärt sich wohl aus dem Bestreben dieser Gruppe, für ihren ausgedehnten industriellen Konzern über eine eigene Bank zu verfügen. Bisher ist der Körnerkonzern in Deutschösterreich bankpolitisch obdachlos.“ Vor einiger Zeit war es zwar Körner gelungen, sich in Besitz der Konzession einer Kredit- und Escomptegesellschaft zu setzen, die einer mittellosen Gruppe von christlichsozialen Parteileuten gewährt worden war. Die Konzession ließ sich aber nicht verwerten, da das Finanzministerium die Kapitalerhöhung von 80 auf 200 Millionen verweigerte. Das mag Körner veranlasst haben, in eine bestehende Bank einzudringen.210 Man kenne jedoch die außerordentlich starken finanziellen Mittel Castiglionis und wisse, dass er stets als Exponent der Banca Commerciale Italiana gelte. „Freilich wurde auch von starken Interessensgegensätzen zwischen Castiglioni und dem in Konzernunternehmungen der Depositenbank tätigen Großindustriellen Drucker, sowie zuweilen auftauchenden größeren Meinungsverschiedenheiten zwischen Castiglioni und dem Vizepräsidenten der Depositenbank Goldstein gesprochen. Unstimmigkeiten, die vielleicht die Stellung Castiglionis innerhalb der Depositenbank zu schwächen und Versuche, ihn aus dem Institut herauszudrängen, zu fördern geeignet sein können.“ Was von der Bank umgehend dementiert wurde.211 Das Konsortium sollte jedoch einige der Direktoren und Großaktionäre der Bank für sich gewonnen haben. „Es handelt sich darum, die Machtbefugnisse des gegenwärtigen Präsidenten einzuschränken oder ihn, wenn möglich, von seiner Stelle zu beseitigen.“ Dass es zu einem Kompromiss gekommen sei, wonach Castiglioni seine Stelle 209 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 282 210 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 140 f. 211 Castiglioni und die Depositenbank, Wiener Blatt, 13. März 1922
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in zwei Monaten verlassen würde, wurde von der Bank dementiert. Dieser Kampf der „Haifische“ war für die Zeitung „Der Abend“ einmal mehr ein Beispiel, wie es in diesen Kreisen zuging. „Im Fall der Depositenbank scheint eine Gruppe von Direktoren, die gleichzeitig Großaktionäre und selbst Großgeschäftemacher für eigene Rechnung sind, Herrn Castiglionis Appetit im Laufe der Zeit zu groß geworden sein. Sie fühlen sich in ihrem eigenen Anteil verkürzt. Sie vereinigen sich daher mit dem bereits genannten Herrn Körner, einem Holzindustriellen, dessen Geschäfte so umfangreich geworden sind, dass er über eine eigene Bank verfügen will. Hinter der ganzen Gesellschaft soll die Kommerz- und Privatbank Berlin stehen ... Die Gruppe Körner hat aber ihre Absichten, in der Depositenbank ein maßgebendes Wort dreinzusprechen, nicht aufgegeben, und arbeitet jetzt, wie in Börsenkreisen mit Ergötzen erzählt wird, da ihr das Kleingeld ausging, mit Moral. Sie wirft ihm vor, dass er als Präsident der Depositenbank diese seinerzeit gezwungen habe, mit ihm einen Syndikatsvertrag zu schließen, wonach der Herr Präsident allein mit 30 v. H. an allen Geschäften der Bank beteiligt ist, dass er darüber hinaus die großen Mittel der Bank zu Privatgeschäften benütze, deren Nutzen ausschließlich ihm allein zufalle, und sie soll auch über ‚Material‘ verfügen, aus dem angeblich hervorgeht, dass Castiglioni dies alles nicht genügte und er sich darüber hinaus Vorteile zu sichern wusste. Die Reiniger der Depositenbank sind bereit, nur dann weiterhin die Augen zuzudrücken, wenn Herr Castiglioni sie in Zukunft entsprechend am Gewinn beteiligt.“212 Die Vermutung, dass Herr von Körner die ganze Aktion organisiert hatte, bestätigte sich aber nicht. „Die treibenden Personen bei der ganzen Affäre waren vielmehr eine Gruppe von Industriellen aus dem Konzern der Depositenbank selbst, die allerdings Herrn von Körner als Mitstreiter gewann.“213 Und wenn es auch persönliche Differenzen innerhalb der Direktion gab, so erklärte sich diese – und vor allem Vizepräsident Goldstein – im kritischen Augenblick mit ihrem Präsidenten solidarisch. Die neue Gruppe konnte das Bezugsrecht auf die neuen Aktien ausüben und besaß nun ein Paket von 550.000 Stück gegenüber 1.090.000 der Castiglioni-Gruppe, bei einem Gesamtkapital von 2,5 Millionen Aktien. Wenn eine solche Opposition von der Bank nicht ignoriert werden konnte, so war damit Castiglioni nicht aus dem Sattel zu heben. Allerdings wäre es möglich, „Herrn Castiglioni freiwillig zum Verzicht auf die Präsidentschaft der Bank zu veranlassen, zumal er sich mit ähnlichen Absichten bereits seit längerer Zeit tragen soll ...“. „Der Österreichische Volkswirt“ warnte aber davor, ihn mit Gewalt aus der Bank zu verdrängen, da damit die Bank selbst in Gefahr kommen würde. „Denn es 212 Kämpfende Haifische, Der Abend, 14. März 1922 213 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 147
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ist nicht so, dass die Depositenbank das Fundament für den Aufstieg des Herrn Castiglioni gebildet hat, vielmehr war er es, der der Bank die Verbindungen mit dem großen, aus den ersten Industrieunternehmungen Deutschösterreichs gebildeten Konzern zubrachte, der unter seine Kontrolle geraten ist. Geht Herr Castiglioni und nimmt diesen Industriekonzern mit sich, dann bleibt von der Bank eine Hülse ohne Inhalt, an der die siegreiche Aktionärsgruppe wahrscheinlich nicht viel Freude hätte.“214 Daraus erklärte sich auch die Verhandlungsbereitschaft, um zu einem Kompromiss zu kommen. Am 19. April 1922 verkündeten die Zeitungen, dass Castiglioni – einen Monat nach der Generalversammlung – von seiner Stelle als Präsident der Depositenbank abdanke. „An seine Stelle tritt der bisherige Generaldirektor der Bank, Paul Goldstein, als Vizepräsident sind in Aussicht genommen Baurat Sachsel und der Direktor der Depositenbank Adolf Drucker. Letzterer ist der Hauptinhaber der Holzmanufaktur ‚Home‘, die aus einer Büromöbelfabrik entstanden ist, nachdem diese in den Kriegsjahren durch die Erzeugung von Munitionsverschlägen unter besonderer Protektion des Dörrgemüse-Erzherzogs Leopold Salvator unermessliche Kriegsgewinne hatte machen können. Der andere Vizepräsident Saxl ist ein Häuserspekulant, von dem erzählt wird, dass er vor nicht ganz zwei Jahren der tschechischen Regierung das Cumberland-Palais in Penzing mit einem Nutzen von mehreren Dutzend Millionen verkaufte. Der neue Präsident Paul Goldstein gilt als kommerzieller Fachmann auf dem Gebiete des Metallhandels, ein ansehnlicher Teil seines Vermögens geht aber auf die Erfolge bei der Lieferung von tschechischem Spiritus an das Ausland, insbesondere Österreich, zurück.“215 Da Castiglioni angeblich kein Freund von dramatischen Aktionen war und ihm Verhandlungen besser zusagten als der Kampf, besonders wenn dessen Ausgang zweifelhaft war, so ging er freiwillig und ließ sich seinen Austritt gut bezahlen.216 Die Castiglioni-Gruppe gab nun 700.000 Aktien zum Kurs der letzten Emission von 3.000 Kronen an die neue Gruppe ab, die aus dem Holzindustriellen Adolf Drucker, Baurat Sachsel, dem Inhaber der Feldbahn- und Maschinenfabrik Lehmann & Leyer, Oskar von Körner und dem Textil- und Maschinenindustriellen Baron Kohorn aus Chemnitz bestand. An der Finanzierung der notwendigen zwei Milliarden Kronen, nicht aber am Aktienkapital, waren die Kommerz- und Privatbank in Berlin und der Chemnitzer Bankverein beteiligt. Oskar von Körner überließ schließlich seinen Aktienbesitz den übrigen Kon214 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 147 215 Rücktritt Castiglionis, Der Abend, 19. April 1922 216 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 282
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sorten und schied aus jeder Kombination mit der Depositenbank aus. Die CastiglioniGruppe behielt weiter 300.000 Aktien und war durch den bisherigen GeneraldirektorStellvertreter Gabor Neumann in der Bank weiter vertreten. Dieser trat aus der Bank aus und zog in den Castiglioni-Konzern als Generalbevollmächtigter ein. Der Ungar Gabor Neumann, der noch eine große Rolle spielen sollte, begann seine Laufbahn bei der Budapester Zentral-, Handels- und Industriebank. Durch Fusion gelangte er zur Ungarischen Landesbank und nachdem diese in der Ungarisch-Italienischen Bank aufgegangen war, berief ihn Castiglioni zur Depositenbank.217 „Die Börse“ begründete den Rücktritt Castiglionis damit, dass er sich auf seinen Industriekonzern konzentrieren wolle und dass die enge Verbindung mit nur einer Bank sowohl für ihn selbst als auch mit industriellen Interessen oft zum Konflikt geführt hat.218 „Personenkrisen, die natürlich nicht rein persönliche Krisen sind, haben sich gerade bei dieser Bank, seitdem sie aus dem jahrzehntelangen Schlaf erwacht ist, besonders gehäuft und als letzte Ursache wird man den Umstand ansehen müssen, dass sie immer wieder von einem Großaktionär beherrscht war, der selbst große Finanzgeschäfte gemacht hat“, schrieb „Der Österreichische Volkswirt“. Obwohl man nicht verkennen könne, „dass, wie immer man sich zu den Geschäftsmethoden des Herren Castiglioni stellen mag, die heutige Bedeutung der Bank zum großen Teil das Werk ihres bisherigen Präsidenten ist, der ihr die Bankverbindungen mit den zahlreichen und führenden Industrieunternehmungen, die seinem Konzern im Laufe weniger Jahre anzugliedern verstanden hat, verschafft hat.“ Das wäre anzuerkennen, auch wenn man „ein derartiges Verhältnis des Präsidenten zu seiner Bank, bei dem wohl die größten Finanzierungsgewinne in erster Linie dem Präsidenten zugefallen sind, während die Bank für den Kreditbedarf der Unternehmungen, an denen sie mit geringem Aktienbesitz beteiligt war, zu sorgen hatte, als fehlerhaft und geradezu unstatthaft bezeichnen muss ... Dass der Präsident die Bank als seine Bank angesehen hat und dass die Direktion daher unter einem Druck stand, den sie schon persönlich auf die Dauer schwer ertragen haben mag, auch wenn nicht sachliche Differenzen auftraten, ist von vornherein leicht verständlich.“ Paul Goldstein dürfte es daher nicht unangenehm gewesen sein, als die Industriellen, mit denen er befreundet war, den Aktienankauf vornahmen. Zumal ihm Castiglioni schon im Sommer 1921 gesagt haben soll, dass er wegen der unmäßigen Arbeitsbelastung die Präsidentschaft nur mehr höchstens ein weiteres Jahr ausüben wollte. Allerdings musste es noch weitere Gründe für den Rücktritt 217 Der Economist. Die Untersuchungen gegen Castiglioni, Goldstein und Neumann, Neue Freie Presse, 30. September 1924 218 Die Börse, 20. April 1922
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geben. Denn es „wäre die Führung einer Bank auf die Dauer gegen eine Minderheit, die etwa 20 % des Aktienkapitals vertritt und mit dem Vizepräsidenten der Bank eng befreundet ist, nicht möglich und es mag sein, dass Herr Castiglioni es vorgezogen hat, auszuscheiden, ehe er sich zu einem Ausgleich durch Aufnahme einiger Vertreter der Minderheitsgruppe verstanden hätte, ein Ausgleich, der doch nur die Position der Minderheit gestärkt und ein dauerndes einträchtiges Zusammenarbeiten nicht gewährleistet hätte.“ Doch es mussten auch sachliche Gründe eine Rolle gespielt haben. „Es scheint, dass die erwähnte Behandlung der Finanzgeschäfte des Herrn Castiglioni, bei denen die Depositenbank nur mit kleinen Quoten, oft mit kleineren als die anderen zugezogenen Banken, beteiligt war, und auch andere Vorkommnisse, bei denen der Präsident sein Interesse zu stark gegenüber der Bank zu wahren suchte, Vorkommnisse, die bei Bestand einer Fronde leicht in der Generalversammlung und in der Öffentlichkeit zur Sprache gebracht worden wären, die gütliche Auseinandersetzung aller Teile wünschenswert erscheinen ließ.“ Ob die Bank durch den Eigentumsübergang gewonnen hatte, konnte aber in Zweifel gezogen werden. „Es wird sich bald zeigen, ob die viel angefochtene Persönlichkeit des bisherigen Präsidenten trotz des internationalen Namens, den er sich als erfolgreichster Finanzmann Deutschösterreichs gemacht hat, für das Prestige der Bank von Bedeutung war. Einen Gewinn für die Bank kann man in dem Regimewechsel vorläufig kaum erblicken, so wenig der bisherige Präsident das Ideal eines Bankpräsidenten gewesen sein mag, zumal unter den neuen Männern keiner ist, der durch Namen und Ansehen das Prestige der Bank zu erhöhen vermöchte. Vor allem aber leidet die neue Konstruktion an den Fehlern der alten. Wieder ist eine beherrschende Großaktionärsgruppe vorhanden ...“ Und es sei für die Allgemeinheit nicht gleichgültig, ob eine Großbank „alle paar Jahre einer tiefgehenden Änderung ihrer Stellung und Geschäftspolitik ausgesetzt ist, weil es einigen reich gewordenen Industriellen gelingt, Einfluss auf die Bank zu gewinnen“.219 Der laufende Syndikatsvertrag, der die Regelung der Bank- und Kreditverbindung mit dem Castiglioni-Konzern beinhaltete, wurde um zehn Jahre verlängert. Die Beziehungen der Depositenbank zu den zum Castiglioni-Konzern gehörigen Unternehmen blieben vorläufig unverändert und es wurde versichert, dass sie reibungsloser geworden seien als zur Zeit der Kämpfe. Paul Goldstein wies in einem Interview auf das weiterhin gute Verhältnis zu Castiglioni hin. „An unseren persönlichen Beziehungen hat der berufliche Konflikt nichts geändert. Castiglioni weiß, wie sehr ich seine Energie, seinen Scharfblick, seine staunenswerte Arbeitskraft schätze, und es wird meiner Frau und mir immer ein Vergnügen sein, unseren gesellschaftlichen Verkehr mit ihm und seiner entzückenden 219 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 713–715
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jungen Frau, Iphigenie Buchmann, in herzlicher Weise fortzusetzen.“ Schließlich habe er ihn 1917, als dieser noch kein bedeutendes Vermögen hatte, in die Bank gebracht, mit seiner Hilfe wurde er zuerst Mitglied des Exekutivkomitees, dann Vizepräsident und schließlich Präsident. „Eine Fortsetzung unserer gemeinsamen Tätigkeit in der Depositenbank war allerdings durch die sachliche Spannung zwischen uns sehr erschwert. Castiglioni ist bekanntlich eine ausgeprägte Herrennatur, und während sich beispielsweise Dr. Karl Marek als Präsident mit den repräsentativen Funktionen begnügt hatte, versuchte Castiglioni, die Führung der Bank gänzlich an sich zu reißen und entscheidend auf die Direktoren einzuwirken, während ich als Generaldirektor es mir nicht gefallen lassen konnte, die volle Bild 18 Verantwortung zu tragen, ohne die Möglichkeit zu „Die Stunde“, Wien, 30. September selbständiger und einheitlicher Leitung der Bank zu 1924 haben. Die Direktoren wussten nicht, ob sie den einander häufig widersprechenden Dispositionen des Präsidenten oder des Generaldirektors folgen sollten, was oft zu peinlichen Auseinandersetzungen führte.“220 Die Zeitschrift „Die Börse“ bezeichnete seinen Abgang als großen Verlust, da er viele Geschäfte vermittelt habe und die Bank „im Zustand voller Aktivität“ verließ.221 Allerdings schuldete Castiglioni bei seinem Ausscheiden der Depositenbank 819 Millionen Kronen, die er erst später in entwerteten Kronen zurückzahlte. Das Kapital und die Reserven betrugen zu dieser Zeit 2,5 Millionen Kronen, was zeigt, wie stark Castiglioni die Bank für seine eigenen Geschäfte herangezogen hatte.222 Castiglioni soll nun 81 Verwaltungsratsmandate zurückgelegt haben. Bereits im März 1922 hatte es Gerüchte gegeben, dass Castiglioni eine Reihe von Verwaltungsratsposten zurückgelegt habe. „Darin wollte man in manchen finanziellen Kreisen sogar den Ausdruck einer gewissen 220 Paul Goldstein, Der Konflikt mit Castiglioni, Wiener Journal, 7. Mai 1922. „Die Börse“ (15. Juli 1922) bezeichnete Paul Goldstein als die „sympathischste Figur“ der neuen Gruppe. Er kam aus der oberschlesischen Holzindustrie und habe sich durch die Schaffung einer neuen Form von Arbeiterkolonien einen ehrenvollen Namen gemacht, 1907 gründete er mit seinem Schwager Dr. Lowitsch eine Zinkhütte in Trebinja und 1910 übernahm er die Leitung der Wiener Metallfirma Josef Rosenberger, bevor er als Industriedirektor 1917 in die Depositenbank kam. 221 Die Börse, 20. April 1922 222 Karl Ausch, Als die Banken fielen. Zur Soziologie der politischen Korruption, Wien 1968, S. 159/60
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‚Wienmüdigkeit‘ Castiglionis erblicken, während andere, dem Präsidenten Castiglioni nahestehenden Seiten diesen Schritt damit begründeten, dass Castiglioni durch seine weit verbreiteten Interessen und durch die starke Inanspruchnahme seiner Zeit einfach physisch nicht in der Lage sei, auch nur den Verwaltungsratssitzungen dieser Unternehmungen beizuwohnen, geschweige denn ihrer geschäftlichen Entwicklung das nötige Augenmerk zuzuwenden.“223 Nach dem Ausscheiden Castiglionis aus dem Verwaltungsrat der Depositenbank 1922 blieb seine wirtschaftliche Position zwar weitgehend intakt, die politische Unterstützung innerhalb des bürgerlichen Lagers dürfte jedoch wesentlich gelitten haben. „Herr Castiglioni hat sich in der Wiener Finanzwelt bisher nicht durchsetzen, zumindest nicht jenes Maß an Beachtung gewinnen können, das sein Ehrgeiz anstrebt. Er hat geglaubt, die Depositenbank durch seine Beziehungen zu italienischen Finanzkreisen und durch rasche Kapitalerhöhungen an die erste Stelle der Wiener Banken zu rücken und musste sich zu seiner schmerzlichen Enttäuschung überzeugen, dass man eine Bank nicht aufbauen kann wie ein Haus, indem man Stockwerk auf Stockwerk setzt, sondern dass eine Bank organisch wachsen und sich ihren Rang und ihre Stellung in jahrelanger, mühseliger Arbeit erobern müsse ... Auch die Depositenbank musste sich mit dem ihr von der Vorsehung zugewiesenen Platze begnügen und alle ihre Bemühungen, durch Aktienkäufe in die industrielle Domäne der Großbanken eine Bresche zu schlagen, verschafften ihrem Präsidenten Verwaltungsratsstellen neben den Funktionären anderer Großbanken, aber nicht die so heiß ersehnte finanzielle Ebenbürtigkeit. Das ist der große Schmerz, der an seinen Nerven nagt. Denn da der volle Geldsack nachgerade aufgehört hat, seinen Ehrgeiz zu befriedigen, braucht er die stärkeren Emotionen des Erfolges, des Ruhms, der Bewunderung und Anerkennung ... Herr Castiglioni ist gewiss ein Mann, dem Fähigkeiten nicht abzusprechen sind, obwohl es nicht gerade klug von ihm ist, dass er in diesem bettelarmen Staat das Leben eines Grandseigneurs führt.“ Mit den führenden Persönlichkeiten Österreichs oder Deutschlands ist er dennoch nicht in einem Atemzug zu nennen. „Zu wirklicher Größe fehlt ihm bei aller großartigen Unternehmungslust doch die tiefere Sachlichkeit, die industrielle Erfahrung, das Verwaltungstalent ... Die Depositenbank ist gewiss eine große Bank, aber sie ist noch immer keine Großbank und wenn sich einmal eine Krise, die nicht ausbleiben kann, die Spreu vom Weizen trennen sollte, dann wird sich erst zeigen, wer den Stürmen besser gewachsen ist, ob die Banken mit solidem Unterbau oder die hoch in die Lüfte ragenden Neubauten.“ 224 Die Depositenbank kam aber auch nach dem 223 Castiglioni und die Depositenbank, Wiener Blatt, 13. März 1922 224 Abgedruckt in: Montagszeitung, 31. Oktober 1921
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Führungswechsel nicht zur Ruhe. Im Jänner 1923 stieg der Kurs ihrer Aktien erneut an, da es Gerüchte um Majorisierungsbestrebungen gab, die Kurse bröckelten aber wieder ab, als es hieß, der Kampf habe sein Ende gefunden.225 Entgegen den ursprünglichen Absichten kam es auch bald zur Auflösung der gemeinsamen Syndikatsgeschäfte: „Die Depositenbank hat ihre Beziehungen zu ihrem früheren Präsidenten Camillo Castiglioni auf freundschaftlichem Wege gelöst. Bei diesem Anlasse gelangten nicht weniger als 87 Syndikatsbeteiligungen zur Glattstellung. Diese enorme Zahl eröffnet direkt Unendlichkeitsperspektiven auf die ungeheueren Gewinne, die aus der bunten Fülle der Syndikatsgeschäfte herrührten.“226 Dabei verkaufte die Depositenbank auch ihren Anteil an der Export- und Industriebank AG, die je zur Hälfte von ihr und der Gruppe Castiglioni gehalten wurden an Castiglioni.227 Bis 1922 wies die Depositenbank unter den Wiener Mittelbanken die höchsten Zuwächse an Aktienkapital, der Bilanzsumme und den Erträgnissen auf. Ihre Bilanzsumme betrug an die 40 % der Niederösterreichischen Escomptegesellschaft. Das Aktienkapital war 1922 von 750 Millionen auf 7.500 Millionen gestiegen. Die Depositenbank hat im März 250 Millionen Kronen neue Aktien, davon die Hälfte an die Aktionäre zu 750 % und im Oktober weitere 500 Millionen zur Gänze an die Aktionäre zu 2.500 % begeben und dann das Aktienkapital auf den fünffachen Betrag aufgestempelt.228 Bei der 51. ordentlichen Generalversammlung im Juni 1923 wurde eine weitere Kapitalerhöhung auf 10 Milliarden Kronen beschlossen. Der Bruttogewinn war 1922 um das 30-fache höher als im Vorjahr, ebenso wie die Personalkosten. Auf jeden der 1.770 Angestellten entfielen 15 Millionen Kronen an Kosten. 1922 waren sieben neue Filialen und eine Wechselstube eröffnet worden, wodurch sich die Zahl der Niederlassungen auf 57 erhöhte.
Die Beteiligung an der Notenbank Mit dem Ende der Inflation 1922 sollten sich die Banken an der Gründung der neuen Österreichischen Notenbank finanziell beteiligen, waren aber sehr zurückhaltend. „So geht es hinter den Kulissen der Notenbank nun recht lebhaft zu: jeder will den anderen in den Vordergrund schieben und niemals war die Bescheidenheit unter den Banken
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Die Börse, 4. Jänner 1923 Die Börse, 1. Februar 1923 Der Österreichische Volkswirt, 10. Februar 1923 Der Österreichische Volkswirt, 1923, S. 265
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und Bankiers so groß wie bei diesem Anlass.“229 Auch von Castiglioni wurde ein Beitrag erwartet, was er jedoch glatt ablehnte. Das war an sich logisch: Da er seinen Erfolg der Inflation verdankte, konnte er an einer Institution zur Stabilität der Währung kein wirkliches Interesse haben. Seine ablehnende Haltung führte jedoch zu einem regelrechten journalistischen Gewitter. Nach der „Arbeiter-Zeitung“ betrug das Vermögen von Castiglioni mindestens 80 Millionen Schweizer Franken, womit praktisch der gesamte Banknotenumlauf Österreichs hätte fundiert werden können. „Dieser Mann nun wurde in den letzten Tagen gleichfalls aufgefordert, an der Zeichnung von Aktien der neuen Notenbank teilzunehmen. Castiglioni hat dies den Mittelspersonen, die ihm diesen Wunsch des Finanzministeriums nahelegten, rundweg mit der Begründung abgeschlagen, dass er Privatmann sei und gar keine Veranlassung habe, das Zustandekommen der Notenbank in einem höheren Maße zu fördern, als dies von allen übrigen Privatpersonen in Österreich geschieht. Sehr gut informierte Leute versichern, dass hierauf der Bundesminister für Finanzen in einer persönlichen Unterredung den Versuch unternommen hat, den harten Sinn des Herrn Castiglioni zu erweichen, ohne dass ihm dies gelang.“ Die „Arbeiter-Zeitung“ sprach klar und deutlich aus, „dass Herr Camillo Castiglioni zu jenen Aasgeiern gehört, die Stücke Fleisch aus diesem sterbenden Österreich herausreißen, dass seine Tätigkeit nicht zuletzt eine der Ursachen dieses im Sturmtempo sich vollziehenden Niedergangs ist. Es gibt eine Bestimmung, die den Behörden das Recht einräumt, ‚lästigen Ausländern‘ den Aufenthalt in Österreich zu verbieten. Man spricht von dieser Bestimmung nur zumeist, wenn es sich um Ostjuden handelt und sicherlich sind auch unter diesen sehr viele recht unsympathischen Figuren. Aber sie alle zusammen genommen haben diesem Österreich nicht einen Bruchteil des Schadens zugefügt wie Herr Castiglioni, der sich jetzt weigert, einen Bruchteil seines Vermögens zur Gründung der Notenbank zu leihen ... Statt seiner Ausweisung aber sehen wir, dass er eine der umworbensten Persönlichkeiten in diesem Lande ist ... Die Regierung wird gefragt werden müssen, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, ihm das Handwerk zu legen, und wenn Herr Segur trotz des Korbes, den er sich bei Herrn Castiglioni geholt hat, doch schützend vor ihn stellen wollte, weil er es vielleicht für seine Pflicht hält, jeden Multimillionär zu schützen, dann sei dem christlichsozialen Minister das Geheimnis verraten, dass sein Protektionskind – der Sohn des Oberrabbiners von Triest ist. Vielleicht bringt jetzt Herr Segur den Mut auf, mit Herrn Castiglioni eine etwas kräftigere Sprache zu führen.“230 „Der Abend“ schrieb: „Obwohl er seinen ganzen Reichtum, der in 229 Herr Castiglioni und die Notenbank, Arbeiter-Zeitung, 8. August 1922 230 Herr Castiglioni und die Notenbank, Arbeiter-Zeitung, 8. August 1922
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dieser Höhe naturgemäß unmöglich auf reelle Weise zustande gekommen sein kann, nur seinen österreichischen Unternehmungen verdankt, hat er es dennoch in demonstrativer Weise abgelehnt, sich an der neuen Notenbank zu beteiligen.“231 „Eine der charakteristischsten Gestalten unter den Kriegs- und Nachkriegsgewinnern ist bekanntlich Camillo Castiglioni“, schrieb das der Christlichsozialen Partei nahestehende „Neuigkeits-Weltblatt“. „Aus dem Zusammenbruch der Krone hat er ein Milliardenvermögen gezogen, hat aber bekanntlich trotz des persönlichen Ersuchens des Finanzministers jede Beteiligung an der Gründung der neuen österreichischen Notenbank abgelehnt mit dem Hinweis, dass er Reichsitaliener sei. Camillo Castiglioni ist nämlich der Sohn eines Triester Rabbiners und hat – wie Reitzes schnell Pole wurde – nach dem Zusammenbruch sofort für Italien optiert.“232 Der öffentliche Druck wurde schließlich so stark, dass Castiglioni nachgeben musste. Mitte Dezember 1922 wurde bekannt, dass durch eine italienische Gruppe unter der Führung der Banca d’Italia eine Zeichnung auf die Goldanleihe und auf Aktien der neuen Notenbank in der Höhe von drei Millionen Goldkronen erfolgt sei. Darin solle auch eine Beteiligung Castiglionis in der Höhe von 600.000 Goldkronen enthalten sein. „Mit dieser Beteiligung wurde natürlich auch der Vorwurf hinfällig, dass sich Präsident Castiglioni an der Zeichnung der Notenbank nicht beteiligen wolle. Selbst die dem Präsidenten Castiglioni feindlich gegenüberstehenden Zeitungen mussten zugeben, dass Castiglioni in der Frage der Notenbank vielleicht seinen eigenen Weg gegangen wäre, aber, wenn auch spät, seine Pflicht dem Staate gegenüber, dessen Gastfreundschaft er in so großem Maße in Anspruch nimmt, erfüllte.“233 Bei der Ablehnung der Zeichnung der Notenbankaktien habe es sich nach Castiglioni nur um ein Missverständnis gehandelt.234 Die drei Millionen Schweizer Franken wurden tatsächlich eingezahlt. Im Generalrat der OeNB war Castiglioni allerdings nicht vertreten. Hingegen tauchte der Name Emilio Brocchi auf, möglicherweise bestand hier ein Zusammenhang. Allerdings nahm dieser nur selten an den Sitzungen teil und schied nach einigen Jahren wieder aus.235 Allerdings forderte Castiglioni als Gegengeschäft eine Vollkonzession für das Bankgeschäft. Castiglioni hatte schon lange die Überlegung, seine Firma in eine eigene Bank- und Industrie-Aktiengesellschaft umzuwandeln, um sich von den Banken völ231 232 233 234 235
Noch eine Anfrage über Castiglioni und andere, Der Abend, 6. Oktober 1922 Neuigkeits-Weltblatt, 14. Oktober 1922 Die Bankenkonzession Camillo Castiglionis, Die Stunde, 23. April 1923 Paris, Berlin, Wien, Der Abend, 19. Dezember 1922 Protokolle der Sitzungen des Generalrates der Oesterreichischen Nationalbank, 29. Dezember 1922, Bankhistorisches Archiv der Oesterreichischen Nationalbank
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lig zu lösen. Der nunmehrige Finanzminister Kienböck ging darauf ein, doch gab es im Ministerrat Schwierigkeiten. Seine Ministerkollegen wiesen darauf hin, dass die Errichtung einer neuen Bank keiner wirtschaftlichen Notwendigkeit entspreche und dass man insbesondere keine Veranlassung habe, für die Geschäftsführung eines Großkapitalisten die steuertechnisch bequemere Form der Aktiengesellschaft zuzusichern. Daher beschloss der Ministerrat, keine Vollkonzession zu erteilen und die Bankgesellschaft auf die Finanzierung der eigenen Industrien und Transaktionen Castiglionis zu beschränken. Damit konnte die Bank weder Einlagen entgegennehmen noch Depots verwalten. „Mit Rücksicht auf seine große Beteiligung an der Notenbank und auf die politischen Dienste, die Camillo Castiglioni bei Beschaffung des italienischen Lirekredits dem österreichischen Staate leistete, wurde am 7. Februar 1923 die Erteilung der Konzession für die Gründung der eigenen Bank wirksam in die Wege geleitet.“ Das „C. Castiglioni Bank- und Kommissionsgeschäft“ hat seinen Wohnsitz im ersten Wiener Bezirk am Kolowratring 14, welches die Funktion einer Holding ausüben sollte.236 Das Kapital betrug eine Milliarde Kronen in 10.000 Aktien zu 100.000, die zur Gänze bei Castiglioni blieben. „Wie versichert wird, soll sich die Firma ausschließlich auf die Vermögensverwaltung beschränken und keinerlei Kundenkonti führen. Die Umwandlung ist also, solange diese Geschäftspolitik beibehalten wird, eine bloße Formsache.“237 Das Verhalten Castiglionis hatte ziemliche Folgen. Einmal distanzierte sich nun Emmerich Békessy und die von Castiglioni mitfinanzierte Zeitung „Die Börse“ ausdrücklich von ihm. „Die Börse, die im Glauben, Herr Castiglioni werde mit seinem Vermögen als Schaffender zum Wiederaufbau Österreichs viel beitragen, ihm zwei Jahre hindurch Gefolgschaft geleistet hat, musste scharf abrücken, als sich diese Annahme als völlig irrig heraus gestellt hat.“238 Zum Zweiten begann das Finanzministerium auf Initiative der Sozialistischen Partei mit Untersuchungen bezüglich Steuern und Kunstschmuggel. So stellte die „Arbeiter-Zeitung“ die Frage, „ob denn wirklich das Finanzministerium alles getan hat, was in einem solchen Falle zu tun die Pflicht gebietet. Sind wirklich Nachforschungen angestellt worden, auf welche Weise Herr Castiglioni in achtundvierzig Monaten zu achtzig Millionen Goldfranken gekommen ist? Hat er jene sechzig Prozent Steuer, die auf die höchsten Einkommen gelegt sind, wirklich bezahlt? Hat er die Vermögensabgabe ordnungsgemäß nach dem Wert seines Besitzes geleistet?“ 236 Camillo Castiglioni, Munzinger Archiv, 4. Juni 1930. Die Bankkonzession wurde 1929 auf eigenes Ansuchen wieder gelöscht. 237 Der Österreichische Volkswirt, 1923, S. 179 238 Die Börse, 19. Oktober 1922
Kriegssteuer
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Und die Zeitung kündete eine Anfrage der Sozialistischen Partei im Parlament an, welche Steuerleistungen Camillo Castiglioni wirklich erbracht hatte. 239
Kriegssteuer Für die Kriegsjahre von 1914 bis 1918 waren Castiglioni Steuern in der Höhe von 5.697.500 Kronen vorgeschrieben worden, ein Betrag, den die „Arbeiter-Zeitung“ angesichts des in dieser Zeit angesammelten Vermögens als lächerlich bezeichnet. „Aber was diese Angelegenheit zu einem unerhörten Skandal macht, ist die geradezu unglaubliche Tatsache, dass Herr Castiglioni von dieser Summe bis zum 30. April 1921 lediglich 2.511.912 Kronen wirklich bezahlt hat. Für den Rest hat sich der Bund mit einem Garantiebrief der Depositenbank, deren Präsident bekanntlich Herr Castiglioni ist, begnügt, was natürlich nichts anderes bedeutet, als dass ihm der größte Teil dieser an und für sich viel zu geringfügigen Steuer einfach geschenkt worden ist.“ Denn anstelle der Kronen der Jahre 1916, 1917 und 1918 hatte Castiglioni nun die aushaftenden 3,1 Millionen in Kronen des Jahres 1922 zu bezahlen, was aufgrund der Inflation etwa einem Fünfzigstel entsprach. „An Stelle von etwa 1,6 Millionen Schweizer Franken wird Herr Castiglioni dem österreichischen Staate 318 Franken bezahlen und damit wird nach der Auffassung der Bundesverwaltung die Angelegenheit in bester Ordnung sein. Da kann man sich allerdings nicht wundern, wenn der Bund vor dem Bankrott steht.“240 Der sozialistische Abgeordnete Danneberg rechnete vor, dass Castiglioni nicht einmal zehn Prozent der Steuern bezahlen musste, die ihm vorgeschrieben worden waren.241 Er habe damit 38 Milliarden Einkommenssteuer zu wenig bezahlt. „Dazu hat ihm das Finanzministerium noch Ratenzahlungen bewilligt und er hat nicht einmal diese Ratenzahlungen eingehalten. Darauf hat die Finanzbehörde verboten, dass die Exekution gegen ihn geführt werde. Dieser Rabbinersohn aus Triest und Kompagnon des arischen Herrn Stinnes, der die deutschnationale Presse aushält und die Hakenkreuzler und Frontkämpfer subventioniert, verdient natürlich die Schonung der Regierung.“242 Die parlamentarische Anfrage der Sozialistischen Partei an die Regierung wurde durch eine des „radikal antisemitischen Flügels der christlichsozialen Partei“ ergänzt, 239 Herr Castiglioni und die Notenbank, Arbeiter-Zeitung, 8. August 1922 240 Die Kriegssteuer des Herren Castiglioni, Arbeiter-Zeitung, 13. August 1922 241 Stenographische Protokolle des österreichischen Nationalrats, 1. Juni 1923, S. 5596 242 Castiglioni und Bosel, Neues Wiener Journal, 2. Juni 1923
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die in den wesentlichsten Punkten übereinstimmte. Darin wurde der Finanzminister aufgefordert ein „Lex Castiglioni“ zu schaffen, dem alle Milliardäre unterworfen werden sollten, die Steuerhinterziehung betrieben. Castiglioni, hieß es in der christlichsozialen Anfrage, „der bei Kriegsausbruch ein unbemittelter Direktor einer Gummiwarenfabrik war, hat sich durch Kriegslieferungen für Österreich-Ungarn bereichert und nach Kriegsausbruch allerlei reelle und nicht reelle Geschäfte, letztere in der Mehrzahl, durchgeführt, die ihm ein Vermögen beschafften, das von Eingeweihten auf 1.500 Milliarden Kronen geschätzt wird und das zum großen Teil in auswärtigen Valuten angelegt ist, die rechtzeitig ins Ausland verschoben wurden ... Dieser Mann, dessen Vermögen ausreichen würde, die gesamten Schulden Österreichs zu bezahlen, hat es bisher in ganz unverantwortlicher Weise verstanden, seinen Steuerverpflichtungen zum größten Teil zu entgehen. Er glaubt, als Ausländer – Italiener – ein Privilegium auf Steuerhinterziehungen zu haben, obwohl sicher ist, dass die italienische Regierung, wenn ihr das Treiben Castiglionis bekannt wäre, sicherlich ihn auch nach ihren Gesetzen zur Verantwortung ziehen würde.“243 Angeblich gab es auch einen Einfluss der italienischen Freunde in dieser Sache. „Herr Castiglioni verweigert natürlich die Bezahlung dieser Summe wieder mit dem Hinweis auf seine italienische Staatsbürgerschaft und es gelang ihm durchzusetzen, dass der italienische Außenminister Schanzer bei der österreichischen Regierung in aller Form zugunsten des Herrn Castiglioni intervenieren ließ. Dieses Eingreifen einer Regierung in eine Affäre, wie es Steuerangelegenheiten des Herrn Castiglioni sind, ist wohl ein Novum im diplomatischen Dienst.“244 Diese Intervention wurde in Abrede gestellt, es habe lediglich eine private Intervention des italienischen Botschafters gegeben, mit dem Castiglioni befreundet war. „Herr Castiglioni hat seinerzeit, als die erste Enthüllung der Arbeiterzeitung erfolgte, geäußert, dass ihm der österreichische Staat nichts anhaben könne, da der italienische Gesandte Baron Orsini ihm jeden diplomatischen Schutz werde angedeihen lassen ... Der findige Herr Castiglioni hat es nämlich verstanden, seine Beziehungen zur italienischen Gesandtschaft in weiten Kreisen als sehr intim darzustellen und ließ jeden wissen, dass Baron Orsini im Sommer eine Zeitlang als Gast auf dem Castiglionischen Lustschlosse in St. Wolfgang weilte.“245 Die Villa Castiglionis lag allerdings nicht am Wolfgangsee, sondern am Grundlsee. 243 Noch eine Anfrage über Castiglioni und andere, Der Abend, 6. Oktober 1922 244 Neuigkeits-Weltblatt, 14. Oktober 1922 245 Eine 7 Milliarden Steuervorschreibung Castiglionis, Die Börse, 19. Oktober 1922. Um welches „Lustschloss“ in St. Wolfgang es sich handeln konnte, ist nicht bekannt. Vermutlich ist die Villa am Grundlsee gemeint.
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Schließlich gab der österreichische Finanzminister Segur eine Erklärung ab. „Dem Castiglioni ist gelegentlich der Beendigung der noch rückständigen Steuerveranlagungen im März 1921 – aufgrund des von der zuständigen Schätzungskommission der Einkommenssteuer zugrunde gelegten Einkommens – vom Mehreinkommen der Kriegsjahre 1914 bis einschließlich 1918 eine Kriegssteuer von zusammen rund 5,7 Millionen vorgeschrieben worden.“ An sich konnte diese Steuer mit der vierten bis achten Kriegsanleihe beglichen werden. Wegen der ausländischen Staatsangehörigkeit Castiglionis war das in diesem Fall aber nicht zulässig und man musste erst eine internationale Regelung abwarten. Am 25. Juni 1919 wurde ihm bis zur Klärung daher eine Stundung zugestanden. „Trotz dieses Stundungsanspruches ist aber von Castiglioni auf die Kriegssteuer ein Teilbetrag von rund 2,5 Millionen am 2. April 1921 eingezahlt worden. Die Höhe des zur Einkommenssteuer herangezogenen Einkommens des Castiglioni, insbesondere seines Einkommens seit dem Zusammenbruche des ehemaligen Staates, bildet dermalen noch bei den zuständigen Organen den Gegenstand der Überprüfung und von Erhebungen, die im Zuge sind. Aus diesem Grunde erscheint ein endgültiges Urteil über die Angelegenheit der Besteuerung Castiglionis jetzt noch nicht möglich.“246 Die Sache erledigte sich aber letztlich von selbst. Im Mai 1923 berichtete „Die Stunde“ über das mysteriöse Verschwinden der Steuerakte Castiglioni im Finanzministerium, was ein ziemliches Aufsehen hervorrief. Am 9. Mai 1923 schrieb die „Reichspost“: „Ohne uns die Vermutungen der Stunde zueigen machen zu wollen, muss doch auf das Mysteriöse der Angelegenheit mit allem Nachdruck hingewiesen werden, zumal da es sich um die Steuerakte des reichsten Mannes von Österreich handelt, und man wird mit allem Nachdruck darauf bestehen müssen, dass die Affäre restlos aufgeklärt werden und dass man weiterhin die Schuldigen der verdienten Strafe zuführen müsse.“247 „Die Börse“ vermutete dahinter einen Erpressungsversuch, da schon mehrfach Steuerakten bei den Finanzbehörden gestohlen worden waren, um Zahlungen der Betreffenden zu erreichen, ansonsten würde der Akt der Öffentlichkeit übergeben werden.248 In jedem Fall wurden die verschwundenen Akten nicht mehr gefunden, was Castiglioni sicher nicht unangenehm war.
246 Neue Freie Presse, S. 2, 27. Oktober 1922 247 Reichspost, 9. Mai 1923 248 Die Börse, 10. Mai 1923
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Kunstschmuggel Bei der beachtlichen Kunstsammlung Castiglionis vor allem in seiner Wiener Villa in der Prinz-Eugen-Straße lag bald der Verdacht nahe, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war. Tatsächlich konnte ihm 1922 ein umfangreicher Kunstschmuggel nachgewiesen werden.249 So hatte er unter anderem Deckentäfelungen aus alten italienischen Villen ausbauen und in sein Wiener Palais einbauen lassen, aber auch ein großer Teil der Bronzesammlung stammte aus dem Nachbarland. Dieser Schmuggel wurde Finanzminister Segur folgendermaßen beschrieben: „Über eine geheime Anzeige, dass für den Bankpräsidenten Castiglioni Kunstgegenstände nach Österreich eingeschmuggelt worden seien, wurden die Erhebungen sofort eingeleitet, die ergeben haben, dass die Anzeige wohl begründet war. Eine ganze Reihe von Kunstgegenständen im Gesamtwerte von zirka 56 Millionen Kronen wurde zum Zwecke der Umgehung des Einfuhrverbots über eine Bescheinigung des Kustos des Kunsthistorischen Museums in Wien als zur Estensischen Sammlung gehörig zoll- und einfuhrfrei abgefertigt und der Estensischen Sammlung provisorisch einverleibt, nach einigen Tagen aber in das Palais des Castiglioni, des eigentlichen Eigentümers, überführt. Castiglioni verantwortete sich bei seiner Einvernahme am 14. März 1922 dahin, dass er unrichtig beraten worden sei, an eine Zollhinterziehung habe weder er noch der Kustos gedacht, es sei nur eine Umgehung des Einfuhrverbotes bezweckt gewesen. Durch diesen Vorgang sei niemand geschädigt worden und die Mitwirkung des Kustos sei lediglich ein Gefälligkeitsakt gewesen, eine Revanche für die vielen Geschenke, die er (Castiglioni) dem Museum gemacht habe. Der Kustos des Kunsthistorischen Museums hat zugestanden, er habe die Bescheinigung, dass die von Castiglioni in Italien eingekauften Antiquitäten und Kunstgegenstände zur Estensischen Sammlung gehören, nur zu dem Zwecke gegeben, um das Einfuhrverbot zu umgehen und um die Langwierigkeit, die bei der ordnungsgemäßen Erledigung sich ergeben, zu vermeiden. Eine Anzahl der ursprünglich in den Straftatbestand einbezogenen Kunstgegenstände ist seinerzeit von Castiglioni unmittelbar nach dem Umsturze in die Schweiz gebracht und von dort wieder nach Österreich zurückgeführt worden. Der Wert dieser Gegenstände beträgt elf Millionen Kronen. Da es sich hier um die Rückeinfuhr von Kunstgegenständen handelt, so musste ihnen die Begünstigung als Rückware zugebilligt werden. Es verblieb somit die verbotswidrige Einbringung von Kunstgegenständen im Wert von zirka 45 Millionen Kronen. Castiglioni hat gegen Erlag von 150 Millionen Kronen um Ablehnung vom rechtlichen 249 Anfrage der Christlichsozialen Partei an die Regierung, in: Noch eine Anfrage über Castiglioni und andere, Der Abend, 6. Oktober 1922
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Verfahren gebeten.“250 Das wurde ihm auch zugestanden, da eine Zollhinterziehung nicht beabsichtigt war, der österreichische Staat keinen Schaden erlitten hatte und die Kunstgegenstände bereits fest eingebaut waren und bei der Abbringung hätten beschädigt werden können. Er war lediglich verpflichtet worden, die Strafe in ausländischer Währung zu begleichen, was er unverzüglich mit 369.000 Lire erledigte.251 Nicht nur für Karl Kraus war diese schonende Behandlung aber dennoch ein Skandal: Wie der ehrlose Staat „zu seinen bedeutendsten Steuerhinterziehern Küß die Hand Euer Gnaden sagt, für den Bettel von 200 Millionen, mit dem jener Castiglioni sich bei der Kultur vom Strafgericht loskauft; wie dieser Trinkgeldnehmer von einem Staat für das, was ihm über die Grenzen tour und retour geschmuggelt wurde, den Zoll der Hochachtung entrichtet und wie er durch seine Funktionäre, die es noch immer nicht satt haben, in solchem Milieu verbindlich zu sein, seine Journalisten zusammenrufen lässt, um ihnen über die Verwendung des Schandlohns Informationen zu erteilen, weil sich ja die Kunst schon diebisch freut, unter solchem Mäzenatentum aufzublühen: über die Verwendung von 14.000 Friedenskronen, die als eine pietätvolle Ablösungsspende für Steuern und Gefällstrafen die ältesten Sektionschefs, Wagentüraufmacher und Kulturbewahrer in Rührung versetzt ... Aber die Geister werden wieder wach, wenn die Haifische Zeitungen gründen dürfen ...“252
Die Unionbank Der Unionbank in der Renngasse im 1. Wiener Bezirk stand Eugen Minkus als Präsident vor, der 1921 bereits seinen achtzigsten Geburtstag feierte und 50 Jahre im Dienst der Bank war. Gerade das sah „Die Börse“ als das eigentliche Problem der Bank an, „dass die hartnäckige Herrschsucht eines an Verdiensten sicherlich reichen, aber der dahinrasenden Zeit fremd gewordenen Mannes neue Wege der Bankentwicklung zu verschließen droht.“ Er sei ein „unnachgiebiger Hüter einer Banktradition, die das Phänomen der Inflation als eine unerhörte Anmaßung des aus den Fugen geratenen Zeitalters auffasst.“ Dennoch war ihm die Notwendigkeit zu einer Erneuerung der Bank bewusst, und so überließ er im April 1921 125.000 Aktien der Bodencreditanstalt, um einen engen Zusammenschluss und wenn möglich sogar eine Verschmelzung vor250 Neue Freie Presse, S. 2, 27. Oktober 1922. Der Unterschied des ursprünglichen Wertes der Kunstgegenstände und der nominal viel höheren Abgeldzahlung erklärt sich durch den inflationsbedingten Wertverlust der Krone in dieser Zeit. 251 Der Kunstschmuggel Castiglionis, Reichspost, 28. Oktober 1922. Bei dem Kustos kann es sich nur um Leo Planiscig gehandelt haben. 252 Karl Kraus, In eigenster Sache, Die Fackel, Nr. 608, Wien Dezember 1922, S. 9/10
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zubereiten. Der Plan verlief jedoch im Sand, die Aktien wurden zurückgegeben und die Unionbank musste sich nach einem neuen Partner umsehen. Die Dresdner Bank, bereits vorher Aktionär der Unionbank, bot sich an, wenn sie sich neben ihr „einen starken und jugendlichen Hausfreund zuführen lässt. So kam die Verbindung mit Camillo Castiglioni zustande, der Arm in Arm mit der Dresdner Bank auf den Plan trat.“253 Castiglioni hatte also im Mai 1922 die Mehrheit der Unionbank erworben, kurz nachdem er im April aus der Depositenbank ausgeschieden war. Der dort erzielte Gewinn durch den Verkauf der Depositenbank-Aktien wurde so erneut angelegt. An seiner Seite standen neben der Dresdner Bank die von ihm und von der Banca Commerciale kontrollierten Böhmische Unionbank und Banca Ungaro Italiana. Castiglionis Ambitionen wurden jedoch durch den alten Präsidenten gebremst. Er musste ihm sein Stimmrecht überlassen und war in der Geschäftsleitung nur durch seinen Generalbevollmächtigten Gabor Neumann vertreten. Dieser wurde als „ein Mann von feinen Manieren und einer Angst vor Komplikationen“ beschrieben, der für die Reorganisation des Instituts nicht die notwendige Rücksichtslosigkeit aufbrachte. Minkus selbst bezeichnete ihn als einen feinen Mann, der ihm noch nie widersprochen hatte. Dann trat Siegmund Bosel auf den Plan. Bosel hatte in aller Stille etwa ein Viertel des Kapitals der Bank an sich gebracht. Da die Gruppe Castiglioni an die Hälfte der Aktien besaß und ein weiterer Teil von der Unionbank selbst kontrolliert wurde, war es erstaunlich, wie ihm das gelingen konnte. Doch die Castiglioni-Gruppe fühlte sich sehr sicher. Bei der letzten Kapitalerhöhung hatte sie die ihr zustehenden Aktien am Markt verkauft. Bosel konnte zusätzlich die 80.000 Aktien der Bodenkreditanstalt erwerben, die zwar auch Castiglioni angeboten wurden, doch konnte man sich über den Kurs nicht einigen. Bosel zahlte einen weit höheren Preis als den Tageskurs, kaufte weiter Unionbank-Aktien am Markt und trieb in einer Zeit, als Bankaktien an sich schwach waren, den Kurs von 25.000 Kronen pro Stück auf 36.700 hinauf. Er setzte seine Käufe fort und hatte im November 1922 bereits 600.000 Aktien. Auch wenn damit die Mehrheit noch bei Weitem nicht erreicht war, so ließ sich die Bank gegen eine solche Minderheit nicht mehr führen.254 „Der Vorgang ist bezeichnend für die Summen, welche jetzt von kapitalkräftigen Firmen aufgebracht und ohne Bedenken in ein Geschäft hineingesteckt werden. Nimmt man den Besitz, so wie er angegeben wird, mit 500.000 Stück und den durchschnittlichen Kaufpreis mit nur K 30.000 an, so handelt es sich um ein Engagement von 15 Milliarden Kronen ... Doch gibt es eben in einer Zeit, wo sich ungeheuere Vermögen binnen weniger Jahre bilden – die Firma Bosel hat den Grund253 Minkus und Bosel, Die Börse, 11. November 1922 254 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 60
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stock ihres Vermögens in den späteren Kriegsjahren in sehr großen einträglichen Armeelieferungen gelegt – gegen solche plötzliche Aktienansammlungen in einer Hand kein Mittel.“255 Von den 900.000 Aktien der Castiglioni-Gruppe stammten 500.000 aus der Option auf junge Aktien, die zum Schutz der Majorität als zweite Tranche der letzten Kapitalerhöhung ausgegeben worden waren. Denn ohne diese Kapitalerhöhung besaß Bosel im Oktober 1922 bereits die Mehrheit. Diese neuen Aktien wurden übernommen:256 Dresdner Bank Camillo Castiglioni Böhmische Unionbank Banca Ungaro Italiana
Bild 19 „Der Morgen“, Wien, 23. April 1922
200.000 Stück 150.000 Stück 100.000 Stück 50.000 Stück Bosel verlangte nun den ihm zustehenden Anteil an den neuen Aktien. Die Castiglioni-Gruppe bot einen Ausgleich an und wollte 150.000 Aktien an Bosel übertragen. Damit hätten beide Großaktionärsgruppen je 750.000 Aktien Bosel sollte in das Syndikat aber nur mit 250.000 Aktien, oder mit 25 % aufgenommen werden, was er natürlich ablehnte. Die Kapitalerhöhung um 500.000 Stück war überhaupt problematisch gewesen, da sie dem erzielbaren Kurs nicht annähernd entsprochen hatte. Der Begebungskurs war 17.000 Kronen, das Syndikat zog noch Provisionen ab, sodass die Bank nur 14.000 pro Aktien bekam. Damit bezahlten Castiglioni und Freunde nur 40 % des ohnehin gesunkenen Tageskurses von 40.000 Kronen und nur ein Fünftel des Höchstkurses der vergangenen Wochen. Darin lag ohne Zweifel eine Schädigung der Bank. Bosel ließ sich dieses etwas verspätete Abwehrmanöver nicht gefallen. Es kam zu einem schroffen Briefwechsel zwischen dem jugendlichen Angreifer und dem Verwaltungsrat, an dessen Spitze der
255 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 29 f. 256 Burgfrieden in der Union-Bank, Die Börse, 7. Dezember 1922
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81jährige Eugen Minkus stand. Bosel war sich aber seiner Sache bei der Unionbank sehr sicher. „Ich bin Wiener, bin hier geboren und aufgewachsen und kenne die Wiener Energie, die sich sehr laut gebärdet, um dann schließlich in eine ‚Gemütlichkeit‘ auszulaufen.“ Und er sparte nicht mit Untergriffen gegenüber Castiglioni: „Hat nur ein ausländischer Kapitalist das Recht, eine österreichische Bank zu beeinflussen und zu führen? Darf ich als Österreicher und Wiener nicht die Ambition haben, eine österreichische Bank in den Dienst österreichischer Schaffensgedanken zu stellen?“ Die Nervosität und Ungeduld der gegenwärtigen Machthaber der Unionbank störe ihn nicht. Die Verwaltung „wird den Sauerteig meines widersprechenden Geistes schließlich doch in ihren Teig tun müssen“.257 Die Vorwürfe Bosels und mehr noch der außerordentlich hohe Kaufpreis, den er für die Aktienpakete bot, verfehlten ihre Wirkung nicht. Da Castiglioni 1922 eine eigene kleine Bank gründete und für die beteiligten Banken der Kampf überflüssig war, schwand ihr Interesse an der Unionbank.258 Am 2. März 1922 trafen einander daher die Vertreter des Syndikats aus Berlin, Prag und Budapest und unterbreiteten Bosel ein Kaufanbot für ihre 900.000 Aktien. Am 6. März 1922 stimmte Bosel zu und übernahm das Paket zu 85.000 Kronen das Stück. Damit kam er auf 80 % der Aktien und wurde Präsident der Bank, der ehemalige Präsident Minkus zog sich unwillig, aber doch zurück. „Und ganz Österreich klatschte dem Sieger Bosel Beifall. Denn der war ebenso beliebt wie sein Gegner Castiglioni verhasst, dem man seine skrupellosen Methoden ebenso nachtrug wie seine Filzigkeit in Wohltätigkeitssachen und seine Drückebergerei bei der Zeichnung des Goldkapitals der neuen österreichischen Nationalbank, die er, der ‚Blutsauger‘ Österreichs mit seiner neuen italienischen Staatsangehörigkeit zu entschuldigen geschmacklos genug gewesen war.“259 Der neue Machthaber der Unionbank erreicht mit der Präsidentenwürde einen Höhepunkt seiner Karriere. „Dass diese Station wahrlich keinen Ruhepunkt bietet, liegt offen zutage. Die große Inflationsperiode ist vorbei und es heißt jetzt, das Erworbene mit harter Hand zu erhalten.“260 Die Übernahme des Aktienpakets hat Bosel eine Million Dollar gekostet, und im Ganzen dürfte er für die Eroberung der Unionbank etwa 8 Millionen Schweizer Franken ausgegeben haben, an sich noch gewiss kein übermäßiger Preis für 80 % der Aktien einer Großbank, die vor dem Kriege über ein Kapital von 70 Millionen Goldkronen verfügte und im Jahr über 7 Millionen Goldkronen an Reingewinn 257 Minkus und Bosel, Die Börse, 11. November 1922 258 Die Erklärung der Castiglioni-Gruppe über die Unionbank, Die Börse, 8. März 1923 259 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 293 260 Eine neue Aera der Unionbank, Die Börse, 8. März 1923
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abwarf.261 Castiglioni ging mehr oder weniger freiwillig und ließ sich seinen Abgang gut bezahlen, getroffen hatte es ihn dennoch. Emmerich Békessy notierte am 19. Dezember 1922: „Castiglioni erklärte mir heute dezidiert und in höchster Aufregung, dass er nie in seinem Leben in einer Bank eine aktive Stellung mehr einzunehmen gedenke.“262 Diese Machtkämpfe waren aber auch volkswirtschaftlich problematisch. „Dass eine alte Wiener Großbank zum Kampfobjekt zwischen zwei erfolgreichen Financiers wird, ist an sich eine unerfreuliche Tatsache. Große Banken sind nur im formalen Sinne Privatunternehmungen. Tatsächlich sind sie öffentliche Institutionen, von deren Politik auf der einen Seite die Sicherheit der ihnen anvertrauten fremden Vermögen, auf der anderen Seite das Wohl und Wehe von zahlreichen Unternehmungen abhängt, die auf die Kreditgewährung der Bank angewiesen sind. Das Schicksal der Aktionäre ist gerade bei Großbanken relativ am wenigsten wichtig. Die volkswirtschaftliche Bedeutung einer Großbank erfordert es aber, dass ihre Geschäfte auch unter allgemeinen Gesichtspunkten möglichst frei von persönlichen Machtinspirationen ihrer jeweiligen Leiter geführt werden ... Ob die Bank in der Machtsphäre des Herrn Castiglioni oder des Herrn Bosel bleibt, oder ob und in welcher Weise sie sich in die Herrschaft über die Bank teilen, interessiert die Öffentlichkeit nur so weit, als der eine oder andere Bürgschaften für eine sachliche und gedeihliche Führung der Bank bietet. Was Herr Bosel mit der Unionbank vorhat, ob er überhaupt konkrete Pläne zu ihrer Ausgestaltung hat, ist nicht bekannt. Von der Gruppe Castiglioni weiß man aber bereits, dass sie auf die Unionbank seit einem halben Jahr maßgebenden Einfluss besitzt, ohne dass die Bank davon bisher in organisatorischer oder finanzieller Hinsicht irgendwelche Vorteile gezogen hätte. Eine sachliche Rechtfertigung für den Einbruch in ein altes, wenn auch allzu konservativ geleitetes Institut hat die Gruppe jedenfalls bisher nicht erbracht.“263 Mit der Eroberung der alten Wiener Unionbank gelang dem damals knapp 30jährigen Siegmund Bosel sein größter Fischzug. Er begann als Verkäufer in einem Wäschegeschäft am Wiener Salzgries. Während des Krieges betrieb er die Kantine eines Kriegsgefangenenlagers, was der Grundstein zu seinem Vermögen wurde. Er bekam die Kantinen eines ganzen Bezirkes unter sich und wurde zum Großlieferanten aller Kantinen. Nach dem Krieg kaufte er Armeerückstände auf und begann an der Börse gegen die Krone zu spekulieren. Siegmund Bosel, der „Benjamin der Milliardäre“ wurde als „echtes Kind dieses Zeitalters“ beschrieben, „verschont von der Sentimentalität einer 261 Richard Lewinsohn, Die Umschichtung der europäischen Vermögen, Berlin, 1925, S 242/3 262 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 97 263 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 98 f.
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Vorkriegsepoche“. Zwischen dem alten Minkus und dem jungen Bosel stand „der halbarrivierte vierundvierzigjährige Camillo Castiglioni, mit einem Fuße noch im rücksichtslosen Verdienen, mit dem anderen schon unterwegs zu der Tradition des Metiers, ein angehender Präsident, halb noch Emporkömmling, halb schon Geldadel, in seiner Beschaulichkeit angegriffen von dem Jüngeren, und nur widerwillig geschützt von dem alten, nicht jung, nicht alt, eine Übergangsfigur, die sich jetzt rechts und links verteidigen muss, um nicht auf beiden Seiten zu unterliegen.“ „Die Börse“ bezeichnete Siegmund Bosel sogar als einen Japaner. „Der Japaner-Typus unterscheidet sich von dem europäischen Typ des modernen Geschäftsmannes in den Grundzügen seines Charakters. Man sieht das am leichtesten aus einer Gegenüberstellung. Der europäische Typ ist Camillo Castiglioni, der japanische Siegmund Bosel. Der eine weltmännisch, großsprecherisch, theatralisch, der andere still, zäh und von einer unheimlichen Bescheidenheit, die man eine ‚überhebliche Unterwürfigkeit‘ nennen könnte. Die beiden Typen unterscheiden sich auch in ihrer ganzen Lebensart. Der Castiglioni-Typ genießt das Leben, der Bosel-Typ unterwirft sich ihm, der eine mit Lebenssensation beladen, der andere allen Genußkomplikationen ausweichend, der eine wird schon in jungen Jahren dick, der andere bleibt bis zum Tode mager, knochig. Camillo Castiglioni trägt helle Gamaschen, gelbe Handschuhe, fährt im Salonwagen, Siegmund Bosel trägt jahrelang denselben schwarzen Anzug, schwarze Schuhe und fährt unauffällig in einer Kupéeecke, vielleicht sogar zweiter Klasse ... Der Japaner Bosel ist die Verkörperung seines Typs. Schmächtig, das ganze Gesicht von einer Blässe, die darauf deutet, dass dieser Dreißigjährige zwei Drittel seines Lebens im Zimmer verbracht hat. Sein Arbeitszimmer am Friedrich Schmidtplatz ist überladen, sein ganzes Leben scheint sich in diesem Zimmer abzuspielen. Er hat beim Sprechen eine Befangenheit, die auf das Ungeübte im öffentlichen Sprechen deutet.“ Der Kampf um die Unionbank hatte sechs Monate gedauert und sich ganz nach den Gepflogenheiten der Erfinder des Schützengrabens zu einem richtigen Stellungskrieg entwickelt, „in dem es weniger auf die Stärke der Munition als auf die Widerstandskraft der Nerven ankam. Mit mathematischer Gewissheit war vorauszusehen, dass schließlich der seinen Willen haben muss, der dem Hinsiechen eines großen Organismus mit größerer Gleichgültigkeit wird zusehen können. Dem Außenstehenden Siegmund Bosel, der die Entwicklung der Dinge extra muros betrachten konnte, musste die zernierte und von der Zufuhr aller Lebenselemente abgesperrten Bankfestung der Unionbank schließlich die Tore öffnen ... Während vieler Besprechungen, die zwischen Präsident Castiglioni und Kommerzialrat Bosel gepflogen wurden, konnte indes auf keiner Seite das Gefühl überwunden werden, dass für eine Zusammenarbeit eigentlich auf keiner Seite Neigungen bestehen. Es lag doch in der Natur der Sache, dass zwei solche
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finanzielle Potenzen sich niemals verbinden können, solange keiner dem anderen den Vorrang einräumen will.“ Die von Bosel aufgestellte Forderung nach Gleichberechtigung wurde von der anderen Seite abgelehnt. „Das Zusammengehen scheiterte auch an der klaren Erkenntnis, dass die Unionbank zu schwach sei, um die Interessen zweier Großaktionäre zu befriedigen, und dass die Bank für zwei Finanzkapitäne kein ausreichendes Betätigungsfeld bieten könne ... Hier Castiglioni, hier Bosel – in der Mitte liegt ein großes Finanzinstitut, das dem Tode geweiht ist, wenn sich die Matadore nicht einigen oder besiegen.“264 „Die Börse“ charakterisierte zum Schluss noch einmal die Auseinandersetzung zwischen Minkus und Bosel: „Die Geheimnisse der Inflation haben fast ausschließlich nur die Zwanzig- und Dreißigjährigen zu enträtseln verstanden, jene, die über die Geldverachtung des Träumers bis zur Kriegsverachtung des Realisten empor gelangten. Die Jugend, die die Tugenden des Alters, den Sparsinn, immer verlachte, machte aus ihrem Spaß Ernst und machte aus ihrem Ernst Geld. Väter und Söhne standen sich Turnier gegenüber und die Söhne triumphierten, sie schlugen die Väter sogar auf deren ureigentlichstem Gebiete, auf dem Gebiete des Geldverdienens. Und weil die Erfahrung der Älteren ihnen bei ihrem Siegeslauf im Wege stand, darum stießen sie diese brutal nieder, und weil sie die Türen des Lebens sprengten, darum wollten sie auch die Tore der großen Bankpaläste sich öffnen ...“265 Und Emmerich Bekessy schrieb am 22. März 1923 in einem Artikel „Drei Generationen“ im „Wiener Bankgeschäft“ über Eugen Minkus, Camillo Castiglioni und Siegmund Bosel: Minkus war demnach „ein Kind des Friedens und als der Krieg ausbrach, da war es ihm, als würden die alten Gesetzestafeln zerbrechen“. Und als die Monarchie auseinanderfiel und die Inflation einsetzte, „da war Minkus nur mehr der Hüter, aber nicht mehr Herr seines Hauses. Er klammerte sich an seine Machtattribute, wie der Schiffsbrüchige an eine Rettungsplanke, aber das Schiff, dessen Kapitän er einst gewesen, war bloß ein luftiges Spiel der Wellen. Und es war nicht Zufall, sondern Bestimmung, dass in dem Augenblicke Camillo Castiglioni mit seinem Blumenboot entgegenfuhr. Zum letzten Ausläufer einer veralteten Generation trat der kräftigste Exponent der neuen Epoche.“ Dann wurde Castiglioni charakterisiert: Für ihn, „der in der Mitte des Lebens steht, bedeutet Krieg, rasche Umstellung, Einnahme und Räumung eines Frontabschnittes, Energie, Glut, Phantasie, fieberhaftes Machtstreben und ungezügelter Drang, aus finsterer Wirrnis helles Leben zu stampfen. Die Finanziers, die ein Blutmeer austrocknen lassen mussten, um darüber trockenen Fußes ins gelobte Land zu kommen, tragen alle einen wilhelminischen Stahlhelm auf 264 Die Börse, 15. Februar 1923 265 Die alten und die jungen Herren, Die Börse, 30. November 1922
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dem Haupte. Sie waren kampfgerüstet, kampfgewohnt, von Unrast erfüllt, sie wollten nicht lange bei einem Geschäft verweilen, sondern es blitzartig kombinieren und ebenso blitzartig aufbauen, aber sie suchten bei jedem Stück Geld, das in ihre Taschen flog, auch ein Zipfelchen politischer und wirtschaftlicher Macht sich zu sichern. Das imperialistische Ziel des Kapitalismus entwand sich nassem Linnen, man suchte wirtschaftliche Großherzogtümer zu bilden, die, in sich abgeschlossen, einen Staat im Staat repräsentierten. Stinnes war der deutsche, Castiglioni der österreichische Vertreter des nackten Willensprinzips in der Wirtschaftsgeschichte. Aber aufbauen wollten beide, Herrscher sein über einen Wald von Arbeitshänden, über eine Armee von eisernen Kolossen, deren Seele schier die neue Zeit ausatmet. Arbeit und Geschäftemachen war bei ihnen nicht Selbstzweck, alles war unterstellt einem höheren Gedanken, einer höheren Gewalt: dem Trieb erliegen, zu siegen über einen Wall von Hindernissen, über moralische Verlogenheit, über eingewurzelte Vorurteile, ja sogar über die stillen Regungen des Herzens. Und da man niemals siegen kann, ohne gleichzeitig zu erobern, so kannte die durch Castiglioni verkörperte Generation des Kapitalismus keine Autoritätsgötzen, kein Herkommen und keinen finanziellen Flurschutz. Doch wenn sie die Erde berührten, die ihnen und nur ihnen gehörte, da blicken sie immer hinauf zu den ewigen Sternen. Auch auf dem harten Boden neu geschaffener, neu gewonnener und neu bearbeiteter Wirklichkeiten wächst die blaue Blume der Romantik. Für Finanziers vom Schlage Castiglionis sind Banken nur Absteigquartiere, aber keine Jahreswohnungen. Von Absteigquartieren sagt man sich eben aber los, wenn man die Türe nicht mehr versperren kann.“ Siegmund Bosel dagegen repräsentierte „das revolutionäre Kapital, das Kapital des bacchantischen Geldrausches. Mit einem sicherlich intuitiv-genialen Spürsinn hat der jugendliche Bosel rechtzeitig erkannt, dass sich im Umsturz Geld aus allen Dämpfen einer wirren Zeit losringt, dass man es nur in Gefäßen sammeln und aufbewahren müsse, bis sich späterhin die Möglichkeit einer nutzbringenden Arbeit findet. Bosel hat die Motoren eines neuen Lebens konstruiert und herstellen lassen, aber er lässt sie erst jetzt laufen. Die dritte Generation des Kapitalismus häuft Besitz scheinbar ohne tiefere Gründe auf, aber sie wartet trotzdem nur auf den alten Galawagen, der ein neues feuriges Gespann braucht. Die dritte Generation hat nicht Geld aus dem Boden gestampft, sondern Geld aus der Erde gehoben. Am Anfang war nichts, dann kam das Licht, hernach die große Samstagruhe und endlich nach Stabilisierung der Verhältnisse die Möglichkeit, das spekulativ Erworbene in Produktives umzusetzen. Die dritte Generation, das sind die Gejagten, die Gehetzten, die Dauerläufer, die ingeniösen Ziffernakrobaten, in denen trotzdem die glühende Sehnsucht nach der Meisterung der großen Dinge, nach den heiligen Stätten der Menschheit, nach den Stätten der schaffenden Arbeit wohnt. Und die dritte Generation, die Kinder des Sturms, die alle Ska-
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len des Lebens fieberhaft durchlaufen werden, wenn Windstille eintritt und sie zu sich selbst kommen können, werden vielleicht die Schöpfer eines neuen Zeitenstiels, einer neuen Lebensfreude.“266 „Der Österreichische Volkswirt“ war da schon etwas nüchterner: Es war wohl begrüßenswert, dass die Lähmung der Bank nun beendet wurde, aber wenn die Firma Bosel 82,5 % der Aktien hielt, so war das sicher kein wünschenswerter Zustand. Es war zwar zu erwarten, dass er Teile am Markt platzieren würde, aber der hohe Kurs, zu dem er die Aktien erworben hatte, dürfte das sicherlich nicht leicht machen. Für die Firma Bosel war dies vor allem eine Prestigesache gewesen, denn vom geschäftlichen Standpunkt konnte das kein Erfolg sein. Die bisherigen Aktien hatte Bosel zu einem durchschnittlichen Kurs von 35.000 Kronen bekommen, während die neu erworbenen 900.000 Stück auf 100.000 Kronen kamen. Welchen Nutzen die alte Mehrheitsgruppe an diesem Geschäft machte, ließ sich errechnen, da ein großer Teil ihrer Aktien bei der Kapitalerhöhung zu 14.000 Kronen erworben wurden und die anderen Aktien noch billiger erworben worden waren. „Die Firma Bosel hat heute in diesem Engagement nahezu 120 Milliarden Kronen stehen ... Es bleibt auch, wenn es gelingt, Konsorten für einen ansehnlichen Teil zu finden, ein großes Engagement auf lange Sicht, das keine Aussicht bietet, in absehbarer Zeit sich annähernd zu verzinsen ... Die Firma Castiglioni, die sich in der Unionbank weit größerer Zurückhaltung befleißigt hat, als seinerzeit in der Depositenbank, scheint es nunmehr aufgegeben zu haben, eine führende Rolle bei einer Wiener Bank zu spielen. Dass der Einfluss bei der Unionbank nur eine Episode geblieben ist, mag zwar nicht auf dem Programm gestanden sein, der ungeheuere Gewinn aber, mit dem die Aktien Dank dem Übereifer des konkurrierenden Aktionärs realisiert werden konnten, dürfte über die Machteinbuße Bild 20 Kommerzialrat S. Bosel trösten.“267 „Die Börse“, Wien, 22. Februar 1922
266 Drei Generationen, Die Börse, 22. März 1923 267 Der Besitzwechsel in Unionbank-Aktien, Der Österreichische Volkswirt, 1923, S. 178 f
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„Die Börse“ stellte Castiglioni zu dieser Zeit noch als Napoleon dar und Bosel als Wunderkind und ergänzte diese Karikaturen in Versform:268
Bild 21 Castiglioni als Napoleon „Die Börse“, Wien, 22. Februar 1922
„Camillo Castiglioni: Im Süden bei den dunklen Pinien, Im Land wo die Zitronen blüh’n, Dort münden seines Lebens Linien, Dorthin wird er im Alter zieh’n. Kein Blick nach rückwärts. Er steht oben, Zum höchsten Sitz Erfolg ihn trug, Man mag ihn tadeln, mag ihn loben: Ihm ist’s egal. Er hat genug ... Man spielt im Leben viele Rollen, Und ewig grünt der Wanderstab, Doch schöpft man einmal aus dem Vollen, Spielt man sich selbst – und schminkt sich ab.
Kommerzialrat S. Bosel Das Wunderkind auf eignem Throne, Des neuen Reiches Gossudar, Er spielt mit Zepter, auch mit Krone Der Jüngling mit dem Lockenhaar. Ein großer Geist, ein groß’ Vermögen, Wohin dies einmal finden mag? Man braucht sich da nicht aufzuregen: Es kommt doch alles an den ‚Tag‘!“ Ganz anders natürlich Karl Kraus: „Und der Castiglioni kommt z’rück und ‘s is alles gerührt Und sie sagen Hab’ die Ehre, wem Ehre gebührt, Und der Staat kann ihn gern hab’n, wie er ihn hat gern. Mit Gewalt muss der Mensch patriotisch wer’n.“269 268 Die Börse, 22. Februar 1923 269 Karl Kraus, Vorlesung Kleiner Musikvereinssaal, 13. Januar, Die Fackel Nr. 679, März 1924, S. 45
Der kalte Wind in Berlin
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Der kalte Wind in Berlin Während in Wien die Inflation im Jahr 1922 mithilfe des Völkerbundes und der von ihm garantierten Anleihe beendet war, zog diese in Berlin zu dieser Zeit noch an. Ihre Entwicklung zur Hyperinflation begann mit der Ruhrbesetzung Frankreichs im Jänner 1923, da Deutschland mit den Reparationszahlungen im Rückstand war und erreichte ihren Höhepunkt im November 1923. Das war für die inflationserprobte Wiener Geschäftswelt ein neues Geschäftsfeld und auch Castiglioni zog es nun nach Norden. „Denn bekanntlich sind die Herren Castiglioni und Bosel immer um 9 Uhr abends in der Kärntnerstraße herumgegangen und haben dort einen wilden Rummel gemacht. Jetzt vollführen sie in der Friedrichstraße einen Klamauk: Der große Markfischzug lockt die unerbittlichen Schieber mit ihrem Gefolge von Parasiten, Nachtschiebern; Kokotten und Librettisten nach Berlin.“270 Der Kapitalstrom, der bislang von Berlin nach Wien gegangen war, hatte sich nun Ende 1922 umgedreht, wie „Der Österreichische Volkswirt“ feststellt.271 „Als sich das Berliner Bankkapital in Wien festsetzte, geschah es vor allem deshalb, weil man Wien, das damals als internationaler Handels- und Finanzplatz stark aufzublühen schien, als Stützpunkt für das südeuropäische Geschäft benützen wollte. Die Verbindung mit den Nachfolgestaaten, die auch für Berlin wachsende Bedeutung zu erlangen schien, war von Wien her leichter anzuknüpfen als von Berlin.“ Die nunmehrige Beteiligung von Wien in Berlin diente vor allem dazu, die beträchtlichen Markguthaben in sichere Werte anzulegen. Da nun auch in Berlin der Währungszusammenbruch eintrat, versuchte man, die Guthaben in Substanzwerte umzuwandeln, um wenigstens einen Teil des Geldwertes zu retten. „Dazu kommt, dass man in Wien die finanzielle Situation Deutschlands schon längst in Verwertung eigener Erfahrung viel besser begriffen hat als in Berlin selbst. Das Bewerten und Kalkulieren in Gold, das sich hier seit langem eingebürgert hat, wird in Deutschland nur von einem ganz kleinen Teil der Wirtschaft angewendet. Infolgedessen hat das Wiener Kapital auch früher als das reichsdeutsche begriffen, in welchem Maße die Mehrzahl der deutschen Effekten unterbewertet ist ... Es liegt daher nahe, dass man gerne die Gelegenheit benutzt, sich in Berlin zu betätigen. Vor allem aber, und das gibt den Ausschlag, ist es die überlegene geschäftliche Tüchtigkeit, die sich die Wiener Bankiers in der Katastrophenhausse der letzten Jahre angeeignet haben, die ihn in Berlin vielfach als erwünschten Partner erscheinen lässt. Auch darin unterscheidet sich die neueste Entwicklungsphase von dem früheren Zug 270 Karl Kraus, Großmann, der Herzensdieb, Die Fackel, Nr. 608, Wien Dezember 1922, S. 64 271 Der Österreichische Volkswirt, 11. November 1922
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des reichsdeutschen nach Wien. Die Wiener Bankiers beteiligen sich in Deutschland vielfach nicht nur mit Kapital, sondern auch mit ihrer Arbeitskraft, mit ihrer Routine im Effekten- und noch mehr im Devisenhandel.“ Die Zeitschrift hielt das aber nur für eine vorübergehende Konjunktur. Doch die Betätigung Castiglionis in Berlin wurde nicht sehr positiv aufgenommen, denn sein Ruf war ihm bereits vorausgeeilt. Am 28. Oktober 1922 veröffentlichte der bekannte Wiener Journalist Karl Tschuppik in einem deutschen Journal eine Darstellung Castiglionis, die vom „Neuen Wiener Journal“ abgedruckt und folgend eingeleitet wurde:272 „Sie ist ebenso amüsant wie boshaft und man merkt es dem Aufsatz ordentlich an, wie das Bestreben: durch Witz und Satire der unleugenbar starken Einzelpersönlichkeit, die sich in Castiglioni verkörpert, beizukommen, den Verfasser zu übertriebenen und wohl auch ungerechten Ausfällen verführt. Bei der Bedeutung Castiglionis im wirtschaftlichen Leben wird aber auch dieses Bild zweifellos Interesse erregen.“ Tschuppik beginnt seinen Angriff mit: „Die Krone ist tot, es sterbe die Mark!“, und fährt dann fort: „An der Spitze der Inflationsritter, die nunmehr aus dem gänzlich verödeten Wien nach Berlin gezogen sind, ritt der Börsen-Condottiere Camillo Castiglioni. Der Name hat den Wohlklang springender Silbermünzen, und der ihn trägt, ist der erfolgreichste Finanzmann des österreichischen Bankrotts, der kühnste und hemmungsloste Spekulant der Inflationszeit. Er ist im Wien von 1920–1922 ebenso populär, wie es Rothschild im Wien des Kaiserreiches gewesen: ein Volkswitz, mit der halb mysteriösen, halb symbolischen Figur beschäftigt, hat den Namen fortlaufend gesteigert: Castiglioni, Castimilliardi, Castibillioni. Der Mann wurde das Wahrzeichen der zwölfstelligen Ziffern, der Fahnenträger der österreichischen Billionen. Diese Gaurisankarhöhe273 erreichte er in vier Jahren: am Anfang seiner Carrière stand die Null.“ Nun bemühte der Autor auch – wie oft in dieser Zeit – das Bild vom noblen Reichtum des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zu jenem seiner Zeit. „Der alte Reichtum war zu dem Eilzugstempo der neuen Zeit nicht zu haben: er war anderer Art, hatte tausend Hemmungen, und die zarte, sentimentale Seele des alten Wien im Leibe. Mit den Größen vergangener Tage, mit dem Ritter von Taussig, Gustav von Mauthner, Moritz Bauer und den Minkus, Sieghart, Kux und Popper hat der neue Typus Finanzmann kaum noch etwas gemein. Der vornehme Albert von Rothschild, der große Mäcen, der Schach272 Karl Tschuppik, Camillo Castiglionis Ritt nach Deutschland, in: Stephen Grossmanns Tagebuch, Berlin, 28. Oktober 1922, S. 1513–1515; Neues Wiener Journal, 1. November 1922 273 Mit Gauri Sankar wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in Deutschland der höchste Berg der Welt, der Mount Everest, bezeichnet.
