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German Pages [256] Year 2010
Calvinismus am Mittelrhein
Rechtsgeschichtliche Schriften Im Auftrage des Rheinischen Vereins für Rechtsgeschichte e. V. zu Köln Band 26
Herausgegeben von Dieter Strauch
Calvinismus am Mittelrhein Reformierte Kirchenzucht in der Grafschaft Wied-Neuwied 1648–1806
Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Rechte durch die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
vorgelegt von Roland Schlüter aus Düsseldorf 2009
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Evangelischen Kirche im Rheinland und S. D. Fürst Carl zu Wied
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Meinen Eltern
Inhalt
Vorwort .......................................................................................... XI Quellenverzeichnis...................................................................... XIII Literaturverzeichnis ................................................................... XVII Teil 1 - Einleitung ............................................................................ 1 A. Fragestellung ............................................................................... 1 I. Ein gescheiterter Reformationsversuch ............................................. 1 II. Kirchenzucht als rechtshistorisches Phänomen ................................ 2 III. Kleinstaaten als Untersuchungsgegenstand..................................... 8 IV. Religiöse Toleranz als Besonderheit reformierter Territorien ...... 12 V. Die Grafschaft Wied-Neuwied und das Rheinland ........................ 14
B. Einführung in die Verfassung der Grafschaft Wied-Neuwied .. 18 I. Vorbemerkung ................................................................................. 18 II. Anfänge der Grafschaft .................................................................. 19 III. Reformation und Glaubenskriege.................................................. 20 IV. Gründung der Stadt Neuwied........................................................ 27 V. Zeitalter der Aufklärung................................................................. 31
C. Untersuchungsgegenstand ......................................................... 35 D. Quellenkritik ............................................................................. 37 Teil 2 – Theorie und Praxis des wiedischen Kirchenrechts ........... 41 A. Grundlagen des Kirchenrechts .................................................. 41 I. Die beiden Regimenter in der protestantischen Kirche ................... 41 II. Stellung des Landesherrn im Rahmen des Kirchenregiments ........ 43 III. Grundsätze der reformierten Kirchenzucht ................................... 46 1. Vorbemerkung..................................................................................46 2. Persönliche Ermahnung....................................................................50
Inhalt
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3. Erneute Ermahnung unter Zeugen ....................................................51 4. Öffentliche Kirchenbuße ..................................................................51 5. Ausstoß aus der Gemeinde ...............................................................53 6. Funktion und Struktur der Kirchenzucht ..........................................54 IV. Wiedisches Kirchenrecht .............................................................. 59 1. Vorbemerkung..................................................................................59 2. Toleranzedikt von 1662 ....................................................................61 3. Kirchenordnungen in Wied ..............................................................65 a. frühe Kirchenordnungen....................................................................65 b. Herborner Synode von 1586..............................................................66 c. Kirchenzuchtordnung von 1590.........................................................68 d. Kirchenordnungen von 1600 und 1616 .............................................69 e. Kirchenordnung von 1643 .................................................................69 f. Kirchenordnung von 1683..................................................................70 g. Kirchenordnung von 1707.................................................................74 h. Verordnung zur Kindererziehung von 1739 ......................................77 i. Verordnung zum Armenwesen von 1766...........................................78 4. Fazit ..................................................................................................80 V. Kanonisches Recht ......................................................................... 81
B. Protestantisches Eherecht in Wied-Neuwied ............................ 82 I. Allgemeine Rechtsgrundlagen ......................................................... 82 II. Copulationsrecht............................................................................. 84 III. Copulationsverfahren .................................................................... 85 1. Grundsätze........................................................................................85 2. Besondere Erfordernisse...................................................................88 3. Elterlicher Konsens ..........................................................................90 4. Verfahren..........................................................................................91 5. Fazit ..................................................................................................94 IV. Dispensationsrecht ........................................................................ 95 V. Hochzeitsfeiern............................................................................... 98 VI. Eheprozesse................................................................................... 99 1. Ehehindernisse..................................................................................99 a. Einleitung ..........................................................................................99 b. Pastor Johann Philipp Caesar ..........................................................100 c. Johannes Hermann Decker ..............................................................102 d. Johannes Christian Noll...................................................................105 e. Johannes Seigel................................................................................111 2. Eheversprechen...............................................................................115 3. Ehescheidungen..............................................................................117 a. Scheidungsrecht...............................................................................117 b. Scheidungsverfahren .......................................................................118
Inhalt
IX aa. Welcker gegen Welcker I..........................................................118 bb. Behmler gegen Behmler ...........................................................121 cc. Wibrecht gegen Wibrecht .........................................................124 dd. Siebel gegen Bückling ..............................................................125 ee. Welcker gegen Welcker II ........................................................127 4. Fazit ................................................................................................129
C. Ämter- und Behördenstruktur ................................................. 131 I. Vorbemerkung ............................................................................... 131 II. Konsistorium ................................................................................ 133 1. Entstehungsgeschichte....................................................................133 2. Wiedisches Konsistorium ...............................................................135 a. Vorbemerkung .................................................................................135 b. Zuständigkeiten ...............................................................................137 c. Besetzung ........................................................................................138 d. Verfahren.........................................................................................140 e. Appellation/Supplikation.................................................................141 f. Juristisch-theologischer Diskurs ......................................................143 3. Fazit ................................................................................................144
III. Inspektorat................................................................................... 144 IV. Pastorat........................................................................................ 146 1. Aufgabe ..........................................................................................146 2. Regionale Gegebenheiten ...............................................................147 3. Berufungsverfahren ........................................................................149 4. Ausbildung .....................................................................................153 5. Persönliche Lebenssituation ...........................................................155 6. Aufsichtsverfahren .........................................................................157 7. Fazit ................................................................................................159 V. Presbyterium................................................................................. 160 VI. Diakonat...................................................................................... 167 VII. Schulwesen ................................................................................ 168 VIII. Weltliche Behörden.................................................................. 170 IX. Fazit ............................................................................................ 172
D. Visitationen als Herrschaftsinstrument ................................... 174 E. Kirchenzuchtprozesse.............................................................. 180 I. Vorbemerkung ............................................................................... 180 II. Insellage und grenzüberschreitende Mobilität.............................. 182 1. Paul Drieschen – heimliche Kopulation in Irlich............................182 2. Anna Veronica Schmied – unehelich schwanger ...........................184
X
Inhalt
3. Johann Paul Anhäuser - Taufzwang ...............................................187 4. Johannes Kaulbach, Heinrich Kohlenburg und Konsorten – Branntwein in der Kirche ...................................................................188 5. Ludwig Alsdorfs Ehefrau – nächtliche Ausflüge über den Rhein ..190 III. Merkantilistische Wirtschaftsordnung ........................................ 191 1. Lucas Kayser – Schwangerschaft der Stieftochter .........................191 2. Johann Wilhelm Kieper – Vergewaltigung?...................................198 IV. Öffentlicher Druck ...................................................................... 201 1. Johann Philipp Muzelius - Rufmordkampagne ..............................201 2. Obrist-Lieutnant von Trützschler - Konkubinat .............................203 V. Fazit.............................................................................................. 205
F. Zusammenfassung ................................................................... 211 I. Wiedische Besonderheiten............................................................. 211 II. Kirchenpolitik im frühneuzeitlichen Kleinstaat............................ 214
Anhang ......................................................................................... 216 Register ........................................................................................ 219
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2009/2010 von der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn als Dissertation angenommen. Sie basiert im Wesentlichen auf der Untersuchung des Aktenbestandes der ehemals reichsunmittelbaren Grafschaft Wied-Neuwied und soll einen Beitrag zur Rechtsgeschichte der Rheinlande darstellen. Ein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle Herrn Professor Mathias Schmoeckel, dem ich die Anregung zu diesem Thema verdanke. Er weckte mein Interesse für Rechtsgeschichte und das für einen Juristen der Gegenwart eher fremde Themengebiet der protestantischen Kirchenzucht. Professor Schmoeckel hat diese Arbeit stets mit wohlwollenden Anregungen und konstruktiver Kritik begleitet und in seiner Eigenschaft als Direktor des Instituts für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte stets Interesse am Fortschritt meiner Forschungsarbeit gezeigt. Wie wertvoll seine Unterstützung war, zeigte sich nicht zuletzt bei der nicht immer einfachen Beschäftigung mit Quellen in frühneuhochdeutscher Kanzleischrift des 17. und 18. Jahrhunderts. Ein Thema an der Schnittstelle zwischen theologischen und juristischen Fragestellungen ist für Rechtshistoriker kein einfaches Terrain. Daher gebührt auch Herrn Professor Wolfram Kinzig ein herzlicher Dank für seine Anregungen aus Sicht eines protestantischen Kirchenhistorikers und die Erstattung des Zweitgutachtens. Von entscheidender Bedeutung für diese Arbeit waren außerdem die unermüdlichen Bemühungen von Herrn Dr. Hans-Jürgen Krüger, der das Fürstlich-Wiedische Archiv in Neuwied betreut. Ihm ist es zu verdanken, dass die Recherche in Neuwied immer ein Erlebnis war. Seine Hilfe bei der Suche nach Akten und deren unmittelbare Beschaffung, die in keinem staatlichen Archiv möglich ist, haben maßgeblich zum raschen Fortgang meiner Arbeit beigetragen. An seinem umfangreichen Wissen über das Haus Wied ließ er mich immer gern teilhaben und weckte ein besonderes Interesse für die Geschichte dieser Familie und meiner Heimatregion. Ein Wort des Dankes sei auch gerichtet an S. D. Fürst Carl zu Wied, der das Privatarchiv in einem Seitenflügel des Fürstlichen Schlosses in Neuwied unterhält und der Öffentlichkeit zugänglich macht. Dort ruhen umfangreiche Aktenbestände, die vielfach noch nicht wissenschaftlich aufgearbeitet wurden. Ich hoffe, dass auch in Zukunft die Möglichkeit besteht, die Schätze im Fürstlich-Wiedischen Archiv zu heben.
XII
Vorwort
Bei der letzten Korrektur konnte ich auf die Hilfe von Philipp Becker, Dr. Johannes Gsänger, Ingo Kühl und Inka Müller-Seubert zählen. Alexander Fleuth war mit bei der Formatierung behilflich. Julia Koenen half mir bei der Erstellung des Registers und der letzten Durchsicht der Druckvorlagen. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Die Veröffentlichung in der Reihe „Schriften zur Rechtsgeschichte“ ermöglichte Herr Professor Dieter Strauch. Ihm und den Mitarbeitern des Böhlau-Verlages danke ich für die freundliche Begleitung auf dem Weg zu diesem Buch. Für die Unterstützung bei der Finanzierung dieses Werkes bin ich dem Rheinischen Verein für Rechtsgeschichte e. V. zu besonderem Dank verpflichtet. Besonders erwähnen möchte an dieser Stelle zudem nochmals S. D. Fürst Carl zu Wied und die Evangelische Kirche im Rheinland, die durch die Gewährung eines großzügigen Zuschusses die Drucklegung dieses Buches ermöglicht haben. Ein letztes Wort des Dankes gilt meinen Eltern, denen ich dieses Buch widme. Sie haben mir ermöglicht zu studieren und mich stets mit Rat und Tat gerade auch bei der Entstehung dieser Arbeit begleitet Düsseldorf im Frühjahr 2010 Roland Schlüter
Quellenverzeichnis
I. FÜRSTLICH WIEDISCHES ARCHIV, NEUWIED (zitiert: FWA) 26-12-16 28-1-16 29-7-1 50-5-4 50-5-5 50-5-6 50-5-7 50-5-9 50-5-10 50-5-14 50-5-15 50-5-16 50-5-17 50-5-18 50-5-20 50-5-21 50-5-22 50-5-23 50-5-24
Instruktionen für den Stadtschultheißen vom 30. Oktober 1680 Besetzung der Schultheißen-Stelle Korrespondenz des Grafen Johann Friedrich Alexander von Wied-Neuwied Acta Consistorialis: Des Johann Roemer von Dahlhausen Vorstellung wegen unehelichen Beyschlafes 1711 Acta Consistorialis: Scheidung der Anna Sophia Wibrecht 1764 Acta Consistorialis: Verheiratung des Johann Christian Noll 1769 Acta Consistorialis: Verheiratung des Johann Philipp Caesar 1748 Acta Consistorialis: Denunziation des gräflichen Obrist=Lieutnant von Trützschler 1786 Acta Consistorialis: Denunziation des Johann Philipp Muzelius wegen Unzucht 1754 Acta Consistorialis: Denunziation des Paul Drieschen wegen heimlicher Copulation seiner Tochter mit einem Italiener 1715 Acta Consistorialis: Denunziation der Anna Veronica Schmied 1748 Acta Consistorialis: Verheiratung des Johannes Seigel 1770 Acta Consistorialis: Scheidung der Albertina Siebel 1789 Acta Consistorialis: Denunziation des Lucas Kayser wegen Unzucht mit seiner Stieftochter 1772 Acta Consistorialis: Scheidung der Anna Catharina Welcker Acta Consistorialis: Spolienklage der Anna Catharina Blum gegen Johann Simon Mendel 1781 Acta Consistorialis: Denunziation des Johann Paul Anhäuser 1759 Acta Consistorialis: Denunziation des Johann Wilhelm Kieper wegen Notzucht 1766 Acta Consistorialis: Scheidung der Ernestina Welcker 1742
Quellenverzeichnis
XIV 50-5-26
50-5-27 50-5-28 50-5-29 53-6-7 64-3-14 64-4-8 64-6-29
64-7-1 64-7-2 64-10-12 64-10-13 64-11-4 65-7-5 65-7-10 65-10-16 67-12-4 67-12-8 68-2-1 68-2-6 68-8-9 95-3-1 95-3-2 95-3-4 96-1-2 96-1-5 96-1-6 96-6-2 105-28-15
Acta Consistorialis: Denunziation des Johann Peter Kaulbach, Heinrich Kohlenburg und Konsorten wegen Trunkenheit während des Gottesdienstes 1803 Acta Consistorialis: Scheidung der Susanna Behmler 1745 Acta Consistorialis: Verheiratung des Johannes Hermann Decker 1757 Acta Consistorialis: Das liederliche Betragen des Ludwig Alsdorfs Ehefrau 1805 kurpfälzischer Lehnbrief aus dem Jahr 1721 Visitationsakten 1556 ff. Verzeichnis zur Predigerbesoldung Bericht des Herrn=Pfarrers von Trauwen zu Nordhofen, vom Zustand der Kirchen und Schulen seines anvertrauten Kirchspiels, vom 11. October 1699 Confirmationsakten 1738-1775 Confirmationsakten 1776-1788 Besetzung der Zweitprediger-Stelle in Neuwied Besetzung der Pfarrstelle Neuwied 1754 f. Visitations- und Armutsberichte Pfarrey-Renthen 1763 Kirchen-Pastorey Revenuen 1779 Deduction über die Religionsverhältnisse zu Neuwied des Kanzleidirektors v. Fischer Verfahren gegen Pfarrer Johann Jakob Philipp Heck 1803 Verfahren gegen Stadtpfarrer Philipp Winz 1794 Stadtschule Neuwied Schulverordnungen Einwohnerverzeichnis der Stadt Neuwied anlässlich einer Stadtvisitation 1771 Copulationsbücher 1736 – 1750 (fragmentarisch) Copulationsbücher 1751 Copulationsbücher 1753/1754 Copulationsbücher 1757/1758 Copulationsbücher 1787/1788 Copulationsbücher 1789 Copulationsbücher 1797 Verzeichnis aller bey dem Hochgräflichen Militairn Köpfe und Seelen
Quellenverzeichnis
105-29-5 105-29-9 105-30-9
105-30-11
XV Korrespondenz des preußischen Generalleutnants Graf Carl zu Wied aus dem Jahr 1762 Schreiben von Kaiser Leopold II. an den Fürst zu Wied vom 7. Juni 1790 Nationalliste von der vacanten Compagnie des Hochgräflich Wied-Neuwiedischen Löblichen Leibregiments Infanterie Neuwied den 8. Januar 1757 Nationalliste von Herrn Obristwachtmeister von Trützschler Compagnien des Hochgräflich Wiedischen Löblichen Leibregiments Infanterie Neuwied: Januar 1757
Quellenverzeichnis
XVI II.
LANDESHAUPTARCHIV, KOBLENZ (zitiert: LHA) 1. Hauptstelle Koblenz 35/1628 35/3237
Konsistorialverordnungen 1750-1800 Untersuchung gegen den Hofprediger Muzelium in Neuwied wegen Schwängerung seiner Magd und seine Absetzung 1754
2. Stadtarchiv, Neuwied 630/100
III.
Presbyterialprotokolle 1731, 1752 ff.
ARCHIV DER EVANGELISCHEN LANDESKIRCHE IM RHEINLAND, BOPPARD (zitiert: EKiR Archiv) Wied Nr. 6 Kirchen-Visitation 1691-1769 Wied Nr. 7 Declaration über des Herrn Erbgrafen Hochgräfl. Gnaden pcto der Kirchen= Visitation aufgestellte Anmerckungen vom 26. September 1772 Wied Nr. 98 Predigerkonvente 1766 ff.
Literaturverzeichnis
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Teil 1 - Einleitung A. Fragestellung
I. Ein gescheiterter Reformationsversuch Im Jahre des Herrn 1546 fassten die Bewohner der an den Hängen des Westerwaldes gelegenen Ortschaft Kurtscheid einen folgenschweren Entschluss: sie rissen ihre Häuser ab und bauten sie an anderer Stelle wieder auf. Ein ganzes Dorf war umgezogen. In der Reformationszeit lag Kurtscheid genau an der Grenze der Territorien des Grafen zu Wied und des Kölner Erzbischofs und Kurfürsten. Als sich der Graf zu Wied dem Protestantismus anschloss, rebellierten seine Untertanen in Kurtscheid. Während die wiedischen Orte protestantisch wurden, verlegten die Kurtscheider ihre elf auf wiedischen Territorium gelegenen Häuser nordwärts auf die kurkölnische Seite der Grenze. So entzogen sie sich dem Zugriff der wiedischen Obrigkeit und hofften darauf, dass die Reformation im Erzstift Köln keinen Erfolg haben würde. Fortan blieb Kurtscheid katholisch und zum benachbarten Ehlscheid im Wiedischen bestand die nächsten Jahrhunderte eine konfessionelle Grenze1. Diese kurze Episode aus der Geschichte einer eher unbedeutenden Ortschaft veranschaulicht die begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten protestantischer Religionspolitik im Rheinland und steht damit stellvertretend für das Scheitern der Reformation in dieser Region. Darüber hinaus wird deutlich, dass der Landesherr eines kleines Duodezfürstentum wie der Grafschaft Wied wenige Möglichkeiten hatte, das Verhalten seiner vormaligen Untertanen zu sanktionieren. Der Graf zu Wied musste die Kurtscheider unbehelligt ziehen lassen, denn auf die Amtshilfe des katholischen Nachbarn konnte er nicht zählen. Gerade in der Reformationszeit war das Rheinland Ort besonders erbitterter Auseinandersetzungen, weil sich hier das Schicksal des Katholizismus im
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Hugo von MÜNCHEN, Geschichte von Kurtscheid, Trier 1890, S. 4.
Fragestellung
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Nordwesten des Reiches entscheiden sollte2. Mehrere Versuche, das Erzstift Köln für die Seite der Reformation zu gewinnen, scheiterten. Auch im benachbarten Erzstift Trier gab es einen Reformationsversuch3. Das Rheinland blieb letztlich in weiten Teilen katholisch. Dies gilt allerdings nicht für die bereits erwähnte Grafschaft Wied, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen wird. Hier verschärfte sich die Situation in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sogar, als sich die Grafen zu Wied dem Calvinismus anschlossen, womit die Grafschaft Wied das einzige calvinistische Territorium am Mittelrhein inmitten katholischer Gebiete darstellte (siehe Abbildung 1), wobei sich die „Calvinisten“ in Abgrenzung zu den Lutheranern – wie in den meisten deutschsprachigen Territorien – als „Evangelisch-Reformierte“ bezeichneten4.
II. Kirchenzucht als rechtshistorisches Phänomen Der Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts von vielen Reichsständen vollzogene Wechsel vom Luthertum zum reformierten Bekenntnis ist in der Geschichtswissenschaft spätestens seit Heinz Schilling als Problem der „Zweiten Reformation“ bekannt5. Gerade die Entstehung der evangelischreformierten Konfession führte maßgeblich zur endgültigen Manifestation der Kirchenspaltung. Ob der Konfessionswechsel nun der inneren Überzeugung des jeweiligen Landesherrn – eine Motivation, die wohl immer noch unterschätzt wird – entsprang oder vielmehr aus politischem Kalkül erfolgte, 2
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Vgl. nur: Wilhelm JANSSEN, Kleine Rheinische Geschichte, Düsseldorf 1997, S. 177 ff., 187 ff.; Mathias SCHMOECKEL, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 241; Christoph STROHM, Die Berufung auf kanonisches Recht, römisches Recht und Reichsrecht in der Auseinandersetzung um die Kölner Reformation, in: ders., Martin Bucer und das Recht, Genf 2002, S. 123 ff. Dazu: Andreas MÜHLING, Caspar Olevian 1536-1587, Zug 2008, S. 35 ff. Dies gilt insbesondere für das Quellenmaterial, das dieser Untersuchung zugrunde liegt. Heinz SCHILLING, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe, Gütersloh 1981; Ders., Die „Zweite Reformation“ als Kategorie der Geschichtswissenschaft, in: Ders., Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“, Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1985, Gütersloh 1986, S. 387 ff.; Ders., Die Konfessionalisierung im Reich, in: HZ 246 (1988), 1 ff.
Fragestellung
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um sich zwischen Kaiser und katholischen Reichsständen auf der einen Seite und den lutherischen Reichsständen auf der anderen Seite zu behaupten, ist bereits in der Geschichtswissenschaft umfangreich beleuchtet worden6 und soll auch nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Die politische Bedeutung der „Zweiten Reformation“ im Zuge von Territorialisierung und Konfessionalisierung hat ebenfalls schon Beachtung gefunden7. Die bisherigen Untersuchungen beschränken sich in erster Linie auf die übergeordneten politischen und historischen Zusammenhänge. Erhebliche Auswirkungen hatte der Konfessionswechsel jedoch insbesondere für die einzelnen Untertanen, die meist eher unbeteiligt die Veränderung über sich ergehen lassen mussten, wenn sie sich nicht dafür entschieden, ihre Heimat zu verlassen. Die Bewohner der Ortschaft Kurtscheid, die ihr konfessionelles Schicksal selbst in die Hand nahmen, sind in diesem Zusammenhang die große Ausnahme. Die nahe konfessionelle Grenze, die in größeren Flächenstaaten und im Nordosten des Reiches nicht vorhanden war, ermöglichte die „freie Wahl“ einer Konfession. Diese Besonderheit blieb für die Grafschaft Wied-Neuwied nicht ohne Folgen: Damit die „Flucht“ der Kurtscheider ein Einzelfall blieb, musste die wiedische Kirchenpolitik dem Umstand einer nahen Konfessionsgrenze Rechnung tragen. Das Prinzip „cuius regio, eius religio“, das auf dem Augsburger Reichstag 1555 von den Reichsständen beschlossen worden war8, galt zwar zunächst nur für Lutheraner und Katholiken9, gleichwohl wurden die wiedischen Untertanen beim erneuten Konfessionswechsel ihres Landesherrn – sofern sie sich nicht für eine „Kurtscheid´sche Lösung“ entschieden – automatisch Calvinisten. Neben unterschiedlichen Anschauungen in Abendmahlsfrage, Amtsverständnis und Kirchenbegriff lassen sich die massiven kirchenpolitischen Veränderungen besonders deutlich anhand der Kirchenzucht im Calvinismus belegen, die hier anhand der wiedischen Behördenstruktur und Spruchpraxis näher untersucht werden soll, wobei insbesondere die wiedischen Kirchenordnungen und die Protokolle des Kirchengerichts von zentraler Bedeutung sein werden. Eine Präzisierung des Untersuchungs6
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SCHILLING Zweite Reformation (Fn. 5); Georg SCHMIDT, Der Wetterauer Grafenverein, Marburg 1989, S. 196 ff.; Walter ZIEGLER, Die Entscheidung deutscher Länder für oder gegen Luther, Münster 2008, S. 61 ff. SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 321 ff.; Ernst Walter ZEEDEN, Die Entstehung der Konfessionen, München/Wien 1965. Christoph LINK, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 76 ff.; SCHMOECKEL Verlorene Ordnung (Fn. 2), S. 242 f. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 79.
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Fragestellung
gegenstandes kann jedoch erst nach einer ausführlichen Einführung in die Dogmatik der Kirchenzucht erfolgen. Grundlegend ist insoweit der Disziplinierungsgedanke. Unter der Ägide von Johannes Calvin10 entwickelte sich zunächst in Genf ein Kirchenregiment, das der Kirchendisziplin als dritter konstitutiver Gemeindefunktion neben Wortverkündung und Sakramentsverwaltung eine zentrale Funktion zur sittlichen Erhöhung des Menschen zuordnete11. Diesem Ansatz folgten die meisten reformierten Theologen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wobei hier insbesondere Zacharias Ursinus12 und Caspar Olevian13 zu nennen sind, die für die theologische Entwicklung der evangelischreformierten Konfession in Deutschland von besonderer Bedeutung waren. Das dogmatische Konzept der Kirchenzucht wurde für den deutschsprachigen Raum erstmals durch den Herborner Theologen Wilhelm Zepper14 in seinem Werk „Von der Christlichen Disziplin15“ herausgearbeitet. Im Anschluss an die großen Reformatoren entwarf Zepper darin am Ende des 16. Jahrhunderts ein umfassendes Kirchenzuchtkonzept, das für die nächsten zweihundert Jahre wegweisend für die Evangelisch-Reformierten in Hessen, in der Wetterau und im südlichen Rheinland werden sollte. Demnach ist die „Disciplin oder Kirchenzucht/ gleichsam ein gewicht und getrieb/ dardurch der gantze Kirchenbaw/ mit allen seinen zugehörigen rädern/ stücken und theilen in einem stetigen und rechten gang und wesen erhalten werden
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Biographische Angaben bei: Martin Ernst HIRZEL/ Martin SALLMANN, 1509 – Johannes Calvin – 2009, Zürich 2008; Friedrich Wilhelm KAMPSCHULTE, Johann Calvin. Seine Kirche und sein Staat in Genf, Leipzig 1896; Willem NIJENHUIS, Calvin, in: TRE VII, S. 586 f. Charles SCHÜLE, Die Grundlagen des Kirchenrechts, 2. Auflage, Basel 1926, S. 180 ff. Zu seiner Person: Julius NEY, Zacharias Ursinus, in: ADB, Band 39, Leipzig 1895, S. 869 ff.; Karl SUDHOFF, Caspar Olevian und Zacharias Ursinus, Elberfeld 1857. Zu seiner Peron: Friedrich Wilhelm CUNO, Caspar Olevian, in: ADB, Band 24, Leipzig 1887, S. 286 ff.; Karl MÜLLER, Caspar Olevian, in: Sonderdruck aus Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, Jahrgang 1988/89, s. 13 ff.; MÜHLING Olevian (Fn. 3). Wilhelm Zepper (1550-1607) war ein reformierter Theologe in der Grafschaft Nassau. Nach dem Studium in Marburg, unterstützte er Graf Johann VI. von NassauDillenburg (1536-1606) bei dessen Bemühungen das reformierte Bekenntnis einzuführen. Ab 1594 übte er in Herborn das Amt des Predigers und des Inspektors aus. Daneben hatte er eine Professur an der Hohen Schule Herborn inne; vgl. Friedrich Wilhelm CUNO, Zepper, in: ADB, Band 45, Leipzig 1900, S. 85 ff. Wilhelm ZEPPER, Von der christlichen Disziplin, Siegen 1596, neu herausgegeben von Dietrich Thyen, Kreuztal 1980.
Fragestellung
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muss16“. Gegenüber der lutherischen Lehre erfolgte vor diesem Hintergrund ein verschärfter Eingriff in das Alltagsleben der Menschen, der aber von den reformierten Autoren als notwendige Weiterentwicklung beziehungsweise als notwendiges Merkmal calvinistischer Ekklesiologie verstanden wurde17. Das Alltagsleben wurde im Zuge der „Zweiten Reformation“ einem strengen Sittenregime unterworfen. Die so genannte „reformatio vitae“ wurde bewusst als weitergehender Schritt gegenüber der „reformatio doctrinae“ verstanden, bei der nach Ansicht der Reformierten die Lutheraner stehen geblieben waren18. Dadurch erklärt sich, dass zunächst im Namen des kirchlichen Aufbruchs nahezu alle tradierten Bräuche der katholischen Kirche, wie Feiertage, Kirchenfeste, Heiligen- und Reliquienverehrung, Wallfahrten, Fastensitten und -vorschriften, aber auch außerkirchliche Brautwerbungen und abergläubische Riten verboten wurden19. Die Unzulänglichkeit des Menschen machte im Sinne der Kirchenzucht die Erziehung durch die Kirche erforderlich20. Gleichwohl ist der calvinistischen Bußzucht eine gewisse Tendenz zur Milde immanent21. Es kann daher die Frage aufgeworfen werden, ob die milden Kirchenstrafen eine Besonderheit der Aufklärung sind oder bereits der Calvinismus als theoretisches Konzept darauf angelegt ist oder die praktische Anwendung der Kirchenzucht zwangsläufig darauf hinausläuft. Schließlich ist gerade die Frage nach dem Einfluss der Konfession auf die Rechtsentwicklung bis heute ein unzureichend untersuchtes Problem22. Die besondere Prägung der evangelisch-reformierten Kirchenzucht im 17. und 18. Jahrhundert als rechtshistorisches Thema wird – mit besonderem Augenmerk auf die Grafschaft Wied – im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. 16 17 18
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ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), Vored (sic!) XIX. ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15). Paul MÜNCH, Volkskultur und Calvinismus. Zu Theorie und Praxis der „reformatio vitae“ während der „Zweiten Reformation“, in: Heinz SCHILLING Konfessionalisierung (Fn. 5), S. 291 ff. (298 f.); Dietmar WILLOWEIT, Die Expansion des Strafrechts in Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Hans SCHLOSSER/Rolf SPRANDEL/Dietmar WILLOWEIT, Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 331 f. MÜNCH Volkskultur (Fn. 18), S. 297. John WITTE Jr., The Reformation of Rights, Cambridge 2007, S. 4. Dazu: Mathias SCHMOECKEL, Metanoia – Die Reformation und der Strafzweck der Besserung, in: Reiner SCHULZE/ Thomas VORMBAUM/ Christine D. SCHMIDT/ Nicola WILLENBERG, Strafzweck und Strafreform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung, Münster 2008, S. 29; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 72. SCHMOECKEL Metanoia (Fn. 21), S. 31 ff.; Christoph STROHM, Calvinismus und Recht, Tübingen 2008, S. 4 ff.
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Fragestellung
Dabei soll insbesondere untersucht werden, inwieweit die Kirchenzucht politisch benutzt wurde, um die Flucht weiterer Untertanen zu unterbinden. Zunächst soll jedoch klargestellt werden, dass die Kirchenzucht keine Erfindung der Reformation ist: Sie war von Beginn an Wesensmerkmal der Kirche und Bestandteil des Kirchenrechts. Besonders in der Urkirche hatte diese Form der (Selbst-) Disziplinierung eine zentrale Stellung eingenommen23, die von den Reformatoren wieder aufgegriffen wurde. Die zentralen Regelungen orientieren sich am Dekalog und an den mosaischen Ehe- und Sittengesetzen24. Beides war Grundlage der Gesetzgebung sowohl in weltlichen wie auch nach der Reformation in geistlichen Fragen25 und ist daher auch für die Rechtspraxis im 17. und 18. Jahrhundert relevant. Ansätze gab es zwar schon im kanonischen Recht, allerdings handelte es sich um einen weitgehend unbeachteten Teil26, sofern man von der Beichte absieht, die insoweit eine Sonderstellung einnahm. Erst im Zuge der Reformation erfuhr die Kirchenzucht, insbesondere durch ihre Kodifizierung in den landesherrlichen Kirchenordnungen27, eine immense Aufwertung. Der calvinistische Zuchtgedanke ließ sich im Zeitalter der Konfessionalisierung28 außerdem nutzbar machen, um den Zugriff der Obrigkeit auf den einzelnen Menschen zu verstärken. Dieser Prozess ist unter dem Stichwort der „Sozialdisziplinierung29“ schon vielfach Forschungsgegenstand gewesen. Hier ist insbesondere das umfassende Werk von Heinz Schilling zu nennen, der unter vielen Aspekten das Zeitalter der Konfessionalisierung untersucht hat30. 23 24
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28 29 30
Walter DOSKOCIL, Der Bann in der Kirche, München 1958, S. 195. Hermann CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte Band II – Neuzeit bis 1806, Karlsruhe 1966, S. 421; Harriet RUDOLPH, Eine gelinde Regierungsart, Konstanz 2001, S. 95; Cornel ZWIERLEIN, Reformation als Rechtsreform. Bucers Hermeneutik der lex Dei und sein humanistischer Zugriff auf das römische Recht, in: STROHM Martin Bucer (Fn. 2) , S. 49. SCHMOECKEL Verlorene Ordnung (Fn. 2), S. 238. Vgl. Michael MUSTER, Das Ende der Kirchenbuße, Hannover 1983, S. 28. Einen Gesamtüberblick über die zahlreichen Kirchenordnungen der einzelnen reformierten Territorien im 16. Jahrhundert gewährt: Karla SICHELSCHMIDT, Recht aus christlicher Liebe oder obrigkeitlicher Gesetzesbefehl, Tübingen 1995. Zur Begrifflichkeit: ZEEDEN Konfessionen (Fn. 7). Grundlegend dazu: Gerhard OESTRICH, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders., Geist und Gestlat des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 179-197 Heinz SCHILLING, Sündenzucht und frühneuzeitliche Sozialdisziplinierung. Die calvinistisch presbyteriale Kirchenzucht in Emden vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Georg SCHMIDT, Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, S. 265-302; ders., in: Heinz SCHILLING, Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994, S. 11 ff.; ders., Ausgewählte Abhandlungen zur europäi-
Fragestellung
7
Gerade weil in den Kirchenordnungen geschriebene Handlungsnormen vorgegeben waren, könnte man davon ausgehen, dass im frühneuzeitlichen Territorialstaat die Geltungskraft der sittlichen Handlungsanweisungen besonders ausgeprägt war. Dies gilt umso mehr, als zur Zeit der Reformation den lokalen Strukturen der Kirche größerer Einfluss zuzuschreiben war als in der Moderne. Schließlich zeichneten sich noch im 19. Jahrhundert einige Staaten Deutschlands dadurch aus, dass sich das strenge Sittenregime der reformierten Kirche erhalten hatte31. In einer Zeit, in welcher der persönliche Lebenswandel gerade nicht jedermanns Privatsache war, könnte man davon ausgehen, dass Staat und Kirche das detaillierte Konzept calvinistischer Bußzucht effektiv verwirklichen konnten. Zudem hatte das landesherrliche Kirchenregiment gerade in den Jahren des Absolutismus einen hohen Grad an Effizienz erreicht und bestimmte damit maßgeblich die Lebenswelt der Untertanen. Gerade diese Vermutung ist jedoch durch Fallstudien und Untersuchungen im Rahmen der Devianzforschung insbesondere am Beispiel der peinlichen Gerichtsbarkeit widerlegt worden32. Deshalb ist auch der theoretische Ansatz der Sozialdisziplinierung in den letzten Jahren in die Kritik geraten und hat an Strahl- und Aussagekraft verloren. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen staatlicher Gesetzgebung und Disziplinierung wird zunehmend in Frage gestellt33. Die These der Sozialdisziplinierung muss demnach im Hinblick auf die strukturelle Schwäche und in Anbetracht der Vollzugsde-
31 32
33
schen Reformations- und Konfessionsgeschichte, Berlin 2002; dazu auch: HansUlrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (1700-1815), Erster Band, 3. Auflage München 1996, S. 224 f. Vgl. Martina LÜDICKE, Kirchenzucht und Alltagsleben, Kassel 2003. Reinhard BLÄNKER, Strukturprobleme des frühmodernen Staates, in: Frederick CARNEY/Heinz SCHILLING/Dieter WYDUCKEL, Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie, Berlin 2004, S. 412 ff.; Ralf BRACHTENDORF, Konflikte, Devianz, Kriminalität. Justiznutzung und Strafpraxis in Kurtrier im 18. Jahrhundert am Beispiel des Amts Cochem, Marburg 2003; Martin DINGES, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 17 (1991), S. 5-29; Karl HÄRTER, Soziale Disziplinierung durch Strafe?, in: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), S. 365-379; Ders., Policey und Strafjustiz in Kurmainz, Frankfurt am Main 2005; Jürgen SCHLUMBOHM, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 23 (1997), S. 647-663; Helga SCHNABEL-SCHÜLE, Überwachen und Strafen im Territorialstaat, Köln/Weimar/Wien 1997. Vgl. SCHLUMBOHM Gesetze (Fn. 32), S. 660 f.
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fizite insoweit modifiziert werden, als es sich nicht um einen von der Obrigkeit gelenkten Prozess handelt34. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Problematik soll in dieser Arbeit nur am Rande stattfinden, wobei auch hier ein differenzierender Ansatz zugrunde gelegt wird, weil gerade die protestantische Kirchengerichtsbarkeit belegt, dass viele verschiedene Kontrollebenen und –mechanismen zu berücksichtigen sind. Außerdem belegt das Eingangsbeispiel, dass sich Untertanen auch im Zeitalter der Konfessionalisierung der „Sozialdisziplinierung“ durch einfache Flucht entziehen konnten. Vor diesem Hintergrund soll die Kirchenzucht in der Grafschaft Wied-Neuwied untersucht werden, wobei eine eingehende Analyse zeigen wird, dass die „Kurtscheid´sche Lösung“ kein Einzelfall bleiben sollte. Die frühzeitige Mobilität der hier lebenden Untertanen35 und die moderate Ausprägung der Leibeigenschaft führten von Beginn an zu einer geringeren sozialdisziplinierenden Wirkung. Diese Arbeit wird zeigen, dass hinsichtlich der Landbevölkerung in Fragen der Sittenzucht eine besondere Milde und Nachsicht notwendig wurde, weil diese wegen der nahen Landesgrenze zu Kurköln und Kurtrier die Möglichkeit hatte, die Grafschaft ohne größere Probleme zu verlassen36.
III. Kleinstaaten als Untersuchungsgegenstand Bei der Untersuchung der Kirchenzucht in der Grafschaft Wied-Neuwied muss jedoch berücksichtigt werden, dass es sich dabei um einen Kleinstaat37 handelte, dessen Nachbarterritorien zudem überwiegend katholisch waren. Da sich die Rechtsdurchsetzung auf ein überschaubares Gebiet erstreckte, könnte man auf besondere Effektivität der staatlichen Kontrolle schließen. Die absolutistische Durchdringung des Lebensalltags wirkte außerdem hier – 34 35 36 37
Vgl. HÄRTER ZHF 26 (Fn. 32), S. 368 f. Vgl. Eingangsbeispiel zum gescheiterten Reformationsversuch in Kurtscheid; MÜNCHEN Kurtscheid (Fn. 1). Ein Beispiel für diese frühe Mobilität gibt die Geschichte der eingangs erwähnten Ortschaft Kurtscheid; vgl. auch ZEEDEN Konfessionen (Fn. 7), S. 73. Zum Begriff: Matthias SCHNETTGER, Kleinstaaten in der Frühen Neuzeit, in: HZ 2008, S. 607 ff.
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oberflächlich betrachtet – anders als in größeren Flächenstaaten bis in die lokalen Strukturen38. Der frühneuzeitliche Kleinstaat ist jedoch in besonderem Maße gekennzeichnet durch eine relative Machtlosigkeit seiner Strukturen39. Die gegen die These der Sozialdisziplinierung im Rahmen der Devianzforschung vorgetragenen Bedenken müssten also in diesen Strukturen besonders begründet sein. Die bisher erschienenen Fallstudien und Abhandlungen zur reformierten Kirchenzucht und zum landesherrlichen Kirchenregiment befassen sich hauptsächlich mit den (mittel-)großen Territorialstaaten, in denen sich die Untertanen der reformierten Kirchenzucht nicht durch Flucht über eine nahe Konfessionsgrenze entziehen konnten. Volker Press hat unter besonderer Berücksichtigung der Konfessionalisierung die Entwicklung der Kurpfalz seit Einführung der reformierten Lehre bis zum Dreißigjährigen Krieg eingehend untersucht40. Auch die Kirchenzucht als historisches Problem wurde in der Kurpfalz schon mehrfach untersucht41. Daneben existieren einige Betrachtungen über die Landgrafschaft Hessen-Kassel42, welche jedoch ähnlich wie die Kurpfalz einen relativ kompakten Territorialstaat mit hegemonialem Anspruch gegenüber kleineren Staaten darstellte. Ein besonderer Reiz der historischen Forschung besteht jedoch darin, allgemeine Thesen nicht an Standardbeispielen wie der Kurpfalz zu messen, sondern anhand kleinerer Territorien, die bisher in der Forschung eine nur untergeordnete Rolle eingenommen haben. Hinzu kommt, dass jedem calvinistischen Territorium ein hohes Maß an Singularität zugemessen werden muss, weil die Entwicklungen nicht einheitlich verliefen43. Vorbild kann in dieser Hinsicht die Arbeit von Frank Konersmann zum Herzogtum Pfalz-Zweibrücken sein, wobei die Kirchenzucht unter dem Aspekt der wohlfahrtsstaatlichen Politik des patriarchalischen Fürstenstaats im
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Markus MÜLLER, Gemeinden und Staat in der Reichsgrafschaft Sayn-Hachenburg 1652-1799, Wiesbaden 2005, S. 157. SCHNETTGER Kleinstaaten (Fn. 37), S. 611. Volker PRESS, Calvinismus und Territorialstaat, Stuttgart 1970. Paul MÜNCH, Zucht und Ordnung, Stuttgart 1978, S. 99 ff.; Meinhard SCHAAB, Territorialstaat und Calvinismus, Stuttgart 1993, S. 34 ff. Gerhard MENK, Absolutistisches Wollen und verfremdete Wirklichkeit – der calvinistische Sonderweg Hessen-Kassels, in: SCHAAB Territorialstaat (Fn. 41), S. 164-238; LÜDICKE Kirchenzucht (Fn. 31); MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 110 ff. Gerhard MENK, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584-1660), Wiesbaden 1981, S. 5.
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Fragestellung
17. und 18. Jahrhundert beleuchtet wurde44. Die Region war allerdings – im Vergleich zu anderen protestantischen Kleinstaaten – in dieser Zeit massiven kriegerischen Auseinandersetzungen und politischen Veränderungen dadurch ausgesetzt, dass Frankreich nach Scheitern der Eroberungsversuche im Pfälzischen Erbfolgekrieg danach strebte, im Sinne einer sukzessiven Unterwanderung das katholische Element in der Pfalz zu stärken45. Als Reaktion rief dies eine Verstärkung der reformierten Tendenzen hervor, die unter anderem dazu führte, dass im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken religiöse Minderheiten unterdrückt oder – wie im Falle der Inspirationsgemeinde46 – vertrieben wurden47. Intoleranz prägte das religiöse Umfeld48, während sich in weiten Teilen des Alten Reiches im aufziehenden 18. Jahrhundert der Gedanke religiöser Toleranz als Ausprägung der Aufklärung ausbreitete und insbesondere in protestantischen Territorien die Religionspolitik beeinflusste. Eine Region, in der sich diese Tendenz besonders bemerkbar machte, sind die Territorien, die zum so genannten „Wetterauer Grafenverein49“ zählten, dem sich auch die Grafschaft Wied-Neuwied angeschlossen hatte. Zu diesem Verein gehörten mehrere Reichsgrafschaften im Gebiet des heutigen Hessens und dem westlich angrenzenden Westerwald, die im 16. Jahrhundert
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Frank KONERSMANN, Kirchenregiment und Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Kleinstaat, Köln 1996. KONERSMANN Kirchenregiment (Fn. 40), S. 429. Es handelt sich dabei um eine reformierte Sekte, deren Wurzeln bis zu den Waldensern in den französischen Cevennen zurückreichen. Im Zuge der Rekatholisierungsmaßnahmen in Frankreich wanderten viele in die Wetterauer Grafschaften und in die Pfalz aus. Der Name rührt von ihrer asketisch-prophetischen Lebensweise, wobei sie ihre „Inspiration“ bei oder nach eifrigem Beten, Singen, etc. zu finden glaubten. Ob ihrer Missionstätigkeiten wurden sie vielfach verfolgt; dazu: Max GOEBEL, Geschichte der wahren Inspirations=Gemeinde von 1688 bis 1750, in: Zeitschrift für die historische Theologie 1854, S. 288 ff., 377 ff.; Hans SCHNEIDER, Inspirationsgemeinden, in: TRE XVI, S. 203-206 Die Inspirierten wanderten unter anderem in die hier untersuchte Grafschaft WiedNeuwied aus, wo sie 1739 aufgenommen wurden. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 108 f.; Sebastian SCHMIDT, Glaube – Herrschaft – Disziplin, Paderborn 2005, S. 207. Folgende Territorien gehörten (zumindest zeitweise) zu diesem Zusammenschluss: Nassau-Katzenelnbogen, -Saarbrücken, Solms-Braunfels, -Lich, -Laubach, Isenburg, Waldeck, Hanau-Münzenberg, -Lichtenberg, Sayn-Wittgenstein, Wied, LeiningenWesterburg, Stolberg-Königstein, Hatzfeld, Holzappel; vgl. SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 504 ff.
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eine wichtige Bedeutung für die Etablierung des evangelisch-reformierten Bekenntnisses hatten 50. Am Beispiel des Wetterauer Grafenvereins wird deutlich, dass aufgrund der begrenzten Möglichkeiten eines einzelnen frühneuzeitlichen Kleinstaates Bündnisse untereinander zur gemeinsamen Interessenvertretung auf Reichsebene notwendig waren51. Nur auf diese Weise konnte der Bestand der Reichsgrafschaften und die Anerkennung des Calvinismus als dritte Konfession nach Abschluss des Westfälischen Friedens erreicht werden52. Die bisher erschienenen Untersuchungen, die sich mit den Wetterauer Grafen befassen, beschränken sich hauptsächlich auf die – während des 16. und 17. Jahrhunderts in der europäischen Politik bedeutenden – Grafen von Nassau-Dillenburg53. Wenig Aufmerksamkeit haben hingegen die übrigen „Vereinsmitglieder“ erfahren, zu denen die hier zu untersuchenden Grafen zu Wied-Neuwied zählen. Paul Münch wollte zwar die Grafschaft Wied in sein Werk mit einbeziehen, scheiterte aber offensichtlich aus Zeitgründen54. Durch diese Arbeit soll diese Lücke geschlossen werden, verbunden mit dem Versuch einer Darstellung der wiedischer Kirchenzucht im 17. und 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Kirchenrechts und der Kirchengerichtsbarkeit. Die Kirchenzucht erreichte in dieser Zeit einen Stellenwert im Kirchenrecht, weil gerade Fragen der öffentlichen Moral unter dem Einfluss des Pietismus im 18. Jahrhundert wieder eine größere Rolle zu spielen begannen 55. Kleinstaaten verdienen jedoch auch darüber hinaus besondere Beachtung. Ihre Rolle bei der Verfestigung der religiösen Spaltung in Deutschland sollte nicht unterschätzt werden. Außerdem bieten gerade kleine Territorien sowohl hinsichtlich der Behördenstruktur als auch hinsichtlich der ergangenen Rechtsprechung ein weites Feld an rechtshistorischer Arbeit56. 50
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Dazu: Georg SCHMIDT, Die „Zweite Reformation“ im Gebiet des Wetterauer Grafenvereins. Die Einführung des reformierten Bekenntnisses im Spiegel der Modernisierung gräflicher Herrschaftsstrukturen, in: SCHILLING Zweite Reformation (Fn. 5). Der Grafenverein war in erster Linie ein regionales Bündnis zur gemeinsamen Außenvertretung, diente der Regulierung interner Streitigkeiten, sicherte den Landfrieden und garantierte gegenseitige Hilfe bei Übergriffen fremder Gewalten; vgl. SCHMIDT Zweite Reformation (Fn. 50), S. 186. SCHMIDT Zweite Reformation (Fn. 50), S. 208. Rolf GLAWISCHNIG, Niederlande, Kalvinismus und Reichsgrafenstand 1559-1584, Marburg 1973; SCHMIDT Glaube – Herrschaft – Disziplin (Fn. 48). MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 14. MUSTER Ende der Kirchenbuße (Fn. 26), S. 76. MÜLLER Sayn-Hachenburg (Fn. 38), S. 20; Wolfgang JÄGER, Staatsbildung und Reformpolitik, Wiesbaden 1993, S. 8 ff.; SCHNETTGER Kleinstaaten (Fn. 37), S. 639.
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Fragestellung
IV. Religiöse Toleranz als Besonderheit reformierter Territorien Ein Aspekt, der bei der Untersuchung reformierter Kirchenzucht im 17. und 18. Jahrhundert nicht außer Acht gelassen werden kann, ist der Gedanke der religiösen Toleranz. Die Aufnahme von Bürgern anderer Konfessionen konnte nicht ohne Auswirkung auf den Umgang mit den eigenen Untertanen bleiben. Insofern sind auch unter diesem Aspekt Einflüsse auf die Kirchenzucht zu vermuten. Das Normgefüge der Reformation geriet spätestens mit Anbruch der Aufklärung im 18. Jahrhundert ins Wanken. Wie war es möglich, eine strenge Kirchenzucht einzufordern, wenn dem Zeitgeist entsprechend „jeder nach seiner Façon selig57“ werden konnte? Die Toleranz58 als Gebot der Stunde musste schließlich zu einer Modifikation der reformierten Kirchenzucht und des strengen Sittenregimes im Sinne einer aufgeklärten Kirchenpolitik führen. Unter den größeren Territorialstaaten war Brandenburg-Preußen vermeintlich Vorreiter dieser Entwicklung und bereits am 29. Oktober 1685 proklamierte Kurfürst Friedrich Wilhelm religiöse Toleranz, um den aus Frankreich vertriebenen Hugenotten Anreiz zur Niederlassung in der Mark Brandenburg zu bieten59. Vergleichsweise früh wurde in den preußischen Provinzen die Kirchenbuße abgeschafft. Nach dem Fürstentum Magdeburg 1739 folgten die Provinzen Schlesien, Pommern und Preußen bis 174660. Der brandenburgische Kurfürst schloss sich der evangelisch-reformierten Konfession jedoch erst 1613 an, obendrein blieb die Bevölkerung weitgehend lutherisch. Brandenburg-Preußen ist daher wenig repräsentativ für die reformierten Territorien. Der Fortschritt lässt sich wohl eher auf die Rolle des Herrscherhauses zurückführen, als dass daraus eine allgemeine Tendenz für die protestantischen Staaten festgestellt werden könnte.
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König Friedrich II. von Preußen in einer Aktennotiz vom 22. Juni 1740; vgl. Georg BÜCHMANN, Geflügelte Worte, 33. Auflage, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1981, S. 352. Zur Begrifflichkeit: Inge GAMPL, Toleranz, in: Adalbert ERLER/Ekkehard KAUFMANN, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, V. Band, 34. Lieferung, Berlin 1992, Sp. 270-273; Eckehart STÖVE, Toleranz I, in: TRE XXXIII, S. 646-663 Dazu ausführlich Manfred STOLPE/Friedrich WINTER, Wege und Grenzen der Toleranz: Edikt von Potsdam 1685-1985, Berlin 1987. Paul SCHOEN, Das Evangelische Kirchenrecht in Preußen, Band II, Berlin 1903, S. 294.