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spieler und Amateurphotograph passt zu dem Bild der Neunzigerjahre, wie Castiglioni zum Wien von heute. Der Rabbinersohn aus Triest hat sich nie mit so idyllischen Dingen abgegeben, dazu hatte er keine Zeit. Er schläft seit Jahren täglich kaum mehr als vier Stunden, er hängt um 3 Uhr morgens am Telephon, um mit Zürich zu sprechen, und sitzt um sechs Uhr früh desselben Tages in seinem Salonwagen am Schreibtisch, während der Fahrt Briefe diktierend, Verträge entwerfend. Die Direktoren und Sekretäre brechen unter dem Gesetz seines arbeitswütigen Körpers zusammen, das er ihnen tyrannisch aufzwingt.“ Und er sprach vom Einbruch gänzlich neuer Elemente in das Gehege der Millionen, welche die Welt des Reichtums verändert haben: „den Plebejer als Millionär, der äußerlich und innerlich auf die überkommenden Formen verzichtet. Camillo Castiglioni bliebe wahrscheinlich auch dann von der anziehenden Kraft einer alten Gesittung unberührt, wenn es in Wien noch die alte Gesellschaft gäbe. Aber er verzichtet nicht auf Luxus ... Nun freilich, er hat gar nichts von einem Mäcen, er hat kein inneres Verhältnis zu den Schätzen und mimt auch nichts dergleichen. Sein nüchtern-wägendes Auge blickt auf sie, wie auf den Inhalt seines Tresors; die Werke der Kunst sind eine Kapitalanlage mehr, eine Form der Anlage, sicherer und beständiger als manches Papier.“ In einem Winkel seiner Seele wohne aber noch der Plebejer, der kleine Mann mit dem schlechten Gewissen. „Es kommt vor, dass er, von der Angst gepeinigt, plötzlich in Tränen ausbricht, Gott anruft und seine Umgebung um Trost und Hilfe bittet. Doch selbst in solchen Stunden spielt er sich selber, Castiglioni ist nämlich einer der größten Schauspieler Wiens. Ein bekannter Wiener Journalist B., der als Gast des Mannes eine Szene mit angesehen, da Castiglioni, von einer geschäftlichen Affäre erschüttert, in Zorn und Raserei geriet, versicherte, nur Zacconi und Novelli hätten an diese Kunst des Spiels heran gereicht. Die Tränen stehen ihm jeden Augenblick zu Gebote. Von der Behörde zur Begleichung rückständiger Steuern gemahnt, weinte Castiglioni dem ganzen Instanzenzug vom Finanzrat bis zum Sektionschef und zum Finanzminister seine tränenreichen Verzweiflungsarien vor.“ Auf der anderen Seite stellte er die primitiven Methoden psychologischen Bauernfangs in den Dienst seiner Aktionen: „Er benützt Frauen, Vertraute und Lakaien zur Erspähung von Geschäftsgeheimnissen; er mimt den Verliebten vor der Sekretärin des Konkurrenzunternehmens, um ihr Vertrauen zu gewinnen; er wirbt mit seiner Liebenswürdigkeit und mit dem Charme seines Wesens um die Gunst der Tänzerin A., der er die Fähigkeit zutraut, der geschickte chargé d’affaires bei der heimlichen Verfrachtung edler Valutagüter zu werden; er besticht nicht mit Geld, sondern mit schönen Worten und Versprechungen die Telefonistin des großen Berliner Hotels, darin Stinnes wohnt, die Telephongespräche des Gewalti-
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gen abzulauschen und Wissenswertes zu notieren; er missbraucht alle und jeden. Und bleibt die Zeche schuldig.“ Seine Genialität in Bezug auf die Auto- und Flugzeugindustrie bliebe auf das Verdienen beschränkt. „Seine Flugzeuge haben viele brave Leute ums Leben gebracht. War dieser Patriotismus immerhin positiv, so darf man die Tendenz seiner Spekulation, der er das eigentliche große Vermögen dankt, einen Patriotismus mit negativen Vorzeichen nennen. Er hat wie keiner neben ihm mit gleicher Ausdauer, von den ersten Tagen des Gleitens der Krone diesem armen Ding das Todesurteil gesprochen und sich darin durch kein retardierendes Moment, durch kein politisches Zwischenspiel beirren lassen ... die Krone ist tot, Herr Castiglioni lebt und freut sich seiner Billionen. Wird er auch in Berlin recht behalten? Der Duft des Sterbens zieht ihn an, er ist entschlossen, das Totenbett der Mark als reichster Erbe zu verlassen.“ Die rechts stehende „Deutsche Zeitung“ übernahm auch Teile des Pamphlets und ergänzte: „Uns kann Castiglioni aus zwei Gründen nicht gleichgültig sein. Erstens deswegen, weil er unser Brudervolk ausgesogen hat, weil er geholfen hat, es in den Abgrund zu bringen, und zweitens, weil dieser Schädling nunmehr in Berlin ist und sich schon sesshaft gemacht hat.“ Die Forderung nach Ausweisung wollten sie aber nicht unterstützen, sondern wissen, „ob sich das deutsche Volk bzw. das Deutsche Reich dagegen geschützt hat oder schützen kann, dass dieser Mann unsere Deutsche Mark in dasselbe Verderben stürzt, in das er die österreichische Krone gebracht hat: Wien ist ihn los, Berlin birgt ihn in seinen Mauern. Wien hat gelitten, soll Berlin auch leiden? Eine Ausweisung würde unser Verderben bei seinen internationalen Bluts- und Finanz-Beziehungen kaum hemmen, wenn es nicht gelingt, ihn dadurch unschädlich zu machen, dass sein Name eine Warnung für jeden Deutschen wird.“274 Während des Krieges und einige Zeit nachher hatte Castiglioni im Hotel Adlon eine ständige Wohnung für seine Geschäfte. Schließlich erwarb er in Berlin in der Tiergartenstraße 26 ein Haus, das er für Bürozwecke umbauen ließ. Man glaubte, sich dagegen wehren zu müssen, dass in der Zeit der größten Wohnungsnot ein Wohnhaus von einem Ausländer zu Geschäftszwecken belegt würde. Das Grundstück wurde daher vom Wohnungsamt beschlagnahmt, aber dann wieder freigegeben, da sich Castiglioni verpflichtete, für das Haus in der Tiergartenstraße eine Reihe von Kleinwohnungen für Arbeiter zu bauen.275 „Dafür, dass ein oder zwei deutsche Kommerzialräte ihre Wohnung räumen müssten, baue er eben Arbeiterhäuser für deutsche Proletarier, und dage-
274 Deutsche Zeitung, 20. November 1922 275 Neues Wiener Journal, 8. Dezember 1922
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gen ließe sich doch nichts einwenden. Damit war die Kontroverse beendet.“276 Ob die Arbeiterhäuser je gebaut wurden, ist nicht bekannt. Auf diese Angriffe reagierte Castiglioni vorläufig nicht. Doch dann wurde durch Dr. August Müller im preußischen Abgeordnetenhaus eine diffamierende Rede gehalten. Müller war ein ehemaliger Mitarbeiter der sozialistischen Genossenschaftsbewegung, später Staatsekretär, der in das bürgerliche Lager abgeschwenkt war. Die Weltbühne bezeichnete ihn als jemand, „der aus Versehen sozialdemokratischer Konzessionsschulze im wilhelminischen Durchhaltekabinett geworden war und an den Folgen dieses Pechs noch immer laboriert“.277 Er warf Castiglioni öffentlich vor, dass er nach Berlin gekommen war, um an der durch den Marksturz geschaffenen Lage zu profitieren und billig große Beute zu machen. Der preußische Minister des Inneren, Severing, deutete an, dass er bereit sei, Herrn Castiglioni auszuweisen, wenn er nur Genaueres erfahren könnte. Darauf reagierte Castiglioni mit einem Schreiben an den preußischen Innenminister: „Sehr geehrter Herr Minister! Von einer mehrtägigen Reise nach Italien zurückgekehrt, erhalte ich die Kenntnis von den Berichten über die Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 29. v. M., im Verlauf derer Sie sich infolge eines von Herr Staatsekretär a. D. Dr. August Müller gegen mich gerichteten öffentlichen Angriffes auch mit meiner Person befasst haben. Ihre Antwort würde mich an sich nicht nötigen, zu ihr Stellung zu nehmen, denn Sie richteten darin lediglich an Herrn Dr. August Müller die gleiche Frage, die ich ihm hätte stellen müssen, wenn ich mich überhaupt in Zeitungspolemiken je eingelassen hätte: ‚Was er mir eigentlich vorzuwerfen habe?‘ Die Antwort, welche Sie, sehr geehrter Herr Minister, auf Ihre schriftliche und telephonische Anfrage bis 29. November vergeblich erwartet hatten, ist nun am 2. Dezember in Form eines offenen Schreibens erschienen. Herr Dr. Müller gibt in diesem Schreiben unumwunden zu, dass er irgendwelche bestimmte Anschuldigungen gegen mich nicht vorbringen könne. Mich unter diesen Umständen gegen die unverantwortlichen Angriffe des Herrn Dr. Müller zu verteidigen, habe ich nicht nötig. Ihnen, sehr geehrter Herr Minister, erlaube ich mir aber folgendes mitzuteilen: Meine Interessen in Deutschland liegen ausschließlich auf industriellem Gebiet. Es 276 Paul Ufermann, Könige der Inflation, Berlin 1924, S. 75, und Munzinger Archiv 1924 277 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 283
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handelt sich durchwegs um dauernde Beteiligungen, welche zum überwiegenden Teil, ja fast ausschließlich auf viele Jahre zurückreichen. Die Aktien der betreffenden Unternehmen gehören bei zweien derselben zu 100 Prozent, bei einem dritten zu 80 % mir und meinem Konzern. Eine weitere Beteiligung an einer deutschen Großindustrie habe ich gemeinsam mit industriellen Freunden (die Gruppe Stinnes-Deutsch-Luxemburg) zur dauernden Syndizierung erworben. Mit Warengeschäften, Effekten- oder Valutenspekulationen habe ich mich nie abgegeben. Weit davon entfernt, jemals etwas zur Beschleunigung des Markrückgangs beigetragen zu haben, habe ich an der Kursgestaltung der Mark nur jenes Interesse, welches sich naturgemäß aus meinen industriellen Beteiligungen ergibt. An eine Verlegung meines Wohnsitzes nach Deutschland oder eine außerhalb des oben erwähnten Rahmens liegende intensivere Betätigung dortselbst habe ich nicht im Entferntesten gedacht. Die vollkommen unbegründete Behauptung, dass ich mich je in Deutschland oder in Österreich oder sonst wo an volkswirtschaftlich schädlichen Transaktionen beteiligt hätte, weise ich mit größter Entrüstung zurück. Ich nehme für mich das Recht in Anspruch, mich industriell in Deutschland genauso unbelästigt betätigen zu dürfen, wie dies seitens deutscher Industrieller in Italien geschieht. Eine andre Betätigung interessiert mich nicht. Diese aber möchte ich ausüben können, ohne Gegenstand solcher Angriffe zu sein, welche sich auf nichts anderes, als auf haltlose allgemeine Anschuldigungen gründet. Indem ich Sie, sehr geehrter Herr Minister, bitte, diese meine Erklärung zur Kenntnis zu nehmen und ich es Ihnen selbstverständlich überlasse, von ihr jeden Ihnen geeignet erscheinenden Gebrauch zu machen, gestatte ich mir noch hinzuzufügen, dass ich angesichts der breiten Öffentlichkeit, vor welcher sich die ganze Diskussion abgespielt hat, Ihre Zustimmung hiezu voraussetzend, Abschriften dieses Schreibens der Publizistik zugänglich zu machen. Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr ergebener Camillo Castiglioni m.p.“278
278 Schreiben Castiglionis an Minister Severing, Neues Wiener Tagblatt, 6. Dezember 1922. Bei den angegebenen industriellen Beteiligungen handelte es sich um 100 % des 150 Millionen Mark betragenden Aktienkapitals der Bayrischen Motorenwerke, das gesamte Aktienkapital von 3 Millionen der Hansa-Brandenburgschen Flugzeugwerke AG, 80 % des 16 Millionen Kapitals der Oertz-Werft in Hamburg und 50 % der Austro-Daimler Motorenwerke AG in Berlin. Ferner besaß er eine Reihe von Grundstücken im Westen Berlins. Castiglionis Besitz in Deutschland, Neues Wiener Journal, 8. Dezember 1922
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Die Antwort Dr. Müllers erschien im Berliner „Acht-Uhr-Blatt“: „Herr Castiglioni ist der Haupttypus der Nutznießer der sterbenden Volkswirtschaft Österreichs, der es trotzdem wagt, sich als einen harmlosen Mann hinzustellen, der nur an ein paar industriellen Unternehmungen beteiligt ist. Castiglioni ist der Mann, der über alle nötigen Qualitäten verfügt, die zu seinem Metier gehören. Wer die Tüchtigkeit dieses Herrn in Österreich kennt und wer weiß, wie er dort in der Presse und auch im allgemeinen Volksbewusstsein eingeschätzt wird, der muss sich doch sagen, dass sich Castiglionis letzte Erklärung nur als ein Versuch erklären lässt, seine Tätigkeit in Deutschland haarscharf von seiner österreichischen Wirksamkeit zu trennen. Ich halte es nicht für zulässig und bezweifle auch, dass dieser Versuch gelingen wird.“279 Die Aufnahme in der Presse war naturgemäß recht unterschiedlich. Dem ihm wohlwollend gegenüberstehenden „Neuem Wiener Journal“ gab er eines seiner seltenen Interviews, was doch zeigte, dass ihn die öffentlichen Vorwürfe getroffen hatten. „In dem großen, im Stil der italienischen Renaissance eingerichteten Raum stehe ich Camillo Castiglioni, dem legendären Billionär gegenüber, dem man in deutschen Landen den Namen ‚der österreichische Stinnes‘ beigelegt hat. Man würde dem Äußeren dieses Mannes kaum den Sieger der Nachkriegszeit anmerken, der mit erstaunlicher Ruhe und Sachlichkeit, unbekümmert um Bewunderung und Geringschätzung, um Hass und Liebe, die um seine Person emporflammten, zielbewusst seinen Weg, den Gang des materiellen Erfolges, geht. Er ist erstaunlich einfach gekleidet, kein Schmuckstück deutet auf seine schier unermesslichen Reichtümer hin – als sollte schon dadurch gekennzeichnet werden, dass Castiglioni, der bekanntlich einen Großteil seines Vermögens in Kunstsammlungen besitzt und viel für Wohlfahrtszwecke verwendet, von seinem Reichtum für sich selbst nur wenig benötigt. Ein Jünger Lavaters280 würde kaum viel Glück bei ihm haben, denn weder das gutmütige Gesicht noch die behäbige Figur lassen auf die ungewöhnliche Energie und den eisernen Willen schließen, die man als persönliche Voraussetzung seiner Laufbahn halten möchte. Nur die nervöse, hastige Art zu sprechen deutet auf einen Mann hin, der sich zu dem amerikanischen Wahlspruch ‚Time is Money‘ bekennt. Er ist verschlossen, äußerst sich ungern, und der Interviewer, der ihm gegenüber steht, hat keine leichte Aufgabe unternommen.“ Nach dieser schmeichelhaften Darstellung kommt Castiglioni selbst zu Wort: „Ich habe noch keinem Journalisten ein Interview gewährt – erklärte er –, und wenn 279 Dr. August Müller, Acht-Uhr-Blatt, 8. Dezember 1922 280 Nach Wikipedia: Bekannt wurde Lavater durch seine „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ (4 Bände, 1775–78), in denen er Anleitung gab, verschiedene Charaktere anhand der Gesichtszüge und Körperformen zu erkennen.
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ich diesmal eine Ausnahme machen soll, so geschieht dies das erste und letzte Mal in meinem Leben. Sie fragen mich, was ich auf die Beschuldigungen des deutschen Abgeordneten Doktor Müller zu antworten habe? Es fällt mir naturgemäß schwer, mich mit den Anwürfen des Herrn Doktor August Müller zu befassen, der in seiner im Berliner ‚Acht-Uhr-Abendsblatt‘ erschienenen Rechtfertigung selbst unumwunden zugibt, dass er keinerlei konkrete Daten gegen mich vorbringen kann. Wie man sieht, hat es sich Herr Doktor Müller sehr leicht gemacht, indem er den absoluten Mangel an tatsächlichem Beweismaterial durch öde Schimpfereien ersetzte. Hätte ich die Gewissheit, dass jeder Zeitungsleser, welcher von den gegen mich gerichteten Angriffen des Herrn Doktor Müller Kenntnis erhielt, auch eine vollständige, und nicht etwa tendenziös gekürzte Wiedergabe der im preußischen Abgeordnetenhaus von Herrn Minister Severing abgegebenen Antwort, sowie auch schließlich das darauf erfolgte vorgelegte Gestammel des Herrn Doktor Müller las, dann könnte ich getrost alles Übrige dem gesunden Urteil jedes einzelnen überlassen. Leider ist aber in der Regel jeder einzelne über den Verlauf einer solchen, ihn nicht unmittelbar interessierenden Affäre nur Bruchstückweise unterrichtet.“281 Bei der „Arbeiter-Zeitung“ kam Castiglioni nicht so gut weg. Es sei wohl klar, dass er nicht nach Berlin gekommen war, um sich billig Stiefel zu kaufen, sondern um die deutsche Industrie an sich zu ziehen. Außerdem fanden sie die angebliche industrielle Betätigung lächerlich. „Also fabriziert etwa Herr Castiglioni etwas? Dass er selbst die Spindel drehen oder den Hammer schwingen würde, wagen wir gar nicht auszusprechen; aber leitet er nur irgendeinen Betrieb? Nein, er schiebt Aktien! Und diese Schieberei möchten sie noch industrielle Betätigung nennen!“282 Auch „Der Abend“ sah diesen Zug nach Berlin anders. „Die Schieber verließen scharenweise die Stadt Wien und übersiedelten nach Berlin. Unter ihnen Herr Castiglioni. Es ist bekannt, wie es ihm dort ergangen ist. Berliner Zeitungen nahmen gegen ihn Stellung und er musste den Schauplatz seiner Tätigkeit verlassen. Etwas später trug sich ein Ereignis zu, das noch nicht bekannt ist. Als Herr Castiglioni fühlte, dass es in Berlin für ihn zu kriseln beginne, versuchte er in Paris festen Fuß zu fassen. Man hat ihn, dort ohne Aufsehen, aber sehr rasch an die Luft gesetzt ... Wir sehen an dem Beispiel Castiglionis, dass Berlin und Paris, Paris noch erfolgreicher als Berlin, sich der Einwanderung des fremden Spekulantentums mit Erfolg erwehren ...“ Die Franzosen sagen, sie seien nicht fremdenfeindlich, „aber in der französischen Wirtschaft und im französischen Geldverkehr sollten nur Leute tätig sein, die mit französischen Augen sehen und an das Schicksal Frank281 Dr. Desiderus Papp, Gespräch mit Castiglioni, Neues Wiener Journal, 7. Dezember 1922 282 Castiglionis „Publizistik“, Arbeiter-Zeitung, 9. Dezember 1922
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reichs denken“.283 „Herrn Müller wird es wahrscheinlich unerwünscht sein“, ergänzte die Zeitung wenige Tage später, „aber es lässt sich offenbar nicht ändern, dass sein löblicher Kampf gegen den plötzlichen Italiener Castiglioni ein weniger löblicher Kampf für die Absichten seines Landsmannes Stinnes ist. So heißt es nämlich. Zwischen Herrn Stinnes und Herrn Castiglioni soll eine gewisse Abkühlung der freundschaftlichen Gefühle eingetreten sein; die waren warm, solange die Alpinen stiegen, sie werden kälter, je mehr sie fallen. So kann, wie man sich erzählt, Herr Castiglioni nicht auf den mächtigen Einfluss des Herrn Stinnes bei Aufenthaltsbewilligungen rechnen. Herr Stinnes soll diesbezüglich mit der ganzen Offenheit, über die man als Preuße verfügt, wenn man außerdem noch der reichste aller Preußen ist, jeden Zweifel beseitigt haben. So kommt es, dass Herr Castiglioni Berlin übel gelaunt verlassen hat. Es ist noch unbestimmt, ob und wann er wieder kommen wird.“284 Und die „Weltbühne“ schrieb, dass der biedere, brave Dr. Müller über die Freizügigkeit des internationalen Kapitals doch etwas zu naive Vorstellungen habe. Niemand müsse körperlich nach Deutschland übersiedeln, um dort Geschäfte zu machen. Die internationalen Konzernchefs brauchen keinen festen Wohnsitz, sie üben ihre Tätigkeit im Herumziehen aus und finden überall Personen, derer sie sich wirtschaftlich und politisch bedienen könnten. Castiglioni denke daher nicht daran, sein Wiener Palais zu verlassen „und sich mit den Berliner Antisemiten herumzuärgern“.285
283 Paris, Berlin, Wien, Der Abend, 19. Dezember 1922 284 Der Abend, 9. Dezember 1922 285 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 283
Rien ne va plus Der Schock der Stabilisierung 1922 war der Spuk der Inflation vorüber. Der österreichischen Regierung gelang es, eine vom Völkerbund in Genf organisierte internationale Anleihe von 650 Millionen Goldkronen zu erhalten, mit welcher der Budgetausgleich erreicht werden sollte. Dies gelang bis 1924 durch Steuererhöhung, Ausgabenkürzung und Beamtenabbau. Die Bedingungen der Anleihe waren jedoch erheblich, sie war durch Staatseinnahmen garantiert, der Zinssatz war außergewöhnlich hoch und in Wien residierte Dr. Alfred Rudolf Zimmermann, langjähriger Bürgermeister von Rotterdam, als Kommissar des Völkerbundes, der praktisch alle Staatsausgaben zu genehmigen hatte. 1925 wurde schließlich der Schilling zum Kurs von 10.000 Kronen eingeführt, der zu einer der stabilsten Währungen der Zwischenkriegszeit wurde. Die Stabilisierung der Währung brachte die an die Geldentwertung gewöhnte Wiener Finanzwelt vorerst in arge Bedrängnis. Nun begann eine Art „Bewältigung der Vergangenheit“. Bereits im Oktober 1921 war eine Bankkommission eingerichtet worden, welche dem Nationalrat zu berichten hatte. Diese stellte zahlreiche Übertretungen der Devisenordnung und andere Verfehlungen fest. „Aber auch ohne Bankkommission hat niemand an solchen gezweifelt und die Devisenzentrale und andere Amtsstellen wären zu diesen Konstatierungen hinlänglich befugt gewesen.“ Ein Großteil der Devisen-Inlandsgeschäfte war nicht legal, sondern spekulativ gewesen und hatten einen ungünstigen Einfluss auf den Kurs der Krone gehabt. Aber auch das war keine neue Erkenntnis. Die Schlussfolgerungen der Kommission deckten sich im Wesentlichen mit der Auffassung der Fachkreise, dass die zum Devisenhandel zugelassene Zahl der Firmen viel zu groß gewesen war. „In ihrem allgemeinen Teil konstatiert die Bankkommission die Hypertrophie des Bankwesens, sowohl durch die allzu freigiebige Erteilung von Konzessionen für die Gründung von Aktienbanken als auch durch die bisher keiner Konzession bedürftigen Privatfirmen, und macht dann auf besonders krasse Missbräuche bei einer von ihr einer besonderen Untersuchung unterzogenen älteren Hypotheken- und einer Mobilbank aufmerksam,
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die, ohne dass die Namen genannt würden, leicht erraten werden können. Sie konstatiert die allgemeinen Schäden, welche die schrankenlose Ausbreitung des Spieltriebes durch die im volkswirtschaftlich nützlichen Vermittlungsgeschäft unmöglich einen Wirkungskreis findenden Banken und Firmen mit sich bringt, weist auch auf die Hypertrophie der Bankangestellten hin, deren Jahresbezüge nach dem Septemberindex auf mindestens 450 Milliarden Kronen zu schätzen sind, wozu noch die Gewinne aus eigenen Spekulationen der Bankbeamten kommen, und die bei dem früher oder später unvermeidlichen Aufhören der Konjunktur für die Angestellten selbst, die in größerer Zahl ihr Brot verlieren werden, große Gefahren bringt. ... Im Allgemeinen kann also konstatiert werden, dass die Bankkommission in ihrem Berichte auf viele tatsächlich bestehende Schäden hinweist und nützliche Anregungen zu ihrer Beseitigung oder wenigstens zu ihrer Milderung macht. Aber es sind fast ausnahmslos alte Erkenntnisse.“286 „Der Morgen“ sprach 1923 vom Finish des reinen Spekulationsgeschäfts: „Spekulative Kampagnen schlagen fehl, auch wenn man den Schauplatz seiner Tätigkeit verlegt, das Geld liegt nicht mehr auf der Straße, weil es niemand zum Fenster hinaus wirft; der Kronenkurs ist stabil, und die zu Ende geführte Kreditaktion beschirmt ihn durch mehrere Monate vor epileptischen Anfällen. An der Geldentwertung lässt sich nichts mehr verdienen, und die Inflationserscheinungen kann man nicht nur so aus dem Handgelenk auf ihre Urformen zurückführen. Jetzt heißt es wieder allseits konstruktive Arbeit leisten, jetzt haben vor dem Erfolg die Götter den Schweiß gesetzt. Und aus vielen bangen Gemütern steigt darum die Frage: Sind die gegenwärtigen Bank- und Finanzleute auch imstande, Kleinarbeit zu verrichten, können sie ein großes, laufendes Geschäft aus unzähligen Teilfäden zu einem hübschen Gespinst formen; finden sie sich in allen Details des Bankgewerbes zurecht, um die Regien auf ein Mindestmaß herabzudrücken; haben sie sich mit einer Mitarbeiterschaft umgeben, die nicht bloß im Konjunkturstrom schwimmen, sondern auch ihre maschinelle Funktion erfüllen können, und vor allem, sind sie heute, wo sie in Automobilen daherrasen, in herrlichen Wohnungen hausen, und wo sie das Glück so verzärtelt hat, noch fähig, umzulernen und vor allem die Defekte ihres Wissens und ihrer Sachkundigkeit zu beseitigen? ... Wer mit Millionen und Milliarden hasardiert hat, ehrt nicht den Strom der kleinen Tausender, aus denen sich künftighin die Millionen und Milliarden zusammensetzen werden ... Dieses Misstrauen hat entschieden eine nicht zu bagatellisierende soziologische Seite. Es entspringt der Erkenntnis, dass der Varietestil des Bankgewerbes eine Modeerscheinung von gestern ist und dass die Akrobaten auf dem hohen Seile der Arbitrage und der Effektenspekulation nicht mehr volle Kassen machen.“287 286 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 154–156 287 Das schleichende Misstrauen, Der Morgen, 19. Februar 1923
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Die Wiener Banken hatten von 1914 bis 1922 eine achtjährige Periode krisenhafter Erschütterungen mitgemacht. „Was damals bei den Banken sich abspielte, war ein Bruch mit allen Traditionen, eine Verleugnung bisher hoch gehaltener Geschäftsprinzipien, die Ausnützung neuer irregulärer Verdienstmöglichkeiten. Hand in Hand damit ging naturgemäß auch eine Umwälzung in den Personalverhältnissen. Was bis dahin bei den dispositiven Persönlichkeiten am höchsten geschätzt war: Kenntnis und Erfahrung im Spitzenleben der Wirtschaft, Beherrschung aller Raffinements der Finanztechnik, Eindringen in die Bedürfnisse der Produktion – das alles war plötzlich nahezu wertlos geworden ... Kronenkontermine und Arbitrage, das waren die beiden Hauptgeschäfte der Banken geworden, und diese neuen Geschäftszweige verlangten nach neuen Männern mit neuen geschäftlichen Qualitäten. Wer am fixesten an fünf Telefonen zugleich disponieren konnte; wer am geschicktesten im Börsensaal die Agenten zu dirigieren wusste; wer ohne jede intellektuelle Hemmung dem Inflationsinstinkt restlos sich hinzugeben vermochte, der war der Mann des Tages, der war der wertvollste und geschätzteste Bankfunktionär. Denn er brachte Geld ins Haus, ins Haus der Banken und meistens nebenbei auch in sein eigenes.“ Diese Wunderkinder der Inflation, „die mit den künstlerischen Wunderkindern eines gemeinsam hatten, dass die Flamme ihres Genies nach kurzem Leuchten wieder verlosch. Zwei, drei Jahre beherrschten sie meisterhaft die Instrumente und das Orchester des finanziellen Schiebertums: den Chorus der Coulissiers, den internationalen Draht und Logo-Kalkulator. Während dieser Zeit führten sie ein Primadonna-Dasein, avancierten wie sie wollten und galten als die prädestinierten Männer der Zukunft.“ 288 Für die Bankleitung waren jene Disponenten am tüchtigsten, die den meisten Umsatz und Gewinn brachten. Die Bankleitung war meist gar nicht imstande, die Operationen dieser Leute zu kontrollieren. „Sie verstehen zumeist das Devisengeschäft gar nicht, und wenn sie es verständen, so hätten sie nicht die Zeit dazu, sich mit diesem Geschäftszweig, der heute der wichtigste und einträglichste im Bankgeschäft geworden ist, abzugeben. So können die Disponenten tatsächlich täglich und jeden Augenblick Geschäfte im Ausmaß von Millionen und hundert Millionen abschließen, die Bank für solche Summen engagieren, ohne dass jemand sie kontrolliert, auf ihre Geschäfte Einfluss nimmt. Wegen eines Kredits von ein paar Millionen an eine industrielle Firma werden Direktionskonferenzen abgehalten, aber die Abschlüsse im hundertfachen Betrag in der Devisenabteilung hängen einfach von der Tüchtigkeit und Vertrauenswürdigkeit eines meist jungen Beamten ab.“ 289 Dann kam der Sturz aus dem Himmel. Das Verbot des Devisenhandels war der Vor288 Die Herren der Bankenwelt, Die Neue Wirtschaft, 4. Jänner 1924 289 M.W., Großbanken-Panama, Wiener Montagspresse, 5. Oktober 1921
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läufer der Währungsstabilisierung, und nun mussten sich die Banken wieder auf ihr normales Geschäft konzentrieren. Es zeigte sich nun, „dass die verwöhnten Stars in Wirklichkeit gar keine Bankleute waren, dass sie vom wirklichen Bankgeschäft keine Ahnung hatten, und für das produktive Wirken der Kreditinstitute, für die Befruchtung von Industrie, Handel und Verkehr sich als völlig untauglich erwiesen ... Die Inflationstalente sind verschwunden und spielen im heutigen Bankleben keine Rolle mehr ... Von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen, regieren heute in den großen Banken dieselben Menschen, die dort vor zehn Jahren regiert haben ... Ausnahmen machen nur die Unionbank und die Depositenbank, in deren Personalstand Ausnahmemenschen von außen eingegriffen haben ... Bei allen anderen Großbanken aber sitzt heute im obersten Direktionsbüro noch immer derselbe Mann wie 1913.“290 Man konnte nie daran zweifeln, dass die zahllosen Gründungen von Aktienkleinbanken, Bank- und Börsenfirmen zu unliebsamen Ereignissen führen würden, sobald die Inflationskonjunktur im Bankgewerbe abreißen würde, schrieb „Der Österreichische Volkswirt“ am 3. März 1923. Und er sprach von Defraudationen und Betrügereien von Leitern von Zwergbanken, von Schwindlern, die sich zur Zeit der Leutenot in die Beamtenschaft älterer Banken einzuschleichen wussten. Ohne Castiglioni beim Namen zu nennen, sprach die Zeitung vom Beispiel einer alten Mittelbank, die „unter die Herrschaft eines Kriegsgewinners gelangt, der aus ihr anscheinend nichts anderes machen wird wie aus den anderen Banken, auf die er bisher die Hand gelegt hat, nämlich ein Instrument für seine persönlichen Geschäfte und seine persönliche Bereicherung“. Auch erfahrene Leiter alter Institute sind „offenbar überlegenen Betrügern aufgesessen“ und es hat sich herausgestellt, „dass einige Beamte des Instituts teils aus Gewinnsucht, teils aus Unerfahrenheit und Gutmütigkeit die Durchführung der Betrügereien erleichtert haben, indem sie ihm seine falschen Schecks ausbezahlten“.291 Mit dem Ende der Inflation begann noch einmal eine Hausse an der Wiener Börse, bevor diese lange Zeit in die Bedeutungslosigkeit versank. „Für die Neuemission von Aktien besteht auch deshalb wieder große Geneigtheit, weil im Augenblick die Meinung, dass eine gewisse Besserung des Kronenkurses in Aussicht steht, ziemlich weit verbreitet ist und die Industrie daher gerne so weit als möglich ihre Debitsaldi bei den Banken decken möchte, um nicht später etwa in höherwertigen Kronen zurückzahlen zu müssen. Daher steht bei allen Banken eine ganze Reihe von Kapitalerhöhungen der Konzernunternehmungen in Vorbereitung.“292 290 Die Herren der Bankenwelt, Die Neue Wirtschaft, 4. Jänner 1924 291 Bankskandale, Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 561–563 292 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 318
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Das Devisen- und Effektenkommissionsgeschäft war auf einen Bruchteil zusammengeschrumpft und die Kreditanforderungen der Industrie führten zu Wucherzinsen. Die großen Banken konnten diese Erfordernisse noch durch das internationale Geschäft, Kapitalerhöhungen ihrer Konzernunternehmungen und andere Finanzgewinne decken, „aber die jüngeren Banken, die nicht von altem Fett zehren und keine großen Finanzgewinne machen können, sind in viel bedrängterer Lage. Von den kleinen Banken – klein, wenn sie auch heute schon zumeist ein Aktienkapital von mehreren 100 Millionen Kronen haben mögen – gar nicht zu reden. Sie, deren Haupteinnahmensquelle von Anfang an zumeist das Börsenspiel in Effekten und Devisen für eigene oder fremde Rechnung und die Beteiligung an allerlei Schiebergeschäften war, haben heute überhaupt nur geringfügige regelmäßige Erträgnisse ... Wenn die Leiter mancher dieser Institute nicht va banque spielen würden, so hätten sie wohl schon Veranlassung, sehr energisch an ihre Konsolidierung zu denken, sonst werden sie früher oder später vom Schicksal ereilt werden, das, je länger sie sich fortzufretten suchen, umso verlustreicher für die Aktionäre und Kunden sein dürfte.“ Aber auch für viele potente Mittelbanken würde der Moment kommen, „wo sie nur durch Vereinigung mit anderen leistungsfähigeren Gebilden ihren Platz im Wirtschaftsleben behaupten werden können ... Es besteht aber die Gefahr, dass die Verwaltungen den noch günstigen Augenblick zu solchen Fusionen versäumen, da jede solche Fusion ein Verzicht auf die Selbständigkeit der Bank und für manche Mitglieder der Verwaltung auch einen Verzicht auf die Verwaltungsratsstellen und den eventuell auch für das eigene Geschäft ausnützbaren Einfluss bedeutet.“293 Die Kapitalerhöhungen häufen sich auch, da die Aufbringung der Mittel zur Bezahlung der Beamten, an die während der Inflationszeiten niemand dachte, zum Problem wurde. Bis 1924 war die Zahl der Bankbeamten in ganz Österreich auf 24.641 angewachsen, was vor allem die Wiener Großbanken betraf:294 Allein bei den zehn größten Banken war die Zahl der Angestellten von 5.500 im Jahr 1913 auf 16.000 zehn Jahre später gestiegen. Nur die niedrigsten Bankangestellten konnten ihr Einkommen der Inflation anpassen, die Direktoren hielten sich durch Beteiligungen usw. schadlos, aber alles dazwischen verfügte nur mehr über 50 % bis 60 % des Friedenseinkommens. Mit dem Ende der Inflationszeit kam ein Abbau der Bankbeamten, der 1924 an die 2.000 Personen betraf. Die Entlassenen sollen in der Mehrzahl Juden gewesen sein, die vielfach durch den Krieg nach Wien gekommen waren. „Der Jude war vor dem Krieg – insoweit er sich nicht den freien Berufen anschloss – Kaufmann, stolz auf seine Unab293 Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 59 f. 294 Die internen Spesen der Banken, Die Neue Wirtschaft, 31. Jänner 1924
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hängigkeit, er stellte seine Sache nur auf sich, auf sein in den Lehrjahren erworbenes Können. Der Beruf des Bankbeamten, einer nach Lage der Dinge fest abgeschlossene Schichte, aus der nur wenige unter ganz besonders glücklichen Umständen den Weg hinauf fanden, lag ihm im Großen und Ganzen fern. Der jüdische Kaufmann ist dabei nicht schlecht gefahren. Er fand sein Auskommen und konnte seine Kinder zu guten Bürgern erziehen, wobei ihm und ihnen die naturgegebenen Weltverbindungen des Judentums zustatten kamen. Der Sohn des jüdischen Kaufmanns war, wenn er den Beruf des Vaters ergriff, in Wien so gut wie in Budapest, in Prag, in New York zu Hause, sicher, überall verständnisvolle und sympathische Aufnahme zu finden. Der Krieg hat diese Verbindungen zerrissen, der jüdische Kaufmann ist proletarisiert, der Sohn musste seine eigenen Wege gehen und die führten zur Bank. Nun schneidet auch diese Möglichkeit jäh ab und in Wien allein müssen an die tausend junge jüdische Leute umlernen.“295 Die Zahl der Banken hatte sich nun drastisch reduziert. Während sie 1919 bei 180 lag, ist sie bis 1923 auf 358, auf praktisch das Doppelte, angestiegen, und bis 1927 wieder auf 192 zurückgegangen. Bereits seit 1921 mehrten sich die Insolvenzen von vorher erfolgreichen Spekulanten. Darunter etwa jene von Max Weber, Verwaltungsrat und Aktionär von gut einem Dutzend von Gesellschaften, Besitzer eines großen Trabergestüts, eines Palais in der Joaquingasse, Eigentümer einer luxuriösen Wohnung in der Taubstummengasse und einer Villa in Ischl. „Herr Max Weber kam vor Jahren vom Chemnitzer Wirkwarengeschäft nach Wien, wo der die Kriegskonjunktur ausnutzend aus Schweden große Lebensmittellieferungen für Österreich entrierte und durchführte und dabei ein schönes Stück Geld verdiente. Mit einem ansehnlichen Kapital also trat er bereits in die große Konjunktur nach dem Zusammenbruch ein und wusste so ziemlich mit allem, was Käufer findet, Geschäfte zu machen. Hinter- und nebeneinander bildete er Gesellschaften, die Wälder zu exploitieren, Champagner zu erzeugen, Papier zu verkaufen hatten; zwischendurch kaufte er einen Waggon Bilder, dann daneben drei Waggons Reitzeug, mit einem Wort, es gab gar nichts, aus dem Max Weber nicht Geld zu machen verstand. Als sich die Ambition bei ihm regte, kaufte er gemeinsam mit Herrn Schöngut von der verkrachten englischen Ronachergesellschaft das Ronachergebäude um einen Betrag von drei Millionen Kronen. Das Haus verpflichtete er an Direktor Dorn, dessen Pachtvertrag gerade jetzt abläuft. Da Gott die Bäume nicht in den Himmel wachsen lässt, konnte es nicht verhindert werden, dass Max Weber auch Geschäfte machte, die eben nicht so glatt gingen.“ Er nahm eine Anleihe in Deutscher Mark auf, als diese bei vier Kronen stand, später aber mit 12 Kronen bewertet wurde. Ebenso eine 295 Die Bankbeamten, Wiener Morgenzeitung, 2. Oktober 1924
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Anleihe in italienischer Lira, als diese bei 6 Kronen stand, später aber auf 41 stieg. Die Gläubiger waren durchwegs angesehene Banken, vor allem eine „arische Mittelbank“. Das Ronachergebäude war an die 30 Millionen wert, was aber nicht ausreichte, um alle Verbindlichkeiten abzudecken. Das Ronacher war damit seinem eigentlichen Zweck entzogen. Es hatte zwar die Absicht gegeben, ein Operettentheater daraus zu machen, solange aber die Insolvenz abgewickelt wurde, war an ein solches Projekt nicht zu denken.296 An Max Weber konnte man sich nicht mehr halten, er war mit unbekanntem Ziel verreist. Unbekannt verreist war 1921 noch ein weit größeres Kaliber, der Holländer Duim. Er hinterließ einen Verlust von 1,5 bis 2 Milliarden Kronen, an dem die meisten Wiener Großbanken und auch einige Privatbanken beteiligt waren. Der 25-jährige Mann kam mit guten Referenzen nach Wien und stieg erfolgreich in die Devisenspekulation ein. Er kam aus einem wohlhabenden Haus und berief sich auf ein Einführungsschreiben des Amsterdamer Vertreters der Bank Mendelssohn. Die Bank bestritt allerdings diese Empfehlung. Er trieb einen riesigen Aufwand und wollte rasch reich werden. Seine Anfänge lagen ziemlich im Dunkeln. „Man behauptet, dass er durch Juwelen- oder Banknotenschmuggel oder andere Schiebergeschäfte sich ein Vermögen erworben habe, was ja in den letzten Jahren nicht schwer war. Aufgrund dieses Vermögens, das er in einer Wiener Bank deponierte, wurde er nun als Klient geschätzt ... Dass dies gerade bei der Unionbank geschah, die im allgemeinen nicht nur vorsichtiger, sondern auch gewissenhafter zu sein pflegte als manche andere Bank, zeigt eben nur, wie entartet das Bankwesen in Wien, übrigens gewiss auch an vielen anderen Plätzen ist. Die Bank machte sich gar kein Gewissen daraus, für den Holländer, der gar nicht vorgab, seine Devisengeschäfte zur Abwicklung von Warengeschäften zu machen, der also nur spielte, diese für den Kronenkurs gewiss nicht immer vorteilhaften Geschäfte zu vermitteln ... Ginge den Banken nicht ihr Verdienst weit über die öffentlichen Interessen, dann würden sie die Ausführung rein spekulativer Aufträge in dieser Zeit, wo die Devisenkurse das Wohl und Wehe der Allgemeinheit bestimmen, grundsätzlich ablehnen. Aber um die Kundschaft des Holländers rissen sich bald noch mehrere andere Banken.“297 Bei den Börsengeschäften über eine Bank musste er jedoch Provisionen zahlen, ein Depot halten und konnte den genauen Kurs nicht wirklich kontrollieren. So zog es ihn an die Börse. Seine Hausbank, die Unionbank, ermöglichte ihm den Eintritt, um den Kunden nicht zu verlieren. Duim hatte vorher schon einmal eine Gastkarte an der Börse erhalten, diese aber über die Zeit hinaus benutzt. Infolgedessen wurde ihm 296 Elf Millioneninsolvenzen, Der Morgen, 25. Juli 1921 297 Der Österreichische Volkswirt, 1921, S. 35
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Der Schock der Stabilisierung
Bild 22 „Der Morgen,“ Wien, 10. Oktober 1921
eine weitere Karte verweigert. Die Banken erneuerten aber das Gesuch, das schließlich bewilligt wurde. „Duim bezahlte für die Börsenkarte 500.000 Kronen und dieser relativ enorme Betrag lockte die Börsenkammer, von ihren strengen Satzungen abzusehen. Die Großbanken taten noch ein Übriges, sie erzwangen die Aufnahme Duims in die Reihen der Kommissäre der Devisenzentrale ...“298 Damit hatte man den Bock zum Gärtner gemacht, wie „Der Österreichische Volkswirt“ kritisierte. „Jeder wusste, dass der Bewerber nur ein Spieler sei, er hatte kein Warengeschäft, keine Firma, er hatte auch keine Kunden, für die er Geschäfte ausführte, er kam einfach als Spekulant an die Börse wie hundert andere, die man in diesen Jahren zugelassen hat, obwohl es wahrlich schon vordem Spieler genug an der Börse gab ... Was haben all diese in anderen Berufen gescheiterte oder zu Geld gekommenen Leute, die man in den letzten Jahren zur Börse zugelassen hat, überhaupt dort zu tun? ... Durch die wahllose Zulassung von Mitgliedern ist die Börse zum Spielsaal geworden ... Heute werden all die Hunderte neuer Firmen, die vor ein paar Jahren, ja oft vor ein paar Wochen an die Börse gekommen sind, die niemand kennt, von den meisten als ‚Hand‘ genommen ... Heute in dem Wirbel der Kurse gehören vor allem große Fixigkeit und gute Nerven dazu und daher sind junge Menschen besonders geeignet.“299 298 Der Finanzskandal der Großbanken, Der Morgen, 3. Oktober 1921 299 Der Österreichische Volkswirt, 1921, S. 36
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Es stand außer Frage, „dass der Milliardenbetrug Duim die ungehörigsten Geschäftpraktiken der Wiener Groß- und Mittelbanken unter der Patronanz der Wiener Börse in seiner Wirklichkeit aufzeigt. Dieselben Finanzinstitute, deren Tresore gegenüber den bescheidensten Wünschen der österreichischen Staatsverwaltung eine eherne Verschlossenheit bekunden, legen gegenüber einem internationalen Desperado eine Freigiebigkeit an den Tag, die an der korrekten Geschäftsgebarung unserer Großbanken entschiedenst zweifeln lässt. Die Leichtgläubigkeit dieser Finanzinstitute bei Millionenbetrügern ist ja bereits sprichwörtlich geworden ... Denn es liegt durchaus nicht im geschäftlichen Interesse dieser Institute, eine Stabilisierung unserer Krone zu erreichen, die Produktionsfähigkeit unserer Industrie und unseres Gewerbes wieder herzustellen, sondern sie sehen einzig und allein nur im stürmischen Auf- und Abgleiten unseres Zahlungsmittels die Möglichkeit, ihre Millionengewinnste anzuhäufen und sich für alle Ewigkeit ein sorgloses, aber auch arbeitsarmes, nur dem Luxus dienendes Leben zu verschaffen.“300
Die Franc-Spekulation Ab Januar 1924 fiel der Kurs des französischen Franc. An der Spitze dieser Spekulation sollen Camillo Castiglioni und Dr. Fritz Mannheimer, der mit dem Bankhaus Mendelssohn verbunden war, gestanden sein. Die wichtigsten Börsen waren demnach Wien und Amsterdam. Dies sprach sich herum und immer mehr Spekulanten schlossen sich der Valutenspekulation an, wodurch eine Panik entstand, die den Kurs weiter nach unten trieb. Ende 1923 bekam man für 15 Franc einen Dollar, am Höhepunkt der Krise, Anfang März 1924, benötigte man schon 28 Franc. Der französische Franc war damit für einige Zeit der Liebling der internationalen Spekulation geworden. Wer in Wien und Berlin bei einem Währungssturz den Grund zu einem Vermögen gelegt hatte, eilte nach Paris. Die Technik der Währungszertrümmerung war inzwischen weit fortgeschritten und um gegen den Franc zu spekulieren, musste man nicht einmal eine Reise nach Paris unternehmen. Die Wiener Bankhäuser hatten sich auf das Pariser Geschäft eingestellt und in Zeitungsinseraten und Rundschreiben dafür geworben. Die Spekulation ging von einem ständigen Sinken der französischen Währung aus. Dafür gab es drei Methoden: Einmal den Wareneinkauf gegen Termin, der vor allem von der Textilindustrie durchgeführt wurde. Zum anderen die Erwerbung von französischen Effekten auf Termin, die mit 25 Prozent und 50 Prozent Deckung abgeschlossen werden 300 M.W., Großbanken-Panama, Wiener Montagspresse, 5. Oktober 1921
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konnten. Den weitaus größten Anteil machte aber die Spekulation in Dollars gegen den Franc aus, das sogenannte Kabel Paris–New York. Das war das einfache glatte JobberGeschäft, das in den anderthalb Jahren, die seit dem Verbot des freien Devisenhandels in Wien vergangen sind, so schmerzlich vermisst wurde. Dass dem Franc dasselbe Schicksal beschieden sein werde wie der Krone und der Mark, war ein Dogma, an dem kein Devisenroutinier zu rütteln wagte. Dollar konnte man gegen Franken in Wien wie in Paris gegen eine Deckung von 25 Prozent in Devisen oder Franken prompt und per Termin ohne alle Formalitäten kaufen. Von dieser Möglichkeit wurde von Banken und Privaten der ausgiebigste Gebrauch gemacht. Die Rechnung war also einfach: Nach Ablaufen des Termins von ein bis drei Monaten und einem weiteren Sinken der französischen Währung übernahm man die Dollar, zahlte die reduzierte Franken-Schuld und der Rest – abzüglich Zinsen und Gebühren – blieb als Spekulationsgewinn. Dann intervenierte die französische Finanzpolitik am Devisenmarkt und die New Yorker Bank J. P. Morgan stellte der Banque de France einen 100-Millionen-Dollarkredit zur Verfügung. Die Baisse-Spekulation bekam kalte Füße, begann ihre Währungswetten glattzustellen und innerhalb weniger Tage war der Franc Kurs wieder bei 15:1 zum Dollar. „Es ist daher kein Wunder, dass seit jenem denkwürdigen Montag, da der Franc plötzlich zu steigen begann, in einigen Tausend Wiener Familien große Trauer herrscht.“ Die Großbanken und Großspekulanten behaupteten allerdings, dass sie alles vorausgesehen hätten und trugen ihre Verluste zumindest mit Würde und Anstand. „Nach den bisher gemachten Erfahrungen konnte man sich in diesen Kreisen nicht vorstellen, dass für ein Land mit sinkender Valuta eine Auslandsanleihe erreichbar sein würde. Das Zustandekommen der Morgan-Anleihe für Frankreich konnte daher eine Panik hervorrufen, die in der Geschichte der Währungsderouten nicht ihresgleichen hat. Inzwischen erzählte man sich, dass das Bankhaus Morgan durch das Ansteigen des Franc-Kurses bereits mehr verdient habe als die Millionen, die es Frankreich vorgestreckt hatte. Die Bank hatte sich zu dem niedrigen Kurs mit großen Summen an Franc eingedeckt, die nun um mehr als 30 % gestiegen waren. Die Beträge, die der Wiener Platz an der Franc-Hausse verliert, sind zum großen Teil nach Amerika gewandert. Das arme kleine Österreich hat seinen Tribut zum großen Fischzug der amerikanischen Devisenspekulation redlich beigesteuert.“301 An der Spekulation in Wien hatte nicht nur Österreich, sondern ganz Mittel- und Osteuropa teilgenommen. Die Verluste sollten daher enorm gewesen sein. Die Verluste aus den Kursdifferenzen zum französischen Franc wurden für den Wiener Platz mit 1,5 Billionen Kronen geschätzt, allerdings sollten höchstens zwei Fünftel auf Österreich entfallen zu sein, der Rest entfiel auf das Aus301 V. L. Ostry, Die Wiener Verluste am französischen Franc, Die Neue Wirtschaft, 20. März 1924
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land. Außerdem hatten manche Großanleger bereits rechtzeitig Warnzeichen erhalten und waren auf das Ansteigen des Francs umgeschwenkt.302 Die Franc-Spekulation hatte sich also blutige Köpfe geholt. „Es war vielleicht als warnendes Exempel notwendig, dass die Valutaspekulation einmal eine empfindliche Schlappe erleidet, damit sie endlich von ihren uferlosen Erwartungen kuriert wird.“ Der Kredit, den Frankreich erhalten hatte, war in seiner Größe an sich unbedeutend für den weiteren Verlauf der Währung. Außerdem wurde der Kredit nur gegen Golddeckung gegeben, das hieß, dass das in den Kellern der Bank von Frankreich ruhende Metall beweglich wurde. Damit hatte sich die Gelddeckung der Währung verringert, wodurch deutlich wurde, dass vor allem das Vertrauen der französischen Bevölkerung in ihre Währung das Wesentlichste war.303 Die Franc-Hausse führte zu einer EffektenBaisse an der Wiener Börse, zu einer generellen Krise, wobei der Kurs der dort notierten Aktien zwischen 20 % und 50 % fiel. Für die Spekulation war es daher umso schwerer, die Folgen der Franc-Krise abzufedern, da ihre finanziellen Reserven in Aktien dementsprechend verringert und nicht verkaufbar waren.304 Die „New York Times“ befürchtete sogar ein Moratorium, was aber von Finanzminister Kienböck sofort dementiert wurde.305 Da nun die Insolvenz von Bankbetrieben befürchtet wurde, errichteten die im Wiener Bankenverband zusammengeschlossenen Banken am 13. April 1924 ein Interventionssyndikat, um die Kurse zu stützen. Das Ausmaß betrug 200 Milliarden Kronen, mit denen der Panikstimmung an der Wiener Börse entgegengewirkt werden sollte.306 Die Zeitung „Der Abend“ stellte mit Genugtuung fest, dass Camillo Castiglioni auch nicht klüger gewesen war als die vielen Tausend Leute, die jetzt zugrunde gingen. Seine Franc-Verluste wurden auf 56 Milliarden österreichische Kronen geschätzt, was er aber aushalten sollte. Er habe schließlich bei seinem vierwöchigen Erholungsurlaub in Monte Carlo nicht weniger als vier Milliarden Kronen ausgegeben.307 Von französischer Seite wurde diese Offensive gegen den Franc in Wien sorgfältig beobachtet. Im Jänner 1924 wurde festgestellt, dass sich Camillo Castiglioni nach Paris begeben habe und auch andere Spekulanten ihre Aktivitäten nach Frankreich ausrichteten, da sie an den Börsen in Österreich und Deutschland keine ausreichenden Gewinnmöglich302 Nicht übertreiben, Der Morgen, 24. März 1924 303 Der Franc und seine Kontermineure, Der Morgen, 17. März 1924 304 Die Börsenverluste, Die Neue Wirtschaft, 24. April 1924 305 M.Lefevre-Pontalis, Ministre de la République Francaise en Autriche à son Excellence Monsieur le Président du Conseil, Ministre des Affaires Etrangeres, Vienne, le 14 Avril 1924, Archives Economiques et Financières, Paris F30 622 306 Das Ende der Börsenderoute, Der Morgen, 14. April 1924 307 Der Abend, 28. März 1924
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keiten mehr sahen.308 Auch der Attaché Commercial an der französischen Botschaft in Wien bezeichnete Castiglioni als einen der Chefs dieser Aktion, der in den letzten Tagen bereits mit 700.000 US-Dollar eingestiegen war. Castiglioni selbst sei aber viel zu erfahren, um seine Aktionen offenzulegen, seinem Beispiel folgten aber zahlreiche kleine Finanziers. Natürlich agierten die Wiener Börse und die österreichischen Finanzzeitungen gegen den Franc, aber das sei nicht mehr als das Heulen von Schakalen in der Nacht.309 Führend auf der österreichischen Seite gegen den Franc sollen Ehrenfest von der Creditanstalt, Camillo Castiglioni mit seiner italienischen Gruppe und Bosel von der Unionbank gewesen sein. Bosel selbst war mit zwei Direktoren und zwei Sekretären nach Paris gekommen, um dort unter den Augen der französischen Behörden seine Aktionen durchzuführen.310 Auch die Creditanstalt soll an der Spitze jener Banken gewesen sein, welche die Kampagne gegen den Franc geleitet hatten. Die Folgen seien schließlich ein „véritables désastres individuels“ gewesen. Die Creditanstalt und die Bodencreditanstalt ließen in der Presse verkünden, dass sie führend in Bezug auf die letztliche Konsolidierung des Franc gewesen seien. Die Castiglioni-Gruppe mit der Banca Commerciale oder die Dresdner Bank unternahmen nichts, um sich zu rechtfertigen, und hatten vermutlich erhebliche Verluste zu verzeichnen. Bosel erklärte dem französischen Boschafter in Wien, dass er zu Unrecht als Spekulateur gegen den französischen Franc beschuldigt werde, und bot an, seine Bücher offenzulegen, worauf aber die Franzosen nicht eingingen.311 Die Verluste des Wiener Platzes wurden von französischer Seite mit 5 Millionen Dollar für die Großbanken und 15 Millionen Dollar für die Privatbanken angegeben, was die ohnehin schwierige wirtschaftliche Lage in Österreich noch erschweren würde. Die großen Banken seien aber stark genug, um diese Schwierigkeiten zu überstehen, lediglich eine Reihe von „Nachkriegsbanken“ würden liquidiert werden, die aber ohnehin keinen Platz mehr in der Wiener Finanzlandschaft hatten.312 Die Auswirkungen der Franc-Spekulation für die österreichische Wirtschaft hatten viel weiter reichende Folgen als nur die Verluste von einigen Spekulanten. Eine 308 Offensive contre le franc, Le President du Conseil, Ministre des Affaires Etrangeres à Monsieur le Ministre des Finances, Paris, 19 Janv. 1924, Archives Economiques et Financières, Paris F30 622 309 L’Attaché Commercial à Monsieur Le Ministre des France du Commerce, Vienne, le 4 février 1924, Archives Economiques et Financières, Paris F30 622 310 La Finance viennoise contre le franc, Beilage, Archives Economiques et Financières, Paris F30 627 311 M. Lefevre-Pontalis, Ministre de la République francaise en Autriche à M. Ministre des Affaires Etrangères, Vienne, le 17 Mars 1924, Archives Economiques et Financières, Paris F30 622 312 Note, Spéculation contre le Franc. Crise du Marché Autrichien, Paris, le 8 Mai 1924, Archives Economiques et Financières, Paris F30 622
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Information an den Handelsminister vom Juli 1924 ging auf die Vorgeschichte und die Folgen ein. „Im Gegensatz zu den westlichen Ländern, insbesondere zu England und Amerika, haben wir in Österreich eine Inflation von nahezu beispielloser Ausdehnung mitmachen müssen. Die Folge jeder Inflation ist eine Kapitalsvernichtung in weitem Maße, die Banken und Industrie getroffen hat. Diese ganz natürliche Tatsache ist nur leider viele Jahre hindurch völlig verkannt worden und der Inflationsnebel, der eine richtige Kalkulation verhinderte, ließ die betreffenden Wirtschaftskreise nicht erkennen, dass ihre Gewinne Scheingewinne seien, dass ihre Substanz aber mehr und mehr im Schwinden begriffen sei. Diese Erkenntnis trat erst mit dem Momente zutage, wo die Stabilisierung der Valuta wieder ein richtiges Kalkulieren gestattete und alle Scheingewinne verschwinden ließ ... Leider kam aber wie vorauszusehen von dem Momente der Stabilisierung in steigendem Maße die Kapitalsarmut der österreichischen Wirtschaft zur Geltung. Industrie, Handel und Banken waren gezwungen, das fehlende Kapital durch im Wege des Kredites geschaffenes, künstliches Kapital zu ersetzen. Dieser Prozess nahm immer größere Dimensionen an, die Inanspruchnahme von Kredit stieg und stieg, bis sie einen Punkt erreichte, bei dem die Nationalbank vom Standpunkte ihrer eigenen Sicherheit und damit der Sicherheit der Stabilität unserer Valuta energisch Einhalt tun musste.“ Während der Stand des Wechselescomptes zu Ende des Jahres 1922 rund 670 Milliarden ausmachte, war er bis Juli 1924 auf 3,2 Billionen gestiegen und hatte sich daher innerhalb von eineinhalb Jahren mehr als verdreifacht. Zusätzlich wurden ausländische Kredite herangezogen. „Während also Österreich die Inflation seiner Valuta überwunden hatte, setzte im gleichen Moment eine Kreditinflation ein, die für die erwerbenden Wirtschaftskreise womöglich noch bösere Folgen hat, als die Geldinflation, denn sie hat einen Zustand herbeigeführt, den wir als Kreditkrise bezeichnen müssen. Die Kreditkrise musste in dem Moment zum Ausbruch kommen, wo die Kreditquellen gesperrt wurden. Dieses Ereignis ist durch den Niedergang der Börse einerseits und die Francs-Spekulation, die die Vernichtung bedeutender Kapitalien zur Folge hatte, ausgelöst worden.“ Während der Inflation war eine Unzahl von neuen mittleren und kleinen Bankinstituten entstanden, die vom Börsenspiel lebten. Die Stabilisierung machte diesen Instituten noch nicht den Garaus, denn nun war ihr Hauptgeschäft, sich Geld vom Ausland zu verschaffen und in Österreich mit Gewinn weiterzuverleihen. „Es begann eine allgemeine Jagd nach Geld seitens der Bankinstitute, die in gegenseitiger Konkurrenz bereit waren, immer höhere Zinsen zu zahlen, wohl wissend, dass sie ihrer Kundschaft von mittleren und kleinen Industrien ihrerseits jeden Debetzinsfuß anrechnen könnten. So wirkte die Hypertrophie im Bankwesen selbst Zinsfuß erhöhend und musste die ohnehin schon prekäre Lage auf dem österreichischen Geldmarkte noch verschärfen und
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wir konnten die merkwürdige Erscheinung wahrnehmen, dass bei einem Weltzinssatz von 5,6–8 % der österreichische Zinssatz sich um 30 % herum bewegte, für die mittleren und kleinen Industrien aber noch in ganz andere Höhen emporstieg.“ „Es war von vorneherein klar, dass, wenn durch irgendein Ereignis der Zustrom ausländischen Kapitales gehemmt würde, die latente Krise in Österreich zum offenen Ausbruch kommen müsse. Das ist nun geschehen im Zusammenhange mit der Franc-Spekulation. Geldverleihen ist eine Vertrauenssache und wenn das Vertrauen erschüttert wird, sucht der Geldgeber sein verliehenes Geld zurückzuziehen und hütet sich, weiteres zu verleihen. Wilde Gerüchte, die im Zusammenhange mit der Franc-Spekulation über Österreich im Auslande verbreitet wurden, haben diesem Abbruch des Vertrauens im Auslande und damit die Unterbindung weiterer Kreditzufuhren bewirkt. Große Kreditkündigungen setzten ein und brachten unsere Bankinstitute in nicht geringe Verlegenheit. Die erste Folge war, dass jenen Bankinstituten, die nur von der Umgießung ausländischer Kredite in inländische lebten, der Lebensfaden abgeschnitten wurde, umsomehr, als ja gleichzeitig mit der verunglückten Franc-Spekulation eine BörsenBaisse von nie vorhergesehener Ausdehnung Platz griff und das Devisengeschäft durch die Stabilisierung unserer Valuta nicht mehr einträglich war. Mehr und mehr Banken mussten ihre Schalter schließen. Diese Bewegung beschränkte sich nicht nur auf die Kleinbanken, sondern griff auch auf die sogenannten Mittelbanken über, die durchgehend alle schlecht fundiert sind und diesen Stoß nicht aushalten konnten. Die Zahl der Kleinbanken in Wien, die ihr Leben bereits lassen mussten, kann auf ungefähr 100 geschätzt werden, die Zahl der Mittelbanken, die bereits liquidiert haben oder nur für kurze Zeit noch ihr Leben fristen können, auf ungefähr 20, bekanntlich ist auch eine Großbank in den Wirbel hineingezogen worden, die Depositenbank, deren Liquidierung wohl auch unvermeidlich sein wird ... Irgendeine konkrete Hilfe kann man hier nicht angedeihen lassen, es ist diese Krise einem Waldbrand vergleichbar, den man nicht löschen kann, sondern den man ausbrennen lassen muss, wobei man nur darauf bedacht ist, einen Sicherheitsgürtel zu ziehen, um die noch nicht angegriffenen gesunden Bestände zu schützen.“313
Der Zusammenbruch der Depositenbank Bei jeder Insolvenz gibt es langfristige strukturelle Gründe und einen unmittelbaren Anlass. Die Depositenbank hatte bereits in der Kriegs- und Inflationszeit ein zu großes 313 An die Sektion I, Information für den Herrn Bundesminister über den Stand der Banken- und Industriekrise, 14. Juli 1924, Archiv der Republik, Handel, Auskünfte, K 523
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Gebäude auf einem schwachen Fundament aufgebaut. Die Bank verfügte 1924 über 93 Industriebeteiligungen, allerdings waren bei großen Industriebeteiligungen auch andere Banken mit im Boot.314 Problematisch war vor allem die große Zahl ihrer Filialen, für die zum Teil teure Gebäude erworben wurden.315 Die Zentrale war in Wien in der Schottengasse 1, daneben gab es ein Bank- und Wechselhaus am Kolowratring 1 (heute Schubertring), 25 Wechselstuben in Wien, 28 Filialen in den anderen Bundesländern und eine in Czernowitz. Diese Filialen hatte man mit ungewöhnlich großer Selbstständigkeit ausgestattet. „Um den Geschäftsgang zu heben, wurden die Leiter der Exposituren am Gewinn ihrer Filialen beteiligt und konnten infolgedessen oft der Verlockung nicht widerstehen, das Ausmaß der Geschäfte auf Kosten der soliden Fundierung übermäßig auszudehnen.“316 Die Filialen waren daher mit einer Freiheit ausgestattet, die bei jeder anderen Bank undenkbar war. „Die prozentuelle Beteiligung der Filialen an den von ihnen entrierten Geschäften betrug bei der Depositenbank das Dreifache des bei den anderen Banken üblichen Betrages, die Filialleiter hatten insbesondere in der Kreditgewährung fast unbeschränkte Vollmachten, die teilweise zum Schaden der Bank missbraucht wurden.“317 „Der Leiter der Filiale Baden hat gegen das wiederholte Verbot der Direktion, mit Bankiers und ganz besonders der Firma Reinhardt Geschäfte zu machen, Wertpapiere von ihm zum Verkauf übernommen und ihm im Gegenwert den Betrag von 900 Millionen Kronen ausgefolgt, obwohl er nicht einmal die Effekten selbst, sondern einen Effektenscheck auf den Giro- und Cassenverein erlegte, der sich als nicht gedeckt erwiesen hat.“ Der Filialleiter wurde zwar suspendiert und disziplinarisch bestraft und die Börsenkammer leitete eine Untersuchung ein, aber das Pro blem war ein generelles. 318 Mit dem Ende der Inflationskonjunktur wurden praktisch alle Filialen passiv. Die Depositenbank war also eigentlich mit dem gehäuften Jammer von 59 Kleinbanken belastet. Das größte Passivsaldo wiesen die Filiale am Schwarzenbergplatz und jene in Wien Währing auf. Als im Frühjahr 1922 Castiglioni von der Gruppe Goldstein-Drucker-Sachsel verdrängt wurde, tauchte die Frage auf, ob die Bank die Freiheit von dem früheren Groß314 Diese sind detailliert aufgezählt in: Der Zusammenbruch der Depositenbank, Die Börse, 26. Juni 1924 315 Darunter Häuser in der Teinfaltstraße und der Schottengasse, das Allianzgebäude in der Schottengasse, ein Haus am Schwarzenbergplatz, die Bankgebäude in Graz, Kufstein und Innsbruck und ein 5.000-qm-Bauplatz in der Herrengasse. 316 Der Fall Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 10. Mai 1924, S. 967–968 317 Die Krise der Konjunkturgebilde. Zum Fall der Depositenbank, Wirtschaftliche Nachrichten für Handel, Gewerbe und Industrie, 27. Juni 1924 318 Bankskandale, Der Österreichische Volkswirt, 1922, S. 561–563
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aktionär, dessen Joch sie als drückend empfand, nicht teuer würde bezahlen müssen. Die neuen Herren hatten ihre Kräfte überschätzt, die Beziehungen Castiglionis gingen verloren und ihre Kapitalkraft reichte nicht aus, um die Gelderfordernisse der Bank zu decken. Bei der letzten Kapitalerhöhung von 12,5 auf 15 Milliarden brachte das Syndikat nicht mehr die Mittel auf, die Aktien einzuzahlen. 3 Milliarden Aktien (mit einem Rest von der vorherigen Emission) blieben unplatziert und waren auch nicht im Ausland unterzubringen. Die Großaktionäre hatten zudem einen Teil ihrer Aktien in London belehnt oder der Depositenbank selbst zur Deckung ihrer Verpflichtungen gegeben. Die Bank hatte daher einen wesentlichen Teil ihrer Aktien im eigenen Portfolio.319 „Zu diesen sachlichen Kalamitäten kamen noch persönliche Schwierigkeiten, die aus der Überspekulation einiger leitender Personen der Verwaltung hervorgingen ... Tatsache ist, dass infolge verfehlter Franc-Spekulationen und infolge der Wiener Börsenderoute mehrere Personen der Bankleitung ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten und dass die Bank für sie ganz oder teilweise einspringen musste, wodurch sie in ihrer Liquidität immer mehr beeinträchtigt wurde.“320 Die Gruppe Goldstein-Drucker-Sachsel war durch die Franc-Spekulation bei der Depositenbank mit mehr als 40 Milliarden Kronen verschuldet. Dazu wurde Mitte Juni 1924 noch bekannt, dass Generaldirektor Ritscher in Gemeinschaft mit Goldstein bei der Bank Mendelssohn in Berlin ein Engagement von 2 Millionen französischen Francs abgeschlossen hatte, das nicht in den Büchern verzeichnet war.321 Die Schulden dieses Triumvirats an ihre eigene Bank betrugen daher 96 Milliarden Kronen, darunter die Kontokorrentschuld von 40 Milliarden für die nicht platzierbare Aktienemission. Die Herren verpflichteten sich auf eine Rückzahlung innerhalb eines Jahres durch die Hingabe ihres gesamten Besitzes.322 In der Presse wurde die Geschäftsführung der Konjunkturbanken prinzipiell kritisiert. Seit vielen Jahren würden sie von Männern geleitet, „die alles eher denn Bankfachleute sind und daher in die Banken ganz ungewöhnliche und sonderbare Geschäftsformen brachten, die im Widerspruch zu den Usancen in den anderen Wiener Großbanken standen.“ Wichtige Geschäfte und Entscheidungen wurden weder schriftlich festgelegt noch den anderen Funktionären zur Kenntnis gebracht und die Vorstände waren keine Bankfachleute. „Kein anderes großes Wiener Bankinstitut, das kann gar nicht energisch genug betont werden, hat sich jemals ähnlicher Unterlassun319 320 321 322
Der Fall Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 10. Mai 1924, S. 967–968 Der Zusammenbruch der Depositenbank, Die Neue Wirtschaft, 8. Mai 1924 Die letzten Tage der Depositenbank, Die Neue Wirtschaft, 26. Juni 1924 Der Zusammenbruch der Depositenbank, Die Börse, 26. Juni 1924
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gen in organisatorischer Hinsicht schuldig gemacht, wie die Depositenbank, keines wurde so unsachgemäß geleitet wie diese Bank.“323 Am bösartigsten wurde die Geschäftsführung von „Die Neue Wirtschaft“, das „Wiener Organ für Finanzpolitik und Volkswirtschaft“, charakterisiert. „Bei uns in Österreich haben alle Dinge und Geschehnisse persönliche Färbung“, schrieb die Zeitung. Auch eine Großbank sei kein anonymes Gebilde, sondern abhängig von den persönlichen Eigenschaften ihrer Führungspersonen. Wer waren diese Goldstein, Drucker, Sachsel? „Die Generalstäbler des Bankrotts der Depositenbank sind keine Übermenschen, sie sind keine Genies, vielleicht sind sie nicht einmal Verbrecher. Wollte man eine gemeinsame Eigenschaft an ihnen feststellen, so wäre es höchstens die, dass jeder von ihnen an einem besonderen Defekt laboriert, jeder hat ein anderes Manko an Geist und Charakter, durch das er sich vom wirtschaftlichen Normaltyp unterscheidet. Aus den Eigenschaften, die den Herren Goldstein, Drucker und Sachsel mangeln, ließe sich ein wunderbarer Bankpräsident zusammenstellen. Der interessanteste von den dreien ist zweifellos Paul Goldstein. In diesem Manne sind die widersprüchlichsten Eigenschaften vereinigt. Auf der einen Seite eine unglaubliche Schwäche, die zeitweilig so weit geht, dass er überhaupt niemandem Nein sagen kann ... Aber Goldstein war nicht nur gegenüber Drucker, er war jedermann gegenüber so schwach, dass eine Zeit lang ein eigener Sekretär mit der Aufgabe betraut war, seine Bewilligungen zu revidieren. Im schroffsten Gegensatz zu dieser Schwäche steht seine hervorstechendste positive Eigenschaft, seine fabelhafte Überredungs- und Überzeugungsgabe. Derselbe Mann, der gegenüber der Beeinflussung durch Dritte völlig wehrlos war, vermochte selbst auf andere Personen, wenn er wollte, schrankenlosen Einfluss auszuüben. Diese Fähigkeit kam ihm natürlich im geschäftlichen Verkehr sehr zugute. Er berauschte sich selbst und seinen Gegenpart an den Gebilden seiner Phantasie. Dass er vom Bankwesen nichts verstand, gab er jederzeit unumwunden zu. Aber die Industrie! Ist es doch eine allgemeine Eigenschaft der Spekulanten, dass sie den Erwerb eines Aktienpakets gleichstellen mit einem industriellen Reifezeugnis. Bei Paul Goldstein war diese Einbildung so ausgebildet, dass er sich wirklich für einen Industriekapitän hielt, und zwar für einen industriellen Polyhistor, für einen universellen Fachmann auf allen Gebieten der Produktion. Wie der Erfolg beweist, verstand er von Industrie ebenso wenig wie vom Bankfach. Wie wirklichkeitsfremd er war, geht daraus hervor, dass er als Präsident der Depositenbank so ziemlich der letzte war, der vom bevorstehenden Zusammenbruch erfuhr ... Er war kein schlechter Mensch, aber ein sehr, sehr schlechter Bankpräsident. 323 Die Krise der Konjunkturgebilde. Zum Fall der Depositenbank, Wirtschaftliche Nachrichten für Handel, Gewerbe und Industrie, 27. Juni 1924
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Neben diesem inaktiven Präsidenten saß ein überaus aktiver Vizepräsident: Arthur Drucker, die Inkarnation des Spielers und Spekulanten. Durch das Leben dieses Mannes geht ein wilder, zügelloser Trieb zum Glückspiel. Eine unstete Natur, die ohne Hasard nicht leben kann. Wie der Morphinist ohne Spritze lebensüberdrüssig wird, erscheint ihm das Leben ohne Spiel nicht lebenswert. Er spielt an der Börse und an allen Spieltischen, er spielt in Wien und in Monte Carlo, er jagt dem Spiel in allen seinen Formen nach. Wo immer sich ein Hausse- oder Baissekonsortium zusammenballt, wo immer ein Majoritätskampf oder sonst ein Einbruch sichtbar wird, wo immer Milliardäre um einen grünen Tisch sich versammeln – Arthur Drucker ist dabei. Er spielt nicht, um zu gewinnen, er spielt, um zu spielen. Den Gewinnst wirft er mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Perlen, Automobile, Paläste, Bakkarat ... Durch Druckers Spielwut wird das Syndikat in die großen Spekulationen hineingerissen, die heute noch die Depositenbank mit nahezu hundert Milliarden belasten. Durch seine Zügellosigkeit verwildert der ganze Bankbetrieb, werden Dutzende von Milliarden auf Nimmerwiedersehen in schwache Industrien hineingepfeffert, wird schließlich der letzte, entscheidende Stoß gegen das Institut geführt, durch hemmungsloses Hineinstürzen in die Franckontermine. Es gibt Spieler, die gleichzeitig erfolgreiche Bankleiter sind – dafür hat man Beispiele. Es gibt Spieler, die gleichzeitig tüchtige Kaufleute sind – dafür sind die Beispiele schon weniger zahlreich. Arthur Drucker war nur Spieler, und das war das Unglück für die Depositenbank. Der Dritte und Unbedeutendste in diesem Trifolium war der Ingenieur Siegmund Sachsel. Ein seelenguter Mensch ohne eine Spur von Bankkenntnissen, ohne einen Funken von persönlichem Ehrgeiz. Aber hinter ihm steht eine Frau, die von maßloser Eitelkeit gestachelt wird, die bei festlichen Gelegenheiten eine ganze Vitrine voll Juwelen über sich ausschüttet, die in einem Herzogspalast wohnen muss und die von ihrem Manne verlangt, dass er dies alles bezahlt. Als man sie zu ihrem Einzug ins Cumberlandpalais beglückwünschte, antwortete sie: ‚Gratulieren Sie mir erst, bis wir in Schönbrunn wohnen.‘ So wird aus dem braven, friedlichen Fabrikanten ein waghalsiger Spekulant ... Wie gesagt, eine Seele von einem Menschen, ein Mann von Herz und Gemüt, der den ganzen Trubel nur sehr widerwillig mitmacht, als Opfer seiner größenwahnsinnigen Frau, die sich schon als Präsidentin der Depositenbank gesehen hat.“ Der Vollständigkeit halber wurden noch andere Personen charakterisiert: „Da ist der Generaldirektor Ritscher. Aus Deutschland herbeigeholt, da man in Wien keine solche Kapazität auftreiben konnte. Alle seine Berliner Freunde, besonders der junge Gutmann, hatten ihm abgeraten, nach dem oberfaulen Österreich zu gehen. Er ließ sich nicht abhalten. Bei der Depositenbank glaubte er dadurch etwas zu erreichen, dass er dort, ausgerechnet im Hause Drucker, preußische Zucht und Disziplin einführen woll-
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te. Bei den Beamten hatte er den Spitznamen: der jüdische Ludendorff.324 Wehe dem, der eine Minute zu spät ins Büro kam. Während er aber drunten in den Arbeitsräumen mit den kostbaren Arbeitsminuten der Bankbeamten sparte, wurden oben im Präsidium die Milliarden dutzendweise in alle Winde verstreut.“ Ritscher wurde als persönlich integrer Mensch geschildert, hatte aber nichts getan, um die verlustreiche FrancSpekulation zu verhindern. „Ritscher war auf dem sinkenden Schiff der Depositenbank wie der Kapitän eines Spreedampfers, der in einen Seesturm gerät.“ Er musste Schiffbruch erleiden, was ihn aber nicht aus der Schuld entlässt, eine Aufgabe übernommen zu haben, der er nicht gewachsen war. Von den „Kleinen“ wurde noch Hilbert Pick erwähnt, „der ein Drucker im Taschenformat gewesen ist, der die kaninchenhafte Vermehrung der Filialen vorwiegend aus dem Grunde begünstigte, um möglichst viele Unterkunftsstätten für fingierte Konti zu schaffen“, oder Herr Victor Muntendorf, „der die Bedeutungslosigkeit seiner Person durch fleißiges Intrigieren wettzumachen suchte“. Sie waren Farbflecken in dem bunten Szenenbild der Verwaltung. „Jeder hatte noch ein paar Freunderln, die jeder einzeln mit einem Kredit von ein oder zwei Milliarden beglückt wurden und aus deren Gesamtverpflichtungen jetzt die enormen spekulativen Verluste der Depositenbank resultieren.“325 Die Schwierigkeiten der Depositenbank dürften in Prag bereits rechtzeitig erkannt worden sein. Die Depositenbank verfügte seit Jahren über einen ungedeckten Kredit bei ihrem Prager Korrespondenten. Bei einer Revision, die das Prager Bankamt im April 1924 zum Schutz der tschechoslowakischen Währung durchführte, wurde dieser Kredit beanstandet und die Depositenbank aufgefordert, eine Effektendeckung in Prag zu hinterlegen. Die mit der Depositenbank zusammenarbeitende Böhmische Unionbank war bereit, für diesen Kredit zu bürgen und auch die entsprechenden Effekten bereitzustellen. Damit erklärte sich das Bankamt nicht einverstanden und bestand auf eine Deckung durch die Depositenbank selbst. Diese deckte dann den Blankokredit zur Gänze ab, wodurch aber ihre liquiden Mittel eine entsprechende Schmälerung erfuhren. Dennoch hatte sie noch 17 Milliarden bares Geld in ihrer Kasse, was zur Deckung der laufenden Ansprüche durchaus genügen sollte. Dann kamen Zeitungsmeldungen aus Prag über die Schwierigkeiten der Bank, was einen Run auslöste. Die Gerüchte besagten, dass maßgebliche Verwaltungsräte der Bank große Verluste bei der FrancSpekulation erlitten hatten. Das waren zwar die Verluste der Großaktionäre und nicht der Bank, aber es genügte, um immer größere Abhebungen zu provozieren, denen die 324 Erich Ludendorff, deutscher General im Ersten Weltkrieg 325 Der Generalstab des Bankrotts, Die neue Wirtschaft, 3. Juli 1924
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Bank schließlich nicht gewachsen war.326 Innerhalb von drei Tagen, von Mittwoch bis Samstag, wurden zwischen 60 und 80 Milliarden Kronen an Einlagen zurückgezogen. Am Samstag waren die liquiden Mittel der Bank völlig erschöpft, sie musste sich daher 12 Milliarden von den Großbanken ausborgen und die Aktien ihres Konzerns in großen Mengen zum Verkauf anbieten.327 Der Kurs der Aktie der Depositenbank hatte sich in dem Zeitraum bereits auf 30.000 halbiert. Im Dezember 1923 erreichten die Wechsel einreichungen der Depositenbank bei der Oesterreichischen Nationalbank ein solches Ausmaß, dass sich diese weigerte, weitere Wechsel entgegenzunehmen.328 Daher begann am 5. Mai 1924 die Intervention der Großbanken, um eine allgemeine Bankenkrise zu vermeiden. Das Interventionskomitee bestand aus der Österreichischen Creditanstalt für Handel und Gewerbe, der Allgemeinen Österreichischen Boden-Credit-Anstalt, der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft, der Unionbank und dem Wiener Bankverein.329 Die Länderbank und die Anglo-Austrian-Bank beteiligten sich nicht, da ihre Muttergesellschaften in Paris und London nicht so schnell reagieren konnten und wollten. In dem offiziellen Communiqué vom 5. Mai hieß es: „Auf Grund dieser Vereinbarung geht nunmehr der maßgebende Einfluss auf die Führung der Allgemeinen Depositenbank von dem bisherigen Syndikate auf die genannte Bankengruppe (die fünf Großbanken) über.“330 Das Bankenkonsortium bekam eine Option auf die Depositenbank-Aktie des Majoritäts-Syndikats (Goldstein, Drucker, Sachsel) zum Kurs von 17.000 Kronen und ersetzte die Verwaltungsräte durch ihre Vertreter. Dafür verpflichtete sie sich zu einem Maximalkredit von 300 Milliarden Kronen, was nach Angabe der Depositenbank völlig ausreichen sollte. Die Banken schickten ihre leitenden Buchhaltungsbeamten zu einer eingehenden Überprüfung. In der österreichischen Presse kam daher die beruhigende Meldung: „Es ist gelungen, den Zusammenbruch der Depositenbank in die Wege einer geordneten Liquidation zu leiten, so dass aller Voraussicht nach niemand zu Schaden kommen wird.“331 Das „Acht-Uhr-Blatt“ schrieb am 6. Mai 1924: „Durch die enge Verbindung der Depositenbank mit den fünf größten Wiener Banken erhält dieses Institut 326 Der Fall Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 10. Mai 1924, S. 967/8 327 Der Zusammenbruch der Depositenbank, Die Neue Wirtschaft, 8. Mai 1924 328 Eduard März, Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913–1923. Am Beispiel der Creditanstalt für Handel und Gewerbe, Wien 1981, S. 467 329 Bankhistorisches Archiv der Oesterreichischen Nationalbank, 826/1924 330 Der Zusammenbruch der Depositenbank, Die Börse, 26. Juni 1924. Der Wortlaut des Communiqués findet sich in: Warum die Großbanken für die Depositenbank haften, Die Börse, 26. Februar 1925 331 Der Zusammenbruch der Depositenbank, Die Neue Wirtschaft, 8. Mai 1924
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gleichsam das Giro dieser altangesehenen Kreditinstitute, die von jetzt ab jeden Zweifel in die Gebarung der Depositenbank zerstreuen werden“, das „Neues Wiener Tagblatt“: „Durch die neue Organisation erscheint die Garantie geboten, dass die Gläubiger der Bank, insbesondere die Einleger, keinen Schaden erleiden werden“, und die Zeitung hob am Vortag noch hervor: „Die Übernahme dieser Gestion erfolgte durch eingehende Prüfung der Situation der Allgemeinen Depositenbank.“ Die Aktion der fünf Großbanken und ihr gemeinsames Auftreten wurden daher als eine besondere zukunftsweisende Leistung hervorgehoben. „Die Übernahme einer Großbank durch fünf andere Großbanken ist wohl eines der schwierigsten und kompliziertesten Geschäfte, die sich in der wirtschaftlichen Praxis denken lassen. Trotzdem wurde dieser Besitzwechsel binnen drei Tagen so gründlich erledigt, dass der bisherige Präsident der Depositenbank nicht mehr in sein Büro hineingelassen wurde. Es war jedenfalls eine administrative Höchstleistung, ein Beweis, dass die Wiener Großbanken zu jeder Art von Kooperation, zu der sich in der Zukunft die Nötigung ergeben mag, die organisatorische Befähigung besitzen. Sie wären – rein theoretisch gesprochen – in der Lage, von heute auf morgen ihre Eigenexistenz vollkommen aufzugeben und sich zu einer Übergroßbank zu vereinigen.“332 Die Großbanken hatten dem alle nicht widersprochen. „Die Banken ließen von der ihnen ergebenen Publizistik zu ihren Ehren Weihrauchfässer schwingen, sie ließen Oden verfassen und ihre Selbstlosigkeit in allen Tonarten preisen.“333 Zu diesem Zeitpunkt wurde angenommen, dass die Depositenbank an sich noch aktiv und die Reserven nicht aufgezehrt waren. „Der Österreichische Volkswirt“ sah daher nur drei Möglichkeiten für die Zukunft der Bank: entweder die Liquidation der Bank, was aber im Interesse der 1.500 Angestellten der Bank ausgeschlossen sein sollte, oder die Veräußerung der Aktien, wobei es schwer zu glauben war, dass ein ernsthafter Bieter gefunden werden würde, oder die Weiterführung durch das Bankenkonsortium. Ein solches Kondominium von Großbanken war aber ohne Vorbild und ohne Reibungen nur schwer vorstellbar.334 Sieben Wochen später sah alles ganz anders aus. Die Großbanken hatten sich auf die Darstellung der Depositenbank verlassen, dass das ausgewiesene Aktienkapital und die Reserven in der Höhe von 3,6 Milliarden Kronen intakt waren. Bei der nun erfolgten Überprüfung zeigte sich, dass zahlreiche Kredite an Konzernunternehmen nicht gesichert waren, der Wert der Beteiligungen stark überschätzt worden war und eine Reihe 332 Der Konzentrationsprozess der Hochfinanz, Die Neue Wirtschaft, 22. Mai 1924 333 Der Zusammenbruch der Depositenbank, Die Börse, 26. Juni 1924 334 Der Fall Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 10. Mai 1924, S. 968
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von Prozessen in Milliardenhöhe im Laufen waren, für die es keine Vorsorge gab und die verschwiegen worden waren. Außerdem wurde bemängelt, dass die Arbeit der Revisionsorgane durch den Mangel an Entgegenkommen erschwert war und es dadurch unmöglich wurde, sich in kurzer Zeit ein Bild vom Status der Bank zu machen. Entscheidende Dokumente kamen nur zögernd zum Vorschein, manche Akten waren überhaupt verschwunden oder zumindest unauffindbar.335 Auch die Beruhigung durch die Übernahme der Großbanken blieb aus. Die großen Abhebungen hielten weiter an und der Kredit der Großbanken war nun bereits auf 280 Milliarden angewachsen. Ein aktiver Betrieb der Bank war unmöglich, die Bank war völlig gelähmt und erforderte ständige Zuschüsse. Außerdem bestanden immer noch 450 Milliarden an Kreditoren, deren Schicksal ungewiss war. Ein grober Überblick ergab, dass die Syndikatsmitglieder persönlich der Bank 96 Milliarden schuldeten, 100 Milliarden waren die Passiven der Filialen, 40 Milliarden Verlust aus der Franc-Spekulation und mindestens 750 Milliarden Wertverlust der Effekten.336 Die Depositenbank verlangte daher weiteres Geld und wandte sich an die Bodenkreditanstalt als Führerin des Syndikats. Dort wurde aber mit Bestimmtheit erklärt, dass man mit keiner Erhöhung rechnen könne. Die Staatsanwaltschaft beschäftigte sich daher 1924 auch mit der allgemeinen Geschäftsführung der Bank, was es wert ist, ausführlich zitiert zu werden.337 „Eigentlich datiert der Niedergang der Bank schon aus der Zeit nach Kriegsschluss mit dem Einsetzen der Entwertung der österreichischen Krone. Während nämlich in dieser Zeitperiode andere Bankinstitute mit allen erlaubten Mitteln bestrebt waren, mindestens ihre Kapitalien in sogenannte Sachwerte anzulegen und hiedurch vor Entwertung zu schützen, konnte dies bei der Depositenbank nicht erfolgen, weil sie den ihr angeschlossenen Industrien fast ihre ganzen Barmittel zur Verfügung stellen musste, die sie später in entwerteten Kronen zurück erhielt und weil sie von allen gewinnbringenden Geschäften zu großen Anteilen an ihre Funktionäre, insbesonders an die leitenden Männer abtreten musste und weil die Bezahlung dieser Anteile nicht mit den Mitteln der betreffenden Erwerber, sondern mit den Mitteln der Bank erfolgte, die einfach ihre Einzahlungen an den Beteiligungen der Depositenbank schuldig blieben. Diese Personalkredite, welche die Depositenbank ihren leitenden Männern einräumte, bildeten für sie eine schwe335 Die Krise der Konjunkturgebilde. Zum Fall der Depositenbank, Wirtschaftliche Nachrichten für Handel, Gewerbe und Industrie, 27. Juni 1924 336 Der Generalstab des Bankrotts, Die neue Wirtschaft, 3. Juli 1924. Eine Liste der Debitoren über 500 Millionen Kronen findet sich in: Die Börse, 29. Jänner 1925 337 Bericht der Staatsanwaltschaft Wien I an die Oberstaatsanwaltschaft Wien in der Strafsache gegen Camillo Castiglioni & Genossen wegen des Verbrechens der Veruntreuung bzw. des Betruges, 10. Oktober 1924. Archiv der Republik, Akt gegen C. Castiglioni, VI, R 3728, Zi. 37.609/35
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re Belastung. Zur Illustration sei angeführt, dass Präsident Castiglioni bis zu seinem Ausscheiden im Jahre 1922 der Depositenbank einen Betrag von 819 Millionen Kronen schuldig geworden war, die er ihr erst viel später in stark entwerteten Kronen zurückgezahlt hat. Bedenkt man, dass damals das gesamte Kapital samt Reserven, welches der Depositenbank zur Verfügung stand, höchstens 2½ Milliarden Kronen ausmachte, so kann man daraus am besten ermessen, welcher Anspannung es bedurfte, um diese Belastungen auszuhalten. Die Depositenbank war schon zur Zeit der Präsidentschaft Castiglionis einigermaßen immobilisiert, da der größte Teil ihres Betriebskapitals in den zahlreichen Industrien Castiglionis, die alle von der Depositenbank alimentiert wurden, gebunden war, wobei die Depositenbank aus diesen Geschäften nicht den entsprechenden Nutzen zog, da sie für diese Beträge nur die bankmäßigen Zinsen vergütet erhielt, während die aus diesen Beteiligungen anlässlich der Kapitalsvermehrungen resultierenden großen Gewinne jenen Männern zuflossen, die ihrer Leitung vorstanden. Wenn aber auch in der Ära Castiglioni die Depositenbank aus ihren Beteiligungen nicht jenen Nutzen gezogen hat, der ihr füglich gebührt hätte, steht doch fest, dass sie zur Zeit des Austrittes Castiglionis im April 1922 ein durchaus aufrechtes und solventes Institut war.“ Dies änderte sich unter Goldstein, Drucker und Sachsel, was bereits mit dem im April 1922 abgeschlossenen Dissolutionsvertrag deutlich wurde. „Bei der aus diesem Anlass erfolgten Aufteilung der verschiedenen Syndikatsgeschäfte hat nämlich Castiglioni die guten Beteiligungen behalten, während die schwachen und zum Teile faulen Positionen der Depositenbank verblieben, wofür ihm diese noch eine ganz beträchtliche Abfindungssumme zahlen musste. Das Bestreben Goldsteins war nun darauf gerichtet, möglichst viele Industrien dem Konzerne der Depositenbank anzugliedern. Hierbei wurde ganz ziel- und wahllos vorgegangen, so dass es kam, dass im Gegensatz zur Ära Castiglioni große Kredite auch solchen Unternehmungen gegeben wurden, bei denen die Rückzahlung keineswegs gewährleistet war. Zur Illustration seien einige Beispiele angeführt: Eine der größten Beteiligungen der Depositenbank ist die Akaros-Gesellschaft, Fabrik zur Erzeugung von Edelkaolin in Karlsbad. In dieses Unternehmen hat die Depositenbank insgesamt 63 Milliarden Kronen investiert, um schließlich zu erkennen, dass der Bezug des zur Erzeugung notwendigen Rohkaolins vollständig von einem Konkurrenzunternehmen abhängt, mit dem zu schweren Bedingungen ein Übereinkommen hinsichtlich der Beteiligung der Akaros getroffen werden musste. Der Wert dieses Unternehmens wird heute auf ca. 12 Milliarden Kronen geschätzt, so dass sie an diesem Geschäft, abgesehen von den Zinsen, über 50 Milliarden Kronen an Kapital verliert. Eine leichtfertige Gründung ist auch die Orion Zündwarenfabrik in St. Pölten. In
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diesem Falle wurde das Fabrikgebäude auf einem Grunde erbaut, der noch nicht im Eigentum der Depositenbank war. Wegen der Verbauung des fremden Grundes wurde gegen die Depositenbank ein Prozess angestrengt, der schließlich durch die Bezahlung eines Betrages von 5 Milliarden Kronen ausgeglichen worden ist. Dieses Unternehmen hat bereits um Einleitung des gerichtlichen Ausgleichsverfahrens ansuchen müssen. Eine ähnliche Gründung ist die Vita-Filmgesellschaft, die ungefähr 42½ Milliarden Kronen verschlungen hat. Auch sie wurde ohne jede fachmännische Prüfung vorgenommen, und es sollen Beziehungen des gewesenen Direktors Herzberg zu einer bekannten Filmschauspielerin den Anlass zu dieser Gründung gegeben haben. Wie bekannt, ist auch dieses Unternehmen bereits im Ausgleichsverfahren.“ (Die Vita Film AG war ein Protektionskind Paul Goldsteins. Schon zur Zeit, als die Depositenbank unter der Präsidentschaft Castiglionis stand, wusste Goldstein oft gegen den Willen des Präsidenten eine bevorzugte Dotierung der Vita durchzusetzen. Als Katastrophe entwickelte sich der Bau eines Ateliers am Rosenhügel, das so groß war, dass es im Winter nicht beheizt werden konnte.338) „Ein weiteres sehr großes Engagement für die Depositenbank bedeutet ihre Beteiligung an der Polonia-Naphdagesellschaft. Die Polonia ist eine ungarische Aktiengesellschaft, die sämtliche Anteile einer polnischen Gesellschaft Despi besitzt und ursprünglich eine Handelsgesellschaft zwecks Verleihung von Bohrgeräten und anderer technischen Behelfe für die Petroleumindustrie war. Dieselbe erwarb in Galizien drei Bohrungen, die kein Resultat zeigten. Im Oktober 1923 kaufte diese Gesellschaft die Hälfte der Anteile der Laszcgrube um 950.000 Dollar. Der Erwerb dieser Grube die angeblich 4 Waggons Petroleum per Tag förderte, geschah nur zu dem Zwecke, um Polonia-Aktien zu hohen Kursen veräußern zu können. Obwohl die Depositenbank an dem Polonia-Syndikat nur mit ungefähr 18 % beteiligt war und der auf sie fallende Betrag nur 90.000 Dollar ausmachte, musste sie doch für die anderen Syndikatsmitglieder, die sämtliche ihrer Leitung angehörten, 400.000 Dollar bar vorstrecken, und für den Restbetrag die Garantie leisten. Die Syndikatsmitglieder haben später die Aktien bei steigenden Kursen mit Gewinn verkauft, sind aber der Depositenbank die für sie bezahlten Beträge auch weiterhin schuldig. In ähnlicher Weise ist die Depositenbank noch an zahlreichen anderen Industrien in der Weise beteiligt, dass sie diesen Industrien Kapital zur Verfügung gestellt hat. Von diesen Investierungen ist ein großer Teil heute uneinbringlich, wie viele dieser zu ihrem Konzern gehörigen Industrien ertraglos oder fallite geworden sind. 338 Das Ende der „Vita“ Film AG, Die Neue Wirtschaft, 17. Juli 1924; Die Börse, 14. Jänner 1923, 15. Jänner 1923, 10. Mai 1923, 20. Dezember 1923
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Während also die Beteiligungen der Depositenbank an den Industrieunternehmungen für sie einen großen Verlust bedeuten, haben Goldstein und die übrigen Mitglieder der Leitung der Depositenbank an diesen Gründungen und Beteiligungen große Summen ins Verdienen gebracht. Dies geschah bei der Ausgabe der Aktien dieser neu gegründeten Unternehmungen oder bei der Neu-Emission zur Kapitalvermehrung. Die Aktien wurden stets von einem Garantiesyndikat übernommen, an dem Goldstein und seine Genossen beteiligt waren. Wenn an diesem Syndikate die Depositenbank als solche auch mitbeteiligt wurde, so geschah dies doch nur in einem sehr bescheidenen Umfange. Das für den Erwerb dieser Aktien notwendige Kapital musste aber die Depositenbank den Beteiligten vorstrecken. Durch die zahlreichen Filialen der Depositenbank wurde dann im Publikum das Interesse für diese neu ausgegebenen Aktien wachgerufen und das Syndikat stieß nach und nach die in seinen Händen befindlichen Aktien womöglich zu immer steigenden Kursen ab. Der auf diese Weise erzielte sehr namhafte Kursgewinn floss den Syndikatsmitgliedern zu und sie zahlten aus dem Erlös der Aktien der Depositenbank die gewährten Darlehen zurück, während die Depositenbank selbst an den Kursgewinnen entweder gar nicht oder nur in bescheidenem Maße teilnehmen konnte. Auf diese Weise entstand eine vollständige Immobilisierung der Bank. Dem ununterbrochenen Geldbedürfnisse der Depositenbank suchten ihre Leiter zunächst dadurch zu begegnen, dass sie immer wieder neue Filialen gründeten, um so neue Klienten heranzuziehen und der Bank neue Geldmittel zuzuführen. Demselben Zwecke dienten auch mehrere Kapitalsvermehrungen, allein auch dieses brachte nicht den erwarteten großen Geldstrom, da sich die Depositenbank im großen Publikum keines besonderen Vertrauens erfreute und das Bezugsrecht vielfach von den Aktienbesitzern nicht ausgeübt wurde. Die Erhöhung des Aktienkapitals musste daher zum überwiegenden Teile durch die Übernahme der Aktien seitens der Majoritätsgruppe vorgenommen werden, die aber die Einzahlung nicht durch Barzahlung, sondern durch Belastung der Gruppe auf Neuemissionskonto bei der Depositenbank vornahmen. Schließlich spitzte sich die Situation derart zu, dass die Depositenbank gezwungen war, zur Erfüllung ihrer täglichen Verbindlichkeiten Taggelder aufzunehmen, was natürlich zu sehr hohem Zinsfuße geschah und die Bank schwer belastete. Dass auch dieses Auskunftsmittel den schließlichen Zusammenbruch nicht verhüten konnte, ist klar. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass diese Neugründungen und Beteiligungen, die ganz ziellos und wahllos vorgenommen wurden, den Untergang eines großen Bankinstitutes zur Folge hatten und schwere Verfehlungen der hiefür verantwortlichen Leiter darstellen. Es ist sogar der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, ob die-
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se Neugründungen und Beteiligungen überhaupt Aussicht auf Erfolg hatten, gar nicht ernstlich erworben, sondern das nur deshalb durchgeführt wurde, um den leitenden Männern der Depositenbank Gelegenheit zu geben, Aktienemissionen vorzunehmen, die für sie stets mit reichlichem Gewinne geendet haben, dass also hier ein Gründungsschwindel im großen Stile vorliegt – wofür auch die Gleichartigkeit so vieler Fälle spricht.“ Ob daher der Tatbestand der fahrlässigen Krida vorlag, sollten die im Zuge befindlichen Untersuchungen ergeben.339 Bei diesem Gesamtbild entschlossen sich die Großbanken, sich aus der Verantwortung zurückzuziehen. Als ersichtlich wurde, „dass man hier das Geld in ein Danaidenfaß schütte, war man gezwungen, um seine eigenen Aktionäre nicht zu schädigen, die Hilfsaktion einzustellen“.340 Man empfahl nun die Verhängung der Geschäftsaufsicht, die am 25. Juni 1925 bewilligt wurde. Die vom Gericht eingesetzten fünf Geschäftsführer hatten den Auftrag, dem Handelsgericht bis zum 1. Oktober 1924 einen genauen Status der Bank vorzulegen. Das war zumindest erstaunlich, denn das Instrument der Geschäftsaufsicht war nur zulässig, wenn die Zahlungsunfähigkeit durch den Krieg oder dessen Ausgang entstanden war und voraussichtlich wieder behoben werden konnte. Diese Geschäftsaufsicht befreite die Bank von dem Zwang, jeden Gläubiger einzeln auszuzahlen, ermöglichte, die Aktiva flüssig zu machen, einen Ausgleich mit den Gläubigern herzustellen und Beamte abzubauen. Das Verhalten der Großbanken war an sich nicht unlogisch, sie ließen die Depositenbank erst fallen, als sich die allgemeine Panik gelegt hatte. Es wurde aber in der Öffentlichkeit heftig kritisiert. Durch ihre Informationen in den Zeitungen und den Eintritt ihrer Vertreter in den Verwaltungsrat hätten sie eine moralische Haftung für die Schulden der Bank übernommen. „Die fünf Großbanken können sich nicht darauf ausreden, dass sie getäuscht oder über Wesentliches falsch informiert wurden, sie haben sich mit vollem Bewusstsein in ein krankes Bett gelegt und können diese Tatsache jetzt nicht aus der Welt schaffen, indem sie das Bett von ihren gefälligen Ausgleichsverwaltern frisch überziehen lassen.“341 Durch die „Fahnenflucht“ hätten die Banken nicht nur der Volkswirtschaft, sondern dem Kredit des österreichischen Bankwesens und damit sich selbst den größten Schaden zugefügt. Im Übrigen sei es, „da die Bank doch 339 Bericht der Staatsanwaltschaft Wien I an die Oberstaatsanwaltschaft Wien in der Strafsache gegen Camillo Castiglioni & Genossen wegen des Verbrechens der Veruntreuung bzw. des Betruges, 10. Oktober 1924. Archiv der Republik, Akt gegen C. Castiglioni, VI, R 3728, Zi. 37.609/35 340 Rechtsanwalt Dr. Hans Adler, Vertreter der Großbanken in: Das Depositenbankproblem, Die Neue Wirtschaft, 11. Dezember 1924 341 Der Zusammenbruch der Depositenbank, Die Börse, 26. Juni 1924
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kaum mehr lebensfähig war, vielleicht besser, dass sie nun ganz verschwindet, als dass sie mühsam fortgeschleppt worden wäre. Das Faule und Lebensunfähige muss absterben, damit die österreichische Volkswirtschaft wieder das Vertrauen findet, das sie zum Gedeihen braucht.“342 Die Lebenden lassen die Toten zurück, schrieb „Die Börse“, „Sieben Wochen nach der großen Stützungsaktion setzten die Großbanken der Depositenbank den Grabstein.“343 Wie bei solchen Insolvenzverfahren üblich, suchte man Interessenten, welche die Bank als Ganzes übernehmen sollten. Eine englische Gruppe war schon sehr bald zurückgetreten, ebenso eine französische, die vom Brünner Industriellen Haas geführt wurde.344 Weiters gab es Verhandlungen mit russisch-englischen Interessenten und dem Berliner Finanzier Lustig, die alle zu nichts führten, da vor allem der Status der Depositenbank trotz aller Bemühungen nicht eindeutig festzustellen war.345 Hofrat Stern führte nun im Auftrag des Parlaments eine Untersuchung der Depositenbank durch. Schließlich wurde der Fall der Depositenbank sogar im österreichischen Nationalrat diskutiert, wobei es nun zu einem Bankhaftungsgesetz und zu einer 342 Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 28. Juni 1924, S. 1193/4 343 Der Zusammenbruch der Depositenbank, Die Börse, 26. Juni 1924 344 Die Depositenbank vor dem Ausgleich, Die Neue Wirtschaft, 11. September 1924 345 Die missglückten Versuche zur Sanierung der Depositenbank, Die Neue Wirtschaft, 18. Dezember 1924
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Einsetzung eines parlamentarischen Unterausschusses zur „Ermittlung der Gründe und der Verantwortung für die die Volkswirtschaft schwer schädigenden Vorkommnisse bei den Kreditinstituten“ kam.346 Der Abgeordnete Heinrich Allina, selbst ursprünglich Bankbeamter und Hauptredner der Sozialistischen Partei, sprach von einem Versagen der Aufsicht des Finanzministeriums. „Da können wir uns natürlich nicht wundern, wenn diese Leute hemmungs- und zügellos nur einem Ziele zustrebten: sich auf Kosten der Allgemeinheit die Taschen zu füllen, sich über die Interessen des Staates und der Volkswirtschaft hinwegzusetzen, nur das eine Ziel im Auge, für ihre Person, für die Faktoren und Cliquen, die an der Spitze dieser Kreditunternehmen stehen, die Bereicherung zu versorgen ... Wo sind nun schließlich die Milliarden, die die Herren Castiglioni, Goldstein, Drucker und Sachsel von der Allgemeinen Depositenbank weggetragen haben? ... Was in diesen Tagen zusammengebrochen ist, das sind die Institute, die in der Nachkriegszeit gegründet wurden, nicht zuletzt durch die Schuld der Bundesregierung. Es sind doch wahllos Konzessionen an jedermann erteilt worden (So ist es!), der es verstanden hat, sich durch Verbindungen oder sonstige Umstände einen Zugang zu verschaffen. Zugrunde gegangen sind jene Institute, die nur auf die Erscheinungen der Nachkriegszeit, auf das Börsenspiel aufgebaut waren, die Börsenspielbuden, die in dem Augenblick, wo das tägliche Hinauflizitieren und schwindelhafte Emporklettern der Kurse ihr Ende gefunden hat, auch ihre Existenzberechtigung verloren haben. Und zusammengebrochen sind jene Institute, in deren Verwaltung Leute gesessen sind, die durch das Moment der persönlichen Bereicherung oder durch fahrlässige Gebarung die Institute an den Rand des Abgrunds gebracht haben ... Da haben Sie zunächst den bekannten Missstand, dass der Großaktionär, der auch die maßgebende Gestion in der Verwaltung des Instituts hat, gleichzeitig der größte Debitor in dieser Bank ist, die er an sich gebracht hat. Er ist der größte Debitor, der größte Schuldner der Bank und oft – Herr Finanzminister, Sie werden es ja sicherlich auch erfahren – finden wir, dass auf der einen Seite der betreffende Großaktionär Dutzende von Milliarden als Debitor schuldet, während auf der anderen Seite derselbe Großaktionär, derselbe Debitor Einlagen mit Tagesverzinsung aus dem gleichen Institut herausholt ... Und schauen Sie sich die Dinge bei der Depositenbank an, schauen Sie sich die Dinge an, die heute ein so trauriges Ende gefunden haben. Aus allen diesen Dingen sehen Sie ja, dass die Ursache des Zusammenbruchs in nichts anderem gelegen sind als in dem Umstand, dass die Großaktionäre und die in der Verwaltung maßgebenden Personen dieser Kreditunternehmungen ihr Amt nur zur persönlichen Bereicherung missbraucht haben, dass alle die Emissionsgründungen, die hier vorgenommen worden sind, doch nur zu dem 346 Stenographische Protokolle des Österreichischen Nationalrats, 52. Sitzung, 29. Juni 1924, S. 1471 ff.
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Zwecke geschehen sind, um den Emissionsgewinn in die Taschen der leitenden Funktionäre zu leiten; denn wären diese Gewinne dem Institut verblieben, dem sie rechtmäßig gehörten, so wäre es niemals in diese traurige katastrophale Lage gekommen, in der es sich heute befindet. Von alldem hat die Regierung nichts gewusst, all das, was der letzte Laufbursche in einer Bank beim Greißler schon seinem Nachbar erzählt hat, ist dem Finanzministerium unbekannt gewesen, und speziell von der Depositenbank, wo eine verbrecherische Wirtschaft nach jeder Richtung herrschte ... So finden wir immer wieder, dass es verbrecherische Manipulationen der leitenden Funktionäre sind, dass es Überschreitungen der ihnen zustehenden Befugnisse sind, die die Institute in Gefahr bringen, und die Ursache aller dieser Dinge liegt darin, dass für diese Leute keine Hemmungen bestehen und dass sie insbesondere nach den Erfahrungen des letzten Jahres wissen, dass sie sich alles erlauben dürfen, was sie können und was sie wollen, weil keine Macht hier im Staate ist, die ihnen irgendwie entgegen tritt.“347 Die Wirkung der Geschäftsaufsicht war ein ständiges Kleinerwerden der Aktiva. „Geschäftsaufsicht und Ausgleichsverfahren bedeuten aber für eine Bank Knochenfraß. Schuldner werden schlecht, weil über sie die Kreditsperre verhängt wurde; Aktienpakete entwerten sich, weil sich die einzelnen Gesellschaften nicht mehr an potente Bankverbindungen anlehnen konnten, Gebäude werden nutzlos, weil ihnen der lebende Atem der Geschäftstätigkeit fehlt.“ 348 Die als Garantie gegebenen Aktien der Depositenbank und ihrer Konzernbetriebe repräsentierten damit nur mehr einen Bruchteil ihres ursprünglichen Wertes. Bei der Halbjahresbilanz 1924 wurden Verluste von 100 Milliarden angegeben, bei der Vermögensbilanz Debitoren mit Einschluss aller Dubiosen von 1.020 Milliarden und Kreditoren von 750 Milliarden, Zahlen, die aber eher unsicher waren. Zu diesem Zeitpunkt wurde noch mit einer 50-prozentigen Ausgleichsquote spekuliert.349 Schließlich wurde am 15. April 1925 das Ausgleichsverfahren eingeleitet. Am 27. Juli 1925 fand im Festsaal des Niederösterreichischen Gewerbevereins in Wien die außerordentliche Generalversammlung der Allgemeinen Depositenbank statt, an der 455 Aktionäre bzw. Aktionärsvertreter teilnahmen, der Name Castiglioni kam nicht vor. Nach einem stürmischen Verlauf, bei dem die Generalversammlung für zwei Stunden unterbrochen werden musste, stimmten die Aktionäre der Abwicklung der Bank durch das Österreichische Credit-Institut für öffentliche Unternehmungen 347 Stenographische Protokolle des Österreichischen Nationalrats, 45. Sitzung, 26. Juni 1924, S. 1279– 1284 348 Die Situation des Hauses Castiglioni, Die Stunde, 30. September 1924 349 Der Status der Depositenbank, Die Neue Wirtschaft, 18. September 1924
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und Arbeiten zu.350 Nach vielen Turbulenzen und Auseinandersetzungen zwischen den Großbanken, den Aktionären und den Gläubigern351 kam es schließlich am 2. und 7. Juli 1925 zur entscheidenden Ausgleichssatzung. Forderungen mit Vorrechten und Einlagen bis 1.000 Schilling wurden voll befriedigt, die anderen konnten zwischen einer Quote von 30 % zahlbar innerhalb drei Monaten oder 49 % zahlbar in Raten innerhalb 21 Monaten wählen. Auch gab es die Möglichkeit, für Forderungen von 4.000 Kronen 35 Schilling-Aktien des Österreichischen Credit-Institutes für öffentliche Unternehmungen und Arbeiten zu erhalten. Dieses staatliche Institut übernahm auch die Abwicklung der Depositenbank in Liquidation.352 Damit gingen die Aktionäre leer aus, die Gläubiger hatten einen Großteil ihrer Forderungen abzuschreiben, die Bank wurde liquidiert und die Angestellten entlassen. Von der Geschäftsleitung war nicht viel zu holen „und es blieb nur mehr die Hoffnung übrig, dass man durch einen verspäteten Regress an Camillo Castiglioni der Bank irgendwelche Mittel werde zuführen können“.353 Castiglioni schien die einzige finanzi350 Protokoll der 11. außerordentlichen Generalversammlung der Aktionäre der Allgemeinen Depositenbank, Archiv der Republik, WSLA, Akte Handelsregister Wien, Ges. 10/398 351 Der Aschermittwoch der Depositenbank, Die Börse, 12. Februar 1925; Das Schicksal der Depositenbank, Die Börse, 12. März 1925; Der neue Ausgleichsantrag der Depositenbank, Die Börse, 2. April 1925; Schadenersatzansprüche für die Depositenbankverluste!, Die Börse, 4. Juni 1925 352 Bankhistorisches Archiv der Oesterreichischen Nationalbank, 444/9 1925 353 Die Situation des Hauses Castiglioni, Die Stunde, 30. September 1924
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elle Größe, die man noch heranziehen konnte, wogegen er sich aber mithilfe seiner ihm freundlich gestimmten Presse energisch wehrte. „Es sind allerdings schon zweieinviertel Jahre her, seit das Regime Castiglioni der Goldstein-Drucker-Verwaltung wich und es fehlte daher nicht an Stimmen, die von dem Versuch abrieten, bei einem derzeit ganz Unbeteiligten und Unverpflichteten die Hilfe anzurufen, die von den Beteiligten und Verpflichteten verweigert wurde.“354 Jedes Kind wisse schließlich, „dass die Depositenbank ganz gewiss nicht zusammengebrochen wäre, wenn er am Ruder geblieben und nicht von der Clique hinausgedrängt worden wäre“.355 Außerdem gab es Gerüchte, dass Verhandlungen mit Castiglioni über den Wiedereinstieg in die Bank angeknüpft worden seien. „Dass Herr Castiglioni in der jetzigen Lage über hinreichend flüssige Mittel verfügen sollte, um sich in ein solches Engagement einzulassen, ist nicht anzunehmen, wenn er auch wahrscheinlich nicht ungern dem Übernahmesyndikat beigetreten wäre.“356 Beim ersten Rettungsversuch, „boten ihm die Großbanken eine 25-prozentige Beteiligung an dem Sanierungssyndikat an. Unverständlicherweise schlug er die Chance, an der Sanierung einer Bank, der er sein Vermögen zum Großteil verdankt, teilzunehmen, aus. Ob er es in der Erkenntnis tat, dass seine materiellen Kräfte zu dieser Aktion nicht ausreichen, oder ob er, wie behauptet wird, durch schlechte Ratgeber in seiner Umgebung von diesem vernünftigen Schritt zurückgehalten wurde, ist unaufgeklärt. Auch im weiteren Verlaufe der Begebenheiten bei der Depositenbank lehnte er ab, für die Sanierung und Wiederaufrichtung Opfer zu bringen.“ 357 Vorläufig ging man davon aus, dass Castiglioni in seiner finanziellen Position nicht wirklich erschüttert war. „Der Sensenmann hat unter dem Vorkriegsreichtum ebenso aufgeräumt wie unter den jungen Emporkömmlingen, und ebenso ist im Lager der siegreichen Überlebenden nicht bloß die schwere alte Hochfinanz zurückgeblieben, sondern auch das große Talent der neuen Ära. Wer es noch nicht weiß, dem mag es hier gesagt sein: Bosel und Castiglioni sind nicht vom Erdboden verschwunden, ihre Wirtschaftsmacht ist unerschüttert. Es gibt keine Alten und Neuen mehr, es gibt nur mehr Starke und Schwache. Die Schwachen sind hinweggefegt, ohne Rücksicht auf ihr Geburtsdatum, die Starken haben das Feld behauptet. Das Haus Castiglioni, dessen wirtschaftliche Großmacht international verankert ist, wurde von der Wiener Börsenkrise überhaupt nicht ernstlich berührt. Die vielen Industriemajoritäten, die dort ver354 355 356 357
Die letzten Tage der Depositenbank, Die Neue Wirtschaft, 26. Juni 1924 Der Generalstab des Bankrotts, Die neue Wirtschaft, 3. Juli 1924 Der Fall Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 10. Mai 1924, S. 968 Hofrat Stern und der Haftbefehl, Die Stunde, 29. September 1924
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einigt sind, haben nicht von ihrem Sachwert und nichts von ihrem Ertragswert eingebüßt, und das Schaukelspiel der Kurse kann denjenigen gleichgültig lassen, der nicht verkaufen will und auch krisenhaft gesteigerten Anforderungen im normalen Kreditwege gerecht werden kann. Hier ist ein Turm, der über das Meer von Hausse und Baisse hinausragt.“358 „Denn Castiglioni ist heute Herr über den wichtigsten Teil der österreichischen Industrie, er unterhält und besticht Zeitungen und steht in intimen geschäftlichen Beziehungen zu maßgebenden Politikern der regierenden Partei. Casti glioni ist durch die Krise nicht so hart mitgetroffen, dass bei ihm, wie bei den Kolas und Bronners und anderen von ernsten Schwierigkeiten gesprochen werden kann.“359 Castiglioni sei noch immer nicht zu bedauern, schrieb „Der Abend“. „Auch jetzt wird sein Vermögen auf mehrere Dutzend Millionen Goldkronen, vielleicht 50 bis 60 geschätzt, aber in der Zeit der höchsten Konjunktur haben ihm nahestehende Personen es bis zu 500 Millionen Goldkronen veranschlagt. ... Schon die Gegenüberstellung der Ziffern ergibt, dass der als genialer Wirtschaftsführer und Gründer in allen Tonarten gefeierte Castiglioni nichts anderes als ein Hasardspieler war. Die einen spielen am grünen Tisch, die anderen an der Börse. Der Gott, der beide lenkt, ist der Zufall. Nur ist der Hasardspieler, verglichen mit dem Börsenmenschen, ein ehrlicher Mann, denn er hat für gewöhnlich keine Gelegenheit, das Glück zu korrigieren.“360 „Der Österreichische Volkswirt“ sah die Krise der Depositenbank als symptomatisch an. „Allmählich, freilich zu spät, beginnt die Öffentlichkeit zu begreifen, was es bedeutet, dass große Banken zum Objekt des Ehrgeizes von ein paar machthungrigen neuen Reichen geworden sind ... Statt dass die Großaktionäre ihre Mittel den von ihnen beherrschten Banken zur Verfügung stellten, müssen die Banken ihre Mittel den Großaktionären für deren Privatgeschäfte bieten.“ Die Depositenbank war jene, die den häufigsten Herrenwechsel über sich ergehen lassen musste. Nach einer soliden Phase kam die Ära Kranz und schließlich die Herrschaft Castiglionis ab 1917. „Camillo Castiglioni war damals noch ein Stern zweiter Größe. Unter ihm und mit ihm erreichte die Entwicklung der Bank ihren Höhepunkt. Aber damals wurde nicht nur zu ihrer Größe, sondern auch zu ihren Schwierigkeiten der Grund gelegt. Castiglioni machte die Bank in viel größerem Maße seinen Zwecken dienstbar, als es die letzten Großaktionäre taten.“ Er brachte freilich auch der Bank den Zutritt zu österreichischen Industrieunternehmen und die Verbindung zur Banca Commerciale und 358 Der Konzentrationsprozeß der Hochfinanz, Die Neue Wirtschaft, 22. Mai 1924 359 Der Österreichische Volkswirt, 7. Juni 1924, S. 1100, zum österreichischen Aktienbesitz Castiglionis im Jahr 1924: Die Stunde, 30. September 1924 360 Abgewirtschaftet, Der Abend, 18. September 1924
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der Böhmischen Unionbank. „Aber die Verteilung zwischen Lasten und Chancen war höchst ungleichmäßig. Castiglioni erwarb die billigen Aktien (vielfach mit dem Kredit der Bank) und der Depositenbank blieb die Sorge der Geldbeschaffung für den großen Industriekonzern.“361 Kurze Zeit später griff „Der Österreichische Volkswirt“ Castiglioni offen an, wie das noch wenige Jahre vorher kaum denkbar gewesen wäre: „Castiglioni hat die Bank, als er ihr Präsident war, ausgenützt, indem er mit ihrem Geld sich die Herrschaft über einen großen Teil der österreichischen Industrie verschafft hat, während die Bank für die Kredite, die sie ihm und den Industrieunternehmen gewährt hat, nur entwertete Kronen zurückerhalten hat. Es ist bereits sicher, dass diese Geschäfte sich nicht einmal formell einwandfrei vollzogen haben.“ Es müsse auch die Lösung des Verhältnisses zwischen ihm und der Depositenbank aufgehellt werden, wobei die aussichtsreichen Beteiligungen an Castiglioni und die schlechten an die Depositenbank gingen. „Und bei dieser Aufteilung war die Depositenbank außer von dem schwachen Präsidenten Goldstein von Herrn Gabor Neumann vertreten, der damals schon mit einem Fuß im Hause Castiglionis stand, als dessen Generalbevollmächtigter er kurze Zeit darauf ganz dahin übersiedelte.“ Es gehe nicht an, dass die Aktionäre und die Gläubiger ihr Geld verlieren, die Beamten ins Elend gestoßen werden und die ganze Volkswirtschaft einen ungeheuren Schaden erleidet, „und der Hauptschuldige daran, der die Bank ausgehöhlt hatte, bevor er sie verlassen hatte, frei und unangefochten über ein ungeheueres Vermögen verfügt und als Herr der österreichischen Industrie sie vor dem Auslande kompromittiert. Es muss dafür gesorgt werden, dass Herr Castiglioni nicht nur der Bank geraubte Gelder zurückstellt, sondern dass auch der Staatsanwalt seine Pflicht tut.“ Es gehe nicht an, „dass der Großmeister der Bankräuber sein Vermögen behält und straffrei bleibt“.362 Die „Wirtschaftszeitung“ warf ihm vor, dass er einer der wenigen war, der mit System vorgegangen war. Das Verschulden seiner Nachfolger in der Depositenbank war Leichtfertigkeit, organisatorisches Untalent, Geschäftsunkenntnis und ein hemmungsloser Spieltrieb. „Bei Castiglioni war die Ausplünderung der Bank ein System, gerichtet auf planmäßige, persönliche Bereicherung auf Kosten der Bank, verwirklicht mit Mitteln, die strafgesetzlich eindeutig und ohne Aufwand irgendwelchen juristischen Scharfsinnes qualifizierbar sind. Die Goldstein und Drucker haben ihre Schuld gebüßt, indem sie ihre Stellung verloren haben und heute wenigstens gemessen an ihrem früheren Reichtum, arme Männer sind. Castiglioni, der Hauptschuldige, aber erfreut sich 361 Der Fall Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 10. Mai 1924, S. 967/8 362 Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 28. Juni 1924, S. 1195; 4. Juli 1925, S. 1089/90
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unangefochten eines Vermögens von sicherlich noch immer einigen hundert Milliarden ... Die Goldstein und Drucker waren harmlose Privatleute, die im Luxus leben und leben lassen wollten. Castiglioni allein ist systematisch auf eine Korrumpierung der Presse, der Parteien, der Verwaltung ausgegangen, ist nicht bloß von skrupelloser Geldgier, sondern von Machthunger getrieben. Von allen Finanzgrößen der letzten Jahre ist er der Interessanteste, aber auch der Verderblichste.“363 Für den „Österreichischen Volkswirt“ war die Schuld am Zusammenbruch der Depositenbank daher in der Ära Castiglioni zu suchen. „Je weiter die Untersuchung des verworrenen Standes der Bank fortschreitet, desto deutlicher wird es, in welchem Maße die Bank von ihren damaligen Herren ausgeplündert worden ist. Dabei herrscht in den Aufzeichnungen vollste Unordnung, die wichtigsten Verträge sind überhaupt verschwunden und die mündlichen Auskünfte über diese Geschäfte widersprechen sich ... Es ist leider zu befürchten, dass der Staatsanwalt kein leichtes Spiel haben wird. Castiglioni ist durch den Zusammenbruch ausländischer Staatsbürger geworden und hat sich bisher bei seinen Geschäften oft der wirksamen Unterstützung durch diplomatische Organe seines Heimatstaates erfreut.“364 Der öffentliche Druck wurde daher immer größer. Als Castiglioni erfuhr, dass auch Hofrat Stern, der mit der Überprüfung der Depositenbank betraut war, die Schuld an dem Zusammenbruch ihm zuschrieb, entschloss er sich, etwa 50 Milliarden für die Depositenbank einzusetzen. Er übermittelte Hofrat Stern einen Entwurf der Vereinbarung mit der Banca Commerciale, um seine guten Absichten darzutun. Dieser unterrichtete darüber die Staatsanwaltschaft.365 Allerdings war das nur eine unverbindliche Absichtserklärung zur Beruhigung der Situation. Denn die finanziellen Kapazitäten Castiglionis wurden erheblich überschätzt, schließlich befand er sich selbst schon in einer Sanierungsphase mithilfe der Banca Commerciale. „Der Anstoß seines Zusammenbruchs rührte aber von der Franc-Spekulation im Frühjahr 1924 her, an der Castiglioni, der noch bei keinem Leichenschmaus größeren Kalibers gefehlt, teilgenommen hatte.“366 Denn die Methoden, die ihn in der Zeit der Geldentwertung zum reichsten Mann Österreichs gemacht hatten, wurden nun sein Verderben: das Schuldigbleiben von Beträgen, die man später mit entwerteter Währung zurückzahlte und die damit verbundene Anhäufung von Aktien. Diese Mittel, die in der Zeit der schnellen Geldentwertung zu hohen Gewinnen geführt hatten, brachten bei stabilem Geldwert und 363 Der Fall Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924, S. 1217 364 Der Österreichische Volkswirt, 7. Juni 1924, S. 1099/1100 365 Hofrat Stern und der Haftbefehl, Die Stunde, 29. September 1924 366 Paul Ufermann, Könige der Inflation, Berlin 1924, S. 76
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hohen Zinsen den Ruin. Durch die Verluste bei der Franc-Spekulation und die Nichtverkäuflichkeit seiner österreichischen Aktien wurde er insolvent und konnte seinen finanziellen Verbindlichkeiten nicht mehr nachkommen. „Castiglioni hatte nach guter Inflationssitte in allen Ländern, deren Währung im Sinken war, zu verhältnismäßig hohen Zinssätzen Riesenkredite aufgenommen und nicht rechtzeitig gemerkt, dass diese Zinsen nach der Stabilisierung einen ungeheueren Ballast bedeuten. Als er die Schulden abzudecken versuchte, konnte er infolge der Kreditknappheit und der niedrigen Börsenkurse seine Aktiven, die angeblich noch immer die Passiven um 80 Millionen Goldmark übertrafen, nicht ohne große Verluste realisieren. Der größte österreichische Inflationsgewinner ist also an den Folgen der Deflation zusammengebrochen.“367 Castiglioni war durch seine Spekulation auf das Steigen der Reichsmark 1923 und auf das Fallen des französischen Francs 1924 und der in Wien darauf folgenden Börsenkrise bereits in ernste Schwierigkeiten geraten.
Die „Spiritus-Affäre“ Die nun folgenden Depositenbank- und Gerichtsverhandlungen verliefen äußerst dramatisch. Castiglioni bot bei den nächtelangen Sitzungen seine gesamte Schauspielkunst 367 Richard Lewinsohn, Die Umschichtung der europäischen Vermögen, Berlin, 1925, S. 251
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unter Tränen auf, drohte mit Selbstmord, mit einem politischen Skandal und außenpolitischen Interventionen. Der Zusammenbruch der Depositenbank führte auch tatsächlich zu zwei Selbstmorden. Am 27. September 1924 hatte Generaldirektor Hilbert Pick in seiner Badener Villa Selbstmord begangen. Die Hausbesorgerin fand ihn im Schlafzimmer erhängt neben dem Bett.368 Als Folge der Strafanzeige hat auch der unmittelbare Leiter der Spiritusgesellschaft und frühere Direktor der Depositenbank Imre Kun Selbstmord verübt.369 Er hatte die geheime Korrespondenz geführt und auf Anweisung Castiglionis die falsche Angabe gemacht, dass Lederer in alle Geschäfte Einblick gehabt habe.370 Kun stürzte sich im Stiegenhaus des Büros am Kolowratring vom vierten Stock in die Tiefe. Die Polizei sprach von einem Unfall. „Am Tag des Selbstmordes sollte Kun polizeilich vernommen werden. Der Anwalt des Hauses ... wollte den Unglücklichen selbst zur Einvernahme begleiten und holte ihn im Büro ab. Kun hatte Angst, verhaftet zu werden. Als der Anwalt diese Befürchtungen nicht zerstreuen konnte, lief der Direktor aus dem Zimmer und stürzte sich über die Rampe in die Tiefe. Ein furchtbares Gespenst hauste von diesem Tage an im Palais Castiglioni.“371 Angeblich schwebten schon seit Mitte 1921 Anklagen gegen Castiglioni in der Spiritusangelegenheit. Im Oktober 1923 meldete „Der Abend“ eine Strafuntersuchung der tschechischen Behörden gegen Camillo Castiglioni und Heinrich Bronner, den Verwaltungsrat der Lombard- und Escomptebank, die auf die Spiritusgeschäfte im Jahr 1919 zurückging. „Herr Castiglioni war damals Präsident der Depositenbank, Herr Bronner noch nicht Verwaltungsrat einer größeren Mittelbank, sondern noch auf jener Stufe seiner Entwicklung, wo man durch seine Geschäfte täglich an das Kriminal streift. Das Geschäft bestand in einem dreifachen Betrug. Es wurden betrogen: erstens der tschechische Staat, zweitens der deutsche Staat und drittens die Abnehmer des Spiritus. Der Sachverhalt ist folgender: Es sollte Spiritus in großen Mengen nach Deutschland gebracht werden. Deutschland hatte aber ein Einfuhrverbot auf Spiritus erlassen, es galt also, den Spiritus mit Umgehung dieser Bestimmung über die deutsche Grenze zu bringen. Es geschah in der Weise, dass man die Ware nach dem von den Engländern besetzten Köln schaffte und von dort – etwas, was in jenen Zeiten von großen und kleinen Schiebern so ziemlich allgemein getan wurde – nach Deutschland schmuggelte. Es war eine Ausnützung des ‚Loches im Westen‘. Der tschechoslowakische Staat wur368 369 370 371
Der Zusammenbruch Castiglionis, Wiener Morgenzeitung, 1. Oktober 1924 Die Spiritusaffäre und Gabor Neumann, Die Stunde, 1. Oktober 1924 Neues 8-Uhr-Blatt, 8. November 1925 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 123
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de damit betrogen, dass man, um die Ausfuhrabgabe zu ersparen, als Bestimmungsort des ausgeführten Spiritus Überseeländer angab. Die wirkliche Bestimmung war Köln beziehungsweise Deutschland. Der dritte Geschädigte waren die Käufer, denen falsche Gewichtsmengen geliefert wurden. Aufgedeckt wurde der ganze Betrug im Zuge von Streitigkeiten, die zwischen einigen Schiebern, die mit Castiglioni und Bronner arbeiteten, entstanden waren und der Streitigkeiten mit den Abnehmern.“ Die Angelegenheit kam vor die tschechischen Behörden und angeblich konnten Castiglioni und Bronner nur durch eine große Kaution der Verhaftung entgehen. „Was diesen Fall von vielen solchen Geschäften in dieser Zeit unterschied war, dass er vor die Behörden kam, natürlich vor die tschechischen und nicht vor die österreichischen ..., denn in Österreich lagen die Dinge anders: Dieses Österreich betätigte nicht nur Duldung, sondern Förderung und Begünstigung, bis es so weit kam, dass es jetzt von Leuten beherrscht wird, von denen kein einziger sich der Freiheit erfreuen könnte, wenn es nicht der oberste, unausgesprochene Grundsatz der österreichischen Justiz wäre, nur die kleinen Diebe zu hängen.“372 Bereits Anfang 1924 gab es eine Anzeige beim Handelsgericht Wien gegen die Depositenbank in Sachen Spiritussyndikat, die an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden sollte. Durch den Einspruch der Depositenbank war die Abtretung aber nicht erfolgt.373 Allerdings wurde später festgestellt, dass der Einspruch der Depositenbank in keiner Weise das Vorgehen der Staatsanwaltschaft beeinflusst habe.374 Das war aber letztlich nur ein Vorspiel. Schließlich drohte Castiglioni auch in Wien ein Prozess aus dem Spiritusgeschäft.375 Die Prager Großindustriellen Wladimir und Milos Bondy – die Erben des verstorbenen Handelskammerpräsidenten Leon Bondy in Prag – und der Spiritusindustrielle August Lederer erstatteten im Juni 1924 gegen Camillo Castiglioni und dessen Generalbevollmächtigten Gabor Neumann eine Anzeige wegen Veruntreuung bzw. wegen Betrugs. Sie hätten sich den Gewinn aus dem Spiritussyndikat rechtswidrig angeeignet und sonstiger strafbarer Machenschaften zum Nachteil der Depositenbank und ihrer Aktionäre schuldig gemacht. Das Spiritusgeschäft war seinerzeit von der Depositenbank zur Wiener Lombardund Escompte-Bank übergeleitet worden, in deren Verwaltungsrat August Lederer und Heinrich Bronner saßen. Heinrich Bronner soll praktisch das gesamte Aktienkapital 372 373 374 375
Strafuntersuchung gegen die Herren Castiglioni und Bronner, Der Abend, 12. Oktober 1923 Der Österreichische Volkswirt, 7. Juni 1924, S. 1100 Depositenbank und Castiglioni, Reichspost, 30. September 1924 Bericht der Staatsanwaltschaft Wien I an die Oberstaatsanwaltschaft Wien in der Strafsache gegen Camillo Castiglioni & Genossen wegen des Verbrechens der Veruntreuung bzw. des Betruges, 10. Oktober 1924. Archiv der Republik, Akt gegen C. Castiglioni, VI, R 3728, Zi. 37.609/35
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und Reserven dieser Bank verspielt haben, sein Bruder, Samuel Bronner, war Angestellter der Depositenbank und gegen ihn hatte das Handelsgericht eine Untersuchung wegen Veruntreuung und Betrug eingeleitet. Für die Spiritusgeschäfte war eine Holding errichtet worden, die Internationale Spiritus AG, an der auch die Anglo-Bank beteiligt war, die hohe Gewinne ausschüttete, obwohl sie praktisch seit ihrer Gründung in der Krise war und bald darauf insolvent wurde.376 Außerdem erstatteten etwa 50 Einleger und Aktionäre diverse Strafanzeigen gegen die früheren Machthaber der Depositenbank, einschließlich Castiglioni, denen sich auch die Großbanken und die Geschäftsaufsicht der Depositenbank anschloss. Dazu stand im Bericht der Staatsanwaltschaft: Der Spirituskonzern der Depositenbank war im Zentralbüro vereinigter Spiritus-Pottasche und Kognakfabriken zusammengefasst. Ihr gehörten die Baroter Spiritus- und Likörfabrik AG an, deren Aktienmehrheit bei der Depositenbank lag, und die mit ihr in Interessengemeinschaft stehende Vereinigte tschechoslowakische Spiritus- und Likörindustrie AG. Die Depositenbank schloss gemeinsam mit der Raaber Spiritusfabrik AG und der Firma Ignatz Lederer (genannt die Zentralgruppe) am 21. September 1919 mit der Mitte-Gruppe, bestehend aus Milos und Wladimir Bondy, und den Prager Kaufleuten Richard Stein, Oskar Taussig und Gustav Weinberger einen Syndikatsvertrag, der den Einkauf von Spiritus und seinen Derivaten (Likör, Kognak, Rum etc.) in der Tschechoslowakei für den Export betraf. An dem Syndikat war die Zentralgruppe mit 75 % am Gewinn und Verlust beteiligt, wobei auf das Zentralbüro 37,5 % und seit Sommer 1920 40 % entfiel. Die Geschäfte des Syndikats entwickelten sich äußerst günstig und bereits nach einigen Monaten war ein großer Gewinn zu erwarten. Die nun folgenden Gewinnausschüttungen betrugen: 6. August 1920 10.000.000 Romanow Rubel 9. August 1920 10.000.000 Reichsmark Herbst 1920 7.811.582 ungarische Kronen 18. Februar 1921 8.900.000 polnische Mark 21. Februar 1921 20.000.000 österreichische Kronen 5. Mai 1921 18.000.000 Reichsmark
376 Der Fall Bronner. Lombardbank – Spiritus AG, Die Neue Wirtschaft, 4. Juni 1924; Der Bericht der Bankenkommission über die Spiritusaffäre, Die Neue Wirtschaft, 2. Oktober 1924. Castiglionis Glück und kein Ende, Arbeiter-Zeitung, 23. Oktober 1924
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An diesem Gewinn war das Zentralbüro mit 40 % beteiligt, der nun folgend verteilt wurde: Depositenbank 12,5875 % Camillo Castiglioni 12,5875 % Paul Goldstein 4,8250 % Gabor Neumann 4,8250 % Dr. Franz Herzberg 3,3750 % Dr. Eduard Nelken 1,0000 % Armin Stein 0,8000 % Damit gehörten alle Begünstigten der Depositenbank an, die beteiligten Industrien gingen leer aus. „Diese Gewinnbeteiligungen erfolgten mit Ausnahme der Depositenbank, welche wenigstens den ihrem Konzern angeschlossenen und zum Syndikat gehörigen Industrien Kapitalien zur Verfügung stellte, ohne jede Gegenleistung seitens der Genannten. Es besteht auch der dringendste Verdacht, dass sich Castiglioni und Genossen erst knapp vor der Gewinnausschüttung, also zu einem Zeitpunkte, wo sie kein Risiko mehr traf, an dem Syndikate beteiligten, aus dem sie, wie noch später gezeigt wird, wieder ‚ausstiegen‘, als das Geschäft nicht mehr lukrativ zu sein drohte. Sie haben also auf diese Weise einen bereits sicheren Gewinn von für damalige Verhältnisse sehr beträchtlicher Höhe den eigentlichen Syndikatsmitgliedern, die alle Risiken des Geschäftes allein getragen hatten, entzogen und so diese Unternehmungen bzw. deren Aktionäre geschädigt. Allerdings wird dieser Vorgang durch Vorlage von Urkunden zu bemänteln gesucht, die einen früheren Eintritt der Beschuldigten dartun sollen, doch kann nach dem Stande der bisherigen Erhebungen nicht mehr zweifelhaft sein, dass diese ‚Urkunden‘ nachträglich angefertigt worden sind und nur den Zweck verfolgen, ein unlauteres Vorgehen zu verdecken.“ Angeblich soll die Baroter die Beteiligung abgegeben haben, da sie nicht die nötigen Kapitalien für den Ankauf der Spiritusmengen aufbringen konnte. Die Urkunde war von Gabor Neumann und Imre Kun unterschrieben, wobei der E rstere zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Diensten der Depositenbank stand, während Imre Kun noch keine Prokura hatte, daher noch gar nicht zeichnungsberechtigt war. „Durch diese Fälschung soll dargetan werden, dass Castiglioni schon im Dezember 1919, also etwa 2 Monate nach Gründung des Syndikats, diesem beitrat, somit an dem Risiko des Geschäftes beteiligt war und sich auch zu einer Gegenleistung, nämlich zur Bereitstellung der zur Geschäftsführung nötigen Kapitalien, verpflichtete.“ Es stand aber fest, dass die nun Unterbeteiligten nicht den geringsten Betrag zur Verfügung gestellt hatten. Laut einer Aktennotiz vom 25. Dezember 1919 übertrugen Castiglioni, die Depositenbank, die ungarische Landesbank und die Baroter ihre 37,5-prozentige Beteiligung
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an dem Spiritussyndikat an die International Investment Company in Zürich, die von Castiglioni gegründet worden war und deren Aktien sich in seinem alleinigen Besitz befanden. Das geschah angeblich, um die Geldbedürfnisse des Syndikats sicherzustellen. „Die Schweizer Gesellschaft hat aber dem Syndikat niemals Geld zur Verfügung gestellt, sondern am selben Tag die erworbenen Beteiligungen ohne jede Gegenleistung an Castiglioni & Genossen verteilt. Später wurden der Investmentgesellschaft noch weitere Anteile übertragen, die sie sofort an die genannten Personen weitergab, so dass sich schließlich der oben genannte Verteilungsschlüssel ergab.“ Aus den Unterlagen ergab sich daher, „dass sie lediglich den Zweck verfolgten, das ‚Einsteigen‘ Castiglionis und seiner Genossen in das gewinnreiche Spiritussyndikat zu verhüllen und den wahren Sachverhalt zu entstellen“. Anfang 1922 flaute die Konjunktur im Spiritusgeschäft merklich ab und es wurden eine Reihe von Prozessen gegen das Syndikat und das Zentralbüro anhängig, sodass das Weiterverbleiben in diesem Geschäft riskant erschien. „Deshalb hatten nun Castiglioni und die übrigen Beteiligten allen Grund, aus dem Geschäft wieder ‚auszusteigen‘. Hiezu bot der anlässlich des Ausscheidens Castiglioni aus der Depositenbank abgeschlossene Dissolutionsvertrag mit der Depositenbank die erwünschte Handhabe. In diesem Vertrage überträgt der scheidende Präsident seinen 12,5875 % betragenden Anteil an dem Spiritus-Syndikate der Depositenbank und erklärt, das bisher aus dem Syndikate als Gewinnanteil Bezogene als endgültige Abfertigung zu betrachten, wogegen ihn die Depositenbank aus jeder Haftung für die Zeit seiner Angehörigkeit zum Syndikate entlässt. Damit sind alle Verluste – und solche waren damals tatsächlich zu erwarten – auf die Depositenbank überwälzt worden. Unter denselben Modalitäten übertrug auch der zu Castiglioni übergetretene Generaldirektor Gabor Neumann seinen 4,825%igen Anteil an die Depositenbank, merkwürdigerweise auch die im Verbande dieses Institutes verbliebenen Paul Goldstein, Dr. Herzberg, Dr. Nelken und Armin Stein. Damit war das ‚Aussteigen‘ besorgt und der erzielte Gewinn sichergestellt, da alle aus dem Syndikate etwa sich ergebenden Haftungen die Depositenbank übernommen hatte. Dass diese Schiebungen möglich waren, ist darauf zurückzuführen, dass sämtliche Beteiligte, vermöge ihrer Stellung bei der Depositenbank auch ausschlaggebenden Einfluss auf die Geschäftsführung des Syndikates hatten und dass einzelne sogar der Leitung der an dem Syndikate beteiligten Industrien angehörten.“ Außerdem wurde in der Anzeige noch Misswirtschaft mit den Geldern des Spiritussyndikats vorgeworfen. Castiglioni, Neumann und die anderen Leiter der Depositenbank sollen sich in zahlreichen Fällen erhebliche Beträge an tschechischen Kronen vom Spiritussyndikat ausgeborgt haben, die sie erst nach Monaten zumeist ohne Zinsen zurückzahlten. Ob dies einen strafbaren Tatbestand darstellte, war aber zweifelhaft.
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Weiters behauptete die Anzeige, dass vom Spiritussyndikat 10 Waggons Exportspiritus zugewiesen worden waren, die spurlos verschwunden waren. Dieser Spiritus soll mit Wissen Gabor Neumanns in der Tschechoslowakei verkauft worden sein, der Erlös wurde aber nie verrechnet. Weiters wurde behauptet, dass von den Brüdern Bondy an Castiglioni und Neumann der Betrag von 5 Millionen tschechischen Kronen übergeben worden sei, um sie Heinrich Bronner als Abschlagzahlung für eine ihm zustehende Provision zu geben. Diese sollen sie sich selbst angeeignet haben. Eine weitere Anzeige erfolgte durch die Raaber Spiritus AG, bzw. August Lederer, der sich nicht nur durch die Manipulationen Gabor Neumanns finanziell geschädigt fühlte. Vor allem sei ein Quantum von 205 Waggon Exportspiritus im Wert von vielen Millionen tschechischen Kronen durch das Syndikat bezogen worden, der Erlös aber nicht verrechnet worden, was den Tatbestand des Betrugs darstellen würde.377 Aufgrund dieser Anzeigen wurden vom 30. Juni bis Anfang September 1924 Erhebungen der Wirtschaftspolizei durchgeführt und am 6. September 1924 gegen Camillo Castiglioni, Paul Goldstein und Gabor Neumann gerichtliche Erhebungen eingeleitet. „Im Laufe dieser wurde bekannt, dass Camillo Castiglioni seinen gesamten inländischen Besitz an ein von der Banca Commerciale in Mailand geführtes Konsortium zu übertragen im Begriffe ist. Da damals nicht bekannt war, dass diese Transaktion den Zweck verfolgt, die Gläubiger Castiglionis zu befriedigen, musste der Verdacht einer geplanten Vermögensverschleppung entstehen. Auch wurde bekannt, dass Paul Goldstein vor kurzem sein Vermögen auf seine Frau übertragen hatte, zweifellos um es vor Zugriffen aus dem Titel der Schadensgutmachung wegen seiner Geschäftsführung in der Depositenbank zu sichern. Es ergab sich daraus die Gefahr, dass diese beiden und der in den Spiritus-Fällen am meisten belastete Gabor Neumann – alle drei sind Ausländer – sich durch Flucht der weiteren strafgerichtlichen Verfolgung entziehen könnten. Dem sollte vorgebeugt werden. Dabei war bei Castiglioni von vornherein mit der großen Schwierigkeit seiner Überweisung in der Richtung, dass er von den einzelnen betrügerischen Machenschaften Kenntnis hatte, zu rechnen, wie auch zu bedenken, dass seine Verhaftung weit über den Kreis des Falles hinaus für die Volkswirtschaft schädliche Folgen nach sich ziehen könnte. Auch war ja der Gefahr der Verabredung durch die Verhaftung der beiden anderen Beschuldigten hinlänglich begegnet worden.“ Es wurde daher am 26. September 1924 beim Untersuchungsrichter der Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung gegen Camillo Castiglioni, Paul Goldstein und Gabor 377 Bericht der Staatsanwaltschaft Wien I an die Oberstaatsanwaltschaft Wien in der Strafsache gegen Camillo Castiglioni & Genossen wegen des Verbrechens der Veruntreuung bzw. des Betruges, 10. Oktober 1924. Archiv der Republik, Akt gegen C. Castiglioni, VI, R 3728, Zi. 37.609/35
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Neumann und die Untersuchungshaft über Goldstein und Neumann beantragt. Für Castiglioni sollte eine Untersuchungshaft unterbleiben, falls er in einer angemessenen Frist eine Kaution von 100 Milliarden Kronen hinterlegte. Dem Antrag wurde am 27. September stattgegeben. „In Durchführung dieser Beschlüsse begab sich der Untersuchungsrichter Hofrat Dr. Jakob im Laufe des ersten Nachmittages zum Polizeipräsidenten Schober, mit dem er die näheren Modalitäten wegen der Durchführung der in Aussicht genommenen Verhaftung Goldsteins und Neumanns und der Vorführung Castiglionis besprach. Die Verhaftungen bzw. Vorführungen sollten am nächsten Tage, am 28. IX. 1924 in der Früh durchgeführt werden. Bis zu diesem Zeitpunkte wurden im Auftrage des Polizeipräsidenten die Wohnungen der Beschuldigten überwacht. Als am 28. zur Durchführung der Verhaftungen geschritten werden sollte, stellte sich heraus, dass sämtliche Beschuldigten trotz der polizeilichen Überwachung am Tage vorher Wien verlassen hatten.“ Die drei Angeklagten befanden sich nun im Ausland, Castiglioni als Italiener in Italien, Neumann als Ungar in Budapest und Goldstein als Deutscher in Berlin. Die Flucht der drei Beschuldigten war natürlich ein gefundenes Fressen für die Presse. Die sechsstündige Ratskammersitzung des Landesgerichts fand am Freitag, dem 27. September statt, bei der auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Vorführungsbefehle für den nächsten Tag beschlossen wurden. Trotz polizeilicher Überwachung der Wohnungen hatten aber alle drei bereits am Freitag ihre Wohnungen verlassen und die Hausdurchsuchungen brachten nicht viel zutage. „Noch während der Sitzung, ehe sie beendet war, wurden Castiglioni und die beiden Direktoren Neumann und Goldstein von dem bevorstehenden Erlasse eines Haftbefehles gegen sie verständigt. Welcher Weg aus der Ratskammer führt zu Castiglioni? Pikant ist es, dass alle drei entfliehen konnten, trotzdem sie polizeilich überwacht waren. Der Untersuchungsrichter Hofrat Dr. Jakob hatte ungefähr eine Woche vor der Flucht die Überwachung angeordnet. Es wurden Geheimpolizisten hiemit beauftragt. Die drei sind nun im Auto geflohen. Da die Überwachung, wie es sich bei so hervorragenden Persönlichkeiten geziemt, ‚mit aller Schonung‘ vor sich ging, sahen die Detektivs respektvoll zu, wie jeder der drei davonfuhr. Die Polizisten waren offenbar der Meinung, es handle sich um eine Stadtfahrt, da weder Castiglioni noch Neumann noch Goldstein Gepäck aufgeladen hatten. Wenn man ein Auto hat, lässt sich auch mit der Polizei leicht auskommen.“378 Auch die britische Botschaft bezeichnete es als charakteristisch für die österreichischen Verhältnisse, dass alle drei gewarnt worden waren.379 Der Justizminister erklärte lapidar: „Dass Verdächtige die 378 Wie Castiglioni flüchtete, Der Abend, 3. Oktober 1924 379 Mr. Keeling, Vienna to J. Ramsay MacDonald, Treasury London, 3rd October, 1924, Public Record Office London, FO 371 9656 02354
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Flucht ergreifen, kommt ja oft vor.“380 Martin Rathsprecher kommentierte den Vorfall rückblickend: „In Kenntnis der Tatsache, dass auch Amtswände Ohren haben und vereidigte Staatsbeamte Münder (die umso gesprächiger sein können, je weniger das Gehalt zum Essen reicht), schreibt der referierende Richter der Ratskammer mit seinen zwei Fingern den Haftbefehl selbst auf der Schreibmaschine und trägt ihn persönlich zum Polizeipräsidenten Schober in das Polizeipräsidium. Polizeibeamte in Zivil werden ausgesandt, die Verhaftung vorzunehmen. Sie kehren mit der Nachricht zurück, Castiglioni und seine beiden Direktoren seien eine halbe Stunde vorher mit unbekanntem Ziel abgereist. So geschehen nicht in Chicago, sondern im Herbst 1924 in Wien.“381 Neumann erklärte, dass er immer am Freitag nach Budapest fahre, um seine kranke Frau zu besuchen und sonntagnachts nach Wien zurückzukehren. Sein Rechtsanwalt habe ihm aber nun empfohlen, in Budapest Bild 26 zu bleiben, da er dort nicht verhaftet werDer Untersuchungsrichter den konnte. Er verlangte freies Geleit, nach „Der Morgen“, Wien, 6. Oktober 1924 Auskunft der ungarischen Polizei hatte er Budapest mit unbekanntem Aufenthalt verlassen, stellte sich jedoch später den ungarischen Behörden. Paul Goldstein verlangte freies Geleit, da er keine Kaution erlegen konnte. Die Berliner Polizei, die von Wien mit der Verhaftung beauftragt wurde, konnte seinen Aufenthalt nicht feststellen. Der Vorwurf gegen ihn war vor allem, dass er sich zu schwach gezeigt habe, den Spekulationen der anderen Leitungspersonen entgegenzutreten. Hofrat Stern soll ihn angeblich als „Waserl“ bezeichnet haben. Er schickte seinen Bruder, den Rechtsanwalt Dr. Isman Goldstein nach Wien, von dem er angeblich bereits finanziell unterstützt wer380 Der Nationalrat über die Bankskandale, Wiener Morgenzeitung, 23. Oktober 1924 381 Martin Rathsprecher, Porträt Camillo Castiglioni, Tagebuch, Wien 24. Oktober 1953
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den musste.382 Hinsichtlich Gabor Neumann und Paul Goldstein war bald festgestellt, dass es sich offenkundig um Flucht handelt. Es wurde daher gegen die beiden flüchtigen Beschuldigten noch am 29. September d. J. ein Steckbrief erlassen. Anders stand die Sache hinsichtlich Camillo Castiglioni. Von allen informierten Seiten wurde behauptet, dass Camillo Castiglioni lediglich zum Abschluss der im Zuge befindlichen Verhandlungen mit der Banca Commerciale über Grundlsee nach Mailand oder Triest abgereist sei und dass er in Bälde wieder nach Wien zurückkehren wolle. Es lag daher zur Erlassung eines Steckbriefes gegen Camillo Castiglioni kein Grund vor.383 Dass nur der Haftbefehl gegen Neumann und Goldstein wegen Verabredungsgefahr erlassen wurde, erfuhr eine heftige Kritik. Denn Castiglioni führte Verhandlungen mit den Belastungszeugen. „Das doppelte Maß, mit dem bei dem gleichen Delikt der Mächtige und der Ohnmächtige gemessen werden, tritt – nicht zu Ehren der österreichischen Justiz – hier klar zutage.“384 Und „Der Österreichische Volkswirt“ stellte schon fest: „Es ist leider zu befürchten, dass der Staatsanwalt gegen Castiglioni kein leichtes Spiel haben wird.“385 Mit dem Thema hatte sich auch die vom Nationalrat eingesetzte Bankenkommission und das Finanzministerium zu beschäftigen. „Der Ausschuss bestellte einen unerbitter382 Freies Geleit für Castiglioni, Die Stunde, 2. Oktober 1924 383 Bericht der Staatsanwaltschaft Wien I an die Oberstaatsanwaltschaft Wien in der Strafsache gegen Camillo Castiglioni & Genossen wegen des Verbrechens der Veruntreuung bzw. des Betruges, 10. Oktober 1924. Archiv der Republik, Akt gegen C. Castiglioni, VI, R 3728, Zi. 37.609/35 384 Affäre Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 34 385 Strafanzeige gegen Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 1100
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lichen, unerweichlichen Mann zur Prüfung der Geschäfte der zusammengebrochenen Bank. Georg Stern, der Vertreter der Sozialdemokratie in der Bankenkommission und der Arbeiterkammer im Generalrat der Nationalbank, prüft die Bücher und Geschäfte der Depositenbank. Nun wurde es für Castiglioni eng.“386 Castiglioni versuchte von vornherein, einen Prozess abzuwenden und sich mit den Klägern zu verständigen. „Über den Prozess August Lederer ist man selbst in Großbankkreisen der Meinung, dass sich der berüchtigte Spiritusfaiseur bloß um den Fuhrlohn ins Schmuggelparadies betrogen fühlt.“387 Bezüglich der Sache Bondy erklärte er sich zu einem Arrangement bereit, bei dem er 70 % und die Depositenbank 30 % der Vergleichslast zu tragen hätten. Das Angebot wurde von der Depositenbank angenommen, aber von den Wiener Großbanken, die nun das Sagen bei der Depositenbank hatten, abgelehnt. Castiglioni soll dennoch die Verhandlungen weitergeführt und den Erben Bondys 4,5 Millionen Tschechenkronen angeboten haben, wodurch auch jede weitere Haftung der Depositenbank entfallen wäre. Diesen Gerüchten trat aber der Anwalt der Erben Bondys entgegen und kündigte eine Ausweitung der Anklage an. Castiglioni habe sie nicht nur aus dem Spiritusgeschäft betrogen, sondern auch als Aktionäre der Depositenbank, da er sich den Gewinn aus dem Anteil dieser Bank angeeignet habe. Der Rechtsanwalt forderte den Verwaltungsrat und die Geschäftsaufsicht der Depositenbank auf, sich dem 386 Castiglioni, Arbeiter-Zeitung, 30. September 1924 387 Die Börse, 26. Juni 1924
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Strafverfahren gegen Castiglioni anzuschließen. „Bekanntlich hat die von den Großbanken eingesetzte Verwaltung der Depositenbank gefunden, dass trotz der offenbaren Bereicherung Castiglionis auf Kosten der Depositenbank eine Schadenersatzklage nicht angängig sei, weil in den Büchern und Belegen der Bank die auf die Geschäfte mit ihrem früheren Präsidenten bezüglichen Beweisstücke nicht aufzufinden seien.“388 Dann kam es zu einer „Sensation“ in der Depositenbankaffäre. Anfang September 1924 verschickte die Polizei eine Mitteilung, dass das Büro des Hofrates Dr. Jakob, des mit der Untersuchung der Depositenbankangelegenheit betrauten Richters, im Gebäude der Depositenbank häufig von ungebetenen Gästen aufgesucht wurde, dass Akten entwendet und wieder zurückgestellt wurden, dass mit einem Wort Personen Interesse hatten, in das von Hofrat Jakob aufgearbeitete Aktenmaterial Einsicht zu nehmen. Hofrat Jakob betraute die Wirtschaftspolizei mit der Angelegenheit. Es wurde binnen kurzer Zeit festgestellt, dass dem Untersuchungsrichter eine unverschlossene Tapetentüre, entgangen war, durch die man in die Büros der kommerziellen Abteilung der Zündwarenfabrik Orion gelangte. Die Einbrecher hatten diesen Weg genommen. Allerdings war die Sensation doch nicht ganz so groß, wie der Präsident des Landesgerichtes für Strafsachen Wien I mitteilte: „Der Untersuchungsrichter Hofrat Dr. Jakob hat die Prüfung der Bücher und Korrespondenzen der Depositenbank nur in deren Hause 1. Bezirk Schottenring 1 vorgenommen. Es wurde ihm aber am 13. September mitgeteilt, dass in dem Büro des verstorbenen Direktorstellvertreters, Imre Kun, zwei für die Sache wichtige Schriftenbündel verwahrt seien. Dieses Büro befand sich in dem Hause 1. Bezirk Freiung 4 und wurde nach dem Ableben Kuns von einer Kommission der Depositenbank verschlossen. Zwei Türen hatten Vorhängeschlösser, eine davon war auch mit Siegeln der Depositenbank versehen, eine dritte (Tapeten-)Türe führte zu den Räumen der Aktiengesellschaft Orion und war, wie sich der Untersuchungsrichter überzeugt hatte, gleichfalls versperrt. Ein Schlüssel zu dieser Türe war nicht vorfindlich, ein Umstand aber, der deshalb nicht auffallen konnte, weil sie in fremde Räume führte. Hofrat Jakob begab sich am 13. September 1924 in dieses Büro, ließ es öffnen, prüfte die zwei Schriftenbündel und ließ sie als für die Sache unwesentlich zurück. Das Büro wurde wieder geschlossen und der Untersuchungsrichter nahm die Schlüssel zu den zwei Türen an sich, weil in dem Raume eine eiserne Kasse stand, zu der keine Schlüssel vorhanden waren und man zunächst Recherchen nach den Schlüsseln zur Kasse anstellen wollte, um diese nicht ohne Not gewaltsam zu öffnen. Am 20. September erschien der Untersuchungsrichter neuerlich in dem Büro Kun, weil die Nachforschungen nach den Kasseschlüsseln ergebnislos waren, und bei die388 Der Österreichische Volkswirt, 19. Juli 1924, S. 1277
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ser Gelegenheit stellte er fest, dass eines der beiden Schriftenbündel fehlte. Die sofort angestellten Erhebungen ergaben, dass das Zimmer durch Aufsperren der erwähnten Tapetentüre geöffnet worden war. Diese Türe führte zu einer im Besitz der ‚Orion‘ befindlichen sogenannten Rumpelkammer. Hier wurden auch das verschwundene Schriftenbündel und einige andere, ebenfalls nicht belanglose Schriftstücke, die aus dem Büro Kuns stammten, gefunden. Nun ließ der Untersuchungsrichter auch die eiserne Kasse durch Monteure der Firma Wiese aufbrechen und nahm die darin befindlichen Schriftstücke, sowie alle anderen im Büro Kun gefundenen Papiere zu Gerichtshanden. Die Gerichtsakten sind niemals im Büro Kun verwahrt gewesen und können daher auch von da nicht entwendet worden sein.“389 Angeblich hatte die Polizei auch den Schuldigen gefunden: „Der Täter war der irrtümlichen Ansicht, dass er sich in den Besitz unendlich wichtiger Dokumente gesetzt habe, die er um einen hohen Preis an interessierte Persönlichkeiten verkaufen wollte.“390 Im Landesgericht wurde diese Diebstahlsgeschichte als eine ungeheure Blamage des Untersuchungsrichters betrachtet. „Man sagt sich, dass es entweder richtig sei, dass nichts abhanden gekommen ist und dass nur ein unbedeutendes Aktenfaszikel in die Rumpelkammer wanderte, dann ist es unverständlich, warum der Untersuchungsrichter eine Affäre gemacht hat, oder es wurden wirklich die wichtigsten Akten gestohlen, dann aber muss der Untersuchungsrichter die Konsequenzen ziehen und in Pension gehen. Einem so wichtigen Organ des Gerichts, wie es ein Untersuchungsrichter ist, darf nicht passieren, dass ihm Untersuchungsakten vom Schreibtisch weggestohlen werden. Dass diese peinliche Situation des Untersuchungsrichters zu den Haftbefehlen geführt hat, wird im Landesgericht als außer Zweifel stehend betrachtet.“391 Dazu kam, dass Hofrat Stern einen Vorbericht über die Vorgänge in der Depositenbank vorgelegt hatte, der die Regierung unter Zugzwang setzte. „In der Angst, abermals der Vertuschung und Verschleppung geziehen zu werden, entschloss sich die Regierung, den Justizbehörden, die sich gleichfalls im Besitze des Sternschen Vorberichts befanden, keineswegs in den Arm zu fallen, sondern im gegebenen Fall der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen.“392 Die „Arbeiter-Zeitung“ und das „Wiener Abendblatt“ hatten außerdem die Meldung gebracht, dass das Eingreifen der Behörden auf einen Besuch des Herausgebers des „Österreichischen Volkswirt“, Dr. Stolper, 389 Depositenbank und Castiglioni, Reichspost, 30. September 1924 390 Die Vorgeschichte der Inhaftierungs- und Vorführungsbefehle, Die Neue Wirtschaft, 2. Oktober 1924 391 Freies Geleit für Castiglioni, Die Stunde, 2. Oktober 1924 392 Die Vorgeschichte der Inhaftierungs- und Vorführungsbefehle, Die Neue Wirtschaft, 2. Oktober 1924
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bei Vizekanzler Dr. Frank zurückzuführen war. „Dr. Stolper hätte dem Vizekanzler für den Fall, dass die Untersuchungen gegen Castiglioni nicht mit allem Ernste geführt würden, mit Enthüllungen, insbesondere über finanzielle Beziehungen Castiglionis zur christlichsozialen Partei, gedroht. Darauf hätte sich Dr. Frank mit Dr. Mataja in Verbindung gesetzt, und es sei zu einer Weisung an die Gerichtsbehörde gekommen, den Fall Castiglioni mit Entschiedenheit zu verfolgen.“ Dr. Stolper soll dem Vizekanzler gesagt haben, er werde, wenn die Anzeige in der Spiritusaffäre nicht endlich behandelt werde, „die Sache von allen vier Enden anzünden.“393 „Der Österreichische Volkswirt“ distanzierte sich von dieser Meldung. Zwar sei Dr. Stolper bei Dr. Frank gewesen und dort sei auch die Affäre Castiglioni zur Sprache gekommen, über die „Der Österreichische Volkswirt“ von Anfang an kritisch berichtet hatte, aber von Drohungen und Einflussnahme könne selbstverständlich keine Rede sein.394 Ein Dementi kam auch vom Vizekanzler selbst. Die britische Botschaft bezeichnete den Einbruch als ziemlich charakteristisch für das Wien der Nachkriegszeit. Das erinnere an das mysteriöse Verschwinden von Castiglionis Steuerakte im Finanzministerium, gerade als sich das Parlament damit beschäftigte. Außerdem befürchtete die österreichische Regierung unerfreuliche Aufdeckungen von Castiglionis Zahlungen an politische Fonds, wenn nicht energische Maßnahmen zur Klärung des Depositenbankskandals gesetzt würden.395 Einer „der hervorragendsten und maßgebendsten Funktionäre der Regierung“, der aber nicht namentlich genannt wurde, dementierte das alles. So spielte der Aktendiebstahl bei der Untersuchung keine Rolle: „Nur die Phantasie erblickte, wie einem Kriminalroman entnommen, hinter Tapetentür lauernd, Castiglioni in der schwarzen Maske.“ Die Justiz hatte aber einzugreifen, als der Vermögenstransfer an die Banca Commerciale erfolgte, was als Vermögensverschleppung gedeutet wurde. Wegen dieses unklugen Verhaltens seien die Haftbefehle ausgestellt worden, gegen Goldstein und Neumann wegen der Gefahr der Absprache und gegen Castiglioni wegen Fluchtgefahr, wobei die Staatanwaltschaft entschied, dass bei einer Kaution von 100 Milliarden Kronen die Untersuchungshaft unterbleiben konnte. „Durch welchen Zufall die drei Betroffenen erfuhren, dass für Samstag 10 Uhr vormittags ihre Einvernahme, eventuell Verhaftung bevorstehe, ist unbekannt. Castiglioni wäre aber gut beraten gewesen, sich mit dem Untersuchungsrichter in Verbindung zu setzen und den Vermögenstransfer zu erklären.“ Auch habe 393 Abgeordneter Eisler im Nationalrat, Wiener Morgenzeitung, 23. Oktober 1923 394 Der Österreichische Volkswirt, 4. Oktober 1924 395 Mr. Keeling, Vienna to J. Ramsay MacDonald, Treasury London, 3rd October, 1924, Public Record Office London, FO 371 9656 02354
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die Regierung niemals in den Lauf des Strafverfahrens eingegriffen und auch Direktor Rossi sei niemals beim Vizekanzler Dr. Frank gewesen. „Auch die verbreitete Meldung, dass Zuwendungen Castiglionis an den christlichsozialen Wahlfonds besprochen oder gestreift worden wären, ist vollständig unwahr und erdichtet.“396 Das Haus Castiglioni selbst ließ eine Mitteilung veröffentlichen, die auch dem Vorwurf einer Flucht entgegentreten sollte: „Herr Castiglioni hat sich wie allwöchentlich am Freitagnachmittag zu seiner Familie nach Grundlsee begeben, um dort das Wochenende zu verbringen. Vom Grundlsee fährt Herr Castiglioni nach Mailand, wo er am Dienstag vormittags an einer Sitzung teilnehmen, und verschiedene geschäftliche Verhandlungen fortsetzen muss, nach deren Beendigung er nach Wien zurückkehrt. Irgendeine amtliche Verständigung wegen eines Vorführungsbefehls zur Einvernahme ist in keiner Weise erfolgt. Herr Castiglioni hat bereits vor Tagen selbst ersucht, über alle ihn betreffenden Vorbringungen in der Angelegenheit Depositenbank einvernommen zu werden. Es kann also keine Rede davon sein, dass Herr Castiglioni sich einer Einvernahme entziehen will. Mit größter Entschiedenheit müssen jene Ausstreuungen zurückgewiesen werden, die zwischen dem Verschwinden verschiedener Aktenstücke in der Angelegenheit der Depositenbank und dem Hause Castiglioni irgendwelche Zusammenhänge konstruieren wollen. Gegen die Verbreitung derartiger Insinuationen würde mit allen zu Gebote stehenden Mitteln eingeschritten werden.“397 Und einen Tag später gab der Pressechef des Hauses Castiglioni, Dr. Leo Lederer, eine Presseaussendung im Namen Castiglionis heraus: „Die ‚Arbeiter-Zeitung‘ vom 29. September hat unter der Überschrift ‚Raub der Depositenbankakten‘ einen Artikel gebracht, in welchem behauptet wird, dass ich den Aktenraub in der Depositenbank veranlasst habe. Nach dieser Darstellung soll ich zwei Schlossern den Auftrag erteilt haben, die in den Räumen der Depositenbank befindliche Kasse zu öffnen. Der gleichen Mitteilung zufolge soll dieser Auftrag nicht aus eigenem, sondern über Auftrag des Herrn Castiglioni veranlasst worden sein. Ferner wird behauptet, dass ich zum Bundeskanzler gegangen sei und in einem schriftlichen Protest erklärt hätte, ich und das Haus Castiglioni könnte keine Verantwortung 396 Der Fall Castiglioni. Äußerungen eines leidenden Staatsmannes, Neues Wiener Tagblatt, 3. Oktober 1924 397 Eine sensationelle Wendung in der Depositenbankaffäre, Der Morgen, 29. September 1924
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für die volkswirtschaftlichen Folgen eines Vorgehens gegen Herrn Castiglioni übernehmen. Ich bitte um die Aufnahme der Erklärung, dass diese ganze Darstellung vollständig erlogen ist und jeder wie immer gearteten tatsächlichen Grundlage entbehrt. Ich habe gegen die ‚Arbeiter-Zeitung‘ durch meinen Rechtsanwalt die Anklage wegen des Verbrechens der Verleumdung überreicht und werde alle mir durch diesen Artikel entstandenen moralischen und Vermögensschäden in einer besonderen Klage zur Geltung bringen.“398
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Castiglioni erklärte einem Triester Journalisten, dass der ganzen Anklage und der daraus erwachsenden Affäre nur eine große Übertreibung zugrunde liege. Er hob hervor, dass er die Depositenbank in den denkbar günstigsten Verhältnissen verlassen habe. „Solange Castiglioni Präsident der Depositenbank war, habe er stets Hand in Hand mit den übrigen Wiener Banken gearbeitet, immer auf die Vorteile der Depositenbank bedacht. Phantastische Gewinne seien realisiert worden.“ Die Krise der Bank fiel daher in das Jahr 1924, wo er schon lange nicht mehr Präsident der Bank war. „Castiglioni schreibt die Schuld an dem Skandal dem Wiener Großindustriellen Lederer zu, der heute den Tag gekommen sieht, um sich und der Bank gewisse Forderungen, die angeblich in die Jahre 1920 und 1921 zurückdatieren, bezahlen zu lassen. Deshalb habe Lederer gegen die Bank und gegen Gabor Neumann Anklage erhoben; Castiglioni sei dann als Präsident und Mitglied des Syndi-
398 Depositenbank und Castiglioni, Reichspost, 30. September 1924
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Bild 30 „Arbeiter-Zeitung“, Wien, 4. Oktober 1924
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kats in die Anklage mit hineingezogen worden, doch habe er nie von diesen Geschäften erfahren, und dies werde er in Wien beweisen.“ Außerdem bestritt er, dass er eine Vorladung erhalten und um freies Geleit angesucht habe. „Auch habe er keine Kaution geleistet, das würde er nie tun, denn das könnte von seinen Feinden als Schuldbeweis ausgelegt werden.“399 Außerdem erschien am 29. September der italienische Gesandte Bordonaro bei Bundeskanzler Seipel, um sich über die Angelegenheit Castiglioni zu informieren.400 Angeblich hatte der italienische Gesandte beim Bundeskanzler interveniert und erklärt, dass ihn Italien nicht ausliefern würde, auch wenn ein Ansuchen von Österreich käme.401 Der französische Botschafter bestätigte die Intervention seines italienischen Kollegen, der für Castiglioni als persönlichen Freund Mussolinis eintrat. Der österreichische Außenminister habe ihm gegenüber erwähnt, dass man sehr wohl genügend Anhaltspunkte für eine Anklage gegen Castiglioni habe, dass aber von einem höheren Standpunkt aus sein Ruin verhindert werden sollte, da dies auch die Arbeitsplätze von Tausenden ehrlichen Menschen gefährden würde. Auch Bundeskanzler Seipel habe im Parlament erklärt, dass die Krise des Triesti-
399 Erklärung Castiglionis, Neues Wiener Tagblatt, 3. Oktober 1924 400 Die Vorladung Castiglionis, Neues Wiener Tagblatt, 30. September 1924 401 Max Schäfer, a.a.O., S. 298
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199 Bild 31 „Arbeiter-Zeitung“, Wien, 30.September 1924
ner Finanziers das ganze Land betreffen würde und man ihm Gelegenheit zur Sanierung seiner Geschäfte geben sollte. Im Grunde genommen wäre Castiglioni ohne ausländische Hilfe praktisch bankrott, seine finanzielle Macht sei am Schwinden und Frankreich könne sich nur beglückwünschen, dass man ihm immer mit großer Reserve begegnet sei.402 Der französische Botschafter bestätigte, dass die italienische Intervention bei der österreichischen Regierung dazu geführt habe, dass der Haftbefehl zurückgenommen wurde und Castiglioni nur mehr eingeladen wurde, Auskünfte zu erteilen.403 Und die britische Botschaft bemerkte, dass Castiglioni immer ein sehr prominenter Gast bei den Festen an der italienischen Botschaft gewesen sei, die ihn immer bei der österreichischen Regierung unterstützten, wenn er es verlangte. Er habe als Schrittmacher des italienischen Kapitals in diesem Land fungiert. Er selbst sah sich als der Stinnes von Zentraleuropa, doch er war immer mehr ein Financier als ein Industrieller. Außerdem war er so skrupellos in seinen Methoden, dass er nie das wirkliche Vertrauen in der alten österreichischen Geschäftswelt erringen konnte. Seine Rolle als österreichischer Finanzier dürf-
402 M. de Lens, Chargé d’Affaires de France à Vienne a son Excellence Monsieur Herriot, Président du Conseil Ministre des Affaires Etrangères, Vienne, le 30 Septembre 1924, Archives Economiques et Financières, Paris F30 622 403 Derselbe am 13. Oktober 1924
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te nun ausgespielt sein.404 Die österreichischen Behörden waren schließlich über ihren eigenen Mut erschrocken, so rau mit einer so wichtigen Person wie Castiglioni umzugehen. Die Italiener übten einen entsprechenden Druck aus, von extremen Maßnahmen gegen Castiglioni abzusehen. Sein Haftbefehl wurde daher in einen Vorführungsbefehl umgeändert. Außerdem wurde bemängelt, dass noch immer nicht der Grund für den Haftbefehl klar war. Angeblich habe der Untersuchungsrichter aufgrund des Berichts von Hofrat Stern nur das Spiritusgeschäft aus dem Fall der Depositenbank herausgehoben und zum Gegenstand einer besonderen Untersuchung gemacht. Aber hier wurde neuerlich behauptet, dass sich Castiglioni mit den Brüdern Bondy bereits geeinigt habe. In der Zeitschrift „Der Morgen“ fanden diese Vorgänge sogar ihren literarischen Ausdruck:405 „Camillione Castigliardi Leise schwirr’n durch mein Gehirn Wunderliche Fragen. Lasst mich, sie zu formulier’n (frei nach Heine) wagen. Wie die Herren vom Gericht Frug auch ich, beklommen: Kommt er oder kommt er nicht? Bis er doch gekommen. Sucht er, nachdem er schlau Erst gesucht das Weite, Vorsichtshalber an um kautionsfreie Geleite? Hat man seinen Grund zur Flucht Untersucht? Ich frag’ ob Ihn denn überhaupt gesucht Hatte Hofrat Jakob? Und wenn ja, warum denn ja? Und wenn nicht, warum nicht? (Nimmt man krumme Wege da Nur den Großen krumm nicht?) 404 Mr. Keeling, Vienna to J. Ramsay MacDonald, Treasury London, 3rd October, 1924, Public Record Office London, FO 371 9656 02354 405 Der Morgen, 6. Oktober 1924
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Steckte man den Steckbrief ein? War bloß schlecht frankiert er? Ist kein Engel jetzt so rein? Keine Seel’ sanierter? Schwirrt hinaus zum Grauen Haus, Wunderliche Fragen, Schaut, ob dort was schaut heraus. Mehr kann ich nicht sagen.“ Und Karl Kraus dichtete 1928: „Wenn der Castiglioni zurückkehrt, da gibt’s eine Hetz Mit der Autorität von Recht und Gesetz. Selbst als Zeuge zu erscheinen er niemals geruht. Ja, er kommt schon nach Wien, aber auf die Opernredoute.“406 Ganz andere Töne kamen von der deutschnationalen „Deutschösterreichischen Tageszeitung“, die Castiglioni als „gewaltigsten Finanzverbrecher unserer Tage“ bezeichnete, von Österreich als „eine Oase der Korruption, als Balkanstaat dunkelster Sorte“ sprach und den „Triumph der Judenschaft über die bodenständige Bevölkerung“ sah.407 Camillo Castiglioni stand nun unter Druck, sich mit den österreichischen Behörden auseinanderzusetzen. Er selbst bestritt mit aller Energie jeglichen Forderungsanspruch der Depositenbank, wollte aber guten Willen zeigen. „Als Nationalrat Allina vor einiger Zeit bei Castiglioni vorsprach, hat auch Castiglioni die Erklärung abgegeben, dass er das traurige Schicksal der Angestellten der Depositenbank sehr bedauere und im gegebenen Moment für diese ein Opfer bringen wolle.“ Dabei sprach er jetzt von 25 bis 30 Milliarden Kronen. „Er betrachte dieses Opfer allerdings als menschliche und nicht als geschäftliche Pflicht. Knapp vor seiner Abreise schrieb ihm einer seiner besten Freunde, er rate ihm, mit diesem Opfer nicht lange zuzuwarten ... Daraufhin antwortete Castiglioni mit dem nahfolgenden Brief:
406 Karl Kraus, Die Fackel Nr. 781, Wien Juni 1928, S. 117 407 Deutschnationale Tageszeitung, 30. September, 14. Oktober und 16. Oktober 1924, zitiert bei: Franz Mathis, „... weil Herr Castiglioni in Österreich eben nicht verfolgt werden darf “, in: Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich, von Mayerling bis Waldheim, Wien 1995, S. 192
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Mein Lieber, Du bist nicht nur ein anständiger Mensch, Du bist viel mehr, Du bist ein guter Mensch. Nein, ich vergesse nicht, dass Du sein wirst, dass Du da bist, nein, wie könnte ich es vergessen. Ich werde sehen, was zu machen ist ... Du weißt, dass es mir nicht an dem guten Willen fehlt. Alles andere habe ich notiert ... Herzlichst Dein C.C. Der Brief datiert vom 25. September, also vom Tage der Abreise. An diesem Tage hat es Castiglioni nicht mehr an dem guten Willen, sondern an Geld gefehlt.“408 Bei der britischen Botschaft in Wien fragte man sich, „whether the greatest of the Austrian post-war profiteers would return to face the music or not“.409 Castiglioni wollte der Vorladung bei freiem Geleit Folge leistete, was ihm bei einer Kaution von 100 Milliarden Kronen zugestanden wurde. „Tatsächlich ist Camillo Castiglioni am 4. Oktober nach Wien zurückgekehrt, hat sich am selben Tag dem Untersuchungsrichter gestellt und wurde gegen eine Leistung einer Kaution von 7 Millionen Lire, welche auf seinem Palais IV., Prinz Eugen Straße sicher gestellt wurde, auf freiem Fuß belassen.“ Die 7 Millionen Lire, die er dann zu leisten hatte, entsprachen nur etwa 21 Milliarden Kronen, was wohl ein ziemliches Entgegenkommen darstellte. „Die im Zuge befindliche Untersuchung wird mit Rücksicht auf den überaus großen Umfang und die Schwierigkeit der in Betracht kommenden Materie längere Zeit in Anspruch nehmen“, hieß es im Bericht der Staatsanwaltschaft.410 Castiglioni war scheinbar bereits am 3. Oktober in Wien. „Er hat es jedoch vorgezogen, um Aufsehen zu vermeiden, den Triester Nachtschnellzug nicht im Wiener Südbahnhof, sondern bereits in Wiener Neustadt zu verlassen. Castiglioni hatte ein Halbcoupe erster Klasse im Schlafwagen benützt; in seiner Begleitung befanden sich drei Italiener, darunter ein Vertreter der Banca Commerciale. Diese fuhren mit dem umfangreichen Gepäck bis Wien-Südbahnhof. Castiglioni bestieg in Wiener-Neustadt 408 An gutem Willen fehlt es mir nicht ..., Die Stunde, 3. Oktober 1924 409 Mr. Keeling, Vienna to J. Ramsay MacDonald, Treasury London, 3rd October, 1924, Public Record Office London, FO 371 9656 02354 410 Bericht der Staatsanwaltschaft Wien I an die Oberstaatsanwaltschaft Wien in der Strafsache gegen Camillo Castiglioni & Genossen wegen des Verbrechens der Veruntreuung bzw. des Betruges, 10. Oktober 1924. Archiv der Republik, Akt gegen C. Castiglioni, VI, R 3728, Zi. 37.609/35