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Unter Berücksichtigung der Kleinstaaten relativiert sich zudem der Eindruck der Vorreiterrolle Preußens. Ob bereits Calvin selbst der Religionsfreiheit den Weg bereitete, ist zwar nicht abschließend erörtert61, allerdings tendierte die evangelisch-reformierte Konfession in Deutschland unter dem Einfluss der Rechtswissenschaft wohl prinzipiell zu einer toleranten Kirchenpolitik62. Bereits kurze Zeit nachdem sich die interkonfessionellen Konflikte im Dreißigjährigen Krieg – der größten konfessionell motivierten Auseinandersetzung – entladen hatten, fanden sich calvinistische Klein- und Kleinststaaten dazu bereit, Menschen fremder Konfession ihre Grenzen zu öffnen und diese bei sich aufzunehmen63. Der Gedanke der religiösen Toleranz, der dabei eine zentrale Rolle spielte, bleibt jedoch in vielen Betrachtungen unberücksichtigt. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang auch die Gestalt des Grafen Johann Friedrich Alexander zu Wied-Neuwied, der in den Jahren von 1738 bis 1791 die Niedergrafschaft Wied regierte64: In seiner Person finden wir einen aufgeklärten und weltoffenen Landesvater, der seine Regierungszeit nutzte, um sein kleines Territorium wirtschaftlich und gesellschaftlich voranzubringen65. Dabei bediente er sich der klassischen Instrumente des absolutistischen Merkantilismus: Peuplierung, Gründung und Förderung heimischer Manufakturen und gezielte Privilegierung verschiedener Unternehmungen. Er selbst war zutiefst religiös, nahm direkten Einfluss auf die Kirchenpolitik in seiner Grafschaft und prägte in vielen Fällen maßgeblich die Rechtsprechung seiner Kirchengerichte. Er nutzte so seinen Zugriff auf die Religi-
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Zum Streitstand: John WITTE Jr., Moderate Religionsfreiheit in der Theologie Johannes Calvins, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, Band 83, S. 402 ff.; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 39 f. Jesse CHUPP/Cary NEDERMAN, Calvinist Background to Althusius´s Idea of Religious Toleration, in: CARNEY/SCHILLING/WYDUCKEL Jurisprudenz (Fn. 32), S. 252 ff.; Oliver Huntington RICHARDSON, Religiöse Toleranz unter dem Großen Kurfürsten, in: Heinrich LUTZ, Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt 1977, S. 1-16; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 2. SCHNETTGER Kleinstaaten (Fn. 37), S. 634. Zu seiner Person ausführlich: Johannes ARNDT, Das Niederrheinisch-Westfälische Reichsgrafenkollegium und seine Mitglieder (1653-1806), Mainz 1991, S, 121 ff.; Karl BIERBRAUER, Johann Friedrich Alexander von Wied, Marburg 1922; HansJürgen KRÜGER, Das fürstliche Haus Wied, Grafen zu Isenburg, Herren zu Runkel und Neuerburg, Werl 2005, S. 20; Wilhelm TULLIUS, Die wechselvolle Geschichte des Hauses Wied, 2. Auflage Neuwied 2003, S. 40. KRÜGER Haus Wied (Fn. 64), S. 20; TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 66.
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onspolitik, um andere – insbesondere wirtschaftpolitische – Ziele zu erreichen. Im zu Ende gehenden 18. Jahrhundert stellte dies in den Kleinstaaten eine erwähnenswerte Ausnahme dar, weil die Einflussnahme durch den Grafen – wie sich zeigen wird – durch besondere Sachkenntnis in theologischen Fragen gekennzeichnet war. Die Grafen zu Wied engagierten sich zwar energisch für den Protestantismus66, anders als jedoch in den übrigen evangelisch-reformierten Reichsgrafschaften wie Sayn-Hachenburg, SaynWittgenstein, Solms-Braunfels, Hanau-Lichtenberg oder Isenburg-Büdingen prägte jedoch die religiöse Toleranz die Kirchenpolitik im 18. Jahrhundert und erreichte unter dem bereits erwähnten Grafen Johann Friedrich Alexander ihren Höhepunkt67.
V. Die Grafschaft Wied-Neuwied und das Rheinland Die Untersuchung ist speziell auf die Grafschaft Wied-Neuwied zugeschnitten, wobei gleichwohl der übergeordnete Zusammenhang nicht aus dem Blick geraten soll. Die Reichsgrafschaft Wied-Neuwied eignet sich aufgrund exogener und endogener Auffälligkeiten in konfessioneller Hinsicht besonders für eine solche Untersuchung. Im Gebiet der späteren Rheinprovinz dominierte vor 1803 aufgrund großer geistlicher Territorien und der konfessionellen Unentschlossenheit der Herzöge von Jülich-Kleve-Berg68 die römisch-katholische Konfession. Als evangelisch-reformiertes Territorium bildete die Grafschaft Wied-Neuwied schon aufgrund ihrer geographischen Lage einen „calvinistischen Vorposten“ gegenüber den rheinischen Erzstiften und die Grafschaft Wied war permanent davon bedroht, der Gegenreformation zum Opfer zu fallen69. Diese isolierte Lage prägte die Kirchenpolitik der 66
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Dies gilt insbesondere für die Zeit, in der Graf Johann Friedrich Alexander von Wied Vorsitzender des Niederrheinisch-Westfälischen Reichsgrafenkollegiums gewesen ist; vgl. ARNDT Reichsgrafenkollegium (Fn. 64), S. 121 ff. Walter GROSSMANN, Städtisches Wachstum und religiöse Toleranzpolitik am Beispiel Neuwied; in: Archiv für Kulturgeschichte, 62./63. Band, Köln/Wien 1980/81, S. 207232; Werner TROßBACH, Der Schatten der Aufklärung, Fulda 1991, S. 143. Dazu ausführlich: Antje FLÜCHTER, Der Zölibat zwischen Devianz und Norm, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 27 ff. Johann Stephan RECK, Geschichte der gräflichen und fürstlichen Häuser Isenburg, Runkel, Wied, Weimar 1825, S. 219 f.
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Grafen zu Wied-Neuwied entscheidend mit. Sie sticht damit schon allein aus diesem Grund hervor. Es gab schließlich immer Berührungspunkte mit den angrenzenden katholischen Regionalmächten Kurtrier und Kurköln. Dies blieb nicht ohne Auswirkung auf die Handhabung der Kirchenzucht, weil Entscheidungen der wiedischen Räte vielfach von externen Bedingungen abhängig waren. Hieran soll verdeutlicht werden, dass es sich gerade bei den frühneuzeitlichen Kleinstaaten nicht um abgeschlossene, autonome Einheiten handelte. Die Kooperation selbst mit konfessionsverschiedenen Nachbarn gehörte unausweichlich zur Überlebensstrategie70. Die Grafschaft Wied-Neuwied konnte sich auch deshalb bis zuletzt gegen die großen Territorien und deren Interessen behaupten. Die Herren von Wied reagierten nicht mit scharfer Abgrenzung, sondern übten sich in gelebter Toleranz gegenüber anderen Konfessionen und stellten sich damit in die Tradition der Aufklärung71. Exogene Einflüsse auf die Kirchenpolitik, die Gesetzgebung in geistlichen Fragen und auf die kirchliche Rechtsprechung dieser kleinen reformierten Enklave sind gleichwohl zu vermuten. Zudem wuchs durch die permanente Bedrohung der innerstaatliche Disziplinierungsdruck, der darauf gerichtet war, einen einheitlichen und wirtschaftlich überlebensfähigen Territorialstaat zu formen. Die bisherigen Untersuchungen zur Kirchengeschichte und -politik in der Grafschaft Wied-Neuwied sind vielfach einseitig konfessionell gebunden und wenig wissenschaftlich aufgearbeitet72. In der rechtshistorischen Forschung stehen bisher die Kurstaaten an erster Stelle, soweit es um die Geschichte des Rheinlandes geht. Die historischen Zusammenhänge und die innere Verfassung sind bereits umfassend untersucht. Dabei sind insbesondere die Arbeiten zur Sozialdisziplinierung und zur Devianz von besonderer Bedeutung für die vorliegende Untersuchung. Unter dem Aspekt der Konfessionalisierung im Zuge der katholischen Reformbewegung nach dem Tridentinum hat Thomas P. Becker die Visitati70 71
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Vgl. SCHNETTGER Kleinstaaten (Fn. 37), S. 622. Die Bedeutung der Grafen zu Wied für die Rheinische Kirchengeschichte sollte daher nicht unterschätzt werden. Eine Darstellung fehlt jedoch in: Erwin MÜLHAUPT, Rheinische Kirchengeschichte, Düsseldorf 1970. Rudolf LÖHR, Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Heddesdorf, Detmold 1951; Ders., Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Neuwied, Neuwied 1953; Ders., Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde und des Kirchspiels Feldkirchen, Düsseldorf 1959; MÜNCHEN Kurtscheid (Fn. 1); Heinrich VOLK, Beiträge zur Geschichte der katholischen Pfarrei Neuwied, Neuwied/Linz 1922.
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onsakten des Erzbistums Köln untersucht73 und dabei Parallelen zum Protestantismus nachgewiesen, die an späterer Stelle noch aufgegriffen werden. Die Strafgerichtsbarkeit in Kurtrier wurde von Ralf Brachtendorf analysiert74. Diese Arbeit betrifft zwar den gleichen historischen Zeitraum, unterscheidet sich aber fundamental von der vorgenannten Arbeit dadurch, dass hier die weltliche Gewalt in den Vordergrund gerückt wird. Gleichwohl gibt es auch bei Brachtendorf zahlreiche Anknüpfungspunkte an den Vorgang der Konfessionalisierung. Die wohl umfangreichste Darstellung zur Normdurchsetzung und Sozialkontrolle in Kurmainz stammt von Karl Härter75. Zu beachten ist hier allerdings, dass die rheinischen Kurstaaten im Gegensatz zu dem Kleinststaat Wied-Neuwied bereits im 17. und 18. Jahrhundert über eine ausdifferenzierte Verwaltungsstruktur verfügten. Zudem steht in allen Arbeiten die strafjustizielle Normdurchsetzung im Vordergrund. Der kirchenrechtliche Bußcharakter der Strafen bleibt somit unberücksichtigt, obwohl dieser auch in katholischen Territorien eine Rolle spielte. Die Untersuchung eines evangelisch-reformierten Territoriums lässt insofern eine andere Struktur erwarten. Auch der Aspekt der religiösen Toleranz hatte in den katholischen Erzstiften nur eine untergeordnete Bedeutung, zumal der Geist der Aufklärung erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer offiziellen Duldung der Protestanten führte76. Auch hier war die Situation in der Grafschaft Wied-Neuwied fundamental anders. In der reformierten Grafschaft Wied-Neuwied existierte gegenüber den katholischen Staaten der bedeutende Unterschied, dass der Großteil der Sittlichkeitsdelikte nicht vor Strafgerichten, sondern ausschließlich vor dem Konsistorium77, der obersten Kirchenbehörde, zur Anklage und Verhandlung kam. Bereits die gerichtliche Zuordnung der Sittendelikte gestaltete sich daher höchst unterschiedlich. Das Kirchengericht als Instanz der Rechtsprechung steht daher auch im Fokus der nachfolgenden Betrachtungen.
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Thomas Paul BECKER, Konfessionalisierung in Kurköln, Bonn 1989. BRACHTENDORF Strafpraxis (Fn. 32). HÄRTER Policey (Fn. 32). Hermann STEVENS, Toleranzbestrebungen im Rheinland während der Zeit der Aufklärung, Bonn 1938. Zum Forschungsstand ausführlich mit weiteren Nachweisen: Werner HEUN, Konsistorium, in: TRE XIX, S. 483-488; Carl Wolfgang Huismann SCHOß, Die rechtliche Stellung, Struktur und Funktion der frühen evangelischen Konsistorien nach den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Heidelberg 1980.
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Die bisherige Forschung zum rheinischen Protestantismus beschränkt sich auf die reformierte Kirche in den Herzogtümern Kleve, Jülich und Berg78. Anders jedoch als in den wiedischen Grafschaften nahm die reformierte Konfession am Niederrhein nie eine dominierende Stellung ein. Auch deshalb entwickelte sich dort eine streng presbyterial-synodale Kirchenverfassung, die bis heute prägend für die Evangelische Landeskirche im Rheinland ist79. Ziel der Arbeit ist es ferner, der Grafschaft Wied-Neuwied in der rheinischen Rechtsgeschichte den Platz zuzuweisen, der ihr aufgrund zahlreicher Besonderheiten gebührt. Dass diese Reichsgrafschaft bisher nur am Rande Forschungsgegenstand (rechts-) historischer Arbeiten gewesen ist, verwundert umso mehr, als in den Privatarchiven der Fürsten zu Wied noch heute umfangreiche Aktenbestände aus dem 17. und 18. Jahrhundert vorhanden sind, die – wenn man von einigen verdienten Heimatforschern absieht – bisher kaum gesichtet worden sind. Die Grafschaft Wied bietet sich auch deshalb als Untersuchungsgegenstand an, weil sie bis zur Annektierung durch die Herzöge von Nassau 1806 immer von einer Familie ohne Konfessionswechsel regiert wurde und in ihrem flächenmäßigen Bestand – abgesehen von einer Erbteilung – nahezu konstant geblieben ist80. Es war daher zu erwarten, dass eine gewisse Kontinuität in der kirchenpolitischen Entwicklung festgestellt werden könnte. Die Auswahl erfolgte also nicht beliebig, sondern findet ihre Legitimation in wiedischen Besonderheiten, die in anderen Territorien nicht anzutreffen sind.
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Johann Victor BREDT, Die Verfassung der reformierten Kirche in Cleve=Jülich=Berg=Mark, Neukirchen 1938; Justus HASHAGEN, Der rheinische Protestantismus und die Entwicklung der rheinischen Kultur, Essen 1924. Vgl. BREDT Cleve=Jülich=Berg=Mark (Fn. 78). Insbesondere dieser Umstand unterscheidet die Grafschaft Wied beispielsweise von der Grafschaft Solms, die zeitweilig in bis zu sieben Linien aufgespalten war, so dass die Überlieferung nicht kontinuierlich gesichert war. Zur Geschichte der Reichsgrafschaft Solms: Friedrich Heinrich HIMMELREICH, Geschichte des Fürstenhauses SolmsBraunfels, Wetzlar 1889; Hartmut PLATTE, Das Fürstliche Haus Solms-Braunfels, Werl 2002.
B. Einführung in die Verfassung der Grafschaft WiedNeuwied
I. Vorbemerkung Das zentrale Anliegen dieser Arbeit ist die Analyse der wied-neuwiedischen Kirchenzucht. Dennoch ist eine kurze Einführung in die historischen Gegebenheiten erforderlich, um zu verdeutlichen, welchen Entwicklungsstand die hier behandelte Grafschaft Wied-Neuwied im Untersuchungszeitraum gehabt hat. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die (Kirchen-) Verfassung in der Grafschaft, deren Verständnis für die Kirchenzucht von fundamentaler Bedeutung ist. Zudem werden die konfessionellen Spannungen innerhalb und außerhalb Neuwieds nur nachvollziehbar, wenn der historische Hintergrund bekannt ist. Ausführliche Darstellungen zur historischen Entwicklung der Westerwald-Region sind bisher kaum erschienen81. Ein Rückgriff auf heimatkundliche Werke lässt sich daher nicht vermeiden. Auch im Zusammenhang dieser Arbeit muss auf eine ausführliche Darstellung verzichtet werden. Die später in die beiden Linien Neuwied und Runkel aufgeteilte Grafschaft Wied erstreckte sich vom Rheinufer nördlich von Koblenz in den niederen Westerwald. Dazu gehörte außerdem die Herrschaft Runkel im mittleren Lahntal und das 1726 ererbte Kriechingen in Lothringen. Zunächst eine Einheit, entstanden durch mehrere Erbteilungen im 16. und 17. Jahrhundert die Ober- und die Niedergrafschaft. Die Niedergrafschaft Wied-Neuwied, die im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, setzte sich zusammen aus der Stadt Neuwied und den (Wald-) Kirchspielen Heddesdorf, Altwied, Anhausen, Bieber, Feldkirchen, Honnefeld, Rengsdorf, Grenzhausen, Alsbach und Nordhofen. Sie bildete insofern kein geschlossenes Territorium (siehe Abbildung 1). Die drei Enklaven Grenzhausen, Alsbach und Nordhofen lagen inmitten kurtrierischen Territoriums. Genaue Angaben zur Bevölkerungszahl in der Grafschaft Wied-Neuwied sind nicht vorhanden. Die Stadt Neuwied zählte um 1750 etwa 3.000 Ein81
Umfassenden Einblick gewähren insbesondere: Hellmuth GENSICKE, Landesgeschichte des Westerwaldes, Wiesbaden 1958; KRÜGER Haus Wied (Fn. 64); RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69).
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wohner, bis 1790 verdoppelte sich ihre Zahl82. In den Waldkirchspielen lebten nach einer Volkszählung von 1782 etwa 7.500 Menschen83, so dass die Grafschaft Wied-Neuwied im 18. Jahrhundert etwa 10.000 bis 14.000 Einwohner gehabt haben dürfte. Dieser Unterschied zwischen Stadt und Land schlug sich auch in den wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Grafschaft nieder. Diese differierten stark. Während auf dem Land mitunter bedrückende Verhältnisse bis weit ins 19. Jahrhundert herrschten, prosperierte die Residenzstadt Neuwied84. Diese Konfliktlinie wurde dadurch verschärft, dass die Stadt durch religiöse Vielfalt geprägt war, während auf dem Land das evangelisch-reformierte Bekenntnis nahezu uneingeschränkt vorherrschte. Der hieraus entstehende Konflikt zwischen Stadt und Land ist daher bei der Analyse der Kirchenpolitik zu beachten.
II. Anfänge der Grafschaft Die Grafen von Wied lassen sich zurückführen auf die Grafen des Engersgaues, allerdings erlosch das ursprüngliche wiedische Grafengeschlecht 1244 im Mannesstamm85. Bereits früh besetzten die wiedischen Grafen wichtige Kirchenämter86 und sicherten ihren nachgeborenen Söhnen umfangreiche Pfründe in den rheinischen Bistümern. Nach zahlreichen Erbteilungen konnte erst Wilhelm von Isenburg-Braunsberg wieder den gesamten wiedischen Besitz im 14. Jahrhundert in einer Hand vereinigen87. Er entstammte einer Familie, die sich aufgrund des Besitzes der wiedischen Gebiete bereits ab etwa 1340 als Grafen zu Wied bezeichnete88. Doch auch diese Linie starb im 82 83 84 85
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87 88
TROßBACH Aufklärung (Fn. 67), S. 16. TROßBACH Aufklärung (Fn. 67), S. 16. TROßBACH Aufklärung (Fn. 67), S. 143. Konrad SCHNEIDER, Das Münzwesen in den Grafschaften Wied-Neuwied und WiedRunkel, Frankfurt am Main 1975, S. 15; ausführlich zur Frühzeit der Grafen von Wied: RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 12 ff. Zu nennen ist hier vorrangig der Kölner Erzbischof Arnold II. von Wied (1151-1156), der zeitweilig als Kanzler des Königs Konrad III. die Geschicke des Reiches lenkte und sich als Erbauer der Schwarzrheindorfer Doppelkirche ein steinernes Denkmal setzte; dazu: Heinz WOLTER, Arnold von Wied, Kanzler Konrads III. und Erzbischof von Köln, Köln 1973. TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 28. TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 28.
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Mannesstamm aus und wurde von der letzten Überlebenden, Anastasia von Wied-Braunsberg-Isenburg, in die Ehe mit Dieterich IV., dem Herrn von Runkel, eingebracht. Deren gemeinsamer Sohn Friedrich I. ist der genealogische Stammvater der Grafen zu Wied89. Ende des 15. Jahrhunderts trat der Graf zu Wied dem bereits erwähnten Wetterauer Grafenverein bei, in dem sich Grafen aus Wetterau und dem Westerwald zur Wahrnehmung ihrer Reichsinteressen zusammengeschlossen hatten90. In dieser frühen Phase wiedischer Geschichte kam dem kleinen reichsunmittelbaren Territorium nur wenig Bedeutung zu. Kirchliche Ämter in den Erzbistümern Köln, Trier und Mainz waren von weit größerem Interesse als die Herrschaft über die nur dünn besiedelte Grafschaft. Erst infolge der Reformation konnte sich Wied-Neuwied entwickeln. Wied-Neuwied zählte außerdem zu den Reichsgrafschaften, die im 1653 ins Leben gerufenen Niederrheinisch-Westfälischen Grafenkollegium, dem Vertretungsgremium auf Reichstagen, organisiert waren91. Innerhalb dieses Kollegiums spielte die Grafschaft Wied – ausgenommen die Zeit, in der Graf Johann Friedrich Alexander den Vorsitz innehatte – eine eher untergeordnete Rolle.
III. Reformation und Glaubenskriege Das 16. Jahrhundert bedeutete einen tiefen Einschnitt in die weitere geschichtliche Entwicklung der Grafschaft Wied, insbesondere hinsichtlich der Einführung der reformierten Kirchenzucht. Im Hause Wied fielen die Ideen der Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf fruchtbaren Boden. Kurfürst Hermann V. von Wied92 hatte bereits als Kölner Erzbischof mit den
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SCHNEIDER Münzwesen (Fn. 85), S. 15; TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 32. Zur Entstehung im Detail: SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 17 ff. Dazu: ARNDT Reichsgrafenkollegium (Fn. 64). Zu seiner Person und zur Reformation in Köln ausführlich: Constantin CNYRIM, Der Streit um die Reformationsbestrebungen des Erzbischofs und Kurfürsten von Köln, Hermann V. von Wied, Königswinter 2004; Stephan LAUX, Reformationsversuch in Kurköln (1542-1548), Münster 2001; RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 149 ff.; Rainer SOMMER, Hermann von Wied – Erzbischof und Kurfürst von Köln, Köln 2000; STROHM Kölner Reformation (Fn. 2); Conrad VARRENTRAPP, Hermann von Wied, Leipzig 1878.
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Vorstellungen Melanchthons sympathisiert93. Er verzichtete zwar darauf, sich offen der Reformationsbewegung anzuschließen, spürte aber, dass neue Denkanstöße innerhalb der katholischen Kirche nötig waren94. Seine Rolle als „Reformator“ ist bis heute umstritten, den offenen Konflikt scheute er jedenfalls. Unterstützung für sein Ansinnen fand er zunächst in dem Straßburger Reformator Martin Bucer95, den er als Prediger eigens nach Bonn berief und so der Reformation im Rheinland einen starken Impuls gab96. Seine Bemühungen, im Erzbistum Köln eine Kirchenordnung einzuführen, die einen ausgewogenen Kompromiss zwischen evangelischer Lehre und katholischem Bestand herzustellen versuchte, scheiterten indes am Widerstand des Kölner Domkapitels sowie dem Einfluss von Kaiser und Papst, welche die katholische Dominanz im Kurfürstenkollegium bedroht sahen und das Rheinland für die Kirche retten wollten97. Während der fünfjährigen Vormundschaft des Erzbischofs über seinen Neffen, den späteren Grafen Johann IV. von Wied, in den Jahren 1533-1558 kam auch die Grafschaft Wied mit der Reformation in Berührung98. Eine zentrale Rolle spielte dabei auch der Theologe Peter Medmann99, der als Hauslehrer für die Erziehung des jungen Grafen tätig war. Ob bereits 1543 eine erste Visitation durch die landesherrliche Obrigkeit auf Initiative des Erzbischofs in der Grafschaft stattfand100, lässt sich anhand vorhandener Akten nicht mehr genau feststellen. Sicher ist aber, dass Hermann V. von Wied, nachdem er von seinem Amt als Erzbischof von Köln 1546 suspendiert worden war101, weiter in der Grafschaft seines Neffen wirkte und so maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung hatte.
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Hermann V. von Wied trat 1539 mit Philipp Melanchthon in einen ausführlichen Briefwechsel über die notwendigen Reformen innerhalb der Kirche ein; vgl. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 157 f. Marie-Luise DINGELDEY, 1150 Jahre Rengsdorf – Ein Gang durch die Jahrhunderte, Rengsdorf 2007, S. 62; TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 33. Zu seiner Person: Hartmut JOISTEN, Der Grenzgänger Martin Bucer, Speyer 1991; STROHM Martin Bucer (Fn. 2). STROHM Kölner Reformation (Fn. 2), S. 125 ff. SCHMOECKEL Verlorene Ordnung (Fn. 2), S. 241. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 155. VARRENTRAPP Hermann von Wied (Fn. 93), S. 85 f. So jedenfalls DINGELDEY Rengsdorf (Fn. 94), S. 63. Die Absetzung des Erzbischofs Hermann V. von Wied könnte auch Auslöser für den „Umzug“ der Kurtscheider im Jahr 1546 gewesen sein.
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Nachweisen lässt sich die erste landesherrliche Kirchenvisitation in der Grafschaft Wied für das Jahr 1556102. An dieser Visitation, die allgemein als Beginn der „ersten“ Reformation in den wiedischen Landen angesehen wird, nahmen damals ein wiedischer Amtmann, ein Prediger aus Siegen, der Kaplan der Grafschaft Wied, Johannes Alsdorff, sowie zwei Kirchendiener aus Heddesdorf teil103. Bereits die Hinzuziehung eines Pastors aus Siegen macht deutlich, in welcher schwierigen Lage sich die Kirche in der Grafschaft Wied befand. Außerdem deutete sich bereits früh an, dass sich die in der Entwicklung befindliche wiedische Landeskirche hinsichtlich ihrer Religionspolitik in der Regel an den nassauischen Grafen104 orientierte, denen bei der Etablierung und Verfestigung der evangelischen Lehre in der Westerwald-Region eine Schlüsselrolle zufiel105. So findet sich auch in Teil I § 2 der Kirchenordnung von 1683 noch der Hinweis, dass „einige Conformität mit der angränzenden Nassau-, Dillenburg- und Siegen´schen löblichen Kirchenordnung“ gehalten werden solle106. Die Anlehnung an die nassauischen Grafschaften und Fürstentümer hatte demnach eine Tradition in den wiedischen Grafschaften, die bis zum Ende der wiedischen Selbstständigkeit fortwirkte. In den Zeiten, in denen die nassauischen Grafen aufgrund ihres Engagements in den Niederlanden und auf Reichsebene politisches Gewicht innehatten, waren diese Beziehungen von zentraler Bedeutung für die reichs- und kirchenpolitische Stellung der Grafen zu Wied. War Hermann V. als Erzbischof von Köln noch als moderater Reformer innerhalb der katholischen Kirche aufgetreten, suchte sein Neffe Graf Johann IV. den radikalen Bruch mit der bestehenden Ordnung. Er ordnete nach der ersten Kirchenvisitation 1556 bereits 1564 nach einer Synode im wiedischen Honnefeld den Übertritt zur reformierten Lehre an107. Eine wichtige Rolle 102
103 104 105 106
107
FWA 64-3-14, pag. 1, Visitationsprotokoll; RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 176; Albert ROSENKRANZ, Das Evangelische Rheinland, Band I: Die Gemeinden, Düsseldorf 1956, S. 694. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 176 Vgl. SCHMIDT Glaube – Herrschaft – Disziplin (Fn. 48), S. 201 ff. SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 333 f. Vgl. Johann Josef SCOTTI, Provinzial-Gesetze fünfte Sammlung – Sammlung der Gesetze und Verordnungen, Erster Theil, enthält die Abtheilungen für Wied=Neuwied und Wied=Runkel, Düsseldorf 1836, Wied-Neuwied, S. 19. GENSICKE Landesgeschichte (Fn. 81), S. 332; RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 179; TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 37; in Teilen der Grafschaft wurde die Reformation allerdings erst 1574 eingeführt; vgl. Hellmuth GENSICKE, Die Kirchspiele Alsbach und Grenzhausen; in: Nassauische Annalen 68 (1957), S. 260.
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dabei ist dem Kaplan der Grafschaft Wied, Johannes Alsdorff, zuzuschreiben, der aus dem Umfeld des Kölner Erzbischofs Hermann V. von Wied stammte108. Auch dieser erneute Konfessionswechsel lässt sich sowohl mit politischen109 als auch mit theologischen Argumenten begründen. Eine besondere theologische Prägung durch Martin Bucer, der im Umfeld der Grafschaft Wied wirkte, ist wohl zu vermuten. Die Synode diente primär der Bekämpfung des angeblich noch immer vorherrschenden Aberglaubens, des anhaltenden „Götzendienstes“ und jeder Abweichung von Gottes Wort110. Von einer verbindlichen Einführung des evangelisch-reformierten Bekenntnisses kann also noch nicht gesprochen werden. Erst im Zuge der fortschreitenden Konfessionalisierung drang die neue Lehre in den Alltag der Menschen ein. Die „Zweite Reformation“ war zuerst ein politisches Ereignis. Anders als in anderen Fürstentümern oder Reichsgrafschaften kam es bei diesem abermaligen Konfessionswechsel in der Grafschaft Wied nicht zu Widerständen gegen die Landesherrschaft111. Dies wird in erster Linie daran gelegen haben, dass es in der damaligen Grafschaft keine Stadtbevölkerung gab. In dem stark agrarisch geprägten Duodezfürstentum existierte zudem kaum einheimischer Adel, der sich in Opposition zu der Religionspolitik des Grafen hätte setzen können. Eine erste Kirchenordnung, die rudimentär die Organisation der Kirchengemeinden in Synoden und Presbyterien festhielt, erging 1575112. Obwohl sich die Grafen zu Wied frühzeitig der „Zweiten Reformation“ angeschlossen hatten, nahmen sie jedoch in der Entwicklung des Wetterauer Grafenvereins, der im 16. Jahrhundert ein Höchstmaß an Aktivität verzeichnete, nie eine Stellung ein, die mit derjenigen der Grafen von NassauKatzelnbogen, Nassau-Dillenburg oder Sayn-Wittgenstein vergleichbar gewesen wäre113. Die Grafschaft Wied lag abseits der wichtigen Mitglieder des 108 109 110 111 112
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RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 176. Dazu: SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 471; Ders. Konfessionswechsel (Fn. 112), S. 104 f. DINGELDEY Rengsdorf (Fn. 94), S. 64. Vgl. Widerstand der Landgemeinden in der Grafschaft Lippe: SCHILLING Konfessionskonflikt (Fn. 5), S. 210 ff. DINGELDEY Rengsdorf (Fn. 94), S. 69; RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 183; Georg SCHMIDT, Die zweite Reformation in den Reichsgrafschaften. Konfessionswechsel aus Glaubensüberzeugung und aus politischem Kalkül, in: SCHAAB Territorialstaat (Fn. 41), S. 127. GLAWISCHNIG Kalvinismus und Reichsgrafenstand (Fn. 53), S 142 ff.; SCHMIDT Konfessionswechsel (Fn. 112), S. 104 ff.
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Wetterauer Grafenvereins. Obwohl die Grafen des Wetterauer Vereins spätestens seit den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts den Lehren Luthers zuneigten oder sich offen dazu bekannten, lehnten sie sich in ihrer Politik zunächst an Kaiser Karl V. an114. Zwischen katholischem Kaiser und den geistlichen Erzstiften auf der einen und den mehrheitlich lutherischen großen Territorialstaaten wie HessenKassel und Hessen-Darmstadt auf der anderen Seite bangten die kleinen Reichsgrafschaften spätestens seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555115 und dem erfolgten Ausgleich zwischen Kaiser und den größeren lutherischen Reichsständen um ihren Bestand, zumal das reformierte Bekenntnis in den Religionsfrieden nicht einbezogen worden war. Gerade für die frühneuzeitlichen Kleinstaaten war die Anlehnung an einen mächtigen Schutzherrn mitunter eine Frage der Staatsraison116. Als einziger Reichsfürst unterstützte der pfälzische Kurfürst Friedrich III. die Belange der Reichsgrafschaften hinsichtlich der calvinistischen Lehre auf dem Reichstag zu Augsburg 1566117. Die Wetterauer Grafen orientierten infolge dessen ihre Politik bis nach 1618 an der des Kurfürsten von der Pfalz. Insbesondere die Grafen von Solms-Braunfels bekleideten in dieser Zeit neben den Sayn-Wittgensteiner Grafen immer wieder wichtige Posten in der kurpfälzischen Regierung118. Der Einfluss, den die Anbindung an Kurpfalz hatte, kann hinsichtlich der erfolgten „Zweiten Reformation“ wohl kaum unterschätzt werden. Nach 1566 entwickelte sich die Universität Heidelberg und die gesamte Kurpfalz zur Heimstatt des deutschen Calvinismus119. Später übernahm die Grafschaft Nassau mehr und mehr diese Rolle. Von besonderer Bedeutung war dabei die Vertreibung des reformierten Theologen Caspar Olevian aus Heidelberg nach dem Tod des Kurfürsten Friedrich III. Er war maßgeblich an der Erarbeitung des „Heidelberger Katechismus120“ von 1559 beteiligt und führte sein Werk dann in Nassau-
114 115 116 117 118 119 120
SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 470 Dazu: Axel GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004. SCHNETTGER Kleinstaaten (Fn. 37), S. 614. SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 471; Ders. Konfessionswechsel (Fn. 112), S. 104 f. PRESS Calvinismus (Fn. 40), S. 409 f.; SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 473 STROHM Calvinismus und Recht (Fn. 22), S. 43. Jürgen FANGMEIER, Heidelberger Katechismus I, in: TRE XIV, S. 582; Walter HOLLWEG, Neue Untersuchungen zur Geschichte und Lehre des Heidelberger Katechismus, Band I, Neukirchen 1961; SUDHOFF Olevinaus und Ursinus (Fn. 12), S. 88 ff.
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Dillenburg fort121. Sein Einfluss hat unmittelbar dazu geführt, dass sich Graf Konrad III. von Solms-Braunfels als einer der letzten Wetterauer Grafen nach langem Zögern 1582 offiziell der reformierten Lehre anschloss122. Nach seiner Berufung an die Akademie in Herborn 1584 kam Olevian auch verstärkt mit den übrigen Territorialherrschaften in Kontakt, so dass seine Einflussnahme auf den Fortgang der „Zweiten Reformation“ in der Grafschaft Wied zu vermuten ist. Bedeutsam für die weitere Entwicklung war schließlich eine Zusammenkunft, die auf Betreiben des Grafen Johann VI. von Nassau-Dillenburg einberufen worden war: In Herborn versammelten sich 1586 Vertreter der meisten Wetterauer Grafschaften zur gemeinsamen Beratung kirchlicher Fragen. Bei der so genannten „Synode von Herborn123“ am 13. Juli war die Grafschaft Wied mit zwei Räten präsent124, wobei die wichtigere Persönlichkeit der langjährige Kaplan und Inspektor der Grafschaft, Johannes Alsdorff, gewesen sein dürfte. Auf die kirchenrechtlich relevanten Beschlüsse wird an späterer Stelle noch ausführlich eingegangen. Die Impulse gingen auch hier primär von Nassau-Dillenburg aus. In der Folgezeit befasste sich das Haus Wied bevorzugt mit sich selbst. Die Primogenitur-Regelung hatte sich bis zum Ende des 16. Jahrhunderts in der Grafschaft noch nicht durchgesetzt. Da „überzählige“ Söhne mit kirchlichen Ämtern – vorzugsweise in den Erzbistümern Köln oder Trier – ausgestattet worden waren125, war dies bis zur Reformation nicht notwendig gewesen. Diese alternative Karrierechance war nun weggefallen und das Haus Wied sah sich – wie die meisten Häuser, die sich der Reformation angeschlossen hatten – der Gefahr von Erbteilungen ausgesetzt. In der Grafschaft Wied hatte es bereits in den Jahren 1581 beziehungsweise 1589 eine einvernehmliche Teilung der Grafschaft zwischen den beiden erbberechtigten Brüdern Hermann I. und Wilhelm IV. gegeben, die 1595 nach einer Zeit der gemeinsamen Regierung endgültig wurde126. Um die territoriale Konsolidie121
122 123 124
125 126
Alice RUDNIG, Die Reformation in der Grafschaft Solms-Braunfels, in: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins, Heft 29, S. 74; STROHM Calvinismus und Recht (Fn. 22), S. 186 f. RUDNIG Soms-Braundfels (Fn. 121), S. 72. Zu Verlauf und Ergebnis der Herborner Synode: Paul JACOBS, Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen, Neukirchen 1949, S. 267 ff. Vgl. Wilhelm NIESEL, Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, 3. Auflage, Zollikon/Zürich 1938, S. 290 ff.; SUDHOFF Olevinaus und Ursinus (Fn. Fn. 12), S. 462. Vgl. CNYRIM Hermann V. (Fn. 92), S. 17 f. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 185 ff.
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rung der Grafschaft zu sichern, nahm man daher von der bisher praktizierten Erbteilung Abstand. Diese Erbteilung, in der bereits die spätere Aufteilung in die beiden Linien Neuwied und Runkel angelegt war, fand ihre Bestätigung in dem „Stamm=Vereinigungs= und Erbtheilungs=Vertrag“ zwischen den Brüdern Johann-Wilhelm, Hermann und Philipp-Ludwig vom 20. Mai 1613127. Der dort getroffene Vergleich, durch den die Herrschaft zwischen Johann-Wilhelm, der die niedere Grafschaft erhielt, und Hermann, dem die obere Grafschaft zufiel, geteilt und der dritte Bruder durch eine Abfindung von der Erbfolge ausgeschlossen wurde, stellte für die nächsten 200 Jahre die zentrale staatspolitische und hausrechtliche Vereinbarung dar. Der Bestand der Grafschaft sollte in seiner Gesamtheit erhalten werden, insbesondere durch die Vereinbarung, dass sich die beiden Linien wechselseitig beerben sollten128. Der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges veränderte die Position der Reichsgrafen innerhalb des Wetterauer Grafenvereins schlagartig. Durch die enge Anbindung an die Kurpfalz teilten sie nicht nur in religiösen Fragen deren Schicksal. Mit der Niederlage des Winterkönigs Friedrich V. von der Pfalz129 fiel ihr wichtigster Verbündeter weg und die Wetterauer Grafschaften waren 1620/21 den einfallenden Spaniern ausgesetzt. So wurde auch die Grafschaft Wied wiederholt von feindlichen Truppen heimgesucht, wobei dies gerade für die Zeit der schwedischen Einquartierungen gegen Ende des Krieges gilt130. Nach Kriegsende hatte die Westerwald-Region massiv an Bevölkerung und wirtschaftlicher Leistungskraft, die zuvor ohnehin nur schwach ausgeprägt war, verloren. Durch den Westfälischen Frieden verbesserte sich die Situation der reformierten Reichsgrafen trotzdem entscheidend. Obwohl der Wetterauer Grafenverein als Koordinationsgremium nicht mehr funktionierte131, gingen die Evangelisch-Reformierten, insgesamt betrachtet, gestärkt aus den Verhandlungen hervor. Von zentraler Bedeutung war die Anerkennung ihres Bekenntnisses als dritte Konfession im Reich132. Es war damit eine Gleichstellung mit den Altgläubigen der römisch-katholischen Kirche und den Lu127 128
129 130 131 132
Abgedruckt in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 1 ff. Dieser Fall trat jedoch erst im Jahre 1824 mit dem überraschenden Tod des kinderlosen Fürsten Friedrich Ludwig von Wied-Runkel ein, der erst wenige Tage zuvor seinen ebenfalls kinderlosen Bruder Karl Ludwig beerbt hatte. Peter BILHÖFER, Nicht gegen Ehre und Gewissen, Heidelber 2004; Friedrich Hermann SCHUBERT, Friedrich V., in: NDB, Band 5, Berlin 1961, S. 535 f. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 214. Vgl. SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 456 ff. MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 119
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theranern erreicht worden, die für das ursprüngliche Anliegen der Wetterauer Grafen, die Sicherung ihrer Unabhängigkeit gegenüber den größeren angrenzenden Territorialstaaten, von immenser Bedeutung war. Mit dem „ius territorii et superioritatis133“ waren die Reichsgrafen zudem endlich innenpolitisch in ihren Territorien autonom, auch wenn offiziell bis zum Beginn des 18. Jahrhundert eine Belehnung stattfand134. Obwohl die kleinen Grafschaften an den hohen Grad der Territorialisierung, der in den Staaten der Reichsfürsten in den folgenden Jahren erreicht werden konnte, niemals herankamen, konnte sich die Grafschaft Wied-Neuwied so konsolidieren, dass sie bis zur großen Umwälzung im Jahre 1806 in ihrem Bestand weitgehend unangetastet blieb.
IV. Gründung der Stadt Neuwied Das Jahr 1653 war von zentraler historischer Bedeutung für die Niedergrafschaft Wied: Mit Gründung der Stadt Neuwied beginnt ein Kapitel religiöser Toleranzpolitik, das seinen Höhepunkt im 18. Jahrhundert fand135. Die Plünderungen des Dreißigjährigen Krieges hatten zu einer Halbierung der Einwohnerzahl gegenüber dem Jahr 1600 geführt136. Nachdem viele der Burgen im Westerwald zerstört worden waren137 und die Wirtschaft daniederlag, entschloss sich Graf Friedrich III., anstelle des zerstörten Ortes Langendorf eine neue Stadt als „eine Freistätte zu gründen für alle, sowohl geduldete, als berechtigte Religionsverwandte und eine Anzahl der vielen nützlichen Menschen, die ihre ver-
133
134 135 136 137
Dazu: Helmut QUARITSCH, Souveränität, in: Adalbert ERLER/Ekkehard KAUFMANN, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, IV. Band, 31. Lieferung, Berlin 1989, Sp. 1717 f. Die letzte nachweisliche Belehnung der Grafen zu Wied durch den Kurfürsten von der Pfalz fand 1721 statt, vgl. FWA 53-6-7. TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 45 ff. Bruno ZEITZ, Im Zeichen des Mars, Teil II, in: Heimatjahrbuch des Kreises Neuwied 2001, S. 145. Heinz STOOB, Forschungen zum Städtewesen in Europa, Band I – Räume, Formen und Schichten der europäischen Städte, Köln/Wien 1970, S. 272.
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heerten Wohnsitze verließen und nach den freien Niederlanden zogen, zum Vorteil seines Landes aufzunehmen138.“
Die meisten Evangelisch-Reformierten aus dem Rheinland waren in die Vereinigten Niederlande, die in dem Stadtgründungsprivileg als mögliches Herkunftsgebiet von Einwanderern angesprochen wurden, geflohen. Dass sich jedoch viele von ihnen zu einer Rückkehr entschieden, erscheint aufgrund der wirtschaftlichen Prosperität der Niederlande im 17. Jahrhundert eher fragwürdig. Verlässliche Angaben dazu existieren jedoch nicht. Gleichwohl bot der Graf zu Wied insbesondere diesen Geflohenen eine Niederlassungsmöglichkeit. Zu diesem Zweck übertrug er ein nicht in Anspruch genommenes Stadtgründungsprivileg aus dem Jahre 1357, das ursprünglich für den Ort Nordhofen erteilt worden war, auf Neuwied. Dies war die Geburtsstunde der Stadt Neuwied139. Die begründete Hoffnung des Grafen, Siedler in diese neue Stadt zu ziehen, beruhte insbesondere auf den Folgen der Religionskriege, durch welche seit dem 16. Jahrhundert viele Menschen in Europa zu Flüchtlingen geworden waren140. Bei den Bestrebungen des Grafen Friedrich III. spielte demnach in erster Linie die Wiederbesiedlung eines entvölkerten Landstrichs eine wesentliche Rolle. Man kann hierin eine frühe Peuplierungsmaßnahme erkennen, die bereits dem Wirtschaftsmodell des Merkantilismus entsprach. Daneben trat das Ziel, das Land aus der Armut herauszuführen141. Die Hoffnungen ruhten dabei insbesondere auf dem nach 1648 wieder zunehmenden Rheinhandel. Graf Friedrich III. leitete so eine Phase der territorialen Konsolidierung ein, wobei er seine kleine Grafschaft jedoch finanziell überforderte. Die massive Inanspruchnahme von Frondiensten bei der Stadtgründung und dem Bau einer neuen Residenz waren mitursächlich für die späteren Bauernerhebungen im Zusammenhang mit verschiedenen Waldstreitigkeiten, die vor allem 138
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140 141
Zitiert aus dem Stadtgründungsprivileg nach Philipp WIRTGEN, Neuwied und seine Umgebung, 2. Auflage, Neuwied 1902, S. 87; Hans STUPP, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Stadt Neuwied, Bonn 1959, S. 11. Ausführlich zur Gründung der Stadt Neuwied: MEINHARDT Neuwied (Fn. 178), S. 48 ff.; Bruno ZEITZ, Im Zeichen des Mars, Teil I, in: Heimatjahrbuch des Kreises Neuwied 2000, S. 75-84; Ders., Zeichen des Mars II (Fn. 136), S. 145-154. STOOB Städtewesen I (Fn. 137), S. 271. GROSSMANN ArchKultG 62/63 (Fn. 67), S. 210; STOOB Städtewesen I (Fn. 137), S. 272.
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in den Kirchspielen Anhausen und Rengsdorf ausbrachen142. Dabei handelte es sich um einen Rechtsstreit über die wirtschaftlichen Nutzungsrechte, den die kirchspielsangehörigen Bauern vor dem Reichskammergericht gegen ihren Landesherrn führten. Der „Wiedische Bauernkrieg“ von 1663, der die Intervention kurpfälzischer und kurkölnischer Truppen zur Folge hatte, machte die Grafschaft ein weiteres Mal zum Spielball fremder Interessenpolitik143. Einen entscheidenden Schritt in der Religionspolitik der Grafschaft Wied stellte das Privileg dar, welches Graf Friedrich III. am 7. Juni 1662 in Neuwied verkünden ließ. Die zentrale Regelung findet sich in Art. 1. Darin heißt es: „Nach Maßgabe des westphälischen Friedensschlusses de (sic!) 1648, und auch dann, wenn demselben auf irgend eine Weise derogiert werden möchte, sollen alle jetzigen und künftigen Einwohner von Neuwied, in sofern sie nicht der reformierten Religion zugethan sind, vollkommene Gewissensfreiheit und das Religions=Exercitium in ihren Häusern genießen144.“
Damit wurde den Bewohnern der Stadt Neuwied Religions- und Bekenntnisfreiheit gewährt, wobei die vollkommene Gewissensfreiheit in der Tradition der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre entsprechend auf innerkirchliche Belange beschränkt blieb145. Die Gewährung der Religions- und Gewissensfreiheit vervollständigte das Stadtgründungsprivileg und darf als eine der wichtigsten Leistungen des regierenden Hauses Wied angesehen werden. Seine Motive machte Graf Friedrich III. unmissverständlich klar: Es ging ihm „um die Aufnahme und Erweiterung der […] neuangelegten Stadt Neuen-Wied146“. Leitmotiv war also nicht prinzipielle Toleranz, sondern diese wurde Mittel zum Zweck der Bevölkerungsmehrung147. Das Privileg von 1662 war somit von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Stadt und der Grafschaft im Rahmen einer gezielten Peuplierungspolitik, wie sie für den
142 143 144 145 146 147
STOOB Städtewesen I (Fn. 137), S. 272; TROßBACH Aufklärung (Fn. 67), S. 23 ff. TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 51. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 9. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 106; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 45 ff. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 9. Stefan VOLK, Peuplierung und religiöse Toleranz, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 55 (1991), S. 217.
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merkantilistischen Staat des 17. und 18. Jahrhunderts typisch ist. Dieser kurze Einblick soll jedoch an dieser Stelle zunächst genügen. Eine Problematik, mit der die Grafen zu Wied fast bis zuletzt zu kämpfen hatten und die die massive Einflussnahme anderer Regionalmächte verdeutlicht, war die Lehenspolitik der Kurfürsten von der Pfalz. Im „Wiedischen Bauernkrieg“ war ein erster kurpfälzischer Versuch, die Kontrolle über die Grafschaft Wied zu gewinnen, gescheitert. Trotz Reichsunmittelbarkeit wurde zudem wiederholt das Ansinnen verfolgt, kurpfälzische Vasallen in persönlichen Streitsachen der Jurisdiktion des Hofgerichtes in Heidelberg zu unterwerfen. Die Unterstellung unter pfälzische Gerichtsbarkeit wurde jedoch durch Berufung auf Immedietät und Libertät abgewehrt148. Massiven Einfluss versuchten auch die beiden Kurstaaten Köln und Trier zu gewinnen, wobei gerade Kurtrier durch die fortdauernde illegale Besetzung der Ortschaft Irlich im Dreißigjährigen Krieg über einen Brückenkopf mitten im wiedischen Territorium verfügte. Das beginnende 18. Jahrhundert war dadurch geprägt, dass die Grafschaft infolge der Kriege zwischen Reich und Frankreich finanziell und wirtschaftlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. So wurde Wied-Neuwied wiederholt als Aufmarschgebiet während des Spanischen Erbfolgekrieges genutzt und durch Einquartierungen der französischen Soldaten sowie Kontributionszahlungen belastet. Hinzu kamen die zahlreichen Bauernproteste und -revolten, gegen die sich der Kleinstaat zur Wehr setzen musste. Insbesondere in den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts fallen zahlreiche Widerstandshandlungen gegen die Landesobrigkeit auf149. Veranlasst wurden diese Revolten durch die infolge der Erbauung des Neuwieder Stadtschlosses (Abbildung 3) drückende Steuerlast und die zahlreichen Waldstreitigkeiten. Ihren Gipfel fanden diese Auseinandersetzungen in einem jahrelang andauernden Prozess, den die Bauern vor dem Reichskammergericht gegen ihren Landesherrn anstrengten150.
148 149 150
Dietmar WILLOWEIT, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln/Wien 1975, S. 267 ff. Werner TROßBACH, »Rebellische Weiber«?, in: Heike WUNDER/Christina VANJA, Weiber, Menscher, Frauenzimmer, Göttingen 1996, S. 154-174. KRÜGER Haus Wied (Fn. 64), S. 31 f.; TROßBACH Aufklärung (Fn. 67), S. 130 ff.
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V. Zeitalter der Aufklärung Nach dem Aufbruch unter Graf Friedrich III. folgt eine Phase der politischen Stagnation während der vormundschaftlichen Regierung des Grafen Friedrich Adolf von Lippe (1698-1706). In die Regierungszeit des Grafen Friedrich Wilhelm (1706-1738) fällt der Rechtsstreit zwischen Landesherr und Residenzstadt um Magistratsverfassung und Stadtprivilegien, der erst 1725 durch die „Wetzlarer Punktation“ beendet wurde151. Eine durch Toleranz und wirtschaftliche Prosperität geprägte Phase der Grafschaft Wied-Neuwied begann erst wieder mit dem Regierungsantritt des bereits erwähnten Grafen Johann Friedrich Alexander (1738-1791). Nachdem er als Diplomat in den Diensten des Kaisers maßgeblich an der Vermittlung des Wiener Friedens von 1738 beteiligt gewesen war, heiratete er im Jahre 1739 Caroline von Kirchberg, Gräfin zu Sayn-Hachenburg, die auch nach der Eheschließung ihren lutherischen Glauben beibehielt152. Sie setzte sich nachhaltig für die Verständigung zwischen Reformierten und Lutheranern ein. Ihr Beitrag zum Dialog zwischen den Konfessionen nach Spannungen, die aus der herrschenden Bestattungspraxis resultierten, ist nicht zu unterschätzen153. War der Graf bereits in der Ehe zu religiöser Toleranz bereit, bemühte er sich, dies auch seiner Grafschaft zugute kommen zu lassen. Bereits ein Jahr nach seinem Amtsantritt gewährte er den Inspirierten154 aus dem Herzogtum Pfalz-Zweibrücken bereitwillig Asyl in Neuwied155. 1741 garantierte er ihnen schon vollständige Gewissensfreiheit und freie Religionsausübung, wobei dies aufgrund ihrer Weigerung, an der Neuwieder Bürgerwehr zu partizipieren, äußerst problematisch war156. Aus bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten wurde 1750 eine Gemeinde Herrnhuter157 in der Untergrafschaft 151 152
153 154 155 156 157
TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 61 ff. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 255; Reinhard SCHMOECKEL, Unter dem blauen Pfauen, 1. Auflage Heilbronn 1984, S. 44 f.; TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 66. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 259. Vgl. GOEBEL ZHTh 1854 (Fn. 46), S. 288 ff., 377 ff.; SCHNEIDER TRE XVI (Fn. 46), S. 203-206. STUPP Rechtsgeschichte (Fn. 138), S. 19. GOEBEL ZHTh 1854 (Fn. 46), S. 268 f.; RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 256. Ausführlich dazu: Dietrich MEYER, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine, Göttingen 2000.
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angesiedelt, die 1756 weit reichende Konzessionen hinsichtlich ihrer eigenen Autonomie erhielt158. Der Graf ermöglichte 1766 außerdem den ersten Kirchenbau der Mennonitengemeinde159. Insgesamt lebten bis Ende des 18. Jahrhunderts in Neuwied sieben verschiedene Religionsgemeinschaften nebeneinander: Reformierte, Lutheraner, Katholiken, Mennoniten, Inspirierte, Herrnhuter und Juden160. Besondere Verdienste erwarb sich Graf Friedrich Alexander, indem er im Verhältnis zwischen Lutheranern und Reformierten in der Grafschaft WiedNeuwied Ausgleich zwischen beiden Konfessionen suchte. Bereits 1751 gestattete er den Lutheranern, einen eigenen Gottesacker zu bestellen und somit von der bisherigen Praxis abzuweichen, die Verstorbenen auf dem Kirchhof der reformierten Gemeinde bestatten zu müssen. Im Gegenzug erhielt die reformierte Gemeinde eine Entschädigung161. Gemeinsam mit seiner Gattin unterstützte er die lutherische Gemeinde in den Jahren nach 1778 bei der Errichtung einer neuen Kirche und eines neuen Pfarr- und Schulhauses162. Er selbst war fest in seiner Religion verwurzelt, sein Leben war von tiefer Frömmigkeit geprägt163. Schwieriger gestaltete sich das Verhältnis zu den Katholiken. Im Zuge der Gegenreformation verschärfte sich das Verhältnis zusehends. Der katholische Pastor Lorenz Lumens in Neuwied widersetzte sich wiederholt den Anordnungen des wiedischen Konsistoriums und erhielt dabei die volle Rückendeckung seines Bischofs164. Den Höhepunkt in dieser konfessionellen und politischen Gemengelage bildete der so genannte „Wiedische Münzstreit165“, bei dem es um die Münzqualität in der Grafschaft Wied-Neuwied ging: Im Zuge einer Reichsexekution wurde die Grafschaft im Jahr 1758 zeitweise von kurpfälzischen Truppen besetzt, nachdem Kurtrier Neuwied beschuldigt hatte, unterwertiges Geld zu prägen166. In diesem Fall musste
158 159 160 161 162 163 164
165 166
Wilfried STRÖHM, Die Herrnhuter Brüdergemeine im städtischen Gefüge von Neuwied, Boppard 1988, S. 52 ff. TROßBACH Aufklärung (Fn. 67), S. 146. STRÖHM Brüdergemeine (Fn. 158), S. 48; VOLK Peuplierung (Fn. 147), S. 205. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 260. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 269. BIERBRAUER Johann Friedrich (Fn. 64), S. 40. Als Pastor Lumens gewaltsam aus Neuwied vertrieben worden war, drohte der Trierer Erzbischof sogar mit unmittelbarer Gewaltanwendung und wurde dabei durch den Kölner Erzbischof unterstützt; vgl. VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 32. Dazu: SCHNEIDER Münzwesen (Fn. 85), S. 30 ff.; TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 68. TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 68.
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sich der Graf nachgiebig zeigen, obgleich sich die Situation der Katholiken in der Grafschaft nicht signifikant besserte167. Auf wirtschaftlichem Terrain war Graf Johann Friedrich Alexander erfolgreicher. Es gelang ihm, die wirtschaftlich rückständige Grafschaft finanziell zu stabilisieren. Auf seine Person und auf seine Politik ist daher die prosperierende Entwicklung Neuwieds zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückzuführen168. Seinem Vorbild Friedrich II. von Preußen nacheifernd169, verstand Johann Friedrich Alexander sich als erster Diener seines Staates, der – aus dem weiten Feld der europäischen Diplomatie in den engen Wirkungskreis einer kleinen Reichsgrafschaft versetzt – seine Lebensenergie in die Entwicklung seines kleinen Territoriums steckte. Überhaupt richtete sich die Grafschaft nunmehr an der protestantischen Hegemonialmacht Preußen aus170 und schlug sich aus Furcht, im Falle einer Niederlage Preußens wäre die protestantische Religion gefährdet, im Siebenjährigen Krieg – wie die meisten reformierten Staaten im Reich – auf die Seite des Preußenkönigs171. Gleichwohl verstanden sich die Reichsgrafen als „Reichspatrioten“, weil sie nur so ihre Unabhängigkeit gegenüber größeren Territorialstaaten, die teilweise nach Einverleibung der kleinen Herrschaften trachteten, wahren konnten172. Trotz der offenen Parteinahme für Friedrich II. wurde Johann Friedrich Alexander aufgrund seiner Verdienste als Direktor des NiederrheinischWestfälischen Grafenkollegiums und als Diplomat 1784 in den erblichen Reichsfürstenstand erhoben. Nach seinem Tod 1791 folgte die glücklose Regierungszeit seines Sohnes Friedrich Karl, der jedoch bereits 1792 von seinen Runkel´schen Vettern 167 168
169 170
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VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 33 f. An dieser Stelle sollen kurz der herausragende Unternehmer und Kunsttischler David Roentgen (1743-1807) sowie die Eisenhütte am Rasselstein erwähnt werden, die stellvertretend für den wirtschaftlichen Erfolg der Grafschaft Wied-Neuwied gegen Ende de 18. Jahrhunderts stehen. BIERBRAUER Johann Friedrich (Fn. 64), S. 14 f. Zeugnis davon geben auch zahlreiche Werbungsaktionen, die der König von Preußen während des Siebenjährigen Krieges durchführen ließ; vgl. FWA 105-29-5 (unpaginiert); Korrespondenz des preußischen Generalleutnants Graf Carl zu Wied aus dem Jahr 1762; RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 261 ff.; während der napoleonischen Kriege waren es in erster Linie Österreich und die Vereinigten Niederlande, die ihre Werber in das Fürstentum Wied-Neuwied entsendeten; vgl. FWA 105-29-9, pag. 3; Schreiben von Kaiser Leopold II. an den Fürst zu Wied vom 7. Juni 1790; FWA 105-29-ad 9, pag. 1. SCHMOECKEL Unter dem blauen Pfauen (Fn. 152), S. 55. Vgl. ARNDT Reichsgrafenkollegium (Fn. 64), S. 121 ff.
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wegen Wohltätigkeit und Friedliebigkeit „bis zur Wegwerfung heiliger Rechte und Gesetze“ unter Kuratel gestellt werden sollte173. Nach dessen Abdankung 1802 verlor die Grafschaft Wied ihre Selbständigkeit und wurde im Zuge der Gründung des Rheinbundes 1806 dem Herzogtum Nassau zugeschlagen. Am Ende der Napoleonischen Kriege fiel der größte Teil der Grafschaft der preußischen Rheinprovinz zu, während die Kirchspiele Grenzhausen, Alsbach und Nordhofen beim Herzogtum Nassau verblieben. Die wechselhafte Geschichte der Grafschaft Wied verdeutlicht, dass es sich um ein konfessionell interessantes Forschungsobjekt handelt. Bisher weitgehend unbeachtet, ist dieses Territorium nicht nur für die rheinische Geschichte von Bedeutung.
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RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 275.
C. Untersuchungsgegenstand
Ziel dieser Arbeit ist es dementsprechend, die kirchenrechtlichen Strukturen in der Grafschaft Wied-Neuwied unter besonderer Berücksichtigung der Kirchenzucht von der Anerkennung des reformierten Bekenntnisses als dritter Konfession im Alten Reich 1648 bis zur Mediatisierung des Fürstentums Wied 1806 umfassend zu untersuchen. Sie stellt damit einen Beitrag zur Rechtsgeschichte des Protestantismus im Rheinland dar, der bis zur Kirchenunion nach 1815 nur in einzelnen Territorien vorherrschende Konfession war. Es wird ausführlich auf die (kirchen-) rechtlichen Grundlagen und Normkonzepte eingegangen, die für die Kirchengerichtsbarkeit in Wied-Neuwied von Bedeutung sind. Dabei werden allgemeine evangelisch-reformierte einerseits und spezifisch wiedische Normtexte andererseits zu unterscheiden sein. Gegenstand der Untersuchung sind neben den allgemeinen Rechtsquellen insbesondere die zahlreichen Kirchenordnungen der Grafschaft WiedNeuwied174 sowie die Behördenstruktur in der landesherrlichen Kirchenverfassung. Einen zentralen Platz wird die Analyse der Konsistorialrechtsprechung175 zur Kirchenzucht einnehmen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass sich mitunter juristische und theologische Argumentationsmuster überschneiden und einander ergänzend in die Untersuchung mit einzubeziehen sind. Im Rahmen der rechtsprechenden Tätigkeit des Konsistoriums ist zwar regelmäßig von der Bibel als Normgrundlage auszugehen, die Theologie soll in dieser Arbeit jedoch nur eine Nebenrolle spielen. Einen wesentlichen Aspekt der Kirchenzucht bildet die Praxis des Eherechts. Schließlich bezweckten die meisten sittlichen Normen, die bei der Kirchenzucht relevant waren, dem Schutz der Ehe als christliches Idealbild menschlichen Zusammenlebens und dienten dem Ziel, zwischengeschlechtli
174
175
So weit vorhanden, ediert in SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106); Emil SEHLING (Begr.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Neunzehnter Band, Rheinland-Pfalz II, 1. Teilband, Tübingen 2008, S. 459 ff. FWA 50-5.
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Untersuchungsgegenstand
che Beziehungen auf die Ehe zu beschränken176. Eine Tendenz zur Sittlichkeit ist daher dem Schutzzweck des Eherechts immanent. Das Eherecht stellt daher im Rahmen der Konsistorialrechtsprechung einen zweiten Schwerpunkt dar. Der obrigkeitliche Zugriff auf das Recht der Eheschließung stellte einen sehr weit reichenden Eingriff in das Leben der Untertanen dar und eignet sich besonders, die gesellschaftliche Entwicklung nachzuvollziehen177. Dies gilt erst recht in protestantischen Territorien, weil hier der staatliche Zugriff früher und intensiver auf das Rechtsinstitut der Ehe einwirken konnte als in Regionen, in denen die katholische Kirche diese Aufgabe als „QuasiMonopol" bis zur Einführung der obligatorischen Zivilehe im Zuge des Kulturkampfes innehatte. Gerade in diesem Zusammenhang wird sich aber auch die Ambivalenz der Toleranzpolitik im 18. Jahrhundert zeigen: Die evangelisch-reformierte Mehrheitsbevölkerung war zwar grundsätzlich zur Duldung anderer Bekenntnisse bereit, bis zum Ende der Regierungszeit des Grafen Johann Friedrich Alexander wurden die Konfessionen dennoch streng auseinander gehalten und Mischehen vermieden. Dass in dieser Hinsicht nicht nur rückwärtsgewandte Bürokraten am Werk waren178, sondern gerade auch die religiöse Überzeugung des Landesherrn eine wesentliche Rolle spielte, soll hier nachgewiesen werden. Einen breiten Raum wird zudem die Beschreibung der verschiedenen Behörden einnehmen, wobei das Konsistorium als zentrale Instanz des landesherrlichen Kirchenregiments und der Kirchenzucht in Wied-Neuwied den größten Raum einnehmen wird. Daneben gibt es jedoch weitere Amtsträger und Behörden, ohne deren nähere Beschreibung die abschließende Fallanalyse nicht verständlich wäre. Anhand der Auswertung verschiedener Konsistorialprotokolle erfolgt ein umfassender Blick in die wiedische Kirchengerichtsbarkeit und -politik. 176
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Isabel V. HULL, Sexualstrafrecht und geschlechtsspezifische Normen in den deutschen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ute GERHARD, Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, S. 224. Zur Bedeutung des Eherechts in der rechtshistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung: Hartwig DIETERICH, Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, München 1970, S. 17 ff.; Ralf FRASSEK, Eherecht und Ehegerichtsbarkeit in der Reformationszeit, Tübingen 2005, S. 1 ff.; SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 123 ff. So beispielsweise: Alfred RÜFFLER, Die Evangelische Gemeinde, in: Albert MEINHARDT, 1653-1953, 300 Jahre Stadt Neuwied, Neuwied 1953, S. 367; Hans STUPP, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Stadt Neuwied, Bonn 1959, S. 17; VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 43.
D. Quellenkritik
Die rechtshistorisch relevanten Quellen sind von unterschiedlicher Qualität und Überlieferungsdichte. Ein mikrokosmischer Blick auf die evangelischreformierte Kirchenzucht und in das Alltagsleben, wie ihn Martina Lüdicke in ihrer Untersuchung über die hessische Gemeinde Deisel gewährt179, erfordert eine nahezu lückenlose Überlieferung. Dies ist für die frühe Neuzeit nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Der Untersuchungszeitraum in Lüdickes Arbeit erstreckt sich daher im Wesentlichen auf das 19. Jahrhundert, weil die Presbyterial-Protokolle für den Zeitraum 1781 bis 1914 vollständig erhalten sind180. So gelingt eine detaillierte Untersuchung, die gerade auch durch umfangreiche statistische und tabellarische Materialien unterstützt wird. Die Quellenlage für die Zeit vor 1800 ist demgegenüber ungleich schwieriger. Die vorliegende Arbeit kann daher von vornherein nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Da die Fürsten zu Wied bis heute ihren Stammsitz in Neuwied haben, gestaltet sich das Quellenstudium der vorhandenen Bestände vergleichsweise einfach, weil diese alle in der Region verortet sind. Die kriegerischen Konflikte des 18. Jahrhunderts haben zwar auch im wiedischen Archiv ihre Spuren hinterlassen, der Großteil des Aktenbestandes befindet sich aber auch heute noch im Fürstlich Wiedischen Archiv zu Neuwied (siehe Abbildung 2). Hier lagerten im Jahre 1911 Akten in über 1578 Gefachen in 112 Schränken und Reposituren181. Diese Zahl dürfte auch heute noch in etwa Bestand haben, weil es in Neuwied kaum Kriegsverluste gab. Verlässliche Angaben existieren allerdings nicht. Das Fürstlich Wiedische Archiv in Neuwied beherbergt auch in weiten Teilen die Bestände des ehemals Wied-Runkel´schen Archivs, nachdem der Landesteil 1824 erbvertraglich an die Standesherrschaft Wied-Neuwied gefallen war. Die Aktenbestände der Ober- und der Niedergrafschaft wurden bei einer Neuordnung in den Jahren 1837 bis 1843
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LÜDICKE Kirchenzucht (Fn. 31). LÜDICKE Kirchenzucht (Fn. 31), S. 19. FÜRSTLICH WIEDISCHE RENTKAMMER zu Neuwied, Fürstlich Wiedisches Archiv – Urkundenregesten und Akteninventar, Neuwied 1911.
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Quellenkritik
miteinander verschmolzen182, so dass eine Unterscheidung mitunter nur anhand von Ortsangaben möglich ist. Ein Teil der Wied-Runkel´schen Archivbestände befindet sich auch im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden. Auf diese Akten wird hier jedoch nur am Rande eingegangen, sofern sie für die Geschichte der Grafschaft WiedNeuwied relevant sind. Ein geringerer Teil der archivalischen Bestände wurde nach 1815 an das Landeshauptarchiv Koblenz abgegeben. Sie enthalten jedoch nur wenige verwertbare Archivalien aus der Zeit vor 1806, die zu vernachlässigen sind. Schwerpunktmäßig lagerten dort die Akten der standesherrlichen Fürstlich-Wied-Neuwiedischen Regierung, die von 1822 bis 1848 bestand. Aufgrund hoher Kriegsverluste im Zweiten Weltkrieg ist dieser Bestand jedoch historisch kaum verwertbar. Die Konsistorialakten der standesherrlichen Regierung wurden 1936 an das Zentralarchiv Düsseldorf abgegeben und sind dort 1944 verbrannt183. Zudem befinden sich im Stadtarchiv Neuwied, das als externe Abteilung dem Landeshauptarchiv angegliedert ist, Archivalien, die speziell Gründung und Werden der Stadt Neuwied betreffen. Aktenbestände der Kirchspiele wurden erst nach 1815 sukzessive im Archiv der Evangelischen Landeskirche im Rheinland in Boppard gesammelt. Hinsichtlich der Rechtsquellen ermöglicht die Verordnungssammlung von Johann Josef Scotti184 einen umfassenden Einblick. Bezüglich der spezifisch kirchenrechtlich relevanten Gesetzeswerke liegt mit dem neu erschienenen Band aus der Sehling-Reihe185, einem Standardwerk der protestantischen Kirchengeschichte, eine abschließende Zusammenstellung der Kirchenordnungen und Synodalbeschlüsse, deren Text vollständig überliefert ist, im 16. und frühen 17. Jahrhundert, vor186. Die vorliegende Untersuchung beruht im Wesentlichen auf den reichlich vorhandenen Akten des Neuwiedischen Konsistoriums, die sich im Fürstlich Wiedischen Archiv befinden. Dabei handelt es sich zum großen Teil um ausgewählte Konsistorialprozesse, die aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen. Hinzu kommen Visitationsprotokolle aus der Zeit von 1556 bis 1774. Eine ergiebige Quelle im Hinblick auf die konfessionelle 182 183 184 185 186
Victor MÜLLER, Das Fürstlich Wiedische Archiv, in: Heimatjahrbuch des Kreises Neuwied 1974, S. 29 f. MÜLLER FWA (Fn. 182), S. 29. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied. SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 459 ff. Es fehlt die Kirchenordnung von 1575. Auch die Zeit davor ist nur unzureichend dokumentiert.
Quellenkritik
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Zusammensetzung sowie die demographische Entwicklung der Bevölkerung stellen auch die umfangreich verfügbaren Copulationsbücher187 dar. Darin enthalten sind diverse Proklamations- und Copulationsgesuche, die für die Niedergrafschaft lückenlos für die Jahre 1736 bis 1807, dem Jahr, in welchem das Konsistorium zu Neuwied aufgrund der Mediatisierung vorübergehend aufgelöst wurde, vorliegen. Die meisten Quellen geben Sachverhalte nur aus der obrigkeitsstaatlichen Perspektive wieder. Dies gilt insbesondere für die Konsistorial- und Visitationsprotokolle. Auch die Mitschriften der Predigerkonvente legen ausschließlich die Sichtweise der gebildeten Priesterschaft dar und sind demzufolge wenig geeignet, die Lebensumstände der einfachen Untertanen zu beschreiben. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass Aussagen der beteiligten Pfarrer, Sendschöffen und einfachen Gemeindemitglieder nicht immer vollständig und mitunter nicht wahrheitsgetreu wiedergegeben werden188. Gleichwohl stehen mit den zahlreichen Suppliken und Eingaben, die von Schreibern und Pfarrern angefertigt wurden, Dokumente zur Verfügung, aus denen sich zumindest Rückschlüsse ziehen lassen. In den einzelnen Kirchengemeinden befinden sich nur noch wenige Akten aus der Zeit der selbständigen wiedischen Landeskirche vor 1806. Nur vereinzelt konnte hier auf Kirchenbücher und Presbyterialprotokolle zurückgegriffen werden. Eine nahezu geschlossene Überlieferung lässt sich erst in den Jahren nach 1815 dokumentieren, nachdem das Gebiet des ehemaligen Fürstentums Wied-Neuwied dem Königreich Preußen beziehungsweise dem Herzogtum Nassau einverleibt worden war. Von Interesse sind in erster Linie Quellen, anhand derer sich exogene Einflüsse auf die Konsistorialrechtsprechung nachweisen lassen. Dazu kommen Fälle, in denen durch die landesherrliche Steuerung des Konsistoriums eine interkonfessionelle Toleranzpolitik deutlich wird. In diesen Akten finden sich besonders viele Anmerkungen des regierenden Landesherrn in Form von Aktenvermerken und landesherrlichen Verfügungen, so dass Rückschlüsse auf die „gute Regierung“ im Sinne des aufgeklärten Absolutismus möglich sind. Die Quellenauswahl ist insoweit repräsentativ, als es sich um klassische Fallgruppen protestantischer Kirchengerichtsbarkeit handelt, wo-
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FWA 95-3-1, Copulationsbücher 1736 – 1750 (fragmentarisch); FWA 95-3-2, Copulationsbücher 1751; FWA 95-3-4, Copulationsbücher 1753/1754; FWA 96-1-2, Copulationsbücher 1757/1758; FWA 96-1-5, Copulationsbücher 1787/1788; FWA 96-1-6, Copulationsbücher 1789; FWA 96-6-2, Copulationsbücher 1797. BECKER Konfessionalisierung (Fn. 73), Einl. XX.
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bei die Besonderheiten der Grafschaft Wied-Neuwied hinreichend Berücksichtigung finden. Einen zeitgenössischen Blick in die konfessionellen Gegebenheiten lässt sich zudem einer Abhandlung des Kanzleirates von Fischer entnehmen, der 1777 anlässlich des vierzigjährigen Regierungsjubiläums des Grafen Johann Friedrich Alexander die „Deduction über die Religionsverhältnisse zu Neuwied“ verfasste189. Darin listet von Fischer die verschiedenen landesherrlichen Konzessionen und Verordnungen in Religionsfragen auf und schildert die innere Verfassung der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Veranlasst wurde das Werk durch Erbgraf Friedrich Carl190, dessen Ziel es war, eine „auf einige künftige Zeiten in legis habende Verordnung wie es mit den verschiedenen Religionen in der Stadt Neuwied gehalten werden solle, zu errichten191“. Dass es nicht zu einer einheitlichen Religionsordnung für alle Glaubensgemeinschaften gekommen ist, wird an der Entmündigung des progressiven Erbgrafen nach nur kurzer Regierungszeit gelegen haben. Der Autor der Deduction war zwar nicht Mitglied des Konsistoriums, aber als Direktor der Regierungskanzlei eindeutig der obrigkeitlichen Perspektive zuzuordnen. Gleichwohl ist das Bemühen erkennbar, einen objektiven und an Fakten orientieren Bericht vorzulegen, so dass diese Quelle als wirklichkeitsnahe Zustandsbeschreibung der konfessionellen Verhältnisse in der Grafschaft Wied-Neuwied im 18. Jahrhundert angesehen werden kann.
189 190 191
FWA 65-10-16. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 275 ff. FWA 65-10-16; Deduction des Kanzleidirektors v. Fischer, § 1.
Teil 2 – Theorie und Praxis des wiedischen Kirchenrechts A. Grundlagen des Kirchenrechts
I. Die beiden Regimenter in der protestantischen Kirche Um das Wesen der Kirchenzucht als kirchliches Sanktionsmittel zu verstehen, soll zunächst das Verhältnis zwischen Kirche und Staat nach protestantischem Verständnis untersucht werden. Ausgehend von der altkirchlichen Zwei-Schwerter-Lehre192 liegt auch der reformierten Kirchenzucht eine in der theoretischen Begründung strikte Gewaltenteilung zugrunde, die sich in der Behördenstruktur prinzipiell fortsetzte. Dieser dogmatische Ansatz geht im Wesentlichen auf die Auslegung von Lk. 22, 38193 zurück und wurde im späten Mittelalter – insbesondere durch die Verknüpfung weltlicher Bestrafung und kirchlicher Züchtigung – geprägt194. Als dogmatische Konzeption für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, bei welcher dem Papst eine übergeordnete Rolle zukam, diente die Lehre auch den Reformatoren als Ansatzpunkt für Kritik am Machtanspruch der katholischen Kirche. Nach der Zwei-Schwerter-Lehre ist zwischen geistlichem und weltlichem Regiment zu unterscheiden, wobei Regiment wohl im Sinne von Regie
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193 194
Ausführlich zur Entstehung dieser Lehre: Hartmut HOFFMANN, Die beiden Schwerter im hohen Mittelalter, in: Deutsches Archiv 20 (1964), 78-140; zur calvinistischen Dogmatik: vgl. Josef BOHATEC, Calvins Lehre von Staat und Kirche, 2. Neudruck der Ausgabe Breslau 1937, Aalen 1968, S. 581 ff.; Johannes CALVIN, Institutio religionis christianae, Ad Fidem Editionum principum et authenticarum additis Prolegomenis Literariis et Annotationibus criticis Triplici Forma ediderunt Wilhelm Baum/ Eduard Cunitz/ Eduard Reuss, Volumen II, Braunschweig 1869, IV, 20, 1, pag. 1092 ff.; Johannes CALVIN, Unterricht in der christlichen Religion, Institutio Christianae Relgionis, übersetzt und bearbeitet von: Otto Weber, 3. Auflage Neukirchen-Vluyn 1984, S. 1033 ff.; Martin LUTHER, Von der christlichen Obrigkeit, in: D. Martin Luthers Werk: kritische Gesamtausgabe, 11. Band, Weimar 1900, S. 251 ff. Lk. 22, 38. Wilhelm LEVISON, Die mittelalterliche Lehre von den beiden Schwertern, in: Deutsches Archiv 9 (1952), S. 23 f.
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Grundlagen des Kirchenrechts
rungsweise zu verstehen ist195. Beide Regimenter verfolgten dem Ansatz nach verschiedene Ziele196. Während das Seelenheil der Gläubigen Ziel des kirchlichen Regiments sei, solle das weltliche Regiment insbesondere Sicherheit der Untertanen erreichen. Auch von der Auswahl der Mittel her seien beide Gewalten wesensverschieden: Während das geistliche Regiment seine Herrschaft „sine vi sed verbo“ ausübe, stünden dem Staat zur Normdurchsetzung die Mittel der Gewaltanwendung zur Verfügung197. Ihre Ziele erreichen konnten beide Gewalten indes nur durch gleichberechtigtes Zusammenwirken198. Eine Kompetenzverschränkung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt ist daher im gewissen Sinne schon im theoretischen Konzept der Zwei-Schwerter-Lehre vor der Reformation angelegt, auch wenn Calvin die Befugnisse der Obrigkeit hinsichtlich der Gesetzgebung gegenüber Luther einschränkte199. Der Effekt der Verschränkung beider Gewalten verstärkte sich jedoch durch den Umstand, dass das Kirchenregiment ausgehend von Luthers Schrift „Von der weltlichen Obrigkeit200“ den Landesherrn zugewiesen worden war. Diese waren als „Wächter beider Tafeln“ verantwortlich für die Einhaltung des Dekalogs201. Aufgrund der umfassenden Kompetenz des weltlichen Regiments war es also notwendig, dass sich die weltliche Obrigkeit gegenüber der Kirche, wenn dieser ein eigenes Regiment verbleiben sollte, in ihrer Machtausübung selbst beschränkte202. Dieses dogmatische Konzept wurde jedoch im Landeskirchentum deutscher Prägung nicht verwirklicht: Durch die Reformation kam es zu einer Zusammenführung weltlicher und geistlicher Gewalt in der Person des Landesherrn, wie es sie vorher nicht gegeben hatte203. Die dogmatische Zweiteilung wurde zwar beibehalten, allerdings zeugte die praktische Entwicklung in weiten Teilen davon, dass diese Trennung nicht durchgehalten wurde204. 195
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Deshalb setzte sich im 20. Jahrhundert der Begriff der Zwei-Reiche-Lehre bzw. der Zwei-Regimenter-Lehre durch; vgl. Wilfried HÄRLE, Zwei-Reiche-Lehre II, in: TRE XXXVI, S. 785. WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 43. Reiner ANSELM, Zwei-Reiche-Lehre I, in TRE XXXVI , S. 779; STROHM Toleranz (Fn. 238), S. 224; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 63. HOFFMANN DA 20 (Fn. 192), S. 79; LEVISON DA 20, (Fn. 194), S. 29; Utz SCHLIESKY, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, Tübingen 2004, S. 63. WITTE ZRG KA 83 (Fn. 61), S. 431; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 70 f. LUTHER Christliche Obrigkeit, WA 11 (Fn. 192), S. 251 ff. WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 64 f. Calvin glaubte, dass in einer Monarchie inhärente selbst beschränkende Mechanismen existierten; vgl. WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 63. SCHLIESKY Souveränität und Legitimität (Fn. 198), S. 72. Vgl. REINHARD Staatsgewalt (Fn. 212), S. 267
Grundlagen des Kirchenrechts
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II. Stellung des Landesherrn im Rahmen des Kirchenregiments Zunächst soll klargestellt werden, mit welchem Recht die Landesherrschaft überhaupt Kirchenrecht anordnen konnte und woher das Konzept der Kirchenzucht stammt. Während der Reformation war die Frage kirchlicher Erneuerung gleichzeitig auch eine landesherrschaftliche Machtfrage205. Unter Berufung auf das ihnen anbefohlene Obrigkeitsamt gingen die Landesherren dazu über, Kompetenzen der Bischöfe an sich zu ziehen und auszuüben. Dies äußerte sich insbesondere dadurch, dass die Kirchenvisitation von staatlicher Seite übernommen wurde. Diese „Amtsanmaßung“ erhielt ihre dogmatische Rechtfertigung erst durch das von Philipp Melanchthon206 in einem Gutachten von 1537 begründete ius reformandi207. Die spätere Befugnis des Landesherrn, die Religion seiner Untertanen zu bestimmen, leitete sich ebenfalls – gleich welcher evangelischen Konfession der Landesherr anhing – unmittelbar aus dem ius reformandi ab. Reichsrechtlich anerkannt wurde dieses Recht auf dem Reichstag in Augsburg 1555208. Für die am Augsburger Religionsfrieden nicht beteiligten Evangelisch-Reformierten verbindlich abgesichert wurde dieses Recht endgültig erst im Westfälischen Frieden 1648209. Das ius reformandi beinhaltete das Recht der weltlichen Obrigkeit, nach ihrem nur durch die sittliche Pflicht beschränkten Ermessen eine Änderung in den Verhältnissen einer Religionsgesellschaft herbeizuführen210. Damit war in den evangelischen Territorien eine umfassende landesherrliche Zuständigkeit in Fragen der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts etabliert worden, die im Wesentlichen bis zum Ende der Monarchie im Jahr 1918 Bestand hatte. Das ius reformandi war sozusagen Dreh- und Angelpunkt des protestantischen Kirchenverständnisses. Deutlich wird dieses Recht gerade auch im landesherrlichen Selbstverständnis als oberster Bischof im eigenen Territorium. Das Prinzip des Summepiskopats ist daher auch eines der ältes205 206 207 208 209 210
FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 13; John WITTE Jr., Law and Protestantism, Cambridge 2002, S. 108 ff. Zur Person: Robert STUPPERICH, Philipp Melanchthon, in: NDB, Band 16, Berlin, 1990, S. 741-745. Zur näheren Begründung: Burkhard von BONIN, Die praktische Bedeutung des ius reformandi, Stuttgart 1902; SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 69 ff. GOTTHARD Religionsfrieden (Fn. 115), S. 100 ff. CONRAD Deutsche Rechtsgeschichte (Fn. 24), S. 175. BONIN ius reformandi (Fn. 207), S. 15; Hermann CONRAD, Religionsbann, Toleranz und Parität, in: LUTZ Toleranz und Religionsfreiheit (Fn. 62), S. 162.
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ten Rechtsinstitute, das den evangelischen Kirchenrechten gemein ist211. Unabhängig von der Frage, ob das spätere Landeskirchenregiment seine Legitimation durch die Stellung des Landesherrn als summus episcopus, aufgrund seiner territorialen Herrschaft oder aus theologischen Erwägungen fand212, hatte der Landesherr in der Verfassungswirklichkeit der evangelischen Kirche die stärkste Position, sofern er nicht aus politischen Gründen einer anderen Konfession angehörte213. Verwunderlich mag dabei zunächst erscheinen, dass gerade Calvins dogmatischer Ansatz überhaupt nicht auf die Landesherrschaft ausgerichtet war214. In seiner Ausgestaltung des Kirchenregiments der Stadtrepublik Genf waren die zentralen Entscheidungsorgane kollegial besetzt. Somit konnte das Kirchenmodell nicht problemlos auf einen Landesherrn als „Ersatzbischof“ übertragen werden, weil der theoretische Ansatz nicht obrigkeitsstaatlich war. In Genf sollte vielmehr ein genossenschaftliches Element im Sinne synodal-presbyterialer Strukturen im Vordergrund stehen, auch wenn zunächst Johannes Calvin die alles beherrschende Stellung innehatte215. Auch nach seinem Tod blieben die kollegialen Strukturen unter seinem Nachfolger Théodore de Bèze (1519-1605)216 bestimmendes Merkmal. Überträgt man diese Grundsätze auf den frühneuzeitlichen Territorialstaat, so sollte der Landesherr neben seiner Eigenschaft als weltliches Oberhaupt zugleich als erster Beamter seiner Landeskirche tätig sein217. Diese Doppelfunktion findet sich in den meisten frühneuzeitlichen Kirchenverfassungen, sofern nicht auf das Konzept mit einem Landesbischof zurückgegriffen wurde. Zugleich war der auf den Landesherrn ausgerichtete Aufbau jedoch durch das Prinzip der Verschiedenheit von Amt und Lehre geprägt, der das landes211 212
213
214
215 216 217
Gottlieb LÜTTGERT, Giebt es ein unmittelbar anwendbares gemeines Kirchenrecht?, Bielefeld 1892, S. 32. Dazu ausführlich: Martin HECKEL, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, München 1968, S. 79 ff; Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, S. 271. Diese Fälle traten gerade im 18. Jahrhundert wieder häufiger auf. Zu nennen wären hier insbesondere Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen (1670-1733), Herzog Karl Alexander von Württemberg, (1684-1737) und Landgraf Friedrich II. von HessenKassel (1720-1785). PRESS Calvinismus (Fn. 40), S. 246; Karl RIEKER, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung, Leipzig 1899, S. 110; SCHILLING Konfessionskonflikt (Fn. 5), S. 188; ZEEDEN Konfessionen (Fn. 7), S. 18. Zur Reformation in Genf: KAMPSCHULTE, Johann Calvin (Fn. 10). WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 87 ff. Johann Jacob MOSER, Corpus Iuris Evangelicorum, Züllichau 1737/38, S. 192; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 48.
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herrliche Kirchenregiment zusätzlich einschränken sollte. Auch wenn die evangelische Theologie in Abgrenzung zum sakramentalen Amtsverständnis von einem allgemeinen Priestertum aller Getauften ausging218, blieb es bei der herausgehobenen Funktion der Prediger. Trotz dieser theoretischen Trennung entwickelte sich der Landesherr vom „Amtmann Gottes auf Erden“ zum treu sorgenden „Landesvater“, der seinen Staat nach den Grundsätzen des guten Hausvaters führte und daraus umfangreiche Kompetenzen auch in Fragen der religiösen Lehre ableitete219. Das Staatsverständnis Calvins begriff schließlich die Obrigkeit nicht allein als ein bürgerliches, sondern in erster Linie als ein religiöses Amt220. Aus diesem Grund finden sich noch im 18. Jahrhundert zahlreiche Hinweise auf ein von Gott anbefohlenes Obrigkeitsamt in den Kirchenordnungen221. Das genossenschaftliche Element trat in den evangelisch-reformierten Territorien des Reiches demgegenüber recht schnell in den Hintergrund. Stark ausgeprägt war es indes in den Regionen, in denen sich die Reformierten in einer geduldeten Minderheit befanden222. Wirksam wurde das ius reformandi insbesondere in den Fällen, in denen in einem Territorium einer zweiten Konfession Toleranz gewährt wurde223. In diesem Fall bestand seit 1648 für den Landesherrn nach Art. V § 34 IPO224 prinzipiell eine reichsgrundgesetzlich abgesicherte Pflicht, Konfessionsfremde, sofern sie denn einmal im Territorium zugelassen worden waren, zu dulden und ihnen das exercitium religioni privatum zuzugestehen. Im Übrigen erlaubte das ius reformandi dem Landesherrn, die über das exercitium privatum hinausgehende Religionsausübung zu regeln. Dies wird für die Grafschaft Wied-Neuwied besonders deutlich an der Privilegierung der Evangelischen Brüdergemeine, welche in einer Konzession vom 31. Januar 1756 festgehalten worden war225: Gemäß § 22 dieser Konzession waren die 218 219 220 221 222 223 224 225
Ausführlich zur historischen Entwicklung in der Reformationszeit: Klaus Peter VOß, Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophetentums, Wuppertal, Zürich 1990. Vgl. REINHARD Staatsgewalt (Fn. 212), S. 267. Gisbert BEYERHAUS, Stuiden zur Staatsanschauung Calvins, Berlin 1910, S. 92. Vgl. Präambel zur Kirchenordnung vom 24.09.1683; in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 18. So beispielsweise am Niederrhein; vgl.: BREDT Cleve=Jülich=Berg=Mark (Fn. 78), S. 18 f. BONIN ius reformandi (Fn. 207), S. 60. Instrumentum Pacis Osnabrugense, in: Ernst WALDER, Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648, 2. Auflage Berlin 1966, S. 11 ff. FWA 65-11-6; Text abgedruckt in: Heinrich Friedrich JACOBSON, UrkundenSammlung von bisher ungedruckten Gesetzen nebst Uebersichten gedruckter Verordnungen für die evangelische Kirche von Rheinland und Westfalen, Königsberg 1844, S. 550 ff.
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so genannten Herrnhuter „in geistlichen und Kirchen-Sachen keinem consistorio, sondern, unter der landesherrlichen Oberherrschaft und Protection, blos und allein ihren Bischöfen unterworfen“. Innerhalb der Herrnhuter Gemeinde herrschte somit nahezu vollständige Autonomie. Es oblag dem Landesherrn, festzulegen, wie weit in eine Glaubensgemeinschaft eingegriffen wurde, auch dann, wenn er selbst einer anderen Konfession zugehörig war. Naturgemäß funktionierte dieser Mechanismus jedoch nicht im Verhältnis zur katholischen Kirche, die eine eigene hierarchische Struktur aufweist. Dementsprechend kam es in Fragen der Jurisdiktion häufig zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen Landesherr und Diözesanbischof. Dass in der Grafschaft Wied-Neuwied durch das Toleranzedikt von 1662 weit über die im Westfälischen Frieden verankerten Prinzipien hinaus Toleranz gewährt wurde, ist bereits angeklungen. Dennoch waren die Maßstäbe, die für die verschiedenen Glaubensgemeinschaften angewandt wurden, höchst unterschiedlich. Insbesondere die religio dominans, das evangelischreformierte Bekenntnis, unterlag der vollen Kontrolle durch die Landesherrschaft und wies demgemäß die stärkste Eingriffsintensität auf. Eine eingehende Untersuchung der wiedischen Rechtsquellen soll aber erst unter Einbeziehung der zahlreichen Kirchenordnungen stattfinden.
III. Grundsätze der reformierten Kirchenzucht 1. Vorbemerkung Die folgenden Grundsätze der reformierten Kirchenzucht werden bezüglich der Situation in der Grafschaft Wied-Neuwied konkretisiert und im Rahmen der Falldarstellung ständig wieder aufgegriffen. Unter Kirchenstrafen im engeren Sinne fallen dabei die persönliche Ermahnung, die erneute Ermahnung unter Zeugen, die öffentliche Kirchenbuße und der (zeitweise) Ausstoß aus der Gemeinde226. Kirchenzucht gab es bereits seit dem frühen Urchristentum227. Die Mitchristen fassten dabei die Verfehlungen ihrer Brüder als eigene auf und leisteten gemeinsam Fürbitte für die Sünder228. Die Wirkung wurde dabei durch die
226 227 228
DOSKOCIL Bann (Fn. 23), S. 197. DOSKOCIL Bann (Fn. 23), S. 195; MUSTER Ende der Kirchenbuße (Fn. 26), S. 10 ff. Gustav Adolf BENRATH, Buße V, in: TRE VII, S. 452.
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drei „klassischen“ Bußleistungen Gebet, Fasten und Almosen unterstützt229. Während in der frühen Kirchengeschichte die Bußzucht eine wichtige Rolle spielte230, verlor sie durch die Ausbreitung der privaten Buße (paenitentia privata) massiv an Bedeutung, auch wenn beide Bußformen zunächst nebeneinander existierten231. Ihr faktisches Ende fand die Kirchenzucht in der westlichen Kirche mit dem IV. Laterankonzil von 1215, durch welches jedem Christen die Verpflichtung auferlegt wurde, sich wenigstens einmal im Jahr der Privatbeichte zu unterziehen232. Erst der Bruch der Reformation mit dem sakramentalen Verständnis der Buße ermöglichte die Rückkehr zur vormittelalterlichen Bußlehre233. Durch den radikalen Ansatz Calvins und die Erhebung zur konstitutiven Gemeindefunktion erlebte sie dann eine besondere Renaissance im 16. Jahrhundert234. Sein Regime perfektionierte die Kirchenzucht nahezu235. Direkte Folge der Reformation war es, dass das ursprünglich nur dem Bischof zustehende Recht der Kirchenstrafe236 auf den Landesherrn als summus episcopus seiner jeweiligen Landeskirche überging. Die Territorialherren übten damit die Sittenzucht sowohl in Gestalt des weltlichen Strafrechts als auch die geistliche Kirchenzucht aus und konnten ihren Einfluss auch auf diese Weise massiv steigern. Gleichwohl kam es nicht einfach zu einer Verstaatlichung der Kirchenzucht237, obschon die Abgrenzung zwischen einem weltlichen Verbrecher und einem die Sittenstrenge der Kirche verletzenden Sünder schwieriger und zugleich unwichtiger wurde, weil Kirchenoberhaupt und Landesherr in derselben Person und vielfach auch durch dieselben Amtsträger in Erscheinung traten. Die Kirchenzucht war in ihrem Ursprung ein Recht eigener Art und wurde als „christliche Disciplina“ vom „Amt der weltlichen Obrigkeit“ streng unterschieden238. Calvin selbst formuliert, dass 229 230 231 232 233 234 235 236 237
238
BENRATH TRE VII (Fn. 228), S. 452. BENRATH TRE VII (Fn. 228), S. 453 ff. Ausführlich dazu: BENRATH (Fn. 228), S. 458 ff. BENRATH TRE VII (Fn. 228), S. 460. BENRATH TRE VII (Fn. 228), S. 465 f. BENRATH TRE VII (Fn. 228), S. 469. Dazu ausführlich: KAMPSCHULTE Johannes Calvin (Fn. 10), S. 431 ff. BENRATH TRE VII (Fn. 228), S. 455. Martin BRECHT, Protestantische Kirchenzucht zwischen Kirche und Staat, in: Heinz SCHILLING, Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994, S. 42. NIJENHUIS TRE VII (Fn. 10), S. 586 f.; Gerhard NORDHOLT, Kirchenzucht als notwendige Funktion der Christusgemeinschaft, in: Lothar COENEN, Handbuch zum Heidelberger Katechismus, Neukirchen 1963, S. 218 f.; Christoph STROHM, Calvin und die religiöse Toleranz, in: HIRZEL/SALLMANN Johannes Calvin (Fn. 10), S. 223.
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das geistliche Regiment als „von dem bürgerlichen völlig unterschieden ist und es keineswegs behindert oder schwächt, sondern ihm vielmehr wesentlich Hilfe und Förderung schafft239“. Es wurde also nicht von einer Konkurrenz, sondern von einer Kooperation beider Gewalten ausgegangen. An dieser strengen Unterscheidung hielt Calvin auch formal fest, obwohl bereits in der Stadtrepublik Genf eine Vermischung beider Gewalten stattgefunden hatte240. Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn in der dogmatischen Begründung der Kirchenzucht nicht von einer Strafe die Rede ist, sondern von einem „Liebesdienst am Nächsten“, mit dem Ziel der Rückgliederung in die Christusgemeinschaft241. Es handelte sich um eine „brüderliche“ Strafe242, die in Teilen auf das Alte Testament zurückgeht243. Strafcharakter erhielten die Kirchenzuchtmaßnahmen erst nach Umdeutung durch spätere Reformatoren, die sie als staatliches Sanktionsinstrument verstanden. Da in der reformierten Vorstellung die gesamte Gemeinde durch ein sündiges Glied verunreinigt wurde244, wurde die Kirchenzucht durch das Kollektiv des Gottesvolkes vollzogen, um zu verhindern, dass die Gesamtheit sich durch die Verfehlung eines Einzelnen versündigt245. Die Gemeinschaft wirkte disziplinierend, um das Seelenheil aller sicherzustellen246. Es handelt sich daher nicht um eine Verurteilung des Übertreters in Ausübung richterlicher Gewalt, sondern um eine Hilfe zur Rettung und Besserung des Sünders247. Im Neuen Testament wurde dieser Grundgedanke wieder aufgegriffen und präzisiert. Ob gegenüber der alttestamentlichen Kirchenzucht eine Verschärfung stattfand248, bedarf unter rechtlichen Gesichtspunkten keiner Erörterung. 239 240
241 242 243 244 245 246 247 248
CALVIN Institutio (Fn. 192), IV, 11, 1, pag. 891; CALVIN Unterricht (Fn. 192), S. 828. KAMPSCHULTE Johann Calvin (Fn. 10), S. 770 f.; Wilhelm KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, Neukirchen 1949, S. 395; WITTE ZRG KA (Fn. 61), S. 418. KOLFHAUS christliches Leben (Fn. 240), S. 363; NORDHOLT Kirchenzucht (Fn. 238), S. 212 (219). John Huntington LEITH/Hans-Jürgen GOERTZ, Kirchenzucht, in: TRE XIX, S. 173183. Deutlich wird dieser Gedanke insbesondere in: Jos. 7, 10 ff. Vgl. 1. Kor. 5, 6. Rudolf BOHREN, Das Problem der Kirchenzucht im Neuen Testament, Zolli-kon, Zürich 1952, S. 21; DOSKOCIL Bann (Fn. 23), S. 194 ff. BENRATH TRE VII (Fn.228), S. 452. KOLFHAUS christliches Leben (Fn. 240), S. 362 f. So jedenfalls hinsichtlich des Erfordernisses der Sündlosigkeit des Gottesvolkes: BOHREN Kirchenzucht (Fn. 245), S. 28.
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Die der Heiligen Schrift entnommenen Regelungen waren in jedem Fall verbindlich. Schließlich wurde die Bibel als solche und insbesondere das Alte Testament mit den mosaischen Gesetzen in reformierten Gebieten gemeinhin als lex divina positiva angesehen249, so dass die Menschen auf dessen Anwendung und Auslegung prinzipiell keinen Einfluss haben konnten. Die nachfolgenden Betrachtungen finden daher auch unter besonderer Berücksichtigung der Bibel als Rechtsquelle statt. Zu bemerken ist, dass über die Gültigkeit des Instituts der Kirchenzucht als kanonisches Recht auch bei den Protestanten Einigkeit bestand, lediglich die faktische Anwendung kanonischen Rechts wurde massiv bestritten. Das Grundkonzept der calvinistischen Kirchenzucht orientierte sich an einem dreistufigen Aufbau, wie er in Mt. 18, 15 ff. vorgegeben wird und kehrte damit zurück in die Frühzeit der christlichen Gemeinden. Calvin folgte damit eher einer judenchristlichen Tradition als einer ausdrücklichen Anweisung Jesu250. Dies entspricht allerdings einer langjährigen Tradition, die auch in der katholischen Kirche gepflegt wurde und bis heute Gültigkeit besitzt251. Dabei wird die christliche Bußzucht als andere Art der Predigt verstanden, wodurch das „Amt der Schlüssel“ eine weitere Komponente erhält252. Das „Amt der Schlüssel“ steht jedoch nach calvinistischem Verständnis nur der Gemeinde zu253, so dass bereits theoretische Zweifel an der Handhabung der Kirchenzucht durch eine landesherrliche Obrigkeit bestehen. Der Prediger selbst, dessen Aufgabe in erster Linie die Wortverkündung war, konnte daher die Kirchenzucht nicht ausüben. Dogmatisch wurde ein mit Laien besetztes Gremium notwendig, das von der Kirchengemeinde besetzt wurde. Calvin wies konsequenterweise in seiner Genfer Kirchenverfassung das Kirchenregiment nicht den Predigern, sondern den Kirchenältesten zu254. Dass es letztlich im Rahmen der protestantischen Kirchenverfassungen zu einer Kompetenzaufteilung unter Herausstellung der landesherrlichen Befugnisse gekommen ist, beruht dann auch auf Umständen, die außerhalb
249 250 251 252 253 254
CONRAD Deutsche Rechtsgeschichte (Fn. 24), S. 421. DOSKOCIL Bann (Fn. 23), S. 197; MUSTER Ende der Kirchenbuße (Fn. 26), S. 11. Vgl. CIC/1983 VI Can. 1341. LEITH/GOERTZ TRE XIX (Fn. 242), S. 174; NORDHOLT Kirchenzucht (Fn. 238), S. 212 f.; MUSTER Ende der Kirchenbuße (Fn. 26), S. 42. BOHREN Kirchenzucht (Fn. 245), S. 51. Vgl. Johannes CALVIN, Les Ordonnances Ecclésiastiques de l´Eglise de Genève 1561, § 48, in: NIESEL, Bekenntnisschriften (Fn. 124), S. 48 f.; MUSTER Ende der Kirchenbuße (Fn. 26), S. 40.
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des dogmatischen Konzeptes zu suchen sind255. Hier ist der politischen Komponente der Reformation Rechnung zu tragen. Unterschieden wurde in Anknüpfung an das kanonische Recht zwischen „öffentlichen“ und „verborgenen“ Sünden256, wobei nur erstere unmittelbar von der Kirche bestraft werden konnten. Die „verborgenen“ Sünden setzten voraus, dass der Schuldige diese öffentlich bekannte257. Als Zuchtinstrumente bei „verborgenen“ Sünden standen nach Calvins Grundkonzeption in Anlehnung an Mt. 18, 15 ff. folgende Maßnahmen zur Verfügung, die im Rang einander folgend angewendet wurden:
2. Persönliche Ermahnung Da die Kirchenzucht in erster Linie durch das Wort vollzogen werden sollte258, stand auf der ersten Stufe der Kirchenzucht die persönliche Ermahnung im Gespräch. Die Ermahnung konnte auch prophylaktisch gegen die Sünde erfolgen und rief in diesem Falle lediglich dazu auf, die Sündlosigkeit zu wollen259. Jedes Gemeindemitglied war dazu aufgerufen, denjenigen, der aus eigenem Antrieb nicht seine Pflicht tat oder sich sündhaft aufführte, zu ermahnen260. Die „brüderliche“ Ermahnung war somit Recht und Pflicht zugleich. Über die Erfüllung dieser Pflicht wachten Kirchenälteste und Prediger, die insoweit eine Vorbildfunktion innehatten. Die auf den Apostel Paulus261 zurückgehende gegenseitige Seelsorge steht auf dieser Stufe eindeutig im Mittelpunkt. Vorbild war insoweit die denunciatio evangelica in der vorreformatorischen Kirche, welche allerdings nach dem IV. Laterankonzil massiv an Bedeutung verloren hatte262. Zeugnisse über diese Form der Ermahnungen finden sich nur vereinzelt, weil schriftliche Aufzeichnungen nicht angefertigt wurden.