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sein dort wartendes Auto, um, wie es hieß, sich zunächst bei einem Freunde von der Reise zu ‚restaurieren‘. Um 10 Uhr ist sein bekannter Stadtwagen A III 928 in Castiglionis Wohnpalast in der Prinz-Eugen-Straße leer eingefahren. Auch sonst fehlt es nicht an Vorsichtsmaßnahmen; so hat die Polizei seit der Ankunftsstunde den Eingang zum Palais durch eigene Posten bewachen lassen.“411 Auf dem Südbahnhof hatten sich viele Neugierige eingefunden, um bei der Ankunft Castiglionis dabei zu sein. Er war aber schon in Meidling ausgestiegen, sodass die Neugierigen nicht auf ihre Rechnung kamen. Da sich die Nachricht verbreitete, er werde um 11 Uhr beim Untersuchungsrichter erscheinen, hatten sich auch vor dem Landesgericht zahlreiche Neugierige eingefunden, die jedoch enttäuschst wurden, da er erst um 13 Uhr dort eintraf.412 Nach einem Bericht von „Die Stunde“ war Castiglioni erst am Samstag, dem 4. Oktober, angekommen. „Camillo Castiglioni ist heute früh um 9 Uhr 35 mit dem Triester Schnellzug am Südbahnhof eingetroffen. In seiner Begleitung fuhren sein Bruder, der Professor an der Universität Padua und Chefarzt des Lloyd Triestino, Dr. Arturo Castiglioni, sowie seine Sekretärin. Castiglioni stieg in Meidling aus, wohin sein Auto bestellt war. Vom Meidlinger Bahnhof fuhr Castiglioni direkt in sein Palais in die Prinz Eugenstraße, wo ihn seine Rechtsanwälte Dr. Preminger, Dr. Abel und der Generalbevollmächtigte des Hauses, Direktor Schweiger, erwarteten. In der sofort stattgefundenen Besprechung erklärte Castiglioni, dass er sich noch im Laufe des Vormittags, spätestens nachmittags zum Untersuchungsrichter begeben werde, damit sein Verhör sofort beginnen könne.“ Von einer Kaution wollte Castiglioni nichts wissen, da dies die Rechtmäßigkeit des Vorgehens gegen ihn bestätigen würde. Weder bestand Verabredungsgefahr, da die Angelegenheit Jahre zurücklag und die Betroffenen ständig in Kontakt waren, noch eine Fluchtgefahr, da er freiwillig nach Wien gekommen war und sowohl sein Büro als auch sein Palais ständig von Kriminalbeamten überwacht wurde.413 Mit dem Auftreten Castiglionis wurde nun eine Klärung der Vorwürfe erwartet: „Nunmehr müssen die gelben Dämpfe, in die seine Affäre eingehüllt war, verfliegen. Castiglioni hat weder um freies Geleit angesucht, noch irgendwelche andere Garantien von den österreichischen Behörden begehrt; er will dem Untersuchungsrichter nur als einfacher Kämpfer um sein Recht und seine Existenz gegenübertreten. Man wird nun endlich erfahren, was die hysterisch gewordene Frau Themis will ... Das Possenspiel rollt sich jetzt wenigsten bei hochgezogenem Vorhang ab ... Wiedereinsetzung der Sachlichkeit in ihren früheren Stand, das ist die Forde411 Er ist angekommen!, Der Abend, 3. Oktober 1924 412 Vor dem Untersuchungsrichter, Wiener Morgenzeitung, 4. Oktober 1924 413 Castiglioni erscheint heute vor dem Untersuchungsrichter, Die Stunde, 4. Oktober 1924
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Rien ne va plus Bild 32 „Die Stunde“, Wien, 4. Oktober 1924
rung, die wir erheben ... Castiglioni ist in Wien angekommen, hoffentlich reist die Vernunft nicht von Wien ab ...“414 Die Forderung nach 100 Milliarden Entschädigung für die Depositenbank soll von Hofrat Stern gekommen sein. Er soll dem Generaldirektor Schweiger von der Depositenbank am 3. Oktober den Rat gegeben haben, zumindest diese Summe zu fordern, wenn Castiglioni einer strafrechtlichen Verfolgung entgehen wollte. „Man erzählt uns, dass Hofrat Stern wieder seine schon etwas veralteten Schwergeschütze abprotzt. Er, in dessen Gehirn der Ziffernkankan weitertobt, verlangt noch immer als moralischen Liquidationserlös hundert Milliarden.“415 „Die Stunde“ brachte dazu einen phantasievollen Sketch mit deutlich antisemitischen Untertönen: „Fünf Uhr nachmittags im Handelsgericht. Im Halbdunkel des grauen Ganges vor dem Zimmer 99 diskutiert eine Gruppe. Es sind die Herren von der Geschäftsaufsicht der Depositenbank. In der Mitte Hofrat Stern. Er scheint sehr gut gelaunt zu sein. In seiner Stimme vibriert etwas von zurückgehaltener Freude. Sein Wiener Dialekt – der Wiener Stößerjuden – klingt ganz hofrätisch, fast dozierend. Der Reporter hält sich in einer Fensternische verborgen und lauscht. Hofrat Stern erzählt: ‚... Bevor er noch zum Jakob gegangen is, war i bei ihm im Palais. Also wissen S’, schön 414 Hundert Milliarden, Die Stunde, 4. Oktober 1924 415 Hundert Milliarden, Die Stunde, 4. Oktober 1924
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205 Bild 33 „Der Morgen“, Wien, 13. Oktober 1924
hat er’s ja im Palais. Die Brunnen, die sind einzig. Schad, dass de schön Zimmer die Advokaten verschandelt hab’n ... Lauter Advokaten san rumg’laufen. Und alle zehn Minuten hat der Jakob telefoniert, dass wenn er die sieben Millionen Lire net schickt, lasst er’n vorführen. Na, dann hab’ i ihn g’sprochen und hab ihm g’sagt, was i will. Und da hat er schon dreißig Milliarden geboten, hat aber g’sagt, dass, wenn er die bezahlen muss dann wird er auch sag’n der Öffentlichkeit, er hat’s freiwillig tan und dass des nur a Geschenk von ihm is. Und dann hat er vorgschlag’n, dass der Kraßky, der Markus und i a Schiedsgericht bilden soll’n, um zu entscheiden, ob er verpflichtet war, zu zahlen. Da hab’ i ihm g’sagt, das is mir ganz Wurscht, ob er’s als G’schenk gibt, die Hauptsach’ is, dass er zahlt ... Also so viel wird’s net sein, wie mir glaubt ham, aber i wer ihm scho’ aussareiß’n, was möglich ist.‘ Schüchtern bemerkt einer der Herren: ‚Wär’ es denn, Herr Hofrat, nicht doch ohne Skandal gegangen: war das alles notwendig?‘ Hofrat Stern winkt mit der Hand: ‚Freili war’s notwendi, freilich hat ja net zahl’n woll’n. Im Guten is es ja net ’gangen. Wie er aus der Bank hinausgegangen is, hat sie ja no rosa Wangen g’habt. A Leich hab’n die anderen aus ihr g’macht. Hab’ i amal den Castiglioni und hat er amal ‘zahlt, dann hol’ i mir ja das Übrige von den Schwerverbrechern, die nach ihm ’kommen sind.‘ Sinnend vor sich hinblickend sagt dann noch Hofrat Stern: ‚Ja, das sind Schwerverbrecher und die müssen a zahl’n ...‘ Und dann erzählt er weiter: ‚Also bei der Einvernahme war i ja auch dabei. Erst war er sehr aufg’regt und gar net g’fasst. Erst, wie er erfahren hat, es handelt sich nur um die Depositenbank und net um die Spiritussache, da ist er ruhiger g’worden. Und da hat er no amal g’sagt, dass er in den Zeitungen
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Rien ne va plus Bild 34 Der Sieg des Hofrat Stern! „Die Stunde“, Wien, 2. Oktober 1924
sag’n wird, er ist nicht verpflichtet, zu zahlen.‘ ... Die Tür des Zimmers öffnet sich. ‚Hofrat Biber lassen die Herren bitten.‘ Die Gruppe ging durch die geöffnete Tür, voraus der Hofrat Stern. Es war wie ein Leichenzug.“416 Die Einvernahme Castiglionis vor dem Untersuchungsrichter am 4. Oktober, bei der auch Gabor Neumann anwesend war, dauerte etwa zwei Stunden und ging vor allem um das Spiritusgeschäft. Ebenso kam die Summe von 100 Milliarden Kronen für die Depositenbank zur Sprache. Die fünf Großbanken, welche die Sanierungsaktion für die Depositenbank versucht hatten, berechneten ihren Verlust auf 40 bis 50 Milliarden und forderten Castiglioni auf, sich mit einer solchen Summe an dem Sanierungssyndikat zu beteiligen. „Castiglioni erklärte, dass er zu einem Schadenersatze überhaupt nicht herangezogen werden könne, da bei seinem Scheiden die Depositenbank vollkommen aktiv gewesen sei und er für seine Geschäftsführung von den Generalversammlungen das Absolutorium erhalten habe. Castiglioni wolle sich höchstens an einer Aktion für die Angestellten der Bank beteiligen.“ 417 Bei dieser Einvernahme wurde nun auch die Kaution von 7 Millionen Lire festgelegt und, da sie Castiglioni nicht bar leisten konnte, als erste Rangordnung auf sein Palais in der Prinz-Eugen-Straße eingetragen. „Jetzt, da Castiglioni wieder zurück ist und Geld gewittert wird, setzten sofort die Quertreibereien ein. Von allen Seiten melden sich Wünsche und Forderungen und alle stützen sich auf separate Rechtsgrundlagen.“418 416 I wer ihm’s scho aussa reiß’n, Die Stunde, 5. Oktober 1925 417 Vor dem Untersuchungsrichter, Wiener Morgenzeitung, 4. Oktober 1924 418 Man will Castiglioni etwas „aussa reiß’n“ ...!, Die Stunde, 5. Oktober 1924
Die „Spiritus-Affäre“
207 Bild 35 „Die Stunde“, Wien, 3. Oktober 1924
Am 7. Oktober setzte sich das Bankensyndikat auf Anregung der Creditanstalt zu einer Sitzung in den Räumen der Bodenkreditanstalt zusammen, um zu einer gemeinsamen Haltung bezüglich der Forderungen gegen Castiglioni zu kommen. Dabei zeigte sich die unterschiedliche Haltung. „Hiebei hat der Direktor Neurath von der Creditanstalt das bisherige Vorgehen gegen Castiglioni nicht nur als verbrecherische Frivolität bezeichnet, da man sich bis heute eigentlich nicht darüber im klaren sei, was und unter welchem Titel die Depositenbank Forderungen an ihn zu stellen habe, sondern vor allem als grenzenlose Dummheit, da es absurd sei, den Kredit eines Menschen, der aller Welt schuldig sei und von dem man Geld bekommen wolle, noch weiter zu untergraben. Demgegenüber wurde vom Vertreter der Bodenkreditanstalt das schärfste Vorgehen gegen Castiglioni gefordert. Es ist dies begreiflich, wenn man einerseits den alten Hass bedenkt, der zwischen Herrn Sieghart und Castiglioni seit jeher bestanden hat, andererseits aber in Erwägung zieht, dass es gerade die Bodenkreditanstalt ist, welche als Führerin des Großbankensyndikates die Depositenbank zu Tode saniert hat und nun natürlich bestrebt sein muss, den durch ihr Verschulden entstandenen Verlust der Großbanken nach Möglichkeit zu verringern. Von dieser Seite ist das Wort gefallen, dass man ‚Castiglioni alles wegnehmen müsse, was er habe‘.“ Die Creditanstalt schlug nun vor, die Forderungen der Depositenbank gegen Castiglioni durch ein Schiedsgericht feststellen zu lassen, dessen Vorsitz der Generaldirektor Brauneis von der Notenbank einnehmen sollte. Der Vorschlag wurde angenommen und Castiglioni vorgelegt. Dieser forderte aber, dass das Schiedsgericht nicht über eine Summe zu entscheiden
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habe, sondern ob ihn überhaupt und aus welchem Titel eine Schuld treffe.419 Das konnte aber nicht im Sinne der Banken sein. „Die auf die Vernichtung Castiglionis gerichtete Tendenz der Großbanken erfuhr eine ungeheuere Schwächung, als sich Castiglioni bereit erklärte, die Untersuchung seiner Geschäftstätigkeit in der Depositenbank zu fordern, an dem der unparteiische Hofrat Stern und seine prononciertesten Feinde der Wiener Bankwelt teilnehmen sollten. Man konnte sich nicht der Gefahr aussetzen, dass ein solches Schiedsgericht die Unschuld Castiglionis an dem Zusammenbruch der Depositenbank feststellt und dadurch jeder materiellen Verantwortung den Boden entzieht.“420 Auch die Banca Commerciale war bereit, die aus diesem Spruch sich ergebenden finanziellen Leistungen zu garantieren.421 Diese Meldung wurde jedoch nicht bestätigt. Die italienische Bank war jedoch gegen eine strafrechtliche Verfolgung Castiglionis, denn der Vertrag zu dessen Sanierung begann mit den Worten: „Zur unbedingten Aufrechterhaltung des Prestiges des Hauses Castiglioni usw. verpflichtet sich die Banca Commerciale ...“422 Auch die Großbanken wurden nun kritisiert und für die Schwierigkeiten bei der Sanierung Castiglionis verantwortlich gemacht. „Der spärliche Rest unseres Ansehens und unserer Vertrauenswürdigkeit wird zertrümmert, bloß deshalb, weil Camillo Castiglioni von der heiligen Allianz des alten Reichtums als unberufener Eindringling abgewehrt und verfolgt wird, verfolgt in einer Hetzjagd, die die unliebsame Aufmerksamkeit der ganzen Welt wieder auf unser armes Land gelenkt hat.“ Hier handelte es sich daher nicht nur um Geld. „Nein, Castiglioni ist einzig und allein deshalb in Schwierigkeiten geraten, weil ihn die alten Reichen nicht in jenen engen Kreis hineinließen, aus dem die Machtmittel der Privilegierten fließen, weil sie ihm als dem Usurpator den Zutritt zu jenen besonderen Hilfsquellen verweigerten, aus denen nur die legitimierte Hochfinanz schöpfen darf. Ihm stand nicht der Billionenkredit der Nationalbank zur Verfügung, zu seinem Hause führten nicht jene in jahrzehntelanger Minierarbeit gegrabenen Kanäle, durch welchen der Geldstrom in die Tresore der Großbanken fließt. Wir wagen die Behauptung: Der Status mancher alten Reichen sieht heute nicht viel anders aus wie der Status Castiglionis, nur mit dem Unterschiede, dass jene an erbgesessenen Privilegien die Stütze haben, die sich der neue Mann erst schaffen muss.“423 In der Nacht vom 11. zum 12. Oktober 1924 kam es dann zu einer Einigung zwischen 419 Castiglioni vor einem Schiedsgericht, Die Stunde, 8. Oktober 1924 420 Castiglioni bezahlt 15 Milliarden, Die Stunde, 14. Oktober 1024 421 Er ist angekommen!, Der Abend, 3. Oktober 1924 422 Castiglioni erscheint heute vor dem Untersuchungsrichter, Die Stunde, 4. Oktober 1924 423 Finanzkapital und Gottesgnadentum, Die Neue Wirtschaft, 9. Oktober 1924
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den Vertretern Castiglionis und der Depositenbank.424 Zusätzlich nahmen noch der Referent des parlamentarischen Ausschusses für die Untersuchung der Bankzusammenbrüche, der Abgeordnete und spätere Außenminister Dr. Mataja, und der Vizepräsident der Bankenkommission Hofrat Stern teil. Camillo Castiglioni kam erst kurz vor Mitternacht und um 3 Uhr morgens war der Vergleich abgeschlossen. Von den hundert Milliarden Kronen war man schon vorher auf 80 und dann auf 30 heruntergekommen, während Castiglioni 10 Milliarden angeboten hatte. Man einigte sich schließlich auf die Zahlung von 15 Milliarden Kronen bar und in Raten, andere Quellen sprachen von 17 oder 18 Milliarden. Für den „Österreichischen Volkswirt“ war dieser Ausgleich das formelle und uneingeschränkte Schuldbekenntnis Castiglionis. Denn anders als mit solcher Mitschuld war eine Forderung der Depositenbank gegen ihren früheren Präsidenten überhaupt nicht zu begründen. Die Zeitschrift kritisierte aber die Teilnahme der Parlamentarier. „In einer nicht sehr großartigen Aufwallung von Leidenschaft hat der Nationalrat einen Untersuchungsausschuss eingesetzt zur Feststellung des Verschuldens am Zusammenbruch der Depositenbank. Dieser Untersuchungsausschuss war ein Surrogat für die Kontrolle der Justiz, die einer aufrichtigen, pflichtbewussten Volksvertretung obliegen würde.“425 Der siebengliedrige Untersuchungsausschuss wurde vom Abgeordneten Dr. Mataja geleitet. „Inzwischen hat Herr Dr. Rintelen einige Male den Weg zwischen Himmelpfortgasse und dem Kolowratring, zwischen Finanzministerium und dem Haus Castiglioni zurückgelegt und der Staatsanwalt ist mit dringenderen Geschäften so überlastet, dass er leider abwarten muss, bis der ‚Ausgleich‘ zwischen Herrn Castiglioni und den Brüdern Bondy perfekt wird.“426 „Und die Vertretung der parlamentarischen Parteien, die – wohlgemerkt – eine Untersuchung zu führen haben, leisten Assistenz, wenn Betrüger und Betrogene sich an den Verhandlungstisch setzen – um die Schuldfrage zu klären? Nein, um sie gegen Bezahlung einer runden Summe aus der Welt zu schaffen. Das wäre ein hübscher Lustspielstoff, wenn es nicht im Kern die Tragödie der österreichischen Demokratie enthielte.“427 Mit dem Ausgleich wurde Castiglioni in einem Communiqué bescheinigt, dass der Zusammenbruch der Depositenbank nicht auf seine Tätigkeit zurückgeführt werden konnte. „Also war der Ausgleich, der unter Tränen und Selbstmorddrohungen, unter außen- und innenpolitischen Interventionen in nächtelangen Sitzungen zustan424 Vonseiten der Geschäftsaufsicht der Depositenbank verhandelten Hofrat Barta, Dr. Hans Adler, Direktor Simelis, Dr. Freundlich und Dr. Hermann Sieber, für Castiglioni Generaldirektor Schweiger und die Rechtsanwälte Dr. Edmund Benedikt und Dr. Schuloff. 425 Ausgleich Castiglioni-Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 64/5 426 Der Fall Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924, S. 1217 427 Ausgleich Castiglioni-Depositenbank, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 64/5
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de kam, eine pure Wohltätigkeitsaktion Castiglionis für die Depositenbank“, ätzte „Der Österreichische Volkswirt“. „Als er am Höhepunkt seiner Macht war, hat sich kein Staatsanwalt und kein Untersuchungsrichter an ihn herangewagt. Die Justiz wurde erst aktiv, als sein finanzieller Zusammenbruch offensichtlich war.“428 Castiglioni übernahm zusätzlich die Erledigung aller in der Spiritusangelegenheit schwebenden Prozesse auf dem gerichtlichen oder außergerichtlichen Weg. Das waren immerhin die Forderungen der Brüder Bondy von 40 Milliarden, von Herrn Robitsek von 8 Milliarden und von August Lederer von 80 Milliarden mit dem Vorbehalt des Verlangens von weiteren 80 Milliarden.429 Je nach dem Stand der Verhandlungen hatte Lederer seine Forderungen erhöht, ohne zu erklären, dass dies bereits die endgültige Summe sei. „Nicht in letzter Linie ist die unklare und zweideutige Haltung Lederers Schuld daran, dass das Arrangement, welches von beiden Seiten sehnlichst herbeigewünscht wird, noch nicht zustande kommen konnte.“ Der Konflikt wegen des Spiritusgeschäfts war mit allen anderen Beteiligten außer Lederer bereits zur Bereinigung gekommen. Die Ansprüche Lederers wurden als Erpressungsversuch gewertet. „Wahrscheinlich dürfte es somit in verhältnismäßig kurzer Zeit gelingen, die äußerst komplizierte Angelegenheit zu bereinigen, was wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass nunmehr alle in Betracht kommenden Kreise den Wunsch haben, nicht nur den Fall Castiglioni selbst aus der Welt zu schaffen, sondern auch das Wirtschaftsleben von Beunruhigungen zu befreien.“430 „Mit der Unterzeichnung des Abkommens bezüglich der Depositenbankforderungen ist die unter dem Zeichen der Sensation in die Öffentlichkeit gebrachte Affäre Castiglioni in jenes Fahrwasser geleitet worden, das die Großbanken von allem Anfang an für das richtige gehalten hatten“, schrieb das „Wiener 8-Uhr-Blatt“. „Die Großbanken waren es, die sich schon vor der öffentlichen Erörterung des Falles auf den Standpunkt gestellt hatten, dass Camillo Castiglioni im Ausgleichsverfahren der Depositenbank zu einer Beitragsleistung für die Verluste dieses Instituts herangezogen werden müsse. Hätte man diese moralische und auch rechtlich unanfechtbare Forderung sofort zur Geltung zu bringen gewusst, dann hätte es vermieden werden können, durch die Affäre Castiglioni-Depositenbank auch im Ausland unnötig Staub aufzuwirbeln ... Nun ist auf dem Umweg der öffentlichen Sensation erreicht worden, was besser in aller Stille hätte ausgetragen werden können.“431 428 Das Strafverfahren gegen Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 502/3 429 Der Fall Castiglioni, Neues Wiener Tagblatt, 12. Oktober 1924 430 Der Ausgleich Castiglioni-Depositenbank perfekt!, Der Morgen, 13. Oktober 1924 431 Entspannung in der Affäre Castiglioni, Wiener 8-Uhr-Blatt, 12. Oktober 1924
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„Die Vernunft hat gesiegt“, schrieb „Die Stunde“, indem sie die Seite Castiglionis einnahm. Die Depositenbank und die Großbanken wären zu der Einsicht gelangt, dass sie an Castiglioni keine berechtigten Ansprüche stellen konnten, da die Depositenbank bei seinem Ausscheiden aktiv war und die Geschäfte während seiner Präsidentschaft nicht anders beurteilt werden können als die von anderen während der Inflationszeit. „Dagegen erklärte Castiglioni, dass er sich für die Führung des Spiritusgeschäftes durch den damaligen Generaldirektor der Depositenbank, Gabor Neumann, lediglich aus dem Grund verantwortlich fühle, weil er diesem nach seinem Austritt aus der Depositenbank im eigenen Haus die Stellung eines Generalbevollmächtigten eingeräumt hat ... Es ergab sich auch ganz klar, dass, wenn auch im Spiritusgeschäft anfechtbare Handlungen vorgekommen sind, diese Castiglioni persönlich nicht zur Last gelegt werden können. Das Geschäft wurde durch Angestellte der Depositenbank geführt, die Castiglioni seinen Anteil am Nutzen wohl zugeführt und gutgeschrieben haben, ohne aber darüber zu berichten, auf welche Weise diese Gewinne erzielt wurden. Selbst in Bankkreisen musste man sich sagen, dass Castiglioni die Geschäftsgebarung des Spiritusgeschäftes sicherlich auch in die Details geprüft hätte, wenn diese mit einem Verlust verbunden gewesen wären, hiezu aber gar keine Veranlassung hatte, als sich das Geschäft gewinnbringend präsentierte.“ Auch der Rechtsanwalt der Brüder Bondy war nun der Meinung, dass Castiglioni selbst mit der Abwicklung dieses Geschäftes nichts zu tun gehabt habe und eine strafrechtliche Verfolgung daher keine Aussicht auf Erfolg habe.432 „Bekanntlich hat die von den Großbanken eingesetzte Verwaltung der Depositenbank gefunden, dass trotz der offenbaren Bereicherung Castiglionis auf Kosten der Depositenbank eine Schadenersatzklage nicht angängig sei, weil in den Büchern und Belegen der Bank die auf die Geschäfte mit ihrem früheren Präsidenten bezüglichen Beweisstücke nicht aufzufinden seien.“433 Nach der Zeitung war das Entgegenkommen der Großbanken auch auf die Unsicherheit an der Börse und die Vertrauenskrise im Ausland zurückzuführen. Eine Wiener Großbank verhandelte über einen Kredit in den USA und musste feststellen, „dass die Situation auf den ausländischen Finanzmärkten infolge der Permanenz der Affäre Castiglioni äußerst ungünstig und eine dringende Erledigung die Vorbedingung für jedes weitere Interesse an der österreichischen Volkswirtschaft sei“.434 Der Spiritusprozess, der wie ein Detektivroman begann, klang nun aus wie ein Kassenrapport, schrieb „Die Stunde“: „Flucht bei Nacht und Nebel, Steckbriefe, der Staats432 Castiglioni bezahlt 15 Milliarden, Die Stunde, 14. Oktober 1024 433 Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924, S. 278 434 Bleibt die Börse fest?, Der Morgen, 20. Oktober 1924
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anwalt droht den Zeitungen, die Regierung ist ahnungs- und ratlos, der Milliardenwahnsinn tobt, Kautionen von Märchenhöhe werden verlangt, Spiritusdämpfe vergiften die Gerichtsatmosphäre, dann Rückkehr Castiglionis nach Wien, der erste einsame Weg zum Untersuchungsrichter, das Arrangement wegen der Kaution, die Verständigung mit Hofrat Stern, der Ausgleich mit der Depositenbank, das Lächerlichwerden des Präsidenten Sieghart von der Bodenkreditanstalt als Apostel der finanziellen Reinheit, die Einzelverständigung Castiglionis mit seinen Gläubigern, das Stillwerden um die große Affäre und schließlich das Auffinden der Akten, deren Verschwinden die träge Justiz aufgepulvert hat.“435 Am 6. Dezember 1924 war aber noch einmal von einer sensationellen Wende in der Spiritus-Affäre zu lesen. „Vor einigen Tagen meldete sich beim Untersuchungsrichter Dr. Jakob ein abgebauter Beamter der Depositenbank und teilte mit, dass er freiwillig wichtige Enthüllungen in der Affäre zu machen bereit sei. Bei seiner Einvernahme gab der Beamte an, er habe Kenntnis davon, dass ein Teil der Spiritusakten in den Kellerräumlichkeiten der Depositenbank verborgen wurden; er könne die Behörden zum Besitze der Akten verhelfen ... Eine Kommission, bestehend aus einem Oberkommissär, drei Detektivs, einem Gerichtsbeamten und dem Anzeiger begaben sich zunächst in das Haus Freyung 4, wo sich die Spiritusabteilung der Depositenbank befindet. Nach Durchsuchung der Bureaulokalitäten begaben sich die Beamten auch in die Kellerräumlichkeiten, wo es ihnen gelang, nach den Weisungen des Anzeigers ein größeres Paket, bestehend aus mehreren Faszikeln, mit Beschlag zu belegen.“ Dann begab man sich in das Palais der Depositenbank am Rudolfsplatz. Dort stellte sich heraus, dass ebenfalls im Keller Akten der Spiritusaffäre Castiglioni-Lederer aufbewahrt worden waren, die aber bereits vor einem Jahr nach Prag und Pressburg in Sicherheit gebracht worden waren. Daraufhin wurde gegen August Lederer ein Strafverfahren wegen Schädigung der Aktionäre eingeleitet.436 Bei einem Prozess gegen Castiglioni, Lederer und Paul Goldstein wegen unterschlagener Provisionszahlungen aus dem Spiritusgeschäft einigten sich schließlich die Parteien auf einen Ausgleich, ebenso wie beim Prozess Lederer gegen Castiglioni.437 Nach dem Zahlungsabkommen Castiglionis mit der Depositenbank wurde seine Strafverfolgung am 4. Februar 1925 eingestellt. Bei einer Anfrage im Parlament stellte der Justizminister fest, dass die Bank, als Castiglioni ausschied, aktiv war und deshalb 435 Die Akten, Die Stunde, 6. Dezember 1924 436 Eine sensationelle Wendung in der Spiritus-Affäre, Die Stunde, 6. Dezember 1924 437 Ein Provisionsprozess auf Zahlung von 9,6 Millionen Tschechenkronen, Neues 8-Uhr-Blatt, 8. November 1925
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Bild 36 „Der Abend“, Wien, 14. April 1926
keine Veranlassung gegeben war, gegen ihn eine Kridauntersuchung durchzuführen. Obwohl der Untersuchungsrichter seine Arbeit noch nicht beendet hatte, verlangte die Staatsanwaltschaft den Fall zurück und stellte ihn ein. Nach Ansicht der „Arbeiter-Zeitung“ konnte das nur auf Anordnung der Regierung geschehen sein.438 Die Justiz habe daher „vor dem über alle Beziehungen verfügenden Großschieber einen regelrechten Kotau vollzogen ... Da nach der Sachlage die Verurteilung unausweichlich gewesen wäre, Herr Castiglioni in Österreich aber nicht bestraft werden darf, so musste eben die Voruntersuchung eingestellt, die strafrechtliche Verfolgung aufgegeben werden. Der Untersuchungsrichter, der die Untersuchungen wirklich ohne Ansehen der Person geführt hat, denkt, aber die Regierung lenkt; und auf ihren Wink, den sie erteilt hat, nachdem vielleicht vorher ihr gewinkt worden war, musste der Staatsanwalt auf die Verfolgung verzichten ... Lasse man doch den Schwindel, dass die Einstellung der Untersuchung erfolgt sei, weil ein greifbarer Tatbestand nicht sichergestellt worden ist: sage man doch ganz offen, dass der Großschieber, der Mussolinis Günstling ist, in Österreich Immunität genießt!“439 Das hatte auch „Der Österreichische Volkswirt“ kritisiert: „Dass man Castiglioni diesen zivilprozessualen Ausweg an Bedingungen knüp438 Wie die Untersuchung gegen Castiglioni eingestellt wurde, Arbeiter-Zeitung, 13. Mai 1925; Karl Ausch, Als die Banken fielen. Zur Soziologie der politischen Korruption, Wien 1968, S. 167 439 Warum die Untersuchung gegen Castiglioni eingestellt wurde, Arbeiter-Zeitung, 17. Mai 1925
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Rien ne va plus Bild 37 „Arbeiter-Zeitung“, Wien, 16. Oktober 1924
fen lässt, ist für die Beteiligten und insbesondere für die Großbanken höchst blamabel, von denen dabei einige keine imponierende Rolle spielen. Ganz undenkbar aber ist es, dass Castiglioni daran auch noch Bedingungen strafprozessualer Natur knüpft. Nachdem das Strafverfahren einmal im Gange ist, darf es durch keinerlei Nebenerwägungen mehr von seinem normalen Weg abgelenkt werden.“440 Kurz darauf wurde auch das Verfahren gegen Gabor Neumann eingestellt. „Aber der Fall Castiglioni wird fortleben als der ärgste der vielen österreichischen Justizskandale dieser Zeit und man wird von Castiglioni-Justiz sprechen, wenn man eine durch die politischen und wirtschaftlichen Gewalten beeinflusste Justiz bezeichnen will, ähnlich wie man von Panama spricht, wenn man parlamentarische Finanzkorruption meint.“441 Für Castiglioni stellte sich das alles völlig anders dar. Er sah sich von jeder Schuld freigesprochen, wie er in einem Interview 1953 feststellte: „Ich höre noch heute Behauptungen, ich hätte auf die Inflation spekuliert und es sei meine Schuld gewesen, wenn so viele Österreicher bei der Depositenbank ihr Geld verloren haben usw. Das sind eben bewusste und gemeine Lügen. Ich habe die Präsidentschaft der Bank im Jahre 1922 spontan niedergelegt, als man mich zwingen wollte, Schieber und Inflationsritter in den Verwaltungsrat zu nehmen. Ich hatte das Institut zu einer erstklassigen Bank gemacht, was im In- und Ausland anerkannt worden war. Nach meiner Demission und dem Verkauf meiner Majorität an diese Leute haben sie es in zwei Jahren, sage und schreibe in 440 Affäre Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 34 441 Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1925/6, S. 65
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zwei Jahren, zustande gebracht, was ich prophezeit hatte, nämlich die Bank zugrunde zu richten. Die österreichischen Gerichte haben mich in einer Weise rehabilitiert, die jeden Zweifel ausschließt. Man soll mich doch endlich mit diesen Lügen verschonen.“ Und Castiglioni präsentierte ein beglaubigtes Schriftstück des Justizministeriums: „Aufgrund eines Antrages der Staatsanwaltschaft wurde heute mit Beschluss des Untersuchungsrichters das Verfahren gegen Camillo Castiglioni eingestellt. Für diesen Antrag waren folgende Gründe maßgebend: Bezüglich des Zusammenbruchs der Allgemeinen Depositen-Bank hat die Untersuchung unzweifelhaft ergeben, dass dieses Institut zur Zeit als Castiglioni die Leitung in andere Hände übergab, aktiv und lebensfähig war, und dass der spätere Zusammenbruch nicht auf die Tätigkeit Castiglionis zurückgeführt werden kann. Die Geschäftsführung in der Folgezeit ist noch Gegenstand eines Verfahrens. In dem aufgrund der Anzeige von Spiritus-Interessenten, insbesondere Bondy und Lederer eingeleiteten Verfahrens hat sich gleichfalls ein Verschulden Castiglionis nicht ergeben. Bondy hatte schon im Laufe der Untersuchung seine Anzeige vorbehaltlos zurückgezogen.“442
Die kleinen Diebe hängt man Bei Heinrich Heine heißt es: „Man macht aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen“ und Karl Kraus dichtete:443 „Der Mäzen Er sitzt nicht in der Galeere, er sitzt in der Galerie. Die Justiz sagt Habe die Ehre Zu einem Finanzgenie. Wer einen Schilling gestohlen, erlebt ihren vollen Verdruss. Doch erlaubt sie, zehn Rubens zu holen Mit etwas Spiritus. Am allergeringsten Diebe Erstarkt ein schwächlicher Staat. Mit christlicher Nächstenliebe Umfängt er ein Syndikat. 442 Canaval, Salzburger Gespräche mit C.C., Salzburger Nachrichten, 8. Juni 1953 443 Karl Kraus, Die Fackel Nr. 691, Juli 1925, S. 1/2
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Stets steht er auf seinem Posten, wenn wer ein Stück Fleisch stibitzt. Dem wird’s den Hals nicht kosten, der ihn bereits besitzt. Veruntreuung? Was denkt man! Es spielt in höheren Rängen! Die kleinen Sammler hängt man, die großen lässt man hängen. Nie wird die Gerechtigkeit handeln, ohne durch die Binde zu sehen. Unter Palmas ungestraft zu wandeln Gestattet sie dem Mäzen. Und nach Italien reist er, und sie nimmt vor ihm ihren Lauf. Kehrt er heim, so hängt er die Meister Gleich über der Kassa auf. Manch Tiepolo blickt hernieder Auf diesen Tatbestand. Wo auf der Welt gibt’s wieder Ein so kulturvolles Land? Manch Corregio glüht in Farben Von einer unsterblichen Scham, dass Gottes Geschöpfe starben und dieser ihn bekam! Millionen Augen geschlossen Für solches Vaterlands Ehr’ Und Gottes Schöpfung genossen Von einem Millionär. Erstickt alles göttliche Sehnen, kein Meister kehrt zurück. Die Kunst gehört den Hyänen Mit ihrem berufenen Blick. Da fehlt ein Bild; vermisst es, wo himmlische Gnade starb. Ein Höllenbreughel ist es, den sich diese Welt erwarb.“
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Und in der „Arbeiter-Zeitung“ erschien ein 108-zeiliges Gedicht: „Camillo Castiglioni oder Wie man sich’s richtet, um nicht gerichtet zu werden! Ein Schieberbänkel ohne Anklagebänkel“444 Darin reimte der Autor unter anderem: „Ach, Camillo ist’s, der Große! Alles ist an ihm voll Größe B’sunders ist es auch die Blöße, Die sich die Justiz geholt, Als sie ihn jetzt packen sollt’! Dieser große Herr C.C. Mit dem Geldsackrenommee, Ist ein armer Tropf gewest, Als er zuflog aus Triest. Aber baldigst steigt er heiter Aufwärts auf der Schieberleiter ... Ach, wie ward ‚Er‘ angedudelt, Angehimmelt, angestrudelt! Er verdiente zwar nur meuchlings, Kniend aber ach, und bäuchlings Huldigte ihm all die Welt, Die sich schieberisch gestellt ... Bis er dann, der arg bedeckte, Auch die Polizei erschreckte, Und der Stank, so sehr verstärkte, Auch gerichtlich ward vermerkte. O, da sprach der Herr C.C.: ‚Schöner ist’s am Grundlsee! Hier kann kaum ich Gutes hoffen!‘ Dann ist er davongeloffen ... Aus dem Dunkel brach das Licht: Herr Kamillo ‚hat sich’s g’richt!‘ Dort im Süden, lind und sonnig, Kam ihm der Gedanke wonnig, Dass doch die Justizia, Didelbum, juhu, hurra, 444 H. P., Camillo Castiglioni, Arbeiter-Zeitung, 5. Oktober 1924
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Wenn man richtig es bedenkt, Nur die kleinen Diebe hängt! Wieder seht ihr ihn in Wien, Wo es ihm so brenzlig schien. Und mit Schiebermutterwitz Hat er rasch mit der Justiz, Der er kaum davongeloffen, Seinen Ausgleich schon getroffen.“ Im Zusammenhang mit der Spiritus-Affäre gab es heftige Kritik an der Unfähigkeit der Justiz, mit wirtschaftlichen Fragen umzugehen. „Der Castiglioni-Rummel, der in den letzten Wochen die Öffentlichkeit beschäftigte, hat wieder krass das merkwürdige Verhältnis der Justiz zur Wirtschaft gezeigt ... Bei der Wirtschaftspolizei sind allein seit Jänner dieses Jahres bis Mitte September nicht weniger als 107 Anzeigen gegen Banken und Bankiers eingelaufen. Von diesen Anzeigen hat die Wirtschaftspolizei 60 an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die übrigen 47 wurden schon im Stadium der polizeilichen Untersuchungen gewöhnlich ad acta gelegt ... Doch das Ende von allem war, in fast 99 Prozent der Fälle, dass die ganze Angelegenheit im Sande verlief, dass es nicht einmal zur Verhandlung kam und dass die meisten Beschuldigten, die als Verbrecher gebrandmarkt wurden, nicht lange nach der ganzen Affäre wieder frei und unbehelligt sich betätigen konnten. Hier liegt das Problem der Sache. Das, was so oft den einzelnen als Wirtschaftsdelikt vorgeworfen wurde, ist oft nicht dem Begriffe des Strafgesetzes unterzuordnen. Das Strafgesetz ist ziemlich alt. Es hat mit den modernen Wirtschaftserscheinungen seinerzeit nicht rechnen können ... Die zweite wichtige Ursache ist die, dass die Organe der Justiz selbst die modernen Wirtschaftserscheinungen nicht beherrschen.“ Man könne einem Juristen nicht zutrauen, „dass er plötzlich in allen den verzweigten Funktionen des Wirtschaftslebens vollkommen Bescheid wisse, dass er sich genau in der Buchführung auskenne, die heute eine Geheimwissenschaft für sich ist ... Es ist dann unmöglich, die Materie sofort zu verstehen, wenn man darin nicht sehr geschult ist ... und die Behörde kann in den wenigsten Fällen unterscheiden, ob es sich um eine Erpressung des Anzeigers oder tatsächlich um delikthaftes Vorgehen des Angezeigten handelt ... Da werden Affären aufgebauscht, die nachher wie ein geplatzter Ballon in nichts zerfallen. Es wird dabei nicht berechnet, dass dies der österreichischen Wirtschaft nur Schaden zufügt, dass die Sensationen, die nicht nur in Österreich verbreitet werden, ins Ausland hinausgehen und die österreichische Wirtschaft in furchtbaren Verruf gerät. In dieser Hinsicht kann das Vorgehen der maßgeblichen Faktoren nicht genug verurteilt werden. Viele solcher Fälle werden von der betreffen-
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den politischen Partei in antikapitalistischer oder antisemitischer Weise demagogisch breitgetreten.“445 Und das Wiener Blatt „Der Morgen“ schrieb: „Der Fall Castiglioni zeigt höchst sonderbare Erscheinungen. Wie Pilze nach dem Regen schießen auf allen Seiten Ratgeber der Justiz aus dem Boden hervor, den Behörden förmliche Weisungen erteilend, wie sie sich in dem sonderbaren Fall zu verhalten haben. Während die einen fortwährend auf die volkswirtschaftlichen Folgen aufmerksam machen, wenn Herrn Castiglioni und Genossen auch nur ein Haar gekrümmt werde, ergehen sich die anderen in agitatorischen Auseinandersetzungen, dass unser Staat flöten gehen werde, wenn das Rechtsbewusstsein sich von irgendwelchen Rücksichten wirtschaftlicher Natur leiten lasse ... Der Fall ist gewiss ein so ungewöhnlicher, dass es nicht unbegreiflich erscheint, wenn temperamentvolle Männer sich auf die eine oder andere Seite schlagen und in ihrer Art zu dieser so sensationellen Affäre Stellung nehmen. Aber dieses Vorgehen, die Justizbehörden geradezu zu haranguieren, steht doch vereinzelt da ... Wenn es wahr ist, dass Journalisten, Abgeordnete und sonst in der Öffentlichkeit stehende Personen mit Ministern trauliche Zwiesprache halten, um in einem Rechtsfall etwas zu erreichen, so ist das ungehörig, gleichviel, ob man für oder gegen eine Partei eintritt ... Wenn der Fall Castiglioni dauernd dazu benützt werden sollte, den Justizbehörden zu raten, so oder so vorzugehen, wenn sich förmlich Parteien bilden, dann wird in der wirklich unbeteiligten Öffentlichkeit der Eindruck nicht zu verwischen sein, dass es sich hier nicht um 445 Dr. Michael Sussan, Justiz und Wirtschaft, Wiener Morgenzeitung, 5. Oktober 1924
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einen Rechtsspruch, sondern um einen Streitfall handelt, wobei es ganz gleichgültig ist, ob die einen aus wirtschaftlichen Gründen und die anderen, weil sie sich in der Pose des Catos gefallen, für ihre Ansichten Stimmung machen.“446 „Erst als es schon zu spät war, als die Bombe geplatzt und schwer zu reparierendes Unheil angerichtet war, kam man zu einer besseren Einsicht. Es wurde von oben herab abgeblasen und der toll gewordene Amtsschimmel wieder in seinen Stall geführt.“447 Und „Die Stunde“ schrieb: „Wir können nicht glauben, dass die Gerechtigkeitsmaschine in Funktion tritt, bloß damit sich zu den Milliardenverlusten der DepositenbankGläubiger auch Milliardenverluste der Castiglioni-Gläubiger gesellen.“448 Man könne so komplizierte Transaktionen nicht gleich behandeln, wie einen kleinen Kaufmann, dem bestimmte Verwirrungen zur Last gelegt werden. Das ganze sei eine „Justizkomödie“, die sich nun schon über Monate hinzog und wo aus den Haftbefehlen nicht einmal klar hervorgehe, wessen die drei beschuldigt werden. Angesichts der nun aufgetretenen Krise des Hauses Castiglioni soll Hofrat Stern gesagt haben: „Das hab’ i net woll’n.“449 Hofrat Stern, „der das Situationsbild so arg verwirrt hat, scheint, ohne es zu wollen, der Schutzgeist des Finanzkapitals zu sein.“450 Es zeige sich daher wieder einmal, dass in Österreich niemand einer schwierigen Situation gewachsen ist. „Im Castiglioni-Fall gab es nur ein eindeutiges, unverschnörkeltes Entweder-Oder. Entweder man wollte der Moral den Sonntagstisch decken, dann musste man mit rapider Schnelligkeit handeln, dann durfte man nicht nach rechts und links schauen und dann musste der Profoß brutal und rücksichtslos seines Amtes walten. Oder man betrachtete die Affäre mit allen Schatten, die sie werfen könnte. Dann hätte man sorgsam abwägen müssen, dann durfte man die Rücksicht auf das allgemeine wirtschaftliche Interesse nicht aus dem Auge verlieren. Es gab nur gleiches Recht oder gleiche Gescheitheit für alle. Aber eine unsichere Justiz und ein vergewaltigtes Wirtschaftsleben: das ist zuviel des Guten.“ Es sei immer wieder das Gleiche. „In Österreich fängt jede Aktion damit an: Es muss was g’scheh’n, und endet: Da kann man nix machen.“451 Und am nächsten Tag schrieb sie unter dem Titel Gerechtigkeit: „Wären Vorführungsbefehle und Diskussion über Kautionserläge denkbar gewesen, als Castiglioni noch als einer der reichsten Männer Österreichs galt? Damals depeschierte Mussolini 446 Die Ratgeber der Justiz, Der Morgen, 6. Oktober 1924 447 Die Vorgeschichte der Inhaftierungs- und Vorführungsbefehle, Die Neue Wirtschaft, 2. Oktober 1924 448 Hofrat Stern und der Haftbefehl, Die Stunde, 30. September 1924 449 Die große Justizkomödie, Die Stunde, 1. Oktober 1924 450 Man will Castiglioni etwas „aussa reiß’n“ ...!, Die Stunde, 5. Oktober 1924 451 Das hab’ i net woll’n, Die Stunde, 1. Oktober 1924
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an ihn, hakte sich der italienische Gesandte in seinen Arm, erschienen staatliche Würdenträger bei seinen Diners. Und wenn linksradikale Blätter Castiglioni befehdeten, seinen Typus als schädlich für die wirtschaftliche Entwicklung bezeichneten, da lächelten die Mächtigen. Castiglioni war sakrosankt, denn er besaß, was jeden in der bürgerlichen Welt heiligt, Geld. Aber wenn die Größe bleicht, dann erscheint der Rachechor. Und er muckt auf, weil er dem Manne, der kein Geld mehr besitzt, verspätet vorwirft, wieso er zu diesem kam. Die Masken fallen und jede Rücksicht schwindet. Niemand in Österreich hat Castiglioni daran gehindert, aus der Inflation klingende Münze zu schlagen, einen Berg von Sachgütern aufzuhäufen, mit einzelnen Gesellschaften Fangball zu spielen und seinen Cäsarenallüren freien Lauf zu lassen. Reich werden, das war in Österreich erlaubt, aber sich sanieren, das ist verboten.“452 Am 7. Oktober kamen in der Zeitung auch Richard Kola und der Untersuchungsrichter Dr. Siegfried Jakob zu Wort. Richard Kola: „Ich lege besonderen Wert darauf, erklären zu können, dass ich selbstverständlich streng auf der Seite Castiglionis stehe. Ich tue dies nicht allein aus meinem Solidaritätsgefühl heraus, sondern hauptsächlich aus menschlichen Motiven. Das Verhalten der großen Menge und die aggressive Haltung gewisser Kreise gegen einen Mann, dem die Öffentlichkeit in Wien so viel zu danken hat und dem alle Menschen früher nicht genug Ergebenheit heucheln konnten, hat mich abgestoßen. Man konnte jetzt so recht sehen, wie ein Mann im Unglück von den meisten verlassen wird, und wie sich alle beeilen, über ihn herzufallen ... Castiglioni hat es, trotz dem er Mäzen im größten Stil war, nicht verstanden, sich viele und wahre Freunde zu schaffen. Über das Wirtschaftliche im Falle Castiglioni kann ich nur sagen, dass ich zuversichtlich eine günstige Lösung erhoffe. Ich weiß ganz bestimmt, dass sich ein solches kaufmännisches Genie, wie Castiglioni, wie schon aus so vielen anderen Krisen, so auch aus dieser, wieder vollkommen herausarbeiten wird. Sein Reichtum ist noch immer so groß, dass er ihn vollständig sanieren können wird. Seine Gobelins allein, von denen mancher 100.000 Dollar wert ist, können ihm über die jetzige Krise hinweghelfen. Castiglioni ist durch die Schnelligkeit seiner Entschlüsse bekannt. Er lässt sich rasch in eine Sache ein, er steigt aber ebenso schnell wieder aus einer für ihn gefährlichen Sache heraus ... Ich möchte zum Schlusse nur nochmals betonen, dass mir die Sache Castiglioni menschlich unerhört nahe geht. Auch die Haltung der Regierung, das Vorgehen der Gerichte verstehe ich nicht ganz. Vor dem Gesetz ist jeder Bürger gleich und jedermann muss einvernommen werden können; aber verhaften kann man doch nur jeman452 Gerechtigkeit, Die Stunde, 2. Oktober 1924
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den, dessen Schuld erwiesen ist, Kaution nur von jemanden verlangen, der flüchten will, die Freiheit jemandes nur verringern, der wie ein Verbrecher für die Allgemeinheit gefährlich ist.“ Hofrat Dr. Siegfried Jakob stellte fest, dass er als Untersuchungsrichter keine Stellungnahme in einer laufenden Sache abgeben kann. „Es ist mir daher im ersten Moment völlig unbegreiflich gewesen, dass man mich angriff. Ich habe den ungeheueren Akt und die überaus verwickelte und heikle Angelegenheit vor Monaten zugewiesen bekommen und in kurzer Zeit völlig Einblick in die Materie gewonnen. Die ersten Angriffe auf mich erfolgten, als die Gerüchte von dem Einbruch in mein Zimmer auftauchten; ich möchte nochmals erklären, dass ich im Ganzen zweimal in jenem Kassenraum im Palais auf der Freyung war, mein ständiges Arbeitszimmer im Hauptgebäude der Depositenbank aber stets peinlich genau verschloss. Man hat in einem Angriff auf meine Person auch gefordert, ich möchte in Pension gehen. Da hat man mir nur aus dem Herzen gesprochen. Es wurden mir Sachen in die Schuhe geschoben, an denen ich als Untersuchungsrichter auch nicht im Entferntesten Schuld trage, Für mich hat Castiglioni nur dieselbe Bedeutung wie jeder andere Bürger der Republik; ich kann und darf keine Ausnahme machen und keine Rücksicht nehmen. Ob die Angelegenheit Castiglioni auf das Wirtschaftsleben Einfluss hat oder nicht, darüber habe ich nicht zu entscheiden, und das hat mich auch nichts anzugehen. Ich habe bloß meine Pflicht zu tun, nicht mehr und nicht weniger; ich habe mich an meine Vorschriften und an das Gesetz zu halten. Und das habe ich bisher getan und werde ich unbeirrt weiter tun ... Ganz und gar verstehe ich persönlich nicht, wie gewisse Kreise jetzt so scharf über Castiglioni herfallen können. Ich würde mich doch als Mensch schämen, schadenfroh zu sein; zum mindesten würde ich geschmackvoller und feinfühliger meinen Neid auf die paar ganz Reichen verschweigen. Alle, die jetzt so gegen Castiglioni schreien, beweisen damit ja nur, dass sie ihm seinen Aufstieg und seinen Reichtum neiden.“453 Die „Wiener Morgenzeitung“ sprach von einer unglaublichen Blamage der Regierung, welche in die ohnehin würgende Wirtschaftskrise neue Unruhemomente durch ihr Vorgehen gegen Castiglioni hineintrug und seine Sanierungsaktion gefährdete. Das Ganze sei so etwas wie eine Massenpsychose. „Im Mai, als die Vorgänge in der Depositenbank zum ersten Male die Zeitungen beschäftigten, da stand Camillo Castiglioni im vollsten Glanz seiner Macht. In Arnstein in Oststeiermark, wo er an dem Stollendurchschlag der Teigitsch-Werke teilnahm, pries der Bundeskanzler das organisatorische Genie und das wirtschaftliche Verständnis des Magnaten; als er im Auto wegfuhr, 453 Was sagen Sie zum Fall Castiglioni?, Die Stunde, 7. Oktober 1924
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standen Minister und Abgeordnete um den Wagen und beugten sich tief. Alle kriegten erst Mut, als Castiglioni immobil wurde und ihm die Mailänder Bank einen Kontrollkommissär nach Wien setzte. Der Mut explodierte, als Castiglioni nach Triest und seine Direktoren nach Berlin und Budapest fuhren. Alle drei sind nicht da, es kann nix gescheh’n. Heraus mit den Steckbriefen, Untersuchung, Zeitungen. Alle Helden der Sittlichkeit sind in Bewegung und Empörung: die boshaften Bürokraten (die das Material der Angelegenheit wahrscheinlich nicht verstehen), die Kinodichter der Wiener Presse, alle Klopffechter der billigsten Tartüffevie, alle, die noch vor einem Monat vor dem Geldfürsten ihre Buckerl machten und ihm die Stiefel leckten. Jetzt bricht’s aus ihnen heraus. Rache dafür, dass die Geldquelle des Mäzens nicht mehr fließt, dass man ihn anhimmeln musste, als er’s Licht noch sah, dass er Macht besessen hatte und jetzt nackt und bloß da steht und schwarz auf weiß zu lesen bekommt, dass er sich gegen die Moral, Marke Wien, vergangen hat. Er muss es auskosten, was es heißt, die Glorie des Reichtums zu verlieren ... und der Lärm um den gestürzten Castiglioni ist nichts als Sensationsmacherei und Rache für die Referenz, die man ihm erweisen musste.“454 „Die Weltbühne“ meinte: „Die öffentliche Meinung, die einen Schuldigen brauchte (für Sünden, die doch nur ganz Österreichs oder in einem höheren Sinne ganz Europas Sünden gewesen waren), wies auf Castiglioni hin, der die ungesunden Keime in der Blütezeit der Inflationswirtschaft dem künstlich aufgetriebenen Institut eingeimpft, der die Bank für seine Privatinteressen missbraucht habe, indem er die Lastenseiner schlechten Geschäfte ihr aufbürdete, die Früchte seiner guten Geschäfte ihr entzog ... Castiglioni, den angeblich einzig Regresspflichtigen, jedenfalls einzig Regressfähigen.“455 Und „Die Neue Wirtschaft“ schrieb: „Wenn ein Kommis mit der Portokasse durchgeht und deshalb gerichtlich verfolgt wird, dann steht in der Zeitung: er wird verfolgt, weil er mit der Portokasse durchgegangen ist. Warum wird Castiglioni verfolgt? Was hat er verbrochen? Darüber wird die Öffentlichkeit nicht unterrichtet.“ Diejenigen, die Castiglioni beschuldigen, „sind keine unbefangenen Gewährsmänner. Es sind entweder zivilrechtlich Geschädigte, die nach der jetzt so beliebten Methode durch Drohung mit dem Strafgesetz ihre Ansprüche durchzusetzen versuchen; oder es sind Journalisten, die ihre Information aus der Quelle des Hasses schöpfen ... Wenn man einen Preis ausgesetzt hätte, wie aus dem Fall Castiglioni eine möglichst schwere Schädigung unserer Volkswirtschaft herauszuschlagen wäre, die Regierung und die Justizverwaltung hät454 Der gestürzte Castiglioni, Wiener Morgenzeitung, 1. Oktober 1924 455 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 286
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ten diesen Preis gewonnen.“ Mit dem Bekanntwerden der Anklage am Montagmorgen wurde Castiglioni „bereits mit Haut und Haaren abgeschlachtet, als finanzielles Nachkriegsopfer in die Kalkgrube geworfen, verhaftet, verurteilt, gerädert, gevierteilt. Nachmittags kam man schon wieder etwas zur Besinnung. Man erinnerte sich daran, dass mit der Person Castiglionis die stärksten Wirtschaftsinteressen verbunden sind, man widerrief den Haftbefehl und machte daraus einen ‚Vorführungsbefehl‘ – oh, österreichisches Antlitz! – und am nächsten Morgen war auch schon von Vorführung keine Rede mehr, man sprach bloß noch von einer wünschenswerten Einvernahme in einer im Zuge befindlichen Untersuchung ... Der Vorführungsbefehl gegen Castiglioni ist jedenfalls auf sehr billigem Papier geschrieben ... Es muss gesagt werden: die Atmosphäre der Gehässigkeit wirkte von oben aus nach unten. Kein alter und kein neuer Reicher wurde dermaßen in das Zentrum der öffentlichen Kritik gestellt wie Castiglioni. War er der einzige, der sich an der Inflation bereicherte? Hat er von seinem Reichtum den schlechtesten Gebrauch gemacht? War er nur ein Geschäftemacher und nicht auch ein Kulturmensch, ein Kunstmäzen größten Stils, der Geld in Glück und Schönheit umzusetzen wusste? Alle diese Fragen bleiben unbeantwortet. Gerade diesen Mann hat man sich in Wien zum Sündenbock des kapitalistischen Systems auserwählt. Die anderen durften machen, was sie wollten ... Heute kann Camillo Castiglioni ruhig nach Wien kommen, gleichviel, ob mit oder ohne freies Geleit. Denn wie die Dinge heute liegen, ist es vollkommen ausgeschlossen, dass er von einem österreichischen Gericht verurteilt werden dürfte. Er genießt Immunität, die in den österreichischen Staatsinteressen begründet ist. Denn das ist das absurde Ergebnis des Schildbürgerstreiches unserer Behörden: man muss einsehen, dass der österreichische Staat an der Unversehrtheit des Namens Castiglioni viel stärker interessiert ist als Castiglioni selbst ... Die österreichische Politik hat sich selbst ad absurdum geführt. Gleichviel, ob Castiglioni etwas verbrochen hat oder nicht, er wird vor keinen österreichischen Richter gestellt werden.“456 Herrn Castiglioni – „warum sollen wir es nicht von vorneherein sagen – wird nichts geschehen. Er hat zu viele mächtige Freunde, zu viele sind mit ihm an einem Tisch gesessen. Für ihn gilt mehr als für jeden anderen, dass man nur die kleinen Diebe hängt.“457 Auch die „Arbeiter-Zeitung“ sah das Ende Castiglionis gekommen. „Der Reichste unter den ‚neuen Reichen‘ des Krieges, der vor kurzem noch mächtigste unter all den mächtigen Kapitalisten, die Krieg und Geldentwertung emporgetragen haben, Camillo Castiglioni, ist zusammengebrochen. In einer Kriminalaffäre, wie von der Phan456 Was hat Castiglioni verbrochen?, Die Neue Wirtschaft, 2. Oktober 1924 457 Die Laufbahn Camillo Castiglionis, Der Abend, 30. September 1924
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225 Bild 39 „Arbeiter-Zeitung“, Wien, 8. Februar 1925
tasie eines Kolportageromanschreibers oder eines Filmdichters schlechtester Sorte ersonnen, bricht der meistbeneidete, meistumworbene, meistverhätschelte unter den Kapitalsmagnaten der Nachkriegszeit zusammen, löst sich eine der gewaltigsten Kapitalsanhäufungen der Inflationsperiode auf ... Wer durch Spekulation und nur durch Spekulation reich geworden, der meint, es müsse immer wieder gelingen.“ Doch dieses Konzept brach nun zusammen. Allerdings warnte auch die „Arbeiter-Zeitung“ vor den volkswirtschaftlichen Folgen. „Für unsere Volkswirtschaft aber bedeutet das eine neue schwere Erschütterung ... Die Kurse sinken wieder. Die vielen Unternehmungen des Castiglioni-Konzerns sind schwer bedroht. Der Zinsfuß des ausländischen Kapitals wird durch diese Skandalaffäre neuerlich gehemmt werden.“458 Der sozialistische Politiker Benedikt Kautsky schrieb: „Man wird es nicht wagen, Hand an Castiglioni zu legen, der immer noch als Großmacht angesehen wird. Aber es wird sich auch herausstellen, dass seine Rolle als Finanzmagnat und Industriekapitän ausgespielt ist. Er mag persönlich noch über erhebliche Reichtümer verfügen, aber er wird nicht mehr die Möglichkeit haben, einen weitergehenden Einfluss auf das Wirtschaftsleben Österreichs auszuüben. Er ist ein Beispiel mehr für die Ideenlosigkeit der österreichischen Kriegs- und Nachkriegsgewinner, die durch die Spekulation das verlieren, was sie einst mit ihrer Hilfe gewonnen haben.“459 Die befürchteten Folgen für die österreichische Wirtschaft waren aber eine massive Übertreibung. Castiglioni besaß zeitweise große Aktienpakete von zahlreichen Unternehmungen, „hielt aber diesen Besitz nicht lange fest, sondern trat oft als Händ458 Castiglioni, Arbeiter-Zeitung, 30. September 1924 459 Benedikt Kautsky, 3. Oktober 1924, in: Arbeit und Wirtschaft 1924, S. 871
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ler in diesen Aktienpaketen auf. Das ist auch die Ursache, warum er gegenwärtig an den meisten dieser Unternehmungen finanziell nicht mehr stark interessiert ist, wenngleich er ihrer Verwaltung noch angehört.“460 Auch Bundeskanzler Seipel erklärte im Parlament, dass über die Krise der Depositenbank mehr oder weniger phantastische Erzählungen in den Zeitungen erschienen, es aber nicht zu einer neuerlichen Wirtschaftskrise kommen werde. Auch die Befürchtungen eines Zusammenbruchs der Industrien Castiglionis seinen übertrieben, da vor allem die mit ihm verbundene italienische Finanzgruppe seine Funktion übernehmen werde.461 Doch auch wenn man der Ansicht war, Castiglioni selbst sei kein maßgebender volkswirtschaftlicher Faktor Österreichs mehr, „so musste man logischerweise hinzufügen, die Regulierung seiner Schulden ist es sicher. Wenn die Möglichkeit eines Arrangements mit ausländischen Gläubigern durch Dilettantismus zerschlagen werde, wenn der Liquidationsprozess, bei dem es sich um Passiven in der Höhe von 450 Milliarden handelt, an mutwillig in den Weg geschleuderten Steinen strauchelt, wenn selbst im engen Bezirk der Finanz die Alternative: Geld oder Leben nicht mit dem nüchternen ‚Geld‘, sondern mit dem pathetischen ‚Leben‘ beantwortet wird, dann muss das westliche Kapital wohl nicht an unsere Bonität, sondern zumindest an deren geistiger Essenz, an unserem Verstand zweifeln. Der Rückschlag der vergangenen Wochen entquoll der Angst vor der Dummheit ... Die Eingeweihten kennen den Status Castiglionis und wissen, dass dieser mit weit mehr als 100 Milliarden aktiv ist. Infolgedessen wird es schon mit Rücksicht auf die hohe Kapitalskraft der am stärksten beteiligten Geschäftsfreunde Castiglionis nicht gut gehen, Aktienpakete tief unter ihrem Sachwert zu verschleudern und zum Zwecke der Art dunkler Transaktionen die Spekulationswässerlein zu trüben ... Der Fall Castiglioni ist eine Sensation von gestern, er kann ein Problem, eine Sorge oder auch nur eine Nachdenklichkeit von heute sein, ein Beunruhigungsfaktor wird er kaum mehr werden ... Die Zeit des uferlosen Pessimismus liegt hinter uns.“462 Die britische Botschaft in Wien schrieb unter dem Titel „Bankendämmerung“, dass der alte über den neuen Reichtum gesiegt habe. Zwar hätten die Wiener Großbanken einen gewissen Verlust ihrer Reputation zu beklagen und ohne Zweifel eine große Reduzierung ihrer Reserven, aber sie hatten doch die Krise von 1924, welche die schlimmste war seit 1873, einigermaßen überstanden. Anfang des Jahres 1924 gab es noch über 70 Aktienbanken und über 300 Privatbanken, was wesentlich mehr war als 460 Der Economist. Die Untersuchungen gegen Castiglioni, Goldstein und Neumann, Neue Freie Presse, 30. September 1924 461 Der Zusammenbruch Castiglionis, Wiener Morgenzeitung, 1. Oktober 1924 462 Bleibt die Börse fest?, Der Morgen, 20. Oktober 1924
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vor dem Krieg. Diese Bankhäuser waren weitgehend spekulative Gründungen. An sich benötigt man für die Errichtung einer Bank eine Konzession, aber die Regierung war aufgrund von politischen oder persönlichen Beziehungen sehr großzügig vorgegangen. Während des Jahres 1924 seien über 100 Bankhäuser verschwunden oder in Liquidation, darunter 23 Aktienbanken, die wichtigste davon die Depositenbank. Es war dabei der allgemeine Vorwurf gegen die Bankmanager, dass sie eine gewinnbringende Transaktion als ihr privates Geschäft betrachteten, ein Verlust aber zulasten ihrer Bank ging. In allen gerichtlichen Untersuchungen war von skandalösem Missmanagement oder Betrug die Rede, eine große Zahl von Bankmanagern sei verhaftet geworden, andere seien geflohen und hätten Selbstmord begangen.463 Im September 1928 brachte eine Frau eine Klage ein, dass Castiglioni während des Krieges einen Übernahmeoffizier in Aspern bestochen habe, um bei der Überprüfung seiner Flugzeuge ein Auge zuzudrücken. Die tödlichen Unglücksfälle mit seinen Flugzeugen seien daher auf die Beschaffenheit seiner Apparate zurückzuführen gewesen. Etwa zur gleichen Zeit brachten die Rechtsvertreter der Raaber Spiritus-Industrie AG eine neuerliche Klage wegen Betrugs in der damaligen Spiritusaffäre ein, da sich neue Gesichtspunkte und Tatsachen ergeben hätten. Die Anklagen verliefen jedoch im Sand.
Sanierung auf Italienisch „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles!“, um Rainer Maria Rilke zu zitieren.464 Castiglioni überstand, aber nun bestimmten andere über ihn: „Ausländische Banken, wie die Mailänder Banca Commerciale, denen Castiglioni verschuldet war, die österreichischen Großbanken, und nicht nur solche, die zu seinen unmittelbaren Gläubigern zählten, fanden sich zur Stützungsaktion zusammen, weil der Niederbruch des gewaltigen Konzerns ganz Österreich aus den Fugen gerissen hätte. Der Fall Castiglioni ließ sich nicht isolieren. Wäre das möglich gewesen, so hätten die Banken den von keinem geliebten, von allen gehassten Eindringling und Emporkömmling, der in der Zeit der Kursinflation in so viele traditionelle Interessensphären der Bank- und Industriewelt eingebrochen war, so vielen eingesessenen Besitz entwurzelt hatte, sicherlich nicht gestützt, sondern gestürzt. Aber der Fall Castiglioni ließ sich nicht isolieren“, schrieb ein Zeitzeuge.465 463 Bankendämmerung, Public Record Office London, FO 371 10662 02350 464 Requiem, Paris 1908 465 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 288
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An sich waren die finanziellen Möglichkeiten Castiglionis durch sein Ausscheiden aus der Depositenbank und der Unionbank bereits ziemlich beschränkt. „Dazu kam noch, dass die ihm durch seinen Austritt aus der Depositenbank geschlagene Wunde unaufhörlich weiter blutete. Er begnügte sich nicht mit der Behauptung seiner großindustriellen Position, er wollte auch den Bankherren spielen, er wollte einen vertikalen Trust in seinem Herrscherbesitze aufrichten, einen Trust, der alle Teilprodukte vom Erz hinunter bis zum Rohstoff Geld vereinigte.“466 Seine eigene Bankgründung 1923 war erst nach langen Schwierigkeiten zustande gekommen und mit so einschränkenden Klauseln versehen, dass Bankgeschäfte im großen Stil unmöglich waren. Das „C.Castiglioni Bank- und Kommissionsgeschäft“ wurde dadurch zu einer bloßen Vermögensverwaltung degradiert. So war ihm die Möglichkeit genommen, fremdes Kapital über eine von ihm abhängige Bank aufzunehmen und für die Finanzierung seines Industriekonzerns zu verwenden. Castiglioni hatte sich übernommen. Die Mark-Spekulation 1923 und die Franc-Spekulation 1924 wurden als Ausweg gesehen, endeten aber mit schweren Verlusten. „Mit zunehmender Wirtschaftskrise wurde der Kreditbedarf seiner Industrieunternehmungen immer dringlicher und Castiglioni sah sich genötigt, seinerseits Kredite speziell bei der ihm befreundeten größten Bank Italiens, das ist bei der Banca Commerciale in Mailand, in Anspruch zu nehmen. Je mehr sich die Absatzkrise in der österreichischen Industrie verschärfte und je mehr sich der ungeheuere Aktienbesitz Castiglionis im Zusammenhang mit der flauen Börse entwertete, desto mehr geriet Castiglioni in einen Zustand der Immobilisierung.“ 467 Die Finanzkrise ging daher auch an Castiglioni nicht spurlos vorüber. Es ergaben sich Verluste im Devisengeschäft und Immobilisierungen, da große Effektenpakete nicht realisiert werden konnten.468 „Denn die Gläubiger gehören zu diesem Manne, wie zu einem Haifisch das Wasser gehört; sie sind sein Lebenselement.“469 Castiglioni selbst gab sich keiner Täuschung hin und bereits im Juli 1924 trat er an die Banca Commerciale mit einem Ersuchen heran. Seine Statusaufstellung zeigte, dass die ununterbrochene Entwertung seiner Beteiligungen und das Anwachsen seiner Schulden durch die Zinsenlast eine Sanierungsaktion unbedingt erforderte. „Zu dieser Zeit fuhr Castiglioni nach Mailand und legte seine Situation der Banca Commerciale Italiana, die seine Hauptgläubigerin ist, klipp und klar dar. Die freundschaftlichen und geschäftli466 Die Situation des Hauses Castiglioni, Die Stunde, 30. September 1924 467 Depositenbank und Castiglioni, Reichspost, 30. September 1924 468 Der Economist. Die Untersuchungen gegen Castiglioni, Goldstein und Neumann, Neue Freie Presse, 30. September 1924 469 Martin Rathsprecher, Porträt Camillo Castiglioni, Tagebuch, Wien 24. Oktober 1953
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chen Beziehungen Castiglionis zu dieser führenden Bank Italiens waren durch die Jahre hindurch genügend tief fundiert, um bei dem Führer des Institutes, dem Commantatore Toeplitz, das nötige Interesse zu erwecken.“470 Nach mehrtägigen Verhandlungen kam schließlich zwischen der Mailänder Bank und Castiglioni ein Vertragsentwurf zustande, wonach sich die Bank verpflichtete, Castiglioni zur Erfüllung aller Verpflichtungen die Summe von 125 Millionen Lire, das sind rund 400 Milliarden Kronen, zur Verfügung zu stellen. Außerdem standen der sanierenden Institution noch 40 % des Liquidationserlöses zu. „Als Pfand für dieses Darlehen sollte der gesamte Besitz Castiglionis, also seine Effekten und Beteiligungen an allen Unternehmungen, sein Haus am Kolowratring 14, das Atlantis-Palais am Schwarzenbergplatz, sein Sommersitz in Grundlsee, sein mehrere Tausend Joch umfassendes Gut in Polen, und – last, not least – sein Palais in der Prinz Eugenstraße mit den kostbaren Sammlungen, Bildern und Bronzen der Banca Commerciale als Pfand zur sukzessiven Verwertung überlassen werden.“471 Der Vertrag war vorläufig noch nicht unterzeichnet, doch hatte die Banca Commerciale bereits etwa 40 Millionen Lire, also ein Drittel der Darlehenssumme an Castiglioni ausgezahlt. In Österreich bemerkte man, dass Herr Toeplitz kein Waisenknabe war: „Er wusste ganz genau, welche Risiken an Prestige und Geld bei dem Castiglioni-Geschäft übernommen wird ... Man kann ruhig annehmen, dass, wenn die Banca Commerciale einen solchen Riesenkredit gewährt, sie sich vom Vorhandensein der üblichen 200-prozentigen Effektendeckung überzeugt hat.“ Die Sanierungsaktion sei auf einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren berechnet, „nach deren Ablauf das Haus Castiglioni auf ein verkleinertes, aber unerschütterlich festes Fundament hätte gestellt werden können“.472 Als Sachwalter ihrer Interessen bestellte die Bank Anfang September 1924 ihren Direktor Adolfo Rossi, „einen verhältnismäßig jungen Menschen, der sich durch besondere Energie auszeichnen soll und der sich in den letzten Wochen vornehmlich mit der Aufstellung des Vermögensstatuts Castiglionis befasst hat ... Die Banca Commerciale ist die größte Gläubigerin Castiglionis, ihre Forderungen werden auf mehrere hundert Milliarden Kronen geschätzt, das ist ein Betrag, der auch in Italien zählt.“473 Adolfo Rossi, der als „kleiner Zimmermann“ bezeichnet wurde,474 überwachte nun die 470 Die Situation des Hauses Castiglioni, Die Stunde, 30. September 1924 471 Die Situation des Hauses Castiglioni, Die Stunde, 30. September 1924 472 Finanzkapital und Gottesgnadentum, Die Neue Wirtschaft, 9. Oktober 1924 473 Depositenbank und Castiglioni, Reichspost, 30. September 1924 474 M. de Lens, Chargé d’Affaires de France à Vienne a son Excellence Monsieur Herriot, Président du Conseil Ministre des Affaires Etrangères, Vienne, le 13 Octobre 1924, Archives Economiques et Financières, Paris F30 622. Der niederländische Zimmermann war von 1922 bis 1928 der Kontrollor der Völkerbundanleihe, der in Wien das österreichische Staatsbudget zu überwachen hatte.