255 256
257 258 259 260 261 262
Vgl. PRESS Calvinismus (Fn. 40), S. 114 ff. Karl BACHMANN, Geschichte der Kirchenzucht in Kurhessen von der Reformation bis zur Gegenwart, Marburg 1912, S. 69; CALVIN Institutio (Fn. 192), IV, 12, 6, pag. 908; CALVIN Unterricht (Fn. 192); S. 845; MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 143, ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), S. 55. MUSTER Ende der Kirchenbuße (Fn. 26), S. 21. BOHREN Kirchenzucht (Fn. 245), S. 37. BOHREN Kirchenzucht (Fn. 245), S. 93 f. CALVIN Institutio (Fn. 192), IV, 12, 2, pag. 906; CALVIN Unterricht (Fn. 192); S. 845. Vgl. Apg. 20, 31. Arnd KOCH, Denunciatio, Frankfurt am Main 2006, S. 40 f.
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3. Erneute Ermahnung unter Zeugen Sollte die persönliche „brüderliche“ Ermahnung keinen Erfolg haben, so sollte sie vor Zeugen wiederholt werden263. Dogmatisch betrachtet befindet sich diese Möglichkeit der Bestrafung immer noch auf der ersten Stufe der Kirchenzuchtmaßnahmen, weil hier die Ermahnung „unter Brüdern“ im Zentrum steht. Um den Druck zu verstärken, wurden jedoch Zeugen hinzugezogen. In der Praxis der reformierten Kirche handelte es sich bei dem zuständigen Laiengremium um die Versammlung der Ältesten, die in der deutschen evangelisch-reformierten Kirche als Presbyterium bezeichnet wurde. Man spricht daher in solchen Fällen von einer Ermahnung coram presbyterio264. Auf diese Weise wurde die Sünde noch im Verborgenen gehalten, auch wenn häufig Presbyterialprotokolle angefertigt wurden, worin das Vergehen des Delinquenten festgehalten wurde. Für ihn war diese Form der Buße die letzte Möglichkeit, der Öffentlichkeit seine Verfehlung vorzuenthalten, um so die persönliche Reputation gegebenenfalls bewahren zu können. In der Grafschaft Wied-Neuwied kann davon ausgegangen werden, dass sich die Synodal- und Presbyterialverfassung, die entsprechend den Beschlüssen der Synode von Herborn ausgestaltet worden war265, in ihrer verfassungsmäßigen Struktur bewährte, weil in späteren Kirchenordnungen kaum Veränderungen an dieser vorgenommen wurden, während in der benachbarten Grafschaft Wied-Runkel 1763 eine eigene Presbyterial-Ordnung erlassen wurde266. Presbyterialprotokolle sind nur noch vereinzelt vorhanden und lassen kaum Rückschlüsse auf die Bußpraxis zu.
4. Öffentliche Kirchenbuße Während die altkirchliche Praxis der öffentlichen Kirchenbuße in der katholischen Kirche spätestens im Zuge des Tridentinums durch die Privatbeichte abgelöst worden war267, griff die calvinistische Kirchenzucht dieses Instru263 264 265 266 267
Albrecht SCHÖNHERR, Kirchenzucht, Gütersloh 1966, S. 13. Vgl. EKiR-Archiv Wied Nr. 6; Visitationsprotokoll Grenzhausen vom 16. September 1754. MÜLLER Olevian (Fn. 13), S. 80. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Runkel, S. 379 ff. VOß allgemeines Priestertum (Fn. 218), S. 25.
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ment wieder auf. Die öffentliche Zurechtweisung als zweite Stufe der Kirchenzucht erfüllte neben der Reinhaltung der Gemeinde zusätzlich den pädagogischen Effekt der Abschreckung268. Sie wurde prinzipiell als extraordinäre Strafe aufgefasst und nur bei Kapitalverbrechen angesetzt269. In Anbetracht der Bedeutung der lokalen Sozialgemeinschaft handelte es sich um eine harte Zuchtmaßnahme, die geeignet war, den Büßenden gesellschaftlich zu ruinieren, indem sein Ruf und seine Ehre nachhaltig beschädigt wurden270. Das Prozedere lief wie folgt ab: An drei aufeinander folgenden Sonntagen wurde ein Delinquent dazu gezwungen, in der Kirche vor der versammelten Gemeinde seine Sünden zu bekennen und zu bereuen271. Im Zuge der Aufklärung wurde dieses Konzept der Selbstrichtung jedoch zunehmend in Frage gestellt. Zudem trieb die Frucht vor der öffentlichen Maßregelung viele Sünder erst recht in die Illegalität. So wurden viele uneheliche Kinder ermordet oder abgetrieben, um die Schuld nicht öffentlich werden zu lassen272. Das Ende der öffentlichen Kirchenbuße kann insgesamt als schleichender Prozess bezeichnet werden. In der katholischen Kirche war die öffentliche Kirchenbuße273 bereits Anfang des 16. Jahrhunderts fast vollständig verschwunden274, obwohl sie noch zur Mitte des 18. Jahrhunderts als „papistische Sache“ bezeichnet wurde275. Der öffentlichen Kirchenbuße blieb in der evangelisch-reformierten Kirche ein starkes Gewicht, auch wenn sie in
268 269 270 271
272 273
274 275
Unter Hinweis auf 1. Tim. 5, 20; BOHREN Kirchenzucht (Fn. 245), S. 96. KONERSMANN Kirchenregiment (Fn. 40), S. 213. Günther ERBE, Das Ehescheidungsrecht im Herzogtum Württemberg sei der Reformation, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 14 (1955), S. 108. Vgl. Christine D. SCHMIDT, Die öffentliche Kirchenbuße im 18. Jahrhundert, in: SCHULZE/VORMBAUM/SCHMIDT/WILLENBERG Strafzweck und Strafreform (Fn. 21), S. 119. Hellmuth HEYDEN, Die öffentliche Kirchenbuße im Pommern, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 1960, S. 93. Ansätze eines öffentlichen Sündenbekenntnisses lebten zwar in unterschiedlichen Erscheinungsformnen fort, allerdings nicht in Form einer gemeindeinternen Disziplinierung. Besonders in Frankreich war die so genannte amende honorable verbreitet, bei welcher ein zum Tode Verurteilter vor der Hinrichtung gegenüber der Kirche seine Sünden öffenntlich bereuen musste; dazu: Mathias SCHMOECKEL, Humanität und Staatsraison, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 206; zur religiösen Inszenierung bei Hinrichtungen allgemein: Peter SCHUSTER, Wandel und Kontinuität von Strafformen in der Vormoderne, in: SCHULZE/VORMBAUM/SCHMIDT/WILLENBERG Strafzweck und Strafreform (Fn. 21), S. 21 ff. MUSTER Ende der Kirchenbuße (Fn. 26), S. 28.. Nachweis bei: HEYDEN Kirchenbuße (Fn. 272), S. 95.
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einigen Staaten Ende des 18. Jahrhunderts abgeschafft wurde276. Im Vordergrund standen hierbei die allzu unterschiedliche Handhabung der Kirchenzucht und die ausschließliche Beschränkung auf die „Fleischsünden“277. Außerdem erschienen die Kirchenzuchtmaßnahmen in vielen Fällen als ungeeignet. Bei Tätern wurde eher eine Entfernung von der Religion bewirkt, und auch eine mögliche Abschreckungswirkung konnte nicht mehr hinreichend festgestellt werden278. Ein gewichtiger Grund gegen die Abschaffung der öffentlichen Kirchenbuße waren die reichhaltigen Einnahmen der Armenkassen durch Dispensationsgelder279. Dabei handelte es sich um Gelder, durch die sich Vermögende von Kirchenstrafen freikaufen konnten280. Auch in der Grafschaft WiedNeuwied flossen die meisten Gelder in den Almosenstock281. Die Überhand nehmende Dispensationspraxis kann zwar auch als Indiz für das Versagen der Kirchenzucht in Form der öffentlichen Kirchenbuße betrachtet werden, gleichwohl kann dieser fiskalische Gesichtspunkt auch in der Grafschaft Wied-Neuwied als Motivationsgrund für die Beibehaltung nicht unterschätzt werden, weil auch hier die Kirchspiele permanent unter Finanznot und grassierender Armut zu leiden hatten282. Dies mag ein Erklärungsansatz dafür sein, dass die öffentliche Kirchenbuße in Wied-Neuwied offiziell bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts hinein beibehalten und intensiv als Sanktionsmittel gebraucht wurde.
5. Ausstoß aus der Gemeinde Dem Ausstoß aus der Gemeinde als härteste Maßnahme der Kirchenzucht liegt der Denkansatz zugrunde, dass ein Sünder bei besonders schweren Schandtaten temporär oder für immer aus der Abendmahlsgemeinschaft
276 277 278 279 280 281 282
Braunschweig-Wolfenbüttel 1775, Hessen-Kassel 1786; vgl. BACHMANN Kirchenzucht (Fn. 256), S. 110 ff.; LÜDICKE Kirchenzucht (Fn. 31), S. 83 f. BACHMANN Kirchenzucht (Fn. 256), S. 120. MUSTER Ende der Kirchenbuße (Fn. 26), S. 139. BACHMANN Kirchenzucht (Fn. 256), S. 115 ff. Insoweit besteht eine Parallele zum Ablasshandel, bei welchem die Sünden gegen „Gebühr“ erlassen wurden. Vgl. Teil II § 21 KO 1683, in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 27. Vgl. FWA 64-11-4, pag. 9; Armutsbericht für das Kirchspiel Anhausen vom 7. Oktober 1699.
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ausgeschlossen werden muss283. Dies diente in erster Linie der Reinhaltung der Gemeinde und damit auch der Kirche als lebendigem „Leib Christi“. Das Zuchtinstrument des Ausstoßes geht dabei zurück auf die Anordnungen des Apostels Paulus gegenüber der Christengemeinde von Korinth284. Seit dem 17. Jahrhundert fand diese Form der Strafung in vielen reformierten Gebieten insbesondere bei Vergehen im Bereich der Sexualdelikte Anwendung285. Entgegen der These, dass es sich bei der Zurückweisung vom Heiligen Abendmahl um die am häufigsten angewandte kirchenzuchtrechtliche Mittel handelt286, lässt sich dies für die Grafschaft Wied-Neuwied nicht bestätigen. Die öffentliche Kirchenbuße erschien hier als Begleiterscheinung „weltlicher“ Strafen häufiger. Hierin zeigt sich zwar gegenüber anderen evangelisch-reformierten Territorien eine zurückhaltendere Handhabung der Sittengesetze, zumal die öffentliche Kirchenbuße eine wesentlich pragmatischere Strafe darstellte als der Ausstoß aus der Gemeinde, der vielfach mit einer Landesverweisung oder einer Gefängnisstrafe einherging. Dies mag auf der Erkenntnis beruht haben, dass die disziplinarischen Mittel, welche die Kirchenzucht zur Verfügung stellte, zur Disziplinierung des Kirchenvolks nicht mehr ausreichend waren287. Tatsächlich wurde die weitgehende Wirkungslosigkeit der häufig wiederholten Ge- und Verbote an vielen Stellen beklagt288. Die Unwirksamkeit dieser Maßnahmen beruhte insbesondere auf den unzureichenden presbyterial-synodalen Strukturen. Welche Schwächen in wiedischen System zu finden sind, soll im Zusammenhang mit der Ämterverfassung eingehend beleuchtet werden.
6. Funktion und Struktur der Kirchenzucht Die vorhergehend beschriebene drei- beziehungsweise vierstufige Konzeption entstammt der Frühphase der christlichen Kirche. Der ernste Versuch in der frühen Neuzeit, dieses System zu übertragen, macht deutlich, welche zentrale Funktion die Kirchenzucht in der reformierten Kirche spielte. Aufgrund des landesherrlichen Kirchenregiments kam es dabei jedoch mitunter 283 284 285 286 287 288
CALVIN Institutio (Fn. 192), IV, 12, 6, pag. 908 f.; CALVIN Unterricht (Fn. 192); S. 845 f. 1. Kor. 5, 3 ff. KONERSMANN Kirchenregiment (Fn. 40), S. 213. BACHMANN Kirchenzucht (Fn. 256), S. 75. EKiR Archiv Wied Nr. 98. BRECHT Kirchenzucht (Fn. 237), S. 46.
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zu Überschneidungen zwischen Kirchenzucht und weltlichem Strafrecht, weil sich das Bußkonzept auch in dem damals geltenden weltlichen Recht widerspiegelte. Deutlich wird dies beispielsweise anhand einer Verordnung für die evangelisch-reformierte Grafschaft Solms-Braunfels aus dem Jahr 1687289: Demnach sollen zunächst „für jede unzüchtige Beiwohnung, welche keine Heirath zu Folge hat, […] beide Theile mit öffentlicher Kirchenbuße und 20 Rthlr. [...] herrschaftliche Geldstrafe belegt“ werden. In einem weiteren Schritt bestimmt die Verordnung, dass bei Wiederholung des Vergehens die schuldige Person mit vier Wochen Gefängnis bestraft wird, bevor in einem dritten Schritt die Landesverweisung hinzutritt. Weil die Verordnung durch die Regierungskanzlei und nicht durch die Kirchenbehörde erlassen worden ist, kann das „Beständige Reglement wie es ins Künftige mit denjenigen Leuten, welche zu frühe beischlafen, wirklich gehalten werden soll“ dem weltlichen Recht zugeordnet werden. Der Text spricht sowohl von „herrschaftlicher Strafe“ als auch von „Kirchenbuße“, wodurch deutlich wird, wie stark das landesherrliche Kirchenregiment zu Vermischungen mit dem Strafrecht führte, gerade wenn es sich um Duodezfürstentümer handelte. In der Grafschaft Wied-Neuwied existierte eine ähnliche Regelung290. Dies beruht zum einen auf der gemeinsamen Wurzel kirchlichen und weltlichen Rechts im Strafsystem der Bibel, zum anderen – wie noch zu zeigen ist – im Verwaltungsaufbau einer kleinstaatlichen Landeskirche. Auch in der Grafschaft Wied war die Dreistufigkeit der Kirchenzuchtsmaßnahmen zur dogmatischen Grundlage der Gesetzgebung geworden, wobei sich dies ausdrücklich nur in der Grafschaft Wied-Runkel nachweisen lässt291. In der Grafschaft Wied-Neuwied existierte hingegen keine gesetzliche Ausformung dieses Prinzips292, allerdings ist insofern auf die gemeinsame kirchenrechtliche Tradition beider Teilgrafschaften hinzuweisen, die bis zur verschollenen Kirchenordnung von 1575 zurückreicht. Es kann dennoch nur die Vermutung aufgestellt werden, dass diese Kirchenordnung eine ent289
290 291 292
Vgl. Johann Josef SCOTTI, Provinzial-Gesetze – Sammlung der Gesetze und Verordnungen, Dritter Theil, enhält die Abtheilungen für Solms=Braunfels, Solms=Hohensolms resp. Lich, Nassau=Usingen und Nassau=Weilburg, Düsseldorf 1836, S. 1107. Vgl. Teil II § 21 KO 1683, in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 27. Vgl. Cap. 4 § 1 Wied-Runkelsche Presbyterial-Ordnung vom 26. März 1763, in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Runkel, S. 382 f. Lediglich in Art. 10 KO 1707 findet sich ein Hinweis auf „brüderliche Vorstellungen und Ermahnungen“, vgl. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 43.
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sprechende Regelung enthielt, die auch in der Grafschaft Wied-Neuwied gültig war. Den Sinn der strengen Kirchenzucht beschreibt Calvin ebenfalls in dreierlei Weise293. Zunächst sollte die Kirchenzucht nach innen in die Kirche hineinwirken: Der Leib Christi wurde so vor Entheiligung durch Schändung bewahrt294. Seiner Ansicht liegt der reformierte Kirchenbegriff zugrunde, wonach „das corpus, oder der geistliche leib einer Christlichen Kirchen und Gemeinde nicht bestehen [kann]/…/ wenn er der Disciplin/ und ordnung der Kirchenzucht/ als eines rechten bandes/ beraubet ist295“. Gleichfalls kam der Sittenstrenge eine general- und spezialpräventive Wirkung zu. So sollten die „Guten“ nicht von der Sünde verdorben werden; der Sünder selbst sollte seine Taten bereuen296. Dies geschah indes nicht aus Strafzwecken, sondern aus „brüderlicher Zuwendung“. Der Zuchtgewalt der Kirche waren aber auch Grenzen gesetzt. Soweit sich das Recht zu urteilen aus der „Schlüsselgewalt297“ ergab, wurde die „Vollmacht zum Binden“ auf das „Strafurteil der Kirche“ beschränkt, wobei „die Gebannten nicht etwa in ewiges Verderben und ewige Verdammnis verstoßen, sondern sie hören, daß ihr Lebenswandel und ihre Sitten verurteilt werden“ 298. Die Strafe knüpfte also nicht an die Person des Verdammten an, sondern an dessen Handlungen. Da aber nur durch ernst gemeinte Reue diese Schuld gesühnt werden konnte, lehnte Calvin die ewige Verdammnis der „alten“ Kirche ab. Dem reuigen Sünder musste daher prinzipiell die Rückkehr in den Schoß der Gemeinde offen stehen. Insgesamt betrachtet diente also die Kirchenzucht der Wahrung der Ordnung und Würde der Kirche299. Ein letzter Grund ist die Furcht vor Gottes Zorn300. Dieser bedrohte zunächst den Sünder selbst, traf aber auch den Richter, der ein falsches Urteil fällte. In der theoretischen Konzeption Calvins wird strikt differenziert zwischen obrigkeitlichen und kirchlichen Strafen. Während der einen Seite die
293 294 295 296 297 298 299 300
CALVIN Institutio (Fn. 192), IV, 12, 5, pag. 907 f.; CALVIN Unterricht (Fn. 192); S. 844 f. LEITH/GOERTZ TRE XIX (Fn. 242), S. 174. ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), Vored XIX. Wilhelm NIESEL, Die Theologie Calvins, München 1938, S. 189. Vgl. Mt. 18, 18. CALVIN Institutio (Fn. 192), IV, 12, 10, pag. 911; CALVIN Unterricht (Fn. 192), S. 848. BOHATEC Staat und Kirche (Fn. 192), S. 552. ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), S. 37.
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zeitlichen Strafen und die Zwangsmittel zugeordnet wurden, sollte das Instrument der Kirche vornehmlich das der Überzeugung sein301. Hierin wird wiederholt der dogmatische Ansatz der „Zwei-SchwerterLehre“ deutlich. Nach Calvins Auffassung ist die kirchliche Strafgewalt im Rahmen der Kirchenzucht peinlich von der staatlichen zu unterscheiden: Während die staatliche Macht nur mit Zwangsgewalt sanktioniere, ziele die strenge Kirchenzucht auf freiwillige Annahme der Strafe, indem der Sündige seinen Fehler erkenne und ernsthaft bereue302. Diese Trennung spiegelt sich auch prinzipiell in den Rechtsquellen der frühen Neuzeit wider. Während die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 die weltlichen Strafen regelte, verblieb die Sündenzucht bei der Kirche, unabhängig davon, welchem Bekenntnis der jeweilige Landesherr folgte. Dass die theoretische Konzeption einer strikten Trennung kaum durchzuhalten war, wird sich noch anhand der Fallanalyse zeigen. Ein erkennbarer Unterschied zwischen Strafrecht und Sündenzucht bestand gleichwohl303. Dies gilt auch für die Grafschaft WiedNeuwied, in welcher das kaiserliche Strafrecht neben der wiedischen Kirchengerichtsbarkeit existierte. Ein weiteres zentrales Motiv der Kirchenzucht ist die christliche Milde, die den Kirchenstrafen innewohnt304. Lakonisch meint Hashagen zur Situation im Rheinland, dass die strenge Kirchenzucht der rheinischen „Leichtlebigkeit und ihren Auswüchsen“ wesensfremd sei305. Die Idee einer milden Bestrafung ist jedoch nicht ausschließlich typisch für das Rheinland: Abgesehen von verschiedenen Auswüchsen306 können Milde und Toleranz im Zeitalter der Konfessionalisierung in erster Linie in reformierten Territorien nachgewiesen werden307. Die Idee milder Bestrafung beeinflusste schon im 16. und 17. Jahrhundert die führenden evangelisch-reformierten Theologen und Rechtsgelehrten an der Hohen Schule Herborn. Gerade auch Zepper 301 302 303 304 305 306
307
Vgl. Cap. 4 § 1 Wied-Runkelsche Presbyterial-Ordnung vom 26. März 1763, in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Runkel, S. 382 f. BOHATEC Staat und Kirche (Fn. 192), S. 544 f.; WITTE ZRG KA 83 (Fn. 61), S. 431. Anders aber: WILLOWEIT Expansion des Strafrechts (Fn. 18), S. 344. SCHMOECKEL Metanoia (Fn. 22), S. 31 ff.; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 72. HASHAGEN rheinischer Protestantismus (Fn. 78), S. 9. Insbesondere die strikte Anwendung in Genf durch Johannes Calvin selbst ordnet sich naturgemäß nicht in diesen Zusammenhang ein. Auch wenn in seinem Frühwerk der Toleranzaspekt nachgewiesen werden kann, wandte sich Calvin unter dem Eindruck der Bedrohung des Protestantismus in den Jahren nach 1547 von diesem Denkansatz jedoch ab; vgl. STROHM Toleranz (Fn. 238), S. 225 ff. STROHM Toleranz (Fn. 238), S. 233 f.; Ernst WOLF, Toleranz nach evangelischem Verständnis, in: LUTZ Toleranz und Religionsfreiheit (Fn. 62) , S. 136.
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weist im Zusammenhang mit der Kirchenzucht darauf hin. Demnach sollen „die Eltesten/ und das volck Gottes gleichfals beyde offentlich gelehret/ underwisen und ermanet/ durch das wort der brüderlichen vermanungen/ mit aller sanftmut und gelindigkeit/…/ dahin gewisen werden/ damit sie/ …/ das ungötliche wesen/ und die weltlichen lüste je mehr und mehr verleugnen308“. Dieser Ansatz galt auch in geringerem Maße im weltlichen Recht, beispielsweise mit Blick auf Bestrafung von Verbrechern. Hier ist von Johannes Althusius309 überliefert, ein Magistrat solle „sich nicht vorschnell zur Bestrafung von Verbrechern […] entschließen. Denn bei der Auferlegung von Strafen kann Zurückhaltung schlechte Sitten eher bessern310“. Milde kann also auch zur Besserung des Sünders führen. Insgesamt betrachtet, lässt sich wohl keine Gesetzmäßigkeit hinsichtlich der Buß- und Strafpraxis in evangelisch-reformierten Territorien ableiten. Dies ist auch der Grund, warum die sozialdisziplinierende Wirkung der Kirchenzucht differenziert betrachtet werden muss. Toleranz und Milde, die in der Konzeption der Kirchenzucht angelegt sind, sind neben der Ausübung von Zwang weitere Mittel der Sozialdisziplinierung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Wirkung nicht von der Kirche allein erzielt wurde311. Erst durch staatliche Vereinnahmung, welche die Kirchenzucht ihres eigentlichen Zwecks beraubte, konnte Sozialdisziplinierung wirken. Die Kirchenstrafen, die anhand der Konsistorialprotokolle untersucht werden, sind daher nicht ausschließlich als Kirchenstrafen im engeren Sinne zu verstehen, weil eine Vermischung zwangsläufig stattfand.
308 309
310
311
ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), Vored XV f., vgl. auch: Ebda., S. 107 f. Zu seiner Person und seinem Werk: Peter Jochen WINTERS, Die »Politik« des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i. Br. 1963; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 151 ff. Vgl. Johannes ALTHUSIUS, Politica, Faksimiledruck der 3. Auflage Herborn 1614, Aalen 1961, Cap. XXIIII § 22, pag. 481; Johannes ALTHUSIUS, Politica, übersetzt von Heinrich Janssen, Berlin 2003, Kap. XXIV § 22, S. 251. Winfried SCHULZE, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“, in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), S. 281.
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IV. Wiedisches Kirchenrecht 1. Vorbemerkung Als unmittelbare Folge der Anlehnung an die Politik der Kurpfalz in den Jahren nach 1566 übernahmen die Wetterauer Grafen wichtige Grundzüge der Heidelberger Kirchenrechtsordnung312. In den Jahren 1563 und 1564 wurden unter Kurfürst Friedrich III. der Heidelberger Katechismus sowie die Heidelberger Kirchenordnung in der Kurpfalz ausgefertigt. Beide Regelwerke waren wichtige Vorbilder für gleichartige Regelungen in der Grafschaft Wied, weil eigene umfassende Regelungen einen Beamten- und Gelehrtenapparat erfordert hätten, den die kleinen Territorialstaaten nicht hätten unterhalten können. Schwierig ist daher, gerade im 16. Jahrhundert von einem originär wiedischen Kirchenrecht zu sprechen. Der Schwerpunkt der nachfolgenden Betrachtungen wird daher auf den Kirchenordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts liegen. Die Konsolidierung der Grafschaft nach Ende des Dreißigjährigen Krieges führte in dieser Zeit dazu, dass sich nach und nach ein wiedisches Kirchenrecht herausbildete, das die lokalen und regionalen Gegebenheiten berücksichtigte. Insbesondere hinsichtlich der Behandlung anderer Konfessionen und Bekenntnisgemeinschaften fehlte zunächst eine herausragende vorbildhafte Gesetzgebung, so dass gerade in diesem Zusammenhang zu vermuten ist, dass originär wiedisches Kirchenrecht entstanden ist. Dabei handelte es sich streng formalistisch betrachtet zunächst nicht um von der Kirche selbst erlassenes Recht, sondern um landesfürstliche Gesetze313. Aufgrund der protestantischen Kirchenverfassung ergibt sich allerdings aus diesem Umstand kein Widerspruch. Die Kirche als solche wurde jedoch zwangsläufig zum bloßen Gegenstand der Gesetzgebung herabgestuft. Die konkurrierende Autorität des Papstes und der katholischen Bischöfe war ausgeschaltet314. Dass der Landesherr seine Regierungsrechte dem kirchlichen Zweck zur Verfügung stellte, begründete gleichzeitig seine besondere Bedeutung im Rahmen der Kirchenverfassung. Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass die Regierungsrechte nicht mehr ausschließlich privatrechtlich eingeordnet wurden, sondern sich mehr und mehr die Auffas-
312 313 314
PRESS Calvinismus (Fn. 40), S. 246. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 83. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 82.
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sung durchsetzte, diese seien öffentlich-rechtlicher Natur315. Im Verlauf der Aufklärung entwickelte sich daraus die Auslegung, dass die Religion als Teil der öffentlichen Ordnung ohnehin dem weltlichen Herrschaftsbereich des Landesherrn unterstehe316. Verfasser der Kirchenordnungen waren in der Regel Theologen, weil nur sie in der Lage waren, die inhaltliche, materielle Richtigkeit zu gewährleisten317. Die Urheber der wiedischen Kirchenordnungen sind bis auf wenige Ausnahmen unbekannt, allerdings kann als prägender Theologe für das wiedische Kirchenrecht im 16. Jahrhundert Johannes Alsdorff genannt werden, der bei der ersten Kirchenvisitation zugegen war und als Vertreter der Grafschaft bei der Herborner Synode fungierte318. Dass er bei Abfassung der Kirchenordnungen beteiligt war, wenn nicht sogar die Federführung übernommen hatte, liegt mehr als nahe, weil andere wiedische Theologen aus dieser Zeit nicht bekannt sind. Der Inhalt beschränkte sich dabei nicht auf die Kirchenverfassung, sondern diente auch der Niederlegung der wichtigsten Glaubenssätze319. Adressaten der Kirchenordnungen waren in erster Linie die Geistlichen320. Gerade in ländlichen Regionen wie den Waldkirchspielen der hier untersuchten Grafschaft, in denen die Alphabetisierung noch nicht weit fortgeschritten war, waren die Pfarrer die Einzigen, die des Lesens mächtig waren. Daneben traten jedoch als Adressaten die Kirchenältesten sowie alle Gemeindemitglieder, wobei der Pfarrer dann als Vermittler zwischen Landesobrigkeit und Kirchspielsangehörigen auftrat. Bevor jedoch auf die einzelnen Kirchenordnungen eingegangen werden kann, soll zunächst das Toleranzedikt von 1662 betrachtet werden, bei dem es sich um das religionspolitische Fundament der Grafschaft Wied-Neuwied handelt.
315 316 317
318 319 320
Emil SEHLING, Kirchenregiment, in: Realenzyklopädie Band 10, S. 470. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 102. Alfred NIEBERGALL, Kirchenordnung, in: Adalbert ERLER/Ekkehard KAUFMANN, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, II. Band, 11./12. Lieferung, Berlin 1974, Sp. 763; SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 49. Vgl. Kapitel B.II. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 83. SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 54.
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2. Toleranzedikt von 1662 Das herausragende gesetzgeberische Werk des Grafen Friedrich III. ist das bereits erwähnte Toleranzedikt vom 7. Juni 1662, das bis zur Mediatisierung der Grafschaft Wied die Grundlage der städtischen Selbstverwaltung in Neuwied bildete und gleichzeitig als Fundament der landesherrschaftlichen Toleranzpolitik diente321. In seiner Wirkung blieb es zwar auf die Stadt Neuwied beschränkt, allerdings zeigt sich hierin eine religiöse Grundhaltung, die nicht ohne Auswirkungen auf die Handhabung der Kirchenzucht in den Waldkirchspielen blieb. Die Beschränkung auf die Stadt Neuwied hatte ihren zentralen Grund darin, dass in den Waldkirchspielen die evangelisch-reformierte Konfession vorherrschte und es auch dabei bleiben sollte. Die erwartete Einwanderung sollte zudem ausschließlich der neuen Residenzstadt zugute kommen, um gegenüber der Stadt Vallendar und der kurtrierischen Residenz Engers eine höhere zentralörtliche Funktion erreichen zu können322. Ein Zeichen von Modernität stellen auch die übrigen Freiheitsrechte dar, die Graf Friedrich III. gewährte und die hier der Vollständigkeit halber erwähnt werden sollen: Neben vollkommener Gewissensfreiheit und der freien Religionsausübung wurden die Einwohner von Neuwied „von gewöhnlichen und außerordentlichen Frohnden und Diensten“ befreit, Art. 2. Darüber hinaus wurde die Leibeigenschaft allgemein aufgehoben und Freizügigkeit „mit Haab und Gut willkührlich, ohne landesherrliche Beeinträchtigung und ohne Entgeltnuß“ eingeräumt, Art. 3. Hinzu treten nach Art. 4 Marktprivilegien und das Recht, einen eigenen Magistrat wählen zu dürfen, der mit der Ausübung der niederen Gerichtsbarkeit und Verwaltung der Stadt betraut sein sollte, Art. 5. Eine Besonderheit ist darin zu sehen, dass „jedem Baulustigen […] die nöthige Grundfläche unentgeltlich angewiesen werden [sollte]“ und die darauf erbauten Häuser und Güter vollständiges und vererbliches Eigentum ihrer Besitzer sein sollten, Art. 8. Hinsichtlich der Magistratsverfassung wurde die städtische Verfassung des benachbarten kurkölnischen Andernach zum Vorbild genommen323. Das Toleranzedikt von 1662 war in seiner Gänze darauf gerichtet, „die Aufnahme und Erweiterung der […] neuangelegten Stadt Neuen=Wiedt zu
321 322 323
VOLK Peuplierung (Fn. 147), S. 208. STRÖHM Brüdergemeine (Fn. 158), S. 44. STUPP Rechtsgeschichte (Fn. 138), S. 24.
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befördern324“. Die Religions- und Gewissensfreiheit war daher oberflächlich betrachtet nur ein Mittel zum Zweck. Die Hoffnung des Grafen, Flüchtlinge reformierten Glaubens in seine Stadt zu ziehen, ist zu vermuten, auch wenn die massive Verfolgung der Protestanten in den Niederlanden durch das katholische Spanien bereits mehrere Jahre zurück lag und die große Flüchtlingswelle aus Frankreich als Folge des Edikts von Nantes im Jahre 1685 noch bevorstand325. Insbesondere Glaubensflüchtlinge, die im Zuge der Gegenreformation aus den rheinischen Kurstaaten und aus dem Herzogtum Jülich-Berg vertrieben worden waren, dürften jedoch Gegenstand der Planungen gewesen sein. Ob sich das Edikt zunächst nur auf die im Westfälischen Frieden anerkannten drei Reichskonfessionen erstreckte326 oder bereits andere Religionsgemeinschaften mit erfasst wurden327, kann nicht abschließend geklärt werden. In erster Linie beschränkte sich die Zuwanderung in den Folgejahren jedoch auf Reformierte. Bis 1662 waren nur vereinzelt Lutheraner und Katholiken in die Grafschaft Wied-Neuwied eingewandert328, wobei für diese wohl eher wirtschaftliche Motive ausschlaggebend waren. Erst die Aufnahme der Mennoniten 1680 führt zu einer Erweiterung des Immigrantenspektrums, das dann im 18. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte. Eine genauere Betrachtung des ersten Artikels relativiert jedoch die viel angekündigte Gewissensfreiheit. Zunächst mussten die Einwanderer – gleich welcher Konfessionszugehörigkeit – noch am reformierten Gottesdienst regelmäßig teilnehmen329. Versäumnisse wurden bestraft. Dadurch sollte womöglich dem bei Katholiken verbreiteten „Auslaufen“ zur Heiligen Messe entgegengewirkt werden, das gerade dort verbreitet war, wo evangelische Territorien dicht an katholische grenzten330. Dass die Religionsausübung lediglich in den Häusern ungestört gewährt wurde, barg schon den nächsten Konfliktstoff in sich. Nach Art. V § 34 IPO331 stand es dem Landesherrn zwar prinzipiell frei, die Religionsausübung auf das exercitium religionis 324 325 326 327 328 329 330 331
Präambel der Verordnung vom 7. Juni 1662; in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 174), Wied-Neuwied, S. 9. GROSSMANN ArchKultG 62/63 (Fn. 67), S. 212. So jedenfalls: GROSSMANN ArchKultG 62/63 (Fn. 67), S. 212. Eine Tendenz in diese Richtung bei: TROßBACH Aufklärung (Fn. 67), S. 144. LÖHR Neuwied (Fn. 72), S. 36; VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 28. Diese Praxis wurde erst auf Druck der Mennoniten aufgegeben: vgl. TROßBACH Aufklärung (Fn. 67), S. 145. ZEEDEN Konfessionen (Fn. 7), S. 81. Instrumentum Pacis Osnabrugense, in: Ernst WALDER, Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648, 2. Auflage Berlin 1966, S. 11 ff.
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privatum zu beschränken, reichsrechtlich abgesichert war jedoch auch die Möglichkeit, „in der Nachbarschaft […]am öffentlichen Gottesdienst teilzunehmen“. Dies barg allerdings die Gefahr, dass die Katholiken, für die in unmittelbarer Nähe zahlreiche Kirchen zur Verfügung standen, gegen die reformierte Landesherrschaft aufgebracht wurden. Mit Irlich, der Abtei Rommersdorf und den Besitzungen um die Stadt Engers herum besaß der Trierer Erzbischof Territorien (Abbildung 1), die er insbesondere Anfang des 18. Jahrhunderts nutzte, um in die Grafschaft Wied hinein Einfluss auszuüben332. Gegenüber der neugegründeten Stadt lag zudem das kurkölnische Andernach, wohin eine regelmäßige Fährverbindung bestand. Mit dem Anwachsen der katholischen und der evangelisch-lutherischen Gemeinde ergab sich bereits im 17. Jahrhundert ein Platzproblem. Ob der erhoffte Zuzug reformierter Glaubensflüchtlinge in dem erwarteten Umfang tatsächlich ausblieb oder ob Graf Friedrich III. den anwachsenden Religionsgemeinschaften aufgrund erhöhten Drucks nachgeben musste, kann nur vermutet werden. Auch Einflussnahme von außen erscheint möglich. Jedenfalls erging am 28. September 1682 eine Verordnung, in der den reformierten Religions-Verwandten „frei Exercitium religionis in ihren Häusern gestattet (wurde), auch wenn sie in der Zahl so viel zuwachsen, daß sie auff ihre Kosten eine eigene Kirche bauen können, dieselbe zu bauen und den Gottesdienst […] exercieren gnädig vergünstigt haben“333. Damit war weitgehend eine Gleichstellung zwischen Evangelisch-Reformierten und EvangelischLutherischen erreicht worden. Bereits 1691 musste Graf Friedrich III. die am 28. September 1682 gewährte Privilegierung hinsichtlich des Kirchenbaus aufgrund öffentlichkeitswirksamer Agitation der evangelisch-reformierten Gemeinde widerrufen334. Die gewonnen Privilegien wurden wieder eingeschränkt. Im Gegensatz dazu wurde die katholische Kirche als dritte durch den Westfälischen Frieden anerkannte Konfession im Reich mit zusätzlichen Auflagen an einer offenen Religionsausübung gehindert. Die Verordnung von 1682 gebietet den Bürgern katholischer Konfession, dass sie „mit offentlicher Monstranzen, vielweniger mit Prozession nicht über die Gassen gehen, sondern wann Kranke zu berichten, ihre Hostias unter den Mantel oder Röcken verdecket tragen und ihr Ambt bei den Kranken in der Stille verrich332 333 334
Dazu: RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 247 f.; VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 23. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 15. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 237 f.; VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 14.
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ten335“. In Anbetracht der Nachbarschaft zu den beiden großen katholischen Territorien (Abbildung 1) herrschte gegenüber den Katholiken Misstrauen. Die Versuche von Seiten des Trierer Erzbischofs, Einfluss in der Grafschaft Wied zu gewinnen, mögen eine solch restriktive Regelung erklären. Es zeigt sich daher wiederholt, dass das Handeln des Grafen Friedrich III. von politischem Kalkül geprägt war. Gleichwohl fühlten sich viele Katholiken auch aus der näheren Umgebung von den Vergünstigungen in der Grafschaft Wied angezogen und bereits 1670 hatte sich eine so große Gruppe angesammelt, dass das Haus, in welchem der Gottesdienst abgehalten wurde, diese kaum noch fassen konnte336. Während sich das Toleranzedikt im 17. Jahrhundert nur auf die evangelisch- reformierte, die evangelisch-lutherische und römisch-katholische Konfession bezog, fand schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts und verstärkt im 18. Jahrhundert eine Erweiterung zugunsten anderer Bekenntnisgemeinschaften statt. So wurden 1680 die Mennoniten und 1739 die Inspirierten aus dem Herzogtum Pfalz-Zweibrücken in der Grafschaft aufgenommen und 1750 fand eine Herrnhuter Gemeinde Zuflucht in Neuwied. Eine so weit reichende Auslegung des Privilegs von 1662 war jedoch gerade vor dem Hintergrund des Westfälischen Friedens, der auch noch zu dieser Zeit das bestimmende religiöse Grundgesetz des Reiches darstellte, nicht unproblematisch. In Art. V §§ 31 ff. IPO wurde zwar die religiöse und bürgerliche Rechtsstellung andersgläubiger Untertanen thematisiert, allerdings bezog diese Regelung nur die drei im Reich anerkannten Konfessionen ein337. Die Zulassung von Sekten war gemäß Art. VII § 2 II IPO nicht erlaubt, die Aufnahme anderer Bekenntnisgemeinschaften stellte insoweit eine Verletzung der Bestimmungen dar338. Die Ausdehnung war zwar unter den zeitgenössischen Staatskirchenrechtlern umstritten, allerdings wurden die theoretischen Rechtsansichten bald durch die religiöse Praxis eingeholt. Die Tolerierung verschiedener Konfessionen, wie sie in der Grafschaft Wied-Neuwied verwirklicht wurde, ist wohl überwiegend auf die desolate wirtschaftliche und demographische Situation in der Grafschaft zurückzuführen. Gleichwohl kann aber auch davon ausgegangen werden, dass auch in dieser Hinsicht der Einfluss des Herborner Rechtsgelehrten Johannes Althusius deutlich wird. Die Toleranz als politisches Konzept propagierte er be335 336 337 338
SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 15. VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 7. CONRAD Deutsche Rechtsgeschichte (Fn. 24), S. 175. CONRAD Deutsche Rechtsgeschichte (Fn. 24), S. 175.
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reits in seiner Politica von 1603339. Auch insofern kann das wiedische Toleranzpatent von 1662 als Pionierleistung angesehen werden, weil hier der Toleranzgrundsatz Friedrichs des Großen, dass „jeder nach seiner Façon selig werden“ könne, knapp hundert Jahre früher verwirklicht wurde340. War das Toleranzedikt von 1662 mit seiner Ergänzung von 1682 gleichsam das religionspolitische „Grundgesetz“ der Grafschaft Wied, so fand es seine konkrete Ausprägung in den Kirchenordnungen. Für die Zeit der gemeinsamen Regierung der Grafschaft durch die beiden Brüder Wilhelm IV. und Hermann I. (1581-1595) ist die Grafschaft Wied kirchenpolitisch noch weitgehend als Einheit zu betrachten. Erst durch die Kirchenzuchtsordnung von 1590 wurde sukzessive eine eigenständige Landeskirche in der Niedergrafschaft etabliert, die nach 1648 eine von Wied-Runkel unabhängige Entwicklung nahm, auch wenn die wesentlichen Grundprinzipien gleich blieben. Da die meisten kirchenrechtlich relevanten Regelungen erst nach der Konsolidierung der Grafschaft Wied-Neuwied 1648 erlassen wurden, liegt der Schwerpunkt der Gesetzgebungstätigkeit im Untersuchungszeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts, als eine separate Landeskirche Wied-Neuwied existierte.
3. Kirchenordnungen in Wied a. frühe Kirchenordnungen Die erste bekannte Kirchenordnung, die in der Grafschaft Wied publiziert wurde, datiert in das Jahr 1575341. Diese erste Kirchen- und Polizeiordnung ist jedoch unauffindbar verloren342. In der Frühzeit der evangelischreformierten Konfession war außerdem noch vieles im Werden begriffen. Nach dem zweiten Konfessionswechsel innerhalb von nur wenigen Jahren wurden Orientierungspunkte gesucht. Dies gilt gerade auch für den (nieder-) rheinischen Protestantismus343. Über den Inhalt lässt sich daher nur spekulie339 340 341
342 343
Dazu: CHUPP/NEDERMAN Religious Toleration (Fn. 62), S. 252 ff. STUPP Rechtsgeschichte (Fn. 138), S. 17. Vgl. Hinweise in Kirchen- und Policey Ordtnung für die Grafschaft Wied-Runkel in: SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 492, 498; RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 183; ROSENKRANZ Rheinland I (Fn. 102), S. 694. Bei RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 183 findet sich lediglich ein Hinweis auf das Archiv in Runkel. HASHAGEN rheinischer Protestantismus (Fn. 78), S. 3 f.; LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 3 f.
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ren. Es kann aber wohl davon ausgegangen werden, dass sich das Regelwerk in weiten Teilen an der Kirchenordnung der Kurpfalz von 1563344 orientierte, die den Maßstab für die Kirchenordnungen der evangelisch-reformierten Territorien darstellte und eine besondere Vorbildfunktion hatte345: Schließlich wirkten auch an der kurpfälzischen Universität Heidelberg die wichtigsten Theologen des deutschsprachigen Raumes, während in der Grafschaft Wied kein bedeutender Theologe mehr wirkte, nachdem der vormalige Kölner Erzbischof Hermann V. von Wied verstorben war. Auch dieser Umstand verdeutlicht, dass mangels eigener theologischer Fachkräfte ein Rückgriff auf die kurpfälzische Kirchenordnung angezeigt war. Auch spätere Kirchenordnungen legen diesen Schluss nahe. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die Pfälzische Kirchenordnung findet sich z.B. in Tit. I, Art. 2 der Wied-Runkel´schen Kirchen- und Polizeiordnung von 1616, wonach neben anderen ordinationes der Vorgänger „dieselb in dießen unsern Grave- undt Herschafften angenommen undt biß dahero gehaltten“ wurde und die Lehrer und Prediger sich auch in Zukunft „denselben undt anderen christlichen ordnungen […] gemeß verhalten undt conformiren sollen346“. Insgesamt überwogen wohl externe Einflüsse, so dass von einer eigenständigen Kirchengesetzgebung daher zu diesem Zeitpunkt noch kaum die Rede sein kann.
b. Herborner Synode von 1586 Ein wichtiges Ereignis in der wiedischen Kirchengeschichte ist die bereits erwähnte Herborner Synode. Sie stellt den Versuch dar, die Kirchenverfassung in den vier Wetterauer Grafschaften Nassau, Solms, Sayn und Wied zu koordinieren und eine „über Landes- und Herrschaftsgrenzen hinausgehende presbyterial-synodale Kirche“ zu schaffen347. Insbesondere Caspar Olevian verfolgte dieses Ziel348. Auf Intervention des Herborner Theologen waren lediglich Theologen zu dieser Synode eingeladen349, so dass es wenig überrascht, wenn der Grundcharakter der erarbeiteten Kirchenverfassung stark 344 345 346 347 348 349
Abgedruckt bei: Aemilius Ludwig RICHTER, Die evangelischen Kirchenordnungen des sechzehnten Jahrhunderts, Zweiter Band, Nieuwkoop 1967, S. 257 ff. HASHAGEN rheinischer Protestantismus (Fn. 78), S. 3 f.; LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 71; PRESS Calvinismus (Fn. 40), S. 246. Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 493. JACOBS Kirchenordnungen (Fn. 123), S. 267. SUDHOFF Olevinaus und Ursinus (Fn. Fn. 12), S. 562. MÜLLER Olevian (Fn. 13), S. 78; MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 93.
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synodal ausgeprägt war. Olevian war in der Kurpfalz bei der Erarbeitung der Kirchenzuchtsordnung von 1570350 mit seinen Plänen, eine Kirchenverfassung mit starken synodalen Elemente einzuführen, an Thomas Erastus351 und den Befürwortern einer landesherrlichen Kirchenverfassung gescheitert und versuchte nun, dieses System in den Wetterauer Grafschaften zu etablieren. Positionen der Landesobrigkeit wurden infolgedessen kaum berücksichtigt. Deutlich wird diese Prägung gerade im Zweiten Teil der Herborner Kirchenverfassung „Von den Konventen und deren Unterteilung“352, in welchem unterschieden wird zwischen Konventen des Presbyteriums, den Klassenkonventen, Teil- und Provinzialkonventen und der Generalsynode (Art. 20), die ihre Legitimation jeweils von der darunter liegenden Ebene beziehen (Art. 28). Ob diese Synodalverfassung jemals in der Grafschaft Wied eingerichtet wurde, lässt sich anhand der vorliegenden Akten nicht mehr feststellen. Für 1588 wurden jedoch alle Pfarrer und Sendschöffen zu einer wiedischen Synode eingeladen353, so dass zumindest formal ein solcher Versuch unternommen wurde. Im Untersuchungszeitraum finden sich indes keine Hinweise darauf, dass sich synodale Strukturen entwickelten. Auch wenn Predigerkonvente354 und Versammlungen der Presbyterien355 stattfanden, waren diese jedoch mit geringen Kompetenzen ausgestattet. Alle wesentlichen Entscheidungen fällte die Landesherrschaft selbst. Lediglich in der Grafschaft Nassau-Dillenburg etablierte sich – wohl zurückzuführen auf nahe verwandtschaftliche und politische Beziehungen – ein an den Niederlanden orientiertes Modell synodal-presbyterialer Strukturen356. In den übrigen Grafschaften wie auch in Wied muss bereits im 17. Jahrhunderts ein Schwenk hin zu einer eher landesherrschaftlichen Kirche erfolgt sein. Ein Beleg für diese These wird bei der näheren Untersuchung der folgenden Gesetzgebung und der Konsistorialrechtsprechung erbracht werden. 350 351
352 353
354 355 356
Dazu: PRESS Calvinismus (Fn. 40), S. 247 f. Dazu: Robert C. WALTON, Der Streit zwischen Thomas Erastus und Caspar Olevian über die Kirchenzucht in der Kurpfalz in seriner Bedeutung für die internationale reformierte Bewegung, in: Sonderdruck aus Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, Jahrgang 1988/89, S. 205-246; SUDHOFF Olevinaus und Ursinus (Fn. Fn. 12), S. 342. JACOBS Kirchenordnungen (Fn. 123), S. 274. SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 460 f.; lediglich für die Jahre 1592 und 1593 lassen sich Protokolle nachweisen, so dass davon auszugehen ist, dass sich synodale Strukturen nicht etablieren konnten. EKiR Archiv Wied Nr. 98. LHA 630/100 Nr. 90, 207. SCHMIDT Glaube – Herrschaft – Disziplin (Fn. 48), S. 209.
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c. Kirchenzuchtordnung von 1590 Die erste erhaltene wiedische Kirchenordnung wurde am 7. Oktober 1590 bekannt gegeben357 und entstand auf Veranlassung des Grafen Hermann I. zu Wied. Nach einer längeren Vorrede, in welcher Graf Hermann auf seine Beweggründe näher eingeht, orientiert sich der Aufbau dieses Gesetzeswerkes – wie auch bei anderen Kirchenordnungen üblich – am Dekalog358. In den Gesetzesmotiven wird zunächst darauf eingegangen, dass die Menschen in der Niedergrafschaft „mit kriegen und uberfallungen spanischen, unbekanten, frembden kriegsvolcks, unerhorerter tyranney, morden, rauben, brennen, verhegen, spannen, fangen, schenden weib und kinder und unmenschlicher marterung man- und weibsbilderer“ für ihre bisherige Sittenlosigkeit bestraft werden sollten359. Zusätzlich litt die Grafschaft am Ende des 16. Jahrhunderts an „negst und von stundt an ervolgter zweiter straff der Pestilentz und sterbens zeit […] und zur dritten straff hinzugeschickter unerhörter und langwiriger deuerung“. An dieser Motivlage wird ein Glaubensverständnis deutlich, das Unheil als Ausdruck göttlichen Zorns deutet360 und den Auftrag des Landesherrn darin sieht, diese abzuwenden. Die verstärkte Beachtung der Kirchenzucht sollte zur Sühne der Untaten der Vergangenheit und der Verhinderung neuerlichen Strafen Gottes durch die neue Sittenstrenge führen. Damit entspricht dieses Motiv dem calvinistischen Begründungsmodell der Kirchenzucht361. Die Sendschöffen werden in ihrer Funktion als obrigkeitsstaatliche Kontrollorgane angesprochen, wobei ihre Aufgabe darin besteht, „uf eines yeden leben und wesen des orts,[…], ufsicht zu haben, die ohntaten und unchristlichen wandel in notam zu nehmen, dem kirchendiener des orts anzuzeigen“ und die Übertreter nach Maßgabe der Kirchenzuchtsordnung zu strafen. Es fällt dabei ins Auge, dass – wohl in Anlehnung an die Konzeption der Kurpfälzischen Kirchenordnung von 1563 – das Sanktionssystem parallel als Kombination geistlicher und weltlicher Strafelemente ausgestaltet ist. Bei357 358
359 360
361
SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 469 ff. Vgl. Nassau-Catzenelnbogische Policey-Ordnung von 1615; in: Bernd PLAUM, Strafrecht, Kriminalpolitik und Kriminalität im Fürstentum Siegen 1750-1810, Sankt Katharinen 1990, S. 84 ff. SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 469. Dazu: Mathias SCHMOECKEL, Fragen zur Konfession des Rechts im 16. Jahrhundert am Beispiel des Strafrechts, in: Irene DINGEL/ Wolf-Friedrich SCHÄUFELE, Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit,Mainz 2007, S. 168 ff. ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), S. 37.
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spielsweise sollen „Gotzendiener, die Bylder verehren“ und „item die mit schwartzen kunsten, zauberey […] umgehen […] in der Gemein nicht geduldet , aber nach gethaner buß und verheißener beßerung vor 1 reder gulden gestrafft werden“. Im Wesentlichen werden Geldstrafen angeordnet, wobei die Kirchenbuße zur Besserung und Wiedereingliederung des Sünders in die Kirchengemeinde in der Regel hinzutritt. Bereits in dieser frühen Ordnung deuteten sich somit die kompetenzrechtlichen Überschneidungen an, die zur Zwitterstellung der Kirchenzucht zwischen Kirche und Staat führten. Während das dogmatische Konzept der Kirchenzucht ausschließlich auf das Mittel der Überzeugung zurückgriff, wurden die Maßnahmen durch Hinzutreten einer weltlichen Strafe ihres ausschließlich geistlichen Charakters entkleidet362.
d. Kirchenordnungen von 1600 und 1616 Die Kirchenordnungen von 1600 und 1616363 waren in ihrem Geltungsbereich auf das Amt Dierdorf und die Herrschaft Runkel beschränkt. Da sie erst nach der Landesteilung erlassen worden waren, hatten sie als Gesetze keine Auswirkungen auf die Niedergrafschaft. Wichtig für die Fortentwicklung der gesamten Grafschaft war jedoch die Errichtung zweier Konsistorien in Dierdorf und Runkel364, weil insoweit der Obergrafschaft eine Vorbildfunktion zukam. Den Entwicklungsvorsprung, den die Grafschaft Wied-Runkel zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Fragen der Kirchenpolitik hatte, büßte sie erst im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte nach Gründung der Stadt Neuwied ein. Dies wird besonders deutlich an der Kirchenordnung von 1683.
e. Kirchenordnung von 1643 Vor dem großen Gesetzgebungswerk von 1683 erging zunächst am 4. Februar 1643 eine allgemeine Kirchenordnung365, die noch unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges die Bemühung erkennen lässt, die kirchlichen Strukturen in der Grafschaft Wied-Neuwied wiederherzustellen. Ihr Regelungsgehalt erschöpft sich in einem Appell an die Pfarrer und der Anordnung, dass „die üblichen Pfarr=Visitationen wieder gehalten und angestellt werden sollen“. Die Untertanen wurden allgemein an den Kirchgang und den 362 363 364 365
LEITH/GOERTZ TRE XIX (Fn. 242), S. 181. SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 477 ff., S. 493 ff. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 195. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 4.
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sonntäglichen Religionsunterricht erinnert und den Synodschöffen wurden ihre zentralen Pflichten vor Augen geführt. Die Kirchenordnung von 1643 verdient daher kaum ihre Bezeichnung, weil sie die kirchlichen Verhältnisse nicht umfassend regelt. Sie bleibt rudimentär, wobei dieser Umstand wohl dem noch andauernden Krieg geschuldet ist. Das Provisorium wurde erst vierzig Jahre später beendet.
f. Kirchenordnung von 1683 Umfassend kodifizierend wirkt erstmals die Wied-Neuwiedische Kirchenordnung von 1683. Nach der Stadtgründung von Neuwied dreißig Jahre zuvor und dem Toleranzpatent von 1662 ergab sich für Graf Friedrich III. die Notwendigkeit, seine konfessionell-heterogene Grafschaft einer kirchenrechtlichen Neuorientierung zu unterziehen. Es gab zwar immer schon in der Grafschaft Wied-Neuwied eine geringe Anzahl Katholiken, allerdings warb man nun gezielt um Andersgläubige, so dass eine rasche Steigerung des Anteils nichtreformierter Einwohner zu erwarten war. Den vormaligen Vorbildern Kurpfalz und der Grafschaft Nassau-Dillenburg konnte nun nicht mehr vollständig gefolgt werden, weil diese sich nicht in die gleiche Richtung entwickelt hatten und infolge des Dreißigjährigen Krieges an Strahlkraft verloren hatten. Konkreter Anlass für den Erlass der Kirchenordnung war jedoch, dass die bisherigen Maßnahmen und Regelungen zur Verbesserung der Sittenzucht – wie dies in der Regel der Fall war – anscheinend unzureichend Beachtung gefunden hatten. Graf Friedrich III. stellt aus diesem Grund dem Paragraphenwerk die Bemerkung „Du schlägst sie, aber sie fühlen es nicht; du plagest sie, aber sie bessern sich nicht; sie haben ein haerter Angesicht dann ein Fels und wollen sich nicht bekehren366“ nach Jer. 5, 3 voran. Die Publikation sollte durch den jeweiligen Pfarrer eines Kirchspieles „alle Quartal einmal […] von der Canzel zu mehrer Erinnerung“ erfolgen, Teil I § 12 KO 1683. Allein das Verfahren war nun weitaus formalisierter. Es war auch nicht mehr die Furcht vor Strafe Gottes, die die Motivlage bestimmt, sondern die unzureichende Beachtung der Kirchenzucht. Der Landesherr zeigte sich somit eher als treu sorgender Landesvater, der um das geistliche Wohl seiner Untertanen besorgt war. Die Kirchenordnung gliedert sich in zwei Teile, von denen der erste die Aufgaben der Pfarrer, die 1683 noch sämtlich der reformierten Konfession als religio dominans angehörten, sowie Regelungen hinsichtlich der inneren 366
SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 18.
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Organisation eines Kirchspiels enthält. Der zweite Teil weist dahingehend eine Besonderheit auf, dass sich die Kirchenordnung an alle Untertanen – gleich welcher Konfession – richtet367. Dabei wird eines der zentralen Anliegen direkt zu Anfang in Teil II § 1 genannt, wonach die Obrigkeit allen Untertanen befiehlt, „das sie sich von Abgötterey, Götzen- und Bilder-Diensten, Verlöbniß zu Heiligen oder Heiliginnen, Seegnerei der Kräuter, des Viehes, der Menschen, der Krankheiten oder Waffen-Beschweren, Aberglauben, vor Taufelsbanner- und Wahrsager-Rath fleißig versehen und hüten sollen“. Schon 1683 hatten Katholiken in der Grafschaft gelebt und auch sie wurden dieser Regelung unterworfen, zumal befürchtet wurde, dass ihr Einfluss mit zunehmender Einwanderung steigen werde. Die umfassende Darstellung der folgenden verschiedenen Tatbestände lässt darauf schließen, dass trotz nunmehr über hundert Jahren, die seit Einführung des evangelisch-reformierten Bekenntnisses vergangen waren, vorreformatorische Sitten und Gebräuche noch weit verbreitet waren. Der Bekämpfung papistischer Umtriebe widmet sich die Ordnung daher umfassend. Die Androhung von Geld- oder Leibesstrafen rundet das Bild ab. Neben diesem zentralen Anliegen beinhalten die Regelungen eine Anzeigepflicht bei gotteslästerlichen Flüchen, Teil II § 2 KO 1683 sowie eine Erweiterung des Meineid-Tatbestandes, Teil II § 3 KO 1683. Sehr viel Wert wurde in den evangelisch-reformierten Kirchenordnungen zudem auf die Beachtung des vierten Gebots gelegt: Getreu dem Heidelberger Katechismus, der in seiner 103. Frage postuliert, dass der Gläubige „sonderlich am Feiertag, zu der Gemeinde Gottes fleißig komme, das Wort Gottes zu lernen, die heiligen Sakramente zu gebrauchen, den Herrn öffentlich anzurufen und das christliche Almosen zu geben368“, beinhaltet die wiedische Kirchenordnung von 1683 besondere Strafvorschriften für den Schutz des Sonntags. So ordnet Teil II § 4 KO 1683 an, dass „die Entheiliger […] nechst Erwartung Gottes zeitlicher und ewiger Straff […] mit arbitrari Geldstraff beleget, oder auch wohl gar mit dem Thurm oder Halß=Eisen gestraft werden“. Erneuert wurde diese Regelung explizit für die Stadt Neuwied durch eine Verordnung vom 4. Mai 1709369. Diese recht martialisch anmutende Regelung war durchaus keine wiedische Eigenart, sondern lässt sich in ähnlicher Form in anderen Kirchenordnungen nachweisen. Eine Verordnung der Regierung der Grafschaft Solms-Braunfels vom 15. Oktober 1714 zielte 367 368 369
LÖHR Neuwied (Fn. 72), S. 37. ERZIEHUNGSVEREIN Der Heidelberger Katechismus in Anlehnung an die ersten Ausgaben von 1563, 7. Auflage Neukirchen-Vluyn 1962, Frage 103. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 51.
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beispielsweise darauf, die „durch Arbeits- und Gewerbebetrieb, so wie durch Schwelgerei und Sittenlosigkeit der Unterthanen bewirkt werdende, Entheiligung der Sonn- und Bettage für die Zukunft zu beseitigen370“. Detailliert werden in der wiedischen Kirchenordnung von 1683 im Folgenden Tätigkeiten wie Kartenspiel, Würfeln und Kegeln sowie Branntweintrinken und Tanzen bei Androhung „willkührlicher Thurm- und anderer Strafe, ja sogar mit Landesverweisung“ untersagt. Die sich anschließenden Regelungen wurden – jedenfalls lässt darauf die detaillierte Schilderung der zugrunde liegenden Sachverhalte schließen – angestoßen durch ein Ereignis, das Handlungsbedarf offenbarte: Auf den jährlichen Sonntags-Kirchmessen, wo „große Ueppigkeiten mit Saufen, Tantzen, leichfertigen Gesprächen, Gebehrden und Wercken vorgingen“, war es „zu mehrmalen Mord und Todtschlag“ gekommen, Teil II § 5 KO 1683. Historisch belegen lassen sich diese Ereignisse nicht. Belegt ist lediglich für die Dörfer Honnefeld, Alsbach, Grenzhausen, Dreifelden, Selters, Nordhofen und Rückeroth, dass sich solche TanzKirchmessen abgespielt haben. Gleichwohl wird an dieser Stelle wiederholt der Doppelcharakter der kirchenrechtlichen Regelungen deutlich, die sowohl der öffentlichen Ordnung wie auch religiös-erzieherischen Zielen dienten371. Thematisch ähnlich einzuordnen ist Teil II § 22 KO 1683, der Fastnachts-, Mai und Pfingsttänze, Lehnsausrufen und ähnliche Festlichkeiten verbietet. Beide Maßnahmen spiegeln formal betrachtet das strenge calvinistische Sittenverständnis wider. Der regelmäßige Kirchgang sowie der sonntägliche KatechismusUnterricht sind Gegenstand der nun folgenden Paragraphen 6 bis 16 KO 1683 und schließen damit systematisch an Teil II § 4 KO 1683 an. Auch darin wird an Ereignisse angeknüpft wie beispielsweise an den Weinausschank durch einen Wirt während der Predigt, Teil II § 8 KO 1683; herumtobende Hunde während des Gottesdienstes, Teil II § 12 KO 1683 und „ärgerliche[r] Schläffer“, Teil II § 13 KO 1683. Systematisch nur schwer einzuordnen sind die in Teil II enthaltenen §§ 17, 18 KO 1683372, weil sie eher familienrechtliche beziehungsweise öffent370 371 372
SCOTTI Gesetzessammlung III (Fn. 289), Solms-Braunfels, S. 1120. Zu dieser Thematik eingehend: Helga SCHNABEL-SCHÜLE, Kirchenzucht als Verbrechensprävention, in: SCHILLING (Fn. 30), S. 49-64. „§ 17 Wann Kinder ihren natürlichen Eltern oder Vormünder sich mit Worten oder Werken ohngehorsamlich widersetzen würden, sollen von den Sundscheffen angebracht und zufolg an ihren Leibern gestrafft werden. § 18 Eben diesen Verstand hatt´s auch mit allen Vorgesetzten, als Obrigkeiten, Lehrern und Predigern, Kirchen=Aeltesten, Schulmeistern, Handwerksmeistern; welcher Unterthan, Pfarrkind, Schüler oder Lehrjung übel von solchen reden, sie mit Worten
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lich-rechtliche Wirkungen bezwecken. Auch wenn die Obrigkeit in der protestantischen Kirche insgesamt eine starke Stellung einnahm, blieb der eigentliche Bezug zur Kirchenordnung darauf beschränkt, dass die Sendschöffen für die Verfolgung zuständig waren und die beigetriebenen Geldstrafen dem Almosenstock der Gemeinde zukamen. Breiten Raum nehmen die Vorschriften zum protestantischen Eherecht ein, die durch die Kirchenordnung von 1683 erstmals in der Grafschaft Wied-Neuwied kodifiziert wurden. Zuvor galten lediglich die allgemeinen protestantischen Eherechtsgrundsätze. Dabei fällt Teil II § 24 KO 1683 ins Auge, wonach „Catholische und Reformirte […] ohne […] expressen Consens und Vorwissen (der Obrigkeit) hinführo nicht mehr durch Verheirathung zusammen gegeben, sondern zu einer anderen Religion angehalten werden (sollen).“ Trotz des Toleranzpatents, das für alle nach 1648 anerkannten Konfessionen gelten sollte, wollte man offenbar familiäre Bande der Evangelisch-Reformierten in die umliegenden katholischen Territorien unterbinden. Auch hier zeigt sich also wieder, wie sehr die Kirchenpolitik der Grafen zu Wied von der Furcht bestimmt wurde, dass die beiden Kurfürsten in Trier und Köln Einfluss in ihrem Territorium gewinnen könnten. Die gleiche Zielrichtung liegt auch Teil II § 39 KO 1683 zugrunde, wonach „keiner seine Kinder zu widriger Religion aufzuziehen sich gelüsten lassen, wie auch an keine andre oerter als ihre ordentliche Kirchspielskirchen, worunter sie gesessen, zum h. Abendmahl gehen lassen (möge)“. Trotz Toleranz gegenüber anderen Konfessionen wurde an dem Ziel einer einheitlich evangelischreformierten Bevölkerung festgehalten. Die übrigen Regelungen befassen sich im Wesentlichen mit dem Schulbesuch der kirchspielsangehörigen Kinder. Auch hier fand nach dem Dreißigjährigen Krieg eine Neuorientierung statt, die den neuen Verhältnissen Rechnung trug. Sowohl Reformierte wie auch Katholiken und Lutheraner werden zum Besuch der Katechismuslehre gezwungen, Teil II § 41 KO 1683, womit ebenfalls auf die konfessionelle Homogenisierung hingewirkt werden sollte. Insgesamt stellt die Kirchenordnung von 1683 wohl eine Verschärfung gegenüber vorhergegangenen Regelungen dar, die erst aufgrund der Konsolidierung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse möglich war. Die oder Ungehorsam verunehren würde, soll mit arbitrarer Geld= und Leibes=Straff heimgesucht werden, und sonderlich, wann ein Pastor jemand in Sachen der Seel belangend, citiren wird und der Citirte aus Verachtung ausbleibt, soll jedesmahl umb einen halben Reichsthaler in den Allmosenstock gestrafft werden.“ aus: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 26.
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calvinistischen Ideen werden klar herausgestellt373. In Zusammenschau mit der Erweiterung des Toleranzedikts 1682 ergeben sich zwar Widersprüche hinsichtlich der Tolerierung der anderen Konfessionen, allerdings zeigte die Praxis, dass auch hier die Regelungen mitunter schärfer formuliert gewesen waren, als sie später durchgesetzt wurden.
g. Kirchenordnung von 1707 Auch bei der Kirchenordnung vom 4. Januar 1707 handelt es sich um eine umfassende Kodifikation. Sie geht maßgeblich auf den gräflichen Geheimrat Nyess374 und Johann Gerhard Melsbach375, den Pfarrer der evangelischreformierten Gemeinde Neuwieds, zurück376. Beide waren Mitglieder des Konsistoriums, so dass es nicht verwundert, dass dieser Kirchenbehörde eine sehr starke Stellung eingeräumt wurde. Beide waren auch Schüler der Hohen Schule Herborn, weswegen der calvinistische Geist dieser Einrichtung im Gesetzeswerk deutlich wird377. In Art. 4 KO 1707 findet sich eine zentrale Regelung, wonach der Heidelberger Katechismus der ausschließlich anzuwendende ist. Die Vorschriften, die Liturgie und die Kirchendisziplin betreffen, wurden gegenüber der Kirchenordnung von 1683 zusätzlich verschärft und nehmen breiteren Raum ein. Veranlasst wurde die Novelle dadurch, „daß die Gottseligkeit […] beinechst zumahl zu Boden geschlagen [ist]378“. Es ist somit davon auszugehen, dass sich die sittlichen Zustände nicht signifikant gegenüber 1683 verbessert haben, wobei ein konkreter Grund nicht erkennbar ist. Vom Umfang her ergibt sich keine wesentliche Änderung, auch wenn man darauf verzichtete, eine Zweiteilung vorzunehmen. Die 67 Artikel lassen jedoch diesmal ein weitaus systematischeres Vorgehen erkennen, was dafür spricht, dass sich die Verwaltungsstrukturen weiter verfestigt haben und Juristen an der Ausarbeitung beteiligt waren. Erstmals wird zudem festgeschrieben, dass „alljährlich einmal der zeitliche Inspektor, mit Zuziehung zweier Geistlichen als Moderatoren, 373 374 375 376 377 378
Alfred Max GREISER, Die Entwicklung des Neuwieder Schulwesens, Köln 1929, S. 4. Gerhard Clemens Nyess war in den Jahren 1707 bis 1736 Geheimer Rat und amtierte seit 1716 als Premierminister, vgl. GENSICKE Landesgeschichte (Fn. 81), S. 516. Johann Gerhard Melsbach war 1707 bis 1723 Pastor in Neuwied; vgl. MEINHARDT Neuwied (Fn. 178), S. 371. VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 43. GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 9. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 41 f.
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Pfarr=Visitationen [zu] halten [sind], bei welcher gleichzeitig die Kirchen= und Armen=Rechnungen aller Gemeinden präsentirt und abgethan […] werden sollen“, Art. 5 KO 1707. Fanden vor 1707 nur sporadisch Visitationen statt, so erhöhte sich in den folgenden Jahren der Zugriff der Landesherrschaft auf die einzelnen Gemeinden, obgleich eine Lücke für die 1740er Jahre festzustellen ist379. Die Visitationstätigkeit ruhte häufig während des Krieges, so dass die Ursache für die fehlenden Visitationen möglicherweise im Österreichischen Erbfolgekrieg, der auch das Rheinland nicht unberührt ließ, zu suchen ist. Neuerungen erfolgten insbesondere im Bereich der so genannten Ältesten oder Presbyter. Scheinbar wurde hier ein neues Amt geschaffen, das jedoch bei näherer Betrachtung schon vor 1707 existiert hatte. Dies verdeutlicht eine Regelung, die auf die bisherige Wahlpraxis in Neuwied hinweist, wo „von den 4 Kirchen=Aeltesten jährlich einer abgehet und ersetzt wird“, Art. 6 KO 1707. Dabei sei darauf hingewiesen, dass der Begriff „Sendscheffe“ durch „Kirchenälteste“ ersetzt wurde. Funktional besteht insoweit kein Unterschied. Einen ersichtlichen Grund für die Neubezeichnung gibt es nicht, wobei ein Erklärungsansatz sein könnte, dass man dieses Amt auch begrifflich von der vorreformatorischen Sendgerichtsbarkeit380 lösen wollte. Bereits an dieser Stelle wird wiederum deutlich, dass auch die zweite große Kirchenordnung der Grafschaft Wied-Neuwied für mehrere Konfessionen galt. Der Zugriff auf die beiden anderen Konfessionen wurde dadurch intensiviert, dass ihnen vorgeschrieben wurde, (Kirchen-)Älteste zu wählen. Diese Regelung, die sich gerade mit der katholischen Kirchenverfassung kaum vereinbaren ließ381, führte zu starkem Protest der Katholiken in der Grafschaft. Schließlich waren diese quasi Diener zweier Herren, weil sie einerseits als weltliche Untertanen dem Grafen verpflichtet waren, andererseits aber auch dem Erzbischof in Trier als kirchlichem Oberhaupt382. Dieser Konflikt spitzte sich soweit zu, dass sich die katholische Gemeinde gezwungen sah, Beistand bei den Kurfürsten von Köln und Trier sowie beim Kaiser zu erflehen383. 379 380
381 382 383
FWA 64-3-14, Visitationsprotokolle 1556 ff.; EKiR Archiv Wied Nr. 6, Kirchenvisitationen 1691-1769. Sendgericht bezeichnet das kirchliche Sittengericht, das im Mittelalter durch die Diözesen zog und in den Pfarreien Verstöße gegen Zucht und Sitte mit Bußen belegte; vgl. Hans-Jürgen BECKER, Send, Sendgericht, in: Adalber ERLER/ Ekkehard KAUFMANN, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, IV. Band, 31. Lieferung, Berlin1989, S. 1630. VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 43. VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 21. VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 18 ff.
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Eine dauerhafte Lösung des latenten Konflikts fand sich jedoch erst mit der paritätischen Gleichstellung der Katholiken im Königreich Preußen nach 1815. Die Bekämpfung des Aberglaubens scheint auch noch Anfang des 18. Jahrhunderts einen breiten Raum einzunehmen, denn ähnlich wie Teil I § 1 KO 1683 listet Art. 13 KO 1707 im Wesentlichen die schon angesprochenen Tatbestände auf. Art. 14 ff. KO 1707 befassen sich wiederum mit der Heiligung des Sonntages, bringen aber gegenüber 1683 kaum eine Fortentwicklung, sondern sind – wenn überhaupt ein signifikanter Unterschied entdeckt werden kann – eine Verschärfung der Ausgangsregelungen. In Art. 25 ff. KO 1707 finden sich die zentralen Vorschriften zur Eheschließung. Auch hier wurde das Verfahren offenbar formalisiert: Denn die Voraussetzungen für eine Eheschließung werden nun detailliert aufgelistet, und das erforderliche Proklamationsverfahren wird geschildert. Es lässt sich konstatieren, dass der Zugriff auf die beiden Minderheits-Konfessionen intensiviert wurde, weil diese ihre Eheproklamationen in der evangelisch-reformierten Pfarrkirche von Neuwied vornehmen lassen mussten384. In Art. 37 bis 41 KO 1707 wird der Ablauf einer Taufe thematisiert, wobei – für reformierte Territorien typisch – die gewöhnlichen Kindtaufs-Schmäuse verboten werden. Heraus sticht hingegen eine Regelung, welche die religiöse Erziehung der Kinder zum Gegenstand hat. Gemäß Art. 41 KO 1707 müssen die ehelichen Kinder von evangelisch-reformierten Müttern und evangelisch-lutherischen oder römisch-katholischen Vätern konfessionell gebunden erzogen werden, und zwar die Töchter in der Konfession der Mutter, also evangelischreformiert und die Söhne in der des Vaters. Zugleich wird ein Eheverbot für Verlobte verschiedener Konfessionen ausgesprochen385. Dass es jedoch an der Durchsetzung dieses Verbotes mangelt, wurde bereits von Zeitgenossen festgestellt. In seiner „Deduction über die Religionsverhältnisse in Neuwied“ konstatierte Kanzleidirektor von Fischer bereits 1777, dass „dieses seit langen Jahren nicht mehr in usu (ist), und es findet sich nicht, daß diese Verordnung jemals in Usu gewesen.386“ 384
385 386
Art. 33 KO 1707: „Da in der Stadt Neuwied die reformirte Religion die herrschende, und deren Kirche die Hauptpfarre ist, so müssen alle Eheproklamationen, auch die der evangelisch=lutherischen und römisch=katholischen Gemeindeglieder, in der reformirten Pfarrkirche bewirkt und die erforderlichen Dimissorialien von dem zeitlichen Prediger, gegen eine Gebühr von ½ Flor., erworben werden.“; in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 45 f. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 47. FWA 65-10-16; Deduction des Kanzleidirektors v. Fischer, § 13.
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Die Kirchenordnung von 1707 kann wohl insgesamt als Rückschritt in der Toleranzpolitik gewertet werden, weil Katholiken und Lutheraner verstärkt dem landesherrlichen Kirchenregiment unterworfen wurden. Hinsichtlich der Kirchenzucht ergaben sich keine Neuerungen, wobei festzuhalten ist, dass die regelmäßigen Kirchenvisitationen mit dem Ziel der Überwachung der einzelnen Kirchspiele wieder aufgenommen wurden. Die Rolle der Presbyterien wurde zwar, oberflächlich betrachtet, gestärkt, es zeigt sich aber, dass insbesondere die Position des Konsistoriums aufgewertet wurde. Die Tendenz zur Konzentration von Befugnissen bei einer Landeskirche wurde verstärkt387.
h. Verordnung zur Kindererziehung von 1739 Eine besondere Anordnung, die auf den ersten Blick wenig mit einer toleranten Kirchenpolitik zu tun hat, erging Anfang des Jahres 1739 und damit zu einer Zeit, in welcher der spätere Fürst Johann Friedrich Alexander außer Landes weilte und die Landesregierung von seinem Bruder ausgeübt wurde. Um die Stellung der reformierten Konfession als religio dominans abzusichern, wurde den anderen Konfessionen im Rahmen der Kindererziehung der Kampf angesagt. Die zentrale Regelung lautet: „Als […] allen Ehren Pastoribus und Beamten im Lande hiermit nachdrücklichst aufgegeben, sich vermög Deren ihnen ohnedem obliegenden theuren Pflichten, ein so heilsames Werk höchstens angelegen seyn zu lassen, und dahin alles Ernstes bedacht und beflissen zu seyn, damit die Kinder sämtlicher Landes=Unterthanen in der Evangelisch-Reformierten Religion erzogen, und unterwiesen werden mögen, folglich sich zu keiner andern als deren alleinig zu bekennen, des Endes dann Sorge zu tragen, daß sothane Eltern ihre Kinder frühezeitig zur Reformierten Schule halten, keine andere als darin übliche Bücher gebrauchen, hiernechst auch die Eltern durch gütliche und überzeigende Vorstellungen dahin nachdrücklichst anmahnen, ihre Kinder zur Catechisation und Unterricht in der Evangelisch-Reformierten Lehre gebührend einzuschicken, […]388.“
Die Beamten und insbesondere die Pfarrer sollten demnach darauf achten, dass alle Kinder, gleich welcher Konfession die Eltern angehörten, in der reformierten Konfession erzogen werden. Bei Zuwiderhandlung drohte den 387 388
Vgl. Mathias SCHMOECKEL, Der Pastor als Richter? (im Erscheinen), S. 14. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 89.
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Eltern Strafe. Diese Verordnung fügte sich in die Tradition der Kirchenordnung von 1707 ein. Der Trend zu einem schärferen Kurs gegenüber den anderen Konfessionen wurde beibehalten. Das Ziel, ein konfessionell einheitliches Territorium zu schaffen, wurde noch nicht aufgegeben. Diese Verordnung scheint zunächst nicht in das Bild des vermeintlich aufgeklärten und religiös überaus toleranten Grafen Johann Friedrich Alexander zu Wied (1738-1791) zu passen. Dass diese dennoch erlassen wurde, mag daran gelegen haben, dass sich der Graf zunächst bei den Verhandlungen zum Wiener Frieden389 befand und die gräflichen Konsistorialräte weitgehend unbehelligt vorgehen konnten. Sie standen in der Tradition der Kirchenordnung von 1707 und sahen keinen Grund, den harten Kurs insbesondere gegen die Katholiken aufzugeben. Dass mit Johann Friedrich Alexander ein neuer Geist in der Grafschaft Wied-Neuwied Einzug hielt, zeigte sich allerdings noch im gleichen Jahr, indem er die lutherische Gräfin Carolina zu Sayn-Wittgenstein ehelichte und der Gemeinde der Inspirierten Zuflucht gewährte. Dieser neue Kurs, der die konfessionellen Verhältnisse in der Grafschaft langfristig modernisierte, musste auch Auswirkungen auf die Handhabung der Kirchenzucht haben. Um welche konkreten Auswirkungen es sich handelt, gilt es bei der Untersuchung der Konsistorialrechtsprechung dieser Zeit herauszufinden.
i. Verordnung zum Armenwesen von 1766 Ein Problem, das im Rahmen der Kirchenzucht jedoch nur eine Nebenrolle spielt, ist die Armenfürsorge. Da es sich um einen Bereich handelt, der zur protestantischen Kirchenverfassung gehört, soll an dieser Stelle darauf eingegangen werden. Anhand der Armenordnung vom 30. August 1766390 lässt sich verdeutlichen, wie die Strukturen der protestantischen Kirche auch in dieser Frage dem Staate dienstbar gemacht wurden. Nachdem im Zuge der Säkularisation die kirchliche Armenfürsorge weggefallen war, sahen sich die protestantischen Landesherrn in der Verantwortung, anstelle der Kirche im sozialen Bereich tätig zu werden391. Prinzipiell handelte es sich bei der Ar389
390 391
Dieser basierte zwar im Wesentlichen auf dem Präliminarfrieden von 1735, allerdings beendete erst der Wiener Frieden vom 18. November 1738 endgültig den Polnischen Erbfolgekrieg. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 183 f. Anja LOHMAR/ Roland SCHLÜTER, Unterhalt durch die Familie, Kirche und Staat, in: Mathias SCHMOECKEL/ Stefan STOLTE, Examinatorium Rechtsgeschichte, München 2008, S. 130.
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menfürsorge in der Grafschaft Wied-Neuwied um ein lokales Problem. Die Verantwortung für Ernährung und Versorgung der Armen lag bei den einzelnen Kirchspielen, vgl. § 1 VO 1766. Besonders desolat war auch in diesem Zusammenhang die Situation in den Waldkirchspielen. Ein undatierter Armutsbericht aus dem Kirchspiel Anhausen, belegt in Anhausen selbst zwei arme Familien, in Rüscheid vier und in Meinborn eine. Darüber hinaus „seýn zwarn nocht unterschiedliche Arme in sonsten im Kirchspiel die sich kümmerlich ernähren, dieße specificirte aber seýn die ienigen die sich von betteln und allmosen meistens erhalten müssen392“. Die Oberaufsicht über die Armenpflege, bei der Pfarrer, Schultheißen und Schöffen auf Ebene des Kirchspiels in der Verantwortung standen, übte ebenfalls das Konsistorium aus, § 2 VO 1766. Ein Anspruch auf Unterstützung durch das Kirchspiel stand nur den „wirklich Armen, nicht aber den durch Faulheit und Müssiggang in Armuth gerathenden Unterthanen“ zu. Die Almosenkasse, die weitgehend durch Spenden und Dispensationsgelder393 genährt wurde, beschränkte sich auf Geldleistungen. Im Übrigen wurden die Menschen weitgehend ihrem Schicksal überlassen394. Damit wurde auch hier ein Aspekt der reformierten Kirchenzucht verwirklicht, dass nämlich diejenigen, die auf Kosten der Gemeinschaft leben wollten, zur Arbeit angehalten wurden. Die Regelung passte daher auch in die merkantilistischen Bestrebungen des Grafen, der auf eine Begründung im Sinne seiner Funktion als Kirchenoberhaupt verzichtete. Ein Beispiel für einen „arbeitsscheuen“ Armen findet sich ebenfalls im Armutsbericht des Kirchspiels Anhausen: „Johannes Junck ein armer man, selbiger ist junck, könnte sein brod so er wollte und nicht zu faul wäre, wohl verdienen, ist auch reformiert gewesen aber papis395 tisch woren, darbeý der gemeinde Reuscheidt sehr verdrießlich .“
Daneben finden sich insbesondere Witwer und Witwen mit minderjährigen Kindern und überschuldete Bauern, die in dem Armutsbericht besonders erwähnt werden.
392 393 394 395
FWA 64-11-4, pag. 14; undatierter Armutsbericht aus dem Kirchspiel Anhausen. Dabei handelt es sich um Gelder, die im Falle einer Dispensation, entrichtet werden mussten. Vgl. LOHMAR/SCHLÜTER Unterhalt (Fn. 391), S. 131. FWA 64-11-4, pag. 14; undatierter Armutsbericht aus dem Kirchspiel Anhausen.
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4. Fazit Nach einer Phase der Orientierung an der bis Anfang des 17. Jahrhunderts politisch wie theologisch herausragenden Kurpfalz fand erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine kirchenpolitische Umorientierung in der Grafschaft Wied-Neuwied statt, wobei die erste große Kirchenordnung für WiedNeuwied erst nach einer Phase der Konsolidierung möglich war. Bis 1683 galt insofern noch die nicht mehr erhaltene Kirchenordnung von 1575. Die Neuregelung von 1683 zeugt auch davon, dass man verstärkt dazu überging, spezifische Umstände der Multi-Konfessionalität zu berücksichtigen, die spätestens seit 1653 gefördert wurde. Später entwickelte sich eine gegenläufige Bewegung, die dazu führte, andere Konfessionen zurückzudrängen mit dem Ziel, dem reformierten Bekenntnis die dominierende Stellung zu sichern. Erst unter Graf Johann Friedrich Alexander wurde in diesem Zusammenhang wieder maßvoller agiert. Das Presbyterium als Laieneinrichtung wurde bei der Synode von Herborn 1586 umfassend in der gesetzgeberischen Tätigkeit geformt, verlor aber – wie die geringe Beachtung in den nachfolgenden Kirchenordnungen zeigt – rapide an Bedeutung, auch wenn – in Unkenntnis der Kirchenordnung von 1575 – erst 1707 für alle Konfessionen verbindliche Regelungen eingeführt wurden. Das landeherrliche Kirchenregiment entwickelte sich zwar nur zögerlich und später als in anderen großen Territorialstaaten, was auf die unzureichenden Strukturen eines Kleinstaates zurückzuführen ist, allerdings erfolgte der Wandel wesentlich früher als in der Grafschaft Nassau-Dillenburg oder in den niederrheinischen Herzogtümern. Die Kirchengesetzgebung in der Grafschaft Wied-Neuwied endet faktisch mit der Kirchenordnung von 1707. Danach ergingen nur noch einzelne Anordnungen, die das Kirchenrecht im Wesentlichen unangetastet ließen. Zudem berief sich die Landesobrigkeit nicht mehr auf ihr Amt als Kirchenoberhaupt, sondern erfüllte nach ihrem Verständnis landesväterliche Pflichten im Sinne des aufgeklärten Absolutismus. Die entscheidenden Veränderungen wurden nunmehr in der Praxis vorgenommen.
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V. Kanonisches Recht Inwieweit das kanonische Recht neben den evangelisch-reformierten Kirchenordnungen Anwendung finden konnte, kann und soll an dieser Stelle nicht umfassend erläutert werden. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass es gerade im Eherecht noch zahlreiche reformierte Staaten gab, in denen auf das kanonische Recht zurückgegriffen wurde396. Lediglich die Bezeichnung als kanonisches Recht wurde gemieden. In der Praxis wurden die einzelnen Regelungen des kanonischen Rechts auf ihre jeweilige Vereinbarkeit mit protestantischen Glaubensgrundsätzen hin untersucht, um so einen Mittelweg zu finden397, wobei die neue Naturrechtslehre im Rahmen der Auslegung verstärkt Berücksichtigung fand398. Auch methodisch knüpften die Theologen und Rechtsgelehrten an das vorreformatorische Recht an. Im Bereich der Fortgeltung kanonischen Rechts im protestantischen Kirchenrecht verbleiben viele offene Fragen, deren Beantwortung diese Arbeit nicht leisten kann und auch nicht zum Ziel hat. Hier erstreckt sich noch ein weites Betätigungsfeld für weitere rechtshistorische Forschungen im Bereich der evangelischen Kirchenrechtsgeschichte. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass der Übergang von der vorreformatorischen Papstkirche hin zum landesherrlichen Kirchenregiment vielfach nicht so fundamental war, wie er vor dem Hintergrund der konfessionellen Spaltung erscheinen mag.
396
397 398
SCHMOECKEL Verlorene Ordnung (Fn. 2), S. 239; Mathias SCHMOECKEL, Der Einfluß der Reformation auf die Kanonistik (im Erscheinen), S. 8; SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 103; ZEEDEN Konfessionen (Fn. 7), S. 89 f. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 86; SCHMOECKEL Kanonistik (Fn. 396), S. 13; WITTE Law and Protestantism (Fn. 205), S. 75. SCHMOECKEL Kanonistik (Fn. 396), S. 19 f.
B. Protestantisches Eherecht in Wied-Neuwied
I. Allgemeine Rechtsgrundlagen Ein Bruch mit der Tradition des kanonischen Rechts, der auch in der Rechtspraxis der Grafschaft Wied-Neuwied Niederschlag gefunden hat, lässt sich anhand des protestantischen Eherechts nachvollziehen. Fundamental für das Verständnis des protestantischen Eherechts ist der Umstand, dass die Ehe nach protestantischer Lehre ihren sakramentalen Charakter verloren hat399. Darin schlägt sich unmittelbar die Rechtsauffassung Luthers nieder, wonach die Ehe ein „weltlich ding400“ sei. Die Ehesachen wurden wegen der dennoch erforderlichen Einsegnung durch die Kirche zu so genannten „res mixtae“, so dass sie eine Zwitterstellung zwischen geistlichen und weltlichen Angelegenheiten einnahmen. Erst dadurch konnte es dazu kommen, dass die geistlichen Gerichte ihre ausschließliche Zuständigkeit auf dem Gebiet des Eherechts verloren und sukzessive staatliche Gerichte diese Aufgaben übernahmen. Gerade bei der Beurteilung der Konsistorialrechtsprechung verdient es daher besondere Beachtung. Dies gilt nicht nur wegen seiner praktischen Bedeutung für das Leben der einzelnen Bürger, sondern auch wegen der umfangreichen Regelungen, welche viele Kirchenordnungen im Eherecht trafen401. Es beinhaltet daher auch die für den Lebensalltag schwerwiegendsten Einschnitte, die dem protestantischen Kirchenrecht entnommen werden konnten. Die vom weltlichen Gesetzgeber erlassenen Regelungen in den Kirchenordnungen sollten zum Garanten der von Seiten der Obrigkeit erwünschten Sittlichkeit werden. Dieser Umstand lässt sich darauf zurückführen, dass die Reformation den Staat aus der starren Unterscheidung zwischen Weltlichkeit und Kirche herausgelöst hatte und dieser dadurch zum Träger
399
400 401
Emil FRIEDBERG, Recht der Eheschliessung in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1865, S. 177; WITTE Law and Protestantism (Fn. 205), S. 226 ff.; John WITTE Jr., Marriage Contracts, Liturgies, and Properties in Reformation Geneva, in: Philip L. REYNOLDS/ John WITTE Jr., To Have an To Hold, Cambridge 2007, S. 454. Martin LUTHER, Von den Ehesachen, WA 30, III, S. 205, Zeilen 12 ff. WILLOWEIT Expansion des Strafrechts (Fn. 18), S. 340; SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 125.
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der Sittlichkeit wurde402. Dies wird auch im Selbstverständnis der wiedischen Obrigkeit deutlich, die in den Präambeln der Kirchenordnungen auf das ihr anbefohlene Amt zur Wahrung der Sittlichkeit hinweist403. Der voreheliche Geschlechtsverkehr war in diesem Zusammenhang ein besonderes Ärgernis, das zum zentralen Gegenstand des protestantischen Eherechts werden sollte404. Vielfach fanden zwischengeschlechtliche Kontakte im Rahmen der in den ländlichen Gebieten üblichen Brautwerbungen statt405 – Bräuche, deren Bekämpfung auch durch die wiedische Obrigkeit mit nur mäßigem Erfolg betrieben wurde. Einen großen Missstand stellten in diesem Zusammenhang die so genannten „Spinnstuben406“ dar, die von der calvinistischen Sittenzucht zumindest in der Theorie verdammt wurden und streng verfolgt werden sollten. Diese weit verbreitete Form der Eheanbahnung, deren wesentlicher Zweck darin bestand, dass Unverheiratete beiderlei Geschlechts in geselliger Runde ohne Aufsicht einander kennen lernten, sollte im Zuge sittenpolizeilicher Verordnungen „entsexualisiert“ und auf die weibliche Arbeit und Geselligkeit beschränkt werden407. Gleichwohl kann man dieses Phänomen für die Grafschaft Wied-Neuwied vernachlässigen. Zwar enthält die Kirchenordnung von 1683 in Teil II § 23 ein Verbot der Spinnstuben, in den untersuchten Akten findet sich jedoch kein Hinweis, dass dieses Problem in der Praxis häufiger auftrat. Ob dieser Umstand darin begründet sein mag, dass im 18. Jahrhundert diese Form der Heimarbeit im Sinne des Gewerbefleißes befürwortet wurde408, lässt sich nur vermuten, weil
402 403
404 405
406
407 408
Josef BOHATEC, Calvin und das Recht, Feudingen 1954, S. 86; FRIEDBERG Recht der Eheschliessung (Fn. 399),S. 175. Vgl. Präambel der Kirchenordnung vom 24. September 1683, in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 18; Präambel der Kirchenordnung vom 4. Januar 1707, in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 41 f. Vgl. dazu die Beispiele unter I.I. Rainer BECK, Voreheliche Sexualität auf dem Land, in: Richard van DÜLMEN, Kultur der einfachen Leute, München 1983, S. 116; Silke GÖTTSCH, »…sie trügen ihre Kleider mit Ehren…«, in: Heike WUNDER/Christina VANJA, Weiber, Menscher, Frauenzimmer, Göttingen 1996, S. 201 ff. Spinnstuben waren Treffpunkte für ledige Frauen innerhalb eines Dorfes. Im Mittelpunkt stand die gemeinsame Handarbeit, allerdings dienten diese Treffen auch der Geselligkeit. Gegen Abend besuchten auch die ledigen Männer eines Dorfes gelegentlich diese Treffen, wobei es häufig zu ersten Annäherungsversuchen kam; ausführlich dazu: Hans MEDICK, Spinnstuben auf dem Dorf, in: Gerhard HUCK, Sozialgeschichte der Freizeit, Wuppertal 1980, S. 19-48. MEDICK Spinnstuben (Fn. 406), S. 26. MEDICK Spinnstuben (Fn. 406), S. 35.
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ebenso der Gedanke nahe liegt, dass im Zuge einer aufgeklärten Herrschaft von einer fanatischen Bekämpfung abgesehen wurde.
II. Copulationsrecht Das Copulationsrecht, also das materielle Eherecht in der Grafschaft WiedNeuwied, orientierte sich im Wesentlichen an den allgemeinen Prinzipien protestantischen Eherechts. Grundsätzlich erfolgte die Eheschließung bereits durch die vorherige Verlobung409. Demgemäß war schon für die Auflösung eines Verlöbnisses die Durchführung einer Scheidung im Rahmen eines Ediktalverfahrens erforderlich410. Die kirchlich begangene Trauung war insofern nur Vollstreckung des Verlöbnisses411. Dem Verlöbnis fehlte hinsichtlich der ehelichen Lebensgemeinschaft zunächst jedoch jegliche positive Wirkung412. In der Bevölkerung war dieses Prinzip jedoch nicht sehr tiefgehend verankert, zumal ein Unrechtsbewusstsein bei Zuwiderhandlungen nur begrenzt vorhanden war. Es verwundert daher nicht, wenn der voreheliche Geschlechtsverkehr unter Verlobten zu einem zentralen Problem in protestantischen Territorien avancierte413. Um heimliche Verlöbnisse weitgehend auszuschließen, war bereits im Zeitpunkt des Verlöbnisses der elterliche Konsens erforderlich414, wenngleich dieses Prinzip der Öffentlichkeit in den Kirchenordnungen unterschiedlich gehandhabt wurde415. Fehlte die Zustimmung der Eltern war die Eheschließung nach verbreiteter Ansicht nichtig416. Erst im 18. Jahrhundert wurde der reformatorische Ansatz einer die Verlobung nur noch vollziehenden Ehe vereinzelt unter dem Einfluss des Natur409
410 411 412 413 414 415 416
FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 183 f.; Rudolph SOHM, Das Recht der Eheschliessung aus dem deutschen und canonischen Recht geschichtlich entwickelt, Weimar 1875, S. 197; WITTE Law and Protestantism (Fn. 205), S. 234. Benedikt CARPZOV, Jurisprudentia ecclesiastica seu consistorialis, neue Ausgabe, Leipzig 1708, Lib. III, Tit. V, Definit LVII. SOHM Recht der Eheschliessung (Fn. 409), S. 253. SOHM Recht der Eheschliessung (Fn. 409), S. 208. EKiR Archiv Wied Nr. 6; Berichte zur geplanten Revision der Kirchordnung durch die Pfarrer Caesar, Desevre und Muzelius vom 12. Dezember 1725, Nr. 12. WITTE Marriage (Fn. 399), S. 457. SOHM Recht der Eheschliessung (Fn. 409), S. 206; zur Situation in der Grafschaft Wied-Neuwied unter F.III.2. WITTE Law and Protestantism (Fn. 205), S. 235.
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rechts zugunsten des römisch-rechtlichen Grundsatzes „consensus faciat nuptia417“ aufgegeben418. Die Verlobung wurde zur bloßen Obligation herabgestuft und die Ehewirkungen vollständig von einer erfolgten Trauung abhängig gemacht. Dass dies jemals in der Grafschaft Wied-Neuwied Gesetz geworden ist, lässt sich nicht nachweisen. Die Untersuchung wird jedoch zeigen, dass sich die Rechtspraxis in Neuwied dieser Wandlung nicht entziehen konnte. Prinzipiell galten die Grundsätze des protestantischen Eherechts jedoch bis zum Untergang der Grafschaft Wied-Neuwied im Jahre 1806.
III. Copulationsverfahren 1. Grundsätze Im Folgenden soll nun auf einzelne Besonderheiten eingegangen werden, die verfahrenstechnisch und unter dem Aspekt der „guten Regierung“ für die Grafschaft Wied-Neuwied von Interesse sind. Aus dem im 16. und 17. Jahrhundert vorherrschenden Grundsatz, der die Verlobung bereits als vollgültige Eheschließung ansah, nach welchem aber erst die Trauung die positiven Ehewirkungen hinsichtlich der ehelichen Lebensgemeinschaft herbeiführte, entwickelte sich in der Grafschaft WiedNeuwied ein administratives „Copulationsverfahren“ (sic!), das im Folgenden kurz skizziert werden soll: Dabei entspricht das Verfahren im Wesentlichen den allgemeinen protestantischen Grundsätzen. In Wied-Neuwied wurden allerdings einige Aspekte besonders sorgsam überprüft, die hervorzuheben sind. Unterschieden wurde verfahrenstechnisch zwischen der Erteilung eines Copulations- und der eines Proklamationsscheins. Während ersterer die Gültigkeit eines Verlöbnisses bescheinigte, erlaubte nur der Proklamationsschein die Trauung durch einen Pfarrer. Dieser Regelungsansatz findet sich auch in §§ 27, 28 der wiedischen Kirchenordnung von 1707419 wieder, in der Proklamation und Copulation recht417
Vgl. Dig. 50,17,30. SOHM Recht der Eheschliessung (Fn. 409), S. 255 ff. 419 „§ 27 Die ohne Einwilligung ihrer Eltern, Vormünder oder nächsten Blutsverwandten sich zur Ehe Verlobenden, ohne Rücksicht ihres Alters und Standes, dürfen, vor der Beibringung des Heiraths=Consenses, desgleichen auch § 28 keine Ausländer vor der Nachweisung ihrer ehrlichen Geburt und Ehelosigkeit weder proklamirt noch kopulirt werden“; in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), WiedNeuwied, S. 45. 418
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lich einander gleich gestellt worden sind. Diese Regelung wurde durch Verordnung vom 1. Februar 1710 bestätigt, wonach vor einer Ehe-Proklamation oder Copulation die Anmeldung in der landesherrlichen Kanzlei erforderlich war. Zusätzlich mussten die finanziellen Verhältnisse dargelegt und die Zulässigkeit der Verlobung nachgewiesen werden420. Die wirtschaftliche Lage wurde somit zunehmend wichtig für die Erlaubnis, eine Ehe eingehen zu dürfen – ein Umstand, der in katholischen Gegenden weitaus weniger Beachtung fand421. Je nach Sachlage wurden diverse Stellen an der Erteilung eines für die Eheschließung erforderlichen „Copulationsscheins“ beteiligt, woran sich verdeutlichen lässt, dass selbst im verhältnismäßig kleinen Territorium Wied die Verwaltungstätigkeit im Bereich des Eherechts stark ausgeprägt war. Die Erteilung erfolgte nur aufgrund eines Antrages, der beim Konsistorium von dem zuständigen Sekretär aufgenommen wurde. Erster Ansprechpartner für Heiratswillige war aber immer der zuständige Ortspfarrer, der insbesondere in den Waldkirchspielen fernab von Neuwied das Verfassen einer entsprechenden Supplik an die Regierung übernahm. Die Einbindung des Ortspfarrers war jedoch auch sonst der Regelfall. Die wichtigsten Voraussetzungen einer Eheschließung wurden bereits vor Erteilung des Copulationsscheins überprüft, allerdings diente erst die Zeit zwischen beiden Verfahrensschritten dazu, mögliche Ehehindernisse zu konstatieren422. Dies erfolgte durch öffentliche Bekanntmachung des Verlöbnisses. Vor der Eheschließung musste gemäß § 32 KO 1707 die Proklamation „an drei verschiedenen Sonntagen vor der versammelten Gemeinde, und wenn die Verlobten zwei verschiedenen Kirchengemeinden angehören, in jeder der Letzteren geschehen, worüber die erforderlichen Dimissorialien produciert werden [mussten]423“. Danach wurde ein „Proklamationsschein“ ausgestellt. Für die Stadt Neuwied ist als Besonderheit hinzuzufügen, dass alle Eheproklamationen – unabhängig von der Konfession der Brautleute – in der reformierten Pfarrkirche zu erfolgen hatten, § 33 KO 1707. Dies war wohl zunächst dem Umstand geschuldet, dass diese Anfang des 18. Jahrhunderts in Neuwied die einzige Kirche war. Darüber hinaus wirkt sich hier noch das landesherrliche ius reformandi aus, weil es dem Landesherrn nach pro420 421 422 423
SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 53. Vgl. FRIEDBERG Recht der Eheschliessung (Fn. 399), S. 139 ff. SOHM Recht der Eheschliessung (Fn. 409), S. 215. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 45. Die Proklamation an drei aufeinander folgenden Sonntagen wurde bereits Mitte des 16. Jahrhunderts in Genf praktiziert und fand mit der Ausbreitung der calvinistischen Lehre Verbreitung; vgl. WITTE Marriage (Fn. 399), S. 459.