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Geschäftsführung, kontrollierte die Auszahlung der Kredite und bereitete die Reorganisation vor. „Das Zepter im Hause Castiglioni schwingt jetzt ein italienischer Kon trollor, namens Rossi, der als Vertreter der Banca Commerciale in Mailand die Gebarung zu überwachen hat. Die Leute vom Schlage Castiglionis haben es dazu gebracht, dass Österreich unter Kontrolle kam. Nun stehen sie selbst unter Aufsicht.“475 Rossi war Schweizer und vor einigen Jahren noch ein kleiner Beamter bei der Banca Commerciale gewesen. „Er zeichnete sich als Kontrollorgan bei verschiedenen Unternehmungen der Banca Commerciale durch forsches Auftreten, rücksichtslose Energie, Unnachgiebigkeit in der Verfolgung der Interessen seines Institutes und insbesondere durch seine Schärfe gegen Verfehlungen einzelner Funktionäre in so hohem Maße aus, dass Generaldirektor Toeplitz den jungen Mann in sein Vertrauen zog und ihn mit immer wichtigeren Aufgaben betraute. So wurde im Lauf der Zeit aus dem kleinen Beamten einer der einflussreichsten Direktoren der Banca Commerciale und der gefürchtete Kon trollor der in aller Herren Länder liegenden Unternehmungen der Banca Commerciale. Er war, um einen naheliegenden Vergleich heranzuziehen, der Hofrat Stern in der Banca Commerciale. Zuletzt besorgte er noch das große Reinemachen bei der Foresta, die durch eine verworrene Geschäftsführung bekanntlich heruntergewirtschaftet und dem Ruin nahe geführt wurde. Der elegante junge Mann mit dem Mussolini-Profil, der Anfang der Vierzigerjahre steht, ist ein Mensch ohne Sentimentalitäten und von ungeheuerer Willensstärke. Er war mit Castiglioni befreundet, ohne die ihm von seiner Bank gestellte Aufgabe aus den Augen zu verlieren.“476 Castiglioni löste daher im September 1924 seine Wiener Bankgesellschaft auf (gelöscht wurde sie erst 1929) und kündigte sämtliche Beamte. Dabei stellte sich die Trennung von den drei „Generalbevollmächtigten“, die er von der Depositenbank mitgenommen hatte, als sehr kostspielig heraus. Otto Bellak erhielt 1,2 Milliarden Kronen Abfertigung, wovon 600 Millionen sofort ausbezahlt wurden. Schwieriger war es mit Dr. Eduard Nelken, der seine Stellung bei der Depositenbank für Castiglioni aufgegeben hatte und ihm dabei seinen 50-Prozent-Anteil an der Firma Ullmann & Co. überließ. Er forderte 7 Milliarden Kronen, was von Castiglioni und Rossi abgelehnt wurde, worauf er den Klageweg beschritt. Gabor Neumann blieb vorerst in den Diensten Castiglionis, war aber jederzeit mit einer Abfertigung von 1,2 Milliarden Kronen zu kündigen.477 Außerdem schränkte Castiglioni seinen Haushalt ein, der über Jahre an die 40 Dienstboten zählte und wollte sogar seinen Salonwagen verkaufen. Auch die ihm gehö475 Abgewirtschaftet, Der Abend, 18. September 1924 476 Hofrat Stern und der Haftbefehl, Die Stunde, 29. September 1924 477 Die Situation des Hauses Castiglioni, Die Stunde, 30. September 1924
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rigen Zeitungen – „Extrablatt“, „Mittags-Zeitung“ und „Wiener Allgemeine Zeitung –, die einen erheblichen Betriebsabgang hatten, versuchte er zu verkaufen. Er bot sie der österreichischen Regierung an, die aber aus Geldmangel ablehnte. Die Banca Commerciale hatte eine sehr starke Stellung bei der Sanierung, da die Abmachung mit Castiglioni nicht unterschrieben war. Sie konnte sich daher jederzeit wieder zurückziehen, auch wenn sie schon einige Zahlungen geleistet hatte. Das zeigte sich auch am „forschen Auftreten“ Adolfo Rossis bezüglich der Regelung der rechtlichen Vorwürfe an Castiglioni. Rossi kam am 2. Oktober – als Castiglioni nach Italien geflohen war – zum österreichischen Bundeskanzler Seipel und Vizekanzler Frank um die Erklärung abzugeben, „dass er außerstande sei, die Sanierung der Liquidierung der Castiglionischen Verpflichtungen in Abwesenheit Camillo Castiglionis durchzuführen. Im Hinblick auf die materiellen Verhältnisse des Hauses sei es auch vollkommen ausgeschlossen, eine Milliarden betragende Kaution zu erlegen, da die Entziehung eines solchen Betrages die Erfüllung von fälligen Verpflichtungen unmöglich machen würde. Der Vertreter der Banca Commerciale ersuchte daher den Vizekanzler, als Leiter des Justizministeriums, anzuordnen, dass Castiglioni ohne Erlegung einer Kaution freies Geleit zugesichert werde.“478 Er erklärte weiter, dass die Banca Commerciale keine weiteren Zahlungen für Camillo Castiglioni leisten würde, solange nicht feststehe, welche finanziellen Forderungen gestellt werden. „Ich frage darum, welche Regressansprüche stellt die Depositenbank an Camillo Castiglioni? Sind diese zu hoch, dann weiß ich, dass meine Mission beendet ist. Sind sie diskutabel, dann kann ich entweder neue Weisungen aus Mailand einholen oder aufgrund meiner Vollmachten sofort handeln. Ich wäre vielleicht auch unter Umständen bereit, einen Betrag für die Depositenbank zu deponieren, damit an dem Ernst meiner Verpflichtung nicht gezweifelt wird. Aber ich muss vorher wissen, wie groß dieser Betrag ist und ob die neu hinzugetretene Passivpost Deckung in den vorhandenen Aktiven findet.“ Die Sanierung betraf nicht nur italienische, sondern auch österreichische Finanzinteressen, da Castiglioni alleine bei der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft mit nahezu 200 Milliarden Kronen verschuldet war. „Und wenn man die Sanierung eines monumentalen Konzerns, die Abtragung eines Schuldenturms von nahezu Billionenhöhe von den Entscheidungen einiger Hofräte abhängig macht, dann, ja dann ist Österreich nicht zu helfen.“479 Schließlich machte die Banca Commerciale klar, dass sie nicht alleine die Sanierung Castiglionis übernommen hatte, sondern einem Konsortium vorstand, an dem die Ban478 Freies Geleit für Castiglioni, Die Stunde, 2. Oktober 1924 479 Die Banca Commerciale hat vorderhand die Zahlungen für Castiglioni sistiert, Die Stunde, 3. Oktober 1924
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ca Commerciale ein Fünftel übernommen hatte, die übrigen Mitglieder waren andere ausländische, vor allem Schweizer Banken. Commentatore Toeplitz war am 2. Oktober 1924 nach Rom gefahren, um die italienische Regierung über die Finanzprobleme zu informieren. Die politischen Stellen in Italien hielten eine Aktion der Banca Commerciale aber nur dann für sinnvoll, wenn die Strafaffäre Castiglioni bereinigt sei. Später dementierte Toeplitz, dass er sich mit italienischen Regierungskreisen ins Einvernehmen gesetzt habe, um eine Aktion zugunsten Castiglionis zu verabreden.480 Doch die italienischen Zeitungen wendeten sich scharf gegen die Banca Commerciale wegen eines zu großen Kapitalexports nach Österreich und brachten diese in eine schwierige Stellung.481 Toeplitz ließ daher am 2./3. Oktober eine Stellungnahme veröffentlichen, dass die Summen stark übertrieben seien. Die Banca Commerciale unterstütze Castiglioni maximal mit fünf Millionen Lire gegen gute Sicherheiten. Der „Messaggero“ stellte aber am 3. Oktober fest, dass dies nicht die ganze Wahrheit sei, und wies auf die Beteiligungen bei der Italienisch-Ungarischen Bank, der Depositenbank und der Foresta, die sich allein in Rumänien mit 250 Millionen Lire engagiert hatte, welche von der Banca Commerciale vorgestreckt wurden. Die Bank habe daher seit Kriegsende an mehreren großen Spekulationen zusammen mit Castiglioni teilgenommen. Die Beschäftigung der italienischen Gläubiger und Regierung mit dem Problem Castiglioni sei daher vollkommen gerechtfertigt, da große Summen italienischen Kapitals, die im Ausland eingesetzt worden waren, geopfert werden konnten, anstatt die Entwicklung der italienischen Wirtschaft selbst zu unterstützen.482 In Italien sei man nun übereingekommen, durch Garantien der zunehmenden Finanzkrise in Österreich zu begegnen. Dafür wurde das Konsortium errichtet, das die Summe von 125 Millionen Lire vorstreckte, welche die Differenz zwischen den sofort und leicht realisierbaren Aktiven und Passiven Castiglionis bedeutend überschritt. Da die endgültige Etablierung des Konsortiums durch die fehlende Feststellung des Status von Castiglioni verzögert wurde, hatten sich die Beteiligten zu einem Vorschuss von 20 Millionen Lire gegen einwandfreie Garantien entschlossen. Und Commentatore Toeplitz stellte fest: „Durch den Eingriff der österreichischen Behörden wurde die Gründung des Sanierungskonsortiums gestört und ich weiß noch nicht, welche Folgen diese Störung nach sich ziehen kann.“483 480 Die Banca Commerciale stellt ihre Aktion für Castiglioni ein, Wiener Morgenzeitung, 10. Oktober 1924 481 Die Affäre Castiglioni, Der Morgen, 6. Oktober 1924 482 R. Graham, Rom, an J. Ramsay MacDonald, Treasury London, October 3rd. 1924, Public Record Office London, FO 371 9656 02354 483 Die Banca Commerciale nur mit 20 Prozent interessiert, Die Stunde, 3. Oktober 1924; Castiglioni und die Depositenbank, Wiener Morgenzeitung, 3. Oktober 1924
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Adolfo Rossi schickte nun am 5. Oktober seinen juristischen Adjutanten, den Mailänder Anwalt Dr. Giussane, zurück nach Italien, um neue Instruktionen einzuholen. Bis dahin wurden keine größeren Zahlungen geleistet. Am 9. Oktober stellte Rossi einen ausführlichen Bericht in Aussicht und fuhr nach Mailand zurück, um wieder seinen alten Posten einzunehmen. Das wurde in Wien sofort als die Einstellung der Sanierungsaktion durch die Banca Commerciale gesehen.484 Dies entsprach tatsächlich der vorläufigen Haltung der italienischen Bank. Am 11. Oktober schickte die Banca Commerciale neuerlich eine Presseaussendung hinaus, in der sie feststellte, dass die Berichte der römischen Zeitungen völlig unfundiert waren. Die Bank stellte kategorisch fest, dass sie die Teilnahme an den Verhandlungen zur Regulierung der Angelegenheiten Castiglionis wegen der vielen Schwierigkeiten, zu einer günstigen Lösung zu kommen, aufgegeben habe; dass sie nur in eigenem Interesse gehandelt habe und lediglich Forderungen von 12 Millionen Lire aus vergangenen Geschäften und einer Quote von 20 % an den bereits geleisteten 16 Millionen Lire des Konsortiums übernommen habe, die durch gute Garantien abgesichert seien, die im Ernstfall mehr erlösen würden als die gegebene Summe; dass es absolut unwahr sei, dass Castiglioni Aktien der Banca Commerciale halte.485 Am 10. Oktober kam das Gerücht auf, dass Castiglioni am darauffolgenden Montag, dem 13. Oktober, ein Ausgleichsverfahren beantragen würde, da er die an diesem Tag fällige Schuld von 100.000 britischen Pfund an eine Wiener Großbank nicht bezahlen könne. Dies wurde sowohl von den Wiener Großbanken als auch von Castiglioni sofort dementiert. Die Ursache des Gerüchts war die Abreise Rossis, der nicht mehr nach Wien zurückkommen sollte. Allerdings habe Toeplitz selbst in Aussicht gestellt, in Wien die abschließenden Verhandlungen zu führen, sobald die Forderungen der Depositenbank geklärt waren.486 Die weitere Beteiligung der Banca Commerciale war unsicher, und erst zu realisieren, „wenn die Erpressungsversuche des Spiritusschwindlers August Lederer gebrandmarkt und die schwebenden Strafverfahren nach der einen oder anderen Seite entschieden werden“. Dafür sandte man Hofrat Frankfurter nach Mailand, um die Bank von der Unhaltbarkeit der Vorwürfe zu überzeugen und sie zur weiteren Teilnahme an der 484 Adolfo Rossi schickte nun am 5. Oktober seinen juristischen Adjutanten, den Mailänder Anwalt Dr. Giussane, zurück nach Italien, um neue Instruktionen einzuholen. Bis dahin wurden keine größeren Zahlungen geleistet. 485 R. Graham, Rome to J. Ramsay MacDonald, Treasury, Rome, 17th October, 1924, Public Record Office London, FO371 9656 02354. Castiglioni und die Banca Commerciale, Wiener Morgenzeitung, 14. Oktober 1924 486 Die Affäre Castiglioni, Wiener Morgenzeitung, 11. Oktober 1924
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Sanierung zu bewegen.487 Auch wollte die Banca Commerciale ihre Pfänder, vor allem das Palais und die Kunstsammlung, nicht mit den anderen Mitgliedern des Konsortiums teilen. Gewisse Sorgen hatte man in Prag, da Castiglioni nach wie vor Vizepräsident der Böhmischen Unionbank war. Die Bank wurde ständig von Journalisten und Kunden um Auskünfte bedrängt. „Da es bei der Böhmischen Unionbank althergebrachte Tradition ist, dass die Funktionäre ihrer Verwaltung keine größeren spekulativen Transaktionen mit der eigenen Bank abschließen, waren die geschäftlichen Beziehungen zwischen der Böhmischen Unionbank und ihrem eigenen Vizepräsidenten recht lose. Auch die persönlichen Beziehungen zwischen Castiglioni und den übrigen Verwaltungsräten waren nie besonders herzlich und bekanntlich kam es im Vorjahre zwischen Castiglioni und den Verwaltungsräten zu einem offenen Konflikt, weil sich Castiglioni die Genehmigung der Kreditgewährung persönlich vorbehalten wollte, eine Forderung, mit der er schließlich nicht durchgedrungen ist.“488 Castiglioni hatte aber seine Unionbank-Aktien schon im Juli 1924 an die Banca Commerciale verkauft und war lediglich als Vertreter der Italiener als Vizepräsident verblieben. In Prag wartete man daher ab, wie die Banca Commerciale weiter entscheiden würde. Mit dem gerichtlichen Ausgleich Castiglionis war mit einer Fortsetzung der Sanierung durch die ausländische Bankengruppe zu rechnen. Allerdings bestand das Sanierungskonsortium unter der Leitung der Banca Commerciale nicht mehr in seiner früheren Vollständigkeit. Zwei Syndikatsmitglieder hatten sich im Zusammenhang mit dem Depositen-Rummel zurückgezogen und nun musste der Ersatz für 500.000 britische Pfund gefunden werden. Verhandlungen in Berlin und London, wo die Firma Michael & Co. die fehlende Summe aufbringen sollte, waren gescheitert. Die Banca Commerciale versuchte, ein österreichisches Bankenkonsortium zu beteiligen, was auch von der österreichischen Regierung befürwortet wurde, und nahm entsprechende Verhandlungen auf. Zur Aufbringung der fehlenden 100 Milliarden Kronen sollte ein Konsortium gebildet werden, an dem sich das Dorotheum mit 30 Milliarden, die noch nicht befriedigten Gläubiger mit 20 Milliarden und die Banca Commerciale mit weiteren 50 Milliarden beteiligen sollte. Die Heranziehung des Dorotheums ging auf einen Vorschlag Siegmund Bosels zurück, da bei einer möglichen Verwertung der Kunstschätze Castiglionis das größte Auktionshaus Österreichs nicht ausgeschaltet werden sollte. Ein Scheitern der Sanierungsaktion durch das Ausland wurde in Österreich nicht unbedingt als negativ gesehen, da dann andere Interessenten vorhanden sein sollten. 487 Die Sanierung Camillo Castiglionis, Die Stunde, 31. Oktober 1924; Die Börse, 31. Oktober 1924 488 Freies Geleit für Castiglioni, Die Stunde, 2. Oktober 1924
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„Die österreichische Regierung würde es, wie wir erfahren, sehr gerne sehen, wenn die Banca Commerciale von einer inländischen Gruppe abgelöst werden könnte. Sie geht hiebei von der Erwägung aus, dass es Österreich nicht angenehm sein kann, dass eine italienische Großbank in alle wichtigen Industrien eindringt und dadurch hier zu einer wirtschaftlichen Machtposition gelangt.“489 In einer Sitzung der Wiener Banken, welche die Depositenbank überwachten, schlug die Creditanstalt vor, falls die Banca Commerciale aus der Sanierung aussteigen würde, dass die Wiener Großbanken „diese gewiss gewinnbringende Transaktion, die überdies eine Notwendigkeit für den Markt darstellt, durchführen sollen“.490 Die großen österreichischen Gläubiger, die Creditanstalt, Anglo-Bank und Niederösterreichische Escomptegesellschaft erklärten sich dazu bereit, da Castiglioni keinen Nachlass seiner Schulden forderte, sondern bereit war, diese vollständig und mit Zinsen zu bezahlen. Castiglioni wies darauf hin, dass den 100 Milliarden Schulden 170 Milliarden rasch einzubringende Forderungen gegenüberstanden, vor allem aus Deutschland, u. a. von der Cumberland-Vermögensverwaltung und BMW. An eine Verwertung seiner Kunstschätze sei nur gedacht, wenn die anderen finanziellen Eingänge nicht ausreichen sollten. Die Anglo-Bank, die von Castiglioni am meisten zu fordern hatte, erhielt durch die Prolongation ihrer Forderung volle Deckung, und die Unionbank, die noch einige Milliarden zu fordern hatte, war voll befriedigt worden. Mit zwei weiteren Hauptgläubigern, dem Amsterdamer Haus Mendelssohn und der Böhmischen Unionbank ,hatte sich Castiglioni direkt auseinandergesetzt. Sein Vermögen wurde auch unter Vorsorge für die Ansprüche aus dem Spiritusprozess immer noch mit 60 bis 70 Milliarden Kronen angesetzt.491 Seine Alpine-Aktien hatte er bereits Mitte 1924 abgegeben und die Banca Commerciale hatte seine Anteile bei der Ungarisch-Italienischen Bank und an der Foresta übernommen. Außerdem war er in Verhandlung wegen der Abstoßung der Allgemeinen Zeitungs-AG, für die sich ein Konsortium mit engen Beziehungen zur ungarischen Regierung interessierte.492 Dies betraf die „Wiener Allgemeine Zeitung“, das „Extrablatt“, das „6-Uhr-Blatt“ und die „Mittagszeitung“, die angeblich von der Ungarisch-amerikanischen Bank in Budapest übernommen worden waren.493 Zu seiner Sanierung bot Castiglioni noch andere Aktionen auf. „Der Vertreter eines der größten Kunsthändler-Konsortien der Welt ist nämlich gestern in Wien angekommen, 489 Man will Castiglioni etwas „aussa reiß’n“ ...!, Die Stunde, 5. Oktober 1024 490 Castiglioni vor einem Schiedsgericht, Die Stunde, 8. Oktober 1924 491 Der Fall Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 120 492 Die finanzielle Sanierung Castiglionis, Die Stunde, 15. Oktober 1924 493 Die Castiglioni Blätter, Wiener Morgenzeitung, 18. Oktober 1924
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um mit Castiglioni wegen eines eventuellen Erwerbs des Palais und seiner Kunstschätze zu konferieren.“494 Die Banca Commerciale hatte Castiglioni vor allem Zeit verschafft und seine Stellung gegenüber den österreichischen Gläubigern, der Justiz und der Regierung gestärkt. Sie selbst übernahm an sich nur seine ausländischen Beteiligungen, an denen sie in der Regel bereits interessiert war. Die inländischen Beteiligungen gingen so gut wie alle an die österreichischen Banken. Dabei gelang es ihm, seine Schulden zu nominal hundert Prozent abzutragen. Das Entgegenkommen der inländischen Gläubiger bestand darin, dass sie seine Aktien zu einem Kurs abnahmen, der dem herrschenden Börsenwert nicht mehr entsprach und den sie auch in der Zwischenkriegszeit vielfach nicht mehr erreichten. Neben diesem versteckten Zahlungsnachlass war noch erstaunlich, dass seine deutschen Beteiligungen nicht herangezogen wurden, die ab nun seine eigentliche Geschäftsbasis wurden. Castiglioni verhielt sich nach dieser existenziellen Krise nicht still und bescheiden, sondern trat als Sieger auf. Der Berliner „Zeitung am Mittag“ erklärte er zuversichtlich, dass er an eine Liquidation seiner Geschäfte überhaupt nicht denke und dass er auch nicht beabsichtige, weitere Kredite aufzunehmen, sondern dass er nach Abstoßung einzelner Werte sogar den noch bei der Banca Commerciale aufgenommenen Kredit in der Höhe von fünf Millionen Dollar zurückzuzahlen beabsichtige. Seine Aktiven übertreffen seine Passiven um 20 Millionen Dollar. Seine momentane Illiquidität sei überwunden. Er verfolge in Deutschland den Plan einer großzügigen neuen Gründung. Diese Meldung hatte aber für Heiterkeit gesorgt, denn wenige Tage später wurde bekannt, dass Castiglioni als Präsident und Verwaltungsrat der Alpine Montan ausgeschieden war. „Damit hat Castiglioni auch formell seinen wichtigsten, volkswirtschaftlich allein bedeutenden Posten geräumt.“495 Der Rücktritt war bereits im Oktober 1924 erfolgt, da die Alpine in den USA über eine Obligationsanleihe verhandelte und man konnte es nicht riskieren, mit einer Verwaltung vor das amerikanische Publikum zu treten, die von Castiglioni präsentiert wurde. Castiglioni hatte auch seine anderen wichtigen Verwaltungsratsstellen zurückgelegt, wie bei der Böhmischen Unionbank, der Ungarisch-Italienischen Bank und der Steweag.496 Die Wiener Morgenzeitung stellte sich jedoch voll auf seine Seite: „Aus all dem ist eines leicht zu ersehen, was genaue Kenner der Verhältnisse schon längst gewusst haben. Einer seiner schärfsten Gegner hat seinerzeit in einem auswärtigen Blatt erklärt, 494 Die finanzielle Sanierung Castiglionis, Die Stunde, 15. Oktober 1924 495 Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 203 496 Castiglionis Rücktritt, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 475
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Bild 40 „Arbeiter-Zeitung“, Wien, 29. Juni 1924
es sei unmöglich, dass Castiglioni tatsächlich zusammengebrochen sei, dass ihm in Wirklichkeit noch große Mittel zur Verfügung stehen und das Gerede über seine Verluste allzu übertrieben sei. Die versierten Finanzfachleute Wiens waren derselben Meinung, und dennoch der große Rummel, der die ganze Wirtschaft Österreichs in ihren Grundfesten zu erschüttern drohte, und die Spalten einer Unmasse von Zeitungen mit einer Unzahl von Artikeln füllte.“ Nach diesen Meldungen sollte er vor dem Nichts stehen. „Bei genauerer Überlegung muss man dazu kommen, dass eigentlich aus diesem ganzen Rummel ein einziger als Sieger hervorgegangen ist, nämlich Castiglioni selbst. Er hat sich als tüchtiger Kaufmann erwiesen und was andere als Zusammenbruch, als Flucht, als Windungen eines zum Tode Verletzten darstellten, war nichts anderes als ein geschickter Schachzug, um seine Geschäftsgegner mürbe zu machen ...
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Ein geschickter Kaufmann ist wie ein geschickter Feldherr. Er verdeckt seine Operationen bis zum letzten Moment, so dass nicht einmal der Eingeweihte daraus klug werden kann. Castiglioni hat gezeigt, dass er auch dies versteht.“ Was sich gerade bei den Depositenbankverhandlungen gezeigt habe. „Auf der einen Seite die Banken mit ihrem staatlichen Rüstzeug, mit angeblichen Forderungen auf 100 Milliarden, unterstützt von einem Buchhalter, der sich nicht von rein wirtschaftlichen, sondern von mehr banksadistischen Neigungen, vermengt mit parteipolitischen Phrasengedanken, leiten lässt, auf der anderen Seite der Kaufmann, der seine Gegner dazu zu bringen wusste, dass von dem Postulat von 100 Milliarden um 85 Prozent heruntergegangen wurde und dass man sich mit 15 Milliarden zufriedengab.“497 Für den „Österreichischen Volkswirt“ war es aber sehr bedenklich, wenn Castiglioni mit seinem verbliebenen Vermögen prahlte. Es könnten sich Stellen finden, welche die Ausgleichszahlung mit der Depositenbank infrage stellen könnten. „Denn mit dieser Bagatelle hat man sich nur abgefunden, weil Castiglioni unter viel Theaterlärm mit dem Zusammenbruch, Selbstmord und politischem Skandal drohte und so die Nerven seiner Vertragsgegner besiegte.“498
497 Das Ende des Castiglioni Rummels, Wiener Morgenzeitung, 14. November 1924 498 Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 203
Nachspiel Nachruf zu Lebzeiten Eine der markantesten Eigenschaften Castiglionis war, dass er niemals aufgab. Seine Rückschläge begannen bereits mit dem erzwungenen Ausscheiden aus der Depositenbank, dann kam die Unionbank, die Franc-Spekulation, die Forderungen der Depositenbank, der Spiritus-Prozess – und es ging in diesem Stil weiter. Einen Prozess konnte er zwar verhindern und sich mit den Anklägern ausgleichen, entsprechend seiner Überzeugung, dass man mit Geld alles kaufen kann. Auch seine Schulden konnte er weitgehend begleichen, auch wenn er einen großen Teil seines Vermögens und die Kunstschätze opfern musste. So war Castiglioni nicht bankrottgegangen, er war ein freier Mann und sah seine Krise als einen neuen Beginn an. Die österreichische Öffentlichkeit war da völlig anderer Meinung: Die Zeit Castiglionis war vorbei, der Mann war gesellschaftlich und wirtschaftlich erledigt. Man begann nun mit seinem Abgesang und damit, Bilanz zu ziehen, wie das sonst nur am Ende eines Lebens üblich ist. Dass dabei Emotionen eine Rolle spielten, lag auf der Hand. Camillo Castiglioni hatte in den 1930er-Jahren zweimal das Angebot des damals bekannten Schriftstellers Emil Ludwig abgelehnt, seine Memoiren zu schreiben.499 Dazu hatte er wohl gute Gründe. Sein Nachruf erschien aber bereits in den damaligen Zeitungen. So versuchte die „Neue Freie Presse“ eine Charakteristik Castiglionis: „Was ist dieser Mann, dessen Namen auf allen Lippen schwebt, woraus ist er gewachsen und welches sind die Triebfedern seiner Persönlichkeit, seines Erfolges und schließlich seines Niederganges?“ Um dann selbst die Antwort zu geben: „Denn zwei Elemente sind es, die in diesem merkwürdigen Charakter zusammen- und auch gegeneinander wirken: der Machtmensch und der Finanzmann. Er hat als ein Händler in höherem Sinne 499 Wolfgang Zorn, Unternehmer und Unternehmensverflechtungen in Bayern im 20. Jahrhundert, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, München 3/1979, S. 182
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des Wortes begonnen und dadurch seine Sporen auf dem Finanzmarkte erworben; aber immer heftiger regte sich der Wunsch nach Herrschaft, insbesondere nach industrieller Herrschaft, und immer schärfer wurde das Bedürfnis, hinauszuwachsen über seinen Ursprung. Der Machtmensch Castiglioni durfte Befriedigung schöpfen in der Verbindung mit Stinnes, mit diesem Gipfelriesen des industriellen Deutschland, der Machtmensch freute sich daran, Exponent des italienischen Kapitals zu sein ... Es war eine gewisse ursprüngliche und elementare Entladung in dieser fieberhaft Tag und Nacht dahinstürmenden Energie, die immer neue Kombinationen in Betracht zog, immer neue Maschen in das Netzwerk der Beziehungen zu flechten suchte, wobei freilich manchmal der Egoismus schroff hervortrat ... Der Finanzmann hat dem Machtmenschen den Todesstoß versetzt. Die verfehlte Einschätzung des französischen Francs musste Verluste schaffen, die nicht leicht hereingebracht werden konnten. Die riesigen Aktienpakete wurden unanbringlich, die Machtpolitik verhinderte die rechtzeitige Ausweitung und so trat jene schwere Krankheit der Immobilisierung ein, die wir bei so vielen anderen Finanzgrößen der Vergangenheit erlebt haben, die zu viel auf einmal wollten, im Jubelrausch des Erfolges dahintobten und nicht bemerkten, wenn der Boden unter ihren Füßen wankte, und die Machtpolitik zur Ohnmacht führte. Und da rundet sich der Kreis dieser Entwicklung. So wie die Katastrophe der Währung Castiglioni geholfen hat, so wurde ihm letzten Endes die Stabilisierung zum Schicksal. Denn die Stabilisierung, sie ist der unbarmherzige Richter für alle, die sich übernehmen, sie stürzt grausam nieder, was durch den holden Wahn einer Scheinprosperität emporgewirbelt wurde. Sich zu beschränken, den Moment zu erkennen, wo die Stunde des Büßens gekommen ist und der Selbstentäußerungen, wie wenige haben das getroffen und wie seltsam ist es zu sehen, dass niemand aus der Vergangenheit zu lernen vermag und dass die Tragödien immer die gleichen sind. Camillo Castiglioni ist gewiss noch nicht auf den finanziellen Friedhof zu werfen, aber sein Glanz ist verblasst und seine Größe ist vorüber. Der Abstieg hat begonnen.“500 Im Oktober 1924 wies „Der Österreichische Volkswirt“ darauf hin, dass bereits im Mai Strafanzeige gegen Castiglioni und Neumann wegen Betrugs und Veruntreuung und gegen Neumann noch zusätzlich wegen falscher Zeugenaussage erstattet worden war. Das war nun nichts Besonderes. „Es ist in den Monaten der Krise wiederholt vorgekommen, dass zweifelhafte Leute zweifelhaften Forderungen durch eine zweifelhafte Anzeige Nachdruck zu geben versuchten.“ In der Wiener Presse hatte das aber so gut wie keine Resonanz gefunden. „Will man ermessen, wie tief dieses Land gesunken ist, hier liegt ein Maßstab von unzweideutiger Verlässlichkeit vor. Aber es kam noch bes500 Der Abstieg Camillo Castiglionis. Versuch einer Charakteristik, Neue Freie Presse, 1. Oktober 1924
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ser. Woche auf Woche verstrich. Weder die Polizei, noch die Staatsanwaltschaft rührte sich, weder die Anzeiger, noch die Beschuldigten wurden einvernommen, obwohl man natürlich sehr wohl wusste, dass mit jedem Tag die Rechtsverfolgung gegen einen so gewandten und mächtigen Beschuldigten schwerer werden musste. Wohl aber erfuhr man, dass einflussreiche politische Persönlichkeiten, Parlamentarier, Diplomaten und Journalisten für Castiglioni aufs eifrigste bei den maßgebenden Stellen intervenierten. Wenige Wochen nach der Strafanzeige kam der Krach der Depositenbank, der erste große Bankzusammenbruch in Österreich seit 50 Jahren. Der Ruf nach den Schuldigen wurde auf allen Seiten laut. Aber er verstummte auch wieder mit einer nur in Österreich möglichen Schnelligkeit. Was bei der Depositenbank zum Vorschein kam, spottete jeder Beschreibung. Welche Zustände in einem Institut herrschten, das in wenigen Jahren zur Großbank geworden war, aber Jahrzehnte lang zu den solidesten, saubersten Instituten Wiens gehört hatte, erschütterte selbst diejenigen, die mit einem hohen Maß von Skepsis an die Prüfung der Dinge herangingen. Castiglioni gehörte nicht zu den letzten Machthabern der Bank. Aber das System, an dem die Bank zugrunde ging, das System der skrupellosen Bereicherung an den Geschäften der Bank auf Kosten der Aktionäre und Einleger war von ihm begründet worden, und die Männer, die die Bank bis in den Zusammenbruch führten, waren Castiglionis engste Mitarbeiter .... Was geschah nun? Machte die Geschäftsaufsicht die Strafanzeige? Wurden vielleicht die Großbanken, die einige hundert Milliarden eingebracht hatten, zu Hütern des Rechts? Keineswegs. Sie scheuten die Unannehmlichkeit des Streites, das Aufsehen, die Möglichkeit der Missdeutung, der sie sich aussetzen könnten. Man war ja mit Castiglioni in hundert Geschäften verbunden, man hatte, obwohl man die dunklen Ursprünge seines Vermögens und die ebenso dunklen Methoden seiner Erhaltung kannte, den glänzenden Gesellschaften in seinem Palais angehört, man hatte sich feig vor der Macht des Skrupellosen gebeugt, weil der Skrupellose in diesem Land noch stets eine Macht war ... Mit einer Arglosigkeit sondergleichen wurde noch in diesen Tagen erklärt, das strafgerichtliche Vorgehen gegen Castiglioni hätte doch nur den Zweck, den Gläubigern der Depositenbank eine Verbesserung ihrer Quote zu verschaffen ... Das Rechtsgefühl scheint eben in diesem Land so käuflich wie alle anderen Güter ... Man erwäge: Ein Mann von der Stellung Castiglionis lässt sich wegen Betrug und Veruntreuung anzeigen und verhandelt daraufhin mit dem Anzeiger und denen, die sich ihm anschließen könnten, über die Summe, für die die Anzeige zurückzuziehen wäre.“ Dass es vorerst nicht dazu kam, war das erste Zeichen von Castiglionis finanzieller Schwäche. Er konnte die Summen nicht mehr zahlen, die das beleidigte Rechtsgefühl seiner Gläubiger beruhigt hätte. Erst vier Monate nach der Anzeige erfolgten die ersten gerichtlichen Schritte. „Ein gewissenhafter Untersuchungsrichter setzte sich in die Bank, um an Ort und Stelle die
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Akten zu prüfen, und forderte endlich vom Anzeiger die Beweisstücke ein. Nun wurde die Sache ernst. Tausende Schwierigkeiten waren dem Untersuchungsrichter in den Weg gelegt worden. Da kam der Einbruch in sein Zimmer, die Verschleppung der Aktenfaszikel. Und nun musste man wohl einschreiten. Aber verhaftete man jetzt Castiglioni? Keineswegs. Man ließ ihn vorladen.“ Und da er davon vorher Wind bekommen hatte, verschwand er aus Wien, ebenso wie Goldstein und Neumann, die mit Haftbefehl gesucht wurden. „Aber Neumann ist nur Angestellter, er ist keine politische Macht, folglich kann man die ganze Justizmaschine gegen ihn in Bewegung setzen. Camillo Castiglioni aber ist der große Herr, hier heißt es also mit Schonung und Rücksicht vorzugehen. Das ist ja alles so klar, so selbstverständlich, das muss doch – nicht wahr? – dem Dümmsten einleuchten ...“ Man rechtfertigte sich damit, dass Castiglionis Zusammenbruch die österreichische Wirtschaft schädigen würde. „Nun, eine dreistere Lüge ist wohl noch nie erfunden worden als die, dass Castiglionis Verfolgung irgendwie die Interessen der österreichischen Wirtschaft im ganzen oder die einzelner namhafter Unternehmen im besonderen berühren könnte. Eine schamlosere Erpressung an der Öffentlichkeit ist noch nie versucht worden als mit der Behauptung, man dürfe Castiglioni nicht verfolgen, weil sonst Riesenverluste für die österreichische Wirtschaft damit verbunden wären.“ Die Zeitungen veröffentlichten auf Information von Castiglioni selbst brav die Liste der Gesellschaften, deren Verwaltungsrat er angehörte. „Aber keine einzige von diesen Gesellschaften ist vom Fall Castiglionis irgendwie berührt, denn Castiglioni war keine Bank und er war niemals in der Lage, den Unternehmungen seines Konzerns Kredite zu geben. Ihre Finanzierung besorgten Großbanken, mit denen Castiglioni bloß das Aktiensyndikat verbindet.“ Seine Aktien und Syndikatsbeteiligungen waren aber seither entweder verkauft oder verpfändet worden. „Wie Castiglioni in die schwierige finanzielle Lage geraten ist, die ihn im besten Fall zu stiller Liquidation mit Hilfe der Banca Commerciale zwingt, ist vorläufig noch undurchsichtig. Noch vor einigen Monaten hat dieser Turm für unerschütterlich gegolten. Aber man hat die geschäftliche Klugheit dieser neuen Reichen, die dem Volk von einer käuflichen Presse immer mit einem Märchenschimmer dargestellt wurden, allgemein maßlos überschätzt. Castiglionis Vermögen ist durch rücksichtsloseste Ausnützung der Inflation entstanden. Der Schmuggel von Mark und Kronen in das Ausland wurde nach dem Umsturz in größtem Maße betrieben, ob der Behälter dafür eine Thermosflasche oder der berühmte Segré-Zug war, in dem in der Zeit des äußersten Elends dieses Landes italienische Werte in ihre Heimat befördert wurden. Es kamen die Jahre der märchenhaften Umwertungen, in denen die Aktienkurse auf das 100-, 1.000-, 10.000fache stiegen, in denen es genügte, Schulden einige Monate laufen zu lassen, um
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sie durch Entwertung faktisch abzuwälzen. Es kamen die Jahre des allgemeinen Bezugrechtraubes, in denen sich Mehrheitssyndikate das Eigentum der Aktionäre aneigneten, Aktien vorgeben und aus nachträglich ausgegebenen Syndikatsstücken liefern konnten, die Zeit des staatlich gebundenen Außenhandels, in dem Geschäfte wie die des SpiritusExport-Syndikats in der Tschechoslowakei möglich wurden. Castiglioni kaufte alles. Und mit dem Tempo der Inflation wuchs das Tempo seines Vermögensumsatzes, wuchs die Möglichkeit, den Aktionsradius ständig zu erweitern. Das erste Jahr der stabilen Währung, das Jahr 1923, brachte Castiglioni auf den Höhepunkt seiner Macht. Die ungeheueren Effektenmaßen, die er fast umsonst angehäuft hatte, stiegen in Gold auf das Drei-, Fünf-, Zehnfache und im selben Verhältnis Castiglionis Vermögen.“ Dass er 1922 aus der Depositenbank und 1923 aus der Unionbank verdrängt wurde, sollte ihn vorläufig nicht stören, denn er hatte international aufgrund seiner Beziehungen Kredit. Dieses Beziehungsgeflecht war es, was ihn in die Verwaltungsräte so vieler Unternehmen brachte. „Nirgends kraft eigener Macht, überall im Grunde nur geduldet oder als Instrument anderer Kapitalgruppen ... Aber parallel damit ging der Ausbau seiner politischen Macht. Dass in Wien allein unmittelbar fünf Zeitungen seinem Wink gehorchten und mittelbar fast die ganze Tagespresse mindestens – gelinde gesagt – wohlwollende Neutralität übte und seinen geschäftlichen Nimbus verklärte, dass in seinem Hause Minister und Parlamentarier verkehrten, der Bundespräsident auf Anraten der Regierung seine Einladung annahm, dass der italienische Gesandte wie der Generalkommissär des Völkerbundes Castiglionis Gäste waren und Dr. Rintelen, der mächtige christlichsoziale Landeshauptmann der Steiermark, zu jedem Dienst bereit schien – das gab Castiglioni, dem Ausländer, eine Stellung, die die österreichische Demokratie zur Farce machte, gut genug zum Gegenstand feierlicher Deklamationen von Parteipolitikern bei Festen. Gestützt auf die Presse und die regierende Partei im Inland, auf die diplomatische Unterstützung Italiens und die finanzielle der Banca Commerciale im Süden, auf die Beziehung zu Stinnes im Westen, zur Böhmischen Union Bank im Norden – erschien Castiglioni eine Zeitlang in der Attitüde des Herrn von Mitteleuropa ... Castiglioni hat nicht rechtzeitig halt gemacht. Als im Herbst 1923 die Börsenkonjunktur abriss und der Niedergang begann, versäumte er die rechtzeitige Liquidation. Er war durch Schulden groß geworden und dachte nicht daran, dass man an Schulden auch zugrunde gehen könne ... Das Aktienvermögen, das seinen Wert jahrelang von Monat zu Monat vervielfachte, schmolz von Monat zu Monat in seinem Wert zusammen und die Schuldenlast, die früher die Inflation immer wieder hinwegblies, wuchs durch Zinsen zu immer drückenderer Schwere an.“ Im Frühjahr 1924 schien der Niedergang des französischen Francs der Ausweg zu sein. „Castiglioni gehörte zu denje-
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nigen, die in die Franckontermine am stärksten verstrickt waren, und er konnte diese ungeheueren Baisseengagements anhäufen, weil er, wie vielleicht kein zweiter Finanzier in Mitteleuropa, über internationalen Kredit verfügte, der gerade zu diesen Geschäften notwendig war. Die Francspekulation schlug fehl und nun gab es keinen Ausweg mehr.“ Nun war er auf Gnade und Ungnade der Hilfe der Banca Commerciale angewiesen. „Mit deren Generaldirektor Toeplitz verbinden ihn seit Jahren Beziehungen, nicht nur geschäftlicher Art.“ Die Bank versuchte damit, in alle österreichischen wirtschaftlichen Stellungen in Österreich einzudringen. Zudem betrafen Castiglionis Schulden kaum Österreich. „Die großen Gläubiger Castiglionis sitzen in Paris, in Mailand und wahrscheinlich auch in Berlin ... so sieht die nüchterne Wirklichkeit aus. Der Fall Castiglioni ist als finanzielles Entwicklungssymptom von größtem Interesse, aber für den Kredit der österreichischen Wirtschaft ohne Belang. Der Kriminalfall Castiglioni jedoch kann zum Grab der österreichischen Demokratie werden.“ 501 „Der Abend“ schrieb: „Es ist nicht das erste Mal, dass Camillo Castiglioni auf seiner Lebensbahn an eine abschüssige Stelle gekommen ist. Man kennt ihn in Wien seit mindestens zwanzig Jahren, und während dieser Zeit hat ihn die Gesellschaft, in der er verkehrt, wiederholt ‚oben‘ und auch ‚unten‘ gesehen. Sein geradezu unermesslicher Reichtum hat ihn zu einem förmlichen Götzen des Wiener Bürgertums gestempelt. Alle krochen vor ihm, beteten sein Geld und seine Macht an. Was er wollte, das konnte er haben. Man verkaufte ihm alles: Frauen, Männer, Geschäfte, Zeitungen, Beamte, Diplomaten, Minister, und das alles nicht nur in Österreich, sondern überall, wohin er kam, in Österreich, in Deutschland, in Italien. Er brauchte nur die Hand auszustrecken. Kein Wunder, dass der Mann von einem seltenen Machtgefühl besessen war, und sich zum Schluss nicht nur für einen sehr reichen Mann, sondern auch für ein Genie hielt, prahlerisch selbst von seiner Genialität sprach, sich selbst mit einem Cäsar verglich, in seinem Haushalt ein strenges Zeremoniell aufrichtete. Es wird erzählt, dass nicht einmal sein Bruder unangemeldet bei ihm eintreten durfte ... Camillo Castiglioni wollte nicht nur mächtig auf dem Finanzmarkte sein, er wollte auch in der Politik eine Rolle spielen und als Mäzen der Literatur und der Kunst gelten ... Geradezu versessen war er darauf, als Freund von Ministern oder Staatspräsidenten zu gelten. Er hat einem Vermittler, der ihm eine Unterredung mit dem Präsidenten Masaryk verschaffte, mit schweren Millionen bezahlt502 und es sich jedes Opfer kosten lassen, Herrn Mussolini zu Diensten zu sein .... Als er vor etwa zwanzig Jahren nach Wien kam, hatte er bald heraus, worauf es in 501 Der Fall Castiglioni, Der Österreichische Volkswirt, 1924/5, S. 17–21 502 Die Bezahlung wurde von der Kanzlei des Präsidenten dementiert.
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Wien ankam Er suchte und sammelte Beziehungen, und zwar just dort, wo es im alten Österreich am lohnendsten war, in den Nachtlokalen des Bürgertums, der Aristokratie. Damals tauchte im Tabarin unter den gräflichen Lumperln, Generalstäblern und Geldmenschen ein Unbekannter von gelber Gesichtsfarbe und abstoßender Hässlichkeit auf, mit dickwulstigen Lippen und pechschwarzen Drahthaaren. Wäre nicht sein Dialekt ganz unzweifelhaft gewesen (er stammte aus Triest), so hätte ihn niemand für einen Italiener gehalten, sondern eher für eine Kreuzung zwischen Juden und Zigeunern. Es hieß schon damals, dass er seine kostspielige Lebensführung mit geborgtem Gelde bestreitet. Der Sitte, mit fremdem Geld zu arbeiten, ist er Zeit seines Lebens treu geblieben. Er war Vertreter in Gummiwaren und brachte es schließlich zum kommerziellen Direktor der Semperit-Gummifabrik. Dabei war er immer Börsenspieler und immer hatte er Börsenschulden ... Es ist festzustellen, dass Camillo Castiglioni schon damals als ein sehr geschäftstüchtiger Mann galt. Aber trotzdem hatte man nicht gerne mit ihm zu tun. Was sich später bei ihm bis zur höchsten Steigerung entwickelte: räuberisches Draufgehen, Brutalität, Unzuverlässigkeit, das war schon damals in den Anfängen vorhanden. Die ihn genauer kannten, hielten ihn für einen unsicheren Kantonisten, und so kam es, dass der Wiener Bankverein energisch Einspruch erhob, als Camillo Castiglioni Generaldirektor der Gummifabrik werden sollte ... Das war im Jahre 1913. Castiglioni sah sich nach lohnenderen Beschäftigungen um, als es der Gummihandel war, und da sich gerade zu dieser Zeit der Gesellschaftskreis, dem er angehörte, sehr mit den Fortschritten auf dem Gebiete der Flugtechnik befasste, wendete sich Camillo Castiglioni dem Aeroplanbau zu. Er hat sich hier versucht, und zwar mit durchschlagendem Misserfolg. Er baute auf eigene Kosten einen Apparat, der glänzend aussah, aber die fatale Eigenschaft hatte, dass er nicht fliegen wollte. Und wenn er flog, dann geschah regelmäßig ein Unglück. Entweder im Motor oder im Holz, oder an der Leinwand. Irgend etwas gab es immer ... Aber dann kam alles ganz anders. Dann kam die große Zeit, in der die anständigen Menschen zugrunde gingen, die Castiglionis aber Triumphe feierten. Sein Weg war im buchstäblichen Sinn des Wortes mit Leichen gepflastert. Er blieb den Flugzeugen treu. Er baute bei Kriegsbeginn ein Marineflugzeug, an dem nur eines echt war, die zwei ‚C.C.‘ (Camillo Castiglioni), die auf den unteren Tragflächen aufgeschmiert waren, sonst war an diesen Apparaten nichts in Ordnung. Mehrere Flieger haben sich bei Aufstiegen mit diesen Apparaten den Hals gebrochen. Jedes Mal riss oder versagte etwas. Und doch wurden diese Apparate von der Heeresverwaltung abgenommen. Bis eines Tages der Übernahmsoffizier Knall und Fall pensioniert wurde ... Die deutsche Heeresverwaltung rückte ihm auf die Bude. Sie kam ihm bald auf seine Schliche bei der Erzeugung und seiner Preistreiberei.
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Im Jahr 1917 kam Castiglioni zunächst als Vizepräsident und dann als Präsident in die Depositenbank ... Nach dem Zusammenbruch begann er wie ein Raubtier zu wüten. Er erklärte sich als italienischer Staatsbürger, knüpfte Beziehungen zum Chef der italienischen Militärmission Segré an, und schob und schob und schob. Mit Hilfe von italienischem Geld, das er sich zu beschaffen wusste, verlege er sich auf eine großzügige Einfuhrtätigkeit, dann auf den Aktienhandel und zum Schluss auf die Spekulation gegen die Krone ... Er war von den Kronezertrümmerern der größte. Nach und nach hat er mit dem vielen durch Kriegslieferungen und die Kronespekulation erworbenen Gelde riesige Industrien an sich gebracht ... Und immer wollte er als der große, alles befruchtende Industrieherr gelten. Das war natürlich Bluff. Den wirklichen Industrieführer, der heute in Holz, morgen in Auto, übermorgen in Stahl arbeitet, vorgestern in Salamieeinfuhr, vorvorgestern in Aeroplane und Gummi, den hat es nie gegeben, den wird es nie geben. Nur der Finanzschieber, der Börsenmensch kann solche Industrien in seiner Hand vereinigen. Für ihn ist eine Aktie wie die andere, ob sie auf Gold oder Abortdeckel lautet ist gleichgültig. Maßgebend ist für ihn die Operation an der Börse. Das Österreich der Nachkriegszeit hat fast durchwegs solche Börsenschieber hervorgebracht und leider keinen einzigen neuen wirklichen Industriemenschen ... Man hat mit ihren Aktien geschoben und dabei vergessen, dass hinter ihnen Maschinen, Gebäude, Techniker, Arbeiter stehen. Weil man sie vergessen hat, sind sie verfallen wie die Alpine, sind rückständig, nicht wettbewerbsfähig, weil ihre Anlagen nicht erneuert wurden. Wenn diese Finanzschieber nur dieses eine Verbrechen auf dem Gewissen hätten, es würde genügen, sie für jede Strafe reif zu machen.“503 Und in „Der Morgen“ stand: „Als Castiglioni hat er begonnen, zum Castigliardi und Castibillioni hat ihn die Phantasie der Massen gehoben, und als einfacher Castiglioni ist er von Triest nach Wien zurückgekehrt ... Castiglioni hat im Jahr 1924 zum Jahr 1914 zurückgefunden ... Man kann Erscheinungen wie Castiglioni nur auf dem Hintergrund ihrer Zeit verstehen. Die Wirtschaft brauchte in den Jahren 1914 bis 1922 die großen Faiseure, sonst wären sie niemals entstanden, hätte sich nicht üppig entwickelt und hätten nie eine gewaltige Macht in ihren Händen vereinigt. Der Krieg hat – und dessen vergisst man oft – auch das kaufmännische Leben revolutioniert ... Man musste die Schlupfwinkel entdecken, in denen Rohstoffe aufgespeichert waren, man musste Schmuggelstraßen anlegen, man musste das neutrale Ausland überlisten, man musste Industrien aus dem Boden stampfen und man durfte nicht kleinlich sein, nicht mit dem Pfennig rechnen ... Wer kann es leugnen, dass acht Jahre Tod und Ungewissheit nur neue Männer ohne Vergangenheit und Vorurteil zu meistern vermochten? Und die503 Die Laufbahn Camillo Castiglionis, Der Abend, 30. September 1924
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se neuen Männer, sie waren durchwegs eine Kreuzung eines Geschäftsreisenden mit einem Genie und einem Condottieri. Man wird Castiglioni nur gerecht, wenn man ihn nicht als Industriellen, als Finanzier, als Mäzen, als Kunstsammler oder gar als Beschuldigten betrachtet, sondern man muss sein Wesen, seine Begabung, eine Verirrung auf ihre Urform reduzieren. Casti glioni war eigentlich nur der hervorragendste Akquisiteur, der unermüdliche Vermittler, er war der ewige Nomade, den das kleine Volk der braven Sesshaften darum stets mit falschen Maßen misst. Castiglioni hat im Krieg Ersatzstoffe aufgespürt, er hat der Heeresverwaltung seine Flugschiffe aufgeschwätzt, er hat die Interessensgemeinschaft der Automobilfabriken geschaffen und er hat auch nach dem Kriege ununterbrochen gekauft und verkauft, Aktienpakete gegen Aktienpakete getauscht, einen Syndikatsvertrag durch den anderen ablösen lassen und er herrschte überall und nirgends ... Jede Zeit hat die Castiglionis, die sie verdient. Eine Zeit der Nüchternheit und der ruhigen Entwicklung benützt die Castiglionis als Entdecker neuer Absatzmöglichkeiten, als Bringer neuer Geschäfte, als Entwerfer neuer Kombinationen, und umgekehrt, die Castiglionis benützten eine aus den Fugen geratene Zeit, indem sie diese für sich arbeiten lassen, während sie selbst spekulieren. Man hat Castiglioni während seiner Glücksperiode oft mit Napoleon verglichen, dem er auch äußerlich ähnelt ... Aber alle Parallelen hinken und jedes Pathos ist ungerecht. Castiglioni ist nicht besser und nicht schlechter als das wirkliche Leben, und auf ihn passt, wie auf so viele, das tiefe Wort Grillparzers: ‚Ihn hob, ihn trug und ihn verdarb die Zeit.‘“504 Dann die „Neue Wirtschaft“: „Wenn ein Großer wankt, vor dem in der Zeit seiner Macht viele gebuckelt haben, hat die Schadenfreude gute Zeiten. Das mag vielleicht auch an anderen Orten der Fall sein, nirgends ist jedoch der Chorus der Kleinen, die sich über das Missgeschick eines Großen freuen, so laut, wie gerade in Wien, der Stadt, die große Persönlichkeiten von eigenem Zuschnitt nur unwillig verträgt, eine besondere Liebe für glatte, gefällige Mittelmäßigkeiten hat und deshalb in allen Berufen den biegsamen, nach allen Seiten geschmeidigen Präsidialistentypus besonders kultiviert, der ein Wiener Produkt ist. Man mag über Camillo Castiglioni denken, wie man wolle, sicher ist, dass er im Guten wie im Bösen eine der größten Erscheinungen der letzten Wiener Jahre gewesen ist, nicht nur, weil sein Wirkungskreis sich weit über Österreich hinaus erstreckt hat, weil er in ganz Europa als eine der führenden Persönlichkeiten der Nachkriegszeit betrachtet wurde, sondern auch, weil in dem Manne eine ungewöhnliche Kraft steckt, die vermutlich auf anderen Lebensgebieten sich ebenso zur Geltung gebracht hätte, wie auf wirtschaftlichem Gebiet. Es sind viele in der Inflationszeit mit 504 E.E., Die Zeit und die Castiglionis, Der Morgen, 6. Oktober 1924
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denselben Methoden, wie Castiglioni, reich geworden, haben durch Baissespekulationen Milliarden verdient, haben Palais, Villen, Schmuck gekauft, Gobelins und Kunstwerke gesammelt, und doch hat es unter diesen vielen Nutznießern der Inflationskonjunktur nur einen einzigen Camillo Castiglioni gegeben. Ein Mann, der ein Begriff, ein Repräsentant seiner Zeit geworden ist, ein Mythos, der die Phantasie der Zeitgenossen nicht nur in Wien, sondern auch in anderen Weltstädten beschäftigt und das Interesse auf sich gezogen hat. Nur einem Mann, der eine Kraftsumme ist, kann dies gelingen. Jetzt singt freilich die Wiener Schadenfreude das Lied: ‚Wärst net aufig’stieg’n, wärst net abig’fallen.‘ Und ist in ihrer albernen Beschränktheit glücklich darüber, dass ein Mächtiger gestürzt ist, der im Wiener Leben, nicht nur im wirtschaftlichen und finanziellen, auch im künstlerischen und gesellschaftlichen Leben Wiens etwas bedeutet hat, was nicht durch einen anderen ersetzt werden kann. Es ist gar kein Zweifel darüber möglich, dass durch das Kesseltreiben Castiglioni nicht nur die finanzielle Stärke des verarmten Wien Schaden gelitten hat, sondern auch der künstlerische und gesellschaftliche Reichtum, der zum Bild einer Weltstadt gehört. Denn die Kraft, ein Mittelpunkt zu sein, der (nebst unzähligen Parasitenscharen) auch wertvolle Kräfte sammelt, hat Camillo Castiglioni besessen. Ein Mann von so vielen Talenten ist nicht leicht zu ersetzen. Er war nicht nur eine Geldkassa und eine Summe von Bankkonti, sondern darüber hinaus eine Persönlichkeit, eine Kraftmasse, und das hat ihm die Wiener Schadenfreude schwerer verziehen, als zweifelhafte Geschäfte, über die sie sich zu entrüsten vorgibt. Nichts Verächtlicheres, als wenn sich Schadenfreude mit Moral drapiert. Ich weiß nicht, was Moral mit dem Erwerb von Riesenvermögen zu tun haben soll, denn seitdem es Riesenvermögen gibt, sind sie in aller Welt und in allen Zeiten durch eine bedenkenlose Ausnutzung von Konjunkturen, durch Gewalt und List entstanden.“505 1925 widmete Felix Pinner in seinem Buch „Deutsche Wirtschaftsführer“ auch Camillo Castiglioni ein Kapitel.506 Danach würden es spätere Generationen unverständlich, ja märchenhaft finden, dass „auch das kleine, bei der großen Länderzerschneidung substanzleer zurückgelassene Österreich“ eine ganze Reihe neuer Finanzund Wirtschaftsgrößen hervorgebracht hatte. Männer, die einen riesigen Reichtum anhäufen konnten, inmitten der Leere und Verödung ihrer Volkswirtschaft. Zukünftige Geschlechter hatten es schwer, dieses widernatürliche Phänomen zu verstehen. „Wir aber, die wir uns daran gewöhnt haben, ‚verkehrt zu stehen‘, halten das Alles für natürlich. Wir haben gelernt, wie Geldentwertung wirkt, wie sie genutzt werden kann ... und 505 Prof. Dr. Max Graf, Schadenfreude, Die Neue Wirtschaft, 9. Oktober 1924 506 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 279 ff.
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es sind uns sogar Volkswirte erstanden, die das Walten und Raffen der Inflationskönige noch als Glück im Unglück der Überkonsumption, des Zehrens von der Substanz preisen.“ Es sei eine neue Form der Kapitalakkumulation, entsprechend der marxistischen Konzentrationstheorie, ein „Marxismus für Milliardäre“. 507 „Er sammelte Fabriken, Landgüter, Wälder, Immobilien und Mobilien wie andere Leute seltene Briefmarken. Industrielle Unternehmen setzten eine Akkumulation von Kapital voraus. Castiglioni akkumulierte und akkumulierte, als hätte Marx seine weltberühmte Formel: ‚Akkumuliert, akkumuliert, das ist das Gesetz und die Propheten!‘ eigens für seinen Konzern erfunden.“508 Camillo Castiglioni wäre ohne die wirtschaftlichen Umwälzungen des Krieges „nach ruhmlosem Leben ruhmlos, mäßig begütert oder vielleicht auch mäßig bankrott gestorben“. So aber war er der Mann, die Zeit der wirtschaftlichen Umwälzungen zu nutzen. „Es war die Dauerkonjunktur für die geistig und moralisch Hemmungslosen ... Wie Stinnes in Deutschland, war Castiglioni in Österreich einer der Ersten, die das Gesetz der Geldentwertung begriffen hatten und an seine langfristige Wirkung glaubten. Er raffte Sachwerte zusammen und zahlte unbedenklich die höchsten Preise, denn er war felsenfest davon überzeugt, dass auch die höchsten Preise in wenigen Monaten durch die Geldentwertung zu Spottpreisen geworden sein würden. Und seine Käufe finanzierte er dadurch, dass er Kronenschulden aufnahm, je mehr, desto besser, denn er glaubte, dass nach eben diesem Gesetz der Geldentwertung die Kronenschulden in demselben Grade zusammenschrumpfen würden, wie die Sachpreise stiegen. So verdiente er an der Geldentwertung doppelt ... Das Disponieren und Jonglieren mit dem Gelde ist es ja, worauf es in Zeiten großer Geldwertveränderungen in erster Linie ankommt. Deshalb sind die Matadore solcher Epochen nicht die industriell stabilen Naturen, sondern die fluktuierenden Finanzkünstler. Dieser Castiglioni, der ein wirtschaftlicher Emporkömmling und großer Faiseur ist, der, weniger aus Kunstliebe als aus Geschäftsprinzip, gewaltige Kunstschätze als eine besondere Spezies von Sachwerten um sich häuft, aber auch ohne Geschäftsabsicht der Wissenschaft, dem Theater, der Wohlfahrtspflege große Mittel zur Verfügung gestellt hat – dieser Castiglioni gehört zweifellos zu den reinsten Exemplaren des Typus Geldentwertungskünstler. Mit moralischen Werturteilen kann man solchen Erscheinungen nicht beikommen. Die Zeit hat sie geboren. Eine andere Zeit wird sie wieder zum Verschwinden bringen, wenn sie nicht verstehen sollten, in der nächsten Generation aus 507 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 285 508 Max Schäfer, a.a.O., S. 297
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Abenteurern Sesshafte, aus Kapitalzersetzern Kapitalbildner zu werden.“509 Und in der „Weltbühne“ ergänzte Felix Pinner: „Die österreichischen Inflationskönige haben in der Stabilisierungsperiode fast alle nicht standgehalten ... Castiglioni, der in Österreich die weitaus stärkste Substanz-Expansion während der Inflationsperiode getrieben hatte, geriet in diese Stabilisierungskrise mit nicht genügend konsolidiertem Besitz. Er hatte als Inflationsinteressent den Rausch der Substanzzusammenhäufung in vollen Zügen genossen und die Kunst der Retardation und Konsolidierung nie geübt. Er verstand darum auch nichts von ihr, als es oberstes, höchstes Ziel geworden war, sie anzuwenden ... Castiglioni ist übrigens, wenn man so sagen darf, seinen Gläubigern als aufrechter Charakter entgegengetreten, hat nur Aufschub, keinen Nachlass verlangt und es sieht so aus, als ob er aus seinen Schwierigkeiten kein Geschäft machen wollte. Die Durchführung des Sanierungswerks zeigt vielleicht noch mehr als die inflationistische Konzentrationspolitik, dass doch an diesem Manne ‚etwas dran war‘. Aber auch er wird, wie sein Konkurrent Bosel, ein paar Pflöcke zurückstecken müssen.“510 Paul Szende stellte in „Arbeit und Wirtschaft“ Camillo Castiglioni als ein Lehr- und Lesestück für die Jugend dar. Nach ihm war Castiglioni das Sinnbild seines Zeitalters, sein Werdegang zeigte ohne Umschweife die Quellen des Reichtums und den Werdegang der Macht. „Jeder Österreicher, selbst der Ärmste der Ärmsten, kann sich rühmen, zum Emporkommen Castiglionis sein Scherflein beigetragen zu haben.“ An erster Stelle stand der Kriegsgewinner. „Im Weltkrieg spaltete sich die Bevölkerung in zwei Gruppen: die einen brachten die Blutopfer und darbten, die anderen heimsten Gewinne ein ... Das schreiendste Beispiel war der Aufstieg Castiglionis. Vor dem Kriege noch ein unbedeutender Automobilagent, beim Friedensschluss bereits der größte Kriegsgewinnler, sein Namen in aller Welt Munde, sein Ruhm an allen Ecken verkündet.“ Dann warf ihm Szende dessen „Doppelvaterland“ vor: „Castiglioni war österreichischer Staatsbürger, nach dem Umsturz blieb er weiter in Wien, hier war sein Sitz, sein Palast, sein Hauptbetätigungsfeld. Er ließ aber das österreichische Vaterland in seiner höchsten Not im Stiche, ward blitzschnell italienischer Staatsbürger, eingedenk dessen, dass er als Sohn eines Triester Rabbiners geboren wurde. Österreich war ein besiegtes Land, dem Reparationsleistungen drohten, es ist nicht rentabel, ein besiegtes Vaterland zu haben. Doch blieb er weiter in Wien, weil ein besiegtes, wehrloses Land leichter ausgeplündert werden kann. Es ist sehr einträglich, in einem besiegten Land seinen Sitz zu haben. Kommt in Wien eine Vermögensabgabe, dann ist er ein Italiener, will Italien höhere Steuern 509 Felix Pinner (Frank Fassland), Deutsche Wirtschaftsführer, Verlag die Weltbühne, Charlottenburg 1925, S. 285 510 Felix Pinner (Frank Fassland), Castiglionis Abgang, Die Weltbühne, 10. Februar 1925
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einführen, wohnt er doch in Wien ... Ein solches Doppelvaterland ist eine wunderbare Schaukel, man kann das Vermögen je nach den Steuergefahren und Devisenvorschriften unauffällig hin und her schieben.“ Die Italiener machten ihm auch nicht zum Vorwurf, dass er während des Krieges an Österreich Flugzeuge geliefert hatte, welche italienische Soldaten töteten. Sie zeichneten ihn sogar mit einem Orden aus: „Kriegsgewinnler aller Länder, vereinigt euch!“ Danach wurde er zum Helden der Inflation. „Es wurde Sturm gegen die österreichische Krone geblasen, der Stabstrompeter war Castiglioni. Die Krone fiel, die Preise schnellten empor, der Reallohn sank, die Arbeiterschaft darbte, der Mittelstand kam unter die Räder, Castiglioni und seine Mitkämpfer aber kauften in wilder Hast Effekten, Häuser, Fabriken, Kunstschätze und fremde Valuten auf. Der Züricher Devisenkurs, der den katastrophalen Fall der Krone verzeichnete, ward zum Barometer seines Reichtums; je schlechter es Österreich erging, desto mehr gedieh er.“ Die Basis von dem allen war Korruption. „Das Geheimnis des erfolgreichen Kriegsgewinnlers bestand darin, dass er mit unfehlbarer Treffsicherheit den käuflichen Charakter in der Militär- und Zivilverwaltung ausfindig machte. Castiglioni besaß auch diesen Stein der Weisen, da er wusste, wer nimmt und wer nicht nimmt. Zugleich arbeitete er mit unfehlbaren Methoden darauf, dass die Zahl der letzteren ständig abnehme ... Je tiefer der Geldwert sank, desto wohlfeiler wurde das einträglichste aller Geschäfte: der Ankauf von Seelen, Krieg und Inflation leisteten Zutreiberdienste, die Castiglionis spannten die Netze aus, die Opfer fielen betäubt hinein.“ Die Presse sang entweder den Ruhm Castiglionis oder breitete wohlwollend den Schleier der Verschwiegenheit über seine Geschäfte. „Wie ein Souverän stellte er ein eigenes Pressebüro auf und verhandelte mit den großen Presseorganen von Macht zu Macht.“ Dabei war Castiglioni ein Scharfmacher von großem Format. „... machte für Mussolini überschwänglich Reklame, begeisterte sich für Horthy, seine Presse unterhielt eine wüste Hetze gegen die Arbeiterschaft, die sozialdemokratische Partei und besonders gegen die Gemeinde Wien.“ Für Szende ging dabei das jüdische Kapital sogar eine Verbindung mit dem Antisemitismus ein. „Je stärker in einem Land der Antisemitismus ist, desto besser geht es dort der Hochfinanz. ‚Lieber einen kleinen Pogrom als eine große Vermögensabgabe‘, ward das neue Sammel- und Kampfwort der Hochfinanz und dies umso mehr, weil sich dieser Pogrom nur gegen arme Juden, gegen Studenten und Touristen richtet, die reichen Juden aber mit einer peinlichen Genauigkeit schont. Der feurigste Verfechter und Anhänger dieses Bündnisses war der Rabbinersohn Camillo Castiglioni.“ In dieses Bild gehörte auch seine Rolle als Kunstmäzen. „Jeder Reichtum, der groß genug geworden ist, jede Macht, die sich bestätigen will, gefällt sich in der Rolle des Förderers der Künste, die die öffentliche Meinung versöhnt, den Ursprung und die Mit-
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tel des erworbenen Reichtums wohltätig verhüllt und um das Haupt des Sammlers den Kranz höherer Geistigkeit flicht ... Nach dem Krieg war der Erwerb von Kunstschätzen ein Mittel der Umgehung der Steuergesetze und Spekulation gegen die Kronen. Wir gehen nicht fehl, wenn wir behaupten, dass diese Beweggründe zur Sammelwut Castiglionis erheblich beigetragen haben.“ Dieses Mäzenatentum begünstigte auch seine gesellschaftliche Stellung. „Castiglionis Haus wurde zum gesellschaftlichen Mittelpunkt, bürgerliche und militärische Würdenträger, Politiker und Diplomaten verkehrten mit und bei ihm. Diese hohen Herrschaften, die vor zehn Jahren, als Castiglioni noch in Automobilreifen machte, ihn hoffärtig und verächtlich übersehen hatten, haben ihn am Gipfel seiner Erfolge als ihresgleichen angenommen. Je höher sein Vermögensbarometer stieg, desto williger drückte man die Augen über die Herkunft dieses Reichtums zu.“ Allerdings war der alte Reichtum auf ihn nicht gut zu sprechen. „Solange Castiglionis Stellung noch unerschütterlich schien, unternahm der alte Reichtum nichts gegen ihn, weil die Solidarität der großen Profite sie zusammenschweißt. Es war aber vorauszusehen, dass, sobald sein Schiff das erste Leck erhält, die alte Hochfinanz keinen Augenblick zögern werde, ihm den Todesstoß zu versetzen.“ Als Rachegott trat schließlich der französische Franc auf. Auch Castiglioni nahm an diesem Kreuzzug teil. Hier ereilte ihn das Verhängnis und er musste Zähne und Haare lassen. „Die Methoden, die in den besiegten Staaten diesen Valutenkrieg ermöglichten: politische Einschüchterung, Pressekampagne, Korruption und ausländische Intervention, versagten vollkommen gegenüber der Siegergroßmacht Frankreich. Die Bank von Frankreich und die Morgangruppe metzelten unerbittlich die Castiglionis aller Nationen nieder. Der französische Franken trat als Rachegott aller niedergekriegten Valuten auf, er rächte auch das Verbrechen, das Castiglioni an der wehrlosen österreichischen Krone begangen hatte.“ Damit kam das Ende. „Der Fallende wurde gestoßen. Castiglioni machte noch verzweifelte Versuche, dem Verhängnis zu entrinnen, fruchtlos. Die Pleitegeier, die alten Großbanken, schlossen den Ring um ihn. Seine Macht brach zusammen, nur mit Müh und Not gelang es ihm, dem Landesgericht zu entgehen. Die Hochfinanz rupft ihn ohne Erbarmen, so wie er seine Opfer gerupft hatte. Er fällt im Ringen mit dem alten Reichtum ... Sein Sturz ist aber nur ein Bühnentod, nachdem der Vorhang fällt, steht der gefallene Held auf – und geht ins Wirtshaus. Auch Castiglioni wird sich erholen.“ 511
511 Paul Szende, Camillo Castiglioni. Ein Lehr- und Lesebuch für die Jugend, Arbeit und Wirtschaft, 1. November 1924
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1924 beschrieb Egon Scheffer grundsätzlich die Inflationsgrößen.512 „Jede Periode in der geschichtlichen Entwicklung wird durch bestimmte Persönlichkeiten charakterisiert und es ist seltsam, zu beobachten, wie der Volksinstinkt das Typische der Entwicklung jederzeit herauszuschälen vermag, wie er als ihre Vertreter stets jene Männer bekannt, berühmt oder berüchtigt macht, die jene Eigenschaften am deutlichsten aufweisen, die der Zeit ihr Gepräge geben. So auch in unserem Falle der Inflationsperiode in Österreich. Tausende haben zu dieser Zeit ‚geschoben‘, Hunderte sind damals reich geworden und eigentlich sind es nur ganz wenige, die dadurch bekannt geworden sind.“ Solch ein Repräsentant seiner Zeit war Camillo Castiglioni. „Er war von Anbeginn Herrennatur. Poetischen Reflexionen grundsätzlich abhold, sonnte er sich gerne in dem Glanz seines Reichtums und trug Sorge dafür, dass alle seine finanziellen Erfolge in entsprechender Aufmachung in die Öffentlichkeit getragen wurden.“ Mit der Depositenbank hatte er einen geeigneten Apparat für seine großen Aktionen. „Castiglioni erwarb maßgebenden Einfluss auf diese Bank und war, als die große Inflationsbewegung anhub und damit der letzte Generalsturm auf das produktive Kapital erfolgte, bereits im Besitze einer schlagkräftigen Armee und eines vorzüglichen Generalstabs. Das Glück war ihm hold.“ Mit der Alpine und der Zusammenarbeit mit Stinnes kam der endgültige Durchbruch. „Castiglioni aber hatte durch diese Verbindung mit der deutschen Großindustrie die so heiß ersehnte persönliche Geltung im Wirtschaftsleben erlangt. Waren es auch nur ein oder zwei Aktiengesellschaften, in denen er zusammen mit deutschen Großindustriellen saß, so wurden doch die Namen Stinnes und Castiglioni in einem Atem genannt und das war nicht gleichgültig. Castiglioni hatte nicht nur das Geld, sondern Kraft desselben auch das Ansehen, nach dem er strebte.“ Auch nach der schweren Franc-Krise und den finanziellen Schwierigkeiten der Inflationsgrößen schien es nicht unmöglich, „dass sich das Blatt noch einmal wendet und jene, die aus der Zerstörung von Werten ihre Macht ableiten, auch hier noch auf die Rechnung kommen. Jedenfalls aber bilden Bosels und Castiglionis Wirken Schulbeispiele dafür, wie aus der allgemeinen Not, aus der sozialen Auflösung Riesenvermögen entstehen.“ Und „Die Börse“ schrieb 1926: „Camillo Castiglionis Intelligenz hat sich als unüberwindbar gezeigt. Seine vielen Feinde trachteten ihn, als er sich aus den rauchenden Trümmern seiner Beteiligungen herauszuarbeiten versuchte, völlig zu vernichten. Der gleiche Staat, der ihm gestattete, ohne Hemmungen reich zu werden, verbot ihm, in Ehren zu verarmen. Die Gerechtigkeitsmaschine begann plötzlich zu arbeiten, sie erfasste den armen Sünder, wie immer erst, als er an materiellem Gewicht infolge des Fehlens seiner Brieftasche verlor. Ein ungeheuerer Skandal brach los. Und das gewal512 Egon Scheffer, Das Bankwesen in Österreich, Wien 1924, S. 351 ff.
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tigste Ungewitter veranlasste die Banca Commerciale, sich von der Stützungsaktion zugunsten Castiglionis, die 42 Millionen Schilling neues Geld nach Österreich gebracht hätte, zurückzuziehen. Die Gläubiger Castiglionis waren alarmiert, sie erstrebten, eingeschüchtert durch die Ereignisse, ein rasches Arrangement. Castiglioni bezahlte 100 %, aber er bezahlte sie zum Teile in Sperr-Effekten, die zu hohen Kursen abgerechnet wurden, zu Kursen, die noch lange nicht erreicht sind. Der Skandal half ihm, sich zu entschulden. Wem hat daher dieser Skandal geschadet? Doch nur Castiglionis Geschäftsfreunden, die an seinem Aufstieg zweifelten und ihm dadurch seine Mobilisierung erleichterten. Die aufgepulverte Justiz hat Angst und Schrecken verbreitet, aber in erster Linie bei jenen, die als Forderungsberechtigte in Castiglionis Hauptbuch figurierten ... Was wollten die Gutgesinnten mit dem Skandal? Castiglioni haben sie, wie wir nun sehen, nicht getötet, seinen Gläubigern haben sie dafür das Zähneklappern beigebracht. Castiglioni ist heute in Österreich ein distinguierter Fremder geworden, der nur bleibt, weil er sich in dem österreichischen Kulturklima wohl fühlt ... Der alte Reichtum sah auch richtig, indem er prognostizierte, dass die Kinder des Glücks stets auch Stiefkinder der Vorsicht sind. Er hielt die Reichtümer der Castiglioni und Bosel nicht für wasserdicht, dem Aufruhr der Elemente nicht gewachsen.“ Es sei aber nur eine Geschmacksfrage gewesen, auf welcher Seite man bei den Auseinandersetzungen des Jahres 1924 gestanden war. „Die überwiegende Zahl der Menschheit hatte für beide nichts übrig, weil sie eben nichts Übriges hatte ... Der Staat hat sich in die Generalabrechnung, die das Schicksal mit den Herren der Inflationsepoche hielt, ohne zwingenden Grund eingemengt; er ließ Castiglioni nicht ruhig liquidieren ...“ Der Staat hätte vielleicht ein moralisches Recht gehabt, den Aufstieg eines Camillo Castiglioni zu verhindern, doch er hätte keine Wirtschaftspolitik betreiben dürfen, welche die Arbeit erschlug und die Spekulation segnete. „Aber er durfte nicht die Vorsehung spielen, wenn die Reichen von einst nach eigenem Gutdünken Bilanz machen wollten ... Und er hat dadurch nur Unbeteiligten und sich selbst Schaden zugefügt, ohne dass die höhere Sittlichkeit triumphieren konnte.“513 1930 erschien in den USA ein kleines Buch „Why you win or lose. The Psychology of Speculation“, das bis in die 1990er-Jahre zehn Auflagen erreicht hatte und auch heute noch zu erwerben ist.514 Eine der zentralen Aussagen darin ist: „Win by being contrary!“. Die Masse der Börsenteilnehmer ist getrieben von den Medien, von Unsicherheit 513 Castiglioni und Bosel, Die Börse, 21. Oktober 1926 514 Fred C. Kelly, Why you win or lose. The Psychology of Speculation, Burlington, Vermont, USA, erste Auflage 1930
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und Gerüchten und orientiert sich an dem, was die anderen machen. Die Erfolgreichen lassen sich nicht von Gefühlen leiten, wie Eitelkeit, Gier, Hoffnungen und Wunschvorstellungen, und sie haben in der Regel bessere Beziehungen bis hin zu Insiderinformation. Sie gehen daher nicht mit der Herde, sondern verkaufen, wenn die anderen kaufen, und kaufen, wenn die anderen verkaufen. 1923 stellte bereits Emmerich Békessy die Frage: „Wie wird man reich?“ Dabei ging er über das wirtschaftliche Prinzip hinaus. Der Weg zum Reichtum gehe demnach nicht nur gegen die anderen Marktteilnehmer, sondern auch gegen Gesetz, Verordnung und Moral. „Wir machten das Gegenteil. Das Gegenteil dessen, was anbefohlen wurde, was Vulgärmeinung war, was man gerade in einem bestimmten Kalendermonat für sittlich hielt, was die braven Zeitungen schrieben, worüber sich die schlimmen Zeitungen entrüsteten und die gescheiten Zeitungen schweigen mussten. Wir lehnten uns auf, wir waren revolutionär nicht mit schönen Gesten, sondern mit dem Bleistift, dem Rechenpapier und den Kombinationen. Wir zückten die Dolche nicht gegen die Menschen, diese armseligen Gefäße gefrorener Begriffe und erstarrten Phrasenschleims, sondern gegen die Verordnungen und Gesetze, gegen die papierernen Kerkermeister des Lebens und der Wirklichkeit. Wir machten das Gegenteil und so wurden wir reich ... Wir gingen Nebenwege, ja man kann nicht immer die breite Heeresstraße gehen, wo man mit Arbeitstrupps auf der einen und zum Tode verurteilten Marschkompagnien auf der anderen Seite zusammenstoßen muss ... Wir sind früher aufgestanden als die anderen, das ist das ganze Geheimnis unseres Erfolges. Wir haben im Krieg nicht an den Sieg, wir haben während der sozialen Revolution nicht an den Bolschewismus und wir haben während der Herrschaft der Notenpresse nicht an die Krone geglaubt. Wir haben gezweifelt, wir haben protestiert, wir haben das Gegenteil getan.“515 Demnach waren Castiglioni und Bosel die leuchtenden Transparente vor dem Eingang ins neue große Welttheater. Man könne nicht gerade behaupten, dass beiden ihre Popularität allzu viel genutzt hatte und dass sie sich ihrer mit innigem Behagen erfreuten. Sie lagen gewissermaßen in der ersten Schützenlinie, auf ihr Haupt fielen die Schläge des Neides, der Armut und der Enttäuschung. „Castiglioni vertritt den imperialistischen Typ des Reichtums. Er stammt aus einer italienischen Rabbiner- und Gelehrtenfamilie, er hat eine sorgfältige Erziehung genossen und er begriff mit allen Poren seines Körpers die Zusammenhänge jeglichen Geschehens. In seiner Jugend ein wilder Student, Raufbold, hemmungslos und ungezügelt, brauste er wie eine pfauchende Lokomotive in das Wirtschaftsleben Wiens ... Er ist der Mann des großen finanziellen 515 Wie wird man reich? Zur Naturgeschichte des jungen Reichtums, Die Stunde, 21. Juli 1923
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Konzepts, er wittert Möglichkeiten, die ein normales Gehirn noch nicht sieht ... Er ist hart bei aller äußerer Weichheit, unerhört willenskräftig, trotzdem immer eine Tränenwolke von Sentimentalität über ihm hängt. Seiner imperialistischen Art gemäß arbeitet er mit pathetischen Gebärden und seine Sprache ist voll Bildkraft, dabei behangen mit Spitzenornamenten. Neben dem Geschäft kennt er nur noch die Kunst und er, der Meister der jüngeren Generation, hat in seiner Wohnung nur alte Meister hängen. An den Nägeln lächelt die schönste Tradition auf die stärkste Ellenbogenkraft des modernen Kapitalismus herab.“516 Karl Kraus konnte an solchen journalistischen Ergüssen nicht vorübergehen: „Kaufen oder verkaufen? ... Und sehen, dass wir nichts wissen können. Der eine hat den Stephansturm überflogen und wird in Wien hinaufgetragen zu den Sternen; der andere schließt sich mit seinem Gott ab und geht nie auf die Luft – nach Erkenntnis ringen sie alle. Faust ist daneben ein kleiner Spekulant, und es möchte kein Hund so länger leben wie er. Und wie der Mensch, der diese Dinge erlebt!“517 1928 brachte Emmerich Békessy im Eigenverlag einen Artikel in zwanzig Kapiteln mit dem Titel „Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni“ heraus. Dabei ging er zuerst auf die Kränkung Castiglionis durch den alten Reichtum ein. „Oh, wie hat Camillo Castiglioni die Rothschilds, die Siegharts, die Kuxe und die Krassnys, diese aufgeblasenen Würdenträger einer arrivierten Zeit, gehasst! Wie unmenschlich hat dieser Ehrgeizige darunter gelitten, dass sie ihn nicht für ‚voll‘ nehmen wollten. Welch bittere Kränkung war es für diesen wirklich Begabten, dass in der ganzen Wiener Finanzwelt ... kein Mensch zu finden war, der seinem Talent und seinen Fähigkeiten den Tribut der Anerkennung gezollt hätte.“ Der alte Reichtum machte sehr wohl Geschäfte mit ihm, die Ablehnung galt ihm auch nicht persönlich, sondern dem neuen Reichtum, der neuen Zeit, die er personifizierte. „Seine Widersacher meinten aber nicht ihn, sondern die Zeit, die ihn hob und trug ...“ Dann stellte er Castiglioni als „Helden der Inflation“ dar. Natürlich gab es viele Opfer der Inflation, aber diese „Helden“ hatten den Boom der ersten Nachkriegszeit ermöglicht und neue Strukturen und Möglichkeiten geschaffen. „Freilich, niemals hat eine Zeit gerade die niedrigsten Instinkte, die gemeine Hab- und Fressgier derart in Schwung gebracht wie die Zeit der Geldfälschung en masse, keine Zeit zuvor so abscheuliche Bilder ordinären Genusses zur Schau gestellt, wie es in diesen Tagen geschah.“ Aber dafür war nicht die Inflation selbst verantwortlich. „Die Inflation war ein Kind der Not, der Verzweiflung. Sie ist in einer Stube zur Welt gekommen, die der 516 Wie wird man reich? Der junge Reichtum – Castiglioni, Bosel und die übrigen, Die Stunde 22. Juli 1923 517 Karl Kraus, Metaphysik der Haifische, Die Fackel Nr. 632, Wien Oktober 1923, S. 159
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Krieg kurz und klein geschlagen, deren Güter er ebenso zerstört hatte, wie die bis dahin intakte finanzielle Moral des Staates, ... der Krieg hat sie auf diese Bahn gedrängt, der patriotische Massenmord hat das Heiligtum des intakten Geldes zerstört.“ Die Inflation war doch auch eine Probe auf das Talent der Menschen. Für viele Tausende „wurde diese Zeit zum Märchen, indem sie alle alten Regeln zerbrach, phantastische Karrieren schuf, aus Bettlern Millionäre, aus Bedrückten Mächtige machte. Sie protegierte dabei jene Gabe, die man Lebenstalent, Anpassungsfähigkeit und reale Phantasie nennt ... Das junge Kapital war vollständig nihilistisch und es fühlte, dass die Inflation, die staatlich betriebene Geldfälschung das Fundament des Staatsgötzen unterwusch. Das junge Kapital lebte von seiner raschen Auffassungskraft, der raschen Kombination und der Beherrschung der Börsenmechanik ... Das durch und durch revolutionäre junge Kapital konnte aus diesem Grunde gewisse Wegstrecken mit dem Sozialismus zurücklegen, da es sich gegen Konfiskationsgesten durch ununterbrochene Vermögensverschiebungen zu schützen wusste.“ Die neuen Reichen waren daher weniger reaktionär. „Das junge Kapital musste zum Unterschied vom alten vorher Geld verdienen und durfte nachher erst etwas leisten. Die Anerkennung im wirklichen ökonomischen und gesellschaftlichen Leben musste es sich mit Geld erkaufen ... Die Freigiebigkeit dieser Kapitalistenschicht für wohltätige Zwecke, für Förderung der Kultur, für notleidende Institutionen des Staates, die dieser selbst nicht erhalten konnte, war bestimmt kein Zeichen des besonders guten Herzens, sondern der Versuch einer Entschuldigung vor jenen, die von Krieg, Zusammenbruch und Inflation nur die Schattenseiten zu sehen bekommen haben.“ 518
Späte Ehren Wenn der Spruch „Viel Feind, viel Ehr!“519 zutreffend ist, so war Camillo Castiglioni ein ehrenhafter Mann. Sein geschäftliches Talent war unbestritten, aber er hatte praktisch alle seine „Geschäftsfreunde“ irgendwann über den Tisch gezogen und sollte das auch noch in Zukunft tun. Neben seiner finanziellen schwächeren Position war es nun sein eindeutiger Ruf, der ihm seine geschäftliche Tätigkeit ab Mitte der 1920er-Jahre wesentlich erschwerte. Lediglich gegenüber Hugo Stinnes hatte er eine andere Haltung ange518 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 83–127 519 Dieser Spruch geht auf den Landsknechtsführer in kaiserlich-habsburgischen Diensten Georg von Frundsberg (1473–1528) zurück.