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testantischem Verständnis zustand, die Eheschließungen in seiner Funktion als Kirchenoberhaupt zu überwachen. Das Wiedische Konsistorium war sowohl für die Erteilung des Proklamations- als auch des Copulationsscheins zuständig und zwar unabhängig von der Konfession der Supplikanten424. Bereits hierin zeigt sich die allumfassende Zuständigkeit des Konsistoriums, die noch näher zu spezifizieren ist. Beizubringen war in jedem Fall der Nachweis einer ordnungsgemäß erfolgten Taufe durch den Pfarrer des Geburtsortes. Sofern die Supplikanten aus der Grafschaft stammten, stellte dies in der Regel kein Problem dar, weil das Führen eines Taufbuches in jedem Kirchspiel obligatorisch war425, auch wenn die Pfarrer dieser Pflicht mitunter nur unzureichend nachkamen. Aufgrund der Rheinlage der Stadt Neuwied kamen jedoch auch immer wieder Fremde in die Stadt, um sich quasi „auf der Durchreise“ trauen zu lassen. Anführen lässt sich beispielsweise eine Verheiratung dreier AuswandererPaare, die auf dem Weg nach Neuengland Station in Neuwied machten, um sich dort trauen zu lassen. In diesem Fall musste der schriftliche Nachweis durch eidesstattliche Versicherungen ersetzt werden426. Ebenso wurde mit Personen verfahren, die sich in Neuwied niederlassen wollten und den entsprechenden Nachweis nicht erbringen konnten. Das Fehlen eines möglichen Ehehindernisses, des so genannten impedimentum canonicum427, musste von den Supplikanten schriftlich nachgewiesen werden. Dieser Nachweis wurde ebenfalls anhand der Kirchenbücher in der Heimatgemeinde erbracht, wobei an dessen Stelle eine eidesstattliche Versicherung treten konnte. Etwas unregelmäßig wurde nach Lage der Akten das Erfordernis eines so genannten „Loosscheines“ gehandhabt. Der Loosschein wurde im Regelfall als Bestätigung der Ehelosigkeit von den Supplikanten verlangt. Entgegen der Anordnung in § 28 KO 1707 musste er nicht nur von Ausländern beigebracht werden, sondern auch von Einheimischen. Dabei wurde dieser Schein ebenfalls von dem jeweiligen Heimatpfarrer erteilt. Auch in diesem Fall war die Ersetzung durch eidesstattliche Versicherung möglich428. 424
425 426 427 428
FWA 65-10-16; Deduction des Kanzleidirektors v. Fischer, §§ 54, 112; eine Ausnahme galt nur für die in Neuwied ansässigen Mennoniten und Herrnnhuter, die aufgrund ihrer besonderen Privilegien in Fragen der Eheschließung recht autonom agieren konnten. Vgl. Teil I § 5 KO 1683; SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 20. FWA 95-3-2, pag. 127 ff. Zu den verschiedenen Eheverboten: Johann David MICHAELIS, Abhandlung von den Ehegesetzen Mosis, 2. Auflage Göttingen 1768. FWA 96-6-2, pag. 1 ff.
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2. Besondere Erfordernisse In bestimmten Konstellationen waren weitere Erfordernisse zu berücksichtigen: Bei der Verheiratung eines Soldaten wurde zusätzlich eine Stellungnahme des jeweiligen Compagnieführers eingeholt429. Diese sollte Auskunft darüber geben, ob der heiratswillige Soldat zukünftig in der Lage sein würde, seine Familie zu ernähren. Bereits in diesem Zusammenhang wird deutlich, welche zentrale Rolle die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bei Bewilligung einer Eheschließung in der Grafschaft Wied-Neuwied spielte. Die Militärführung trug jedoch regelmäßig keine Bedenken vor und legte auch keine allzu hohen Maßstäbe an die Genehmigung einer Ehe. Dies mag zunächst daran gelegen haben, dass auch militärisch die Eheschließung eines Soldaten mit einer Einheimischen positiv bewertet wurde, weil man davon ausgehen konnte, dass ein Soldat, der mit einer Einheimischen verheiratet war, eher davon abgehalten wurde, zu desertieren oder sich von einem anderen Heer anwerben zu lassen. Da sich das wiedische Militär ausschließlich aus Landeskindern rekrutierte, ist hierin wohl ein entscheidender Faktor zu sehen430. Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang stellt die Stellungnahme des Oberst Baron Bernhard Ulrich von Lützow431 vom 15. März 1751 zu einer erbetenen Eheschließung dar, in welcher er äußerst engagiert vorträgt: „Der Soldat und die Weibspersohn haben beyde nicht daß geringste an Vermöge, daß sie alßo auch nichts alsß Ihre ledige Persohnen zu Ihrer haushaltungsanfang zusammen bringen. Und man gewiß voraus sehen kann, daß es arm Leuthe, und deren erzeugende Kinder Bettelkinder werden müssen, zumahlen man den fleiß bey keinem verspühret. Zwarn so lange Er zu Diensten wozu er auch seine Profession machet, und sie keine Kinder bekommen, dörften sie sich noch so durchhalten, ob aber hiernechst wann die Erfoderniß größer sie dem Publico nicht zur last fallen. Daran zweifle auch nicht. Zudeßen seind sie nicht davon
429 430
431
FWA 95-3-1, pag. 1; FWA 96-1-6, 82 ff. Außerdem waren dem jeweiligen Kompanieechefs nicht nur die Soldaten selbst unterstellt, sondern auch ihre Ehefrauen und Kinder; vgl. FWA 105-28-15, Verzeichnis aller bey dem Hochgräflichen Militaire Köpfe und Seelen. Baron von Lützow war seit 1733 bei wiedischen Militär und Chef der 2. Kompanie; vgl. FWA 105-28-15, Verzeichnis aller bey dem hochgräflichen Militaire Köpfe und Seelen.
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abzurathen und wann man es Ihnen nicht erlaubt, so befürchte gar mögten auf und davon gehen. Mithin es gndster einfalt, unterthgst anheim stellen (sic!)432“
Nicht nur, dass die beiden Heiratswilligen momentan arm sind, ihnen wird zudem aufgrund fehlenden Fleißes eine negative Sozialprognose bescheinigt. Auch das Risiko für die Gesellschaft, der sie zur Last fallen würde, wird aufgezeigt. An dieser Stellungnahme wird deutlich, in welcher misslichen Lage sich die Grafschaft Wied-Neuwied befand: Eingekeilt zwischen zwei katholischen Kurfürstentümern war die Gefahr, dass man die mühsam angesiedelten Bürger der kleinen Grafschaft an einen der größeren Nachbarn verlor, immer präsent. Zudem suchten insbesondere preußische Werber stets in protestantischen Territorien nach auswärtigen Soldaten, um ihr Heer zu verstärken. Auch ein wirtschaftlich „wertloser“ Einwohner wurde deshalb, sofern er heiratswillig war, in der Grafschaft gehalten. Diese Argumentation wird auch dem Grafen selbst eingeleuchtet haben, weil letztendlich die Erlaubnis zur Heirat erteilt wurde. Besondere Regelungen galten auch für die als „Fabrique-Arbeiter“ bezeichneten Manufaktur-Angestellten, die beispielsweise am Rasselstein433 oder bei einem der anderen seit Mitte des 18. Jahrhunderts angesiedelten Betriebe beschäftigt waren, benötigten zur Erteilung des Copulationsscheins das Einverständnis ihres Vorgesetzen. Dieses wurde ebenso regelmäßig erteilt wie dies bei den Militärs der Fall gewesen ist. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Untertanen war auch insgesamt wichtig für die Erteilung eines Copulationsscheins. Zwischenzeitlich wurde sogar der Versuch unternommen, das Heiratsalter für Männer auf 25 Jahre zu erhöhen. In einer Verordnung zum Eherecht vom 2. Februar 1737 heißt es dazu, dass „künftig keinem Verlobten ein Copulations=Erlaubniß=Schein […] ertheilt werden [soll], welcher nicht […] nachweiset, daß er 25 Jahre alt und zur vorha-
432 433
FWA 95-3-1, pag. 44. Der so genannte Rasselstein ging hervor aus einer herrschaftlichen Mühle an der Wied. Nach 1748 ließ Graf Johann Friedrich Alexander zu Wied-Neuwied eine Eisenhütte und einen Blechhammer errichten. 1784 wurde das Werk an Carl Wilhelm Remy veräußert – wohl, um die erforderlichen Mittel für die Erhebung in den Reichsfürstenstand aufzubringen; vgl. Carl PETERS, 200 Jahre Rasselstein, Neuwied 1960; SCHMOECKEL Unter dem blauen Pfauen (Fn.), S. 302..
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benden heirath genöthigt oder tüchtig ist, und die Qualitäten eines tauglichen Unterthans besitzet434“.
Heiraten durfte also nur, wer wirtschaftlich in der Lage war, eine Familie zu ernähren. Die Zulassung zu einer Ehe wurde auf diese Weise schon frühzeitig instrumentalisiert, um die wirtschaftliche Fortentwicklung einer Familie und mittelbar auch der Grafschaft zu sichern. Dass dieses Vorhaben jedoch in der Praxis keinen Erfolg hatte, lässt sich anhand der Copulationsakten belegen, weil auch nach 1737 noch Eheschließungen vor dem 25. Lebensjahr erfolgten435.
3. Elterlicher Konsens Die bereits angesprochene Problematik der heimlichen Verlöbnisse war von den Reformatoren zum Anlass genommen worden, das Erfordernis des elterlichen Konsenses im Falle der Minderjährigkeit zu postulieren. Infolgedessen stellte sich das Problem heiratswilliger Minderjähriger in der Grafschaft im 17. und 18. Jahrhundert nicht in dem Maße, wie dies unmittelbar nach der Reformation der Fall gewesen sein dürfte436. Die Pfarrer wurden angehalten, eine Trauung nur dann zu vollziehen, wenn der elterliche Konsens nachgewiesen worden war. Kodifiziert wurde dieses Erfordernis in Neuwied erstmals in einer Verordnung zum Eherecht vom 2. Oktober 1759437. Darin heißt es, dass nur die Eheverlöbnisse für gültig erachtet werden, welche „in Gegenwart des Ortsbeamten oder der Lokalobrigkeit, […] mit Vorwissen und Einwilligung der Eltern und Vormünder, wenn die Verlobten noch in deren Gewalt stehen“ vollzogen worden sind. Da in den meisten Fällen dieser Konsens bereits vor Beginn des Copulationsverfahrens vorlag, ist nur das Fehlen dieses Erfordernisses aktenkundig geworden. Die Konsistorialverwaltung war gezwungen, einen Umgang mit den Fällen zu finden, in denen Eltern aus verschiedenen Gründen die Einwilligung zur Eheschließung verweigerten438.
434 435 436
437 438
SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 85. Vgl. FWA 96-1-2, pag. 20 ff. Vgl. zur Situation in Sachsen im 16. Jahrhundert: FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 243 ff. Die Problematik wurde zudem auch intensiv als juristisches Problem diskutiert; vgl. WITTE Law and Protestantism (Fn. 205), S. 238 f. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 175. FWA 95-3-4, pag. 62; FWA 96-1-2, pag. 20 ff.
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So konnte im Jahr 1781 ein Supplikant nicht das Einverständnis seiner Eltern zu der von ihm angestrebten Trauung nachweisen439. Seine Eltern lehnten die Eheschließung wegen des noch jugendlichen Alters des Supplikanten, der erst 19 Jahre zählte, ab und verwiesen auf den – nach ihrer Meinung – unsteten Lebenswandel. So sei der Bräutigam bereits mehrfach von Zuhause fortgegangen und habe seine Pflichten vernachlässigt. Er begehrte nun die Ersetzung des elterlichen Konsenses durch die landesherrliche Genehmigung, die dem Grafen im Rahmen seines Amtes als summus episcopus zustand440. Das Vorgehen des Konsistoriums verdeutlicht wiederum die pragmatische und problemorientierte Vorgehensweise der dortigen Räte: Der widerwillige Vater wurde auf das Konsistorium vorgeladen und im Rahmen eines Verhörs zu den Gründen, aus welchen er die Verheiratung seines Sohnes verhindern wollte, befragt. Überraschenderweise lenkte der Vater nach Ende des Verhörs ein und verzichtete auf sein Elternrecht. In der einschüchternden Atmosphäre des Konsistoriums hatte sich der Vater wohl durch die Argumentation unter Druck setzen lassen und sah sich gezwungen, zuzustimmen. Dass das Konsistorium damit gedroht hatte, den elterlichen Konsens zu ersetzen, kann nicht vermutet werden. Schließlich gab es einen Konsistorialrat, der das Verfahren der Vorladung kritisierte. Es war also den handelnden Personen wohl bewusst, dass ihre Vorgehensweise nicht rechtlich einwandfrei galt. Die Methode, sanften Druck auf den Vater auszuüben, erschien den Konsistorialräten daher augenscheinlich als elegante Lösung, um die rechtlichen Hindernisse, die der Ehe im Wege standen, auszuräumen. Nähere Gründe, warum die Eheschließung befürwortet wurde, werden indes nicht genannt.
4. Verfahren Das Verfahren war zwischen Landesherr und Konsistorialräten ohnehin nicht unumstritten. Das Konsistorium drängte fortwährend auf eine einwandfreie Vorgehensweise. Dies lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen441: Obwohl ein Supplikant, der als Gärtner in Diensten des Obristen von Ha-
439 440 441
FWA 96-1-2, pag. 20 ff. Vgl. E.I. Leider lässt sich das Jahr des Ereignisses nicht mehr nachweisen, allerdings lassen die Lebensdaten der Beteiligten den Schluss zu, dass sich der Vorfall in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts abspielte.
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chenberg442 stand, noch nicht alle formellen Voraussetzungen zur Eheschließung erfüllt hatte, war Graf Johann Friedrich Alexander wiederholt geneigt, dem Ersuchen stattzugeben. Ob in diesem Zusammenhang Nähe zum Hof beziehungsweise persönliche Präferenzen des Grafen den Ausschlag gaben, mag dahingestellt bleiben. Der mit dem Fall befasste Konsistorialrat Gneyß443 – zugleich Stadtschultheiß von Neuwied und damit einer der höchsten Beamten der Grafschaft – wandte sich daraufhin mit folgendem Aktenvermerk an den Grafen: „Euer hochgräfliche Gnaden haben Unterzeichneten zum öfteren geäußert, wie hochdieselben geziemende Gegenvorstellungen nicht in Ungnade aufnehmen würden, ich muß daher unterthänigst bemerken, wie 1, hier noch fehlen das Zeugniß des dahiesigen Evangelisch-Lutherischen Geistlichen 2, das Zeugnis des Herrn Obristen von Hachenberg, wie er zufriedenen seye, daß sein Gärtner heurathen und doch bey ihm in Diensten bleiben möge, und 3, kömmt es mir schon bedenklich vor, daß der Verlobte angeben will, er könne seinen Geburts- und Taufschein von Frankfurt nicht erhalten. Frankfurt ist nicht fern von hier, dahin gehet alle Tage eine Briefpost ab, es ist eine freýe Stadt und keine Einwohner ist von seiner Person gebunden, auch geben an allen Orten die hl Geistlichen für die Gebühren gar gern en Geburtsund Taufschein, warum sollte Supplikant den seinigen nicht erhalten können. Wäre es demnach nicht besser, der Sponsus […] warte lieber noch ein paar Tage mit der Trauung, der Wohlstand wird dadurch nicht weniger verletzet, als durch das übereilte Trauen […]444.“
Das Konsistorium hält demnach die Beschaffung der erforderlichen Bescheinigungen für möglich und empfiehlt dem Grafen zunächst abzuwarten. Auch wenn die Gründe, die den Grafen bewogen haben, dem Ersuchen nachzukommen, nicht genannt werden, scheint es, als habe der Graf dem Gärtner des Obristen von Hachenberg die Ehe gestattet unter Hinweis auf drohende Vermögenseinbußen. Ob eine persönliche Aversion des Konsistorialrates Gneyß, der sich ansonsten kaum so umfangreich äußerte, gegenüber 442 443
444
Obrist von Hachenberg war seit 1760 Amtmann zu Neuwied und Heddesdorf; vgl. GENSICKE Landesgeschichte (Fn. 81), S. 516. Christian Carl Gneyß kam 1766 als Assesor nach Neuwied, bekleidete 1768-1796 das Amt des Stadtschultheißen und stieg 1775 zum gräflichen Rat auf; vgl. GENSICKE Landesgeschichte (Fn. 81), S. 516, 524. FWA 96-1-5, pag. 86.
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Obrist von Hachenberg eine Rolle spielte, lässt sich aufgrund der fehlenden Akten zur Person nicht mehr beurteilen. Beide waren jedoch am Hof des Grafen tätig, so dass ein Konkurrenzverhältnis nicht ausgeschlossen werden kann. Graf Johann Friedrich Alexander antwortete dem Konsistorialrat jedenfalls recht knapp: „a, zu bedenken, nochmals zu schreiben; b, auch könnte man nämlich vernehmen; c, hiesigen Pastoris Zeugniß wird wohl kein Anstand haben, d, des Obristen, ist nicht erforderlich, ad Consistorium; e, warum ein Taufschein ohnentbehrlich ist deutlich zu machen; f, dreymaliger Aufruf ist doch hinlänglich; g, wie hier Verdruß mit auswärtigen entstehen könnte, ist nicht deutlich; h, also bey nächstem Consistorio den Copulationsschein auszufertigen445“
Die knappe, aber klare Antwort des Grafen macht deutlich, was er eigentlich von dem bürokratischen Aufwand hielt, der durch die zuständigen Beamten betrieben wurde. Der unmittelbare Eingriff des Grafen in das laufende Verfahren diente ein weiteres Mal der Verfahrensverkürzung. Doch blieb diese Intervention im laufenden Copulationsverfahren, welche der Landesherr wohl nur bei persönlich Bekannten oder in besonders dringenden Fällen die Ausnahme. Gleiches galt bei Supplikationen, „indeme nun beyde verlobte sich jederzeit recht still, fleißig und gottesfürchtig aufgeführet, Ihr Eltern getreue Unterthanen allemahl gewesen (sind)446“. In den meisten Fällen wurde das oben genannte Verfahren jedoch sorgfältig beachtet und durchgeführt. Eine Eheschließung ohne Beachtung der formellen Anforderungen war nur in absoluten Ausnahmefällen möglich. Selbst bei Katholiken und Lutheranern wurde prinzipiell auf die Einhaltung der oben genannten Verfahrensschritte genau geachtet. Aus diesem Bild heraus fällt lediglich ein Einzelfall: die Verehelichung des gräflichen Hofmechanikers Johann Heinrich Krauss im Jahre 1752, der – obwohl der römisch-katholischen Konfession angehörig – ohne jeglichen Nachweis den Copulationsschein für eine Ehe mit einer Katholikin erhielt447. Die persönliche Nähe zum Hof und zum Grafen als Person reichte anscheinend aus, um die Verfahrensschritte überflüssig werden zu lassen. Überliefert ist nicht, wie die Trauung durch den katholischen Pastor erfolgte. Schließlich war dieser gegenüber seinem zuständigen Bi445 446 447
FWA 96-1-5, pag. 86. FWA 95-3-2, pag. 52. FWA 95-3-2, pag. 128 ff.
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schof von Trier ebenfalls verpflichtet, die formellen Anforderungen, die das kanonische Recht an die Eheschließung stellte, zu beachten. Eheschließungen konfessionsverschiedener Paare durften Anfang des 18. Jahrhundert nur mit landesherrlicher Genehmigung erfolgen gemäß Teil II § 24 KO 1683448. Dieses Verbot der interkonfessionellen Ehe wurde – trotz vieler Dispensationen – wiederholt erneuert449. Erst in den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts lassen sich Ehen zwischen Reformierten und Katholiken in der Grafschaft belegen450, wobei frühere Mischehen nicht ausgeschlossen werden können.
5. Fazit Das restriktive Copulationsverfahrensrecht ist nicht untypisch für die evangelisch-reformierte Kirche. Dass in der Grafschaft Wied-Neuwied darüber hinaus insbesondere wirtschaftliche Aspekte bei der Bewilligung eines Proklamationsscheins Berücksichtigung fanden, entspricht der merkantilistischen Ausrichtung der Politik, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrieben wurde. Der tendenzielle Konflikt zwischen Landesherrschaft und den Regierungsbeamten wird ansatzweise sichtbar. Dies gilt auch für interkonfessionelle Fragen, bei denen sich ein fundamentaler Wandel nach 1750 abzeichnet. Zudem finden sich in den Copulationsbüchern umfangreiche Anmerkungen des Landesherrn, wobei dies aufgrund der Quellenlage nur für die Regierungszeit des Grafen Johann Friedrich Alexander zu Wied-Neuwied festgestellt werden kann. Anhand dieser Akten wird zum einen das immense Interesse eines Landesherrn an den einzelnen Vorgängen in seiner Grafschaft und zum anderen das Amtsethos eines aufgeklärten Herrschers deutlich, wie es sich auch bei dem wohl bedeutendsten Fürsten dieser Zeit, König Friedrich II. von Preußen, zeigt451. Darüber hinaus können seine persönlichen umfassenden Kenntnisse in Rechts- und Religionsfragen nachgewiesen werden, worauf bei der Betrachtung der Konsistorialprotokolle noch zurückzukommen sein wird. 448 449 450 451
SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 45. Vgl. § 41 KO 1707; Verordnung vom 21. Juli 1729 in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 63. FWA 95-3-4; Proklamationsakten aus dem Jahr 1753. Werner OGRIS, Friedrich der Große und das Recht, in: Oswald HAUSER, Friedrich der Große in seiner Zeit, Köln/Wien 1987, S. 62 f.
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IV. Dispensationsrecht Eine zentrale Rolle im protestantischen Kirchenrecht spielte auch das Dispensationsrecht des Landesherrn452. Dispensation ist in Abgrenzung gegenüber einem allgemeinen Privileg kirchenrechtlich zu verstehen als „Befreyung von einer Rechtsregel für eine bestimmte Person oder Sache, aber nur für einen bestimmten Fall453“. Dass diese Befugnis gerade auch im Zusammenhang mit dem Thema Kirchenzucht relevant wird, findet seine Rechtfertigung in der Kompetenz des Landesherrn, ein sündhaftes Verhalten ungesühnt zu lassen. Das Hauptanwendungsgebiet der Dispensationen liegt jedoch im Bereich des Eherechts, daher soll es auch an dieser Stelle behandelt werden. Das Recht, von Verboten zu dispensieren, gehörte zu den ureigensten Rechten des Landesherrn als summus episcopus seiner Landeskirche454. Dabei fielen in seiner Hand alle Kompetenzen zusammen, die in der römischen Kirche auf Bischöfe und Papst verteilt waren. Gebunden war ein protestantischer Reichsfürst insoweit nur an das ius naturale und an das ius divinum positivum455. Prinzipiell handelte es sich demnach nicht um einen willkürlichen Gnadenakt, sondern um einen Rechtsakt, der einen Ermessensspielraum einräumte. Gleichwohl entwickelte sich die Dispensation in den protestantischen Territorien zunehmend zu einem reinen Akt fürstlicher Gnade456. In der Grafschaft Wied-Neuwied wurden Dispensationen teilweise sogar ausdrücklich als Gnadenakt tituliert457. Ausgeübt wurde das Dispensationsrecht durch den Landesherrn selbst, der dieses jedoch – zumindest in größeren Territorien – in der Regel an das 452 453 454 455 456 457
Dazu ausführlich: Johann Joachim MÜLLER, Das Dispensationsrecht in verbotenen Ehen, Jena 1706. Georg WIESE, Handbuch des gemeinen in Teutschland üblichen Kirchenrechts, Dritter Teil, Leipzig 1802, S. 18; vgl. auch Peter LANDAU, Dispens, in : TRE IX, S. 10. Vgl. auch FWA 67-12-8, pag. 4; Gutachten der Konsistorialräte Melsbach und Hachenberg vom 9. April 1794. MÜLLER Dispensationsrecht (Fn. 452), S. 191. BACHMANN Kirchenzucht (Fn. 256), S. 106; Mathias SCHMOECKEL, Dispensatio als Ausgleich zwischen iustitia, misericordia und prudentia (im Erscheinen), S. 3. Vgl. FWA 50-5-7 (unpaginiert), Vermerk vom 2. September 1748; FWA 50-5-22, pag. 4, Regierungsgutachten des Konsistorialrats Winter vom 4. April 1759; FWA 961-6, pag. 136 f.
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(Ober-) Konsistorium übertrug458. In der Grafschaft Wied-Neuwied fand eine solche Übertragung im Untersuchungszeitraum indes nicht statt. In jedem Fall blieb dem Landesherrn die letzte Entscheidung vorbehalten. Teilweise wurde die Ausübung des Dispensationsrechts auch in kleinen Territorien ansatzweise formalisiert, wie folgende Regelung aus der Grafschaft SolmsBraunfels verdeutlicht: „Zur Erhaltung des landesherrlichen Dispensations-gerechtsams bei EheHindernissen und der desfalligen herrschaftlichen Gebühren, wird es den künftig um Ertheilung des Proklamations-Erlaubniß-Scheins sich meldenden Verlobten zur Pflicht gemacht, jedesmal ein Zeugniß des Ortspfarrers und Kirchen=Aeltesten über ihren gegenseitigen Verwandtschaftsgrad zu producieren459.“
In der Grafschaft Wied-Neuwied kann ein solches Verfahren zwar nicht nachgewiesen werden, allerdings wurde auch hier eine herrschaftliche Gebühr je nach Vermögen des Antragstellers fällig. Obwohl diese Zahlungsverpflichtungen mitunter als verhältnismäßig hoch charakterisiert werden können, lässt sich die These, dass sich nur vermögende Untertanen eine Dispensation leisten konnten460, widerlegen: In der Grafschaft Wied-Neuwied wurden im Rahmen des Copulationsverfahrens unzählige Dispensationen erteilt, wobei jeweils nicht nachgewiesen werden kann, dass die fällige Gebühr bezahlt wurde. Auch bei den Anträgen auf Erteilung des Copulationsscheins diente das Instrument der landesherrlichen Dispensation recht häufig als Instrument zur Überwindung bürokratischer Hindernisse. Besonders oft wurden Dispensationen hinsichtlich des einzuhaltenden Trauerjahres gewährt. Allein in den Jahren von 1751 bis 1753 ergingen zehn Dispensationen für Witwer, die sich mit der Bitte an das Konsistorium wandten, vorzeitig wieder in den Stand der Ehe treten zu dürfen, um die Erziehung bereits aus einer vorherigen Ehe vorhandener Kindern zu sichern. Ein anderer wichtiger Anlass, der eine Dispensation nach sich ziehen konnte, lag vor, wenn wirtschaftliche Gründe, insbesondere das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Haushaltung eine Eheschließung notwendig machten. Oftmals schlugen sogar die Konsistorialräte 458 459 460
WIESE Handbuch des Kirchenrechts III (Fn. 453), S. 234. SCOTTI Gesetzessammlung III (Fn. 289), Solms-Braunfels, S. 1135; Verordnung vom 25. Februar 1742 BACHMANN Kirchenzucht (Fn. 256), S. 72.
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selbst die Dispensation vor, wie sich einem Aktenvermerk aus dem Jahr 1782 entnehmen lässt: „Pro dispensatione wird es wohl in Gnaden zu erlassen seýn, dieweil wegen seines Dienstes und übriger Umstände derselbe nicht lang ohne frau hatt haushalten können, wohin auch die Kirchenordnung abzielt461.“
Dem Konsistorium war es also durchaus bewusst, dass das Führen einer Haushaltung für Alleinerziehende kaum möglich war. Unter Hinweis auf Teil II § 31 der Kirchenordnung aus dem Jahre 1683462 wurde dem Grafen letztendlich die Erteilung der Dispensation nahe gelegt. Man mag in dieser offensiven Handhabung des Dispensationsrechts eine Schwäche des protestantischen Kirchenrechts sehen. Tatsächlich macht gerade das Beispiel Wied-Neuwied deutlich, inwieweit dieses Recht für politische, wirtschaftliche und fiskalische Zwecke instrumentalisiert werden konnte. Sofern das Interesse des Supplikanten legitim erschien, erging eine Dispensation. Dieser Umstand wurde schon früh festgestellt463, allerdings entstand durch den Einsatz dieses Instruments im Dienste des Merkantilismus ein Stück Flexibilität, die sich in katholischen Ländern nicht findet. Wirtschaftlich Erfolg versprechende Ehen wurden auch entgegen den mosaischen Gesetzen ermöglicht. Das landesherrliche Dispensationsrecht als Besonderheit des protestantischen Kirchenrechts kann daher als Mitursache dafür angesehen werden, dass die wirtschaftliche Entwicklung in diesen Territorien schneller fortschritt als in katholischen Ländern.
461 462
463
FWA 96-1-6, pag. 136 f. Teil II § 31 KO 1683: „Wann einem oder dem anderen aus beweglichen Ursachen eine Hochzeit zugelassen werden sollte, so soll doch solche gebührender Zeit und nicht auf monatliche Bettage oder in selbiger Wochen aufgestellet werden. Es sollen auch Bräutigam und Braut mit ihren Hochzeitsleuten zu rechter Zeit, nemblich umb 10 Uhr bis auf 11 Uhr Sommers und Winters sich zur Kirchen einstellen, bei einer arbitraren Straff, oder daß ihnen alsdann die Copulation abgeschlagen und aufgeschoben werden mag; und weil die Klöckner und Schuldiener, wann Copulationen und Hochzeitspredigten gehalten werden, mit Läuten und Vorsingen aufwartten müssen, als soll deren Mühe jede, mit 6 Albus ergolten werden“; in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 29. BACHMANN Kirchenzucht (Fn. 256), S. 110.
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98 V. Hochzeitsfeiern
Die Regelungsdichte im Eherecht erstreckte sich indes nicht nur auf das materielle Copulationsrecht und das formelle Copulationsverfahren. Die Obrigkeit versuchte vielmehr zusätzlich, die Feierlichkeit als solche zu reglementieren. Dies lässt sich anhand einer Verordnung vom 17. November 1785464 nachvollziehen: Hierin prangert die landeherrliche Kirchenverwaltung den Missstand an, dass „auf dem Lande bey der bisher üblichen Feyer der Hochzeiten ein allgemeiner höchst schädlicher Mißbrauch durch den von denen Unterthanen dabey gemacht werdenden ihre Kräfte öfters weit übersteigenden Aufwand eingerissen ist.“
Die Festivitäten waren demnach so üppig, dass viele Familien sich finanziell ruinierten. Die nachfolgenden Regelungen verbieten „Gelagshochzeiten“465, die mehrere Tage andauerten, und begrenzen die Feierlichkeit auf nur einen Tag. Zudem wird die Höchstzahl der Gäste auf sechs Paare, nämlich „nur die allernächst Bluts=Verwandte und Freunde“, begrenzt. Geschenke oder so genannte „Gifthochzeiten466“ werden ebenfalls untersagt. Vergleicht man diese Regelungen mit der Kirchenordnung von 1707, so fällt auf, dass es inhaltlich kaum einen Unterschied gibt: Auch in Art. 35 KO 1707467 finden sich ähnliche Beschränkungen. Wichtig für das Selbstverständnis der Grafen war jedoch nun der Schutz ihrer Untertanen vor einer 464 465
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SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 226 ff. Der Hochzeitsbrauch eines gemeinsamen Essens der Brautleute war weit verbreitet. Bei einer Gelagshochzeit war jedoch mitunter die ganze Dorfgemeinschaft beteiligt, um sinnbildlich die Verbindung der Braut, die häufig aus einem anderen Dorf stammte, mit der (neuen) Dorfgemeinschaft herzustellen. Zu diesem üppigen Mahl wurden Fleisch und Gemüse, Kaffee und Kuchen gereicht; vgl. Ruth SCHMIDT-WIEGAND, Hochzeitsbräuche, in: Adalbert ERLER/Ekkehard KAUFMANN, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, II. Band, 9. Lieferung, Berlin 1972, Sp. 192 f. Im Sinne einer Mitgift zu verstehen als Bezeichnung für die umfassende Vermögensverwenung der Eltern an ihre Kinder bei Ausscheiden aus dem Hausverband; vgl. Wilhelm BRAUNEDER, Mitgift, in: Adalbert ERLER/Ekkehard KAUFMANN, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, III. Band, 19. Lieferung, Berlin 1980 S. 610 f. Art. 35 KO 1707: „Sogenannte Schenkhochzeiten dürfen, ohne landesherrliche Erlaubniß, bei 20 Rthlr. Strafe nicht gehalten, zu Hochzeitsschmäusen höchstens 6 Paar Verwandte und Nachbarn geladen, und diese nur mit einem kurzen Mittagsmahl bewirthet werden.“; in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 46.
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finanziellen Überforderung, während die Kirchenordnung von 1707 noch von der „zu Boden geschlagen[en] Gottseligkeit“ und der „Abwendung der besorglichen göttlichen Strafgerichten“ spricht. Bereits an der Präambel lässt sich die erfolgte Säkularisierung der Lebensbereiche nachvollziehen: Der Graf agierte nicht mehr als Kirchenoberhaupt, sondern als treu sorgender patriarchalischer Landesvater – weitgehend losgelöst von kirchlichen Begründungsmodellen. Die Problematik üppiger Hochzeitsfeiern war für die Landesobrigkeit im Untersuchungszeitraum keineswegs beherrschbar. So musste auf einem Predigerconvent im Jahr 1725 festgestellt werden: „Obschon alle Schenk- oder Gifts-Hochzeiten […] verbotten, und die Hochzeitsgesellschaft nicht uber 6 paar nicht erstrecken soll […] dabey auch spielleute und tantzen nicht vorgenommen werden soll, so wird doch diese Christl Verordnung in keinem Stück gehalten…468“
Dies wurde auch dadurch unterstützt, dass bei einigen Hochzeiten Gäste aus anderen – insbesondere angrenzenden katholischen – Territorien eingeladen wurden bzw. uneingeladen mitfeierten469. Schließlich war der wechselseitige Besuch zu größeren Festlichkeiten gerade auch unter Jugendlichen stark verbreitet. In diesem Zusammenhang wirkt sich die Lage der Grafschaft Wied-Neuwied inmitten katholischer Staaten hinsichtlich der landesherrlichen Bestrebungen, das Ausmaß von Hochzeitsfeiern zu begrenzen, kontraproduktiv aus.
VI. Eheprozesse 1. Ehehindernisse a. Einleitung Ein klassisches Problemfeld im protestantischen wie auch im katholischen Eherecht stellen die Fälle der Ehehindernisse dar470. Dabei soll im Mittel468 469 470
EKiR-Archiv Wied Nr. 6; Berichte zur geplanten Revision der Kirchordnung durch die Pfarrer Caesar, Desevre und Muzelius vom 12. Dezember 1725. FWA 50-5-26 (unpaginiert). Dazu: WITTE Law and Protestantism (Fn. 205), S. 241 ff.
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punkt dieser Betrachtung das Problem der so genannten „Schwagerehe“ stehen. Zum einen konnten dazu die meisten Quellen gesichtet werden, zum anderen lässt an diesem Beispiel besonders gut, die Dispensationspraxis erläutern. Es handelt sich dabei letztendlich um eine Konstellation des kanonischen Rechts, in welcher ein verwitweter Ehegatte die Schwester bzw. den Bruder des vorverstorbenen Ehegatten ehelichen wollte. Das Problem bestand in Hinblick auf ein mögliches Eheverbot, das sich aus den mosaischen Gesetzen ergab. Das wiedische Konsistorium wurde in diesem Fall im Zuge des Copulationsverfahrens ausschließlich als Behörde tätig und überprüfte routinemäßig die Voraussetzungen und Hindernisse einer Eheschließung. Dass in den folgenden Fällen separate Akten außerhalb der Copulationsbücher angelegt worden sind, lässt auf die besondere rechtliche Bedeutung schließen. Das Konsistorium spielte hier die Rolle des Rechtswahrers und entschied nach den Grundsätzen des protestantischen Eherechts, wobei auch kanonisches Recht zumindest subsidiär herangezogen wurde. Es wird sich jedoch zeigen, dass diese Rechtsfrage die Möglichkeiten des Konsistoriums häufig überstieg, weil es sich um eine komplexe theologische Frage handelt, die von den Verwaltungsbeamten nicht ohne Hinzuziehung besonderer Sachverständiger entschieden werden konnte.
b. Pastor Johann Philipp Caesar Ein interessanter Fall ereignete sich in diesem Zusammenhang 1748 in Rengsdorf471: Der dortige Pastor Johann Philipp Caesar wollte die Schwester seiner vor zehn Monaten verstorbenen Ehefrau Anna Jacobina Hilgmann aus Bendorf heiraten. In einem ersten Schritt wurde durch das Konsistorium nach den Informationen des damaligen Inspektors Friedrich Heinrich Muzelius, Pastor zu Grenzhausen, eine Übersicht über die verwandtschaftlichen Beziehungen des zu trauenden Paares angefertigt472. Das Bestreben des Konsistoriums bestand darin, dass „der Pastor von seinem Ansinnen abließe, und sich nicht zum Vorwurf stellte, von dem gemeinen Man getadelt zu werden“. Man fürchtete offenbar von Seiten der Obrigkeit in erster Linie die öffentliche Meinung, die gerade, wenn es sich um einen reformierten Pfarrer handelte, besonders genau den Vorgang verfolgte. Auch die Geistlichkeit dürfte der Angelegenheit eher kritisch gegen471 472
FWA 50-5-7 (unpaginiert). FWA 50-5-7 (unpaginiert).
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über gestanden haben. Etwaige rechtliche oder theologische Bedenken, die zweifellos auch bei den wiedischen Räten vorgeherrscht haben müssen, blieben zunächst jedenfalls unberücksichtigt. Pastor Caesar wandte sich in einem Schreiben an das Konsistorium, um seine Anliegen selbst voranzubringen. Darin legte er die näheren Motive dar, die ihn dazu bewegten, seine Schwägerin ehelichen zu wollen. Es ging ihm insbesondere um den gemeinsamen Sohn, den ihm seine verstorbene Frau hinterlassen hat, wobei er hervorhub, dass er „meiner seligen Frau jüngste Schwester alleins nur desweilen zu heyrathen (wünschte), indem (sie) die Liebe zu ihrer sel. Schwester Kind, so sie natürlich zeiget, traget“. Die bereits bestehende persönliche Bindung zwischen seiner Schwägerin und dem Kind sei also vorrangig. Das Einverständnis der Schwiegereltern, die Genehmigung der markgräflich ansbach´schen Herrschaft473 sowie ein entsprechender Dispens lägen bereits vor. Außerdem vertrat Pastor Caesar die Ansicht, dass „unter Protestanten, die sponsalia gegen Erlegung eines Stück geldes, tam ad fiscum, quam pias causas, von hoher Landesherr gar wohl herrschaftl dispensiert werden“ könnte. Damit spielte Johann Philipp Caesar auf die wohl weit verbreitete Rechtsansicht an, dass ein evangelischer Landesherr nahezu von jedem Ehehindernis dispensieren könnte. Überraschenderweise schalteten sich aber nun die Verwandten des Johann Philipp Caesar ein und drängten darauf, die Eheschließung zu verhindern. Offenbar war man auf den guten Ruf der Familie474 bedacht und wollte vermeiden, dass eine rechtlich oder moralisch angreifbare Ehe geschlossen würde. Das Konsistorium gab daraufhin dem Druck nach und untersagte die Erteilung des Proklamations- wie auch des Copulationsscheins bis zur näheren Untersuchung. In einem umfangreichen Gutachten legte daraufhin Inspektor Muzelius seine Bedenken dar475: Insbesondere Lev. 18, 18 stelle eine „Interdictionem 473
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Bendorf gehörte seit 1741 als Teil der Grafschaft Sayn-Altenkirchen zur Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach, nachdem es zuvor durch Heirat der Erbin Johannetta von Sayn mit Herzog Johann Georg von Sachsen-Eisenach an dessen Haus gefallen war. Die älteste Tochter aus dieser Ehe heiratete Markgraf Karl Wilhelm Friedrich von Brandenburg-Ansbach; vgl. Nachweis GENSICKE Landesgeschichte (Fn. 81), S. 344. Der Familienname Caesar findet sich mehrfach in den Akten. Sie stellten Bürgermeister der Stadt Neuwied, Schultheißen, Regierungsräte und Pfarrer. Diese bürgerliche Familie kann daher wohl zu den wichtigsten in der Grafschaft Wied gerechnet werden. Gemeinsam mit den Familien Melsbach, Remy, Deubner, Erbes und Hachenberg gehörten die Caesars zu den ersten Einwohnern der Stadt Neuwied; vgl. Wilhelm CURTIUS, Kurzer Blick über die geschichtliche Entwicklung der evangelischen Gemeinde zu Neuwied, Neuwied 1884, S. 6. FWA 50- 5-7 (unpaginiert); Gutachten vom 10. August 1748.
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absolutam“ dar, so dass die Schwagerehe nicht dispensiert werden könne. Zudem unterstrich er die Vorbildfunktion des Predigers in dieser Frage, gerade weil der Verdacht der Polygamie und der Prostitution nahe läge. Muzelius schließt sein Gutachten mit einem Hinweis auf ein Responsum der Universität Marburg aus dem Jahre 1718, in welchem es offenbar um einen ähnlichen Fall gegangen ist, der abschlägig beurteilt wurde. Bereits am 19. August 1748 lag zudem ein Gutachten der Theologischen Fakultät Marburg vor, das zu dem Ergebnis kommt, dass „es sicherer seýe, wann eine Hohe Landesobrigkeit in diesem Casu nicht dispensiere“. Diese Äußerung macht deutlich, welch große Unsicherheit auch in der protestantischen Kirche hinsichtlich des in Ehefragen maßgeblichen mosaischen Rechts herrschte. Selbst eine führende Theologische Fakultät der evangelischreformierten Konfession war nicht in der Lage, klare Rechtsauskünfte zu geben. Dass sich das Konsistorium nicht an die Empfehlungen gehalten hat, ergibt sich indes aus einem Vermerk, wonach der Proklamationsschein ausgegeben und der Copulationsschein beantragt worden war476. Wer letztlich diese positive Entscheidung getroffen hat und aus welchen Gründen, kann nur vermutet werden. Es fällt jedoch bereits in diesem ersten Verfahren, das hier zum Problemkreis „Schwagerehe“ untersucht werden soll, besonders die schnelle Vorgehensweise des Konsistoriums ins Auge: Innerhalb von weniger als vier Monaten hatte man das Verfahren abgeschlossen. Mögliche Rechtsunsicherheiten nahm das Konsistorium dabei ebenso in Kauf wie die Empörung der Öffentlichkeit. Ob auch in diesem Fall Pragmatismus der maßgebliche Antrieb für die Entscheidung des Konsistoriums gewesen ist, darf daher bezweifelt werden. Aufgrund der rechtlichen Probleme hätte es wohl näher gelegen, den Antrag abzulehnen.
c. Johannes Hermann Decker Etwas anders gelagert war der Fall des Johannes Hermann Decker, der zunächst als Denunziationsverfahren an die Öffentlichkeit gelangte477. Demnach war in der Stadt Neuwied das Gerücht entstanden, dass „Anna Margaretha Wittib Deckers metzgers dahier nun schon beý ¾ Jahren her mit ihres verstorbenen Mannes leiblichen Bruder Joh: Hermann Decker in einem Bette schlaffen (würde und) mithin in dem schweren Laster der Blutschande
476 477
FWA 50-5-7 (unpaginiert); Vermerk vom 2. September 1748. FWA 50-5-28.
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verfallen (wäre)478“. Das Umgangsverbot ergab sich auch hier aus den mosaischen Gesetzen479. Mit den Vorwürfen konfrontiert, leugnete Anna Margaretha Decker zunächst die Umstände und brachte vor, dass „ihr Sohn so in das 16te Jahr ginge, beý ihr im bette schliefe“. Dass ihr Schwager bei ihr gewesen sei, habe rein wirtschaftliche Gründe, weil sie ihn „zu forttreibung ihres Handwerks benöthiget“. Johann Hermann Decker selbst gestand zwar, bei seiner Schwägerin im Bett geschlafen zu haben, bestritt aber sie „fleischlich erkannt“ zu haben. Gleichwohl räumte er sein, dass „wenn es erlaubt werden könnte er willens gewesen wäre […] seine Schwägerin zu heyrathen“. Nachdem auch Anna Margaretha lediglich gestanden hatte, dass sie mit ihrem Schwager das Bett geteilt habe, konnte letztlich der Vorwurf der Blutschande durch das Konsistorium nicht nachgewiesen werden. Beiden wurde aufgegeben, sich „von nun an alles verdächtigen Umgangs beý arbitrairer Strafe gantz zu enthalten480“. Außerdem sollte Johann Hermann Decker, sofern es nicht aufgrund seines Metzgerhandwerkes erforderlich war, die Behausung seiner Schwägerin – vornehmlich nachts – meiden. Es scheint auch hier dem Konsistorium in erster Linie darum gegangen sein, die öffentliche Meinung zu besänftigen. Im Falle der Denunziation waren schließlich schon Gerüchte vernehmbar geworden, die es einzudämmen galt. Die wirtschaftlichen Motive der Witwe wurden durchaus anerkannt, es ging der Behörde aber vielmehr darum, den Gerüchten und damit dem öffentlichen Gerede ein Ende zu bereiten. Dabei hätte es das Konsistorium belassen können, es schaltete sich jedoch wenige Monate später der Graf selbst ein und ordnete eine Untersuchung an, ob die Denunzierten dem Dekret nachgekommen wären und ob nicht eine Möglichkeit bestünde, die beiden „zum heyrathen zu vermahnen und zu dispensieren481“. Es sollte also seitens der Landesregierung darauf gedrängt werden, dass die beiden ihren Lebenswandel „legalisierten“ – ein Indiz für den Umstand, dass die Ehe zu dieser Zeit als einzig legale Lebensform angesehen wurde. Die Ermittlungen durch die Konsistorialräte Thalmann – zugleich wiedischer Kanzleidirektor482 –, Winter und Hoecker – zugleich Prediger in Neuwied und Inspektor der Niedergrafschaft – ergaben, dass „sich zeitdem weitr 478 479 480 481 482
FWA 50-5-28, pag. 1; Denunziationsprotokoll vom 1. November 1757. Lev. 18, 16. FWA 50-5-28, pag. 1; Decret vom 1. November 1757. FWA 50-5-28, pag. 2; Schreiben des Grafen Johann Friedrich Alexander zu Wied vom 14. Februar 1757. Vgl. GENSICKE Landesgeschichte (Fn. 81), S. 51
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nichts Verdächtiges gezeiget (hätte)483“. Die Möglichkeit einer Heirat lehnten die Räte unter Hinweis auf die „berühmtesten Rechtsgelährten“ und die mosaische Gesetze484 jedoch ab. Auch eine Dispensation käme nicht in Frage, weil „solche und dergleichen Ehen, als von Gott selbsten absolute ernstlich verbotten485“ wären. Damit wurde eine Frage angesprochen, die für das Verständnis der Eheverbote fundamentale Bedeutung hatte: die Unterscheidung zwischen ius divinum absolutum und ius naturale. Obwohl sich im 18. Jahrhundert verstärkt die Einsicht durchsetzte, dass das Eherecht vor allem auf Naturrecht basiere486, verharrten die zuständigen Konsistorialräte in den Denkstrukturen des Mittelalters. Nun zeigte sich jedoch unmittelbar das Eingreifen des Landesherrn. In einem Kommentar legt Graf Johann Friedrich Alexander selbst die oben genannten Bibelstellen aus und kam zu folgendem Ergebnis: „Vorige Texte müssen zu verstehen sein von Bruders Weib oder geschiedenen, oder Verstoßenen; aber nicht von der Wittib487.“ Augenscheinlich drängte der Landesherr auf eine Verheiratung. Die ernsthafte Beschäftigung mit Bibelexegese deutet jedenfalls darauf hin. Dies zeugt nicht nur von hohem theologischen Interesse, sondern auch von besonderem Engagement im Regierungsalltag. Zu einer Verheiratung der Anna Margaretha Decker mit ihrem Schwager kam es jedoch nicht mehr. Wie sich aus einem späteren Protokoll ergibt, hatten die beiden Delinquenten ihr Vorhaben aufgegeben488. Durch Verhör verschiedener Anverwandter und Nachbarn ließ sich zudem feststellen, dass es nicht mehr zu „verdächtigem Umgang“ gekommen war489. Das Problem hatte sich damit erledigt. Ein von der Universität Marburg erwartetes Responsum zu der Frage nach der Möglichkeit, einen Dispens zu erteilen, findet sich nicht in den Akten, so dass wohl davon ausgegangen werden kann, dass auf ein solches verzichtet worden ist. Gerade in Anbetracht der Kosten, die durch ein solches theologisches Gutachten entstanden, war man im Wiedischen Konsistorium offensichtlich erleichtert, dass es zu keiner Entscheidung
483 484 485 486 487 488 489
FWA 50-5-28, pag. 2; Konsistorialbericht. Lev. 18, 16; Lev. 20, 21; Mk. VI, 18. FWA 50-5-28, pag. 3; Konsistorialbericht. Vgl. RUDOLPH Regierungsart (Fn. 24), S. 95; WEBER Ehefrau und Mutter (Fn. 544), S. 280 ff. FWA 50-5-28, pag. 3; Kommentar vom 8. März 1758. FWA 50-5-28, pag. 4; Konsistorialprotokoll vom 28. Februar 1758. FWA 50-5-28, pag. 6; Vermerk vom 24. Februar 1758.
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kommen musste. Die öffentliche Moral konnte durch eine einfache Ermahnung der beiden Denunzierten gewahrt werden.
d. Johannes Christian Noll Anders gelagert ist der Fall des Grenadiers Johann Christian Noll490, in welchem das Konsistorium auf umfangreiche Gutachtertätigkeit der protestantischen Glaubensbrüder in der ebenfalls evangelisch-reformierten Landgrafschaft Hessen-Kassel angewiesen war. Er begehrte mit Antrag vom 22. Juni 1769, Elisabeth Magdalena Noll, die hinterlassene Witwe seines Bruders, des Musketiers Johann Peter Noll, zu heiraten491. Da die formellen Voraussetzungen – eine Stellungnahme des zuständigen Kompaniechefs Baron von Lützow sowie Beibringung des Taufscheins durch den Pfarrer von Niederbieber Georg Christian Breusing – vorlagen, kam es letztlich entscheidend darauf an, wie sich das Konsistorium – bestehend aus den drei Räten Winter, Melsbach und Inspektor Muzelius – verhielt. Es ging hier erneut um ein Eheverbot nach Lev. 18, 16, woraus das Verbot der Schwagerehe abgeleitet wurde. Wiederum wurden Gutachten dreier wiedischer Pfarrer angefordert. Zudem erging eine umfangreiche Anfrage an das Fürstliche OberKonsistorium in Marburg. Diese erfolgte ausnahmsweise nicht an eine Universität, sondern an die oberste Hessen-Kasselsche Kirchenbehörde, welche nach der Konsistorialordnung von 1610 in Anlehnung an die kurpfälzische Kirchenratsordnung paritätisch mit weltlichen und geistlichen Räten besetzt war492. In einem ersten Gutachten wägt Pfarrer Philipp Ludwig Müller aus Feldkirchen das Für und Wider der Eheschließung gegeneinander ab: Unter Hinweis auf Gen 38, 8-9, Deut 35, 5-8, Mt. 22, 24-30 spricht sich dieser für die Zulässigkeit der Schwagerehe aus, schließlich sei es „schon bey den Patriarchen […] gewöhnlich, daß ein Bruder, wenn er noch unverheyratet war, seines verstorbenen Bruders Wittib, wenn solches ohne männl Erben war, zur ehe nehmen […] muss493“. Dagegen führt er das ausdrückliche Verbot aus Lev. 18, 16 sowie die Regelungen der Nassauischen Kirchenordnung an, wobei jedoch insgesamt ein wohlwollender Eindruck im Gutachten des Pfarrers Müller überwiegt. 490 491 492 493
Johann Christian Noll stammte aus Segendorf und war bereits seit dem 01. September 1756 beim wiedischen Militär; vgl. FWA 105-30-9, Nationalliste. FWA 50-5-6. MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 152. FWA 50-5-6, pag. 14 ff., Gutachten des Pfarrers Philipp Ludwig Müller.