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nommen, da er ihn maßlos bewunderte. Und dann waren da noch die Italiener. Die Banca Commerciale hatte zwar an manchen ehrgeizigen Investitionen in der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie verloren, sie stand Castiglioni aber vor, während und auch nach der Krise stets zur Seite. Die Italiener ließen ihn nicht im Stich. Wegen seiner Leistungen in der Luftfahrt war Camillo Castiglioni zum k. k. Kommerzialrat ernannt worden, 1916 erhielt er das Offizierskreuz des Franz-Joseph-Ordens am Bande und 1918 den St.-Georgs -m 8. Mai 1924, als die Depositenbank bereits zusammengebrochen war, wurde Castiglioni der „Orden des Großkreuzes und Großordens der Krone Italiens“ verliehen, wodurch er „Vetter“ des italienischen Königs wurde. Eine Ernennung zum Senator des italienischen Königreiches wurde von seinen französischen, Schweizer und Mailänder Konkurrenten später hintertrieben. Ein Jahr später erhielt er eine weitere Anerkennung, die ihm sichtlich willkommen war. Auf Ersuchen von Mussolini begleitete er im November 1925 die italienische Delegation unter der Führung von Volpi in die USA zur Regelung der Kriegsschulden des Landes. Dort soll er auch einige Darlehen für die italienische Industrie und die Städte Mailand und Rom vermittelt haben. Bei der Gelegenheit soll er auch zu einem persönlichen Freund von John Piermont Morgan Jr. geworden sein. Bei seiner Rückkehr verfasste er sogar einige Artikel im „Neuen Wiener Journal“, in denen er sich als Kenner der amerikanischen Verhältnisse ausgab und die Fließbandarbeit, die Haltung der dortigen Arbeitskräfte und die enormen Möglichkeiten der USA als Finanzplatz hervorhob.520 Wenige Zeitungen, wie das „Neue Wiener Journal“, blieben aus guten Gründen noch auf seiner Seite. Zum Gaudium der Straße sei eine Hetzjagd gegen ihn losgegangen, obwohl er sich nichts zuschulden kommen lassen und über seine Sanierung auch die Gläubiger ohne Abstriche befriedigt habe, schrieb die Zeitung und zählte dann seine wirtschaftlichen und politischen Leistungen für Österreich auf, das ihm dieses nicht gedankt habe. „Und wir wissen“, stand dort zu lesen, „dass es Ihr schönster und stolzester Traum war, Ihre wunderbare Kunstsammlung dieser Stadt als Beweis Ihrer Anhänglichkeit und Treue zu vermachen.“ (Davon erfuhr man hier aber zum ersten Mal und in einer Zeit, als die Versteigerungen dieser Kunstsammlung bereits begonnen hatten.) Auch die gerichtliche Untersuchung gegen ihn sei kein Ruhmesblatt der österreichischen Justiz gewesen: „Vor vier Monaten rief Ihnen ein Publizist dieses Landes zu: Castiglioni kehre zurück! Wir wollen Ihnen heut sagen: Castiglioni zeigen Sie Ihre ganze Größe, bleiben Sie hier ... und verzeihen Sie Ihren Feinden!“521
520 Camillo Castiglioni, Amerika, Neues Wiener Journal, 1. Januar 1928 521 Camillo Castiglioni, Neues Wiener Journal, 4. Februar 1925
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Bild 41 „Arbeiter-Zeitung“, Wien, 17. Juni 1925
Eine späte Ehrung erhielt Castiglioni im Dezember 1929, als ihm Wiener Gelehrte und Künstler ein Manifest mit der Bitte übergaben, seinen Wohnsitz nicht aus Wien weg zu verlegen. Das Schreiben wurde Bundespräsident Dr. Miklas vorgelegt, der seine Genugtuung über diesen Schritt äußerte, und dann in feierlicher Form von einer Abordnung, bestehend aus Gräfin Johanna Hartenau, Max Reinhardt und Felix Salten, an Castiglioni überreicht und der Öffentlichkeit bekannt gegeben:522 „An Camillo Castiglioni Die Nachricht, dass Sie Wien verlassen, Herr Castiglioni, hat in den Kreisen, die der Kunst, dem Theater, den Wissenschaften nahe stehen, deprimierend gewirkt. Noch wollen wir hoffen, dass Ihr Entschluss kein endgültiger ist. Aber wir müssen Ihnen schon heute sagen, wie viel würdigende Anerkennung, wie viel aufrichtiger Dank sich Ihnen zuwendet. Sie haben zur Pflege der Kunst, der Musik, der Wissenschaft, des Theaters in Wien und Österreich so Außerordentliches geleistet, dass die Zerstörungen dieser furchtbaren Gegenwart oft genug durch Ihre Hilfe eingedämmt werden konnten. Die Stütze, die Sie mit schier beispielloser Freigiebigkeit allen einschlägigen Instituten, Vereinen und Bestrebungen boten, hat in der argen Zeit des Verlassenseins wie des drohenden 522 Abgedruckt in: Canaval, Salzburger Gespräche mit C.C., Salzburger Nachrichten, 8. Juni 1953
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katastrophalen Niedergangs weit über das Materielle hinaus kostbare ideelle Bedeutung erlangt, hat Ermutigung, Zuversicht und neue Kraft gegeben. An Ihrer Art, zu nützen und zu stützen, die ebenso bereitwillig wie persönlich zurückhaltend blieb, ist für jeden objektiven Beobachter Ihre ungewöhnlich starke, innere Verbundenheit mit allen künstlerischen und kulturellen Dingen beständig erkennbar. Sie haben Dank wohl niemals verlangt noch erwartet. Gerade deshalb wünschen wir Ihnen ein Zeichen zu geben, dass Ihr Wirken nicht ohne Echo geblieben ist. Dabei leiten uns keinerlei wie immer geartete persönliche Interessen. Und manche der Unterzeichneten sind gar nicht mit Ihnen bekannt. Was uns bewegt, ist unser Zugehörigkeitsgefühl zu Wien und Österreich. Aus diesem Gefühl richten wir an Sie, Herr Castiglioni, das Ersuchen: Bleiben Sie in Wien! Bleiben Sie in dieser Stadt, die gleichfalls zu lieben Sie ja gar nicht leugnen können. Bleiben Sie in diesem Lande, dem Sie freilich nicht als Staatsbürger, dem Sie aber doch durch jahrzehntelange Arbeit, durch enorme Aufwendungen wie durch innige menschliche Bande verwurzelt sind. Das künstlerische Wien, das künstlerische Österreich hat einen Mann wie Sie dringend nötig!“ Unterschrieben hatten neben den drei Proponenten unter anderem: Egon Conte Corti, General Ferdinand Beutelmoser (Sektionschef für Luftfahrt), Wilhelm Exner, Präsident der Technischen Gesellschaft, Hofrat Glück, Hofrat Haberditzl, Direktor der Gemäldegalerie, Franz Herterich, L. Hlawatsch, Präsidium des Wiener Symphonie-Orchesters, Dr. Gustav Huber, Präsident des Vereins Deutsches Volkstheater, Wilhelm Kienzl, Leo Lippschütz (von Concordia), Julius Meinl, Albert Graf Mensdorff, Felix Oppenheimer, Alfred Roller, Arnold Rosé, Grete von Urbanitzky (PEN-Club), Franz Schalk, Generaldirektor der Staatsoper, Franz Schneiderhahn, Generaldirektor der Österreichischen Bundestheater, Richard Strauss, Hofrat Thimig etc.523 Das konnte den „Österreichischen Volkswirt“ nur mehr verwundern. „Ist es nicht wie eine liebenswürdige Erinnerung an vergangene Tage? Törichterweise hatte man schon gehofft, dass mit der Inflation auch die Sitten jener Zeit, da die Wölfe von den Schafen so friedlich als ihre Mäzene gefeiert wurden, überwunden wären. Aber was damals vielleicht die Not erzwang, ist nachher zur Gewohnheit geworden. Nein, noch hat die österreichische Öffentlichkeit die moral insanity der Nachkriegsjahre nicht überwunden, wenn erst Künstler und Gelehrte einen Castiglioni ersuchen, Wien mit seiner Anwesenheit zu beehren!“524 523 Die gesamte Liste der Unterzeichner findet sich bei Karl Kraus, Die Fackel Nr. 827, Wien, Februar 1930, S. 4 524 Der Österreichische Volkswirt, 1929/30, S. 505
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Damit war es aber noch nicht genug. Im März 1930 feierte der österreichische Aeroklub unter Anwesenheit des Bundespräsidenten Miklas seinen dreißigjährigen Bestand. Dabei wurde Camillo Castiglioni, der bereits aus der Vorkriegszeit die goldene Verdienstmedaille besaß, das Klubzeichen mit Brillanten verliehen, die höchste Auszeichnung des Klubs, die bis dahin nur einmal vergeben worden war. Damit wollte der Klub „nicht nur seinen Dank abstatten, sondern auch als einzig hiezu berufenes Forum – er vereinigt in seinen Reihen gegen 200 praktische Flieger – auch allen böswilligen Ausstreuungen entgegentreten, die in nicht genug zu brandmarkender Weise gegen Castiglioni wegen Flugzeugkonstruktionen erhoben wurden und diese endgültig widerlegen“.525 Am 13. November 1929 stellte der steirische Landeshauptmann Dr. Anton Rintelen an das Bundeskanzleramt den Antrag, Castiglioni einen österreichischen Orden zu verleihen. Da dieser beabsichtige, Österreich zu verlassen und sein Domizil ins Ausland zu verlegen, sollte man gerade jetzt seiner Verdienste entsprechend gedenken. Er führte als dessen Leistung die Finanzierung der steirischen Wasserkraftwerke an und seine Rolle für das österreichische Kunst- und Kulturleben. „Im Hinblick auf diese hervorragenden Verdienste um Österreich bin ich der Anschauung, dass diesem Manne ein Dankeszeichen unseres Vaterlandes gebührt und beehre mich daher den Antrag zu stellen, Castiglioni, der Inhaber des Großkreuzes und Großordens der Krone Italiens ist, die dieser Auszeichnung entsprechende österreichische Auszeichnung zu erwirken ... Bei diesem Antrag veranlasst mich auch die Erwägung, dass es im gesamten österreichischen Interesse liegt und aneifernd wirkt, wenn Ausländer, die sich in Österreich um die Kapitalbeschaffung und unser Kunstwesen interessieren, sehen, dass dies von unserer Regierung anerkannt wird.“ Das Bundeskanzleramt reichte den Antrag an das Finanzministerium weiter, das sich aber als nicht zuständig betrachtete und den Ball zurückgab. Castiglioni hatte zu diesem Zeitpunkt seine Bankgewerbekonzession bereits zurückgelegt und das Ministerium glaubte auch nicht, „dass die Tätigkeit Castiglionis auf dem Gebiet des Bank- und Börsenwesens, die seinerzeit Anlass zu weitgehender Kritik geboten hat, die Stellung eines Auszeichnungsantrages begründen könnte ... Inwieweit die Tätigkeit Castiglionis anlässlich der Finanzierung des Ausbaus der Wasserkräfte der Steweag eine Auszeichnung rechtfertigen könnte, wäre durch das zuständige Ressort zu klären. Das Finanzministerium möchte schließlich in diesem Zusammenhang anführen, dass gegen Castiglioni seinerzeit ein Verfahren wegen widerrechtlicher Einfuhr verschiedener Gegenstände nach Österreich anhängig war, das schließlich im Jahre 1924 durch den 525 Neues Wiener Journal, 8. März 1931
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Erlag eines Ablassbetrages von 900 Millionen Kronen seitens des Genannten bereinigt wurde.“ Zusätzlich bereite der italienische Orden Probleme, da von Österreich ein solcher mit dem entsprechenden hohen Rang zu vergeben wäre, was bisher noch an keinen privaten Wirtschaftsfunktionär erfolgt sei. Selbst wenn man erwäge, stellte das Ministerium fest, „dass Castiglioni vielfach in der Öffentlichkeit Unrecht getan wurde, so ist davon bis zur Auszeichnung wohl noch ein langer Weg.“526
Die Freundschaft eines Landeshauptmanns Wie eng die Beziehungen Castiglionis zu Rintelen waren, zeigte sich bei der Auflösung seines Büros in Wien 1930. Nun musste er auch seine langjährige Privatsekretärin entlassen, was auch Castiglionis Frau Iphigenie sehr bedauerte.527 Er suchte für sie – mitten in der Weltwirtschaftskrise – eine entsprechende Stellung. Rintelen intervenierte beim Generaldirektor der Post- und Telegraphendirektion, wo es aber schlecht aussah. Er schlug daher vor, sie bei der Grazer Landesregierung unterzubringen. „Sie hätten einen sehr angenehmen Dienst, täglich 6 Stunden, vom gesundheitlichen Standpunkt sehr zu empfehlen, außerdem pensionsberechtigt, wenn auch eine kleine Anfangsgage.“528 Castiglioni dankte ihm dafür, „denn es liegt mir sehr daran, dass diese verlässliche Beamtin unterkommt. Wie ich sie und ihre Art zu arbeiten kenne, bin ich überzeugt, dass sie Ihnen durch ihre große Tüchtigkeit und Treue Dienste leisten wird, die man sonst nicht leicht findet.“529 Rintelens Freundschaft sollte Castiglioni aber 1934 in Bedrängnis bringen. „Nunmehr steht er wieder im hellen Rampenlicht. Es gibt viele, die meinen, dieses Licht dekuvriere ihn zu stark. Wer an alles eher denn an eine Ehrenrettung Castiglionis denkt, kann diese Auffassung nicht teilen. Der Wahlösterreicher und Naturitaliener kann entsetzt darüber gewesen sein, dass ein ihm nahestehender Mensch ein trojanisches Pferd bauen wollte, um darin Nazis zu verstecken. Die Enttäuschung darüber kann sich zur Entrüstung gesteigert haben und zur Entschlossenheit, das ohnehin schon beschmutzte Tischtuch völlig zu zerschneiden.“530 526 Österreichisches Staatsarchiv Wien, 817/29 527 Iphigenie Castiglioni an Fräulein Erna Baumgartner Wien 4, Grundlsee, 18. Oktober 1930, Privatarchiv Dieter Stiefel 528 Dr. Nagelstock, Neues Wiener Journal an Erna Marie Baumgartner, Wien, den 18. November 1930, Privatarchiv Dieter Stiefel 529 Camillo Castiglioni an Herrn Minister Prof. Dr. Anton Rintelen, Landeshauptmann von Steiermark Graz, Wien, 3. Dezember 1930, Privatarchiv Dieter Stiefel 530 Die stummen Zeugen im Rintelen-Prozeß, Der Morgen, 18. März 1935
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Anton Rintelen (1876–1946) hatte Rechtswissenschaft studiert, war von 1903 bis 1911 Professor an der Deutschen Universität Prag und danach an der Universität Graz. Von 1919 bis 1926 und von 1928 bis 1933 war er Landeshauptmann der Steiermark, 1926 und 1932/33 auch Bundesminister für Unterricht, daneben Abgeordneter zum Nationalrat. Der ehrgeizige christlichsoziale Politiker hatte zweifellos die Absicht, Bundeskanzler zu werden. Als Basis sollten die rechts orientierten Heimwehren dienen, die unter anderem auch von der Alpine Montan finanziell unterstützt wurden. Mit dem PfrimerPutsch der steirischen Heimwehr 1931, der nach italienischem Vorbild (Marsch auf Rom) mit einem Marsch auf Wien die Macht übernehmen wollte, aber kläglich scheiterte, war diese Möglichkeit vergeben. 1933 wurde er von Bundeskanzler Dollfuß aus der Regierung entfernt und als Botschafter nach Rom geschickt. Von dort aus hatte er Verbindungen zu den österreichischen Nationalsozialisten. Bei deren gescheitertem Putschversuch 1934, bei dem Bundeskanzler Dollfuß ermordet wurde, verkündete er in einer Radiorede (RAVAG), dass er nun die Geschäfte des Bundeskanzlers übernehmen werde. Er distanzierte sich später davon, die Rede sei erzwungen worden, dennoch wurde er verhaftet und 1935 zu lebenslangem Kerker verurteilt. 1938 wurde er bei einer Generalamnestie entlassen, spielte aber dann keine politische Rolle mehr. In Zusammenhang mit dem Putschversuch wurde auch Camillo Castiglioni am 3. August 1934 von der Bundespolizeidirektion vernommen.531 Er kenne Dr. Rintelen seit etwa 12 Jahren, als er das italienische Kapital für die steirischen Wasserkräfte vermittelt habe. Dann wären die Beziehungen bis zum April/Mai 1934 unterbrochen gewesen. „Ich hatte im Laufe der letzten Jahre den Eindruck gewonnen, dass seine Beziehungen zur jeweiligen österreichischen Regierung gespannt waren. Insbesondere war das Verhältnis zwischen ihm und dem Herrn Bundeskanzler Dr. Dollfuß ein etwas Gespanntes, bis Dr. Dollfuß nach dem Austritte Dr. Rintelens aus dem Ministerium sich entschloss, ihn als Gesandten nach Rom zu entsenden. Die Beziehungen haben sich aber leider dadurch nicht gebessert. Ich habe des öfteren Gelegenheit gehabt, mit Dr. Rintelen darüber zu sprechen und ihm sehr eindringlich geraten, durch eine persönliche Aussprache mit dem Bundeskanzler Dr. Dollfuß eine Versöhnung herbeizuführen. Wiederholt hat mir Rintelen dies zugesagt, insbesondere ganz ausdrücklich und in feierlichem Tone gelegentlich unserer letzten Aussprache am Samstag dem 14. Juli 1934 während meines Aufenthaltes in Rom ... Als ich am Mittwoch den 25. Juli 1934 von der erzwungenen Verlautbarung in der RAVAG gegen 1 Uhr mittags Kenntnis erhielt und ich mir sofort im Klaren war, dass es sich hier nur um eine Mystifikation handeln kön531 Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv, KA, MHv 11/1934, Prozess gegen Dr. Anton Rintelen, Band 1, 402–405, Wien 3. August 1934
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ne, rief ich auf gut Glück das Hotel Imperial an – ich betone hier ausdrücklich, dass ich von der Anwesenheit des Dr. Rintelen in Wien keine Kenntnis hatte – und fragte an, ob sich Dr. Rintelen in Wien befinde. Ich wurde mit ihm verbunden und fragte ihn, ob er schon Kenntnis von dieser Mystifikation habe, was er bejahte, wobei er mir sehr erregt erklärte, er könne in dieser Angelegenheit nichts machen, es sei ihm schrecklich, dass er immer wieder in solche Dinge hineingezogen werde. Ich fragte ihn hierauf, weshalb er sich noch nicht zu Bundeskanzler Dr. Dollfuß begeben habe, worauf er mir erwiderte, dass er sich bereits am Dienstag bei Dr. Dollfuß angemeldet habe. Der Bundeskanzler Dr. Dollfuß habe ihm jedoch mitteilen lassen, dass er ihn erst am Mittwochnachmittag nach dem Ministerrat empfangen könne. Ich riet ihm dringendst, sich angesichts dieser Ereignisse nunmehr unverzüglich zu Dr. Dollfuß zu begeben, was Dr. Rintelen zusagte. Ich erkläre, dass die Behauptung, Dr. Rintelen wäre am Tage vor den in Rede stehenden Geschehnissen bei mir gewesen und dass damals eine geheime Besprechung stattgefunden hätte, vollkommen aus der Luft gegriffen ist. Dr. Rintelen hat seit Pfingsten mein Haus nicht mehr betreten. Die mit ihm geführte Korrespondenz, welche jederzeit zur Verfügung steht, ist vollkommen harmlos und hat mit politischen Dingen absolut nichts zu tun.“ Auch die Behauptung, dass einer seiner Angestellten sich wiederholt nach Berlin begeben habe und nach seiner Rückkehr jeweils ein Kurier nach Rom abgegangen sei, sei völlig falsch. „Es handelte sich hierbei jedoch nur entweder um geschäftliche Angelegenheiten oder um die Überbringung von Briefen an den italienischen Botschafter in Berlin, hat aber niemals mit Dr. Rintelen oder mit der Deutschen Regierung oder auch mit der österreichischen Regierung oder mit politischen Angelegenheiten etwas zu tun gehabt. Dagegen habe ich niemals Kuriere, welcher Art immer, zu Dr. Rintelen nach Rom geschickt ...“ Castiglioni unterstrich seine Loyalität zur österreichischen Regierung auch am Beispiel einer Auseinandersetzung im „Neuen Wiener Journal“. Mit den politischen Ansichten des Chefredakteurstellvertreters Dr. Nagelstock, den er seit vielen Jahren kannte, hatte er immer übereingestimmt. „In den letzten Monaten hatte ich den Eindruck, dass in der Zeitung seine Haltung gegenüber dem Bundeskanzler Dr. Dollfuß keine freundliche war. Ich habe des öfteren Gelegenheit gehabt, ihn darauf aufmerksam zu machen und ihm auch offen zu sagen, dass ich seinen Anschauungen nicht beipflichten kann. Als sich aber seine Haltung nicht änderte, habe ich den Herausgebern des Neuen Wiener Journals, Herrn Lippowitz und Löwenstein, empfohlen, einen neuen Mann zu engagieren, welcher den politischen Teil des Blattes besorgen sollte. Die Herren sind auf meinen Vorschlag eingegangen. Nach einer Rücksprache mit Bundeskanzler Dr. Dollfuß wurde über seine besondere Empfehlung Herr Dr. Hentschel als
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politischer Direktor des Blattes bestellt, wodurch Dr. Nagelstock von der politischen Tätigkeit beim Blatte ausgeschaltet wurde. Dr. Dollfuß war über diese Veränderung sehr erfreut und hat sich mehrmals auch geäußert, dass er mir dafür sehr dankbar sei.“ Dr. Nagelstock wurde schließlich fristlos entlassen. Da Dr. Nagelstock aber sehr enge Verbindungen zu Dr. Rintelen hatte, machte ihm dieser schwerste Vorwürfe, „und äußerte, dass ich Dr. Nagelstock die Treue gebrochen hätte und dass er daraufhin auch für sich die Konsequenzen ziehen müsse. Dadurch ist eben auch eine Trübung des Verhältnisses zwischen Dr. Rintelen und mir entstanden und unsere Beziehungen seit Mai 1934 waren nur mehr sehr locker.“ Die Freundschaft zu Rintelen hatte Castiglioni aber nicht wirklich geschadet. Gerade in den 1930er-Jahren sah man wieder gewisse, wenn auch bescheidenere Möglichkeiten für ihn. „Von Camillo Castiglioni hat man lange nichts gehört“, schrieb „Der Morgen“ im März 1935. „Nur hie und da vernahm man von einigen Geschäften, an denen er noch interessiert war, von Grundstücktransaktionen in Ungarn, von Veräußerung von Kunstschätzen. Großes scheint ihm jedenfalls seit dem Zusammenbruch der Franc-Kontermine nicht mehr geglückt zu sein. Er lebte hier, er lebte dort, er war nirgends sesshaft, als liefe er dem Geld nach, das er einmal besaß ... Castiglioni, der über Rintelen den eigenen oder fremden Wanderstab brach, scheint aber wenig Talent zur Freundschaft zu besitzen. Von der Gummifabrik, bei der er seine Karriere begann, schied er in Unfrieden, in der Flugzeugfabrik, die er gründete, überwarf er sich mit seinem Kompagnon, aus der Depositenbank waggonierten ihn seine intimsten Weggefährten Drucker und Sachsel aus, aus der Bayrischen Motorenfabrik musste er nach einem furchtbaren Krach mit dem Generaldirektor wegen nicht verrechneter Syndikatsgewinne scheiden. So oft Castiglioni eine seiner Wirkungsstätten verließ, ballte er eine Transaktion im Sack. Es war meistens eine neue. Möglichkeiten des Aufstiegs für Castiglioni sind heute zweifellos gegeben. Heute kann man nicht bei hellem Tageslicht Brücken schlagen, heute kann man nur bei Nachtdunkel von einem Ufer zum anderen schwimmen. Und das träfe Castiglioni ausgezeichnet. Der Augenblick für seine Renaissance ist darum nicht nur psychologisch, sondern auch zeitlich glücklich gewählt. Seine stärksten Feinde, Goldstein, Sachsel, Drucker auf der einen, Sieghart auf der anderen Seite, hat die Erde verschlungen, Hofrat Stern, der Bankenschreck von einst, ist, nachdem er sich auf einigen Sinekuren behaglich ausgesteckt hat, völlig entmachtet. Niemand würde heute Castiglioni zwingen, über den eigenen Schatten, über die eigene Vergangenheit zu springen. Er müsste sich nur wie viele andere anzupassen verstehen, nicht nur an die kargeren Chancen, sondern auch an die höhere Sittlichkeit von heute. Man verlangt jetzt von einem Mann, mit dem man große Geschäfte macht, eine gewisse Pupillarsicherheit, man will sich auf
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seine oft beteuerte Freundschaft wirklich verlassen können.“532 Castiglioni hatte 1934/35 seinen Wohnsitz in Mailand zuerst im Hotel Continental und dann in der Via Spiga 22, in Berlin war seine Adresse Eugenstraße 28. Angeblich soll er 1934 in die USA übersiedelt sein und als Finanzberater für das europäische Geschäft der großen US-Banken tätig gewesen sein.533 Das wurde jedoch von seiner Tochter bestritten, die zu dieser Zeit mit ihm in Mailand lebte.
33 Kisten Für Castiglioni war die Zeit ab Mitte der 1920er-Jahre in der Hauptsache durch Prozesse und Versteigerungen gekennzeichnet. Die wertvollsten Teile seiner Kunstsammlung kamen im April 1924 unter großem Andrang im Dorotheum Wien zur Versteigerung, dann im November 1925 in Amsterdam und schließlich am 28./29. November 1930 bei Graupe in Berlin. Der dortige Versteigerungskatalog umfasste über 600 Einzelobjekte an Gemälden, Skulpturen, Möbeln, Bronzestatuetten, kunstgewerblichen Metallarbeiten, Keramiken, Tapisserien, orientalischen Knüpfteppichen und Textilien.534 Nachdem sich in den folgenden Jahren die Gerichte mit zahlreichen Forderungs- und Exekutionsklagen gegen Castiglioni zu beschäftigen hatten, erfolgte im Mai 1935 auf Betreiben des Grazer Bankhauses Krentschker die gerichtliche Pfändung des letzten Restes der Wiener Sammlung Castiglionis, die bereits in 40 Kisten bei einem Spediteur zur Versendung nach Italien lagerten. Für Castiglioni wurde ein Kurator bestellt und 1936 erfolgte ein Antrag auf Verhängung des Konkurses. Ende 1933 war Camillo Castiglioni an den Grazer Industriellen und Theatermäzen Heinrich Haas mit dem Ersuchen herangetreten, ihm ein Darlehen von 100.000 Schilling zu gewähren. Haas war dazu bereit, Castiglioni stellte fünf Wechsel aus und es wurde ein sechsmonatiger Rückzahlungstermin vereinbart. Als Sicherheit diente die Frau Castiglioni überschriebene Villa am Grundlsee. Dies wurde im Grundbuch an zweiter Stelle eingetragen, an erster Stelle stand eine Wiener Privatbank ebenfalls mit einem erheblichen Darlehen. Nachdem die sechs Monate ohne Rückzahlung verstrichen waren, brachte das Grazer Bankhaus Krentschker & Co., an die Heinrich Haas seine Forderung abgetreten hatte, gegen Castiglioni eine Klage ein. Haas selbst soll sich auf532 Die stummen Zeugen im Rintelen-Prozeß, Der Morgen, 18. März 1935 533 Valerio Castronovo über Camillo Castiglioni in DBI 22, Rom 1979, S. 133–136 534 Otto von Falke/Hermann Ball (Hrsg.), Die Sammlung C. Castiglioni, Wien, Versteigerung Freitag, den 28. November 1930 und Sonnabend, den 29. November 1930.
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grund eines Scheidungsprozesses in Zahlungsschwierigkeiten befunden haben, weshalb er die Forderung an die Bank weitergegeben hatte. Castiglioni wendete ein, dass ihm Haas mündlich eine Fristverlängerung zugesagt habe, was aber vor Gericht widerlegt wurde.535 Das Wiener Handelsgericht verurteilte Castiglioni und Frau daher im April 1935 auf Zahlung. Da auch die Hypothek der Wiener Bank notleidend wurde, kam es zu einer Zwangsversteigerung der Villa am Grundlsee. Zum öffentlichen Termin waren jedoch keine Interessenten erschienen, vermutlich dürfte der Wert der Immobilie mit zumindest 500.000 Schilling auf die Käufer abschreckend gewirkt haben.536 Eine andere Quelle spricht von einem Wert von 385.000 Schilling, wobei aber Hypotheken in der Höhe von 250.000 Schillingen darauf lagen, jene des Grazer Bankhauses, des Finanzministeriums und des früheren Generalsekretärs Castiglionis, Dr. Nelken.537 Daraufhin erstattete die Grazer Bank eine persönliche Klage gegen Castiglioni und Frau zur Bezahlung der 100.000 Schilling. Im Mai 1935 wurden 33 Kisten beschlagnahmt (manche Zeitungsartikel sprachen von 40 Kisten), die Castiglioni von Wien nach Mailand senden wollte. Die Grazer Bank erstattete daher eine Strafanzeige wegen Exekutionsvereitelung. Wie immer bei Castiglioni kam es aber zu keinem Prozess. Castiglioni, „dieser merkwürdige Mensch, dessen phantastische Fähigkeiten und dessen romanhafter Lebenslauf die Öffentlichkeit immer wieder interessieren“, wurde von einem Journalisten von „Der Morgen“ im Budapester Hotel Ritz erreicht und gab dort wieder einmal „das erste Interview seines Lebens“. Dieses zeigte einmal mehr seine Fähigkeit, sich pathetisch als Opfer darzustellen. „Nur sehr ungern gebe ich Auskunft, nicht, weil ich irgend etwas zu verbergen hätte, aber ich habe bis heute, ein Leben lang, alles, was über mich gesagt und geschrieben, viel mehr aber noch, was mir angetan wurde, ertragen ohne die Öffentlichkeit in irgend einer Weise in Anspruch zu nehmen und mit meinen Angelegenheiten zu beschäftigen. Ich habe noch niemals ein Interview über meine eigene Person gegeben. Aber das was von gewissen Seiten gegen mich und meine Familie aufgeboten wird, übersteigt jeden normalen Begriff! Wie vergesslich sind doch die Menschen! Wie weit, wie schrecklich weit geht doch die Undankbarkeit und die Bosheit der menschlichen Natur! Selbst meine Feinde müssen zugeben, dass ich Unvergessliches geschaffen habe ... Ich habe, wie alle großen Finanzleute in den letzten, schweren Krisen Geld, viel Geld verloren. Aber zum Unterschied von allen anderen Finanzleuten, zumindest der meisten, nur mein Geld! Seit Jahren zahle ich und zahle, damit niemand zu kurz kommt, niemand 535 Frau Castiglionis Roman, Der Morgen, 20. Mai 1935 536 Ehepaar Castiglioni muß 100.000 Schilling zahlen, Neues Wiener Journal, 26. April 1935 537 Castiglioni redivivus, Der Morgen, 16. Dezember 1935
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sein Geld bei mir verliert, ohne jede Rücksicht auf mich und meine Familie, so dass einer meiner Feinde sich einmal den Witz erlaubt hat, dass ich nicht aus Anständigkeit, sondern aus Starrköpfigkeit zahle! Schade, wirklich schade, dass so äußerst wenige Menschen in diesen schweren Zeiten starrköpfig sind. Aber statt dass man anerkennen würde, mit welchen Opfern, mit welchen Bemühungen ich alles bezahle, wirft man mir fortwährend Prügel zwischen die Füße und erschwert mir die Ordnung dieser Angelegenheit in jeder denkbaren Weise! Weiß nicht ein jeder, dass durch die in allen Ländern bestehenden Valutagesetze es fast unmöglich geworden ist, die nötigen Beträge zu beschaffen, um in jedem Lande in der betreffenden Valuta zu bezahlen? Viele Finanzleute würden gerade mit dem Hinweis auf diese Gesetze versuchen, sich ihrer Verpflichtungen zu entziehen! Ich habe im April zwei Briefe an den Präsidenten der Österreichischen Nationalbank, Exzellenz Kienböck, gerichtet, mit welchem ich um Freigabe eines Betrages von zweihunderttausend Schilling durch den österreichischen Clearing bat und aus welchen ich nur einen einzigen Passus herausgreifen möchte: ‚Ich befinde mich in einer fürchterlichen Lage, während welcher ich gezwungen bin, teilweise arme und wirklich bedürftige, teilweise drängende, höchst unerfreuliche Kreditoren hinzuhalten und Sie können sich vorstellen, dass solche Gläubiger meiner Begründung, dass ich durch die jetzigen Dispositionen einfach nicht in der Lage bin, meinen Verpflichtungen rechtzeitig nachzukommen, entweder keine Bedeutung oder noch schlimmer keinen Glauben schenken und in beiden Fällen drohende Folgen für mich daraus entfliehen, die unübersehbar sind: Nur dadurch, verehrte Excellenz, werden Ihnen mein Drängen und meine Erregung begreiflich sein.‘“ Danach bagatellisierte er die versuchte Versendung der 33 Kisten: „Ich habe Wohnungseinrichtungsgegenstände, die nicht im Entferntesten diesen phantastischen Wert haben, einfach nach Mailand schicken wollen, um meiner Frau und meinen Kindern eine Wohnung einzurichten, und das wurde von meinen Gegnern als Exekutionsvereitelung hingestellt. Die ‚herrlichen Silberschätze‘ sind gewöhnliches Besteck mit C.C, für das man kaum ein paar Schilling bekommen könnte. Die ‚Petschaft Castiglionis, ein antikes Stück‘, welches als Höchstleistung antiker Kunst bezeichnet wurde, ist mir vor Jahren von meinem Freunde, Generaldirektor Cassinone, geschickt worden, ist natürlich modern, von mir gekauft worden und hat 150 Schilling gekostet. Der Steinlöwe aus dem 13. Jahrhundert, eine ‚realistische Plastik von höchster Qualität‘ ist einer von diesen Steinlöwen, die man zu tausenden in Italien kaufen kann und die höchstens 50 bis 60 Lire kosten! Und man weiß, dass ich mich sehr gut auskenne, und sehr gut schätzen kann! Die Renaissancetruhe‚ ‚nach der unübertrefflichen Feinheit ein wahres Museumsstück‘ könnte, sehr hoch geschätzt, mit 300 bis 400 Schilling verkauft werden. Niemals habe ich Betten aus dem Besitz italienischer Fürstenfamilien besessen, es befinden
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sich überhaupt keine Kelche, Kannen und Schüsseln ‚der berühmten Augsburger Goldschmiedkunst‘ unter diesen Gegenständen. Traurig, wenn einem Menschen die Ordnung seiner Angelegenheiten so furchtbar erschwert wird. Trotzdem will ich mich mit aller Kraft bemühen, meine Dinge in Ordnung zu bringen.“538 Die 33 Kisten wurden bei einer Wiener Spedition sichergestellt und beschlagnahmt. „Die Kisten enthielten nicht nur wertlose Kleider, die für seine Frau nach Mailand geschickt werden sollten, wie Castiglioni behauptete, sondern repräsentierten ein beachtliches Vermögen von schätzungsweise weit mehr als den infrage stehenden Betrag. Der Inhalt der Kisten war bunt zusammengewürfelt. Neben weniger wertvollen Gegenständen befand sich auch wirklich Hervorragendes, darunter antike Teller, Tassen und Besteck aus Silber mit einem Gewicht von 250 kg und eine Sammlung von Rosenthal und Meißner Porzellan.“539 Aber darin waren auch 80 Damenhüte, 7 Damenschirme, Seehundstreifen für Skier, 104 steife Herrenkragen, 12 Zylinder, 70 Frottierhandtücher, 88 Paar Damenschuhe, 220 Herrentaschentücher aus weißer Seide, 6 Tennisrackets, 4 russische Samoware aus Kupfer, mehrere Hundert Badetücher und 16 Paar Badeschuhe. Und 100 Schilling kostete die Nummer 1.495: „Eiserne Kassa, Firma Becher & Hildesheim Ges.m.b.H., 1,60 hoch und 90 breit, grün, samt drei Schlüsseln, verschimmelt.“540 Castiglioni wohnte zu dieser Zeit in Mailand, seine Frau bereits in den USA. Im Juli 1935 reichte die Österreichische Realitäten AG gegen Castiglioni auch noch eine Klage über 1.000 Schilling ein. Da der Aufenthalt Castiglionis unbekannt war, wurde für ihn ein Kurator bestellt. Das erregte ziemliches Aufsehen, nicht nur weil es sich um einen geringen Betrag handelte, sondern weil Castiglioni offensichtlich verschwunden war. Schließlich meldete er sich telefonisch bei der Redaktion von „Der Morgen“ und bezeichnete alles als einen unglücklichen Zufall. „Ich bin“, erklärte er, „einfach aus dem Hotel Continental, wo ich gewöhnlich logiere, in meine soeben fertig gestellte Mailänder Wohnung übersiedelt. Ich nehme nun an, dass der Brief, der die Forderung der Realitäten AG enthielt, aus Mailand mit dem Vermerk zurückgekommen ist, dass ich unbekannten Aufenthalts sei. So kam es zur Bestellung eines Kurators. Ich habe selbstverständlich meine neue Adresse in Milano sofort bekanntgegeben und kann versichern, dass die Kuratel bereits aufgehoben ist.“541 Im August 1935 führte der österreichische Bundesschatz eine Exekution gegen Castiglioni durch, da er 8.108 Schilling an Steuern schuldig war. Es wurde eine Hypothek auf das Palais in Wien eingetragen und, da die Finanzproku538 C.C. über den Fall C.C., Der Morgen, 27. Mai 1935 539 Strafanzeige gegen Castiglioni, Neues Wiener Journal, 25. Mai 1935 540 Der Inhalt der 30 Kisten Castiglionis, Der Morgen, 26. August 1935 541 Castiglioni: „Ich bin nicht verschwunden!“, Der Morgen, 24. Juli 1935
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ratur seinen Aufenthalt nicht kannte, neuerlich ein Kurator für sein Vermögen bestellt. Am 10. Oktober 1935 kündigte die „Wiener Zeitung“ die öffentliche Versteigerung des Castiglionischen Sachvermögens an. Das Exekutionsgericht schrieb für den 21. Oktober die Feilbietung von antikem und modernem Mobiliar, Einrichtungs-, Kunst- und Dekorationsgegenständen, Silber, Teppichen, Textil-, Glas- und Porzellanwaren, einer Bibliothek, Büroeinrichtung, Büromaschinen, Haushaltsgeräten, Kücheneinrichtung, Herrenkleidern, Damenkleidern und Wäsche, Ölgemälden und Stichen sowie einem Luxusauto „Isotta Fraschini“ mit Mailänder Kennzeichen, Rufpreis 3.000 Schilling, aus. Der Verkauf fand im Aktionshaus für Altertümer Glückselig GmbH im Erdödy-Palais in der Krugerstraße über mehrere Tage statt und am 11. November im Palais selbst die Versteigerung der letzten Reste des Mobiliars, Eiskasten, Küchen- und Garderobenkasten, am Tag darauf noch zwei eiserne Kassen bei einem Spediteur. Damit war der bewegliche Wiener Besitz Castiglionis zur Gänze unter den Hammer gekommen, nachdem schon vorher seine kostbaren Kunstsammlungen in Amsterdam und Wien in Auktion gestanden waren. Der Versteigerungskatalog umfasste 2.500 Nummern, aber ein mehrfaches an Gegenständen, so ziemlich alles, was übrig geblieben war. Ein ganzes Palais wurde ausgeräumt. Die 1.000 Bände umfassende Bibliothek war in 250 Posten eingeteilt. „Das bemerkenswerteste Objekt war eine Schlosserwerkstätte, deren hochwertige Maschinen das Entzücken der Fachleute erregetn, und die sich Castiglioni nach dem Vorbild großer Potentaten aus Liebhaberei eingerichtet hat, um dort in körperlicher Arbeit Erholung zu finden. Auch ein kleines Privattheater für 60 Personen Raum bietend, mit Fauteuils im Renaissancestil, aus der Fabrik des durch sein Legat an die Gemeinde Wien im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehenden Kunsthändlers Schmidt, wird versteigert. Besonders originell ist ein schön eingelegter Damenschreibtisch aus dem Besitz Frau Iphigenie Castiglionis, in dem eine Orgel und ein Betschemel eingebaut sind. In einem Hohlraum dieses Schreibtisches fand man auch ein etwa 150 Jahre altes Gemälde des Malers Janek. Von dem in dem Möbel in einem Hohlraum versteckten Bild des slawischen Malers soll Castiglioni selbst keine Ahnung gehabt haben.“542 Bemerkenswert waren auch die sehr schönen Barock- und Renaissancemöbel des Finanzmannes.543 Der Andrang zum Versteigerungshaus war so groß, dass die Tore zeitweise geschlossen werden mussten. „Die gesamte Einrichtung eines pseudofürstlichen Hauses ist da“, schrieb „Der Wiener Tag“, „vom Boden bis zum Keller. Die Kasten stehen hier und alles, was sie enthielten. Porzellan und Silberzeug, Bücher und Weine, Tisch-, Bett- und Leibwäsche. Die Fracks des Herren und die Abendkleider der Dame. Die Bilder hängen 542 Sensationeller Bildfund bei Castiglioni-Versteigerung, Der Morgen, 23. September 1935 543 Tragödie Castiglioni, letzter Akt, Telegraph, Wien 10. Oktober 1935
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an den Wänden. Die Teppiche liegen auf den Böden. Es sind Kostbarkeiten da. Aber es ist auch allerlei Kram da. ‚Mein Tagebuch‘ liegt in der Vitrine und drei Notizbücher, in himmelblaues Leder gebunden. Das Ölgemälde einer Dame im Pagenkostüm, fecit John Quincy Adams (es ist mit 2.000 Schilling geschätzt) und das Portrait zweier Kinder von Prof. Kraus (Schätzungspreis 1.200 Schilling). Aber Post 252 enthält zwei Dosen, einen Photorahmen, beschädigt, und zwei Kinderschüchlein, zum Gedenken bronziert. Und kristallene Gläser. Und Schüsseln und Teller. Ganze und vielerlei Service. Es ist, als wäre einer von der gedeckten Tafel des Lebens aufgestanden und hätte sich unvermutet empfohlen ... Die gerichtliche Versteigerung ‚Castiglioni‘ macht momentan die Sensation der Wiener Gesellschaft. In den Ausstellungsräumen drängt sich eine bunte und dichte Menge. Man prüft, man schätzt, man erteilt Aufträge, man sieht auch bloß wohl oder will bloß gesehen werden. Man bewundert teils die Gegenstände und teils glossiert man das Ereignis. Es gibt gute antike und Stilmöbel zu sehen: einen Damenschreibsekretär, österreichisch, um 1750, mit einem herausnehmbaren Bild von Christi Geburt, das von Siegmund Janek 1743 signiert ist.“ Dazu kam noch ein „Garderobenschrank mit portugiesischem Panneaux aus dem 18. Jahrhundert, außen mit Lack-Chinoiserien in Schwarz-Rot und Gold, innen mit Schildpatt und Perlmutter eingelegt; Stühle, Tische, Fauteuils aus der deutschen und italienischen Renaissance. Hübsche, elegante und französische Stiche sind da: ein Kupferstich von Dürer, eine Zeichnung von Jsabey. Alle sind äußerst niedrig geschätzt. Die Ausstellungspreise werden zum guten Teil unter 50 Schilling bleiben. Ein Ölbild von Jakop Palma d. J. ‚Diana auf der Jagd‘ hat sich hierher verirrt. Es steht mit 600 Schilling zu Buch. In der Bibliothek findet man viel Kunstliteratur, daneben viele Prachtwerke in prunkvollen Einbänden. In mehreren Exemplaren ist der große Katalog der Bronzestatuetten und -geräte der Sammlung Camillo Castiglioni herausgegeben von Leo Planiscig vertreten. Italienisch und Deutsch. In schlichtem, braunen Lederband und als Prachtausgabe in goldgepresstem Leder. Italienische Literatur überwiegt. Unter dem Porzellan fällt eine Altwiener Vase mit Blumendekor auf, unter den Gläsern ein geschliffenes und reich vergoldetes Prunkservice mit zahllosen Bestandteilen. Ein hübsches Wiener Speiseservice des Jahres 1845 mit Blumenmuster auf weißem Grund kommt meist mit dem Metallwert unter den Hammer. Ein komplettes Herrenzimmer ist noch da, eine Kücheneinrichtung, Bureaumöbel, Schreibmaschinen. Kurz, man könnte sich, wenn man wollte, ausstatten vom Boden bis zum Keller ... Es ist der Ausverkauf nicht bloß eines Palais, es ist der einer Existenz und ihrer Zeit.“544 544 Gerichtliche Versteigerung „Castiglioni“, Der Wiener Tag, 20. Oktober 1935
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Im letzten Augenblick wurden vier Gemälde aus der Versteigerung herausgezogen. „Aufgrund einer Gesetzesbestimmung, wonach Gegenstände, die persönlichen Erinnerungswert haben, ausgeschieden werden können, ist vor allem ein überlebensgroßes, wertvolles Gemälde von der Hand John Quincy Adams, Frau Iphigenie Castiglioni im Kostüm des ‚Rosenkavalier‘ darstellend, ein hübsches farbiges Kreideportrait, die Töchter Castiglionis darstellend, sowie ein Ölportrait des Sohnes Castiglionis, beide von dem Maler Krausz, ausgenommen worden. Auch eine lustige Federzeichnung des Karikaturisten Carl Josef, das Castiglioni als brüllenden Löwen darstellt, vor dem die anderen Finanzmänner auf die Bäume flüchten, ist unter den zurückgestellten Bildern.“545
545 Sanierungsaktion für Camillo Castiglioni, Der Morgen, 21. Oktober 1935
Der Industrielle – letzter Teil BMW 1924 gelang es Castiglioni vorläufig, seine Krise zu überwinden.546 Nach scheinbarem Stillstand seiner Tätigkeit verlegte er seine Operationen hauptsächlich auf den Berliner Aktienmarkt. Anfang 1927 wurde sein neu erworbenes Vermögen auf eine Million Pfund Sterling geschätzt. Castiglioni hatte den Rat seiner Feinde, in Österreich keine Geschäfte mehr zu machen, befolgt, was sich als scheinbar sehr günstig für ihn erwies. „Dadurch haben an Geschäften mit Österreich andere ihr Geld eingebüßt ... Heute kann Castiglioni wieder daran denken, internationale Geschäfte zu machen. Wenn der Österreicher nicht rechtzeitig ins Ausland geht, wird sein Leben lang nichts aus ihm, und wenn er besonderes Glück hat, so hat er so viele Feinde, dass sie ihm rechtzeitig das Vaterland verekeln.“ 547 An sich war es erstaunlich, dass Castiglionis deutsche Beteiligungen nicht von seinen Gläubigern beansprucht worden waren. Sie wurden nun die Basis seiner weiteren Tätigkeit, darunter 100 % des 150 Millionen Mark betragenden Aktienkapitals der Bayerischen Motorenwerke, das gesamte Aktienkapital von 3 Millionen der Hansa-Brandenburgschen Flugzeugwerke AG, 80 % des 16-Millionen-Kapitals der Oertz-Werft in Hamburg und 50 % der Austro-Daimler Motorenwerke AG in Berlin. Ferner besaß er eine Reihe von Grundstücken im Westen Berlins.548 Er übersiedelte 1924 nach Berlin und wurde Gesellschafter der Flugzeugfabrik von Ernst Henkel, der ihm ein Leben lang in Freundschaft verbunden blieb. Die Bayerischen Motorenwerke wurden nicht auf dem Reißbrett entworfen, sondern entstanden aus mehr als einem Unternehmen und unter dem maßgebenden Einfluss 546 Munzinger Archiv 1958 547 Castiglioni und Bosel, Die Börse, 21. Oktober 1926 548 Castiglionis Besitz in Deutschland, Neues Wiener Journal, 8. Dezember 1922
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von Camillo Castiglioni. Er war von der Gründung der Aktiengesellschaft bis 1929 Aktionär von BMW, von 1922 bis 1926 sogar Alleinaktionär, bis 1926 Präsident, dann bis 1929 Vizepräsident. 1913 Gründung der Münchner Rapp-Motorenwerke GmbH 1916 Gründung der BFW AG 1917 Gründung der BMW GmbH 1918 Gründung der BMW AG 1920 Übernahme durch die Knorr-Bremsen AG 1922 Übernahme der Motorenproduktion durch Camillo Castiglioni und 1922 Umfirmierung der BFW AG in BMW AG 1926 Aufgabe der Aktienmehrheit durch Camillo Castiglioni 1929 Ausscheiden von Camillo Castiglioni 1913 hatte der Flugzeugkonstrukteur Karl Rapp mit Partnern die Münchner RappMotorenwerke GmbH gegründet, welche die Produktionshalle und Flugmotorenkonstruktionen der 1912 gegründeten Flugwerke Deutschland GmbH übernahm.549 Die Flugmotorenfirma Rapp begann mit 13 Arbeitern und einem Kapital von gerade 10.000 Reichsmark. Ab 1914 beteiligte sich Max Wiedmann und leitete das Unternehmen. Die Motoren waren aber nicht ausgereift und der Konkurrenz unterlegen. Das Urteil der deutschen Beschaffungsoffiziere fiel daher zumeist vernichtend aus und so wurde die Produktion für Österreich freigegeben. Die MLG – und damit Castiglioni – hatte bereits seit 1914 die Generalvertretung für Österreich-Ungarn und handelte Lieferverträge für die k. u. k. Marine mit den entsprechenden Provisionen aus. Die Rapp-Werke mit nun lediglich 60 Mitarbeitern hatten jedoch erhebliche Schwierigkeiten, die Anzahl und Qualität der Motoren zu liefern. Außerdem waren durch die unzuverlässigen Motoren etliche Flugzeugverluste zu beklagen, was Castiglioni auch nach dem Krieg noch angelastet wurde. So beschloss Wiedmann, mit Fremdlizenzen zu bauen. Er nahm Kontakt mit Castiglioni auf und zog mit dessen Hilfe einen Großauftrag für Austro-Daimler-Lizenzmodelle an Land, wofür zur Überwachung der österreichische Marineoffizier Franz Josef Popp nach München ging. Von den von Österreich bestellten 224 Stück konnten aber nur 17 549 Die Darstellung folgt, wenn nicht anders angegeben: Christian Pierer, Die Bayerischen Motoren Werke bis 1933. Eine Unternehmensgründung in Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise, München 2011. Castiglionis Rolle wird auch bei: Horst Mönnich, Vor der Schallmauer. BMW Eine Jahrhundertgeschichte, Band 1, 1916–1945, Düsseldorf 1983, S. 146–150 behandelt. Mönnich merkt man aber bei jedem Satz seine Abneigung gegenüber Castiglioni an.
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Bild 42 Prüfstand der Rapp-Motorenwerke 1915, in der Mitte Castiglioni. BMW-Archiv
geliefert werden, da nun das Unternehmen wegen der besseren Qualität auch für die deutschen Stellen herangezogen wurde. Schließlich trat Karl Rapp von seiner Funktion zurück, die Rapp-Motorenwerke wurden daher 1917 in BMW GmbH umbenannt. Nun erzeugte das Unternehmen einen neuen Motor, den BMW IIIa, der als der beste deutsche Flugmotor des Ersten Weltkriegs galt. Dieser Motor wurde ein großer Erfolg, sodass die Bayerische Vereinsbank mit der Finanzierung bald überfordert wurde. Castiglioni wurde daher eingeladen, in BMW zu investieren. Seine Gruppe, zu der auch Wiedmann gehörte, erwarb ein Aktienpaket von sechs Millionen Mark, eine Bankengruppe weitere vier Millionen Mark. Auch Hugo Stinnes hatte sich für das Werk interessiert. Er trat mit Camillo Casti glioni bereits 1917 in Kontakt, da dieser mit den Flugzeugwerken Hansa in Brandenburg mit 600 Beschäftigten Flugboote baute. Als Stinnes Anfang März 1918 sein Interesse an Hansa und denBMW bekundete, schlug Castiglioni eine Kapitalerhöhung der Hansa auf 3 Millionen Mark vor, wovon Stinnes die Hälfte erhalten und neben ihm in den Aufsichtsrat einziehen sollte. Ferner sollten Castiglioni und Wiedmann jeweils 750.000 Mark Aktien der BMW an die Stinnes-Gruppe abtreten, um ebenfalls in den
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dortigen Aufsichtsrat einzutreten. Im Gegenzug sollte Stinnes die Aufnahme von Castiglioni in den Aufsichtsrat der Stinnes-Holding „Deutsch-Luxemburg“ befürworten. Daran lag Castiglioni sehr viel, da es ihm bis dahin nicht möglich gewesen war, in Deutschland festen Fuß zu fassen und er die Stinnes-Gruppe für sich als Aushängeschild benutzen wollte. Die Bemühungen von Stinnes, in den Flugzeugbau einzusteigen, scheiterten jedoch. Vor allem da es Castiglioni nicht gelang, eine Dreiviertelmehrheit von BMW in die Hansa einzubringen. Der Bremsklotz war Generaldirektor Wiedmann selbst, der es vorzog, den laufenden Betrieb lieber durch Vorauszahlungen der Militärbehörden zu sichern, als sich in die Arme der Hansa zu begeben. Er erhöhte daher seine Forderungen als Aktionär und Generaldirektor so lange, bis das Vorhaben scheiterte.550 Dass die Rapp-Motorenwerke GmbH 1917 in Bayerische Motorenwerke GmbH umbenannt wurden, sollte vor allem die Nähe zu den staatlichen Auftraggebern ausdrücken. Die während des Krieges erheblich ausgebaute Produktion führte jedoch zu Finanzierungsschwierigkeiten. Daher wurde das Unternehmen auf Druck der Militärs 1918 als Aktiengesellschaft mit einem Grundkapital von 12 Millionen Reichsmark errichtet.551 Das Aktienkapital wurde übernommen: Camillo Castiglioni, Wien 4. Millionen Fritz Neumeyer (Zündapp), Nürnberg 4. Millionen Nationalbank 2 Millionen Bayerische Vereinsbank 800.000 Bayerische Hypotheken und Wechselbank 600.000 Bayerische Handelsbank 600.000 Hans Christian Dietrich von der Bayerischen Vereinsbank wurde nun Vorsitzender des Aufsichtsrates, Castiglioni und Neumeyer stellvertretende Vorsitzende. Zum Vorstandsvorsitzenden wurde der Wiener Franz Josef Popp bestellt, ehemals Ingenieur und Offizier der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, den Castiglioni schon seit 1916 kannte. Die alte BMW GmbH wurde 1918 liquidiert. BMW produzierte bis zum Dezember 1918 ausschließlich Rüstungsgüter. Mit der Niederlage des Deutschen Reiches musste die Rüstungsproduktion vollständig einge550 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, S. 442/3 551 Am Kapital beteiligt war die Bayerische Vereinsbank mit 800.000, die Nationalbank für Deutschland mit 2 Millionen, die Bayerische Hypotheken und Wechselbank und die Bayerische Handelsbank mit je 600.000, der Industrielle Fritz Neumeyer und Camillo Castiglioni mit 4 Millionen.
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stellt werden, das Werk wurde daher stillgelegt und alle Beschäftigten entlassen. Von allen Aktionären behielt lediglich Castiglioni ein Interesse an BMW. Er erwarb 1919 alle Anteile der übrigen Aktionäre, die diese bereitwillig abgaben, da sie nicht an eine erfolgreiche Umstellung zur Friedensproduktion glaubten. Castiglioni fuhr 1919 „von dem aufgewühlten Berlin nach München zurück, um dort die Bayerischen Motorenwerke ganz in seinen Besitz zu übernehmen. Jahre später erzählte er mir (Heinkel), dass er damals sämtliche Aktien der BMW in zwei Koffern mit in das Hotel Continental genommen hatte. Dort verbrannte er sie im Kamin seines Zimmers, weil sie ihm zu schwer waren, ließ sich an ihrer Stelle eine kleine Bescheinigung über seinen Aktienbesitz ausstellen und fuhr damit einen Tag später über den Bodensee in die Schweiz.“552 Anfang 1919 nahm BMW schließlich mit zehn Prozent der ursprünglich Beschäftigten wieder den Betrieb auf. Allerdings genügten die Entschädigungszahlungen und Umstellhilfen der Reichsstellen nicht für den Aufbau einer Friedensproduktion. Die Rettung kam mit der Berliner Knorr-Bremsen AG, welche einen Großauftrag der Deutschen Reichsbahn für neue Druckluftbremsen erhalten hatte. Dementsprechend verkaufte Castiglioni im November 1920 seine Aktien um 28 Millionen Mark an Johannes Philipp Vielmetter (Knorr-Bremsen). Der bisherige Aufsichtsrat – mit Ausnahme des Bankiers Hjalmar Schacht – legte sein Mandat nieder und das Grundkapital wurde von 12 auf 24 Millionen Reichsmark erhöht. Ab 1920 war daher die 1917/1918 entstandene (alte) Bayerische Motorenwerke AG in München ein Tochterunternehmen der KnorrBremsen AG und fertigte Bremsanlagen für die Bayerische Eisenbahn-Verwaltung. Auf ihrem Betriebsgelände befindet sich heute der Stammsitz der Knorr-Bremsen AG. 1922 erwarb Castiglioni von der Knorr-Bremsen AG um 75 Millionen Mark alle den Motorenbau betreffenden Anlagen, das Know-how und den Firmennamen Bayerische Motorenwerke AG (BMW). Die übrigen Anlagen wurden in Süddeutsche Bremsen AG umbenannt. Castiglioni übertrug seine Erwerbung auf die Bayerischen Flugzeugwerke (BFW), die sich daraufhin in BMW umbenannten. Die Gründung der BFW am 7. 3. 1916 wird seither als Gründungsdatum von BMW angesehen. Bereits 1921 war Castiglioni an die Großaktionäre der BFW wegen Übernahme ihrer Anteile herangetreten, angeblich mit der Absicht, auf deren Firmengelände eine Zweigniederlassung der Austro-Daimler errichten zu wollen. Als Bezahlung bot er Austro-Daimler-Aktien an. MAN lehnte das Angebot vorerst ab, die beiden anderen Großaktionäre, die AlbatrosFlugwerke und die Darmstädter Bank für Handel und Industrie, nahmen es jedoch an. Zusammen mit Aktien, die von der Geschäftsführung der BFW ohne Wissen der anderen Aktionäre an Castiglioni übertragen worden waren, verfügte er nun über 80 % des 552 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 67
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Kapitals. MAN war von dieser unfreundlichen Übernahme überrascht, übertrug aber schließlich auch ihre Aktien, um einer Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen. Die Errichtung einer Zweigniederlassung von Austro-Daimler war aber nur ein Vorwand. Castiglioni hatte schon zu dieser Zeit Pläne, die BFW mit BMW zu verschmelzen und war von deren Generaldirektor Popp entsprechend unterstützt worden. Mit der Übersiedlung des BMW-Motorenbaus auf das Gelände der BFW wurde mit dem Aufbau einer eigenen Produktion begonnen. Dabei wurden das erste Mal Motorräder erzeugt, die von BFW entwickelt worden waren, neben Ersatzteilen von Motoren. Zum Bau eines Automobils kam es aber noch nicht, da Castiglioni am Import von Austro-Daimler interessiert war. In der Zeit der österreichischen Inflation waren Einfuhren aus diesem Land besonders günstig und Österreich wurde damit zum wichtigsten Autoimporteur für das Deutsche Reich. Ab 1923 produzierte BMW wieder Flugmotoren, die in den Folgejahren vor allem über Exporte zum profitabelsten Geschäftszweig wurden. Castiglioni hatte sogar bei Kriegsende einige BMW-Motoren in die Schweiz und nach Italien verbracht und konnte sie nun zerlegt entgegen der noch bestehenden Einfuhrverbote nach Deutschland bringen und an Junkers verkaufen. Um eine Lizenz des Herstellers Pratt & Whitney zu erlangen, reisten Camillo Castiglioni und Franz Josef Popp im Oktober 1927 in die USA und schlossen 1928 einen Lizenzvertrag. Vor allem setzte Castiglioni gegen den Widerstand seiner Vorstandskollegen durch, dass BMW auf mehreren Beinen stehen sollte, nicht nur dem von der Politik abhängigen Flugmotorenbau, sondern auch durch die Produktion von Motorrädern und die Fertigung eines Kleinwagens. Zu seinen Absichten schrieb Castiglioni 1929, „dass man auch ein kleines Automobil erzeugen muss, damit man nicht einerseits auf die schwindende Motorradkundschaft, andererseits auf die Launen der Behörden bezüglich Flugmotorenherstellung angewiesen ist, sondern dass man ein festes Dreieck schaffen muss, in welchem sich auch ein großer Artikel befindet, dessen Verkauf nur von der Tüchtigkeit und Konkurrenzfähigkeit der betreffenden Fabrik auf dem Markte abhängt“. Auch die Deutsche Presse sah Castiglioni als Triebfeder, der gegen erhebliche Widerstände im Unternehmen die Automobilfabrikation durchgesetzt hatte.553 1928 entschloss sich BMW daher zur Aufnahme einer Autoproduktion. Um rasch auf dem Markt Fuß zu fassen, entschied man sich zum Erwerb des kompletten Automobilwerks der Fahrzeugfabrik Eisenach AG. Das 1896 gegründete Unternehmen erzeugte seit 1904 einen Kleinwagen unter der Marke Dixi. Dieses Unternehmen hatte in der Krise 1925/26 schwer gelitten, war entsprechend verschul553 René Del Fabbro, Internationaler Markt und nationale Interessen. Die BMW AG in der Ära Cas tiglioni 1917–1930, Sozial.Geschichte, Bern 2/2003, S. 52/3
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det und stand daher zum Verkauf. Obwohl BMW Schulden in der Höhe von 8 Millionen Reichsmark übernehmen musste, wurde der Erwerb doch als erfolgversprechend angesehen. Die Übernahme der Eisenacher Fabrik brachte BMW aber in der Weltwirtschaftskrise in einige Schwierigkeiten, stand aber dennoch am Beginn der Autoproduktion. Castiglionis Industriepolitik war immer auf Marktbeherrschung ausgerichtet. Er versuchte, Unternehmen zusammenzulegen oder zumindest Interessengemeinschaften zu errichten, um dann die Produktion aufzuteilen. So hatte er schon 1922 an eine Verbindung der Austro-Daimler mit BMW gedacht und die Überlegungen blieben in den folgenden Jahren weiter aufrecht. Nach der Fusion von Daimler und Benz war auch eine enge Verbindung mit BMW im Gespräch, die Castiglioni mit der Vision eines AutoTrusts befürwortete, 1926 kam es zu einem Aktientausch und einem Freundschaftsvertrag zwischen BMW und Daimler-Benz. Der Zusammenschluss scheiterte jedoch an der Bedingung von BMW, dass Daimler-Benz die Produktion von Flugmotoren aufgeben sollte. Außerdem war man bei Daimler Benz nicht zu Unrecht der Meinung, dass eine Zusammenarbeit mit Castiglioni gewisse Gefahren in sich bergen würde. Denn Castiglionis finanzielle Ansprüche an BMW und sein Ruf als Spekulant brachten ihn zunehmend in Schwierigkeiten.554 Seit Mitte der 1920er-Jahre war Castiglioni daran interessiert, so viel wie möglich nach seinen eigenen Methoden aus dem Unternehmen herauszuholen. Bereits 1918 konnte er die in seinem Eigentum stehende Oertz-Werft mit dem Argument an BMW verkaufen, dass damit ein Absatzmarkt für die eigenen Bootsmotoren geschaffen würde. Das Unternehmen brachte bis 1925 tatsächlich Gewinne, musste aber nach erheblichen Verlusten 1928 liquidiert werden. 1925 wurde das Kapital von BMW von drei auf fünf Millionen Reichsmark erhöht. Alleiniger Zeichner der neuen Aktien war die Schweizer Investmentgesellschaft IIC im Eigentum Castiglionis. Als Bezahlung erhielt BMW kein Bargeld, sondern Aktien der Berliner Vertriebsgesellschaft Austro-Daimler, deren Geschäft mit dem Ende der Inflation in Österreich 1922 völlig zusammengebrochen war. Die Aktien mussten von BMW noch 1925 von 1,25 Millionen auf 350.000 Reichsmark abgeschrieben werden. Daneben bezahlte Castiglioni noch mit Grundstücken in Berlin und München (250.000) und mit einer Verrechnung von Austro-Daimler München von knapp 500.000 Reichsmark. Er erhielt daher die neuen BMW-Aktien ohne einen wirklichen Gegenwert und BMW hatte den weiteren Produktionsausbau mit eigenen Mitteln zu finanzieren. Solange Castiglioni daher Alleinaktionär von BMW war, konnte trotz erfolgreicher Geschäftsentwicklung nie von einer sicheren Finanzsituation gesprochen werden. 554 Diese Darstellung folgt, wenn nicht anders angegeben, Till Lorenzen, BMW als Flugmotorenhersteller 1926–1940, München 2008, S. 113 ff.
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Vor allem setzte Castiglioni auch zweistellige Dividendenzahlungen durch, die weit über dem Durchschnitt vergleichbarer Industriebetriebe lagen. Das machte es BMW praktisch unmöglich, in guten Jahren Reserven anzulegen. In wirtschaftlich schlechteren Jahren wie 1928 wurden die Dividenden sogar über Bankkredite finanziert. Die deutschen Zeitungen sprachen daher von Prestigedividenden und einer Beihilfe für den notleidenden Großaktionär. Castiglioni wurde aber auch wegen seiner „gefährlichen Eigenart“ und als Ausländer angegriffen. Die Produktion von Rüstungsgütern, wie die Flugmotoren, wurde als zu sensibel angesehen, um einem Italiener vollständigen Einblick zu geben. Dementsprechend gab es starken politischen Druck in der deutschen Öffentlichkeit. Sowohl in der Presse als auch 1928 im Reichstag wurden die Eigentumsverhältnisse bei BMW kritisiert, vor allem vonseiten der Deutschnationalen Volkspartei. Es wurde allgemein beanstandet, dass dieses Unternehmen unter ausländischem Einfluss stand.555 1926 forderte daher der Leiter der Luftfahrtabteilung im Reichsverkehrsministerium, Ernst Brandenburg, Castiglioni ultimativ auf, seine Aktienmehrheit abzugeben und auf seinen Vorsitz im Aufsichtsrat zu verzichten. Er drohte ansonsten, sämtliche staatlichen Aufträge einzustellen, was das Unternehmen in eine existenzielle Krise gestürzt hätte. Auf staatlichen Druck hin übernahm daher ein Konsortium um die Deutsche Bank 1926 die Mehrheit und Castiglioni hielt nur mehr 40 % der Aktien. Emil Georg von Strauß, der im Vorstand der Deutschen Bank für Industriebeteiligungen zuständig war, wurde nun zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates. Die Aktien wurden an der Berliner und Münchner Börse eingeführt. Die ersten börsennotierten Aktien waren aber immer noch von Castiglioni mitunterschrieben. Diese Niederlage hatte aber für Castiglioni auch ihre positiven Seiten. Der Verkauf der Aktienmehrheit bot ihm die Möglichkeit, „Kassa zu machen“ und finanzielle Mittel für andere Transaktionen in die Hand zu bekommen. Der politische Druck auf Castiglioni ließ aber auch als Minderheitsaktionär nicht nach. 1929 kamen zwei Entwicklungen zusammen, die Castiglioni aus dem Unternehmen hinausdrängen sollten. Einmal war er neuerlich in erhebliche Finanzprobleme geraten. Durch Kursverluste Ende der 1920er-Jahre war sein Aktienengagement stark entwertet und Castiglioni praktisch illiquid geworden. Daher nahm er auf seine BMWAktien einen Kredit von 4 Millionen Reichsmark bei der Deutschen Bank und der Diskont-Gesellschaft auf. Bei einem damaligen Kurs von 250 % wurden die Aktien als Sicherheit mit 180 % bewertet. Während des Jahres 1929 fiel der Kurs der BMW-Aktien aber auf 81 %. Grund war einmal die beginnende Weltwirtschaftskrise, wodurch BMW die Dividende 1929 halbieren mussten. Das wurde von der Börse mit Misstrauen gese555 Wolfgang Zorn, Unternehmer und Unternehmensverflechtungen in Bayern im 20. Jahrhundert, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, München 3/1979, S. 184
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Bild 43 Erste BMW-Aktie 1925 mit Unterschrift Castiglioni. BMW-Archiv
hen, zumal das Unternehmen stark verschuldet war. Außerdem kam durch die Insolvenz des Budapester Bankhauses Simon von Kraus ein größerer Posten BMW-Aktien auf den Markt, was den Kurs zusätzlich drückte. Wieweit der schlechte Ruf Castiglionis, der in der Presse diskutiert wurde, zu dem Kursverlust beitrug, ist schwer zu bewerten, wurde ihm jedoch vorgeworfen. Jedenfalls verlangte die Deutsche Bank bei einem Kurs von 134 % Nachzahlungen von 1,8 Millionen Reichsmark auf das lombardierte Aktienpaket, was Castiglioni in erhebliche Schwierigkeiten brachte. Zum anderen hatte Castiglioni beachtliche Geldbeträge aus dem Unternehmen und an der Steuer vorbei herausgezogen, was durch eine von der Deutschen Bank verlangte Überprüfung bekannt wurde. Bereits seit Mitte 1921 hatte Castiglioni eine Vermittlerfunktion für BMW-Motoren übernommen. So handelte er 1922 einen Vertrag mit dem tschechoslowakischen (ČSR) Verteidigungsministerium für eine Lizenzproduktion von BMW-Motoren aus. Ein ähnlicher Liefer- und Lizenzvertrag ging auch nach Japan. Die Lizenzgebühren gingen an die International Investment Company in Zürich, die im alleinigen Eigentum von Castiglioni stand. 1925 wurde mit BMW auf seine Initiative hin mit der International Investment Company, Zürich, neuerlich ein Abkommen
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geschlossen, das dieser eine 10-prozentige Vermittlungsprovision für jeden ins Ausland gelieferten Flugmotor zusicherte. Tatsächlich gingen zeitweise an die 80 % der erzeugten Flugaggregate ins Ausland, vor allem in die Sowjetunion und die USA. Problematisch wurde diese verdeckte Gewinnausschüttung, als die Mehrheit von BMW 1926 an das Konsortium der Deutschen Bank übergegangen war. Das Vertragsverhältnis wurde nun von der Züricher Gesellschaft auf die Bank voor Handel en Credit, Amsterdam, übertragen, die ebenfalls im Eigentum Castiglionis stand. Obwohl er nicht mehr Mehrheitsaktionär war, wurden die Provisionszahlungen weiter geleistet, ohne die anderen Aktionäre zu informieren oder zu beteiligen. Die Vermittlung der Geschäfte mit der Sowjetunion lief jedoch weitgehend über Josef Steinberg, einen gebürtigen Russen, der schon lange in Deutschland lebte. Er hatte die Beziehungen zu den sowjetischen Behörden und erhielt seine Prämien entsprechend dem jeweiligen Auftragswert. Mit der Umleitung der Provisionen in Richtung Castiglioni wurden seine Anteile jedoch immer geringer und 1929 gänzlich eingestellt. Daher richtete er eine Beschwerde an den BMW-Aufsichtsrat, was die Deutsche Bank zur einer Buchprüfung bei BMW veranlasste. Solange Castiglioni Alleinaktionär war, konnten die verdeckten Gewinnausschüttungen in der Schweiz und Holland noch als Steuervermeidung angesehen werden. Ab 1926 waren sie aber Betrug an den übrigen Aktionären. Die Summe des veruntreuten Geldes ließ sich nicht mehr genau feststellen, sollte aber bei zwei Millionen Reichsmark gelegen sein. Da man weder bei BMW noch bei der Deutschen Bank Interesse an einem Prozess hatte, einigte man sich schließlich auf eine Rückerstattung durch Castiglioni von einer Million Reichsmark. Castiglioni versuchte zwar später, diese Abmachung anzufechten, nach der Drohung, dass ihm wegen Untreue sogar eine Gefängnisstrafe drohen würde, zog er aber diesen Versuch ein. Allerdings wurde die Rückzahlung auf 800.000 Reichsmark verringert, wobei 500.000 noch 1929 zu bezahlen waren. Die BMW-Aktien gab er schließlich zum Kurs von 75 an das Bankenkonsortium ab und konnte damit bis 1930 praktisch alle seine Schulden begleichen. Castiglioni war daher für BMW, die er wesentlich mitaufgebaut hatte, eine erhebliche Belastung geworden, die nicht nur deren Ruf schädigte, sondern auch die öffentlichen Aufträge infrage stellte. Damit hatte die Ära Castiglioni bei BMW 1929 ihr Ende gefunden. Der Imageschaden für BMW und die Deutsche Bank waren dennoch beträchtlich, da die „Affäre Castiglioni“ der Presse nicht verborgen blieb. Castiglioni war damit aber in Deutschland erledigt, wie der BMW-Aufsichtsrat Rudolf Weydenhammer feststellte: „Der moralische Ruf des Herren C. scheint zur Zeit hier unter den Nullpunkt gesunken zu sein, dass die hiesige Presse immer wieder denselben als Schäd-
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ling im deutschen Wirtschaftsleben bezeichnet und bekämpfen wird.“556 Ein Nachspiel gab es noch, da der BMW-Generaldirektor Franz Josef Popp an den Provisionsgeschäften – wenn auch in geringerem Ausmaß – beteiligt gewesen war. Er konnte aber seine Position, wenn auch unter schlechteren Bedingungen, halten, indem er sich von Castiglioni distanzierte und die erhaltene Summe zurückzahlte. Zusätzlich hatte er eine lang aufgebaute starke Stellung bei den öffentlichen Stellen des Deutschen Reiches, sodass auf ihn nicht verzichtet werden konnte. Eine Klage wurde BMW auch von der sowjetischen Handelsvertretung angedroht, da für die Lieferungen in dieses Land vertraglich ausdrücklich keine Provisionen vorgesehen waren und auch der Verdacht von Schmiergeldzahlungen im Raum stand. Beim „Russenprozess“ konnte sich BMW durch die Vermittlung der staatlichen Stellen des Deutschen Reiches auf eine pauschale Abfindung von 650.000 Reichsmark einigen. Ein Aufsichtsratsmitglied von BMW erklärte daher erleichtert: „Es geht uns wie einem Mann, der glaubt sterben zu müssen und nun erfährt, dass ihm nur ein Zahn gezogen wird.“557 Die finanziellen Schwierigkeiten wurden in der österreichischen und deutschen Presse mit einer unverkennbaren Schadenfreude kommentiert. „Zieht sich ein neues Gewitter über Camillo Castiglioni zusammen?“, fragte die „Neue Freie Presse“.558 Vor ihr liege die „Bayerische Staatszeitung“, „das bayerische Amtsblatt in seinem altertümlichen Format mit dem Wappen des Königreichs versehen, also wirklich kein Organ, das mit Lügen Staat macht und dicke Buchstaben benützt, um den unzerstörbaren Herdentrieb des schwachen Lesers zu beeinflussen“. Dort wurde vom „finanziellen Zusammenbruch“ und vom „Glück und Ende Castiglionis bei den Bayerischen Motorenwerken“ gesprochen. Im nicht amtlichen Teil der Zeitung sei zwar ein Dementi Castiglionis erschienen (ebenso am 8. Juni 1929 in dem Castiglioni nahestehenden „Neue Wiener Journal“), man könne aber das Gefühl nicht loswerden, dass es eine Krise gegeben habe, was durch die Halbierung des Kurses der BMW-Aktien und die Nachforderungen der Deutschen Bank auf die Sicherheiten ihres Kredites ausreichend belegt sei. Auch die Bemerkung in der „Bayerischen Staatszeitung“, dass ein Vertrag über gewisse Auslandslieferungen mit Castiglioni aufgehoben worden und es zu Rückzahlungen gekommen sei, könne nur als merkwürdig bezeichnet werden. Die Krisengerüchte seien umso unerfreulicher, als die Bayerischen Motorenwerke als ein glänzendes Unternehmen 556 Zitiert bei: Christian Pierer, Die Bayerischen Motoren Werke bis 1933. Eine Unternehmensgründung in Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise, München 2011, S. 118 557 Zitiert bei: Christian Pierer, Die Bayerischen Motoren Werke bis 1933. Eine Unternehmensgründung in Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise, München 2011, S. 161 558 Wie steht es um Castiglioni?, Neue Freie Presse, 5. Juni 1929
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bezeichnet werden könnten, in deren Aufsichtsrat Vertreter der Deutschen Bank, der Diskontgesellschaft und der Darmstädter und Nationalbank saßen. Allerdings schien der Kauf der Dixi-Werke zur Produktion eines Kleinwagens ein „zu großer Bissen“ gewesen zu sein und bei der Generalversammlung musste die Geschäftsführung eingestehen, dass das Gesamtbild in nicht so günstigem Licht erschien. Jedenfalls musste man den Eindruck gewinnen, dass der Einfluss Castiglionis bei BMW verloren sei, „nicht nur die Glorie Castiglionis sei verblasst, sondern auch die Gloriette – das Wortspiel stammt von Rostand – ist im Wanken, auch das kleinere Format dieses Finanzmannes, der sich in so sympathischer Weise als Mäzen hervortat, ist sehr empfindlich bedroht. Vielleicht wird es ihm wieder gelingen, sich zu erholen, denn außerordentlich ist ja seine Beweglichkeit und noch viele Ressourcen stehen ihm zu Gebote.“ Aber auch er sei ein Opfer des immer wieder hervorkommenden Optimismus geworden. „Es gibt ein Sprichwort, das gewisse Finanzkreise charakterisiert: wenn acht Tage schönes Wetter herrscht, fürchten sie nichts mehr, als dass es regnen kann. Ist ein Mann von so außerordentlicher Intelligenz, von so differenzierter Erfahrung wie Castiglioni von neuem befangen gewesen in solchen Irrtümern? Sind die Alarmmeldungen in ihrem ganzen Umfange auf Wahrheit beruhend? Eine Castiglioni-Krise, noch vor wenigen Jahren bedeutete das ein finanzielles Erdbeben. Jetzt wird diese Krise vielleicht vermieden werden. Aber wäre sie ausgebrochen, von einem Erdbeben hätte Österreich kaum etwas gespürt. Die Zeiten der Halbgötter sind vorüber.“ Auch die französische Botschaft in Wien kommentierte die Vorgänge, mit dem üblichen Hinweis darauf, dass Castiglioni einer der Hauptakteure bei der Spekulation gegen den französischen Franc 1924 gewesen sei559 Selbst die Berliner „Weltbühne“ nahm dazu Stellung. Es sei nun schon das zweite Mal, dass Castiglioni einen Unfall erleide. „Das erste Mal, im September 1924, auf dem Höhepunkt der österreichischen Deflationskrisis, ging es etwas heftiger zu ... Um ihn herum gab es Verhaftungen und Selbstmorde. Castiglioni selbst aber sagte rechtzeitig und stolz der alten Kaiserstadt Lebewohl, die sich seiner so unwürdig erwiesen hatte. Anderthalb Jahre später tauchte er in Berlin auf ... Tatsächlich hatte er auch nach dem Verlust seines großen österreichischen Industrie- und Bankenbesitzes noch die Bayerischen Motoren-Werke übrig behalten, die, als Hauptlieferant für die vom Reich subventionierte Flugzeugindustrie und für die sowjetrussischen Verbündeten, offenbar eine Goldgrube waren. Dazu war noch eine kleine Werft, das Theater in der Josefstadt, eine Tiergartenvilla und was sonst noch zu den Reliquien eines entthronten Inflationskönigs gehört, übriggeblieben. 559 Le Ministre de la République francaise à Athènes, à M. le Ministre des Affaires Etrangères, Vienne, le 8 juin 1929, Archives Economiques et Financières, Paris F30 623
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Beim ersten Anlauf freilich schien sich Berlin nicht zu ergeben. Aber Castiglioni kam wieder. Im Sommer 1928 hielt er abermals Einzug, um nun endgültig das deutsche Terrain zu erobern ... Nur von Wien wollte er nichts wissen. Die Wiener meinten zwar, das beruhe auf Gegenseitigkeit, aber Castiglioni war anderer Meinung. ‚Wien, wissen Sie, ist eine sterbende Stadt, was soll man in Wien.‘ Dagegen ließ sich nichts sagen. Berlin hingegen, Berlin war noch ein Feld ... Als die Banken hörten, dass endlich jemand da wäre, der ihnen die faulen Auto-Pakete abnehmen wollte, kam es ihnen auf ein Frühstück mehr nicht an. Nun war es für Castiglioni klar: die Deutsche Bank hatte er in der Tasche, die Disconto-Gesellschaft am kleinen Finger und ein paar andere Banken noch dazu. Nach ein paar Wochen konnte er beglückt den Ankauf der Eisenacher Dixi-Werke buchen. Klein, aber mein – ein schöner Anfang. Aber leider richteten sich die Regierungen nicht strikt nach dem Programm, das Camillo Casti glioni sich gemacht hatte. Durch die Kürzung der Luftfahrt-Subventionen verloren die Bayerischen Motoren-Werke ihre besten Aufträge und auch in Moskau, das jährlich für acht Millionen Mark bei Castiglioni kaufte, wurden zufällig die Import-Devisen knapp ... In Berlin suchte man die Geschichte noch zu vertuschen, aber die Bayerische Staatszeitung war so unerfreulich, auf Castiglionis Malheur aufmerksam zu machen ... Was nun? Castiglioni gehört zu den Leuten, die, wenn sie an einer Stelle Schiffbruch erlitten haben, in anderen Häfen immer noch ein paar flotte Segler besitzen, oder von denen man wenigstens glaubt, dass es so ist. Und darauf kommt es an. Castiglioni war schon vor dem Kriege ein ausgezeichneter Luftfahrer. Eine Notlandung mehr will bei einem so erprobten Sportsmann nichts bedeuten. Der Ballon wird schon wieder hochgehen.“560 Castiglionis Rolle im ersten Jahrzehnt von BMW ist daher äußerst zwiespältig. „Castiglioni erwarb sich unstreitbar große Verdienste bei der Gründungsfinanzierung von BMW. Ohne sein Engagement wäre der Aufbau einer Aktiengesellschaft im Sommer 1918 wohl kaum zustande gekommen, womit der Konkurs der BMW GmbH unvermeidlich gewesen wäre. Zum Jahreswechsel 1918/19 und im Mai 1922 übernahm er zudem zweimal als Alleinaktionär das Unternehmen. Obwohl Castiglioni beide Male vor allem eigennützige Gewinnmotive verfolgte, stand er einer auf langfristigen Erfolg ausgelegten Geschäftspolitik nicht im Wege. Castiglioni wollte allerdings auch einen besonders großen Anteil von den erzielten Überschüssen. Die Gewinnabsaugung durch Dividenden und Provisionszahlungen nahmen dabei mitunter eine Dimension an, die BMW Investitionen oder die Bildung von Reserven merklich erschwerten und zeitweise sogar unmöglich machten. Nachdem sich die Deutsche Bank 1926 als Großinvestor 560 Morus, Curtius und Castiglioni, Weltbühne, Berlin 11. Juni 1929, S. 911/2
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beteiligt hatte, bestand nicht mehr die unmittelbare Gefahr, dass die Kapitalentnahmen durch Castiglioni zum Ruin von BMW führen konnten.“561
Donaudampfschifffahrtsgesellschaft 562 Die DDSG war eine Beteiligung der Bodenkreditanstalt gewesen, welche 1929 nach deren Schwierigkeiten von der Creditanstalt übernommen werden musste. Nach dem Zusammenbruch der Creditanstalt im Mai 1931 und der in der Folge ausgesprochenen Generalhaftung der österreichischen Bundesregierung für alle Forderungen der Bank begann man mit einer Neubewertung und dem Abstoßen der Konzernunternehmen. Das betraf auch die DDSG, über deren Zukunft es mit der Regierung schon einige Gespräche gegeben hatte. Die DDSG war schon seit 1928 in finanzielle Schieflage geraten und der Bund zahlte von 1929 bis 1931 Subventionen von 2,5 Millionen Schilling. 1933 wurde angeregt, die DDSG der Bundesbahn anzugliedern, was diese aber strikt ablehnte. Der Schiffspark war völlig veraltet und die Forderungen beliefen sich Ende 1933 auf 67 Millionen Schilling. Das Unternehmen war daher hoffnungslos überschuldet und der Konkurs stand im Raum. Das Schifffahrtsunternehmen hatte sich weiter über Wasser gehalten, indem es die übernommenen Zolleinnahmen nicht an den Bund weitergab. Der Bund hatte daher Forderungen aus Zollkrediten von 11 Millionen Schillingen und die CA Kontokorrentansprüche von mehr als 42 Millionen Schilling. Die DDSG konnte daher bereits 1933 keine Bilanz mehr veröffentlichen. Hier zeigte sich nun einmal mehr die Art, wie Castiglioni seine Geschäfte anging. Er kam Anfang 1934 ungefragt zur Creditanstalt und wollte Generaldirektor van Hengel sprechen, wie Dr. Rottenberg berichtete. „Ich habe ihn früher nicht gekannt. Er ist durch einen Kollegen zu mir gekommen, der Kollege scheint ihn gerne los geworden zu sein und hat gesagt: Sie, Rottenberg, empfangen Sie den Mann! Bei mir hat sich dieser dann beklagt, dass Herr van Hengel ihm auf einen Gruß nicht gedankt hat. Er hat dann gesagt: Schauen Sie, ich wäre doch der typische Direktor für Semperit oder Steyr und ich könnte Euch doch in Eurer Donau-Dampf helfen. Schauen Sie, habe ich gesagt, Sie 561 Christian Pierer, Die Bayerischen Motoren Werke bis 1933. Eine Unternehmensgründung in Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise, München 2011, S. 232/3 562 Die Darstellung baut auf die Akten 35/05 und 35/06 des Archivs der Creditanstalt, Wien, auf und auf Barbara Gruber, Abschlussarbeit des Forschungsseminars Banken, Staat und Industrie – ein Verhältnis der besonderen Art?!, bei Peter Eigner und Ulrike Zimmerl, 2009/10, Universität Wien
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sind ein so großer Herr einem so kleinen Menschen wie ich gegenüber; Herr van Hengel hat Sie beleidigt, hat Sie nicht gegrüßt – gehen Sie zu ihm!“563 Die nächste Gelegenheit ergab sich, als Bundeskanzler Engelbert Dollfuß einen Empfang zu Ehren des italienischen Staatssekretärs Suvich in Wien gab, an dem auch Castiglioni teilnahm. Dort hatte er Gelegenheit, mit van Hengel ins Gespräch zu kommen. Dieser wollte ihn nicht in der Bank selbst empfangen, sondern besuchte ihn am 8. 2. 1934 in seinem Palais und teilte ihm mit, dass man das Engagement an der DDSG abstoßen wolle. Dem folgten weitere Besprechungen, an denen auch das Vorstandsmitglied der Bank, Ing. Heller, teilnahm. Die Absicht der CA war, ihren Aktienbesitz unentgeltlich abzugeben, dafür aber ihre Forderungen von 42 Millionen Schilling ersetzt zu bekommen. Diese sollten um 40 % bis 60 % abgewertet werden, sodass ein Betrag von 17 bis 20 Millionen Schilling in Aussicht genommen wurde. Van Hengel erklärte sich bereit, beim Bund zu intervenieren, dass auch dieser seine Forderungen herabsetze. Nach Gesprächen mit der DDSG fuhr Castiglioni nach Berlin, um einen alten Bekannten, den dortigen italienischen Botschafter Vittorio Cerruti, einzusetzen. Dieser berichtete an Mussolini und Castiglioni fuhr nach Rom und sprach dort mit dem Stellvertreter des Regierungschefs Suvich. Am 3. März 1934 traf er wieder van Hengel, um die Provision auszuhandeln. Castiglioni wollte 2,5 Millionen Schilling, van Hengel bot ihm 1,5 Millionen, auf die man sich schließlich einigte. Sollte ein höherer Kaufpreis als 20 Millionen erreicht werden, so stand ihm ein weiteres Drittel des Überpreises zu. Castiglioni wies aber darauf hin, dass ihm das Honorar immer zustehen würde, ganz gleich unter welchen Bedingungen die Transaktion stattfinden würde, auch wenn sich die italienische Regierung anderer Personen bedienen würde. Er fuhr danach nach Triest zu Gesprächen mit dem Verwaltungsratsmitglied des Lloyd Triestino und nach Rom zu Suvich und präsentierte sein Exposé zur Sanierung der DDSG mit italienischer Beteiligung. Suvich wies auf die ablehnende Haltung seines Finanzministers hin, dass aber Mussolini selbst positiv gesinnt sei. Zu dem Zeitpunkt war man aber bei der CA von einem Verkauf nicht mehr ganz überzeugt. Castiglioni bemühte sich dennoch weiter bei der italienischen Regierung, diese lehnte einen Ankauf aber ab und schlug eine Beteiligung an einer Kapitalerhöhung von 10 Millionen Schilling zur technischen Rekonstruktion und für Investitionen vor. Die Bedingung war, dass die Forderungen der CA aus dem zukünftigen Reingewinn der Schifffahrtsgesellschaft getilgt werden sollten. Inzwischen war es aber zu direkten Verhandlungen der beiden Regierungen gekommen, die ohne Castiglioni erfolgten, aber auch ohne Beteiligung der CA, die mehrfach 563 Dr. Rottenberg bei der Vernehmung am 10. Jänner 1938.