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Demgegenüber fiel das Gutachten des Inspektors und Konsistorialrates Friedrich Heinrich Muzelius, Pfarrer in Grenzhausen, sehr viel restriktiver aus: Dieser unterteilt das Problem in zwei Fragenkomplexe, zum einen, ob die Schwagerehe wirklich im Christentum erforderlich sei, zum anderen, ob nicht dennoch eine Dispensation stattfinden könne494. Allein aus der Fragestellung lässt sich schließen, dass Muzelius zunächst von einem Verbot ausging. Dabei ergab sich die Anwendbarkeit des mosaischen Rechtssatzes für Christen aus Mk. 6, 18 und 1. Kor. 5, 1. Darüber hinaus verweist Muzelius auf Wilhelm Zeppers Werk „Von der christlichen Disziplin“, worin dieser den Grundsatz aufgestellt habe, dass „Eheleute ein Fleisch seyen, dahero auch ein Bruder ein Bruder des Weibes seines Bruders ist, weil nehmlich diese ein Fleisch mit ihrem Mann, und daher ist sie auch ex relatione eine Schwester des bruders ihres Mannes495“. Darin kommt ein sehr striktes Verständnis der Schwägerschaft zum Ausdruck, das sich Inspektor Muzelius zu Eigen machte. Er untermauerte seine Rechtsansicht zusätzlich mit einem Verweis sowohl auf die hessische Kirchenordnung als auch auf die nassauische Landesordnung, die in den Wiedischen Landen rezipiert worden war. Auch einem Dispens stand Muzelius skeptisch gegenüber: Er bezog sich dabei auf ein seinerzeit höchst umstrittenes Dispensationsverfahren um die Eheschließung von Heinrich VIII. und Katharina von Aragon, die zuvor mit dessen Bruder Arthur verheiratet gewesen war, in welchem das Eheverbot nur wegen fehlenden Vollzuges aufgrund der Minderjährigkeit der Eheleute dispensiert worden war. Diesbezüglich ging er auch auf ein Gutachten der Pariser Universität ein, wonach nicht einmal der Papst in diesen Fällen einen Dispens erteilen könnte. Wenn aber der Papst einen solchen Dispens schon in vorreformatorischer Zeit nicht hätte erteilen dürfen, stünde diese Befugnis erst recht keinem evangelischen Landesherrn in seiner Funktion als „Ersatzbischof“ zu. An dieser Rechtsansicht zeigt sich, dass auch die Pfarrer im 18. Jahrhundert teilweise noch versuchten, die Maßstäbe des 16. Jahrhunderts anzulegen. Der Verweis auf den Papst mutet zwar etwas deplaziert an, verdeutlicht aber, dass die rechtlichen Traditionen der alten Kirche fortgeführt wurden. Der Inspektor scheint sich beinahe nach einer Zeit zurückzusehnen, als sich das evangelisch-reformierte Bekenntnis und damit die kirchliche Sittenstrenge auf der Höhe der Zeit befand. Dass diese Einstellung seiner
494 495
FWA 50-5-6, pag. 28; Gutachten des Pfarrers Friedrich Heinrich Muzelius. Zitiert nach: FWA 50-5-6, pag. 31; Gutachten des Pfarrers Friedrich Heinrich Muzelius.
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Ausbildung an der Hohen Schule in Herborn496 geschuldet sein dürfte, liegt nahe. Eher knapp stellt sich das Gutachten von Pfarrer Friedrich Wilhelm Caesar497 aus Heddesdorf, der ebenfalls Herborner Schüler war498, dar: Dieser verweist auf ein von ihm selbst angefertigtes Gutachten aus früherer Zeit, das jedoch nicht mehr erhalten ist. Er steht auf dem gleichen Standpunkt wie Muzelius und kommentiert nur lapidar, dass es keinen Unterschied machen könne, ob es sich nun eine Witwe mit oder ohne Kinder handele499. Sehr ausführlich fällt hingegen das vom Fürstlichen Ober-Konsistorium Marburg angeforderte Responsum aus500: Unter Abwägung vieler Aspekte rechtsdogmatischer, rechtsvergleichender und rechtshistorischer Natur kommt es zu dem Ergebnis, dass sowohl die Eheschließung unzulässig sei als auch die Dispensation nicht erteilt werden könne. Hinsichtlich der Zulässigkeit der Eheschließung bleibt es bei den bereits in den Gutachten der drei Pfarrer genannten Gründen. Dieses Problem war offenbar auch von weniger qualifizierten Theologen lösbar. Anders verhält es sich mit der Frage der Dispensation: Im Wesentlichen führt das Ober-Konsistorium vier Gründe an, warum diese nicht in Frage kommen kann. Erstens würde das göttliche Gesetz als solches geschwächt, ein Hinweis auf die Absolutheit der von den Theologen im Unterschied zu weltlichen Gesetzen als göttlich charakterisierten mosaischen Ehegesetze. Zweitens würde auch die Obrigkeit geschwächt, weil der Landesherr „ein ähnliches Gesuch nicht wohl abschlagen können (wird), wann er einmal dispensiert hat, ohn dadurch Unzufriedenheit und Murren beý seinen Unterthanen (zu) erwecken“. Da die Problematik der Schwagerehe gerade in den kleinteiligen Strukturen einer Reichsgrafschaft ein häufiger auftretendes Problem war, befürchtete das Ober-Konsistorium einen Präzedenzfall, der zu einer Art „Selbstbindung“ der Kirchenbehörden 496 497
498 499 500
Vgl. Gottfried ZEDLER/Hans SOMMER, Die Matrikel der Hohen Schule und des Paedagogiums zu Herborn, Wiesbaden 1908, S. 167; Nr. 4116. Ein Verwandtschaftverhältnis mit Johann Philipp Caesar, Pfarrer in Rengsdorf von 1746-1765 ist zu vermuten, allerdings handelt es sich bei Friedrich Wilhelm Caesar um einen Sohn des Neuwieder Bürgermeister Hermann Caesar, während der Vater der Johann Philipp Caesar als Schultheiß in wiedischen Diensten stand, vgl. Albert ROSENKRANZ, Das Evangelische Rheinland, Ein rheinisches Gemeinde- und Pfarrerbuch, II. Band: Die Pfarrer, Düsseldorf 1956, S. 71 f. Vgl. ZEDLER/SOMMER Hohe Schule (Fn.496), S. 151; Nr. 3788. FWA 50-5-6, pag. 35; Gutachten des Pfarrers Caesar. FWA 50-5-6, pag. 42-102; Theologisches auch juristisches Responsum und Gutachten über Frage, ob Einer seines verstorbenen Bruders hinterlassene Wittib heyraten dürffe.
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führen könnte. Einen dritten Grund sah das Ober-Konsistorium in der Person des Supplikanten, der womöglich quälende Gewissenszweifel über die Rechtmäßigkeit der Ehe haben könnte. Viertens sei eine solche Dispensation bedenklich „um des ganz gemeinen Menschen willens“. Aus der Argumentation wird deutlich, dass selbst das Fürstliche Ober-Konsistorium Marburg eine Rechtsunsicherheit nicht ausschließen konnte. Die Schwagerehe wurde zwar als juristisch-theologisches Problem diskutiert, aber nicht abschließend geklärt. Für die Landesherrschaft entstand an dieser Stelle eine Einwirkungsmöglichkeit, die in der Grafschaft Wied-Neuwied im Dienste der Staatsraison genutzt wurde. Unaufgefordert schaltete sich schließlich nach Eingang des Marburger Gutachtens Hofprediger Wesemann ein, dessen akademische Herkunft zwar nicht geklärt werden kann, wobei aber ein Studium in Herborn ausgeschlossen ist. Dieser weist in seinem Gutachten zunächst darauf hin, dass „im Lande, unter anderem zu Oberbieber, wo nicht irre, einer nahmens Pegel seines Bruders Wittib gegen 20 Rthl. dispensation geheyratet hat501“. In der Rechtspraxis der Grafschaft Wied-Neuwied muss also bereits vor 1770 die Dispensation verbotener Ehen der Regelfall gewesen sein. Folgerichtig plädiert Wesemann für eine Dispensation. Ob er tatsächlich aus eigenem Antrieb tätig geworden ist oder ob die Ursache eher im Umfeld des wiedischen Hofes – möglicherweise beim Landesherrn selbst – zu suchen ist, bleibt Spekulation. Es erscheint aber in Anbetracht der Tendenz zu „liberalen“ Entscheidungen des Konsistoriums nicht ausgeschlossen, dass Wesemann ein „gefälliges“ Gutachten zu schreiben hatte. Dies kann insbesondere vor dem Hintergrund angenommen werden, dass die wiedische Geistlichkeit mehrheitlich an der konservativen Hohen Schule zu Herborn ausgebildet worden war, während Wesemann wohl von einer anderen Universität stammte. Bereits die von ihm aufgestellte Fragestellung zielte in eine andere Richtung als die bisherigen Gutachten der Pfarrer Müller, Muzelius und Caesar. So warf er auch die Frage auf, ob nicht die erbetene Eheschließung „vor anderen Eheverbindungen den Vorzug verdiene“ und „ob sie nicht in gegenwärtigen Umständen nothwendig seye502“. Hier werden dezidiert utilitaristische Motive vorgetragen. Auf das Dispensationsrecht als solches ging er nicht ein. Auch Wesemann sieht allein dem Wortlaut nach zu urteilen in Lev. 18, 16 ein Verbot, allerdings versucht er, Sinn und Zweck des Verbotes zu erforschen, indem er 501 502
FWA 50-5-6, pag. 103 ff.; Gutachten des Hofpredigers Wesemann vom 20. März 1770. FWA 50-5-6, pag. 107 f.; Gutachten des Hofpredigers Wesemann vom 20. März 1770.
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sich mit der Frage auseinandersetzt, „warum Gott dieses Gesetz gegeben hat503“. Dieser Aspekt kommt in den vorhergehenden Gutachten nicht zum Ausdruck. Insofern bringt Wesemann gänzlich neue Aspekte in den Meinungsbildungsprozess am Konsistorium ein. In die gleiche Richtung zielten auch die verschiedenen praktischen Vorzüge, die Wesemann erwähnt. Dazu zählten die Bekanntschaft der Gemüter und Lebensart bei bereits Verschwägerten, die einfachere Auferziehung der Kinder und die Erhaltung des Familienvermögens. In Num. 36, 6 habe Gott außerdem die prinzipielle Ehefreiheit angeordnet. Darüber hinaus gibt er einen Hinweis auf modernere Kirchenordnungen wie die „Hanöberisch (sic!)-Lippische-Clevische, die Königl. Groß-Britanische oder die Bergische Kirchenordnung“ und geht auf die Rechtspraxis in Preußen und Braunschweig in dieser Frage ein504. Auch hier wird die besondere Beachtung des Kurfürstentums Hannover, dessen Universität Göttingen maßgeblich vom Geist der Aufklärung durchdrungen ist, deutlich. Ein schlagendes Argument sieht der Hofprediger allerdings darin, dass der Proklamationsschein bereits erteilt worden sei und nach wiedischer Kirchenordnung die Copulation längstens acht Tage nach der Proklamation erfolgen dürfe. Er ging also davon aus, dass die Verwaltung bereits einen Vertrauenstatbestand geschaffen habe, den man nun nicht mehr einfach aufheben könne. Besonders beachtenswert wird dieser Umstand jedoch vor dem Hintergrund, dass nach protestantischem Eherecht bis ins 18. Jahrhundert hinein die Proklamation als eigentliche Eheschließung und die spätere Copulation nur als Bestätigung angesehen wurde505. De facto war Johannes Christian Noll also schon mit seiner Schwägerin verheiratet, wobei die positiven Ehewirkungen hinsichtlich der ehelichen Lebensgemeinschaft fehlten. Im Folgenden lässt sich der Konflikt zwischen progressiver Landesherrschaft und konservativer Geistlichkeit, der alle bisherigen Fälle vor dem wiedischen Konsistorium durchzieht, besonders gut nachweisen. Die Antwort des Inspektors – formal der höchste Kirchenbeamte der Grafschaft – fällt scharf aus. Muzelius schreibt an das Konsistorium: „Sein (Wesemanns, Verf.) vermeintliches Gutachten ist aber keinesweges als ein solches, vielmehr aber als ein seýn sollende wiederlegung vorgedachter dreýer Responsorum zu considerieren, woneben er sich nicht erröthet hat, die 503 504 505
FWA 50-5-6, pag. 110 f.; Gutachten des Hofpredigers Wesemann vom 20. März 1770. FWA 50-5-6, pag. 132 f.; Gutachten des Hofpredigers Wesemann vom 20. März 1770. Vgl. SOHM Recht der Eheschliessung (Fn. 409), S. 219 f.
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dreý Responsa durchhecheln und gleichsam lächerlich machen zu wollen [...]; die dreý votierenden Prediger bleiben beý ihrem in Gottes Wort begründetem Satz und haben der übrigen Landesprediger Ihre Einstimmigkeit506.“
Die Prediger hielten Wesemanns Gutachten demnach für ein „Gefälligkeitsgutachten“ und brachten ihre Verstimmung darüber zum Ausdruck. Von ihrer Seiten blieb nun die letzte Hoffnung, dass ein erneutes Gutachten der Theologischen Fakultäten Marburg oder Heidelberg ihre Rechtsauffassung bestätigen würde. Zudem griffen die Geistlichen zum schärfsten Instrument, das die Kirchenzucht zur Verfügung stellte: sie schlossen Johannes Noll von der Abendmahlsgemeinschaft aus und machten damit eine Eheschließung zunächst unmöglich, worüber sich Noll prompt beim Konsistorium beschwerte. Der Konflikt spitzte sich indes weiter zu, als das Konsistorium vor Versenden der Anfrage an eine Theologische Fakultät eine erneute Stellungnahme des Hofpredigers Wesemann anfordern wollte, woraufhin Inspektor Muzelius lapidar bemerkte, dies „wäre unbegreiflich“ und „im höchsten Grunde überflüssig507“ . Es deutet sich an dieser Stelle auch ein kompetenzrechtlicher Streit zwischen Inspektor und Hofprediger an. Den Supplikanten kümmerten diese Vorgänge derweil recht wenig, wie aus der Bemerkung des ursprünglich aus Niederbieber stammenden Pfarrers Johann Jacob Touby508 über „zu intensiven Umgang mit seiner Verlobten“ abgeleitet werden kann. Auf eine erneute gutachterliche Stellungnahme wurde nunmehr verzichtet. Das Konsistorium griff auf ein Marburger Responsum über einen ähnlichen Fall zurück509. Dieses enthält erneut eine umfassende theologisch-dogmatische und rechtshistorische Abwägung und kommt zu dem Ergebnis, dass grundsätzlich wegen vielfältiger Unsicherheiten der Dispens nicht erteilt werden sollte. Gleichwohl empfahl Regierungsrat Becmann, aufgrund der besonderen Umstände die Dispensation in diesem Fall ausnahmsweise zu erteilen. Das Verfahren des Johannes Noll zog sich jedoch über zwei weitere Jahre hin. Die übergangenen Prediger weigerten sich in toto, die Trauung vorzu506 507 508 509
FWA 50-5-6, pag. 140 ff.; Schreiben des Inspektors Muzelius vom 20. April 1770. FWA 50-5-6, pag. 145; Schreiben des Inspektors Muzelius (undatiert). Johann Jacob Touby war, bevor er 1767 Pfarrstelle in Neuwied übernahm, in den Jahren 1762-1767 Pfarrer in Niedebieber. FWA 50-5-6, pag. 158 ff.; Marburger Responsum vom 27. Oktober 1772; Es liegt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um das Gutachten aus dem Fall „Johannes Hermann Decker“ (s.o.) handeln könnte, weil Pfarrer Caesar einen Hinweis auf dieses gibt (pag. 150).
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nehmen. Erst am 2. November 1774 erging der landesherrliche „Befehl zur ordentlichen Trauung, jedoch nicht in der Kirche510“. Dass die Eheschließung auch tatsächlich erfolgte, lässt sich anhand einer Todesanzeige in der Zeitung „Wöchentliche Neuwiedische Frag= und Anzeigs=Nachrichten“ belegen, wonach am 19. Februar 1790 die Beerdigung der „Anna Elisabetha Noll, eheliche Hausfrau“ in Neuwied stattgefunden hatte511. Letztlich hatten sich also die Pfarrer des Landes mit ihrer harten Linie durchgesetzt. Johannes Noll wurde der kirchliche Segen verweigert, obwohl er offenbar die landesherrliche Kirchenleitung auf seiner Seite hatte. Diese Vorgehensweise muss an dieser Stelle besonders erwähnt werden, weil sie fundamental der protestantischen Ehedoktrin widerspricht, wonach eine Einsegnung durch einen Pfarrer in einer Kirche zwingend zu erfolgen hatte. Auch in der Grafschaft Wied müssen folglich Ende des 18. Jahrhunderts die Prinzipien des römischen Eherechts Einzug gehalten haben. Wäre nach protestantischem Kirchenrecht eine Copulation nur coram parocho et ecclesia möglich512, werden hier Ansätze einer Eheschließung außerhalb der Kirche deutlich, die denknotwendig das Konsensprinzip voraussetzen. Dies verdeutlicht, dass die landesherrliche Kirchenverwaltung in der Grafschaft WiedNeuwied auch im Eherecht einem vergleichsweise modernen Ansatz folgte und diesen gegebenenfalls auch gegen die Prediger durchsetzte. Der Fall „Noll“ war also letztlich für die wiedische Geistlichkeit eine Niederlage, wenngleich sie augenscheinlich ihre Position durchsetzte.
e. Johannes Seigel Ähnlich ist auch der Fall des Soldaten Johannes Seigel aus Anhausen gelagert, der die Witwe seines Bruders Paul Seigel, Anna Elisabetha, geschwängert hatte und aus diesem Grunde auch heiraten wollte513. Unter Berufung auf Lev. 18, 16 wurde auch dieses Ansinnen von den Konsistorialräten Winter und Melsbach zunächst abgelehnt. Diese Ablehnung stand wiederum erst am Beginn des Verfahrens. Die alsbald eingeholte Stellungnahme des Pfarrers Heinrich Wilhelm Emmelius fiel negativ aus und wurde zugleich mit der Bitte verbunden, die Copulation für den Fall der Zulassung nicht vornehmen
510 511 512 513
FWA 50-5-6; landesherrlicher Befehl vom 2. November 1774. Todesanzeige in: Wöchentliche Neuwiedische Frag= und Anzeigs=Nachrich-ten, Nummer 9, 28. Februar 1756. Vgl. SOHM Recht der Eheschliessung (Fn. 409), S. 269. FWA 50-5-16.
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zu müssen514. Ungefragt mischte sich auch in diesem Fall wieder Hofprediger Wesemann ein, der vorschlug, ein universitäres Gutachten einzuholen, wobei in seiner Stellungnahme bereits durchscheint, dass er „nach dem geselschaftl. Rechte“ eine Dispensation für vorzugswürdig hielt515. In einem weiteren angeforderten Gutachten verneint Pfarrer Ludwig Wilhelm Emmelius aus Alsbach hingegen unter Bezugnahme auf die im Verfahren gegen Johann Christian Noll angefertigten Gutachten der beiden Pfarrer Caesar (Heddesdorf) und Müller (Feldkirchen) die Möglichkeit einer Dispensation516. Das Konsistorium entschied schließlich – wohl noch unter dem Eindruck des vorhergegangenen Verfahrens – auf Landesverweisung, sobald die hochschwangere Witwe Seigel „von ihrem unehelichen Kindbette wieder ausgehen kann517“ und beschließt damit eine weltliche, nicht nur eine geistliche Strafe. Das Konsistorium wollte augenscheinlich nach dem konfliktreichen Verfahren gegen Johannes Christian Noll ein Exempel statuieren, zumal aufgrund der Schwangerschaft der Witwe Seigel der Fall noch eindeutiger als sittliches Verbrechen gewertet werden konnte, als dies in dem Normalfall der Schwagerehe möglich wäre. Damit griff das Konsistorium auf eine vergleichsweise harte Strafe zurück, die jedoch nur selten ihr Ziel erreichte518. Hier wird auch ein innerer Zusammenhang zwischen dem Verfahren gegen Johannes Christian Noll und dem gegen Johannes Seigel erkennbar, weil der Landesherr ausdrücklich die „acta des Soldaten in gleichen Falls“ zur Lektüre anforderte519. Die Landesherrschaft war sich also bewusst, dass sie einen Präzedenzfall geschaffen hatte und legte sich an dieser Stelle bereits intern fest, wie mit dem Fall umgegangen werden sollte. Das anschließende Supplikationsverfahren, das Johannes Seigel anstrengte, stellt sich als typischer Weg zu einer Strafmilderung dar. Zunächst baten Johannes und Anna Seigel um Milderung der Landesverweisung in eine 514 515 516 517 518
519
FWA 50-5-16, pag. 3; Gutachten des Pfarrers Emmelius vom 29. November 1770. FWA 50-5-16, pag. 7; Gutachten des Hofpredigers Wesemann vom 29. November 1770. FWA 50-5-16, pag. 8; Gutachten des Pfarrers Emmelius vom 12. Dezember 1770. FWA 50-5-16, pag. 17 ff.; Entscheidung und Publikation der Landesverweisung durch das hochgräflich wiedische Konsistorium vom 12. November 1771. Ausführlich zur Strafe der Landesverweisung und deren Wirksamkeit: Helga SCHNABEL-SCHÜLE, Die Strafe des Landesverweises in der Frühen Neuzeit, in: Andreas GESTRICH/Siegfried HIRSCHFELD/Holger SONNABEND, Ausweisung und Deportatiton. Formen der Zwangsmigration in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 73-82; SCHNABELSCHÜLE Überwachen (Fn. 32), S. 131 ff. FWA 50-5-16, pag. 14; Anmerkung des Grafen Johann Friedrich Alexander vom 22. Oktober 1771.
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Geldstrafe mit der Begründung, dass die Witwe bereits seit drei Jahren als Haushälterin bei Johannes Seigel lebe und weiterhin die Absicht bestünde, einander zu heiraten520. Der Hinweis darauf, dass bereits „mehrere Exempel vorhanden, daß ein Bruder seines Bruders Witwe heiraten kann“ lässt zudem den Schluss zu, dass beide sich über die Zulässigkeit der Schwagerehe informiert hatten beziehungsweise dass sich der Fall „Noll“ herumgesprochen hatte. Denkbar wäre auch, dass Johannes Seigel unmittelbar an den Fall des Johannes Christian Noll anknüpfen wollte, weil dieser zum einen erst zwei Jahre zurück lag und es sich zum anderen um einen Soldaten handelte. Aufgrund der überschaubaren Anzahl Soldaten in der Grafschaft Wied liegt es zumindest nahe, dass sich beide gekannt haben. Die Konsistorialräte Winter und Melsbach entschieden ohne weitere Begründung für eine Strafmilderung und setzten die zu zahlende Summe auf 40 Reichstaler fest. Daraufhin erging ein erneutes Milderungsverlangen des Johannes Seigel, weil „arme Bürger dem Grafen nicht von Nutzen seien521“. Ein Gutachten des Anhausener Schultheißen ergibt jedoch, dass das Vermögen des Johannes Seigel 300 Reichstaler betrage, so dass dem Konsistorium trotz weiterer Supplikationen des Delinquenten eine Milderung nicht zweckmäßig erschien. Offen bleibt die Frage, ob die Eheschließung vorgenommen werden durfte. Zu diesem Zweck erstellte der Regierungsrat Becmann für das Konsistorium ein detailliertes Gutachten522, ein weiteres wurde von der juristischen Fakultät der Universität Göttingen angefertigt523. Allein der Umstand, dass in diesem Verfahren entgegen den vorhergegangenen eine juristische Fakultät befragt wurde, erscheint bemerkenswert. Hinzu kommt, dass die Universität Göttingen im Jahr 1773 keine 40 Jahre alt war und der wiedische Hof zum Kurfürstentum Hannover keine besonderen Beziehungen unterhielt. Anders als die beiden Universitäten Marburg und Heidelberg oder die Hohe Schule Herborn war die Universität Göttingen auch keine evangelisch-reformierte Universität und weniger vom Geist der Reformation als von dem der Aufklärung geprägt. Zudem spielte hier die Theologische Fakultät, bei der es sich sogar um eine evangelisch-lutherische handelte, nur eine untergeordnete Rolle524. Namhafte Theologen sucht man dort im 18. Jahrhun520 521 522 523 524
FWA 50-5-16, pag. 20; Supplikation des Johannes Seigel und der Witwe Anna Seigel (undatiert). FWA 50-5-16, pag. 33; Supplikation des Johannes Seigel (undatiert). FWA 50-5-16, pag. 36 ff.; Gutachten des Regierungsrates Becmann. FWA 50-5-16, pag. 53 ff.; Gutachten der Juristischen Fakultät Göttingen von November 1773. Günther MEINHARDT, Universität Göttingen, Frankfurt, Zürich 1977, S. 13.
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dert – sieht man einmal von Johann David Michaelis525 ab – vergebens. Ein wesentlich größerer Stellenwert wurde der Philosophie und damit modernen, rational begründeten Wissenschaften zugemessen526. Dass die wiedischen Räte darauf drangen, sich bewusst für eine gegenüber Marburg fortschrittlichere Hochschule zu entschieden, lässt darauf schließen, dass die Landesherrschaft diesmal ein eindeutiges Ergebnis für eine Dispensation zu erhalten wünschte. Nicht anders als heute wurde die politische Entscheidung durch „gefällige“ Gutachtertätigkeit vorbereitet und begründet. Sowohl Regierungsrat Becmann als auch die Juristische Fakultät Göttingen plädierten – wohl erwartungsgemäß – für eine Dispensationsmöglichkeit, woraufhin am 30. November 1774 der Copulationsschein erteilt wurde. Es stellte sich jedoch erneut das Problem, dass sich der zuständige Ortspfarrer Johann Anton Caesar wegen „schwerer Gewissensbisse“ weigerte, die Trauung vorzunehmen527. Bereits zuvor hatte Inspektor Muzelius gerügt, dass keine theologische Fakultät angehört worden war, weil dann das Gutachten anders ausgefallen wäre. Zudem wäre die Landesverweisung einer Geldstrafe vorzuziehen528. Die Pfarrer der Grafschaft fühlten sich also ein weiteres Mal ausgebremst und umgangen. Ihnen blieb wiederum als letzte Möglichkeit, die Weigerung ihre Amtspflichten zu vollziehen und den Sünder aus der Kirche auszustoßen. Mittlerweile schienen aber auch den Johannes Seigel „Gewissensbisse“ geplagt zu haben, denn mehr als die Bitte um Verheiratung mit seiner Schwägerin interessierte ihn nun die Wiederaufnahme in den Schoß der Kirche. Die Beweggründe für diesen Sinneswandel lassen sich nur vermuten. Es erscheint jedoch möglich, dass der Pfarrer seinerseits Druck innerhalb des Kirchspiels aufgebaut hatte, um eine Eheschließung zu verhindern. Die Wiederaufnahme in die Kirche sollte schließlich nur gewährt werden, wenn Johannes Seigel bereit wäre, öffentlich Kirchenbuße abzuleisten und aus dem Haus der Witwe auszuziehen529. Anders sah dies lediglich Konsistorialrat Melsbach, der die beiden „wegen Versorgung der Kinder“ beisammen wohnen lassen wollte530. Innerhalb des Konsistoriums deutet sich hier ein Kon525 526 527 528 529 530
Zu seiner Person: Christoph BULTMANN, Johann David Michaelis, in: NDB, Band 17, Berlin 1994, S. 427-429. MEINHARDT Universität Göttingen (Fn. 524), S. 21 ff. FWA 50-5-16, pag. 92 ff.; Stellungnahme des Pfarrers Caesar von November 1774. FWA 50-5-16, pag. 88; Stellungnahme des Inspektors Muzelius von November 1774. FWA 50-5-16, pag. 95; Gutachten des Konsistorialrates Winter vom 17. Januar 1775. FWA 50-5-16, pag. 95; Gutachten des Konsistorialrates Melsbach vom 11. März 1775.
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flikt an, der jedoch schnell zu Gunsten des Konsistorialrates Winter entschieden wurde. Letztendlich wurde der Auszug des Johannes Seigel angeordnet, „weilen […] dieses beýsammen wohnen zu gefährlich und zu anderweiten Vermischungen und sündlichen Handlungen nur Gelegenheit geben würde, es auch der Gemeinde anstößig seýe, wann diese als Eheleuthe beýsammen wohnen531“.
Das Zusammenleben beider wurde also präventiv unterbunden, um weiteren Umgang zu verhindern. Dass es zu diesem Auszug gekommen ist, kann nur vermutet werden, weil sich in der Akte keine weiteren Anordnungen finden. Dieser Fall bestätigt zunächst die Aussagen, die im Fall „Noll“ bereits getätigt wurden. Die Konflikte zwischen Landesherr und Geistlichkeit weisen in dieser Frage eine gewisse Kontinuität auf. Es wird zudem deutlich, dass die Auffassungen innerhalb der Kirchenbehörde nicht immer so einheitlich waren, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn auch die Aktenvermerke den Eindruck suggerieren, dass Diskussionen nur nach außen stattfanden, darf man diese Aussage mit guten Gründen hinterfragen.
2. Eheversprechen Ein zentrales Anliegen der Reformation war es gewesen, heimliche – nach kanonischem Recht gültige – Verlöbnisse und Ehen zu bekämpfen532. Gleichwohl lassen sich zahlreiche Konsistorialprozesse nachweisen, in denen solche Eheversprechen eingeklagt wurden533. Diese Fälle waren nicht selten, zumal ein heimliches Eheversprechen in der Frühen Neuzeit ein adäquates Mittel war, um einem Mädchen die Unschuld zu nehmen534. Ähnlich war es auch Anna Catharina Blum ergangen, auch wenn sie nicht selbst das Eheversprechen einklagt. Das Verfahren gegen den „herrschaftlichen Jagdschießer“ Johann Simon Mendel535 geht zurück auf eine Anzeige des Neuwieder Pfar531 532 533 534 535
FWA 50-5-16, pag. 101; Abschlussverfügung vom 11. April 1775. FRIEDBERG Recht der Eheschliessung (Fn. 399), S. 224 f., 230; SOHM Recht der Eheschliessung (Fn. 409), S. 206 Luise SCHORN-SCHÜTTE, Wirkungen der Reformation auf die Rechtsstellung der Frau im Protestantismus, in: GERHARD, Frauen (Fn. 176), S. 101 f. BECK Voreheliche Sexualität (Fn. 405), S. 135 f.; GÖTTSCH traditionelle Ordnung (Fn. 405), S. 207 f.; SCHMIDT Kirchenbuße (Fn. 271), S. 130 f. FWA 50-5-21.
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rers Touby, dass Anna Catharina Blum am 25. Februar 1781 mit einem unehelichen Sohn niedergekommen sei und als Vater den „herrschaftlichen Jagdschießer“ Mendel angegeben habe. Wieder handelt es sich um einen Fall der Unzucht in Gestalt der so genannten Hurerei. Es darf wohl davon ausgegangen werden, dass die Anzeige unehelicher Schwangerschaften an das Konsistorium in Neuwied der Regelfall gewesen ist. Die Vorladung der Anna Catharina Blum erfolgte auf einen Termin, „sobald die Blumin wieder ausgehen kann“. Der vermeintliche Vater wurde zunächst nicht auf das Konsistorium zitiert, sondern nahm schriftlich zu den Vorwürfen Stellung. Dabei stritt er die Vorwürfe ab und bat darum, „die Behauptungen künftig zu bestrafen (und) einige Silberpfennige aufzuerlegen536“. In der Vernehmung gab Anna Catharina Blum an, Johann Simon Mendel hätte ihr die Ehe versprochen, sobald die neue herrschaftliche Jagd – offenbar für Mendel eine Existenz sichernde Anstellung – fertig sein würde und sie so gefügig gemacht. Die bloße Vernehmung des Jagdschießers Mendel schien von vornherein nicht Erfolg versprechend gewesen zu sein, weswegen Konsistorialrat Hachenberg eine Gegenüberstellung der beiden Konfliktparteien anordnete. Doch auch dies änderte nichts an den gegenseitigen Beschuldigungen. Der Klägerin wurde sodann aufgegeben, innerhalb von 14 Tagen Beweise für ihre Behauptungen zu beschaffen537. Anna Catharina Blum bot jedoch nur zwei Beweismöglichkeiten für ihr Vorbringen an: zum einen Schwur durch sie selbst und zum anderen ein Geständnis des Johann Simon Mendel. Offenbar hatte sie es versäumt, sich für das Eheversprechen ein Unterpfand zu verschaffen, wie vielfach üblich war538. Gleichzeitig bat sie das Konsistorium, „den Beklagten seine Aussage innerhalb von 14 Tagen beeýden zu lassen539“. Die Rechtsansicht des Konsistoriums blieb jedoch unverändert. Da Anna Catharina Blum keine stichhaltigeren Beweismittel „liefern“ konnte, wurde ihre Klage abgewiesen und das Verfahren vor dem Konsistorium eingestellt. Die zuständigen Räte stuften eine Beeidung als „ungeeignet“ ein, weil dies wohl nur zu einander widersprechenden Aussagen geführt hätte. 536 537
538 539
FWA 50-5-21 (unpaginiert); Schreiben des Jagdschießers Mendel vom 19. März 1781. „Da […] Beklagter die angeschuldigte Schwängerung gentzlich in Abrede stellet, klägerin auch dieserhalb nicht soviel auszuführen vermocht, daß daraus eine rechtliche Vermuthung und Verdacht gegen Beklagten erwachsen seýe, Eid ungeeignet, eine Verurteilung von Amts wegen herbei zu führen, weil Klage auf „dünnen“ Angaben basiert[…]“; FWA 50-5-21 (unpaginiert); Verfügung des Konsistoriums vom 20. Juni 1781. Vgl. SCHORN-SCHÜTTE Wirkungen der Reformation (Fn. 533), S. 102. FWA 50-5-21 (unpaginiert); Vorbringen der Anna Catharina Blum vom 11. Juli 1781.
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Deutlich wird in diesem Fall erneut die nur untergeordnete Rolle der Pfarrer bei der Rechtsfindung: Außer dem anzeigenden Pfarrer Touby aus Neuwied waren keine Theologen an dem Verfahren beteiligt.
3. Ehescheidungen a. Scheidungsrecht Eine dritte Fallgruppe relevanter Eheprozesse im evangelisch-reformierten Kirchenrecht der Grafschaft Wied-Neuwied betrifft Ehescheidungen: Die Verfahren, die auf die Beendigung der Ehe zielen, werfen mitunter diffizile theologische und juristische Fragen auf, weil sich bereits die Reformatoren vor das Problem gestellt sahen, grundsätzlich an der Unauflösbarkeit der Ehe festhalten, gleichzeitig aber die Aufhebungsgründe flexibler und zeitgemäßer als im kanonischen Recht handhaben zu wollen. Die einzelnen Fälle540 offenbaren einen Einblick in das Sozialgefüge der wiedischen Gesellschaft und eignen sich daher besonders als Untersuchungsgegenstand. Das wiedische Konsistorium wurde in diesem Fall ausschließlich als Ehegericht tätig. Während es in der römisch-katholischen Kirche kein Scheidungsrecht, sondern bis heute lediglich die Möglichkeit gibt, die Nichtigkeit einer Ehe festzustellen, war durch die Reformation in den evangelischen Landeskirchen die Ehescheidung eingeführt worden541. Dabei bildeten sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts allgemeine Grundsätze heraus, die im Zuge der Konfessionalisierung in den meisten protestantischen Territorien rezipiert wurden, wenngleich eine dem kanonischen Recht hinsichtlich der Nichtigkeitsgründe vergleichbare Entwicklungsstufe niemals erreicht werden konnte542. Dies mag auch dadurch bedingt sein, dass es zunächst nur wenige Kirchenordnungen gab, die diese Grundsätze aufgriffen. So ist es auch zu erklären, dass sich in der Grafschaft Wied-Neuwied ein kodifiziertes Scheidungsrecht nicht nachweisen lässt. Bei den nachfolgenden Betrachtungen kann daher in materiell-rechtlicher Hinsicht ausschließlich auf die allgemeinen Grundsätze des protestantischen Ehescheidungsrechts Bezug genommen werden543. Die hier relevanten Scheidungsgründe Ehebruch und böswillige Verlassung waren 540 541 542 543
Zur Quellenauswahl siehe 1. Teil, Gliederungspunkt D, Seite 28. WITTE Law and Protestantism (Fn. 205), S. 228. ERBE ZWLG 14 (Fn. 270), S. 98. Ausführlich dazu: DIETERICH Eherecht (Fn. 177), S. 69 ff.; WIESE Handbuch des Kirchenrechts III (Fn. 453), S. 416 ff.
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allgemein anerkannt544. Die Untersuchung mehrerer Fälle wird jedoch zeigen, dass die Scheidungsgründe weitaus vielseitiger waren und vor dem Ehegericht nach utilitaristischen Erwägungen entschieden wurde, ohne sklavisch an den Prinzipien des Kirchenrechts festzuhalten.
b. Scheidungsverfahren aa. Welcker gegen Welcker I Eine eindringliche Bitte auf Auflösung ihrer Ehe richtete am 13. November 1742 Ernestina Welcker aus Nieberbieber an das hochgräfliche Konsistorium545. Sie trug zur Begründung vor: „Es ist leider! eine Stadt und Landkündige Sache, waßmaasen mein abgewichener Ehemann Thomas Welcker von anfang unserer ehe, Mich dergestalten barbarisch und übel tractieret zugleich auch das ihme zugebrachte Heyrathsguth durch den Suff und liederliche Schwelgerey durch gebracht (hat)546.“
Es kommen hier gleich zwei Vorwürfe zum Tragen, die in einem evangelisch-reformierten Territorium kaum geduldet werden konnten, für eine Scheidung allerdings prinzipiell nicht ausreichend waren: Häusliche Gewalt und übermäßiger Alkoholkonsum des männlichen Ehegatten verstießen zwar eindeutig gegen die Grundsätze, wie eine christliche Ehe zu führen war, ermöglichten aber keine Scheidung, sofern nicht die Schwelle zum Ehebruch überschritten worden war547. Das Konsistorium hätte insofern eine Scheidung ablehnen und die christliche Bußzucht anwenden müssen. In der kleinteiligen Siedlungsstruktur wurden solche Geschichten, obwohl die häusliche Gewalt wohl kein außergewöhnliches Problem der frühen Neuzeit darstellte, schnell kolportiert. Offenbar hatte Thomas Welcker ein Maß überschritten, das die Gesellschaft des 18. Jahrhundert nicht mehr tolerieren konnte. Besondere Schwere gewinnen die Vorwürfe dadurch, dass er bereits
544
545 546 547
DIETERICH Eherecht (Fn. 177), S. 69 ff.; ERBE ZWLG 14 (Fn. 270), S. 101; Marianne WEBER, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung, Tübingen 1907, S. 286; WITTE Law and Protestantism (Fn. 205), S. 250 ff. FWA 50-5-24. FWA 50-5-24, unpaginiert; Schreiben der Ernestina Welckerin vom 13. November 1742. WEBER Ehefrau und Mutter (Fn. 544), S. 287.
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wegen dieser Vergehen „nicht allein zu gerichtlicher Verantwortung vielfältig gezogen […] worden (war)“. Darüber hinaus hatte er sich trotz mehrfacher Arrestierung nicht gebessert, die staatlichen Sanktionsmittel hatten auf untergeordneter Ebene offenbar versagt. Ein mögliches Vorgehen im Wege der christlichen Bußzucht erschien dem Ehegericht wenig Erfolg versprechend. Die Zuständigkeit begründete sich also aufgrund des ultima-ratio-Prinzips, weil die Scheidung als letzter Ausweg erschien. Die „Ehehölle“ der Ernestina Welcker endete erst, als ihr Mann „mit allem waß er nur davontragen könnte“ im Dezember 1736 Neuwied und seine „dahmahlen im Kindbette liegende Frauw mit zweyen Kindern treuloser weise“ verließ. Damit lag der Tatbestand der böslichen Verlassung schließlich vor, der eine Scheidung ermöglichte. Thomas Welcker war aus der Grafschaft Wied-Neuwied über den Rhein geflohen und in Weißenthurm in kaiserliche Kriegsdienste gegangen. Die Werbung erfolgte wohl im Rahmen des Polnischen Erbfolgekrieges, der erst mit dem Frieden von Wien am 18. November 1738 endgültig endete. Mit einer Rückkehr des Entwichenen war nach nunmehr sechs Jahren wohl nicht mehr zu rechnen. Warum Ernestina Welcker erst so spät auf eine Scheidung drängte und sechs Jahre lang wartete, kann nicht ergründet werden. Schließlich spielte die Dauer der Abwesenheit eines Ehepartners bei Beurteilung einer böswilligen Verlassung grundsätzlich keine Rolle und die Auflösung der Ehe stand damit im Ermessen des zuständigen Ehegerichts548. Gleichwohl richtete Ernestina Welcker am 17. November 1742 an das Ehegericht eine zweite Supplik, in der sie darum bittet, die „EhescheidungsSentenz“ zu erhalten, um eine anderweitige Verheiratung zu ermöglichen. Lösung der Ehe und Ehescheidungs-Sentenz waren demnach zwei unterschiedliche Rechtsakte. Für die bloße Scheidung war ausreichend, den Tatbestand der böswilligen Verlassung nachzuweisen. Die EhescheidungsSentenz beinhaltete darüber hinaus eine dahingehende Aussage, wer für das Scheitern der Ehe verantwortlich war und daher eine neuerliche Ehe nicht eingehen durfte. Dies konnte insbesondere Frauen hart treffen, weil die Ehe für sie eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Notwendigkeit darstellte549. Der späte Scheidungsantrag lässt sich also womöglich damit erklären, dass sich erst 1742 für Ernestina Welcker die Möglichkeit ergab, erneut eine Ehe einzugehen.
548 549
CARPZOV Jurisprudentia ecclesiastica (Fn. 410), Lib. III, Tit. V, Definit LX. Vgl. BECK Voreheliche Sexualität (Fn. 405), S. 136 f.
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Doch ehe die Scheidung ergehen konnte, leiteten die Konsistorialräte das übliche Ediktalcitationsverfahren550 ein. Demnach war „die Citation in tribus territoriis bekannt zu machen“. Daher wurde angeordnet, ein Schreiben an die drei Konsistorien in Dierdorf (Grafschaft Wied-Runkel) und Hachenburg (Sayn-Hachenburg) zu senden, um die Citation des Thomas Welcker dort bekannt zu machen. Das dritte Territorium war die Grafschaft WiedNeuwied selbst. Das Erscheinen des Thomas Welcker wurde entsprechend der vorgeschriebenen Sechs-Wochen-Frist auf Dienstag, den 8. Januar 1743, festgesetzt. Hier wird deutlich, wie beschränkt der Wirkungskreis der Konsistorialbehörde eines Kleinstaates Mitte des 18. Jahrhunderts gewesen ist. Eine effektive Suche nach dem entwichenen Ehemann wäre zwar faktisch möglich gewesen, überforderte aber die bürokratischen Strukturen der Grafschaft Wied-Neuwied. Man begnügte sich vielmehr damit, in den angrenzenden Territorien zu suchen. Auf Rechtssicherheit verzichtete man auf diese Weise wohl bewusst. Aus Praktikabilitätsgründen oder wegen unzureichender Mittel war dieses Verfahren wohl von Anfang an aufs Scheitern angelegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Thomas Welcker, der bereits 1736 zur Kaiserlichen Armee gegangen war und dessen Überleben der Kampfhandlung keineswegs festgestanden haben dürfte, in einem der zwei angrenzenden Nachbarstaaten Sayn-Hachenburg und Wied-Runkel aufhielt, dürfte als äußerst gering einzustufen sein. Dieser Umstand musste auch den handelnden Personen bewusst gewesen sein. Bedeutung dürfte dies jedoch für die Erteilung einer Wiederverheiratungserlaubnis gehabt haben, weil diese nur erteilt wurde, wenn trotz eines Lebenszeichens des Ehegatten sieben Jahre vergangen waren551. Möglicherweise kann damit die lange Wartezeit der Ernestina Welcker auch erklärt werden. Nachdem der Termin ergebnislos verstrichen war, erging an den Grafen die Anzeige, dass sich Thomas Welcker nirgendwo gemeldet hätte, so dass die Scheidung vollzogen werden könnte. Das Ehegericht erstattete also auch wegen eines vergleichsweise alltäglichen Verfahrens Bericht an den Landesherrn. Gerade in den kirchenrechtlich bedeutsamen Fällen wurde dieser als oberstes Kirchenoberhaupt ständig eingebunden. Ein gänzlich unabhängiges Ehegericht existierte in der Grafschaft Wied-Neuwied folglich nie. In der Abschlusssentenz wird festgestellt, dass „die Klägerin und implorantin, als unschuldiger Theil, von dem bande der […] Ehe, gänzlich loß und 550
551
Form der öffentlichen Bekanntmachung, wodurchd er „Citierte“ aufgefordert wurde, beim Ehegericht vorstellig zu werden; vgl. CARPZOV Jurisprudentia Ecclesiastica (Fn. 410), Lib. III, Tit. V, Definit LXI Rn. 8 ff., Definit LXII, Rn. 9 f. Vgl. ERBE ZWLG 14 (Fn. 270), S. 107.
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freý zu sprechen, und mithin ihr der Implorantin nicht aber dem Imploranten sich anderweitig zu verheúraten, zu gelasßen seye552“. Dieser Fall stellt zunächst ein unspektakuläres Verfahren dar, weil es geschäftsmäßig ablief und kein Eingreifen der Landesobrigkeit erfolgte. Die Böswilligkeit der Verlassung wurde aufgrund der vorangegangenen Ereignisse wohl unwiderlegbar vermutet, ansonsten wären die Vorgänge im Jahr 1736 für die Entscheidung nicht von Belang gewesen. Eine Rolle für die schnelle Entscheidung des Konsistoriums mag auch gespielt haben, dass Thomas Welcker möglicherweise im Krieg gefallen war. Ein Desertionsprozess wäre in diesem Fall dann gar nicht mehr erforderlich gewesen. Auch in eindeutig gelagerten Fällen ging also das Konsistorium schnell und gesetzmäßig vor. Die Desertionsklage gehörte zu den ureigensten Instrumenten des Konsistoriums als Ehegericht. Die Wiederverheiratung wurde regelmäßig nur dem unschuldigen Teil gewährt und diente zur „Errettung des Gewissens“. Damit wurde Rechtssicherheit für den verlassenen Ehegatten hergestellt553. Gleichzeitig wurde der verlassene Ehegatte in die Lage versetzt, seine wirtschaftliche Basis wiederherzustellen. Auf diese Weise diente die Scheidung im Falle der Ernestina Welcker sowohl ihr persönlich als auch der Landesobrigkeit. bb. Behmler gegen Behmler Ein zweites Verfahren fand zeitnah zu dem vorgenannten Fall im Jahr 1745 statt. Die wesentlichen Angaben zum Sachverhalt stammen von Pfarrer Philipp Ludwig Müller aus Feldkirchen, der auf Bitte des Konsistoriums den Sachverhalt schilderte554: Johann Andreas Behmler, ein Materialist555 aus dem brandenburgischen Küstrin, hatte am 8. August 1737 in Berlin die 16jährige Susanna Pavret, das einzige Kind des dortigen Königlichen Hofstuckateurs, geheiratet. Wahrscheinlich kamen beide aus beruflichen Gründen nach Neuwied. Das Eheglück war jedoch von kurzer Dauer, weil die beiden nur bis zum Martinstag des Jahres 1743 zusammengelebt hatten. Aufgrund seiner „widerwärtigen und ohnhäuslichen Arth“ flüchtete Johann Behmler und begab sich angeblich nach Holland, um dort ein Auskommen zu finden. 552 553 554 555
FWA 50-5-24, unpaginiert; Abschlusssentenz vom 28. Januar 1743. FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 239. FWA 50-5-27 pag. 2. Materialist ist eine Berufbezeichnung für Händler, die Gegenstände des Kleinhandels, insbesondere Kolonialwaren an- und verkaufen; vgl. BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT, Meyers kleines Konversations-Lexikon, Zweiter Band, 6. Auflage, Leipzig/Wien 1899, S. 602.