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dagegen protestierte. Am 27. März 1934 einigten sich die österreichische Regierung, die CA und DDSG über die Sanierung. Der Bund und die CA wandelten ihre Forderungen teilweise in Aktien um und es verblieben nur mehr Forderungen von 5,6 Millionen Schilling für den Bund und 10,5 Millionen für die CA. Die Inhaber der Obligationen verzichteten ihrerseits auf 50 %. Im September 1934 kam es zu einem Vertrag zwischen der österreichischen und der italienischen Regierung bezüglich der Kapitalbeteiligung von 25 Millionen Schilling, verteilt auf 10 Jahre. Wo lag das Interesse der italienischen Regierung an einer Investition in wirtschaftlich so schwierigen Zeiten? „Mit der Beteiligung an der DDSG konnte sich die italienische Regierung mit relativ geringem Kapitalaufwand – die Beitragsleistungen der Italiener waren auf Jahre aufgeteilt – eine dominierende Stellung in der DDSG und damit bei der Frage des Verkehrs im Donauraum sichern. Italien erreichte so seine direkte Einschaltung in den Konkurrenzkampf zwischen den Mittelmeerhäfen und den Häfen der Nordsee, sowie zwischen dem Triestiner Hafen auf dem Donauweg. Dazu kam noch, dass ein Großteil des aufgewendeten Kapitals über Aufträge an italienische Werften und/oder Zulieferbetriebe nach Italien zurückfließen musste. Die italienische Penetration der DDSG stellte somit den einzigen gelungenen Versuch der Italiener dar, direkten Einfluss auf ein in Österreich angesiedeltes Unternehmen zu gewinnen.“564 Die Sanierung der DDSG war aber zwischen den beiden Regierungen erfolgt und nicht durch einen Verkauf. Die Provisionsforderungen von Castiglioni in der Höhe von 1,5 Millionen Schilling (1,2 Millionen Provision und 6 % Zinsen) wurden von der CA daher abgelehnt, da die durchgesetzten Abschlüsse nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hätten. Die Abmachung mit Castiglioni betraf die Ablösung des Engagements der CA, die nicht erfolgt sei. Die Bank habe für die Sanierung schwere Opfer bringen müssen, weshalb die Honorarforderung schlicht unverständlich sei. Am 7. Mai 1937 reichte Castiglioni daher die Klage beim Handelsgericht in Wien ein, die Verhandlung fand am 10. Jänner 1938 statt. Der Komponist Dr. Wilhelm Kienzl, an den Castiglioni für einen Kredit von seinen Forderungen 250.000 Schilling abgetreten hatte, schloss sich der Klage als Nebenintervent an.565 Das soll Castiglioni in Bedrängnis gebracht haben. „Die Staatsanwaltschaft vermutete, dass Castiglioni den Komponisten betrogen habe, obwohl dieser erklärte, nicht betrogen worden zu sein, und gab einen Steckbrief heraus. Castiglionis Flucht ging so überstürzt vor sich, dass sogar ein Finger-
564 Peter Enderle, Die ökonomischen und politischen Grundlagen der römischen Protokolle aus dem Jahre 1934, Diss., Universität Wien, 1979, S. 177 565 Prozess Castiglioni kontra Creditanstalt, Wiener Zeitung, 21. September 1937
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ring in einem soeben gelesenen Buch als Lesezeichen eingeklemmt zurückblieb.“566 An sich war Castiglioni der Kläger und der Komponist war nicht gewillt, gegen ihn strafrechtlich vorzugehen.567 Castiglioni, der am 11. 6. 1937 als Gast im Hotel Imperial das letzte Mal in Wien war, nahm jedenfalls nicht am Prozess teil und wurde durch seinen Anwalt vertreten. Neben den Zeugeneinvernahmen war ein umfangreiches Gutachten die Grundlage des Prozesses, das vom emeritierten Univ.-Prof. Dr. Julius Ziegler und Hofrat Rudolf Barta, Direktor einer Handelsschule, erstellt worden war. Das Gutachten war auf Vorschlag der CA erstellt worden, die damit aber keineswegs glücklich war. Castiglioni begründete seine Forderung mit seinen Bemühungen bei der italienischen Regierung und der tatsächlich erwirkten Kapitalerhöhung. Er habe 1934 den italienischen Botschafter in Berlin zu einer Intervention bei seiner Regierung bewogen und habe selbst im Oktober 1934 eine Unterredung mit dem italienischen Finanzminister gehabt. Aufgrund seiner Initiative sei ein Beamter der italienischen Regierung nach Wien entsendet worden, um die Lage der DDSG zu überprüfen. Damit sei die ursprüngliche Abneigung der italienischen Regierung überwunden worden. Er habe im Dezember 1934 und Jänner 1935 mit der italienischen Regierung weiterverhandelt und die Angelegenheit damit zum Abschluss gebracht. Nach dem Gutachten wies die DDSG bereits 1933 eine Überschuldung von 26 Millionen Schilling auf. Wäre es zu einem Konkurs gekommen, hätte die CA lediglich 3,88 Millionen für ihre Forderungen von 42 Millionen erhalten. Durch die Sanierung erhielt die CA 8 Millionen Schilling, der sich bei Besserung der wirtschaftlichen Lage auf über 15 Millionen erhöhen konnte. Durch seine Initiative bei der italienischen Regierung hatte Castiglioni daher der CA einen finanziellen Nutzen verschafft, auch wenn es nicht zum eigentlichen Verkauf gekommen war. Nach dem Gerichtsurteil übersah die CA, „dass niemand der beklagten Partei auch nur einen Pfennig für die Ablöse ihres Engagements bei vernünftiger Geschäftsführung geboten hätte, wenn er nicht vorher die volle Überzeugung gewonnen hätte, dass die fragliche Schifffahrtsgesellschaft wieder flottgemacht ist und eine günstige Entwicklung ihres Geschäftsgangs in Aussicht steht“. Auf die Form der Sanierung hatte Castiglioni selbst keinen Einfluss. Die Forderung nach 1,2 Millionen Schilling wurde zwar abgelehnt, aber der Nutzen seiner Tätigkeit für die CA wurde mit 4 Millionen festgestellt, wodurch die mit 7,5 % festgelegte Provision den Betrag von 300.000 Schilling ausmachte. Die CA wurde daher zur Zahlung verurteilt, samt Zinsen vom 30. November 1935, plus Prozesskosten von 78.373,28 Schilling. Das war ein prin566 Marin Rh. Pollner, Camillo Castiglioni: Wahlgrundlseer und Märchenschlossbesitzer, in: Alpenpost, Bad Aussee 15/2010, S. 25 567 Steckbrief gegen Camillo Castiglioni, Neue Freie Presse, 22. September 1937
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zipieller Sieg des Klägers. „Das Gericht verwies besonders auf die bezüglichen Angaben des Botschafters Cerruti, der durchblicken ließ, dass sogar Mussolini in Anspruch genommen wurde, um Italien für das österreichische Sanierungsprojekt zu interessieren.“568 Castiglioni legte aber Berufung ein und auch die CA ließ dieses Urteil nicht auf sich sitzen und erhob Einspruch mit einer Gegendarstellung von über 60 Seiten. Die Mühe hätten sie sich aber sparen können, denn am 12. März 1938 kam es zum „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich und damit zu veränderten Rechtsbedingungen. Das Oberlandesgericht wies im September 1938 die Klage des „jüdischen Schiebers“ Castiglioni zur Gänze ab.569 Neben Dr. Wilhelm Bild 44 Kienzl waren nun auch noch das österreichische „Die Börse“, Wien, 9. Juni 1921 Finanzministerium mit Forderungen von mehreren Hunderttausend Schilling, ein Amsterdamer Bankhaus und der Wiener Rechtsanwalt Dr. Hans Gürtler in eigenem Namen in den Prozess eingetreten. Das Ganze ging jetzt an das Reichsgericht, Abteilung Österreich (früher Oberster Gerichtshof), welches die Klage Castiglionis ebenfalls und in letzter Instanz zurückwies.570 „Wohl kaum ein Gerichtsurteil der letzten Zeit hat dem gesunden Rechtsempfinden so sehr entsprochen ...“ schrieb der „Völkische Beobachter“. Das Volk sehe „auf der einen Seite nur den jüdischen Schieber, der damals noch seine Verbindungen hatte und diese für den lumpigen Betrag von 1 ½ Millionen Schilling ‚spielen‘ lassen wollte ... Diese Tatsache allein wäre dem Rechtsempfinden des deutschen Volkes noch genügend, um die Forderung Castiglionis abzuweisen. Darüber hinaus aber betrachten besonders die Volksgenossen aus der Ostmark die Klage des jüdischen Bankmagnaten als eine ausgesprochene Provokation. Als eine Provokation und einen Angriff auf die guten Sitten und auf die Geduld der bodenständigen Bevölkerung der Ostmark, der heute noch, nach Jahren, der große Schrecken des Zusammenbruchs der Depositenbank, deren Präsident Castiglioni damals war, in den Gliedern liegt ... Die 568 Castiglioni gewinnt C.A.Prozess, Der Wiener Tag, 11. Jänner 1938 569 Castiglioni-Prozess vor dem Reichsgericht, Wiener Neueste Nachrichten, 1. Oktober 1938 570 Castiglioni verliert seinen Prozess, Neue Freie Presse, 3. Juli 1938
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Bild 45 „Der Abend“, Wien, 6. Oktober 1922
Bild 46 „Der Stürmer“, Wien, 14. Oktober 1933
Bild 47 „Der Stürmer“, Wien, 11. November 1933
Solidarität des deutschen Volkes in Österreich musste die Millionenbeträge aufbringen, die die jüdischen Bankenschieber verprasst und verspekuliert hatten, während sich diese nach dem Zusammenbruch ihrer Unternehmungen mit ihren schon früher im Auslande angehäuften Reserven nach Frankreich, nach England oder nach Holland zurückzogen. Dieses gemeinsame Vorgehen nannten sie ‚solidarisch‘, was uns nicht weiter wundert, wussten wir doch immer schon, dass die Bankherren von damals weder solid noch arisch waren.“571 Im Lauf der Zeit hatten sich auch die Karikaturen von Camillo Castiglioni verändert. Aus dem stattlichen, eleganten Mann wurde das Gesicht eines hässlichen „Finanzjuden“. Begonnen hat damit schon „Die Börse“ 1921, „Der Abend“ 1922 und „Die Stunde“ 1924, deren Darstellung in der NS-Zeit 1943 von den „Wiener Neuesten Nachrichten“ übernommen wurde. „Der Stürmer“ (Wien) trat 1933 mit eigenen Leistungen hervor.
571 Castiglioni abgeblitzt!, Völkischer Beobachter, 7. Dezember 1938
Die 1940er- und 50er-Jahre Eine Schweizer Episode 1940 erschien in der schweizerischen Tageszeitung „Weltwoche“ ein Artikel mit der Überschrift: „Eine ölige Geschichte“.572 Darin wurde dem Präsidenten der radikaldemokratischen Fraktion der Bundesversammlung, Ludwig Friedrich Meyer (Luzern), vorgeworfen, enge Beziehungen zur Finanzhalbwelt zu unterhalten und sich als Protektor des Großschiebers Camillo Castiglioni zu betätigen. Dies stand im Zusammenhang mit der Gründung der Erdölraffinerie IPSA im Ort Rotkreuz, bei der Meyer Präsident des Verwaltungsrates war. Die treibende Kraft im Hintergrund war Castiglioni, dem der Ruf anhaftete, ein ebenso rücksichtsloser wie gefährlicher Spekulant zu sein, der ganze Volkswirtschaften zerrüttet habe. Dies führte in der Schweizer Presse zu einer emotionalen Berichterstattung, die letztlich zum Rücktritt Meyers aus dem Bundesrat führte. Meyer reichte eine Klage gegen den Chefredakteur der „Weltwoche“, Karl von Schumacher, wegen Ehrenbeleidigung ein, das Gericht wies aber die Klage ab, was auch vom Obergericht und vom Bundesgericht bestätigt wurde. Die Schweiz verfügte zu dieser Zeit über keine Erdölraffinerien und war von einem Kartell von ausländischen Gesellschaften abhängig, das das fertige Produkt einführte. So rückte sie in den Blickpunkt der italienischen Industrie, was Castiglioni erkannte. Sein Netzwerk bestand neben dem angesehenen Rechtsanwalt und Politiker Ludwig Friedrich Meyer aus Attilo Tamaro, seit 1935 italienischer Gesandter in Bern und vorher Korrespondent einer italienischen Zeitung in Wien. Tamaro war ihm verpflichtet und erhielt eine Zuwendung von 500 Franken monatlich. Dann dem Präsidenten der italienisch-schweizerischen Handelskammer in Zürich, Carlo Bianchi, der den Kontakt zu den italienischen Behörden hatte und den mit ihm befreundeten italienischen Industriellen, den Brüdern Miani, mit ihrer Raffinerie S. A. Permanente Olio (Permo572 Wenn nicht anders zitiert, folgt dieses Kapitel dem Beitrag von Benedikt Hauser, „Eine ölige Geschichte“ – Der Skandal um Camillo Castiglioni und Nationalrat Ludwig Friedrich Meyer (1940– 1945), Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Basel, Vol. 60/2010/Nr. 3.
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lio) in Mailand, die sich bereit erklärten, gegen eine Beteiligung die Anlagen zu liefern und den Betrieb zu garantieren. Die Gewinnaussichten waren vielversprechend, wobei es die Aufenthaltsgenehmigung Castiglioni selbst untersagte, in der Schweiz geschäftlich tätig zu sein. Präsident der neuen Gesellschaft IPSA (Industria Petrolifera Svizzera, Società anonimia) wurde daher F. L. Mayer, dem ein Honorar bei Zustandekommen des Projekts von 10.000 Franken zugesichert worden war und durch seine Verwaltungsratsstelle ein jährliches Einkommen und eine Gewinnbeteiligung als Aktionär. Bianchi war als Vizepräsident vorgesehen und er besorgte die italienischen Bewilligungen für den Export der Anlagen und die Kapitalbeteiligung der Brüder Miani. Im Oktober 1939 hatte Castiglioni das Gründungskapital von 4 Millionen Franken zusammen, wobei er drei Viertel kontrollierte. Formell befand sich die Mehrheit in schweizerischen Händen, wobei die beiden größten einheimischen Aktionäre Strohmänner waren. Castiglioni selbst war nur Inhaber von Genussscheinen mit doppelter Gewinnbeteiligung, die er größtenteils an die Investoren aus Italien abtrat, Tatsächlich war die IPSA damit mehrheitlich in italienischem Besitz. Die Gründung der IPSA erfolgte am 4. November 1939, worauf Castiglioni als Honorar 100 Genussscheine und 200.000 Franken in bar erhielt. Nun kam es darauf an, die Einfuhrgenehmigung für Erdöl zu bekommen, wofür sich Meyer bei den entsprechenden Stellen vehement einsetzte. Das Ansuchen wurde, wie damals üblich, an eine Expertenkommission weitergeleitet, die es aber im März 1940 ablehnte. Meyer blieb aber am Ball und Ende Mai 1940 befasste sich der Gesamtbundesrat mit dem Projekt, befürwortete es grundsätzlich und stellte ein Ölkontingent von jährlich 75.000 Tonnen unter gewissen Bedingungen in Aussicht. Bisher war dies durchaus ein positives Projekt, bei dem man Castiglioni nur vorwerfen konnte, dass er sich nicht an die Bedingungen seiner Aufenthaltsgenehmigung hielt. Nun aber kam ihm sein Hang zur Intrige dazwischen und sein Ruf aus den 1920er-Jahren holte ihn ein. Bianchi wollte eine stärkere Stellung in dem Geschäft haben und Castiglioni versuchte darauf, ihn völlig auszubooten. Er setzte Gerüchte über dessen Korruption bei einem Waffenkauf aus Italien in Umlauf, worauf der italienische Gesandte Tamaro diesen zwang, als Präsident der italienisch-schweizerischen Handelskammer zurückzutreten. Bianchi spielte daraufhin dem Chefredakteur der „Handelszeitung“ Informationen über die Rolle Castiglionis bei der IPSA zu und dessen Beziehungen zu Meyer. Die Zeitung nutzte dies zu einer reißerischen Artikelserie, der sich mehrere andere Zeitungen des Landes anschlossen. Zielscheibe war die „Inflationshyäne“ Camillo Castiglioni, sein Aufenthalt in der Schweiz sei eine Bedrohung für die Volkswirtschaft. Meyer wurde eine landesschädliche Tätigkeit vorgeworfen, da er Castiglioni unterstützt und für ihn beim Bundesrat interveniert habe. Meyer rechtfertigte sich
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beim Parteitag am 19. Oktober 1940, was aber von der Presse als Muster der Unverschämtheit und Verdrehung bezeichnet wurde und zu weiteren Attacken führte. Eine der wenigen, die gegen diese Polemik auftraten, war die „Neue Züricher Zeitung“. Sie bezeichnete die Pressekampagne gegen Nationalrat Meyer als ein Kesseltreiben und fragte sich, was damit bezweckt wurde und wer dahinterstand. Das ganze mache den Eindruck einer auf die Spitze getriebenen Unsachlichkeit und bewusster Bösartigkeit, wobei an der Reinheit der Motive der Ankläger zu zweifeln sei. Es sei daher anzunehmen, dass die Aktion nicht der Person Meyers alleine galt, sondern der Freisinnigen Partei selbst. Doch wenn auch die Verwilderung der Pressesitten zu bedauern sei, so sei es doch auch zu bedauern, dass der Name des Fraktionschefs der Freisinnigen Partei mit dem des Herrn Camillo Castiglioni verknüpft werden konnte. Ein Politiker von seinem Rang sollte in seiner beruflichen Tätigkeit auch nur den bösen Schein einer anfechtbaren Beziehung vermeiden.573 Meyer reichte die Klage gegen den Chefredakteur der „Weltwoche“ ein, ließ sich aber bis auf Weiteres von der Führung der Fraktionsgeschäfte entbinden und legte im Juni 1941 sein Mandat im Nationalrat nieder. Beim Urteil des Bezirksgerichts vom 11. Februar 1943 wurde festgehalten, dass sich die Zeitungen an die Grundsätze der Pressefreiheit gehalten hätten. Die Beschuldigungen hätten sich als wahr erwiesen und Meyer sei vorzuwerfen, dass er private Gewinnabsichten dem Interesse des Landes vorgezogen habe. Castiglionis Anwesenheit in der Schweiz selbst sei als eine öffentliche Angelegenheit zu betrachten und die Presse habe daher auf die Gefahren für die Volkswirtschaft zu verweisen, wenn jemand, der mit dem Ruin der österreichischen Währung in Zusammenhang gebracht wurde, seine volkswirtschaftlich verheerende Tätigkeit auf die Schweiz ausdehne. Die Bezeichnung „Großschieber“ sei daher gerechtfertigt gewesen. Die Fabrikanlagen der IPSA wurden dennoch errichtet, waren aber während des Krieges nicht imstande, Öl zu importieren. Die Tätigkeit beschränkte sich vorerst auf die Verarbeitung von Kaffeesatz. Castiglioni selbst blieb in der Schweiz. Am 4. Juni 1940 hatte er bei der eidgenössischen Fremdenpolizei um eine Aufenthaltserlaubnis auf ein Jahr angesucht, wobei er als Referenz L. F. Meyer angab. Da aber diese Angelegenheit vorrangig eine Sache der Kantone war, wurde das Gesuch an den Kanton Zürich weitergegeben. Zur Behandlung des Gesuches kam es jedoch nicht, da Castiglioni in den Tessin übersiedelte. Er bewohnte ein Haus im tessinischen Soregno, das sich unmittelbar neben einer Meyer gehörenden Villa befand. Dieser Kanton bewilligte den Aufenthalt bis zum 1. Juni 1941, dem auch die eidgenössische Fremdenpolizei unter der Bedingung zustimmte, dass er nun die Schweiz zu verlassen habe. „Hiergegen rekurrierte Cas573 Unerfreuliche Dinge, Neue Züricher Zeitung, 2. November 1940
Eine Schweizer Episode
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tiglioni am 3. Mai 1941 mit der Begründung, er werde sich in keiner Weise geschäftlich betätigen und wünsche in vollständiger Zurückgezogenheit seiner erschütterten Gesundheit zu leben. Aus den vorgelegten Arztzeugnissen ergab sich, dass Castiglioni tatsächlich leidend war.“574 Der Abschiebung wurde daher aufschiebende Wirkung erteilt, gleichzeitig aber die Überwachung Castiglionis angeordnet. Die nun eingeholten Informationen ergaben, dass sich Castiglioni in keiner Weise an seine Zusicherung gehalten habe, sich nicht geschäftlich zu betätigen. Den letzten Anstoß gab das Urteil des Bezirksgerichts im Presseprozess, um Castiglioni als unerwünschten Ausländer zu betrachten. Der Rekurs wurde daher abgewiesen und ihm eine Frist bis 31. Mai 1943 gestellt, das Land zu verlassen. Einer Abschiebung durch die Polizei kam er schließlich im Mai 1943 zuvor, indem er nach dem italienischen Varese übersiedelte. Angeblich soll Castiglioni 1949 noch einmal um eine dauernde Aufenthaltsbewilligung im Tessin angesucht haben, was ihm die Schweizer Behörden aber wiederum erlaubten.575 Für die deutsche (und österreichische) nationalsozialistische Presse war der Schweizer Skandal natürlich ein gefundenes Fressen. Als Grund für seine Ausweisung gab sie an: „… skrupellose Mobilmachung gewisser politischer Einflüsse und unsaubere Tätigkeit.“ Mit seinem Namen würde die Inflationszeit wieder lebendig. „Jener Zeit schrankenloser jüdischer Vorherrschaft, in der Wien von ‚Gentleman-Verbrechern‘ schamlos ausgeplündert wurde ... Wien war gegen die Weltplutokratie und das Weltjudentum, deren Exponent Castiglioni gewesen ist, machtlos. Wir freuen uns, dass nun auch die Schweiz endlich daraufgekommen ist, was für ein Subjekt sie mit diesem verkrachten Finanzbanditen drei Jahre lang beherbergte.“576 Die Ausweisung habe dieser internationale Schieber schon lange verdient.577 Und der „Völkische Beobachter“ schrieb, dass der „jüdische Bankplünderer“ und einer der „übelsten Valutaspekulanten“ sich so lange in der Schweiz halten konnte, da es „diese Demokratie nicht übers Herz bringen könne, den jüdischen Schieber aus ihren Armen zu lassen“.578 „Demokratien pflegen derartige jüdische Faiseure höchst ungern ziehen zu lassen: die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den politischen Puppen und der sogenannten Hochfinanz sind ebenso eng wie die finanziellen.“ Nun aber müsse der „jüdische Bankräuber“ endlich die gastlichen Gefilde der Eidgenossenschaft verlassen, die ihm drei Jahre lang ermöglicht hatten, „im Trüben des demokratischen Musterländchens zu fischen.“ Er konnte es so lange mit 574 575 576 577 578
Der Fall Castiglioni, Neue Züricher Zeitung, 14. April 1943 Auf den Spuren vergangener Namen, Die Presse, 24. Dezember 1950 Wiener Neueste Nachrichten, 16. April 1943 Der unerwünschte Castiglioni, Neues Wiener Tagblatt, 16. April 1943 Wolfgang Waubke, „Graf “ Castiglioni und die Fremdenpolizei, Völkischer Beobachter, 21. April 1943
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Berufung auf seine angeschlagene Gesundheit hinausziehen, und es verlangte selbstverständlich die Humanität „dem Plünderer kleiner Sparer die Wiederherstellung aller Raubinstinkte zu gestatten“.579 Die „Nachmittags Zeitung“ bezeichnete Castiglioni als einen internationalen Großschieber und einen der gemeingefährlichsten Vertreter des jüdischen internationalen Ausbeutertums und zitierte aus der schweizerischen Urteilsbegründung: „Großspekulanten, die mit der Währung eines Landes spielen, Finanzmänner, die aus einer Valutaentwertung ihre eigene Wirtschaftsmacht vergrößern, die, weil nicht auf solider Grundlage ruhend, eines Tages zusammenbrechen müssen und dabei den Ruin vieler Existenzen herbeiführen, gelten allgemein als ‚Wirtschafts- und Volksschädlinge‘. Sie werden schlechthin als ‚Schieber‘ und ‚Betrüger‘ bezeichnet. Es ist gerichtsbekannt, dass Castiglioni mit dem Ruin der österreichischen Währung in Zusammenhang stand. Wenn ihn die Zeitungen als ‚Großschieber‘ und ‚gemeingefährliche Inflationserscheinung‘ gekennzeichnet haben, so lässt sich das in Verbindung mit seiner neuesten Aktienschiebung in der Schweiz ohne weiteres rechtfertigen. Die Ausdrücke ‚gemeingefährliches Subjekt‘, ‚schwerer Junge‘, ‚Dynamiter mit schlimmster Vergangenheit‘ seien an sich zwar schwere Beleidigungen, sie verlören aber ihre Schärfe im Hinblick darauf, dass sie gegen Castiglioni angewendet wurden, der seinen unermesslichen Reichtum aus dem Elend eines ganzen Volkes herausgepresst hat.“580 Castiglioni blieb nach der Ausweisung aus der Schweiz in Italien, bis durch den Sturz Mussolinis und die deutsche Besetzung des Landes die Situation für ihn als Juden gefährlich wurde. Er hatte – mit falschen Papieren – eine Villa in der Nähe von Vincencia oder Verona gemietet, versteckte sich aber dann in einem Kloster in San Marino. In Mönchskleidern lebte er so in einer einfachen Zelle. Schließlich kam auch die italienische Polizei ins Kloster, um nach versteckten Personen zu suchen. Die falschen Papiere von Castiglioni beeindruckten sie nicht wirklich. Einer der Polizisten erklärte ihm nach dem Krieg, dass er ihn sehr wohl erkannt habe. Einmal hatte er beim Verhör die Beine verkreuzt, was kein Mönch macht, und zum anderen trug er weiße Seidenstrümpfe, was auch nicht den Franziskanern entsprach. Man hatte ihn aber dennoch nicht verraten, da die Bereitschaft der Italiener, mit der deutschen Besatzung zusammenzuarbeiten, begrenzt war.
579 Wolfgang Waubke, Castiglioni ölt die eidgenössische Konjunktur, Völkischer Beobachter, 28. April 1943 580 Castiglioni, bei richtigen Namen genannt, Nachmittags Zeitung, 31. August 1943
Geschäfte mit Tito
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Geschäfte mit Tito Nach dem Zweiten Weltkrieg wohnte Castiglioni zuerst in Mailand und dann endgültig in Rom. Man hörte nicht mehr viel von ihm, bis auf die Vermittlung eines amerikanischen Kredits an Jugoslawien mit dem für Castiglioni so typischen Nachspiel. Im Mai 1949 kam es zu einer Begegnung des jugoslawischen Regierungschefs Marshall Tito mit dem Chef der amerikanischen ERP-Mission (European Recovery Programm, auch Marshall-Plan genannt), Herrn Zellerbach, auf der Insel Brioni. Hintergrund war, dass sich das kommunistische Jugoslawien von Moskau getrennt hatte und nun seine eigenen Wege ging, was von den USA durch Förderung der wirtschaftlichen Verbindungen gefördert werden sollte. Castiglioni konnte sich in diese Verhandlungen einschalten und wurde von Tito am 21. Mai und 18. Juni empfangen.581 Schließlich gelang es ihm, von der amerikanischen Export-Import-Bank Washington einen Kredit für Jugoslawien zu erreichen, wofür ihm durch Tito eine Provision von 15 %, also 600.000 Dollar, zugesagt wurde. Die Export-Import-Bank Washington ist ein 1934 gegründetes staatliches Institut zur Förderung des Außenhandels. Die Provision war deshalb so hoch, da Jugo slawien zu dieser Zeit für westliche Banken als völlig kreditunwürdig galt. Angeblich soll Castiglioni vom italienischen Außenminister Sforza mit dieser schwierigen und geheimnisvollen Mission beauftragt worden sein. Dabei soll es sich für die italienische Regierung und anscheinend auch für den Vatikan um eine Verbesserung der Beziehungen mit Jugoslawien gehandelt haben. Weitere Angaben gingen dahin, dass Castiglioni im September 1949 in diplomatischer Mission in den USA mit dem amerikanischen Außenminister Dean Acheson zusammengetroffen sein soll, was von dort jedoch dementiert wurde.582 Die Beziehung zu Castiglioni brachte Graf Sforza in einige Schwierigkeiten und Ende Oktober 1949 stellte er dem in der Abgeordnetenkammer ein kategorisches Dementi entgegen und bestritt jede direkte oder indirekte Beziehung der italienischen Regierung zu Castiglioni.583 Nachdem Tito den Kredit erhalten hatte, weigerte er sich aber, die Provision zu zahlen. Anfang April 1951 klagte Castiglioni, das Gericht wies aber die Klage mit der Begründung ab, dass die jugoslawische Regierung ihren Sitz im Ausland habe und der italienischen Gerichtsbarkeit nicht unterstehe. Ein römisches Gericht entschied aber in zweiter Instanz, dass Belgrad zu zahlen habe. Nun begann die Pfändung von jugoslawischem Eigentum in Italien, darunter auch die Villa des Generalkonsulats in Mai581 Castiglioni wieder in Belgrad, Wiener Zeitung, 18. Juni 1949 582 Castiglioni in Washington, Die Presse, 20. August 1949 583 Munzinger Archiv 1958
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land. Insgesamt wurden Werte in der Höhe von 100 Millionen Lire gepfändet, was ein Viertel der von Castiglioni geforderten Provision entsprach.584 Natürlich protestierte Jugoslawien gegen die Pfändung, da es sich bei dem Generalkonsulat um ein exterritoriales diplomatisches Gebäude handelte. Dennoch musste Tito nun etwas nachgeben. Die jugoslawische Regierung war zur Zahlung bereit, allerdings in der Weise, dass sie die Summe von den Forderungen gegen den italienischen Staat abtrat, der ihr laut Friedensvertrag rund 60 Milliarden schuldet. Nun weigerte sich das italienische Schatzamt, den strittigen Betrag an Castiglioni auszuzahlen. Für die Behörde war dies eine private und keine internationale Angelegenheit. Castiglioni sah sich daher gezwungen, den italienischen Staat zu verklagen. Er dürfte damit der einzige Lebende sein, schrieb eine Hamburger Zeitung, „der wegen ein und derselben Forderung zwei Staaten, noch dazu zwei nicht gerade befreundete, verklagte und dadurch eine seltsame Rechtssituation heraufbeschwor“.585 „Tito hat sich wohl nicht genügend Rechenschaft über die Macht eines Mannes gegeben, der vor dem Ersten Weltkrieg ein gern gesehener Gast an den Höfen von Wien und Berlin, Madrid und Bukarest war, ein ungeheueres Vermögen angehäuft hatte und einer der besten Kenner der internationalen Finanz und Wirtschaft ist“, schrieb dazu eine Schweizer Zeitung. „Belgrad hat die Energie des 71jährigen Mannes unterschätzt, der wegen der unterbliebenen Zahlung ‚beleidigt‘ war und nun seine Hand auf den jugoslawischen Besitz in Italien legt.“586 In einem Interview unterstrich Castiglioni „dass ich bei den Unterhandlungen in Washington mich niemals als ‚graue Eminenz‘ Jugoslawiens aufspielte. Ich unterhandelte ganz offen im State-Department und bei der Export-Import-Bank, weil ich von Belgrad darum ersucht worden war ... Ich habe über eine Entlohnung niemals besonders verhandelt; ich nahm einfach sofort das an, was man mir spontan anbot. Wenn das italienische Gericht nach gründlicher Überprüfung der Dokumente und dem mit dem Staatssiegel versehenen, übernommenen Verpflichtungen, mir auf der ganzen Linie rechtzugeben und die jugoslawische Regierung zur Zahlung von 600.000 Dollar verurteilt haben, so glaube ich, dass das für die Beurteilung dieses Falles seitens anständiger Menschen genügen müsste. Ich bedauere sehr, dass die Beschlagnahme jugoslawischen Besitzes in Italien in den Zeitungen veröffentlicht wurde, denn mein Rechtsanwalt Klitsche de la Grange hat alles getan, um diese Veröffentlichung zu vermeiden und das ist ihm auch anlässlich der Verpfändung des jugoslawischen Besitzes in Rom schon vor Wochen gelungen. Die 584 Castiglioni und Jugoslawien, Wiener Zeitung, 7. August 1953 585 Die Welt, Hamburg, 16. Dezember 1953 586 Tito in Italien gepfändet, Der Bund, Bern, 20. Februar 1953
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Beschlagnahme des Hauses in Mailand war aber nicht geheim zu halten. Mehr habe ich darüber nicht zu sagen.“587 Der Prozess fand im Jahr 1954 statt, über seinen Ausgang wurde nichts bekannt.588 Andere Quellen gehen davon aus, dass er den Betrag vom italienischen Reparationsfonds erhalten habe,589 was jedoch unwahrscheinlich scheint, denn dieser Fonds hat seine Verpflichtungen gegenüber den italienischen Staatsbürgern nur zu einem geringen Teil tatsächlich beglichen.590 Die weiteren Projekte des unermüdlichen Projektanten Castiglioni waren aber alle ein Flop. So versuchte er 1952 über seinen amerikanischen Schwiegersohn (Livia) der Alaska Pine & Cellulose Limited, Vancouver, ein Geschäft bezüglich Gasimporte vorzuschlagen, erhielt aber nur eine freundliche Absage.
587 Canaval, Salzburger Gespräche mit C.C., Salzburger Nachrichten, 8. Juni 1953 588 Munzinger Archiv 1958 589 Valerio Castronovo über Camillo Castiglioni in DBI 22, Rom 1979, S. 133–136 590 Ein konkretes Beispiel dafür in: Dieter Stiefel, Eta Gräfin Polesini. Tagebuch der Gefühle, Wien 1991
Das „Haus Castiglioni“ Der berühmte österreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter (1883–1950) hat Camillo Castiglioni sicher gekannt. Sie waren dieselbe Generation und hatten in Wien einige Berührungspunkte. Schumpeter nahm nach dem Krieg eine Art längeres Sabbatical von der Universität, um sich auf anderen Gebieten zu beweisen. 1919 war er für einige Monate Finanzminister, in diese Zeit fällt der umstrittene Verkauf der Alpine-Aktien. 1920 bis 1924 war er Präsident der Biedermann-Bank, im Gegensatz zu Castiglioni kümmerte er sich aber nicht um deren Geschäfte. Die Bank brach 1924 zusammen, Schumpeter hatte sein ganzes Vermögen investiert und nun Schulden, die ihn während der folgenden Jahre schwer belasteten. So fand er wieder zurück in die akademische Welt, zuerst an die Universität Bonn und dann ab 1932 nach Harvard/USA. Allgemein bekannt wurde Schumpeter durch seine Darstellung des Unternehmers.591 Das ist jene Persönlichkeit, die „Innovationen“ und damit eine „schöpferische Zerstörung“ am Markt durchsetzt. Das Neue verdrängt das Alte, wie etwa das Automobil zunehmend die Bedeutung der Eisenbahn reduzierte. In Bezug auf die Inflation war Castiglioni ein solcher Unternehmer. Das diskutierten die Zeitgenossen unter dem Thema neuer und alter Reichtum. Die rücksichtslosen „Emporkömmlinge“ setzten die Möglichkeiten der Inflation rascher und mit neuen Instrumenten ein und brachten damit das bestehende Finanzestablishment zunehmend unter Druck. Die Innovationen vom Typ Castiglioni waren aber auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet – „nach mir die Sintflut“. Sie gelten für die Inflation oder für Zeiten, welche die Spekulation aus welchen Gründen immer begünstigen, wie es bis heute immer wieder zu beobachten ist. Der innovative Unternehmer nimmt diese Mühe aber nicht nur wegen des Gewinns auf sich, sondern um seinem Namen und seiner Familie eine gesellschaftliche Stellung zu sichern. Es gibt demnach ein unternehmerisches Ziel, welches über das rein wirtschaftliche hinausgeht. Der Unternehmer, wie Krupp, Thyssen, Siemens, möchte ein 591 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1993
Iphigenie
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Bild 48 Haus Kolowratring mit Blick auf den Schwarzenberplatz Ansichtskarte 1913, Archiv Dieter Stiefel
„Haus“ begründen, ähnlich dem des alten Adels. Castiglionis Briefpapier trug daher statt eines Wappens die Aufschrift „Haus Castiglioni“ und sollte nur zu offenkundig an das berühmte Haus Rothschild gemahnen.592 Auch alle anderen Aktivitäten, sein Palais, die Kunstsammlung, seine Rolle als Kunstmäzen, der Einfluss auf die Presse, die gesuchte Nähe zur hohen Politik, unterstreichen die Bemühungen, ein „Haus“ zu begründen. Castiglioni saß daher nicht auf seinem Geld, sondern es war für ihn ein Mittel, um seine soziale Anerkennung zu fördern.
Iphigenie Mit der jungen, schönen und talentierten Iphigenie kommt so etwas wie ein menschlicher Zug in die Geschichte Castiglionis. Er war vorher bereits zweimal verheiratet gewesen. „Er hat die dritte Frau, die erste entfloh, die zweite entfloh, die dritte erzittert vor dem
592 Hans Seper, Österreichische Automobilgeschichte 1815 bis heute, Wien 1986, S. 292
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Ungestüm dieses Mannes.“593 Die erste Ehe schloss Camillo Castiglioni 1903 in Wien mit Alaide Vitali, geb. 1884, Tochter von Lazzaro Vitali. Angeblich war er durch seine reiche erste Heirat alleiniger Herr seiner Gründungen,594 was aber angezweifelt werden muss. Nach der Erzählung von Castiglionis Tochter Jolanda war Alaide eine Cousine zweiten Grades. Diese verliebte sich in Camillo, der Vater war aber streng gegen eine solche Beziehung. Darauf trat sie in Hungerstreik und weigerte sich auch, zu trinken. Letztlich willigte der Vater doch ein.595 Aus dieser Verbindung kam der nach Castiglionis Bruder benannte Sohn Arturo, geb. 1905. Die zweite Ehe wurde 1911 in Frankfurt/Main geschlossen, mit „Nelly“, Nellia Babette Stettheimer, geb. 1884, Tochter von J. Isaak Eugen Stettheimer. Es hielten sich aber auch Gerüchte, dass die zweite Ehe mit einer Tochter Rothschilds oder des deutschen Großindustriellen Ernst Körting geschlossen worden sei. Das kam aber wohl eher aus den Tagträumen Castiglionis. Die dritte Ehe wurde 1916 in Berlin mit Iphigenia Augusta Buchmann (23. 8. 1895–30. 7. 1965), Tochter eines bekannten Wiener Zahnarztes, geschlossen. Die Familie war jüdisch, bei der Heirat war Iphigenie aber bereits katholisch. Aus dieser Verbindung kamen zwei Töchter, Livia 1918 und Jolanda 1921. Wie bei Castiglioni üblich wurde auch sein Verhältnis zu den Frauen stilisiert, wobei es auf den Wahrheitsgehalt nicht wirklich ankam. So schrieb das ihm wohlgesinnte „Neue Wiener Journal“ 1919: „Der Hauch von Renaissance gilt auch für sein Verhältnis zur Weiblichkeit. Schöne Frauen haben bei ihm leichtes Spiel. Er war einmal imstande, für eine entzückende Dame der Gesellschaft den Rosenverkäufer aus dem Trocadero mitten in der Nacht telephonisch an den Ort der Handlung zu berufen und ihm den ganzen Korb der schönsten Rosen abzunehmen, wofür er Tausend Kronen niederlegte. Bloß weil diese Dame bei Tisch von den schönen Rosen dieses Vergnügungslokals geschwärmt hatte. Auf diesem Gebiete war er ein großer Verbraucher von Material. Alles in der honettesten und legitimsten Weise.“ 596 Auch Ernst Heinkel hatte manche Kostprobe von Castiglionis vulkanischem Temperament erlebt. „Er war ein bezaubernder ‚homme des femme‘. Er hatte selten Misserfolg. Selbst die gefeierte Fritzi Massary schickte ihm einmal einen Tausendmarkschein, auf den er eine Einladung geschrieben hatte, zwar zurück, schrieb aber ein paar Zeilen dazu, in denen sie Castiglioni mitteilte, dass sie einen Mann, der eine so ungewöhnliche Methode des Interessiertseins zeige, gerne kennen lernen wolle.“ 593 Karl Tschuppik, Camillo Castiglionis Ritt nach Deutschland, in: Stephen Grossmanns Tagebuch, Berlin, 28. Oktober 1922, S. 1513 594 Wolfgang Zorn, Unternehmer und Unternehmensverflechtungen in Bayern im 20. Jahrhundert, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, München 3/1979, S. 181 595 Interview Dieter Stiefel mit Jolanda Castiglioni, Sommer 1991 in Mailand. 596 Novus, Camillo Castiglioni. Ein Porträt, Neues Wiener Journal, 15. Oktober 1919
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Niemand heiratete leichter als Castiglioni, niemand ließ sich aber auch leichter scheiden. „Die Art, wie er seine jüngste junge Frau, die noch vor nicht langer Zeit als Stern am Burgtheaterhimmel aufgegangen war, erkor, ist so romantisch, dass von hier ein sehr charakteristisches Licht auf den Mann fällt. Es bestand schon früher eine rein freundschaftliche Beziehung zwischen beiden, die jedoch Fräulein B. nicht hinderte, einen Engagementvertrag nach Amerika nicht nur zu unterschreiben, sondern auch alle Anstalten zur Reise über das große Wasser zu treffen. Der Finanzmann, der just von bedeutsamen Geschäften in Anspruch genommen war, erfährt erst im letzten Augenblick von diesem kühnen Unternehmen. Mit Blitzesschnelle sind Entschluss und Vorbereitungen getroffen. In rasender Eile kommt er in Hamburg an, gerade im Augenblick, da das prächtige Schiff mit der kostbaren Ladung in See zu stechen sich anschickt. Von Bord weg zwingt er die Diva direkt zum Standesamt; Amerika, Engagement, die ganze Schauspielerei fällt ins Wasser, dagegen ist ein glückliches Ehepaar mehr in Europa.“597 Bei einem Wien-Aufenthalt lud Castiglioni Heinkel ins Burgtheater ein. „Ich will Ihnen eine Frau zeigen, sie ist ein Juwel ... Er führte mich in eine Aufführung von Shaws ‚Cäsar und Cleopatra‘ und ließ kein Auge mehr von der Darstellerin der Cleopatra, der damals kaum siebzehnjährigen, eben erst für die Bühne entdeckten Iphigenie Buchmann. Er flüsterte mir zu: Heinkel, sehen Sie dieses Mädchen, oh, sehen Sie dieses Geschöpf.“598 Castiglioni soll sie wiederholt eingeladen und mit Blumen und Geschenken überhäuft haben. „Sie war längere Zeit keiner Einladung gefolgt, und als sie schließlich folgte, brachte sie ihre Mutter mit. Sie war von seinen Werbungen auf dem Wege über das neutrale Ausland nach Amerika geflohen und hatte dort eine Karriere als Schauspielerin begonnen. Schließlich hat er Iphigenies Vater als Sendeboten nach Amerika geschickt. Da endlich war sie gekommen, auf Umwegen, um die kämpfenden Fronten herum. Sie hatten geheiratet.“ Sie besuchten dann Heinkel: „Sie hinterließ nicht eine Sekunde den Eindruck, als sei ihr langes Sträuben Berechnung gewesen. Sie liebte Castiglioni tief. Jetzt saß sie da bei meinem letzten Wiener Besuch, lächelte und plauderte wie ein Engel, und Castiglioni war bezaubert, dass er die drohenden Wolken nicht sehen wollte, die von allen Seiten heranzogen.“599 Es wurde aber auch erzählt, dass Castiglioni der jungen Schauspielerin schon lange den Hof machte. Sie ließ sich die Aufmerksamkeiten des reichen und mächtigen Mannes gerne gefallen, bis er es immer ernster meinte. Um den Avancen zu entgehen, 597 Novus, Camillo Castiglioni. Ein Porträt, Neues Wiener Journal, 15. Oktober 1919 598 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 50 599 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 65/6
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nahm sie ein Arrangement in New York an. Castiglioni wandte sich nun an ihren Vater und lud ihn ein, sich an einem seiner todsicheren Geschäfte zu beteiligen. Der nahm das Angebot an und investierte sein gesamtes Vermögen. Dieses Geschäft ging aber schief, wofür Castiglioni gesorgt habe. Der Vater war finanziell ruiniert, doch Castiglioni erklärte sich bereit, ihm wieder auf die Beine zu helfen, wenn er bei seiner Tochter ein gutes Wort einlege, – was dieser auch tat. Iphigenie fügte sich damit in das Unvermeidliche und Castiglioni hatte wieder einmal bewiesen, dass er mit Geld alles erreichen konnte. Keine dieser Geschichten ist vollständig wahr. CasBild 49 tiglioni war 1915 gerade 36 Jahre alt, wohnte in einer Iphigenie als Kleopatra 1912 gemieteten Wohnung und war noch bei Weitem nicht Österreichisches Theater am Höhepunkt seines Erfolges. Seine Liebe zum The- museum Wien ater und sein souveränes Auftreten in der Gesellschaft haben Iphigenie sicherlich beeindruckt. Und es wird wohl auch Zuneigung gewesen sein, denn Iphigenie stand Camillo treu an der Seite, solange dies für sie möglich war. Auch von Camillo hörte man keine Frauengeschichten mehr, die sonst die „Revolverblätter“ mit dem größten Vergnügen aufgedeckt hätten. Und seine späten Briefe zeigen, dass er bis zum Ende seines Lebens an Iphigenie hing Tatsächlich hatte Iphigenie 1915 ein Gastspiel an einem deutschsprachigen Theater in New York angenommen, das aber von vornherein nur kurzfristig war, von einer Theaterkarriere in den USA war keine Rede. Am 29. September 1915 führte die Rudolf Christian’s German Stock Company am Irving Place Theater in New York Arthur Schnitzlers „Das weite Land“ auf. Der Star war Arnold Korff, ein Amerikaner mit deutschen Wurzeln, der auch am Burgtheater gespielt hatte und hierfür auch Iphigenie engagiert hatte. Die „New York Times“ schrieb dazu nicht ganz freundlich: „Iphigenie Buchmann, also a newcomer from the Hofburg Theater, had her brunette beauty to recommend her, and while she may disclose deeper powers in subsequent characterisations, this seemed to be her principal asset last night.“600 Castiglionis Tochter Livia berichtete, dass Castiglioni tatsächlich Iphigenie bei ihrer Rückkehr von dem US-Engagement nach Hamburg entgegengekommen war und dann in Berlin geheiratet wurde. Nach Absolvierung der Wiener k. k. Akademie für Musik und darstellende Kunst 600 New Star Appears in German Theater, New York Times, September 30, 1915
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Iphigenie
Bild 50 Iphigenie 1914 Österreichisches Theater museum Wien
Bild 51 Iphigenie 1912 Österreichisches Theater museum Wien
Bild 52 Iphigenie als Kleopatra 1912 Österreichisches Theater museum Wien
1912 wurde Iphigenie bereits mit 17 Jahren Mitglied des k. k. Hofburgtheaters. Sie war „eine stadtbekannte Schönheit am Burgtheater, die in Caesar und Cleopatra auch George Bernard Shaw begeisterte“.601 Dieser hatte für die Aufführung seiner Komödie eine Bedingung gestellt: „die sechzehnjährige Königin Kleopatra, die dem glatzköpfigen, aber noch immer galanten Julius Cäsar entgegen schreitet, müsse von einer zweifellos sechzehnjährigen Darstellerin verkörpert werden, sonst sei die ganze Komödie unglaubhaft. Und wenn dieses Mädchen noch so wenig Erfahrung von Bühne und Leben habe – je weniger, desto angenehmer sei es für den Dichter. Denn der Zauber der kindhaften Königin würde durch unreifes Wesen der Darstellerin nur erhöht.“ Damit brachte er das Burgtheater in arge Schwierigkeiten. Vier renommierte Darstellerinnen hatten sich bereits für die Rolle interessiert, die alle schön und jung waren, aber nicht sechzehn. Woher sollte man „diesen Engel von schauspielerischer Unschuld nehmen“? Der Regisseur, Albert Heine, war aber auch Professor an der Schauspielschule der Akademie. „Da hatte er eine reichbesetzte Mädchenklasse zu leiten, zum größten Teil aus reizenden Halbkindern bestehend. Der Herr Professor ließ nun fast die ganze Klasse die Rolle der Kleopatra auswendig lernen. Dann musste jede der Schülerinnen auf das Podium treten, um ein Stückchen daraus ‚aufzusagen‘. Wer es am besten traf, dem winkte ein gar hoher Preis, ein Triumph von traumhaftem Glanz: die Titelrolle in 601 Rudolf Ulrich, Österreicher in Hollywood, Wien 2004, S. 84
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einem neuen Burgtheaterstück spielen zu dürfen, ohne jemals eine Bühne betreten zu haben! Damals ereignete sich der seltene Fall, dass ein Kadett sofort zum General werden konnte. Man wird sich daran erinnern, welch kleines Mädchen damals in sanftem Zugreifen mit zögernder Hand den Lorbeerkranz pflücken durfte. Es war die Schülerin Iphigenie Buchmann, im Burgtheater der Kürze halber ‚Iphi‘ genannt, ein Name, den später auch die glänzendsten Wiener Salons übernahmen. Denn das Fräulein erzielte durch den Charme ihrer Unerfahrenheit, durch das Knospige ihres Mädchentums – kein Kind mehr und doch noch keine Dame, am wenigsten Theaterdame – einen fast unbestrittenen Erfolg. Aber so eigentlich war’s ein Sieg ihrer sechzehn Jahre.“602
Das „Haus Castiglioni“
Bild 53 Iphigenie als Rosenkavalier bei einer FaschingsRedoute um 1920 Österreichisches Theatermuseum Wien
Bis 1915 spielte „Iphi“ am Burgtheater beachtliche Rollen.603 1912 Lysander Mädchen – Autor Joseph Viktor Widmann – Rolle: Leontis Cäsar und Cleopatra – Autor George Bernard Shaw, Premiere – Rolle: Cleopatra Sommer – Autor Thaddäus Rittner, Premiere – Rolle: Isa 1913 Der junge Medardus – Autor Arthur Schnitzler – Rolle: Helene Der Reiherbusch – Autor Dario Niccodemi, Premiere – Rolle: Juliette 1914 Weh dem, der lügt – Autor Franz Grillparzer – Rolle: Edrita Vagabunden – Autor Hjalmar Bergström, Premiere – Rolle: Oda Henriksen 602 Julius Stern, Wiener Theaterwoche, Volks-Zeitung, 26. Mai 1935 603 Die Zusammenstellung erfolgte freundlicherweise durch das Burgtheater 2011.
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1915 Der Bibliothekar – Autor Gustav von Moser – Rolle: Eva Webster Schirin & Gertraude – Autor Ernst Hardt, Premiere – Rolle: Schirin 1916 heiratet Iphigenie Camillo Castiglioni, verzichtet auf eine weitere Karriere als Schauspielerin. Dass sie aber ab 1920 in der Villa in Grundlsee in einem goldenen Käfig zu leben und Wien-Verbot hatte, ist anzuzweifeln. Einmal hatte es sich bei den Erfolgen schon in sehr jungen Jahren um eine selbstbewusste Persönlichkeit gehandelt, die sich nicht so ohne Weiteres auf die Seite schieben Bild 54 ließ, zumal man Castiglioni eine starke emotionale BinIphigenie in „Himmel und dung zugestehen muss. Zum anderen gab es aus dem 19. Hölle“ im Theater in der Jahrhundert die bösartige Bemerkung von der Funktion Josefstadt 1924 einer bürgerlichen Frau als „Mutti, Möbel und MatratÖsterreichisches Theater museum Wien ze“, und Möbel stand dafür, dass ein Wohnzimmer ohne repräsentative Ehefrau nicht vollständig war. Castiglioni brauchte seine Frau sehr wohl auch für die ihm so wichtige Repräsentation, insbesondere bei seinen legendären Festen in Wien. Die junge, schöne Schauspielerin war dafür perfekt geeignet, eine Rolle, die sie sicherlich genoss, vielleicht die Rolle ihres Lebens. Castiglioni hat seine Frau von seinen geschäftlichen Skandalen ferngehalten und die Medien akzeptierten seine Privatsphäre. Aber in Grundlsee verbrachte die Familie die Sommermonate, die Zeit um Weihnachten und die während der Salzburger Festspiele, ansonsten wäre sie in der ländlichen Umgebung verkümmert. Dass Iphigenie weiter am Wiener Kunstleben teilnahm, zeigt etwa ein Telegramm von Castiglioni an seine Privatsekretärin vom 22. März 1927: „Gnaedige Frau ankommt Sonntag Ich bleibe München Stop Bitte für Gnaedige Frau bestimmt zwei Plaetze Dienstag abends Großer Musikvereinssaal Zwei Plaetze Mittwoch Abend auch Großer Musikvereinssaal Gute Loge Donnerstag Fidelio Reservieren notfalls persoenlich durch Knepler Stop.“604 Für ihre persönlichen Bedürfnisse hatten die Castiglionis eine böhmische Köchin und drei Dienstmädchen, darunter ein persönliches „Stubenmädchen“ für Iphigenie. Camillo hatte einen italienischen Butler, Giovanni, der nicht Deutsch konnte und dessen Sprachversuche die Kinder immer zum Lachen brachten. Zu Weihnachten hatte jeder einen eigenen Geschenktisch. 604 Privatarchiv Dieter Stiefel
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Iphigenie „konnte nun alle Freuden und Leiden des jungen Reichtums unserer Nachkriegszeit kennenlernen, der so leicht bricht, wie das papierdünne iberische Glas jener Kristallpokale, die Frau Iphi als Kleopatra auf der Burgtheaterbühne ihrem guten alten Cäsar versprochen hatte. Papierdünnes Glück ...“605 Es war wohl klar, dass Castiglioni nach 1925 ein problematischer Ehepartner für eine Persönlichkeit wie Iphigenie war. Er war verfolgt von Prozessandrohungen, Finanzproblemen und Pfändungen und seine gesellschaftliche Stellung war schlicht und einfach ruiniert. Es gibt keinen Hinweis, dass sie nicht weiter an seiner Seite stand und zu ihm hielt, aber das war kein Leben, das sie für sich und ihre Töchter länger akzeptieren konnte. Das Palais in Wien war nach der gerichtlichen Versteigerung der gesamten Inneneinrichtung nicht mehr bewohnbar und auf der Villa am Grundlsee lagen Hypotheken. Bis 1929 hatte Iphigenie mit ihren Töchtern noch in Wien und Grundlsee gelebt, dann zogen sie nach Mailand in die Via Spiga, wo Castiglioni eine Wohnung eingerichtet hatte. Aber das waren alles keine befriedigenden Zustände. So entschloss sich Iphigenie, wieder ihren Beruf aufzunehmen. 1933 ging sie mit Max Reinhardt in die USA, der 1934/35 Franz Werfels Stück „Der Weg der Verheißung (The Eternal Road)“ in New York inszenierte. Da sich aber der Aufführungstermin verzögerte, wandte sich die Wienerin nach Hollywood und stand bereits kurze Zeit später in „The Story of Louis Pasteur“ als französische Kaiserin Eugenie vor der Kamera, eine Rolle, die sie auch in „Maytime“ verkörperte. Danach arbeitete sie einige Jahre als Drama-Coach. Erst Ende der 1940er-Jahre nahm sie ihre Schauspielkarriere bei Warner’s, 20th Century-Fox und Paramount wieder auf.606 Die ältere Tochter Livia wurde 1930 auf ein College nach England geschickt und ging dann mit ihrer Mutter in die USA, während die jüngere Tochter Jolanda und auch der Butler bei Camillo in Italien blieben. Bei ihrer Übersiedlung nach Hollywood machte sich Iphigenie durch die Angabe ihres Geburtsjahres mit 1901 um sechs Jahre jünger, um im neuen Jahrhundert geboren worden zu sein, was in diesem Geschäft wichtig erschien. Die Zeitung „Der Morgen“ konnte an dieser Romangeschichte, der persönlichen Tragödie, die hinter dem Fall Castiglioni stand, nicht vorübergehen. „Iphigenie Buchmann, die einst gefeierte Künstlerin des Burgtheaters, ist seit vielen Jahren mit Castiglioni verheiratet. Die auch heute blendend schöne Frau, die augenblicklich in Hollywood weilt, hat sich auch in Castiglionis größter Zeit sehr still und zurückhaltend benommen – in dem fürstlichen Palais in der Prinz-Eugen-Straße empfing sie nur selten ihre besten Freunde. Umso lieber und öfter war sie in Castiglionis Villa am Grundlsee, wo C. C. – die Abkürzung des Namens ist zum Begriff geworden – eine weltbe605 Julius Stern, Wiener Theaterwoche, Volks-Zeitung, 26. Mai 1935 606 Rudolf Ulrich, Österreicher in Hollywood, Wien 2004, S. 84
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rühmte Orchideenzucht errichtet hatte, für die Orchideen aus der ganzen Welt nach Österreich kamen. Als dann Castiglioni in Schwierigkeiten geriet und daranging, seine Schulden zu bezahlen, musste er der verwöhnten und schönen Frau seine Lage offen darstellen. Frau Castiglioni ergriff die Situation sofort und unternahm vorerst in aller Stille Versuche, um sich eine Rückkehr zur Bühne zu erschließen.“ Castiglioni dachte natürlich an Max Reinhardt. „Ein Briefwechsel setzte ein, Reinhard bot in Hollywood alles auf, um für die ehemalige hervorragende Darstellerin des Burgtheaters ein Engagement zu finden und stellte fest, dass sich tatsächlich Chancen bieten. So schiffte sich die Herrin vom Grundlsee vor kurzem nach Amerika ein.“607 Finanziell war die Situation während des Krieges für Camillo wie Iphigenie schwierig. Iphigenie soll ihrem Mann sogar Geld von Los Angeles geschickt haben, aber sie und ihre Tochter beklagten sich, dass er sie nicht mehr finanziell unterstützen konnte. 1940 heiratet Iphigenie in Mexiko City den russisch-amerikanischen Filmschauspieler Leonid Kinskey (1903–1998). Dieser spielte unter anderem den Barkeeper Sacha aus Rick’s Café im Film Casablanca. Wie und wo sie sich scheiden ließ, ist nicht ganz klar. Eine Scheidung 1940, als in Europa der Zweite Weltkrieg tobte, in Kalifornien von einem Italiener, der in der Schweiz lebte, von einer Ehe, die in Berlin geschlossen worden war, dürfte nicht so ganz einfach gewesen sein. Vielleicht hat man deshalb in Mexiko City geheiratet, weil man es dort nicht so genau genommen hat. Vielleicht hat man auch nur kirchlich geheiratet, was 1916 nicht erfolgt war. Vielleicht war diese Heirat auch nur ein persönliches Versprechen und Iphigenie blieb weiter mit Camillo legal verbunden, dessen Namen sie ja weiter behielt. Dafür würde auch sprechen, dass das Ehepaar Castiglioni-Kinskey zur Freude der Medien seine Eheschließung jedes Jahr in einer anderen Stadt wiederholte. Iphigenie hatte in Hollywood keine großen Rollen mehr, aber sie erreichte doch eine beachtliche Präsenz, zumeist in Rollen, die eine gewisse Noblesse verkörperten oder als südliche Schönheit. Einen bemerkenswerten Erfolg hatte sie in TV-Serien, die in den USA wesentlich früher begannen als in Europa. Filme: 1935 The Story of Louis Pasteur (Madame Charpentier) 1937 Maytime 1937 The Life of Emile Zola (Empress Eugenie) 1949 Always Leave them laughing (Madame Rosée) 1950 September Affair (Maid) 1952 The Greatest Show on Earth 1953 The Caddy (Mrs. Spezzato) 607 Frau Castiglionis Roman, Der Morgen, 20. Mai 1935
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1954 Three Coins in the Fountain (Bit Part) 1954 Rear Window (Woman with Bird) 1954 December Bridge 1955 Conquest of Space (Mrs. Heinz Fodor) 1956 Zane Grey Theater 1957 Funny Face (Armande) 1957 Valerie 1957 The Sadist (Mrs. Lilli Horvat) 1957 Wild is the Wind (Paty Guest) 1961 Comancheros (Josefina) 1962 Rome Adventure (Contessa) TV-Serien: 1956 The Adventures of Jim Bowie (Anna De Marigny) 1956 Passport to Danger 1957 Have Gun, Will Travel (Pina) 1957 Zane Grey Theater (Maria Delgade) 1957 The Lineup 1957 December Bride (The Duchess) 1958 Alfred Hitchcock Presents (Contess d’Auberge) 1958 Suspicion 1958 77 Sunset Strip (Angela Jimenez) 1958 The Veil (Madame Nadu) 1959 Alcoa Presents One Step Beyond (Contess Ferenzi) 1959 Adventure in Paradise (Tama) 1960 Thriller (Madame Roberti) 1961 The Asphalt Jungle (Manika Vanda) 1961 The New Breed (Carla Rossi) 1961 The Dick Powell Show (Kati) 1961 Dr. Kildare (Mrs. Krolik) 1962 The Gallant Men (Signora Josephine Cirasella) Anlässlich der Geburt des ersten Enkelkindes schickte Camillo Castiglioni an Livia 1950 ein Geschenk, „es wird angesichts der schweren Zeit, bescheiden sein, aber ich hoffe doch, dass Ihr Euch darüber freuen werdet. Denkt mehr an die Aufmerksamkeit, als die Höhe des Betrages.“608 Camillo Castiglioni hing seiner Frau ein Leben lang nach. 608 Camillo Castiglioni an Livia, Milano Via Piolti de Bianchi 37, 29. Juli 1950, Privatarchiv Dieter Stiefel
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Noch 1950 schrieb er in einer Weise, die nicht darauf hindeutet, dass er von der neuen Ehe gewusst hatte: „Meine liebste Iphi, warum schreibst Du mir so wenig, wo ich Dir schon einige Male gesagt habe, wie sehr mir Deine Briefe fehlen. Livia wird Dir bereits mitgeteilt haben, dass drei falsch adressierte Briefe zurückgekommen sind, was mich natürlich besonders gekränkt hat. Raffe Dich also auf, oder erkläre mir wenigstens den Grund Deiner Änderung, denn wenn Du irgendeinen mir vollständig unbekannten Grund hättest, müsste ich mich selbstverständlich damit abfinden. Dein Benehmen ist seit drei Jahren dasselbe tadellose und herzliche gewesen, Du musst daher verstehen, dass es mir schmerzlich ist eine solche plötzliche Änderung feststellen zu müssen.“609 Iphigenie starb am 30. Juli 1963, begraben wurde sie am Hollywood Forever Cemetery.
Palais Miller-Aichholz In Wien wohnte Castiglioni nie ganz bescheiden, aber am Anfang noch in gemieteten Objekten und weit weg von seinem späteren Aufwand. Gemeldet war Castiglioni von 1903 bis 1912 in Wien 1, am Stubenring 20/2/5, gemeinsam mit Gattin „Nelly“ und Kind Arturo. Dann bis 1916 mit beiden in Wien 4, Wohllebengasse 7/Mezzanin/9. Danach nahm Castiglioni bis 1922 eine Wohnung im 3. Wiener Bezirk, Schwarzenbergplatz 5/1/5 und 6, bereits als geschieden geführt, aber das Kind Arturo ist noch mitgemeldet. Dieser Wohnsitz war das Palais Pollack-Parnau, welches dieser Textilindustrielle 1914 erbauen ließ. (Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dort das Steyr-Daimler-PuchGebäude errichtet.) Castiglioni mietete sich aber in diesem Palais nur ein und war nie Eigentümer des Hauses, wie manchmal festgestellt wird. Danach – offiziell ab dem 10. August 1922 – war sein ordentlicher Wohnsitz in Wien 4, Prinz-Eugen-Straße 28, im Palais Miller-Aichholz.610 Das Palais hatte Castiglioni 1919 um 1,5 Millionen Kronen erworben.611 Der Gebäudekomplex wurde von 1877 bis 1880 in der Nähe des Palais Albert Rothschild (Heute Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien) errichtet. Der aus Tirol stammende Josef von Miller zu Aichholz war als Industrieller zu Reichtum gelangt und wurden 609 Camillo Castiglioni an Livia, Milano Via Piolti de Bianchi 37, 29. Juli 1950, Privatarchiv Dieter Stiefel 610 Mitteilung des Wiener Stadt- und Landesarchivs, historische Meldeunterlagen, 17. Juni 2011, frühere Meldeunterlagen sind nicht erhalten geblieben. 611 Als sein sonstiger Immobilienbesitz wurde in der Presse angegeben: 1920 Haus Schwarzenbergstraße 8, 5 Millionen Kronen, 1923 Besitz in der Theresianumgasse 500 Millionen Kronen, ein Gut in Polen mit mehreren Tausend Joch und ein Gestüt von Rennpferden in Ungarn.
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Bild 55 Palais Miller-Aichholz, Straßenfront. Edgard Haider, Verlorenes Wien, Böhlau Verlag, Wien 1984
1865 geadelt. Auch seine Söhne setzten den geschäftlichen Erfolg fort und spielten eine bedeutende Rolle in der Kunstwelt. Viktor legte eine kostbare numismatische Sammlung an, die später an das Kunsthistorische Museum ging. Er war außerdem Präsident der Brahmsgesellschaft. August war Gründer des Wiener Stadttheaters und Direktionsmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde. Eugen schließlich widmete sich ganz der bildenden Kunst. Der lebenslange Junggeselle war ein begeisterter Kunstsammler und errichtete das Palais zur Präsentation seiner Prunkstücke. Der Bau erinnerte an die Adelssitze der vergangenen Epoche, was aber zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich war. Der in der Architektur damals übliche Historismus hat in diesem Sinn nichts Neues hervorgebracht, sondern sich an früherer Zeit orientiert. Die Fassade sollte stets die Funktion des Baus deutlich machen. Das in diesen Jahrzehnten erbaute Parlament war griechisch, das Rathaus gotisch und das Palais Miller-Aichholz repräsentierte eben das zum Adel aufstrebende Bürgertum. Das Palais war aber nie fürstlich oder ein Adelssitz gewesen, wie manchmal erwähnt wurde. „Der von der Straße zurückversetzte Mitteltrakt und die beiden anschließenden Seitenflügel umschlossen einen Ehrenhof, der von der Straße durch ein Eisengitter mit prachtvollem Tor in der Mitte abgeschlossen war. Im Inneren spielten die Wohnräume
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Bild 56 Stiegenaufgang mit den drei Tiepolo-Gemälden. Edgard Haider, Verlorenes Wien, Böhlau Verlag, Wien 1984
eine Nebenrolle. Für sie war lediglich die Gartenseite vorbehalten. Das Stiegenhaus, das Hauptgeschoss des Mitteltraktes und die Galerie in den beiden Flügelbauten standen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Vor den Galerien lagen offene Terrassen, die zu den mit Mansardendächern ausgestatteten Pavillons führten, mit denen die Seitentrakte zur Straße hin abschlossen. Von den Wohn- und Gesellschaftsräumen im Erdgeschoss gelangte man durch eine gedeckte Terrasse in den Garten. Im Erdgeschoss lagen auch die Stallungen, die Remise, die Küche und die Dienerschaftsräume. Prunkstück des Hauses war die Stiege, die eigens für die Anbringung dreier Kolossalgemälde erbaut worden war.“612 Hier waren die Tiepolo-Gemälde angebracht. Eugen Miller-Aichholz lebte relativ zurückgezogen in seiner Sammlung von Bildern, Plastiken, Kirchengeräten, Bronzen, Fayencen usw. und empfing nur einzelne Freunde. Nach seinem Tod 1919 ging das Gebäude nicht an einen seiner Neffen, sondern wurde samt den Kunstschätzen von Camillo Castiglioni gekauft. Das Haus entsprach ganz seinen Vorstellungen und er baute es weiter aus. „Das Palais besteht aus zwei Gassen612 Edgard Haider, Verlorenes Wien. Adelspaläste vergangener Tage, Wien 1984, S. 154
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seitentrakten und einem zurückliegenden Haupttrakt; diese Bauten schließen einen gärtnerisch ausgestalteten, durch einen Springbrunnen verschönten Straßenhof ein. Hinter dem Haupttrakt liegt ein Garten mit Marmorbassin und Brunnen. Die Gebäude selbst sind äußerst luxuriös und vornehm ausgestaltet und mit seltenen Kunstwerken versehen. Von der Größe und Ausdehnung des Castiglionischen Haushaltes zeugen nicht nur die Haupt-, sondern auch die Nebenräume. Im Tiefgeschoss des Haupttraktes befinden sich die zwei Weinkeller, ein Aschenkeller mit Schwebebahn, ein Kohlenkeller mit Rollbahngeleise, ein Teppichdepot, zahlreiche Maschinenräume und ein Tresorraum; in den Seitentrakten nebst Wohnräumen liegen die Galerie und der Bibliotheksaal, im Dachgeschoss die Badeeinrichtungen mit Dampfkammer und Heißluftkammer und das Turnzimmer.“613 Zwei Personenaufzüge, ein Speiseaufzug, Lichtzentrale, Zentralheizung, Warmwasseranlage, Entlüftungsanlage, Staubsaugeranlage ergänzten die Ausstattung. Mit Castiglioni zog in das Palais ein neuer Geist ein, es wurde zu einem gesellschaftlichen Zentrum Wiens „Der neue Hausherr ließ die Tiepolo-Kolossalgemälde im Stiegenhaus durch Vorhänge abdecken. Bei Gesellschaften schoben sie sich dann auf Knopfdruck wie im Kino auseinander. Die gewünschten Ah!-Rufe der Gäste blieben auch nicht aus. Viele Parties – einem Eugen Miller so verhasst – rollten nun in diesen einst so stillen Räumlichkeiten ab.“614 Vornehmheit ist eine Funktion des Reichtums. Im Palais Castiglionis konnten „Könige lernen, wie man standesgemäß lebt und wohnt. Es herrschte ein strenges vornehmes Zeremoniell, auch dann, wenn Castiglioni ganz allein in einem seiner großen Räume mit mir saß und den türkischen Mokka schlürfte, den es bei ihm bis zum letzten Tag des Krieges gab. Castiglioni trank davon eine Tasse nach der anderen und rauchte dazu türkische Zigaretten.“615 Das Palais von Castiglioni wurde nun zum gesellschaftlichen Mittelpunkt Wiens. Je höher sein Vermögensbarometer stieg, desto mehr wurde seine Genialität anerkannt. Hier traf sich alles, was in Wien Rang und Namen hatte. So war gegen Anfang 1927 Gerhard Hauptmann bei ihm zu Gast, Mitte 1928 die beiden Ozeanflieger Köhl und Hünefeld.616 Castiglioni war mit Toscanini befreundet, der ihn zur Premiere an der Mailänder Scala einlud und Leo Fall überreichte ihm seine neue Komposition mit den handschriftlichen Zeilen:
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Zwangsversteigerung des Castiglioni-Palais, Der Wiener Tag, 9. Februar 1938 Edgard Haider, Verlorenes Wien. Adelspaläste vergangener Tage, Wien 1984, S. 157 Ernst Heinkel, Stürmisches Leben, Oberaching 1953, S. 49/50 Camillo Castiglioni, Munzinger Archiv, 4. Juni 1930
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„Camillo Castiglioni in Freundschaft gewidmet Die spanische Nachtigall Von Rudolph Schanzer und Ernst Welisch Musik von Leo Fall, Garmisch im Sommer 1920.“617 Außer Karl Kraus hat wohl jeder bei ihm verkehrt. In seinem mit Kunstschätzen überfüllten Palais beschäftigte er Personal, das einst in der Hofburg gedient hatte. Während der Tafel unterbrach er oft die Unterhaltung mit den Gästen und diktierte einer mondän gekleideten Sekretärin Telegramme und Anweisungen. Bei seinen Bild 57 Empfängen überreichte er den Gäs- Für Castiglioni in Freundschaft ten goldene oder silberne Tabatieren, Österreichische Nationalbibliothek, gefüllt mit Zigaretten, die er eigens für Musiksammlung sich in Ägypten anfertigen ließ. Auf den Schachteln konnte man auch lesen: Especially made for C.C.618 Im Februar 1924 fand im „Hause Castiglioni“ ein Repräsentationsfest statt: „Geladen waren 180 Gäste, in der Hauptsache Diplomaten und Politiker. Sie wurden von 75 Lakeyen bedient. Es ist dabei so zugegangen, dass ein ausländischer Diplomat erklärte, man könne solches derzeit weder in Paris noch in London sehen und ein solcher Kraftaufwand an Repräsentation sei ihm überhaupt noch nicht vorgekommen.“619 Mit diesem Luxus inmitten der Not von Wien der Nachkriegszeit war Castiglioni aber nicht alleine. „Die Vermögen der Bank- und Industrieherren stehen in einem schreienden Gegensatz zur Lage ihrer Gesellschaften. Von den Gesellschaften heißt es, dass sie schwierig arbeiten, die erhöhten Regien nicht tragen können, konkurrenzunfähig geworden sind. Wenn sie mit Angestellten oder Arbeitern verhandeln, dann sprechen sie von Verlängerung der Arbeitszeit und Kürzung der Löhne. Indes macht sich überall ein Luxus der Gewalt617 Faksimile in: Die Presse, Schaufenster, 2. November 1989 618 Camillo Castiglioni: So endete eine Großmacht, Die Wochenpresse, Wien 11. Jänner 1958 619 Ein Fest bei Camillo Castiglioni, Der Abend, 11. Februar 1924
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haber bereit, angesichts dessen das sprichwörtlich prunkvolle Leben Castiglionis keine vereinzelte Erscheinung mehr ist. Der von den Zeitungen so oft erwähnte Bankier Kola hat kürzlich ein neues Palais bezogen. Bei der Einladungsfeier, zu der 200 Menschen geladen waren, ließ sich die Regierung durch Vizekanzler Breisky vertreten. Das Souper, das den Gästen vorgesetzt wurde, war von Sacher gekocht und kostete drei Millionen Kronen.“620 Der Glanz dieser Zeit endete jedoch spätestens in den 1930er-Jahren. Durch die Schulden Castiglionis und die Exekutionen gingen die Kunstschätze und Einrichtungsgegenstände verloren und das Gebäude war nur mehr eine leere Hülle, auf der zahlreiche Hypotheken lasteten. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 war das Schicksal des Palais völlig ungewiss. Ernst Haider schreibt, dass das Palais 1938 „arisiert“ worden sei.621 Es gibt auch Vermutungen, dass Castiglioni 1950 sein Palais zurückerhielt, da es infolge einer Sicherstellung zugunsten einer Mailänder Bank für die Nationalsozialisten unerreichbar gewesen war.622 Tatsächlich wurde die Immobilie weder „arisiert“, also an sogenannte Arier zwangsverkauft, noch fiel sie unter die Bestimmungen der Elften Verordnung des Reichsbürgergesetztes vom 25. November 1941, nach der das Vermögen aller Juden deutscher Staatsangehörigkeit, die sich im Ausland befanden, zugunsten des Reiches enteignet wurde. Denn Castiglioni war Ausländer und damit konnten diese Verfolgungsmaßnahmen auf ihn nicht angewendet werden. Noch einmal hatte es sich als günstig erwiesen, dass er 1919 die italienische und nicht die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Er wurde von den deutschen Behörden sogar als in Mailand geboren geführt und hatte sich am 11. Juni 1937 von Wien 1, Kärntnerring 16 nach Triest abgemeldet. Die Wiener Adresse war jene des Hotel Imperial. Der zweite Grund war, dass Castiglioni – nachdem seine Provisionsforderungen in der Caus DDSG-Creditanstalt gescheitert waren – Wien mit erheblichen Schulden verlassen hatte. Bereits am 10. November 1936 war der Gebäudeverwalter Carl Zwilling vom Bezirksgericht Innere Stadt Wien zum Zwangsverwalter für diese Immobilie bestellt worden, der diese Funktion auch während des Krieges weiter ausübte. Schon am 9. Februar 1938 fand beim Bezirksgericht Wien Innere Stadt die öffentliche Feilbietung des Castiglioni-Palais statt. „Die Realität wurde auf 1.371.715 Schilling geschätzt, 620 Rücktritt Castiglionis, Der Abend, 19. April 1922 621 Ernst Haider, Verlorenes Wien. Adelspaläste vergangener Tage, Wien 1984, S. 157. Ebenso: Camillo Castiglioni gestorben, Neues Österreich 28. Dezember 1957 622 Marin Rh. Pollner, Camillo Castiglioni: Wahlgrundlseer und Märchenschlossbesitzer, in: Alpenpost, Bad Aussee 15/2010, S. 25
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wovon 273.065 Schilling auf die künstlerische Innenausstattung und 62.650 Schilling auf die maschinellen Einrichtungen entfallen. Betreibender Gläubiger ist die N. B. Hugo Kaufmann & Co. Bank, Amsterdam ... wegen einer Forderung von 200.000 Gold Reichsmark. Das Sachverständigengutachten bezeichnete die Liegenschaft als Voluptuar und die derzeitige Vermietung an die ägyptische Gesandtschaft als vorübergehende Verwertung.“623 Der Verkauf scheiterte aber mangels Interessenten. Nun mietete sich das Planungsamt der Stadt Wien ein und das Palais wurde u. a. zur Arbeitsstätte des Reichsarchitekten Hanns Dustmann, der dort monumentale Planungen für ein Wien nach dem „Endsieg“ entwarf. Am 20. September 1944 kam es auf Betreiben des Finanzamts Wien Innere Stadt-Ost zur Zwangsversteigerung, wegen einer Steuerschuld von 33.778,10 Reichsmark. Das war an sich ein sehr geringer Betrag, dem Verfahren schlossen sich aber die anderen Gläubiger an. Fünf Sachverständige schätzen den Wert der Liegenschaft, der mit 680.000 für die Immobilie, 321.526 für die künstlerische Ausgestaltung und 28.620 für die maschinellen Einrichtungen, also insgesamt mit 1.030.146 Reichsmark festgelegt wurde. Am 20. November 1944 erhielt die Stadt Wien als Meistbieterin den Zuschlag und am 15. April 1946 setzte das Bezirksgericht den Verteilungsschlüssel für den nunmehrigen Verkaufspreis von 1.002.525 Schilling fest, gegen den es allerdings einen Einspruch gab. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude beschädigt und 1945 soll es die sowjetische Besatzung als „Deutsches Eigentum“ beschlagnahmt haben.624 Von Amts wegen war das Gebäude aufgrund der Vermögensentziehungs-Anmeldungsverordnung 1945 erfasst worden. Der Zeitpunkt der Erwerbung – Entziehung war in dem Dokument durchgestrichen – durch die Stadt Wien war mit 20. November 1944 angegeben. Das Haus wurde dort als durch Bombentreffer schwerst beschädigt und unbenutzbar bezeichnet. Nach Ansicht des Magistrats der Stadt Wien war es nicht anmeldepflichtig, da die Erwerbung im Zuge eines gerichtlichen Versteigerungsverfahrens und zum amtlichen Schätzpreis erfolgt war. Die Stadt betrachtete sich daher weiter als Eigentümerin und beglich 1950 die Schulden Castiglionis, die auf dem Gebäude lasteten. Nun wurden alle im Grundbuch eingetragenen Pfänder – vorwiegend noch in den 1930er-Jahren eingetragen – gelöscht und es erhielt: 625 Hugo Kaufmann & Co. Bank N.V. Amsterdam 438.976,59 Helene Kienzl (Witwe von Heinrich Kienzl) 226.257,67 623 Zwangsversteigerung des Castiglioni-Palais, Der Wiener Tag, 9. Februar 1938 624 Edgard Haider, Verlorenes Wien. Adelspaläste vergangener Tage, Wien 1984, S. 157 625 Archiv der Republik, Wien, Finanzlandesdirektion Wien 06/ Camillo Castiglioni, 1944 bis 1950
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Das „Haus Castiglioni“
Firma Hagen & Co, Berlin 128.625,– Heinrich Hardmayer 75.039,06 Finanzamt für Verkehrssteuern Wien 56.722,31 Finanzamt Innere Stadt 36.253,44 Stadt Wien 30.709,87 Finanzamt für Körperschaften Wien 2.800,– Allgemeine Ortskrankenkasse Wien 1.729,18 Fernsprechamt Wien 1.677,80 W.R. Marx 1.209,08 Summe: 1.000.000,– Damit war Camillo Castiglioni nach mehr als einem Jahrzehnt durch die zwangsweise Verwertung des Palais in Wien schuldenfrei geworden. Am 13. April 1953 entschied jedoch die Rückstellungskommission beim Landesgericht Wien, dass Camillo Castiglioni „Industrieller in Mailand, Via Piolti de Bianchi 37“, vertreten durch einen Wiener Anwalt, das Palais sofort zurückzustellen war. Am 19. August 1954 kam es dann zu einem Vergleich, wonach Castiglioni der Stadt Wien für die Abgeltung der Pfänder auf das Gebäude den Betrag von 950.000 Schilling zu zahlen hatte.626 Die Summe dürfte ihm durch die Rückstellung der Gebäude des Theaters in der Josefstadt möglich gewesen sein. Er war damit wieder unbeschränkter Eigentümer der Immobilie Prinz-Eugenstraße 28, verkaufte sie aber dann bald. 1961 wurde das Palais abgerissen und ein Wohnhaus im Stil der 1960er-Jahre errichtet. Man kann das beklagen, aber das gerade einmal 80 Jahre alte Gebäude war vom Denkmalschutz her nicht wirklich bedeutend und zu dieser Zeit hatte man in Wien mehr Bedarf an Wohnungen als an Palais.
Die Villa am Grundlsee Der zweite exklusive Wohnsitz Castiglionis war die Villa am Grundlsee, Archkogl Nr. 38. Sie liegt in Nachbarschaft des Hotels Seeblick, das bereits seit den 1880er-Jahren ein Hotel war. Dieses wurde 1920 von Eugenia Schwarzwald erworben und als Erholungsheim für „geistige Arbeiter“, Literaten und Künstler umgebaut. Dort gab es Dichterlesungen, Theateraufführungen und Konzerte, was Iphigenie vielleicht in diese Gegend brachte. 626 Wiener Stadt- und Landesarchiv, 1.3.2.119.A41-Vermögensentzug-Anmeldungsverordnung 1947, Bezirk 4/5, 222 Castiglioni
Die Villa am Grundlsee
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Bild 58 Ansichtskarte 1932, Archiv Dieter Stiefel
Bild 59 Villa Castiglioni Ansichtskarte 1930, Archiv Dieter Stiefel
An dem weitgehend unberührten See selbst gibt es nur zwei repräsentative Villen, nur wenig weiter liegt der Toplitzsee. Die Villa am Grundlsee wurde 1892 von dem bekannten Wiener Arzt Dr. Gustav Jurié von Lavandal als Villa Grundlstein errichtet. Eine andere Quelle gibt an, dass die Villa bereits 1881 von Dr. Franz Ritter von Winniwarter erbaut wurde und er ihr den Namen Villa Grundlstein gab. Danach soll Jurié von Lavandal diese 1884 von ihm erworben haben.627 Jurié hatte schon vorher seine freie Zeit in dieser Gegend verbracht und nutzte das Haus, um seine Kunstsammlung zu beherbergen. Jedes Zimmer hatte dort eine zu den Möbeln passende Form.
627 Broschüre der Projektgruppe Weixelbaumer, Cavic, Merkinger, Grill der Bundeshandelsakademie Bad Aussee, 2010/11
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Das „Haus Castiglioni“
Gustav Jurié von Lavandal starb 1924, hatte aber schon 1904 das Haus seinem Sohn Erich übergeben. Dieser verkaufte am 1. September 1920 die Villa an Camillo Castiglioni, ohne vorher seine Familie zu informieren, die davon nicht sehr erbaut war. Der Kaufpreis soll in Beteiligungen an Castiglionis Geschäften bezahlt worden sein, die sich aber in der Folge als nicht sehr lukrativ herausstellten. Castiglioni baute das Haus aus und richtete es überaus luxuriös ein. Es wurde eine aufwendige Uferverbauung mit Quadersteinen vorgenommen, eine überdeckte Wandelgalerie am Wasser, ein Verwalterhaus und eine Autogarage errichtet. Außerdem ließ er unter großen Kosten eine eigene Autostraße zur Zufahrt anlegen. Die Villa war mit kostbaren antiken Möbeln ausgestattet, mit Badezimmern aus Marmor, hatte eine eigene Badeanstalt, Tennisplätze, eine Kegelbahn und einen riesigen Garten.628 Außerdem gab es eine eigene Bibliothek, vor allem mit Kunstbüchern, und Iphigenie hatte sicher auch einiges an klassischer und moderner Literatur angesammelt. Der Geschmack von Camillo Castiglioni ist aber damit nicht ganz umschrieben. Am 18. Juli 1929 schrieb er vom Grundlsee aus an seine Privatsekretärin: „Liebes Fräulein B. ..., Ich bitte Sie, nach Erhalt dieses in eine Buchhandlung zu gehen und folgende Bücher zu kaufen und per Post hierher zu schicken: Von Edgar Wallace: Die Bande des Schreckens, Der Hexer, Die drei Gerechten, Die Tür mit den sieben Schlössern, Der rote Kreis, Der Unheimliche, Die gelbe Schlange, Großfuß, Der Frosch mit der Maske, Das Verrätertor, Gucumatz, Die seltsame Gräfin, Der grüne Bogenschütze, Das Geheimnis der gelben Narzissen, und eventuell, falls neue Romane von Wallace erschienen sind, auch diese. 628 Ehepaar Castiglioni muss 100.000 Schilling zahlen, Neues Wiener Journal, 26. April 1935
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Die Villa am Grundlsee
Bild 60 Iphigenie vor der Villa Castiglioni, Mitte 1920er-Jahre. Familie Weinmann, Perchtolsdorf
Bild 61 Jolanda und Livia am Grundlsee um 1925/26. Archiv Dieter Stiefel
Bild 62 Jolanda am Grundlsee 1925/26. Archiv Dieter Stiefel
Bild 63 Livia am Grundlsee 1925/26. Archiv Dieter Stiefel
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Das „Haus Castiglioni“
Ferner kaufen Sie folgende Bücher von Ravi Ravendro: Tanzende Flamme, und Der Tag der Nang Dara, sowie die Sanders-Bücher von Edgar Wallace: Sanders vom Strom, Bosambo von Monrovis, Sanders, Bones vom Strom, Leutnant Bones, Bones in Afrika, Bones in London, Sanders der Königsmacher, Menschen. Sämtliche Bücher natürlich in deutscher Sprache. Mit bestem Dank und Gruß Castiglioni“629 Die Villa hatte eigene Bootshäuser und zwei Glashäuser, in denen die damals größte europäische Sammlung an Orchideen untergebracht war. Der Garten war durch Castiglioni aufwendig ausgestaltet worden. Unter den Kunstschätzen, die sich auf diesem Landsitz befanden, hatte besonders ein wertvoller florentinischer Originalbrunnen immer wieder die Bewunderung der Besucher erregt „Entlang des Sees führte ein Promenadenweg, der Waldpark ist mit unterfütterten, asymmetrischen Wegen und etlichen Treppen erschlossen. Der Villa seitlich vorgelagert ist ein formaler Garten als buchsbaumgefasstes Parterre, der über eine zweiläufige Freitreppe von der Villa aus zugängig ist. Den Bereich nahe der Villa zieren ein Marmorspringbrunnen und ein rechteckiges Wasserbecken unterhalb der Zufahrtsterrassierung, im Park fanden mehrere von Camillo Castiglioni gesammelte, aus Oberitalien stammende Zisternen (Pozzi), diverse secundär verwendete Spolien, ein hieroglyphenversehener Obelisk, vier steinerne Gartenkörbe und vier steinerne Putti, die vier Jahreszeiten vorstellend – diese Bildhauerarbeiten stammen aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts – Aufstellung. Am Seeufer bietet eine Plattform einen Ruheplatz, in den Stütz- und Futtermauern sind mehrere Sitzecken untergebracht, der Villa sind mehrere Terrassen und Balkone vorgelagert. Nicht erhalten blieb die den Villengarten gegen das Seeufer abgrenzende Rosenspalieranlage.“630 629 Privatarchiv Dieter Stiefel 630 Eva Berger, Historische Gärten Österreichs, Wien 2003, S. 503/4
Die Villa am Grundlsee
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Castiglioni fuhr mit seinem eigenen Salonwaggon nach Bad Aussee, wo er in Grundlsee fast jedes Wochenende seine Familie besuchte. In den Sommermonaten 1922/23 empfing er dort Max Reinhardt und andere Mitwirkende der Salzburger Festspiele. Im Park der Villa gab es ein Gartentheater, wo die Künstler für den Hausherrn und seine Gäste vor allem Szenen von Molière spielten.631 Und im August 1928 kamen „The Revalers“, ein Vokalquartett, das als Vorbild der Comedian Harmonists gilt, zum Abschluss ihrer Europatournee zu einer Soiree in die Villa am Grundlsee. 1925 schenkte Castiglioni die Immobilie seiner Frau Iphigenie, die notarielle Beglaubigung wurde aber erst 1931 ins Grundbuch eingetragen. Das dürfte aber eher ein Manöver gewesen sein, um seinen Gläubigern zu entgehen. Die Exekution durch das Bankhaus Krentschker & Co. traf dennoch auch Bild 64 das Inventar der Villa. „In den FaschingstaCamillos Sohn Arturo 1914. gen 1936 wurde das Inventar gerichtlich verFamilie Weinmann, Perchtoldsdorf steigert, wozu 200 bis 300 Leute erschienen, sogar der frühere Besitzer der Villa war anwesend. Dank der vielen Bieter, die einander lustig im Kampf um allerlei Plunder hinauftrieben und den Faschingsbriefdichtern eine schöne Bereicherung ihres Stoffes bereiteten, wie die Alpenpost schrieb, wurden auch für gesprungene Teetassen, verbeulte Aschenbecher und alte Gummistiefel sehr schöne Preise erzielt.“632 Das Resultat der Versteigerungen in Wien und am Grundlsee brachte aber die Schuldsumme nicht herein, das Grazer Bankhaus versuchte nun auch die Villa am Grundlsee zu versteigern. Der Wert wurde damals mit 400.000 Schilling angegeben, obwohl Castiglioni die Villa um eine Million gekauft und aufwendig ausgebaut hatte. Die Wertminderung wurde durch die hohen Erhaltungskosten des Luxusobjekts 631 Walter Hermann, 75 Jahre Salzburger Festspiele, Bad Aussee 1995, S. 54 632 Marin Rh. Pollner, Camillo Castiglioni: Wahlgrundlseer und Märchenschlossbesitzer, in: Alpenpost, Bad Aussee 15/2010, S. 25
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Das „Haus Castiglioni“
erklärt. Die Zwangsversteigerung unterblieb letztlich, da die Immobilie rechtlich im Eigentum Iphigenies stand. Die Villa wurde am 29. Juli 1937 von Frau Iphigenie Castiglioni, die zu dieser Zeit bereits in Hollywood lebte, an Castiglionis Schweizer Geschäftspartner Heinrich Hardmeyer verkauft. Der Preis betrug offiziell 100.000 Schilling plus 25.000 Schilling für das noch verbliebene Inventar. Der geringe Verkaufspreis legte den Verdacht nahe, dass es noch andere Abmachungen gab, die nicht bekannt waren. Die Liegenschaft war lediglich mit Steuerrückständen und Lieferantenforderungen von knapp 11.000 Schilling belastet, also nur etwa 10 % des niedrigen Verkaufspreises. Die Bezahlung erfolgte in Gegenverrechnung von Forderungen Hardmeyers an Castiglioni und seine Frau. Nach dem Ableben des Schweizer Geschäftsmannes verkauften die Erben die Villa am 31. Juli 1941 an die Industrie- und Handelskammer Oberdonau zum Preis von 235.000 Reichsmark. Von 1942 bis zum Herbst 1945 war in dieser Villa die Privatbibliothek Adolf Hitlers ausgelagert, darunter auch Originalpartituren von Richard Wagner, die deutsche Industrielle dem „Führer“ zum 50. Geburtstag geschenkt hatten. Der dortige Buchbestand war von vielen Seiten zusammengetragen und geraubt worden und sollte nach dem „Endsieg“ die Basis einer dauerhaften „Führerbibliothek“ werden. Eine eigene SS-Wachmannschaft bewachte das Gebäude. 1945 wurden US-militärische Dienststellen einquartiert und die Bibliothek teilweise zuerst an das Art Collection Center in München und schließlich an die Library of Congress in Washington abgegeben. 633 Die Schriften Richard Wagners sind aber bis heute verschollen.634 Der öffentliche Verwalter für die Bibliothek, Ing. Architekt Werbik, hatte 1947 um die Erhaltung dieses Bestandes von 55.000 Bänden gekämpft und Schreiben an Vizekanzler Dr. Schärf, Sektionschef Dr. Gaßner, Bundesministerium für Unterricht, Dr. Peter Krauland, Bundesminister für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, und den Bad Ausseer Nationalratsabgeordneten Albrecht Gaiswinkler geschickt. Der wertvolle Teil der Bibliothek wurde vor Kriegsende in 150 großen Kisten in das Salzbergwerk nach Alt-Aussee gebracht. Diese holte die amerikanische Besatzung zur Sichtung ab und schied in erster Linie Nazi-Literatur und Kriegsgeschichte aus. Die in der Villa verbliebenen Bücher hatte der öffentliche Verwalter persönlich gesichtet. Es wurde ihm zwar von den amerikanischen Stellen zugesagt, die Bücher zurückzugeben, jedoch ohne 633 Murray G. Hall/Christina Köstner, „ ... allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern ...“. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien 2006, S. 157–165; Martin Rh. Pollner, Camillo Castiglioni: Wahlgrundlseer und Märchenschlossbesitzer, in: Alpenpost, Bad Aussee 15/2010, S. 25; Daten zur Villa Castiglioni, Grundlsee-Archkogl Nr. 38, aus dem Grundbuch erhoben von Martin Rh. Pollner, 14. Februar 2004; Martin Pollner, Das Salz-Kammergut, Wien 2004. 634 Siehe dazu auch den Roman von Franz Winter, Operation Rheingold, Wien 2011
Salonwagen des Kaisers
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Resultat. Vor allem die marxistische Literatur sollte in Österreich bleiben. Denn es wäre unverantwortlich, wenn dieses umfangreiche Bildungsgut unserem Nachwuchs für immer verloren ginge. „Der augenblickliche finanzielle Tiefstand unseres Staates darf nicht ausschlaggebend sein, uns aller Kulturgüter zu berauben.“635 1950 schrieb Castiglioni, dass sein Sohn Arturo nach Österreich gefahren sei. Die ehemaligen Hausangestellten hätten ihn sofort erkannt. „Sie waren am Grundlsee, wo sie die Villa in einem trostlosen Zustand gefunden haben. Alles kaputt, die Hälfte des Hauses, das Badehaus, der Wintergarten ruiniert, in einem Wort, trostlos ... Die Villa ist von der Regierung an einige Regierungsbeamte vermietet, die dort wild gehaust haben. Aber sprechen wir lieber nicht mehr davon.“636 Das Haus stand von 1948 an im Eigentum der Handelskammer Oberösterreich, die daraus ein Erholungsheim für ihre Angestellten machte. Für 10 Schilling pro Tag konnte man in sehr einfachen Zimmern – Bett, Schrank, Waschbecken, Durchlauferhitzer und sonst nichts – Urlaub machen. Allerdings gab es, bis auf das Nebengebäude, keine Heizung, sodass die Villa nur im Sommer zu nutzen war. Erholungsheime für die eigenen Angestellten waren in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus beliebt, doch mit zunehmendem Wohlstand und Fernreisen verloren sie schließlich an Bedeutung. Die Kammer suchte daher bereits jahrelang einen Käufer für die Immobilie. 1999 erwarb schließlich die Perchtoldsdorfer Unternehmerfamilie Weinmann die Villa und renovierte sie aufwendig und liebevoll, sodass sie heute wieder ein Wahrzeichen des Grundlsees darstellt.
Salonwagen des Kaisers Es war die Nacht der österreichischen Inflation, als der Stern Castiglionis hell zu leuchten begann.637 Er verstand es, sich durch luxuriöse Lebensführung Kredite in jeder Höhe zu verschaffen. Dazu erwarb er auch den Salonwagen des Kaisers Franz Joseph, mit dem die republikanische Eisenbahnverwaltung nichts Rechtes anzufangen wusste, und fuhr mit ihm zwischen Donau und Rhein, um die Welt mit seinem Reichtum zu blenden. Gegen den Salonwagen gab es auch Kritik. Am 1. August 1922 hatte sich die 635 Ing. Architekt Werbik, Grundlsee, SPÖ-Archiv, Löwelstraße, Ordner Zentralarchiv, Allgemeine Korrespondenz 1947 636 Camillo Castiglioni an Livia, Milano Via Piolti de Bianchi 37, 29. Juli 1950, Privatarchiv Dieter Stiefel 637 Hans Seper, Österreichische Automobilgeschichte 1815 bis heute, Wien 1986, S. 292. Es handelte sich aber nicht um das Palais Kinsky, das sich auf der Freyung befindet, sondern um das Palais Miller-Aichholz.
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Bundesbahnverwaltung außer Stande gesehen, Sonderwaggons anzuhängen, da dies die Züge zu sehr belasten würde. „An demselben Tag, an dem man die Mitteilung der Bundesbahnverwaltung las, sah man auf dem Ausseer Bahnhof einen feudal-prächtigen blauen Salonwagen; zwei Diener halfen dem Herrn Camillo Castiglioni respektvoll einsteigen. Es war dasselbe widerliche und aufreizende Schauspiel wie ehedem, nur dass jetzt das zusammengeraubte Geld die Annehmlichkeiten und Ehren bringt, wie einst die zusammengeraubte Monarchie. Soll denn wirklich dauernd der Grundsatz gelten, dass Geld alles vermag? ... Wir verlangen, dass die Einstellung der Sonderzüge durch die Abschaffung der Salonwagen ergänzt werde, und zwar ohne Verzug. Wenn der Bundespräsident in einem gewöhnlichen Abteil reisen kann, brauchen die Castiglionis und dergleichen mehr keine Salonwagen ... Ist es nicht wahrhaft ein grober Unfug, wenn die Börsenleute sitzen dürfen – statt sitzen zu müssen – sitzen in deinem Wagen, der für eine ganze Menge Raum böte, und wir ehrlich Arbeitenden müssen stehen?“638 Castiglioni sollte das aber nicht genügen, sondern er gab einen neuen Salonwagen in Auftrag, wie Karl Kraus feststellte. In der Arader (Rumänien) Waggonfabrik „Astra“, deren Präsident Castiglioni war, wurde in eineinhalbjähriger Arbeit ein neuer Salonwagen fertiggestellt. Der achtachsige Waggon war 28 Meter lang und hatte drei Räume, ein Empfangs-, ein Arbeits- und ein Schlafzimmer mit Badekabine. Das Mobiliar bestand aus Zedern- und Ebenholz wie auch die Wandtäfelung. Das Badezimmer war in Marmor gehalten und die Badewanne wurde aus einem einzigen Marmorblock gearbeitet. Die Erzeugungskosten betrugen 25 Millionen Lei. Für Karl Kraus war dies ein „Monstrum imperialistischen Prunks, wie es weder je einem Potentaten seit Nero noch dem Präsidenten der tschechoslowakischen Republik nachgerühmt ward und eben nur von der Bahnverwaltung einer in Schiebehrfurcht ersterbenden österreichischen Demokratie geduldet werden konnte ...“.639
Der Kunstsammler „Denn es ist noch kein Börseneinbrecher ohne einen Tiepolo über der eisernen Kassa, den er zumeist hereingeschmuggelt hat, zu denken“, schrieb Karl Kraus.640 Jeder Reichtum, jede Macht, die sich bestätigen will, gefällt sich in der Rolle der Förderung der Künste. Die öffentliche Meinung wird versöhnt und fragt nicht mehr so laut nach der 638 Sonderzüge und Sonderwagen, Der Abend, 11. August 1922 639 Karl Kraus, Ein Sammler, Die Fackel Nr. 726, Wien Juni 1926, S. 62/3 640 Karl Kraus, Bilder, Die Fackel Nr. 668, Wien Dezember 1924, S. 32
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Der Kunstsammler
Bild 65 Wahlspruch der Kunstsammlung Camillo Castiglioni. Leo Planiscig, Bronzestatuetten und Geräte, Privatdruck, Wien 1923
Herkunft des Reichtums und um das Haupt des Sammlers wird ein Kranz höherer Geistlichkeit geflochten. Außerdem kann man mit Kunstwerken der Inflation und den Steuergesetzen ausweichen. 641 In Wien nutzte Castiglioni die wirtschaftliche Zerrüttung des Adels, um wertvolle Gegenstände anzusammeln und ein Palais zu erwerben, das er in eine Art Residenz im Renaissance-Stil umwandelte. Aus ganz Europa, vor allem aus den italienischen Palästen des 15. Jahrhunderts ließ er sich von einer ganzen Reihe von Antiquitätenhändlern Bilder, Silbergeschirr, Statuen und Möbel besorgen, ohne sich um Ausfuhrgenehmigungen groß zu scheren. Er hatte eine bedeutende
641 Alles spielt. Das Universalmittel gegen die Teuerung, Der Morgen, 14. August 1922
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Sammlung von kleinen Bronzestatuen der Belle Époque.642 Die ursprüngliche Basis war die Kunstsammlung von Miller-Aichholz gewesen. Der Kunstbesitz soll 1924 von einer englischen Versicherung mit 1,2 Millionen Pfund versichert gewesen sein.643 Die Kunstsammlung Castiglioni war zwar eine der jüngsten, aber dennoch eine der wertvollsten Privatsammlungen in Europa. Sie umfasste vor allem italienische Meister. Hervorgehoben wurde das Werk Correggios, Vermählung der heiligen Katharina, das zu einem der wertvollsten Gemälde seiner Zeit gerechnet wurde. Daneben die Gemälde von Tiepolo, die Werke von Rubens, Rembrandt, Tizian, Tintoretto und Giulio Romano, von dem alles, was dieser für die Kunstsammlung von Papst Leo X. geschaffen hatte, sich nun bei Castiglioni befand.644 Kritiker waren aber der Meinung, dass Castiglioni seine Kunstsammlung vor allem aus finanziellen Augen betrachtete: „Jeder Briefmarkensammler hat mehr Leidenschaft zur Sache und Liebe zu den Objekten im Herzen als Castiglioni. Er aber hat die Schätze um wertlose Kronen erworben und weiß, dass diese Kapitalanlage mehr Sicherheit und Stabilität verbürgt als manche andere, als manches Aktienpaket.“645 1924 beschrieb Dr. Leoporini in der Berliner Zeitschrift „Der Kunstwanderer“ die Sammlung Castiglioni. „Als ich vor einigen Tagen der freundlichen Einladung des Herrn Castiglioni folgend mit anderen Fachkollegen dessen vornehmes Palais in der Prinz Eugenstraße aufsuchte, zweifelte ich nicht daran, dass es gar manches interessantes Stück zu sehen geben werde. Was aber wohl jeden Besucher, der von Herrn Castiglioni nicht mehr wusste, überraschte, war nicht so sehr die unübersehbare Fülle von Kunstschätzen, als vielmehr einen richtigen Sammler inmitten seiner Schätze zu finden, von der Art, die man als längst ausgestorben betrachtete, einen Kunstmäzen alten Stils, der wirklich mit Herz und Seele an seinen Sachen hängt. In der temperamentvollen Art des Südländers weiß er von jedem Stück etwas zu erzählen, versteht als feiner Kenner mit ein paar Worten den Hauptreiz eines Objektes hervorzuheben und freut sich der herrlichen Funde, die er schon als junger Mann gemacht hat, als er etwa die herrlichen Majoliken um 50 bis 100 Lire das Stück kaufte, die heute nicht unter 30.000 Lire zu bekommen sind. Wahrhaftig, wenn Herr Castiglioni nicht als Finanzmann seine große Karriere gemacht hätte, so könnte er schon von seiner Tätigkeit als Sammler befriedigt sein ... Die Art des Arrangements bringt jedes Objekt zur vollen Geltung in der Gesamtharmonie des Ganzen. Trotz der Pracht aber hat kein Raum den wohnlichen 642 Valerio Castronovo über Camillo Castiglioni in DBI 22, Rom 1979, S. 133–136 643 Finanzkapital und Gottesgnadentum, Die Neue Wirtschaft, 9. Oktober 1924. Eine andere Quelle spricht von einem Wert von 25 Millionen Goldmark: S. Wininger, Große Jüdische National-Biographie, Wien 1925, S. 33 644 Die Kunstschätze Castiglionis, Neues Wiener Journal, 11. März 1924 645 Martin Rathsprecher, Porträt Camillo Castiglioni, Tagebuch, Wien 24. Oktober 1953
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Charakter eingebüßt – keine Überladung, kein Museum und keine bloß repräsentative Dekoration. Die einzelnen Gegenstände aufzuzählen fehlt hier der Raum, da hängen im Stiegenhaus drei Tiepolo von gewaltiger Ausdruckskraft, im Schlafzimmer entzückende Caneletto usw. Doch neben den zahlreichen erstklassigen Werken der Malerei bilden die prachtvollen Gobelins, die wertvollen alten Teppiche und die einzigartige Kollektion italienischer Bronzen die Hauptteile der Sammlung. Eine wundervolle Ergänzung der Gesamtwirkung geben die Cassonidecken, die Herr Castiglioni für jeden Raum passend, in Italien entdeckt hat, so dass das Innere zu einer stilvollen Einheit wurde und in der Donaustadt der Palazzo eines italienischen Renaissancefürsten entstand.“646 Vier Kataloge mit zusammen mehr als 500 Seiten dokumentierten seinen Kunstbesitz. De Ricola, der Direktor des Museums del Bargello, verfasste ein Verzeichnis der klassischen italienischen Gemälde, Castiglionis Bruder Arturo über die Majolikasammlung und die Bronzen waren zu Weihnachten 1923 in einem überdimensionalen Prachtband von Dr. Leo Planiscig, dem Kustos des Kunsthistorischen Museums in Wien, erfasst worden. Der Privatdruck mit 115 Tafeln erschien in einer nummerierten Auflage von 300 Stück.647 Über die Möbel hatte die Kunsthistorikerin Frieda Schottmüller aus Berlin einen Katalog vorgelegt.648 Die wichtigsten Stücke waren: Bilder Fünf Tiepolo, deren Wert undefinierbar war, weil sie nicht im Handel waren. Ein Carlo Crivelli, der kürzlich in der Secession ausgestellt war Zwei Tizian, Amoretten darstellend Correggio, Vermählung der heiligen Katharina Ein Tintoretto Ein Strozzi Morettos Porträt Ein Savelli Rembrandt, Männerporträt, wahrscheinlich Selbstporträt Rubens, Sturz des Phaeton und Porträt des Bruders Philipp Rubens Van Dyck, Auferstehung Christi und Porträt einer vornehmen Genueserin Franz Hals, Porträt Ein Arndt van der Meer 646 Die Kunstsammlungen Castiglionis, Neues 8-Uhr-Blatt, 1924 647 Leo Planiscig, Bronzestatuetten und Geräte. Sammlung Camillo Castiglioni, Kunstverlag Anton Schroll, Wien 1923 648 Die Kunstsammlungen Castiglionis, Die Stunde 31. Oktober 1924
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Nikolas Froments, Auferstehung des Lazarus Bronzen Francesco de Sant’Agata, vergoldete Herkulesstatue Alessandro Vittoria, Negervenus vor dem Spiegel Eine Statue Roccattagliat-Puttens Skulpturen Antonio Rigo, Tugendfigur Domenico Rosselli, Reliefs Arbeiten von Domenico Rosselino, Andrea della Robbia, Desideria da Settignano, Giovanni da Pisa Statuen von Ricco, Alessandro Vitoria, Pierino da Vinci, Pietro Francavilla Möbel der italienischen Renaissance aus dem 15. und Anfang 16. Jahrhundert Französische Möbel aus dem 16. Jahrhundert Vier Gobelins aus der Medici-Folge mit den Emblemen dieses Geschlechts aus dem 16. Jahrhundert. Am 28./29. November 1930 kam es zur erwähnten Versteigerung bei Graupe in Berlin. Die Beteiligung war nicht besonders rege, das Ergebnis aber in Hinblick auf die allgemeine Wirtschaftskrise durchaus zufriedenstellend. Dabei fanden einen Käufer: Florentiner Kreuzigung aus dem 14. Jahrhundert Filippino Lippi, Christus am Kreuz Tiziano Vecellio Leon Bruno Ubertini, Maria mit dem Kinde Bronciono, Prinzessin aus dem Hause Medici Tintoretto, Bildnis eines vornehmen Herren Canaletto, Loggienhof eines vornehmen Hauses Canaletto, Vedute von Venedig Gerard David, Der heilige Hieronimus Lukas Cranach Schwäbischer Meister um 1520, Bildnis eines jungen Mannes Rubens, Sonnenweg Gesamtergebnis 200.000 Mark
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Bronzeskulpturen, darunter Giovanni da Bologna, Herkules und Zentaur, Herkules und Antäus Zwei venezianische Bronzeleuchter Riccio, Jüngling am Baumstumpf Frankovilla, ein Paar weibliche Figuren Rocca Tagliata, ein Türgriff Gesamtergebnis 60.000 Mark Die wertvollsten Gemälde Castiglionis waren aber die Tiepolo, die er beim Kauf des Palais von Miller von Aichholz mit erworben hatte. 1965 schrieb der Vermögensverwalter von Stefan Mendl an das Metropolitan Museum in New York einen Brief, in dem er drei Bilder von Giambattista Tiepolo anbot.649 Die Spur dieser drei Werke war seit 30 Jahren verloren gegangen und das Angebot rief daher entsprechende Begeisterung hervor. Die Werke waren Teil von zehn Gemälden, die zwischen 1726 und 1729 entstanden waren, um den großen Salon des Palais Ca’Dolfin in Venedig zu schmücken. Sie zeigen römische Schlacht- und Triumphszenen, vier davon befinden sich heute in der Hermitage in St. Petersburg, zwei im Kunsthistorischen Museum in Wien und eben drei im Metropolitan Museum New York. Die dortigen Gemälde sind „The Capture of Carthage“, „The Battle of Vercellae“ und „The Triumph of Marius“. Der Niedergang Venedigs, Kriege und Verarmung der dortigen Elite führten zu einem zunehmendem Verfall der Paläste und einem Verkauf der dortigen Kunstschätze. Das betraf auch den Palast Ca’Dolfin, der nach mehrmaligem Eigentümerwechsel ziemlich herunterkam. Heute ist er renoviert und Teil der Universität Venedig. 1876 wurden alle zehn Gemälde heruntergenommen und verkauft, um Steuerschulden nachzukommen. Der Käufer war Baron Miller von Aichholz aus Wien. Dabei war nicht klar, was er mit diesen Gemälden von einer enormen Größe beabsichtigte. Zu dem Zeitpunkt besaß er noch kein Haus in Wien, das diese Werke aufnehmen konnte. Schließlich bot er alle zehn Werke in Paris zum Verkauf an. Fünf wurden von einem russischen Sammler erworben, die restlichen waren unverkäuflich, da sie dem damaligen Kunstgeschmack nicht unbedingt entsprachen. Sie kamen also nach Wien. Die drei großen kamen an den Stiegenaufgang des Palais in der Prinz-Eugen-Straße, das Miller von Aichholz zwischen 1877 und 1888 erbauen ließ. Die zwei kleineren Gemälde wurden 1900 wieder zum Verkauf angeboten, was ebenfalls scheiterte. 1919 starb Miller von Aichholz und das Palais wurde von Camillo Castiglioni erwor649 Keith Christiansen, The Ca’Dolfin Tiepolos, The Metropolitan Museum of Art Bulletin, New York 1998
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ben. Als Besonderheit ließ er einen elektrisch betriebenen Vorhang einbauen, um so vor seinen Gästen die Tiepolo-Gemälde im Stiegenaufgang mit entsprechender Wirkung zu enthüllen. Durch seine finanziellen Probleme brachte Castiglioni 1925 einen Teil seiner Kunstsammlung zum Verkauf, darunter auch ein Werk von Correggio, das heute im Detroit Institute of Arts hängt. Die zwei kleineren Tiepolo gingen 1930 zu einem günstigen Preis an das Kunsthistorische Museum in Wien, um eine Exportlizenz für die drei großen zu erhalten. Diese wurden als Pfand für einen Kredit an Stefan Mendl übertragen und gingen 1935 legal in dessen Eigentum über. Die Gemälde wurden zusammengerollt und nach Zürich zur Lagerung gebracht. Mendl emigrierte schließlich nach New York und nahm die Tiepolo mit sich. Da sie für sein Appartement am Central Park West zu groß waren, wurden sie in seinem Landgut in Saranac Lake gelagert, wo sie über fast dreißig Jahre waren. Der Verbleib der Werke war daher weitgehend unbekannt. Nur zweimal, 1942 und 1951, wurden sie entrollt und von Konservatoren auf ihren Zustand hin überprüft, der trotz der wechselvollen Geschichte ausgezeichnet war. 1965 wurden sie daher vom Metropolitan Museum erworben, wobei zwei Probleme auftraten. Einmal waren die Räume des Museums nicht hoch genug, erst 1995 wurde der jetzige Ausstellungsraum erhöht, sodass die Bilder ausgestellt werden konnten. Das zweite Problem war, dass die Gemälde im Palais Ca’Dolfin ursprünglich entsprechend den Ausbuchtungen an der Wand oben und unten gewölbt waren. Miller von Aichholz ließ sie mit geraden Seiten versehen, wobei die fehlenden Teile nachträglich ergänzt wurden, was aber die ursprüngliche Komposition Tiepolos stark veränderte. Durch einen aufwendigen Prozess wurden diese Veränderungen des 19. Jahrhunderts rückgängig gemacht und die Werke sind heute im Museum in der originalen Struktur zu sehen.
Der Mäzen Camillo Castiglioni hob seine Rolle als Wohltäter bei jeder Gelegenheit hervor: „Ich habe zwanzig Jahre lang für Museen, Wohltätigkeitsanstalten, Universitäten, Bibliotheken, Spitäler ungeheuere Summen geopfert. Ich haben nach dem Krieg die Freiwillige Rettungsgesellschaft, dieses Wahrzeichen von Wien, auf die Bitte des damaligen Polizeipräsidenten Dr. Schober vor dem Zusammenbruch bewahrt, den Wiener Volksbildungsverein auf Intervention des Bürgermeisters Seitz gerettet, das Mozarteum in Salzburg im letzten Augenblick durch eine Zuwendung von hunderttausend Schilling am Leben erhalten und als Krönung meines Wirkens das Theater in der Josefstadt geschaffen, ein Tempel der Kunst für Wien und für Österreich, ein Juwel, das den höchsten Ansprüchen eines Kulturvolkes entspricht!“ 650 Zu Weihnachten 1923 gab er eine Spende für die Forschungsinstitute der Universität Wien und im November 1922 hatte er 200 Millionen Kronen dem Unterrichtsministerium gespendet. Davon sollten je 75 Millionen für die Einrichtung eines Barockmuseums im unteren Belvedere und zur Ausgestaltung der Akademie für Musik und darstellende Kunst zu einer Hochschule verwendet werden, und 50 Millionen zur Förderung bildender Künstler durch Aufträge und Ankäufe.651 Das wurde in der Presse allerdings als „Schmock“ kommentiert.652 „Dass Camillo Castiglioni wirklich den Wunsch hegt, irgendwo zu helfen, wo der Staat versagt, ist natürlich nur eine Stilblüte des Kunstschmocks, der nicht bemerkt, dass es Herr Castiglioni dringend nötig hat, seinen als Geschäftsmann arg beschädigten Ruf auf dem Umweg über ein Kunstmäzenatentum herzustellen.“ Man dürfe es nicht zulassen, dass Castiglioni, der wegen Kunstschmuggel hätte verhaftet werden sollen, nur durch den Preis von 200 Millionen als „Camillo il Magnifico“ eingeht, wie seinerzeit der Medici.653
650 C.C. über den Fall C.C., Der Morgen, 27. Mai 1935 651 Wiener Zeitung, 22. November 1922 652 Der Schmock ist eine Bezeichnung aus dem Jiddischen für einen opportunistischen Menschen, eitel, arrogant, aber weder besonders intelligent, gut aussehend noch geistreich. 653 Der Abend, 23. November 1922
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Der Mäzen
Salzburger Festspiele Im August 1920 fanden mit der Aufführung des „Jedermann“ unter der Regie von Max Reinhardt die ersten Salzburger Festspiele statt.654 Camillo Castiglioni soll diese von Anfang an finanziell unterstützt haben. Im Direktorium waren Mitglieder aus Salzburg und Wien, zwischen denen es aber fast ständige Differenzen gab, die mit der Finanzierung der Festspiele zusammenhingen. Daher wandte man sich 1924 auch an den Nachfolger Castiglionis als Präsident der Depositenbank, Dr. Paul Goldstein, um Unterstützung für einen Garantiefonds für Opernvorstellungen. Der Zeitpunkt hätte nicht schlechter gewählt werden können, da die Bank gerade zusammenbrach. Nachweislich spendete Castiglioni 100.000 Schilling für die Sanierung des Mozarteums in Salzburg. Auf der Tagung der Internationalen Stiftung Mozarteum am 26. Juli 1928 wurde daher beschlossen, ihn zum Ehrenmitglied zu ernennen. Einige Wochen später wurde in Salzburg festgelegt, die künftige Finanzierung der Festspiele durch eine „anonyme Zweckgesellschaft“ zu garantieren. Einige Institutionen, darunter auch die von Castiglioni dominierte „Wiener Schauspielhaus AG“, sollten je 100.000 Mark geben. Mit dieser Beteiligung hätten aber Castiglioni und Reinhardt praktisch alleine die geschäftliche und künstlerische Leitung der Spiele übernehmen können. Damit war der Salzburger Landeshauptmann Dr. Franz Rehrl verständlicherweise nicht einverstanden. So schrieb er am 15. Dezember an Hugo von Hofmannsthal: „Ich muss gestehen, dass die ganze Art der Verhandlungen, wie sie die Wiener Gruppe zu führen beliebt, in mir das größte Unbehagen erweckt und ich erinnere mich nicht, jemals mit ernsten Menschen jemals in dieser Form verhandelt zu haben.“ Er sei noch nie so angewidert gewesen, wo er gemeint hatte, mit „sogenannten Ehrenmännern“ zu verhandeln. Die ganze Aktion ziele darauf, eine Diktatur in Salzburg zu errichten.655 Auch Hugo von Hofmannsthal, der an den Verhandlungen teilgenommen hatte, begann nun an Castiglioni zu zweifeln, „weil er befürchtete, dass der unstillbare Ehrgeiz des reichen Mannes dazu führen könnte, dass das ‚Salzburger Ideal‘ vollends entstellt würde ...“.656 Die Verhandlungen wurden daher abgebrochen. Daraufhin schrieb der nationalsozialistische „Völkische Beobachter“ am 2./3. September 1928 von einer „Judaisierung der Salzburger Festspiele“.657 Selbst in den 1950er-Jahren wurde noch die jüdische Herkunft Castigli654 Oskar Holl, Dokumente zur Entstehung der Salzburger Festspiele, in: Maske und Kothurn, Jg. 13, Wien 1967, S. 148 655 Edda Fuhrich/Gisela Prossnitz, Die Salzburger Festspiele. Ihre Geschichte in Daten, Zeitzeugnissen und Bildern 1920–1945, Salzburg 1990, S. 87 656 Stephan Gallup, Die Geschichte der Salzburger Festspiele, Wien 1989, S. 75 657 Walter Hermann, 75 Jahre Salzburger Festspiele, Bad Aussee 1995, S. 54
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onis kommentiert: „So kommt es auch, dass – ausgerechnet – der Sohn eines italienischen Rabbiners aus Motiven, die weitab von Kultur und Anstand liegen, der Tradition der Salzburger Festspiele zum Leben verhilft, was sich bekanntlich besonders die katholischen Kreise Österreichs zugute halten.“658 Castiglioni war 1929 weiter bereit, aufgrund einer Bitte von Hugo von Hofmannsthal und im Zusammenhang mit einem geplanten Gastspiel des Theaters in der Josefstadt, das Defizit der Salzburger Festspiele zu finanzieren, wie er in einem Schreiben feststellte: „Falls ich von dort aus baldmöglichst einen Brief erhalte, in welchem ich gebeten werde, die Salzburger Festspiele, die sonst nicht stattfinden könnten, im letzten Moment zu ermöglichen, würde ich mich eventuell bereit erklären – falls inzwischen nicht neue Komplikationen entstehen – 25.000 Schilling à fonds perdu zu stiften, ferner die Tantiemen Reinhardt bis zur Höhe von 10.000 Schilling (unter keinen Umständen aber mehr) zu garantieren.“659 Das wurde aber vom Salzburger Landeshauptmann Dr. Franz Rehrl abgelehnt, was eine Wiener Zeitung kommentierte: „Wenn die Salzburger Festspiele nur gedeihen können, wenn Castiglionis Schiebergelder ihnen aufhelfen, so wäre es wohl besser und reinlicher, sie eingehen zu lassen.“660 Noch nach dem Zweiten Weltkrieg unterstrich Castiglioni seine Bedeutung für die Salzburger Festspiele. Er würde es sehr bedauern, „dass gerade Salzburg, das ich seit Jahrzehnten verehre und liebe, vergessen sollte, was ich für die Festspiele getan habe. Außerdem habe ich persönlich der Gemeinde Salzburg das Mozarteum geschenkt, denn das Haus wäre nicht zu retten gewesen, es stand schon vor der Versteigerung. Damals gab man mir und meiner lieben Frau Iphigenie Buchmann ein großes Ehrenkonzert. Man nannte den größten Saal Castiglioni-Saal und man anerkannte, was ich für diese Stadt getan habe, die ich als das Juwel Österreichs betrachte. Sollte das alles vergessen worden sein?“661
Theater in der Josefstadt Der „Sohn eines jüdischen Tempeldieners“, wie ihn seine Feinde hämisch nannten, war zweifellos ein Emporkömmling, aber er war es mit viel Geschmack. „So großzü658 Martin Rathsprecher, Porträt Camillo Castiglioni, Tagebuch, Wien, 24. Oktober 1953 659 Edda Fuhrich/Gisela Prossnitz, Die Salzburger Festspiele. Ihre Geschichte in Daten, Zeitzeugnissen und Bildern 1920–1945, Salzburg 1990, S. 89 660 Marin Rh. Pollner, Camillo Castiglioni: Wahlgrundlseer und Märchenschlossbesitzer, in: Alpenpost, Bad Aussee 15/2010, S. 24 661 Canaval, Salzburger Gespräche mit C.C., Salzburger Nachrichten, 8. Juni 1953
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gig wie im Nehmen war er auch im Geben, und Wien hatte einigen Grund zur Dankbarkeit, besonders das Wiener Theater, mit dem er sich seit seiner Verheiratung mit der Burgschauspielerin Iphigenie Buchmann verbunden fühlte. Max Reinhardt erhielt von ihm das Theater in der Josefstadt, dessen Umbau 1,5 Millionen Schweizer Franken oder 5 Millionen Kronen gekostet hatte.“662 Reinhardt wollte zuerst das Schönbrunner Schlosstheater, was aber durch den Einspruch des Burgtheaterdirektors Anton Wildgans verhindert wurde. Wien wurde daher 1923 von einer freudigen Nachricht überrascht: „Das ReinhardtProjekt, auf das man so lange gewartet hat, soll nun endlich verwirklicht werden. Das ist vor allem Herrn Camillo Castiglioni zu verdanken, dem großzügigen Mäzen, der nicht nur den Gedanken aufgegriffen hat, Reinhardt die Möglichkeit zu geben, in Wien seine Kunst zu zeigen, sondern auch andere Persönlichkeiten dafür zu gewinnen verstand. Von allem Anfang an hat auch der Großindustrielle Mauthner weitgehende finanzielle Hilfe für Reinhardt in Aussicht gestellt, und der Dritte im Bunde ist Generaldirektor Schenker von der Italo Wiener Kreditbank, der den Wienern gleichfalls als Kunstfreund bekannt ist. Camillo Castiglioni hat eine Schauspielhaus AG unter Beteiligung der genannten Herren gegründet und diese Gesellschaft hat das Gebäude des Josefstädter Theaters, das bisher Herrn Leo Singer gehörte, um drei Milliarden – so behaupten es wenigstens Leute, die es wissen müssen – an sich gebracht. Die Höhe des Kaufpreises ist umso interessanter, als das Josefstädter Theater vor anderthalb Jahren um siebzig Millionen an Herrn Leo Singer, beziehungsweise Gabor Steiner verkauft wurde. Der Bauplan für die Reinhardt-Bühne stammt von Professor Karl Witzmann in Anlehnung an das berühmte Teatro La Fenice in Venedig, der auch die Durchführung der architektonischen Arbeiten übernommen hat. Der Umbau des Josefstädter Theaters wird ungefähr bis Mitte Jänner dauern ... Witzmann wird, da das heutige Vestibül den Anforderungen nicht mehr genügt, ein neues errichten. Man wird nach dem neuen Plan, der auf die Idee Kornhäusers zurückgeht, zunächst von der Straße aus in einen kleinen Kassenraum gelangen, an den sich der Garderobenraum und das neu gebaute Foyer anschließen werden. Auch der Innenraum soll vollständig verändert und modernen Anforderungen angepasst werden. Das Wichtigste und Hervorragendste an dem Projekt ist aber der Umbau der neben dem Zuschauerraum liegenden Sträußelsäle, die dem Wiener Publikum von heute fast unbekannt sind. Aus diesen Sälen will Professor Witzmann das Foyer schaffen. Es soll das architektonisch hervorragendste Theaterfoyer Wiens werden. Anschließend an die Sträußelsäle wird ein kleiner Hof gebaut werden, auf 662 Camillo Castiglioni: So endete eine Großmacht, Die Wochenpresse, Wien 11. Jänner 1958
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dem einige Nebenräumlichkeiten eingerichtet werden sollen. Schließlich werden auch die Garderobenanlagen, die heute im Josefstädter Theater als sehr rückständig bezeichnet werden müssen, vollständig umgebaut werden und man kann erwarten, dass auch sie die modernste Fasson erhalten. Bedauerlich ist, dass die alte Fassade des Josefstädter Theaters, die durch den Anbau des Zinshauses verunziert wurde, auch heute nicht mehr zum Ausdruck kommt, nicht mehr wieder hergestellt werden kann, weil man sonst das Zinshaus demolieren müsste. Man wird auf die Fertigstellung dieses interessantesten und sicherlich hübschesten deutschen Schauspielhauses sehr gespannt sein.“663 Am 1. April 1924 konnte sich Castiglioni bei der Eröffnungsvorstellung mit Goldonis „Der Diener zweier Herren“ feiern lassen. „Als Reinhardt die ersten Versuche unternahm, für sein Wiener Projekt Geldleute zu interessieren, gelang es seinem Bruder Edmund, die Rothschilds und noch einige Finanzherren zu einer Finanzierungsgruppe zu vereinigen. Castiglioni hat das Angebot, an dieser Gruppe mit einer bestimmten Quote teilzunehmen, abgelehnt. Er wolle, so hieß es in seiner Erklärung, die er Edmund Reinhardt gegenüber gab, kein Mitläufer neben Rothschild sein; wenn er etwas unternehme, so möchte er es allein tun, jedenfalls wünsche er in diesem Falle die Führung. Darauf traten die übrigen zurück und Castiglioni konnte für das Reinhardtsche Projekt seine eigene Gruppe zusammenstellen. Die Rothschilds und die übrigen blieben fern. Sie durften am Eröffnungsabend anwesend sein und die Ovationen und Gratulationen, die der Mäzen entgegennahm, bewundern. In seiner Loge war eine förmliche Gratulationscour. Aus dem Chor der Jubilanten trat besonders eine Gestalt hervor – der führende Direktor der Escomptegesellschaft, Maxime Krassny-Krassien, eine Säule des Großkapitals.“664 Castiglioni hielt sich vorläufig im Hintergrund, seine einzige Bedingung an Reinhardt war, ständig die beste Loge zu haben.665 „In diesem Theater ließ sich Castiglioni für jede Vorstellung seine – bezahlte – Loge reservieren, die er erst meist mitten in den Vorstellungen zu betreten geruhte, wobei dann sofort die in benachbarten Logen wartenden bezahlten Agenten Begrüßungsbeifall zu klatschen hatten.“666 Diese Methode, sich feiern zu lassen, praktizierte Castiglioni auch an anderen Theatern bzw. an der Oper. Am 27. März 1929 schrieb Castiglioni vom Hotel Carlton in Cannes an seine Privatsekretärin, sie solle einmal eine sehr gute Loge für die Rennsaison im Jockey-Club 663 Reinhardt und Castiglioni, Neues Wiener Journal, 2. Oktober 1923 664 Emmerich Békessy, Meine Freundschaft und Feindschaft mit Camillo Castiglioni, in: Békessy’s Panoptikum, Wien 1928, S. 121 665 Otto Preminger, Preminger, an Autobiography, New York 1977, S. 29 666 Marin Rh. Pollner, Camillo Castiglioni: Wahlgrundlseer und Märchenschlossbesitzer, in: Alpenpost, Bad Aussee 15/2010, S. 24
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reservieren, und zwar dort, wo sie auch die Mitglieder haben. „Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen nochmals einschärfen, für jede der beiden Vorstellungen von Toscanini die beiden Logen No. 5 und No. 6 rechts im Parterre reservieren zu lassen. Sollte man Ihnen Schwierigkeiten machen, so telefonieren Sie persönlich an Generaldirektor Schneiderhan und sagen Sie ihm, ich habe Ihnen diesbezüglich aus Cannes telegrafiert. Auch wäre es mir angenehm, wenn er mir im Parquet verstreut mindestens 10 bis 12 Sitze für jede Vorstellung reservieren würde. Die Sitze sollen also nicht alle nebeneinander sein, sondern vielleicht für jede Vorstellung sagen wir: 2 Sitze in der 1. Reihe, 2 in der zweiten, 2 in der vierten, und so weiter, bis zur 7. oder 8. Reihe. Ich bin sicher, dass Sie mich verstehen.“667 Am 20. November 1926 gab es dann die Premiere des Gerhard-Hauptmann-Stückes „Dorothea Angermann“ unter der Regie von Max Reinhardt, an der auch der Bundespräsident teilnahm. In der Loge links neben der Bühne empfing Castiglioni mit Frau, praktisch als Hausherr, seine Gäste. „Der seltene Anlaß einer Hauptmannschen Uraufführung in Wien durfte von niemandem, am wenigsten von Castiglioni unbeachtet bleiben, der, abgesehen von seiner ehrlichen Begeisterung für den größten lebenden deutschen Dichter, auch sein Hausherrnrecht in nobelster Form übte. Aus innerlicher und äußerlicher Verpflichtung gab Castiglioni, unterstützt von seiner liebenswürdigen Gattin, der schönen Burgschauspielerin Iphigenie Buchmann, unmittelbar, nachdem um 11 Uhr nachts die Ovationen für Hauptmann in der Josefstadt zu Ende waren, in seinem Wiedener Palais ein Souper, an dem eine kleine, aber sehr gewählte Gesellschaft teilnahm ... Kein rauschendes Fest mit Hunderten von Gästen – zu einem solchen eignen sich die heutigen Zeiten nicht – bloß eine herzliche intime Feier von etwa sechzehn Personen ... Am darauf folgenden Sonntag, eine halbe Stunde vor Mitternacht, fand in den Sträußel-Sälen, die der Stimmung des Abends entsprechend in eine Heurigenschenke umgewandelt waren, ein Gulaschabend zu Ehren Gerhard Hauptmanns und Tristian Bernards (Theaterkritiker in Berlin, A.d.A.) statt, gegeben von Max Reinhardt und den Schauspielern der Josefstadt.“668 Theatergeschichte ist fast ausschließlich Kunstgeschichte und handelt von Schauspielern, Regie und Autoren, von Applaus, Misserfolg und Intrigen. Das Wirtschaftliche bleibt zumeist ausgeblendet, obwohl die größten Dramen oft hinter dem Vorhang stattfinden. So war es auch beim Theater in der Josefstadt. Dabei muss man zwischen der Theaterleitung und den Eigentümern unterscheiden. Die Josefstadt wurde 1924 gegen eine Gewinnbeteiligung an Max Reinhardt (Theater der Schauspieler) verpachtet. Von 667 Privatarchiv Dieter Stiefel 668 Gerhard Hauptmann bei Castiglioni, Neues Wiener Journal, 23. November 1926
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Gewinn dürfte aber nicht wirklich die Rede gewesen sein und es scheint auch, dass der viel beschäftigte Reinhardt nicht seine ganze Kraft für Wien einsetzte. „Tief bedauerlich ist es“, schrieb eine Zeitung bereits im ersten Jahr, „dass nun auch diese Bühne von einer argen Krise heimgesucht wurde. Max Reinhardt, der ein Riesenpersonal verpflichtete und sich in der letzten Zeit um das Schicksal des Theaters, um die Beschäftigung und Förderung der Künstler fast gar nicht kümmerte, ist an dieser traurigen Entwicklung nicht schuldlos. Wie verlautet, ist es fraglich, ob trotz der materiellen Opfer, die neuerdings von einzelnen Mäzenen geleistet wurden, die fälligen Novembergagen bezahlt werden können.“669 1933 übernahm Otto Preminger für zwei Jahre die Direktion und konnte wieder schwarze Zahlen schreiben. Nachdem sowohl Preminger wie Reinhardt in die USA emigrierten, wurde Ernst Lothar 1935 neuer Direktor. Dann kam am 18. März 1938 der „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich. Bereits am darauffolgenden Tag wurde Ernst Lothar als Jude gezwungen, die Direktion des Theaters in der Josefstadt niederzulegen. Er verließ Österreich. Das ehemalige Ensemblemitglied Robert Dirr-Valberg, als NSDAP-Mitglied, wurde nun mit der kommissarischen Leitung des Theaters beauftragt. Eine regelrechte Übernahme oder „Arisierung“ des Theaters fand aber nicht statt. Er führte das Theater weiter, „so lange es eben ging“. Die Kasseneinnahmen waren fast Null und der Betrieb verschlang große Summen. Nachdem besonders die Einnahmen aus dem Stück „Vertrag um Karakat“ katastrophal waren, wurde das Theater am 31. Mai 1938 geschlossen. Es konnten nicht einmal alle Löhne ausbezahlt werden und niemand wusste, ob das Theater jemals wieder eröffnet werden würde.670 Im Oktober 1938 erschien ohne Vorankündigung der Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, Heinz Hilpert, und erklärte der Sekretärin, dass er vom Reichspropagandaministerium zum Direktor des Theaters in der Josefstadt eingesetzt worden sei. Er eröffnete dann das Theater vollkommen neu. Auch für Dirr-Valberg fand sich ein Posten, er wurde nun der Landesleiter der Reichstheaterkammer beim Landeskulturverwalter Gau Wien.671 Daneben ergaben sich Änderungen in der Eigentümerstruktur. Die „Wiener Schauspielhaus Aktien-Gesellschaft“ wurde am 23. April 1924 mit Sitz in Wien 1, Kolowratring 14 (später Schwarzenbergplatz 18) gegründet. Der Verwaltungsrat bestand aus Isidor Mautner (Präsident), Berthold Schweiger, Moritz Schenker, Stephan Mautner, Hans 669 Max Reinhardt und sein Wiener Theater, Wiener Morgenzeitung, 22. Oktober 1924 670 Theater in der Josefstadt, Direktion Heinz Hilpert, an Dr. Karl Postl, Wien, 10. Jänner 1940, Archiv der Republik, Vermögensverkehrsstelle, Gewerbe 4673 671 Schreiben des Landesleiters der Reichskammer beim Landeskulturverwalter Gau Wien an den Reichsstatthalter in Wien, Abwicklungsstelle der Vermögensverkehrsstelle, Wien, 5. Februar 1941, Archiv der Republik, Vermögensverkehrsstelle, Gewerbe 4673
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Wertheim und Heinrich Adamec als leitenden Verwaltungsrat. Die Gesellschaft erwarb das Theater in der Josefstadt und ließ es für die Zwecke von Max Reinhardt adaptieren. Das Aktienkapital betrug bei der Gründung 3 Milliarden Kronen, bei der Einführung des Schillings (Golderöffnungsbilanz 1. Jänner 1925) wurde es mit 500.000 Schilling festgesetzt. Bei einer Bilanzsumme von 1.781.674,95 Schilling nahmen die Realitäten und Einrichtungen mit 1,5 Millionen den einzig nennenswerten Posten ein. Ab 1927 betrieb die Gesellschaft auch einen Buch-, Kunst- und Bühnenverlag.672 Der Theaterbetrieb war von ständigen finanziellen Problemen gekennzeichnet, sodass man in den 1930er-Jahren sogar wieder an Castiglioni dachte. „Ob man die Bindungen Castiglionis zum Josefstädter Theater als Aktivum in materieller Hinsicht werten kann, ist fraglich und in gewissem Sinn undurchsichtig. Das Gebäude in der Josefstädterstraße ist Eigentum Castiglionis, und was das künstlerische Unternehmen, die ‚Wiener Schauspielhaus Betriebsgesellschaft‘ betrifft, die ursprünglich eine Gründung des Mäzens Castiglioni in finanzieller Hinsicht und die künstlerische Tat Max Reinhardts war, so haben sich, wie aus einer Verlautbarung im amtlichen Teil der ‚Wiener Zeitung‘ hervorgeht, dort in letzter Zeit Änderungen ergeben, die unter Umständen wieder auf eine wachsende Anteilnahme Castiglionis schließen lassen könnten.“673 Ab den 1930er-Jahren verschwanden die prominenten Namen aus dem Verwaltungsrat und Camillo Castiglioni hatte mit Max Reinhardt die Positionen zu übernehmen; ihre Namen schienen bis 1937 dort offiziell auf.674 Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 war nicht klar, ob das Theater in der Josefstadt als jüdisches Unternehmen anzusehen war.675 Für 1938 wurden als Vorstandsmitglieder angegeben:676 Dr. Jaro Erichleb, Arier Dr. Ernst Königsgarten, Jude Erich Mostny, vermutlich Jude Dr. Eduard Nelken, Jude Camillo Castiglioni, Jude Prof. Dr. h.c. Max Reinhardt, Jude 672 673 674 675
Compass, Finanzielles Jahrbuch, Wien 1926 und 1928 Castiglioni redivivus, Der Morgen, 16. Dezember 1935 Compass, Finanzielles Jahrbuch, Wien 1932 und 1937 Abwicklungsstelle der Vermögensverkehrsstelle Wien an das Amtsgericht Wien 1, Betr: Betriebs entjudung, Wien 10. Mai 1941, Archiv der Republik, Vermögensverkehrsstelle, Gewerbe 4673 676 Rechtsanwalt Dr. Richard Jakopp an den Reichsstatthalter in Wien, Abwicklungsstelle der Vermögensverkehrsstelle, Wien, 26. März 1941, Archiv der Republik, Vermögensverkehrsstelle, Gewerbe 4673
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Eduard Nelken kam von der Depositenbank und war später bei Castiglioni angestellt, sodass der Vorstand eigentlich aus Castiglioni und seinen „Hawara“ bestand.677 Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wurde das Theater jedoch von einer italienischen GmbH erworben, als deren Vertreter der Triestiner Anwalt Commendatore Camillo Poiluci auftrat. Bei der Aktionärsversammlung am 15. Dezember 1939 traten daher überraschend neue Aktionäre auf. Von den 50.000 Aktien hielten nun:678 Dr. Enrico Deghenghi, Kaufmann in Mailand Giuseppe Renier, Diplomkaufmann in Mailand Riccardi de Domincis, Techniker in Mailand
25.000 Aktien 10.000 Aktien 15.000 Aktien
Es darf vermutet werden, dass es sich bei der italienischen GmbH um „Strohmänner“ handelte und um einen Schachzug Castiglionis, um der Enteignung zu entgehen. In den nunmehr nach deutschem Recht eingerichteten Aufsichtsrat wurden gewählt: Dr. Enrico Deghengi, Milano, Vorsitzender Ricardo de Dominicis, Milano Dr. Erich Führer, Rechtsanwalt, Wien Dr. Richardt Jakopp, Wien, Vorsitzender Stellvertreter Dr. Max A. Mayer-Loos, Chef des Bankhauses Rosenfeld & Co. Wien Giuseppe Renier, Mailand Bei einer Bilanzsumme 1938 von 1.270.026,36 machten auf der Aktivseite der Verlust 1938 und der Verlustvortrag 1937 insgesamt 341.593,12 Reichsmark, also 27 % und auf der Passivseite die Verbindlichkeiten von 739.200,97 Reichsmark sogar 58 % aus. Im Grundbuch wurde das Pfandrecht von Berthold Schweiger als Jude von 179.177,70 reichsdeutsche Goldmark, zuzüglich 39.469 Reichsmark Reichsfluchtsteuer und 53.145,34 vollstreckbare Forderungen durch das Deutsche Reich einverleibt. Daneben war noch eine Forderung der Deutsche Fox Film AG in Berlin mit 450.000 Reichsmark eingetragen.679 Die italienische GmbH bot Robert Dirr-Valberg einen Pachtvertrag an, den dieser aber ablehnte. Er und Heinz Hilpert führten das Theater im Auf677 Hawara kommt aus dem Jiddischen und bedeutet Freund, Kumpel. 678 Notar Dr. Hans Bablik, Protokoll der Hauptversammlung der Aktionäre der Wiener Schauspielhaus Aktien-Gesellschaft vom 15. Dezember 1939, Archiv der Republik, Vermögensverkehrsstelle, Gewerbe 4673 679 Grundbuchauszug Josefstädter Straße 26 vom 7. Januar 1941. Archiv der Republik, Vermögensverkehrsstelle, Gewerbe 4673
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trag des Deutschen Reiches eigentlich ohne rechtliche Basis weiter und die AG erhielt von dieser Seite keine Einnahmen. 1942 wurde das Theater in der Josefstadt von der Gemeinde Wien um 600.000 Reichsmark erworben, wohl von der italienischen GmbH. Wie viel auf Castiglioni, der sich damals in der Schweiz aufhielt, entfiel, ist nicht klar, da er wohl auch seine „Partner“ beteiligen musste. In jedem Fall musste es für ihn ein wichtiger finanzieller Rückhalt sein, um die Kriegsjahre, in denen er kaum wirtschaftlich tätig sein konnte, zu überstehen. Die Gemeinde Wien konnte sich nun als rechtmäßige Eigentümerin betrachten und hat das Theater auch nach dem Krieg als „Schauspielhaus AG“ weiter betrieben. Das nicht auf Reichsmark umgestellte Aktienkapital betrug 1945 nach dem Schillinggesetz 333.333 Schilling und bei der Schillingeröffnungsbilanz 1955 1,2 Millionen Schilling, bei einem Reinvermögen von 1,712.485 Schilling. Seit der Gründung 1924 war keine Dividende gezahlt worden.680 Die Gemeinde hatte zusätzlich mit einem Aufwand von einer Million Schilling die Sträußel-Säle renoviert und zahlreiche Reparaturen vorgenommen. Dennoch wurde im November 1949 auf Antrag Castiglionis ein Rückstellungsverfahren eingeleitet.681 Der Rechtstitel war wohl, dass alle Eigentumsübertragungen in Österreich während der NS-Zeit, die unter Zwang vorgenommen wurden, nichtig waren. Und Castiglioni hatte Erfolg. Bei der Rückstellung Mitte 1952 hatte die Gruppe Castiglioni der Gemeinde lediglich den Betrag von 615.000 Schilling zu ersetzen, was wohl dem 1942 erfolgten Kaufpreis entsprach.682 Castiglioni konnte zufrieden sein. In einem Interview in den „Salzburger Nachrichten“ erklärte er: „Während des Krieges wurde mir das Palais in Wien und das Theater in der Josefstadt, an dem ich mit jeder Faser meines Herzens hänge, verkauft. Jetzt habe ich endlich das Theater zurückbekommen und die Gemeinde Wien hat sich überaus taktvoll und vornehm mir gegenüber benommen und wieder einmal bewiesen, wie recht ich habe, überall diese Stadt und dieses Land zu rühmen.“ Die Zeitung „Der Abend“ kritisierte dies entsprechend: „Abertausende kleine Leute warten auf die Erledigung ihrer Rückstellungsansprüche, auf eine Wohnung, Möbel, ein paar Habseligkeiten. Sie können weiter warten. Aber dem Multi680 Bei der Währungsumstellung 1938 erhielt man für 3 Schilling 2 Reichsmark, sodass aus dem Aktienkapital von 500.000 Schilling 333.333 Reichsmark wurden. Bei der Umstellung von Reichsmark auf Schilling nach dem Krieg 1945 wurde einfach der Kurs von 1:1 angenommen, sodass das Aktienkapital nun 333.333 Schilling betrug. Mit dem Staatsvertrag 1955 zwischen den Alliierten Mächten und Österreich konnte mit einer Schillingeröffnungsbilanz neu bewertet werden. Das Aktienkapital wurde nun durch Umtausch und Erhöhung mit 1,2 Millionen Schilling festgelegt. 681 Der Abend, 17. Jänner 1953 682 Martin Rathsprecher, Porträt Camillo Castiglioni, Tagebuch, Wien 24. Oktober 1953
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millionär Castiglioni gegenüber, der Wien und Österreich schweren Schaden zugefügt hat, hat es die Gemeinde Wien eilig. Da wird sie sogar ‚taktvoll und vornehm‘.“683 Es dürfte das letzte Mal gewesen sein, dass Camillo Castiglioni eine größere Summe in der Hand gehabt hat. Sein in der Inflationszeit der 1920er-Jahre zusammengerafftes Vermögen hatte noch einmal Früchte getragen. Castiglioni wollte aber so bald wie möglich verkaufen. Weder war er in Wien wirklich willkommen, noch hatte er die finanziellen Mittel, um ein defizitäres Theater zu betreiben. Angeblich konnte er 2 Millionen Schilling erzielen. Die „Schauspielhaus AG“ wurde nun zu zwei Drittel von der Österreichischen Länderbank AG und zu einem Drittel von der Österreichischen Credit-Institut AG erworben.684 Das waren beide verstaatlichte Banken, welche die Transaktion weniger aus Gewinnabsicht als durch politischen Einfluss vorgenommen hatten. Einen Mann wie Castiglioni wollte man in einer solchen Kulturinstitution nicht mehr haben. Der Eigentumsübergang blieb aber von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, da der Pachtvertrag von Rudolf Steinbeck mit der Schauspielhaus AG unkündbar war und bis 31. August 1955 weiterlief.685 Im Unabhängigen Pressedienst Nr. 6 vom 21. Jänner 1953 behauptete der VdU-Abgeordnete Dr. Stüber, dass Castiglioni einen wesentlichen Teil des 13 Millionen Schilling betragenden Wahlkampfdefizits der ÖVP bezahlt und dafür maßgeblichen Einfluss auf die österreichische Spielcasino AG bekommen hätte.686 Der Verband der Unabhängigen (VdU) war als Auffangbecken der ehemaligen Nationalsozialisten gegründet worden, die ab 1949 wieder an den Nationalrats- Bild 66 wahlen teilnehmen konnten und ging 1956 in die „Der Morgen am Montag“, 17. Mai 1920 683 Der Abend, 9. Juni 1953 684 Finanzkompass, Wien 1957 685 Die Rückstellung des Josefstädter Theaters, Wiener Kurier, 19. Jänner 1953 686 Erwin Steinböck, Lohner zu Land, zu Wasser und in der Luft. Die Geschichte eines industriellen Familienunternehmens von 1823–1870, Graz 1981, Fußnote 110, S. 92
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Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) auf. Die Behauptung muss aber als politischer Rülpser aus längst vergangenen Tagen gewertet werden, als Erinnerung, dass Castiglioni vermutlich die Christlichsoziale Partei unterstützt hatte. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die ÖVP an jemanden anstreifte, der durch seine Geschäfte in der Zwischenkriegszeit völlig diskreditiert war. Außerdem war Castiglioni keine Finanzgröße mehr. Die Beteiligung an der Wiedererrichtung des Casinos in Baden 1955 wurde auch von anderer Seite behauptet.687 Beim Casino Baden weiß man nichts davon, da die Wiedererrichtung des Casinos 1955 provisorisch in den Räumen eines Hotels begann und keine großen Investitionen erforderlich waren.
Drei Münzen im Brunnen Im Grunde gibt es zwei Arten von Emigranten: Viele wollen ihre Identität erhalten, gründen Traditionsvereine und halten den Kontakt zur alten Heimat aufrecht. Es sind jene, die nach Jahrzehnten an ihren Geburtsort zurückkommen und einen eigenartigen antiquierten Dialekt mit amerikanischer Intonation und Satzstellung sprechen. Und dann gibt es solche, die nichts mehr von früher wissen wollen, mit der Vergangenheit brechen, nur in die Zukunft blicken und sich völlig in ihre neue Heimat integrieren. Dazu gehörte Iphigenie. Sie hat ihren drei amerikanischen Enkeltöchtern nie etwas von Europa erzählt, kaum etwas von ihrer früheren Ehe mit Camillo und die Mädchen wussten nicht einmal, dass ihre beiden Großeltern jüdisch waren.688 Nachdem sie in den USA ihr Geburtsdatum von 1895 auf 1901 verändert hatte, konnte sie auch nichts von ihrer Schauspielausbildung in Wien und ihrer frühen Karriere am Burgtheater erzählen, sie wäre sonst mit elf Jahren ein Kinderstar gewesen. 1954 kam Iphigenie für die Dreharbeiten zu dem Film „Drei Münzen im Brunnen“ nach Rom. Camillo zahlte bei dieser Gelegenheit die Reise für die Tochter Livia und eine Enkeltochter. Nach zwanzig Jahren kam es wieder zu einem Zusammentreffen der beiden Töchter Livia und Jolanda, die bei ihrem Vater in Italien geblieben war. Iphigenie sah Camillo zum letzten Mal, aber es war eine wehmütige Begegnung. Sie stellte noch immer eine attraktive Frau dar, aber Camillo war sichtlich alt geworden. Nichts mehr von der Energie, Dynamik und vom Witz der früheren Tage. Nichts mehr von der gesellschaftlichen Stellung und vom unendlichen Reichtum. Aber auch Europa hatte für die nunmehrige Amerikanerin seinen Reiz verloren. Das Wien ihrer Jugend, der Glanz 687 Camillo Castiglioni gestorben, Neues Österreich, 28. Dezember 1957 688 Interview Dieter Stiefel mit den drei Enkeltöchtern Iphigenies, Vancouver 1991
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der Salzburger Festspiele, die Sommer am Grundlsee, sie gab es nicht mehr. Und sie waren nicht nur in ihrer Erinnerung verblasst: Die Generation, die all das mit Leben erfüllt hatte, die Generation, die noch in der österreichischen Monarchie, im 19. Jahrhundert aufgewachsen war, sie war praktisch abgetreten. Für die Schauspielerin Iphigenie war der Vorhang über diesen Teil ihres Lebens längst gefallen.
Register Abel 203 Acheson, Dean 297 Adams, John Quincy 271-272 Allina, Heinrich 175, 201 Banfield, Gottfried 34 Barta, Rudolf 289 Bauer, Moritz 140 Bauer, Otto 59 Békessy, Emmerich 42–46, 49, 54, 80, 124, 133, 135, 255–256 Beutelmoser, Ferdinand 260 Bianchi, Carlo 292–293 Bergström, Hjalmar 306 Bettauer, Hugo 101 Bologna, Giovanni da 331 Bondy, Leon 184 Bondy, Milos 184–185 Bondy, Wladimir 184–185 Bordonaro 198 Bosel, Siegmund 77, 86, 130–139, 159, 178, 234, 250, 253–255 Brandenburg, Ernst 280 Brauneis, Victor 207 Bruno, Leon 330 Brocchi, Emilio 123 Bronciono 330 Bronner, Heinrich 183–184, 188 Bronner, Samuel 185 Canaletto, Giovanni Antonio 330 Caspar 30 Castiglioni, Arturo 10, 203 Castiglioni, Augusto 10 Castiglioni, Camillo 9–10, 12–21, 23–52, 54–58, 61–68, 70–97, 99, 105–147, 151, 156, 158–159, 162–163, 169–171, 173, 175–215, 217–304, 307– 312, 314–338, 340–344 Castiglioni, Iphigenie 9, 119, 262, 270, 272, 301–
309, 311, 318, 320–321, 323–324, 335–336, 338, 344–435 = Buchmann, Iphigenie Castiglioni, Jolanda 9, 302, 3008, 321, 344 Castiglioni, Livia 9, 299, 302, 304, 308, 310–311, 321, 344 Castronovo, Valerio 39 Cerruti, Vittorio 287, 290 Colbert, Carl 49–50, 52, 54–55 Conte Corti, Egon 260 Cranach, Lukas 330 Crivelli, Carlo 329 Daimler, Paul 18 Danneberg, Robert 125 David, Gerard 330 de la Grange 298 Dietrich, Hans Christian 276 Dollfuß, Engelbert 263–265, 287 Drucker, Adolf 114, 116, 162–165, 167, 170, 175, 178, 180–181, 265 Duim 154–156 Dürer, Albrecht 271 Eber, Anton 108 Ely, Ernst 43 Etrich, Igor 24, 30 Exner, Wilhelm 260 Federn, Walter 55–56, 95 Feltrinelli, Carlo 87 Flick, Friedrich 72, 79 Fónagy, Aladár 107–108 Forda, Eugen 46 Frank, Felix 195–196 Frankfurter (Hofrat) 233 Frankovilla 331 Franz Joseph I. 23, 82, 325 Froments, Nikolas 330 Frau Themis 203 Frei, Bruno 49
348 Fuchs, Artur 49, 52 Giovanni (Butler) 397 Glück (Hofrat) 260 Goldstein, Isman 190 Goldstein, Paul 54–56, 105, 108, 114–118, 162–164, 167, 170–172, 175, 178, 180–181, 186–191, 195, 212, 228, 242, 265, 334 Göring , Hermann 41 Grillparzer, Franz 247, 306 Gutmann (Baron) 68, 165 Gürtler, Hans 290 Haas, Heinrich 174, 266–267 Habe, Hans 14 Haberditzl (Hofrat) 260 Hals, Franz 329 Hardt, Ernst 307 Hardmayer, Heinrich 324 Hartenau, Johanna 337 Heine, Albert 305 Heine, Heinrich 200, 215 Heinkel, Ernst 20, 29–30, 32–35, 277, 302–303 Henkel, Ernst 273 Hentschel 264 Herbst, Willy 36 Herr Benedikt 42 Herr Goldschmied 56 Herr Lippowitz 264 Herr Löwenstein 264 Herr Neubroch 80 Herr Zellerbach 297 Herterich, Franz 260 Herzberg, Franz 171, 186–187 Hinterstoisser, Franz 21 Hitler, Adolf 41, 324 Hlawatsch, L. 260 Hofmannsthal, Emil von 57 Hofmannsthal, Hugo von 334–335 Huber, Gustav 260 Isacco, Vittorio 10 Isacco, Enrichetta 10 Jakob, Siegfried 189, 193, 200, 204–205, 212–222 Janek, Siegmund 270–271 Jsabey 271
Register Kaiser Karl 37, 53, 56 Kaufmann, Hugo 317 Kautsky, Benedikt 225 Keith, Marquis von 79 Kestranek, Wilhelm 44, 74 Kienböck 79–81, 124, 158, 268, 317 Kienzl, Helene 317 Kienzl, Wilhelm 260, 288, 290 Kinskey, Leonid 309 Kohorn (Baron) 116 Kola, Richard 42, 59–61, 70–71, 85–86, 99, 179, 221, 316 Korff, Arnold 304 Körner, Oskar von 114–116 Körting, Ernst 302 Kranz, Josef 53–54. 56, 105, 179, 252 Kraus, Karl 44, 47, 84, 129, 138, 201, 215, 256, 315, 326 Krauss, Simon de 68 Krausz 272 Krassny, Maxim 76–78 Krobatin, Alexander 29, 54 Kun, Imre 183, 186, 193 Kux 140, 256 Lederer, August 184–185, 188, 192, 210, 212, 233 Lederer, Leo 46. 49–50, 183, 196 Lippi, Filippino 330 Lippschütz, Leo 260 Lohner, Ludwig 26–27, 30–31, 36 Ludwig, Emil 239 Lustig 174 Mannheimer, Fritz 156 Marcus, Hugo 17 Marek, Karl 56, 119 Margulies, M. 68 Marx, Karl 249 Marx, W. R. 318 Masaryk, Thomas 40, 244 Massary, Fritzi 302 Mataja, Heinrich 195, 209 Mauthner, Gustav von 336, 140 Meinl, Julius 260 Mensdorff 260
Register Meyer, Ludwig Friedrich 292–294 Miklas, Wilhelm 259, 261 Miller-Aichholz, Eugen 313–314, 328 Miller von Aichholz (Baron) 331–332 Miller zu Aichholz, Josef von 311 Miller zu Aichholz, August von 312 Miller zu Aichholz, Viktor von 312 Minkus, Eugen 129–130, 132, 134–135, 140 Mintz 56 Morgan jr., John Piemont 157, 258 Moser, Gustav von 307 Muntendorf, Victor 166 Mussolini, Benito 38–41, 52, 75–76, 91, 213, 220, 244, 251, 258, 287, 290, 296 Müller, August 143, 145–147 Napoleon 138, 247 Nagelstock 264–265 Nelke, Eduard 186–187, 230, 267, 340–341 Neumann, Gabor 108, 117, 130, 180, 184, 186–191, 195, 197, 206, 211, 214, 230, 240, 242 Neumann, Gabriel 108 Neumeyer, Fritz 276 Neurath, Otto 207 Niccodemi, Dario 306 Novelli 141 Novak, M. 69 Olden, Rudolf 48 Oppenheimer, Felix 260 Orsini (Baron) 126 Palma d. J., Jakop 271 Papst Leo X. 328 Parseval, August von 21 Pick, Hilbert 166, 183 Pinner, Felix 248, 250 Pisa, Giovanni da 330 Planiscig, Leo 271, 327, 329 Pollak, Bernhard 52 Popp, Franz Josef 274, 276, 278, 238 Popper 140 Porsche, Ferdinand 18–21, 26 Preminger, Otto 201, 339 Puch, Johann 17 Ramek, Rudolf 52
349 Rapp, Karl 274–275 Reinhardt, Edmund 337 Reinhardt, Max 259, 308, 323, 334–336, 338–340 Reizes, Hans 54 Rembrandt 328–329 Riccio 331 Rigo, Antonio 330 Rilke, Rainer Maria 227 Rintelen, Anton 86–88, 90, 92, 209, 243, 261–266 Rinzetti 41 Ritscher (Generaldirektor) 163, 165–166 Rittner, Thaddäus 306 Robbia, Andrea della 330 Roller, Alfred 260 Romano, Giulio 328 Rosé, Arnold 260 Rosselli, Domenico 330 Rosselino, Domenico 330 Rossi, Adolfo 196, 229–231, 233 Rothschildt, Albert 68, 140, 311, 337 Rottenberg 286 Rossi, Carla 310 Rostand 284 Rubens 328–330 Sachsel, Siegmund 116, 162–165, 167, 170, 175, 265 Saxl (Vizepräsident) 116 Salten, Felix 259 Sant’Agata, Francesco de 330 Schacht, Hjalmar 277 Schalk, Franz 260 Schanzer, Carlo 39, 126 Schanzer, Rudolph 315 Scheffer Egon 253 Schreyer, Maximilian 46 Schneiderhahn, Franz 260 Schnitzler, Arthur 304, 306 Schober, Josef 39 Schober, Johann 49, 84, 189–190, 333 Schottmüller, Frieda 329 Schumacher, Karl von 292 Schumpeter, Joseph A. 59–60, 64, 300 Schweiger, Berthold 339, 341 Schweiger (Generaldirektor) 49–51, 203–204
350 Segré, Roberto 39, 59, 246 Segur, August 122, 127–128 Seipel, Ignaz 39, 91, 198, 226, 231 Settignano, Desideria da 330 Sforza, Carlo 39, 67, 297 Shaw, George Bernard 303, 305–306 Sieghardt, Rudolf 53 Sieghart 111, 140, 207, 212, 265 Skoda (Baron) 68 Stein, Armin 186–187 Stein, Richard 195 Steinberg, Josef 282 Steinbeck, Rudolf 343 Steinschneider, Lilli 26 Steiner, Gabor 336 Stern (Hofrat) 174, 181, 190, 194, 200, 204–206, 208–209, 212, 220, 230, 265 Stern, Georg 192 Stinnes, Edmund 63 Stinnes, Hilde 84 Stinnes, Hugo 44, 58, 62–65, 67–70, 73, 75–84, 125,136, 141, 145, 147, 199, 240, 243,249, 253, 257, 275–276 Stinnes, Hugo jun. 82–83 Strauss, Richard 260 Stettheimer, J. Isaak Eugen 302 Stettheimer, Nellia Babette 302 Stolper, Gustav 194–195 Strauß, Emil Georg von 20, 280 Stüber 343 Szende, Paul 250–251 Tagliata, Rocca 331 Tamaro, Attilo 292–293
Register Taussig, Oskar 140, 185 Teleki 39 Thimig (Hofrat) 260 Tintoretto 328–330 Tito, Josip Broz 297–298 Tizian 328–330 Toeplitz, Guiseppe 15, 38–39, 73, 108, 229–230, 232–233, 244 Torreta, Tomasi della 39 Tschuppik, Karl 140 Tusar, Vlastimil 39 Ubertini 330 Urbanitzky, Grete von 260 Vielmetter, Johannes Philipp 277 van Hengel, Adrian 286–287 Vecellio, Tiziano 330 Vitali, Alaide 302 Vitali, Lazarro 302 Vittoria, Alessandro 330 Weber, Max 153–154 Weinberger, Gustav 185 Weinmann, Fritz 85–86 Weisz, Alexander 47–52 Weydenhammer, Rudolph 282 Widmann, Joseph Viktor 306 Wiedmann, Max 274–276 Zacconi 141 Ziegler, Julius 289 Zimmermann, Alfred Rudolf 90, 148 Zwilling, Carl 316
Dieter Stiefel
VerSta atlichung unD PriVatiSierung in ÖSterreich: illuSion unD Wirklichkeit
Verstaatlichung und Privatisierung sind grundsätzliche Konfliktthemen in einer Marktwirtschaft. Dies wird an der Dramatik zwischen politischer Diskussion und wirtschaftlicher Realität der Verstaatlichten Industrie Österreichs aufgezeigt. Der Zeitraum geht von der Verstaatlichung 1946 bis zur abgeschlossenen Privatisierung im Jahr 2005. Der ökonomischen Entwicklung werden die politischen Prinzipien, Werte und Emotionen gegenübergestellt. Grundlage sind die Stellungnahmen aus der Zeit bei Regierungserklärungen, Budgetreden und zu Verstaatlichungs- und Privatisierungsgesetzen. Die politischen Wortmeldungen über 60 Jahre machen das Thema anschaulich, menschlich und farbig, näher kann man der »historischen Wirklichkeit« kaum kommen. 2011. 254 S. Gb. 135 x 210 mm. ISbN 978-3-205-78735-8
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FRANZISKA ROGGER, MADELEINE HERREN
INSZENIERTES LEBEN DIE ENTZAUBERTE BIOGRAFIE DES SELBSTDARSTELLERS DR. TOMARKIN
Das Buch zeigt den von Medien, Fachwelt und sich selbst dargestellten Leander Tomarkin (1895–1967). Der angebliche Arzt zog mit seinen sensationellen Heilerfolgen und bezaubernden Kongressen für kurze Zeit alle in seinen Bann: Könige, Wissenschaftler, selbst Nobelpreisträger wie Albert Einstein. Das Buch zeigt Tomarkin als wissenschaftlichen Star, als Selbstdarsteller, als Milieuopfer und als Kind seiner Zeit. Die Autorinnen umkreisen die biografischen Wahrheiten dieses Selbstdarstellers: „Wahrheiten“ wechseln horizontal, je nach Informanten und Quellen, und „Wahrheiten“ verändern sich vertikal, je nach zeitlichem Blickwinkel. So werden Fakten demontiert, Methoden der Geschichtsschreibung vorgeführt und Resultate umgekehrt. Ein Lehrstück zur „historischen Wahrheit“ entsteht. 2012. 379 S. 68 S/W-ABB. GB. MIT SU. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-78871-3
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