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Mit einer List gelang es ihm, seine junge Frau dazu zu bewegen, ihm zu folgen. Aufgrund nicht näher spezifizierter „widriger Umstände“ war Susanna Behmler jedoch gezwungen, nach Neuwied zurückzukehren. Dort fand die Stuckateurin Arbeit und schaffte es, ihre beiden Kinder zu ernähren. Zwischenzeitlich fand sich auch ihr Mann wieder in Neuwied ein und schwängerte seine Frau ein drittes Mal. Während der Schwangerschaft fasste er dann den für Susanna Behmler folgenschweren Entschluss, sie vor der Niederkunft des dritten Kindes zu verlassen. Zu diesem Zweck spiegelte Johann Behmler seiner Frau vor wegen „debit und Preiß seiner Waaren nach Holland zu fahren“. Da er Geld benötigte, entwendete er seiner Frau den von ihr für den Winter angelegten Vorrat von 300 Gulden. Gerade dieses Schicksal führt dem heutigen Betrachter vor Augen, wie fatal es gewesen ist, wenn eine junge Frau von ihrem Mann – noch dazu hochschwanger – verlassen wurde. Allein die Schicksale von Ernestina Welcker und Susanna Behmler machen deutlich, dass das Problem allein erziehender Mütter kein Phänomen der Moderne ist. Letztere stand mit zwei Kindern und in Erwartung eines dritten Kindes vor einem Winter, der trotz des relativ milden Klimas im Neuwieder Becken diverse Vorkehrungen erforderte. Verschärft wurde die Situation durch den hohen Schuldenstand, den Johann Behmler während seines kurzen Aufenthaltes in der Stadt bei Neuwieder Kaufleuten angehäuft hatte. In Anlage H zum Anschreiben listet Susanna Behmler detailliert auf, in welcher Höhe sich ihr Mann bereits verschuldet hatte. Insgesamt 502 Reichstaler – davon allein 80 Reichstaler an die hochgräfliche Herrschaft – musste Johann Behmler diversen Gläubigern zurückzahlen – eine Summe, die seine Frau wohl kaum alleine hätte aufbringen können. Ihr Schicksal hat offenbar auch an höchster Stelle Bestürzung ausgelöst, denn in einem Vermerk vom 3. Februar erteilt der Graf selbst dem Pfarrer Müller, der die Anzeige erstattet hatte, den Auftrag „die Sache zu befördern und zu berichten ob es nicht nomine Consistorii müsste außgefertigt werden.“ Offenbar war die Landesherrschaft sich über die Zuständigkeit des wiedischen Konsistoriums unsicher. Gleichwohl leitete das Konsistorium auf inständiges Bitten der Susanna Behmler das „normale“ Citationsverfahren ein. Hier macht sich der Einfluss des Landesherrn deutlich bemerkbar, weil dieses Verfahren trotz ungeklärter Zuständigkeit schneller vorangetrieben wurde als beispielsweise das Verfahren gegen Thomas Welcker. Bereits am 12. Februar 1745 – nur kurz nach Eingang der Anzeige – erging an Pfarrer Johann Konrad Emmelius aus Niederbieber der Befehl, die entsprechenden Ediktalcitationen, die in Altenwied, Runkel (Grafschaft Wied-Runkel) und
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Altenkirchen (Sayn-Altenkirchen) bekannt gemacht werden sollten, zu unterzeichnen. Die Auswahl der betroffenen Territorien war wiederum auf den näheren Umkreis begrenzt. Aufgrund der familiären Verbundenheit wurden in Wied-Runkel die neuwiedischen Citationen immer veröffentlicht. Auch wenn sich in den Akten keinerlei Beweise finden, dass ebenso im umgekehrten Fall verfahren wurde, kann man wohl davon ausgehen, dass auch Ediktalcitationen aus Wied-Runkel immer in der Niedergrafschaft veröffentlicht wurden. Die räumliche Nähe und die familiären Verhältnisse der gräflichen Familie legen diesen Schluss nahe. Die Ladungsfrist der Citation belief sich wiederum auf sechs Wochen und endete in diesem Fall am 13. April 1745 mit der letzten Möglichkeit für Johann Behmler, vor dem Konsistorium in Neuwied zu erscheinen. Parallel zu diesem regulären Verfahren wurde jedoch auch ein Gutachten der Juristischen Fakultät der Universität Marburg eingeholt, um die ausstehenden Zuständigkeitsfragen zu klären. Eine Beschleunigung des Verfahrens wurde seitens des Wied-Neuwiedischen Konsistoriums dringend angemahnt. Es sollte geklärt werden: „1. ob und wie weit beý so thanern ziemlichen Umständen der Desertionsprozess stadt habe, und 2. mithin die Supplicantin respective ad juramentum Suppletorum zu admittieren, und 3. wie so thaner Dersertinsprozess zu vollführen 4 und ob und wie weit allfalls der Landesherr hie einen falls dispensieren könnte556.“
Bereits die Fragestellung des Konsistoriums nach der Statthaftigkeit des Desertionsprozesses, dessen Durchführung und einer möglichen Dispensation, lässt darauf schließen, dass es damit rechnete, entweder für unzuständig erklärt zu werden oder einen Formfehler zu begangen zu haben. Warum das Verfahren problematisch sein könnte, ergibt sich nur aus dem Gutachten. Demnach war die Citation fehlerhaft, weil die Supplikantin ein Schreiben ihres Ehemannes aus Sinzig erhalten hätte. In einem solchen Fall hätte die Ladung prinzipiell dort erfolgen müssen, wohin sich der Verlassene gewendet hatte557. Die Ediktalcitation hätte demnach nicht in Sayn-Altenkirchen, sondern im Herzogtum Jülich erfolgen müssen. Gleichwohl scheint der Landesherr das Verfahren in Neuwied bestreiten zu wollen, wie die Frage nach
556 557
FWA 50-5-27, pag. 22. FWA 50-5-27, pag. 26 ff.
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der Dispensation deutlich macht, welche Entscheidung schlussendlich fallen soll. Noch während das Gutachten in Marburg erarbeitet wurde, bereitete man in Neuwied die Ehescheidungssentenz vor, um die Ehe der Susanna Behmler zu lösen und ihr eine anderweitige Verheiratung zu gestatten. Das Urteil aus Marburg sollte lediglich abgewartet werden558. Von einer Berücksichtigung des Gutachtens ist also erst gar nicht die Rede. In Neuwied rechnete man wohl mit einer Rüge aus Marburg, war aber fest entschlossen, Susanna Behmler schnellstmöglich von ihrem Mann zu scheiden, um ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft zu sichern. Das Warten bis zur Veröffentlichung des Gutachtens im Mai 1745 sollte wohl nur einen Affront gegen die renommierte Fakultät in Marburg vermeiden. An diesem Fall zeigt sich, dass durch beherztes Eingreifen von oberster Stelle auch eine sehr schnelle Scheidung möglich war, obwohl weder die Zuständigkeitsfrage noch der Tatbestand der böslichen Verlassung abschließend geklärt worden war. Die durch und durch pragmatische Entscheidung des Konsistoriums erweckt nur nach außen den Anschein eines formalen Verfahrens: Das Schicksal der Susanna Behmler, die als Stuckateurin einen Beitrag zur wirtschaftlichen Prosperität der Grafschaft leisten konnte, bewegte den Landesherrn dazu, zumindest verdeckt zu ihren Gunsten einzuschreiten. Auch hier kam es also zu einer an utilitaristischen Maßstäben orientierten Entscheidung. cc. Wibrecht gegen Wibrecht Auch im Verfahren der Anna Sophia Wibrecht gegen ihren Ehemann Christian Wibrecht aus Wesel559 ging die Initiative zur Scheidung von der Ehefrau aus, wie es in den Fällen der böslichen Verlassung der Regelfall gewesen sein dürfte. Beide lebten in Neuwied. Im Vordergrund stand auch hier das Bedürfnis der Frau, erneut heiraten zu können, um eine „getreu´n unterthanin“ zu sein. Christian Wibrecht hielt sich wohl in Wesel auf, weswegen die Ediktalcitation neben Runkel auch an das Landgericht nach Wesel übermittelt wurde. Im Unterschied zu dem vorangegangen Fall, in welchem die Citation am vermuteten Aufenthaltsort – der Stadt Sinzig im Herzogtum Jülich – nicht publiziert wurde, scheint eine solche im Herzogtum Kleve unproblematisch möglich. Dass dahinter konfessionelle Gründe zu suchen sind, kann nur
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FWA 50-5-27, pag. 24. FWA 50-5-5.
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vermutet werden560. Während die Wied-Runkel´sche Regierung sehr schnell auf die Citation antwortete, verzögerte sich das Verfahren in Wesel, so dass sich der Landesherr veranlasst sah, folgende Frage aufzuwerfen: „Drey jar warten auf Wesel! Warumb hat man nach Wesel geschrieben?561“ Tatsächlich war die Ediktalcitation bereits am 29. März 1764 nach Wesel versandt worden, während die Klägerin unentwegt in mehreren Supplikationen darauf hinwies, dass sie bereits „gute gelegenheit habe (sich) anderweitig zu verehligen562“. Nach über viereinhalb Jahren erging schließlich der „amptliche Bescheid, daß Beklagter und Implorant auf die […] edictal citation und darinnen fest gesetzen termino peremtario nicht erschienen (sei) oder sich […] entschuldigen (hat) lassen563“. Die Scheidungssentenz konnte daraufhin ausgefertigt werden. Wiederum erfolgte letztendlich auf Drängen der wiedischen Obrigkeit eine schnelle Entscheidung, auch wenn der Graf selbst wohl viel früher der Desertionsklage stattgegeben hätte. Auch in diesem Fall wird eine höchst pragmatische Herangehensweise deutlich, die augenscheinlich wenig mit einer strengen Auslegung protestantischer Scheidungsgründe gemein hatte. Pragmatismus ist somit ein Wesensmerkmal der wiedischen Kirchenpolitik im 18. Jahrhundert. dd. Siebel gegen Bückling Ein Beispiel für einen durchgeführten Desertionsprozess aus späterer Zeit, der ohne Eingriff der Landesobrigkeit vonstatten gegangen ist, ist der Fall der Albertina Siebel aus dem Jahr 1789564. Diese begehrte die Gestattung ihrer Verlobung mit dem Fabrikarbeiter Heinrich Humrich und bat darum, ihre vormalige Ehe mit dem Schuhmacher Georg Albrecht Pickel wegen Entweichung desselben zu scheiden. Es hatte sich herausgestellt, dass Georg Albrecht Pickel eigentlich Bückling mit Namen hieß und bereits in Nürnberg verheiratet und Vater dreier Kinder war. Seit 1783 befand er sich wieder in Nürnberg. Wiederum liegen also zwischen Entweichung und Scheidungsan560
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Das Herzogtum Jülich wurde schließlich seit dem 17. Jahrhundert wieder rekatholisiert, während das reformierte Bekenntnis im Herzogtum Kleve unter preußischer Herrschaft ein Refugium am Niederrhein gefunden hatte. Da die katholische Kirche den Scheidungsgrund der böslichen Verlassung nicht anerkannte, könnte hierin ein Motiv vermutet werden, weshalb die Citation in Sinzig nicht erfolgte. FWA 50-5-5, pag. 10; Bemerkung des Grafen Johann Friedrich Alexander von Wied am 31. Mai 1768. FWA 50-5-5, pag. 4; Supplikation der Anna Sophia Wibrecht vom März 1764. FWA 50-5-5, pag. 12 f.; Konsistorialbescheid vom 12. Juli 1768. FWA 50-5-17.
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trag sechs Jahre, so dass der Tatbestand nicht gesondert zu beweisen war. Die Landesobrigkeit fürchtete sogleich, dass die „Gefahr lange bey der ganzen Protestantischen Geistlichkeit verschrien zu werden565“ drohte. Offenbar war bei der Überprüfung des Georg Albrecht Bückling im Copulationsverfahren, welches das wiedische Konsistorium vor der Eheschließung durchgeführt hatte, ein kapitaler Fehler unterlaufen, so dass der Fürst wiederum die öffentliche Meinung und die konservative Geistlichkeit fürchtete. Er drängte schließlich auch darauf, den Prozess zu beschleunigen, indem die Termine kürzer angesetzt und außerordentlich einberufen werden sollten. Aus diesem Grund wurden wohl auch Theologen vollständig aus dem Fall herausgehalten, der nur von den weltlichen Konsistorialräten und der Regierungskanzlei vorangetrieben wurde566. Das Konsistorium nutzte in diesem Fall für die Veröffentlichung der Ediktalcitationen das vergleichsweise neue Medium der Zeitung und reichte entsprechende Anzeigen in Neuwied, Andernach (Kurköln) und Bendorf (Sayn-Altenkirchen) bei dortigen öffentlichen Blättern ein. Dies stellte indes wiederum einen Verfahrenverstoß dar, weil eigentlich eine Citation in Nürnberg hätte ergehen müssen, weil bekannt war, dass Bückling sich dort aufhielt. Der beschränkte Aktionsradius einer frühneuzeitlichen kleinstaatlichen Kirchenbehörde – ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt – tritt hier ein weiteres Mal zu Tage. Verständlicherweise erschien Georg Bückling jedoch nicht auf dem Konsistorium in Neuwied, so dass am 4. November 1789 die Gestattung des Verlöbnisses unter Auflösung der Ehe erfolgte. Die abschließende Bitte der Albertina Siebel, sie aus der Leibeigenschaft in Gnaden zu entlassen, wurde nicht mehr beschieden, wobei jedoch davon auszugehen ist, dass in der damaligen Praxis im Rheinland eine Entlassung erfolgte. Anhand dieses Falles lässt sich ein erstes Mal der Einfluss der Öffentlichkeit auf ein laufendes Verfahren belegen. Wie sehr die Landesobrigkeit bereits im 18. Jahrhundert die öffentliche Meinung fürchtete, erscheint vor dem Hintergrund, dass die Pfarrer auf dem Land maßgeblich auf ihre Gemeindemitglieder einwirken konnten, verständlich. Um das Verfahren schnell abzuwickeln, wurden sogar offensichtliche Verfahrensverstöße in Kauf genom-
565 566
FWA 50-5-17, pag. 9; Anmerkung des Fürsten vom 3. Juli 1789. Diesen Rückschluss lassen die Unterschriften der Räte von Habicht (Kanzleidirektor), Melsbach, Gneyß und Caesar zu, die hier gemeinschaftlich die entsprechenden Schriftstücke unterzeichnen. Selbst der Inspektor der Grafschaft wurde an diesem Verfahren nicht beteiligt, obgleich sich hinter den eherechtlichen Fragen ein theologisch komplexes Problem verbirgt.
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men. Die persönliche Situation der Albertina Siebel fiel hingegen weniger ins Gewicht. ee. Welcker gegen Welcker II Nicht direkt um Scheidung geht es in einem Fall betreffend die Uneinigkeit zwischen Johannes Welcker und seiner Ehefrau Anna Catharina567. Die Drohung mit der Scheidung ist vielmehr der Höhepunkt einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen Eheleuten, die in unterschiedlicher Intensität zwischen 1771 und 1776 stattfand. Auch hier begann das Verfahren mit einer Anzeige durch den Ortspfarrer Johann Jacob Touby568, der an das Konsistorium meldete, dass Anna Catharina Welcker in Abwesenheit ihres Mannes die Koffer gepackt hätte und zu ihren Eltern gezogen sei. Der Pfarrer vermutete in diesem Zusammenhang eine Einflussnahme der Eltern und klagte auf Wiederherstellung der Ehe569. Ob an der Klageerhebung auch der Ehemann Johannes Welcker beteiligt war, ist nicht ersichtlich, aber als Pfarrer hatte Touby ein legitimes Interesse an der Wiederherstellung einer vor Gott geschlossenen Ehe. Die erhobene Klage endete mit einem für Pfarrer Touby und Johannes Welcker, der verlangt hatte, dass „den Schwiegereltern bei 50 Rthl. Strafe aufgegeben werde, dasß sie sich nicht geleiten lassen, seine Ehefrau von ihm wegzuschaffen“, erfolgreichen Urteil. Eine entsprechende Verfügung erging noch am 27. August 1771, dem Tag der Klageerhebung. Im Januar 1776 wurde die Akte jedoch wieder geöffnet – diesmal auf Betreiben der Ehefrau, die beklagte, dass ihr Mann „von morgen bis in die Nächte […] mit Bier=, Wein= und Brandwein-Trinken (zubrächte), […] den ganzen Tag über betrunken und unvernünftiger wie ein Vieh (wäre)570“. Dabei ließe sich Johannes Welcker nicht in der Kirche sehen, überzöge sie mit wütenden Beschimpfungen („krumme Hexe“, „krummes Schindluder“, „Teufelskind“, etc.) und würde sogar handgreiflich. An das Konsistorium, das ihr fünf Jahre zuvor die Ehe anbefohlen hatte, erging daher die Bitte, dem „Ehemann ernstlich zu bedeuten, sich […] ins künfige vernünftig aufzuführen (und) […] sich in allen Stücken, als christlicher Ehemann […] (zu) verhalten“. Widrigenfalls sollte ihm Haft angedroht werden. Die Ereignisse, 567 568
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FWA 50-5-20. Johann Jacob Touby (oder Wouby; in den Akten finden sich beide Schreibweisen) war Pfarrer der evangelisch-reformierten Gemeinde Neuwied in den Jahren 1767 bis 1784; vgl. RÜFFLER evangelische Gemeinde (Fn. 178), S. 371. FWA 50-5-20, pag. 1 ff.; Anzeige des Pfarrers Johann Jacob Touby vom 27. August 1771. FWA 50-5-20, pag. 8; Klage der Anna Catharina Welcker vom 19. Januar 1776.
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die Anna Catharina Welcker schildert, hatten einen starken Bezug zu Fragen der Kirchenzucht. Der Versuch, den Ehemann zur Vernunft zu bringen, erinnert daher auch zunächst an das Ermahnen, wie es die reformierte Bußzucht als erste Maßnahme anordnet. Verbunden mit der Haftandrohung zeigte sich das Konsistorium zunächst versöhnlich. Johannes Welcker wurde daraufhin für den 13. Februar 1776 vorgeladen und gab als Ursache für die Streitigkeiten mit seiner Frau seine Schwiegermutter an. Nach einem erneuten Vorfall, bei welchem Johannes Welcker nächtens betrunken von Andernach mit der Fähre nach Hause gekommen war und seiner Frau „sogleich ein paar derbe Ohrfeigen gab, (sie) aus dem hause jagte, auch mit Schlägen übel behandelt haben würde, wenn nicht die fremden Leute dazwischen gesprungen wären und die Schläge nach (ihr) ausgehalten hätten […]571“, führte wieder zu einer Eskalation. Dazu hatte Johann Welcker nach Zeugenangaben ausgerufen, dass das Konsistorium ihm nicht zu befehlen hätte und er ohnehin nicht dorthin ginge. Durch diese Äußerungen forderte er die Staatsmacht endgültig heraus und begab sich in den strafrechtlich relevanten Bereich. Gleichwohl schlug der nunmehr polizeilich zuständige Stadtschultheiß Gneyß – zugleich Konsistorial- und Regierungsrat – vor, die Zuständigkeit beim Konsistorium zu belassen, weil der Fall nicht an zwei Gerichtsstellen gleichzeitig untersucht werden sollte, wobei er selbst künftige Tätlichkeiten des Johannes Welcker gegen seine Frau zu verhindern wissen würde. An dieser Stelle zeigt sich, dass sehr wohl die Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung von relevanten Verbrechen in der Grafschaft WiedNeuwied bestand. Die einmal beim Konsistorium begründete Zuständigkeit wurde jedoch beibehalten. Dies blieb nicht ohne Auswirkung auf die Entscheidung, weil im Rahmen der Kirchengerichtsbarkeit theologische Argumentationsmuster zwangsläufig auch bei den weltlichen Räten eine größere Entscheidung spielten. Der Antrag der Anna Catharina Welcker auf Scheidung ihrer Ehe vom 11. Juli 1776 war auch aus diesem Grund zum Scheitern verurteilt. Trotz der massiven Behandlung entschied das Konsistorium lediglich, dem „Welcker scharff zu injurieren mit seiner Frau in Ruhe und Frieden zu leben572“. Auch hier blieb es letztlich bei einer Ermahnung, die zwar ihre Wirkung nicht verfehlte – schließlich endete der Fall nach diesem Urteil – allerdings erscheint 571 572
FWA 50-5-20, pag. 12 f.; erneute Klage der Anna Catharina Welcker vom 24. Januar 1776. FWA 50-5-20, pag. 14; Entscheidung des Konsistoriums vom 16. Juli 1776.
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es in Anbetracht der – von Zeugen bestätigten – massiven Übergriffe des Johannes Welcker auf seine Ehefrau völlig unangemessen. Es wurde ihm zwar noch mit einer lebenslangen Strafe auf der Zitadelle in Wesel gedroht573, das Konsistorium schöpfte seinen Spielraum jedoch ein weiteres Mal nicht aus. Warum sich der Landesherr nicht einschaltete, lässt sich nicht ergründen. Er übte sich hier in Zurückhaltung. Schließlich wäre die prekäre Situation der Anna Catharina Welcker durchaus mit der ausweglosen Lage der Susanna Behmler oder der Albertina Siebel vergleichbar. Das Konzept der Ermahnung vor Strafe, das im System der Kirchenzucht nach Mt. 18, 15 ff. angelegt ist, scheint sich in diesem Fall, der neben dem kirchenrechtlichen auch einen deutlich strafrechtlichen Bezug aufweist, zu bestätigen.
4. Fazit Die untersuchten Eheprozesse im Bereich der Copulations- und Scheidungsverfahren deuten auf eine Grundtendenz kirchenrechtlicher Entscheidungen in der wiedischen Eherechtspraxis hin: Primäres Ziel der landesherrlichen Behörde war es, wirtschaftlich tragfähige Ehen zu fördern. Dabei wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts verstärkt utilitaristische Begründungsmodelle – losgelöst von theologisch-dogmatischen Begründungsmodellen des 16. Jahrhunderts – verwendet. Die These, dass Ziel der Bestrafung des vorehelichen Geschlechtsverkehrs bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Verhinderung ökonomisch instabiler Ehen gewesen sei574, kann daher unterstützt und sogar insoweit verallgemeinert werden, dass die Stabilität einer Ehe zu einem Staatsziel wurde, um die wirtschaftliche Basis der Gesellschaft zu sichern. Gerade in Anbetracht der vielfältigen Probleme mit Armut und umherziehenden Vaganten war es besonders für den frühneuzeitlichen Kleinstaat wichtig, neue Untertanen anzuwerben und seine Einwohner zu sesshaften und ökonomisch erfolgreichen Untertanen zu erziehen. Auch hier zeigte sich die Landesherrschaft von ihrer patriarchalischen Seite. Der persönliche Ein-
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574
Wesel war seinerzeit preußische Garnisonsstadt. Da die Grafschaft Wied-Neuwied keine eigene Haftanstalt besaß, wurden Strafgefangene dem preußischen Strafvollzug überstellt. SCHNABEL-SCHÜLE Landesverweis (Fn. 518), S. 289.
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satz des Landesherrn als treu sorgender Landesvater verstärkt diese Tendenz575. Die eher bremsenden Vorschriften des christlichen Ehe- und Sittenrechts wurden im 17. und 18. Jahrhundert diesen Zielen angepasst und teilweise sogar nutzbar gemacht. Der Konflikt zwischen den Beharrungskräften der reformatorischen Sittenstrenge in Gestalt der wiedischen Geistlichkeit und einem utilitaristischen Weltbild tritt hier offen zutage. Die gezielte Auswahl einer Universität oder Behörde zwecks Anfertigung eines Gutachtens legt die Vermutung nahe, dass die handelnden Personen die Probleme vom (gewünschten) Ergebnis her in Betrachtung genommen und dann eine tragfähige juristische und theologische Begründung gesucht haben576. Die Desertionsklagen nehmen bei den Scheidungsverfahren eine zentrale Stellung ein und sind die quantitativ und qualitativ bedeutsamste Gruppe577. Das Problem der Wiederverheiratung stellte sich tendenziell eher für Frauen, weil diese wirtschaftlich stärker auf eine Wiederverheiratung angewiesen waren, zumal wenn bereits Kinder vorhanden waren. Der umgekehrte Fall, dass ein Mann von seiner Frau böswillig verlassen wurde, ist in der frühen Neuzeit zwar auch bekannt578, kann allerdings in der Grafschaft WiedNeuwied nicht nachgewiesen werden und spielte in der Eherechtsprechung eine eher untergeordnete Rolle. Insgesamt zeigt sich, dass sich die Landesobrigkeit vielfach von wirtschaftlichen Motiven bei ihren Entscheidungen leiten ließ. Dies gilt sowohl für die Scheidungen, die regelmäßig vollzogen wurden, um dem in der Grafschaft verbliebenen Ehegatten die Wiederverheiratung und damit wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zurückzugewähren, als auch für die Fälle der Schwagerehe, in welchen der materielle Bestand der Familie, den es zu wahren galt, ein zentrales Motiv darstellte. Begründet wurden die Entscheidungen – sofern sie strittig waren – regelmäßig mit theologischen, aber auch mit praktischen Argumenten.
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Vgl. Paul MÜNCH, Die „Obrigkeit im Vaterstand“ – zu Definition und Kritik des „Landesvaters“ während der frühen Neuzeit, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur, Band 11 (1982), S. 30. Vgl. Ulrich FALK, Consilia, Frankfurt am Main 2006, S. 399. FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 238. Vgl. FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 240.
C. Ämter- und Behördenstruktur
I. Vorbemerkung Während das wiedische Konsistorium in den bisher untersuchten Eheprozessen ausschließlich als Ehegericht tätig wurde, ist die rechtliche Einordnung der behördlichen Tätigkeit im Bereich der Kirchenzucht weitaus schwieriger. Einerseits wird das Konsistorium auch in diesen Fällen als Gericht tätig, andererseits wird bei den Kirchzuchtmaßnahmen auch deutlich, dass diese nicht nur erziehenden, sondern auch strafenden Charakter haben konnten. Außerdem wurden sowohl kirchliche als auch staatliche Stellen zur Überwachung des sittlichen Verhaltens eingesetzt. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Kirchenzucht ist daher eine Analyse der Behördenstruktur. Hier muss insbesondere der Frage nachgegangen werden, in welcher Form sich in der Grafschaft Wied-Neuwied die Landeskirche etabliert hat. Zudem sollen im Folgenden die einzelnen (Kirchen-)Ämter beleuchtet werden, die im Rahmen der reformierten Kirchenzucht in der Grafschaft Wied-Neuwied von Bedeutung sind. Unter Zugrundelegung der Zwei-Schwerter-Lehre579 wurde in der vorreformatorischen Kirche die Gewalt im Wesentlichen durch die Bischöfe repräsentiert, welche die Kirchenverwaltung in den einzelnen Diözesen ausübten. Der dogmatische Ansatz des Calvinismus ist auch insofern nicht wesensverschieden, als auch von Calvin die strikte Trennung zwischen Staat und Kirche vollzogen wurde580. In Reinform wurde Calvins Lehre jedoch wahrscheinlich nur von ihm selbst in Genf verwirklicht, obwohl auch dort Überschneidungen festzustellen waren. Die Rezeption durch die Evangelisch-Reformierten im Reich, die im Wesentlichen politisch motiviert den Konfessionswechsel vollzogen, verlief unter Berücksichtigung der strukturellen Gegebenheiten.
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Dazu: Gliederungspunkt E I. CALVIN Institutio (Fn. 192), IV, 20, 1, pag. 1092 ff.; CALVIN Unterricht (Fn. 192), S. 1033 ff.; SCHMOECKEL Humanität (Fn. 273), S. 552 f.; WITTE ZRG KA 83 (Fn. 61), S. 418.
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Dort, wo sich das Bekenntnis in der Minderheit befand, wurde die „basisdemokratische“ Synodalverfassung Calvins übernommen581. Anders verlief jedoch die Entwicklung in den Territorien, in denen die EvangelischReformierten die confessio dominans darstellte. Dies war insbesondere in den Wetterauer Grafschaften sowie in der Kurpfalz und der Landgrafschaft Hessen der Fall. Die Kirche wurde in der Tradition der lutherischen Lehre zum „Opfer des Staates“, jedoch war auch diese Entwicklung nicht einheitlich. Gerade in den kleinen Grafschaften wurde deutlich, dass die strikte Trennung, die Calvin praktisch in Genf verwirklichte und die grundsätzlich auch der Konzeption der Reformierten zugrunde lag, in personeller und materieller Hinsicht nicht durchzuhalten war. Die Sicherstellung der Kirchenzucht und der calvinistischen Lehre erforderte auch in kleinen Territorialstaaten eine Institution, die darüber wachte, dass die Sittenstrenge eingehalten wurde. Die Jurisdiktionsgewalt der Bischöfe in kirchlichen Fragen fiel infolge der Reformation weg. Diese hatten nach Calvin die ihnen übertragene Gewalt jeglicher Kontrolle entzogen und allzu tyrannisch gehandhabt582. In den reformierten Gebieten war es folglich nötig, eine neue Behördenstruktur zu schaffen, deren Kern ein Kollegium bildete, das nach außen als rechtsprechendes Organ in Erscheinung trat. Im Dienste der Kirchenzucht waren jedoch mehrere wiedische Behörden und Amtspersonen aktiv. Die unterschiedlichen Spielarten der verschiedenen Sitten- und Ehegerichtsinstanzen stellen sich fast ausnahmslos als eine Mischung aus kirchlichen und staatlichen Gremien dar583. Dass dabei auch auf bestehende Strukturen und Einrichtungen zurückgegriffen werden konnte, mag die Veränderungen erleichtert und den Übergang reibungsloser gemacht haben. Wesentlich war jedoch auch das Amtsverständnis der handelnden Personen, welche die diversen Aufgaben wahrnahmen. Wichtig war in diesem Zusammenhang die Kirchenvisitation als Mittel der landeskirchlichen Verwaltung. Diese passte sich jedoch nicht in die vorhandenen Ämterstrukturen ein, weil es sich eher um ein Instrument handelte, das prinzipiell nicht an ein bestimmtes Amt gebunden war, und wird infolge dessen an anderer Stelle gesondert thematisiert. Der folgenden Auflistung 581
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So zum Beispiel im Herzogtum Jülich-Berg, wo gerade im 17. Jahrhundert gezielte Rekatholisierungsmaßnahmen unternommen wurden und so das reformierte Bekenntnis in die Defensive geriet; dazu: BREDT Cleve=Jülich=Berg=Mark (Fn. 78). Ähnlich verlief die Entwicklung auch in Frankreich, wo die Hugenotten eine starke Selbstverwaltung im Rahmen der katholischen Mehrheitsgesellschaft entwickelten. Vgl. BOHATEC Staat und Kirche (Fn. 192), S. 557. BRECHT Kirchenzucht (Fn. 237), S. 43 f.
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liegt die Vier-Ämter-Lehre Calvins zugrunde. Ämter in diesem Sinne sind das der Pfarrer, deren Aufgabe in der Wortverkündung und der Spendung der Sakramente besteht, das der Lehrer, das Amt der Ältesten mit der besonderen Aufgabe der Kirchenzucht sowie das der Diakone584. Ergänzt werden muss diese Darstellung um das Konsistorium, das in der calvinistischen Kirchenverfassung als landeskirchliche Behörde nicht vorgesehen ist, in der Kirchengerichtsbarkeit der Grafschaft Wied-Neuwied aber eine zentrale Rolle spielte.
II. Konsistorium 1. Entstehungsgeschichte Das Konsistorium als Institution lässt sich zurückführen auf die landesherrlichen Visitationskommissionen, durch die der Landesherr im Zuge der Reformation seine bischöflichen Aufgaben wahrnahm585. Insbesondere die vormals bischöflichen Jurisdiktionsbefugnisse wurden auf die sich im Laufe der Zeit herausbildenden Gremien übertragen586. Das Konsistorium ist also eine originär auf die Obrigkeit ausgerichtete Institution, die dem Bereich der Verwaltung zuzuordnen ist. Diese Annahme findet ihre Ausprägung insbesondere dadurch, dass dem Landesherrn in Bezug auf sein Konsistorium alle wesentlichen Befugnisse hinsichtlich Besetzung desselben, Festlegung des örtlichen und sachlichen Zuständigkeitsbereichs und die unmittelbare Aufsicht über dieses Gremium zustanden587. Dem Wortsinn nach bedeutet Konsistorium „gemeinsames Zusammentreten“. Bereits hierin deutet sich an, dass die Mitglieder dieses Gremiums aus zwei verschiedenen Richtungen, nämlich der Theologie und der Rechtslehre stammten. In diesem Sinne findet sich auch bei dem Herborner Theologen Wilhelm Zepper eine historische Herleitung588: Demnach gehen die Konsistorien zurück auf Gerichte bestehend aus Leviten, die für die Einhaltung der 584
585 586 587 588
Peter LANDAU, Kirchenverfassungen, in: TRE XIX, S. 147 f.; NIESEL Theologie (Fn. 296), S. 192; NIJENHUIS TRE VII (Fn. 10), S. 573; WITTE Reformation of Rights (Fn. 20), S. 71. HEUN TRE XIX (Fn. 77), S. 484; SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 163 f.; WIESE Handbuch des Kirchenrechts III (Fn. 453), S. 31. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 84. MOSER CIE (Fn. 217), S. 227 ff. ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), S. 14 f.
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Regelungen im 3. Buch Mose verantwortlich gewesen sind, und Priestern, wie sie vom biblischen König Josaphat im 9. vorchristlichen Jahrhundert in Jerusalem eingerichtet worden sind589. Auch hier knüpft die Reformation an Vorbilder aus dem Alten Testament an und grenzt sich so vom katholischen Amtsverständnis ab. Der Begriff `Konsistorium´ findet sich zwar auch als zentrales Regierungsorgan der Kurie in der katholischen Kirche wieder, allerdings spielten hier die Konsistorien keine herausragende Rolle, weil die Jurisdiktionsgewalt bei den Bischöfen verblieb und deren Stellung durch das Konzil von Trient gestärkt wurde590. Das erste protestantische Konsistorium nahm seine Arbeit als Ehegericht im damaligen Kursachsen 1539 auf591. Die Besetzung war zunächst paritätisch. Zwei weltlichten Räten – in der Regel Juristen – und zwei Theologen bildeten das Kollegialorgan592. Es entwickelte sich jedoch sukzessive ein Übergewicht weltlicher Räte. Dieses sächsische Modell wurde in Nord- und Mitteldeutschland eingeführt. Die Kompetenzen des Ehegerichts in Fragen der Kirchenzucht waren zunächst wegen des Vorranges der weltlichen Strafverfolgung auch bei kirchlichen Vergehen sehr beschränkt. Der Kooperationsgedanke zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt herrschte lange Zeit vor. Verhängt werden durften nur Geld- und geringe Haftstrafen593. Eine Fortentwicklung hin zu einem Konsistorium obrigkeitlicher Prägung fand maßgeblich im Herzogtum Württemberg statt, wo die Zuständigkeiten des so genannten Kirchenrates gegenüber dem Wittenberger Ehegericht umfassender ausgestaltet wurden. Hier wurde eine weisungsgebundene Kirchenjustizbehörde mit merklich erweitertem Kompetenzbereich geschaffen594. Der primär behördliche Charakter wird zudem an der Besetzung deutlich, denn weltliche Räte dominierten595. Dieses Modell wurde zum Vorbild für die Konsistorien im süddeutschen Raum und kann auch als Prototyp einer landesherrlichen Kirchenbehörde betrachtet werden.
589 590 591 592 593 594 595
Vgl. 2. Chr. 19, 8. LANDAU TRE XIX (Fn. 584), S. 129 f., 146 f. FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 72 ff.; HEUN TRE XIX (Fn. 585), S. 484; LANDAU TRE XIX (Fn. 584), S. 150; SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 164. SCHOß Konsistorien (Fn. 77), S. 308. SCHOß Konsistorien (Fn. 77), S. 325. HEUN TRE XIX (Fn. 585), S. 485. SCHOß Konsistorien (Fn. 77), S. 361 ff.
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2. Wiedisches Konsistorium a. Vorbemerkung Handelt es sich bei den beiden vorgenannten Modellen um evangelischlutherische Konzeptionen, muss im Folgenden danach gefragt werden, ob etwas spezifisch Calvinistisches in der wiedischen Behördenstruktur gefunden werden kann. Im Gegensatz zu der landesherrschaftlichen Ausgestaltung war im Modell des Calvinismus das so genannte „Consistoire“ ausschließlich als kirchliche Behörde konzipiert596, wobei jedoch zu beachten ist, dass in Genf als Wirkungsstätte Calvins keine landesherrliche Obrigkeit existierte, so dass die Kirchenverwaltung ihre Unabhängigkeit gegenüber der Stadtregierung erhalten beziehungsweise diese dominieren konnte. Der Idealtypus dieses Konsistoriums war ein Kollegium der „Ältesten“ bestehend aus den Geistlichen und zwölf Mitgliedern der verschiedenen Ratskollegien, Männern von tadellosem Ruf und geistlicher Klugheit597. Die Verwendung des Begriffes „Consistoire“ durch Calvin entspricht also eher einer presbyterialsynodalen Kirchenverfassung, bei der die Macht von den Laiengremien, so genannten Presbyterien oder Ältestenräten, die in jeder einzelnen Gemeinde zu bilden sind, ausgeübt wird598. Das „Consistoire“ entwickelte sich in der Genfer Kirchenverfassung zum zentralen Kontrollorgan und nahm damit insbesondere für die Kirchenzucht eine maßgebliche Stellung ein599. Die Übernahme dieses calvinistischen Idealtypus durch die Obrigkeit selbst konnte nur mit einem Kompetenzverlust einhergehen, der jedoch in der Grafschaft Wied-Neuwied nicht hingenommen wurde. Das landesherrliche Konsistorium der wiedischen Kirche musste also notwendigerweise einen Kompromiss zwischen dem obrigkeitsstaatlichen lutherischen Ansatz und dem Calvinschen Consistoire-Modell darstellen. Den Kompromiss zwischen presbyterial-synodalen Strukturen im Sinne Calvins und dem landesherrlichen Kirchenregiment versuchte man in der Grafschaft Wied-Neuwied dadurch zu finden, dass man sich bei der Errichtung des Konsistoriums für ein Mischmodell entschied. Auch dabei stand das kurpfälzische Vorbild „Pate“600: Das wiedische Konsistorium entwickelte
596 597 598 599 600
BOHATEC Staat und Kirche (Fn. 192) S. 554 Vgl. SCHMOECKEL Verlorene Ordnung (Fn. 2), S. 240. SCHMOECKEL Pastor als Richter (Fn. 387), S. 3. ZEEDEN Konfessionen (Fn. 7), S. 18. Ausführlich zum kurpfälzischen Kirchenrat: PRESS Calvinismus (Fn. 40), S. 114 ff.
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sich ausgehend von der Kurpfälzischen Kirchenratsordnung von 1564601 und der Kirchenzuchtordnung von 1570602. Das Konsistorium wurde als oberste Landesbehörde ausgestaltet und übernahm zusätzlich Aufgaben der geistlichen Rechtsprechung. Dabei ist die Unterscheidung, ob das Konsistorium mehr dem geistlichen als dem weltlichen Regiment zuzuordnen ist, müßig, solange Staat und Kirche in der Person des Landesherrn vereinigt sind603, wie es in der protestantischen Kirche der Regelfall war. Daneben traten Presbyterien auf lokaler Ebene, denen jedoch ein Pendant auf Landesebene fehlte. Die Strukturen waren indes in der Grafschaft Wied-Neuwied wesentlich schwächer ausgeprägt als beispielsweise in der unwesentlich größeren Grafschaft Nassau604. So verwundert es nicht, wenn in einem Kleinstaat der frühen Neuzeit die Gewalten stark verschränkt waren. Eine strikte Trennung zwischen weltlicher und kirchlicher Landesverwaltung war bereits in der Frühzeit der wiedischen Landeskirche kaum mehr möglich. Das wiedische Konsistorium wurde daher nicht nur als Kirchenbehörde tätig: Seine Zuständigkeit erstreckte sich vielmehr in Fragen der Sittlichkeit auch auf die Gegenstände der konkurrierenden Strafgesetzgebung. Wann in der Grafschaft Wied-Neuwied ein Konsistorium errichtet wurde, lässt sich nur noch schwer nachweisen. Während Reck davon spricht, dass erst 1616 das erste Konsistorium durch Graf Hermann II. eingesetzt worden sei605, lassen sich die ersten Konsistorialakten bereits 1562 nachweisen606. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass eine Kirchenbehörde – unabhängig davon, ob diese nun als Konsistorium auftrat oder nicht – in unmittelbarer Nähe zur ersten wiedischen Kirchenordnung von 1575 geschaffen wurde. Da es sich im Rahmen des landesherrlichen Kirchenregiments um eine zentrale Institution handelt, erscheint ein späterer Zeitpunkt wenig einleuchtend, zumal die Errichtung eines Konsistoriums in Hessen-Kassel erst im Jahre 1610 darauf zurückzuführen ist, dass dort der Superintendent die zentralen Befugnisse ausübte607. Ein vergleichbares Amt gab es in der Grafschaft Wied zu dieser Zeit aber noch nicht. Für den hier maßgeblichen Untersuchungszeitraum 601
602 603 604 605 606 607
RICHTER Kirchenordnungen II (Fn. 344), S. 276 ff.; Emil SEHLING, Die Evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Vierzehnter Band, Kurpfalz, Tübingen 1969, S. 333 ff. SEHLING Kirchenordnungen XIV (Fn. 601), S. 436 ff. FRIEDBERG Recht der Eheschliessung (Fn. 399), S. 181. Dazu: MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 155. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 194. MÜLLER FWA (Fn. 182), S. 29. HEUN TRE XIX (Fn. 585), S. 484.
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ergeben sich indes keine Unwägbarkeiten, weil nach 1648 durchgängig ein Konsistorium vorhanden ist.
b. Zuständigkeiten In kirchlichen Fragen herrschte in der Grafschaft Wied-Neuwied der Grundsatz der Allzuständigkeit des Konsistoriums. Nach den tatsächlichen Verhältnissen war das Vorhandensein dieser Kollegialbehörde das typische Merkmal eines landesherrlichen Kirchenregiments608. Bei der Besetzung von Pfarrstellen, der Aufsicht über die Geistlichen und das Pfarrvermögen hatte das Konsistorium umfangreiche Kompetenzen. Deutlich wird dies beispielsweise in der Armenordnung vom 30. August 1766609, deren § 2 bestimmt, dass „Pfarrer, Schultheißen und Schöffen (gemeint sind wohl die Synodschöffen, Verf.) dem Consistorium die Umstände der Armen, der Gemeinde, und des Kirchspiels anzeigen, damit eine Beihúlfe anderer vermöglicher Gemeinden und Kirchspiele ermittelt werde“. Über den Umweg der Armenfürsorge verlangte die Behörde somit umfassend Offenlegung der finanziellen Situationen der Gemeinden und steuerte durch ein Umlagesystem den internen Ausgleich, so dass kaum eine Kirchspielsgemeinde besser stand als andere. Fühlbar wird hier auch die Verquickung geistlicher und weltlicher Behördenaufgaben. Der Schultheiß wurde durch die kirchliche Landesverwaltung vereinnahmt, obwohl er diesem Verwaltungszweig überhaupt nicht zugeordnet war. Zu den Zuständigkeiten gehörten die bereits angesprochenen Ehesachen, angefangen von den Copulationsverfahren, den Scheidungssachen bis hin zu strafrechtlich relevanten Tatbeständen wie Ehebruch und häuslicher Gewalt610. In diesen Fällen handelte das Konsistorium als Ehegericht. Bereits unter den Zeitgenossen war es umstritten, ob Ehesachen nicht besser den weltlichen Gerichten zugewiesen werden sollten, schließlich hatte die Ehe ihren Sakramentscharakter verloren und wurde seit Luther als „weltlich Ding611“ angesehen. Allerdings lag die Zuständigkeit nahezu in allen evangelischen Territorien bei einem Konsistorium612, weil diesem die bischöfliche Jurisdiktionsgewalt übertragen worden war. Die Zuständigkeit war somit 608 609 610 611 612
LANDAU TRE XIX (Fn. 584), S. 150. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 183 f. Vgl. etwa FWA 50-5-4; FWA 50-5-14; FWA 50-5-15; FWA 50-5-20. LUTHER Ehesachen WA 30, III (Fn. 400), S. 205, Zeilen 12 ff. Jacob Friedrich LUDOVICI, Einleitung zum Consistorial-Proceß, 7. Auflage, Halle 1731, S. 77.
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historisch gewachsen. Ob nun der Zugriff auf diesen Lebensbereich durch die Landesherrschaft über ein Konsistorium oder ein weltliches Gericht erfolgte, im Konsistorium hatten die Pfarrer zumindest geringen Einfluss: Die Sittenzucht war in erster Linie den Synodschöffen zugeordnet, das Konsistorium wurde nur in besonders schweren Fällen tätig oder wenn eine Entscheidung der Prediger oder der Synodschöffen/Presbyter angegriffen wurde. Diesbezüglich ist nämlich darauf hinzuweisen, dass den evangelischen Konsistorien im Gegensatz zu den Kirchendienern die Möglichkeit offen stand, öffentliche Sünden aus gerechten Gründen in Geldstrafen umzuwandeln613. Das Konsistorium war insofern letzte Instanz. Das erste Konsistorium hatte sich in Kursachsen aus einer Visitationskommission entwickelt614. Deshalb gehörte auch die Kirchenvisitation zu den zentralen Betätigungsfeldern der Kirchenbehörden. Anders war die Situation allerdings in der Grafschaft Wied-Neuwied: Während die einseitig administrativ ausgestalteten Konsistorien im Herzogtum Württemberg, der Kurpfalz und in Hessen-Kassel eine zentrale Rolle bei der Kirchenvisitation einnahmen615, blieb diese Aufgabe in der Grafschaft Wied-Neuwied den sonst eher bedeutungsarmen Inspektoren, die nicht zwingend bei der Entscheidungsfindung im Konsistorium beteiligt waren, vorbehalten. Das Konsistorium erhielt lediglich einen Bericht und leitete diesen an den Landesherrn weiter. Eine besondere Rolle spielte die Kirchenbehörde bei interkonfessionellen Streitigkeiten: Der Landesherr beanspruchte sowohl als Territorialherr wie auch im Sinne der Episkopaltheorie als summus episcopus die Aufsicht über Katholiken, Lutheraner und die sonstigen Bekenntnisgemeinschaften. Das Konsistorium agierte hier als zentrale Aufsichtsbehörde.
c. Besetzung Eine umfassende Zuständigkeit, wie sie beim Wiedischen Konsistorium gegeben war, erforderte auch in einem kleinen Territorium geeignete Beamte. Mit dem „Siegeszug“ der neuzeitlichen Behörde616 wurden auch die kirchlichen Gremien nach und nach mit juristisch geschulten Personen besetzt, 613 614 615 616
Christian WILDVOGEL, Competentia consistorium evangelicorum imprimis inferiorum in provinciis Electoratus Saxoniae, Dresden 1714, Thes. XIV. FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 72 ff. Dazu: MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 152 f.; SCHNABEL-SCHÜLE Überwachen (Fn. 32), S. 51. Dazu: Michael STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band, München 1988, S. 334 ff.; WEHLER Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 30), S. 255.
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deren Tätigkeitsbereich sich oftmals nicht auf das Konsistorium beschränkte. Dass sich die weltlichen Konsistorialräte aus den adligen Mitgliedern des herrschaftlichen Hofrates rekrutierten617, lässt sich für die Grafschaft Wied naturgemäß nicht bestätigen. Die Konsistorien insbesondere in den kleineren Territorien funktionierten und fungierten nur in Verbindung mit einer weltlichen Verwaltungsbehörde, wobei geistliche Räte nur im Bedarfsfall hinzugezogen wurden618. Sofern der Beratungsgegenstand ökonomischer oder fiskalischer Natur war, fanden die Sitzungen ohne den geistlichen Beisitzer statt, so dass das Konsistorium in diesen Fragen als rein weltliche Behörde auftrat. Die Aktenlage in der Grafschaft Wied verdeutlicht, dass das Konsistorium in geistlichen Dingen zumeist in der Besetzung mit drei Personen tagte: Anwesend waren regelmäßig zwei weltliche Konsistorialräte, die unter Umständen im Rahmen der Staatsverwaltung auch eine andere Tätigkeit ausübten, sowie der Inspektor619 der Niedergrafschaft als kirchlicher Repräsentant. In den 1780er Jahren erhöhte sich die Zahl der weltlichen Räte auf vier620, so dass das Gewicht des geistliche Inspektors weiter reduziert wurde. Auch in der Grafschaft Wied-Neuwied dominierten folglich im Untersuchungszeitraum die weltlichen Räte das Konsistorium und banden diese damit in den administrativen Apparat der Grafschaft, in welchem sie zusätzliche Aufgaben wahrnahmen, ein. Die begrenzte personelle Ausstattung machte die Berufung primär bürgerlicher Beamter in die Landesregierung erforderlich. Besonders deutlich wird dies anhand der Tatsache, dass während des gesamten 18. Jahrhunderts nur ein Adliger, Georg Philipp von Habicht in den Jahren 1778-1790, das Amt des Kanzleidirektors621 ausfüllte. Gleiches gilt für das Konsistorium. Die Konsistorialbeamten wurden regelmäßig aus der bürgerlichen Führungsschicht des Landes rekrutiert, die ohnehin den Beamtenapparat der Graf-
617 618
619
620 621
So jedenfalls SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 165, für das Herzogtum Württemberg. Axel STREITER, Das Superintendentenamt. Ursprung, geschichtliche Entwicklung und heutige Rechtsgestalt des mittleren Ephoralamtes in den deutschen evangelischen Landeskirchen, Köln 1973, S. 48. Das Amt des Inspektors ist funktional identisch mit dem Superintendentenamt und bezeichnet damit den leitenden Geistlichen eines bestimmten Gebietes; ausführlich dazu unter G II. Vgl. Besetzung in den Verfahren: FWA 50-5-5, FWA 50-5-9. Das Amt des Kanzleidirektors ist vergleichbar mit dem Posten eines Premierministers, der als leitender Minister die Geschicke des Landesregierung maßgeblich bestimmt, vgl. GENSICKE Landesgeschichte (Fn. 81), S. 516.
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schaft besetzte622. So wurde beispielsweise der langjährige Konsistorialrat Johann Wilhelm Melsbach bereits 1751 als Neuwieder Stadtschreiber erwähnt, bevor er in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts maßgeblich die Entscheidungen des Konsistoriums prägte623. Nach 1792 wurde er als Archivar erwähnt. Er entstammte einer Familie, die zahlreiche Pfarrer und Kanzleiräte hervorgebracht hat und damit zur wiedischen Oberschicht zu zählen ist. Gleiches gilt für die Familie Caesar624, wobei Hermann Caesar besonders zu erwähnen ist, weil er zeitweise Bürgermeister der Stadt Neuwied war. Aufgrund der beschränkten Personalkapazitäten hatten die Konsistorialräte zumeist zeitgleich ein anderes Amt in der gräflichen Verwaltung inne. Der langjährige Konsistorialrat Gneyß war zusätzlich Stadtschultheiß in Neuwied und Regierungsrat und somit Funktionsträger auf staatlicher, kirchlicher und kommunaler Ebene. Die Berufung der Konsistorialräte erfolgte unmittelbar durch den Landesherrn in seiner Eigenschaft als summus episcopus beziehungsweise als Territorialherr, wobei im Regelfall ein Vorschlag der verbliebenen Konsistorialräte vorausgegangen sein dürfte625.
d. Verfahren Auch wenn prozessuale Fragen in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Stellung einnehmen, soll hier kurz auf das Verfahren vor den Konsistorien eingegangen werden, weil es einige Besonderheiten aufweist. Grundlegend für das prozessuale Konsistorialverfahren ist die „Jurisprudentia ecclesiastica seu consistoralis626“ des Leipziger Juristen Benedict Carpzov627. Gerichtsverfassungsrechtlich erfolgte eine Rückbesinnung auf den summarischen Prozess, wobei die Grundsätze des gemeinrechtlichen Prozesses, sofern die Rechte einer Partei betroffen waren, beibehalten wurden628. Die 622 623 624 625 626 627 628
Ein Katalog der in der Grafschaft Wied-Neuwied tätigen Beamten findet sich in: GENSICKE Landesgeschichte (Fn. 81), S. 515 ff. Vgl. nur FWA 64-10-12, pag. 50. Vgl. Liste der Landschultheißen im Amt Grenzhausen, GENSICKE Landesgeschichte (Fn. 81), S. 523. MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 152. CARPZOV Jurisprudentia ecclesiastica (Fn. 410). Zu seiner Person: Erich DÖHRING, Benedict Carpzov, in: NDB, Band 3, Berlin 1957, S. 156 f. LUDOVICI Consistorial-Proceß (Fn. 612), S. 117; MOSER CIE (Fn. 217), S. 230 f.; Mathias SCHMOECKEL, Benedict Carpzov und der sächsische Prozess, in: ZRG GA 126 (2009), S. 30; WIESE Handbuch des Kirchenrechts III (Fn. 453), S. 230.
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Beschränkung auf den summarischen Prozess629 und das Prinzip der Mündlichkeit ermöglichten eine massive Beschleunigung der Verfahren, so dass das Ansetzen weniger regelmäßiger Gerichtstage ausreichend war. In der Grafschaft Wied-Neuwied tagte das Konsistorium aus diesem Grund prinzipiell nur einmal wöchentlich. Das Verfahren konnte sowohl von Amts wegen wie auch durch Privatklage eröffnet werden, wobei in Ehesachen stets ein Antrag erforderlich war, während bei der Aburteilung der Sittendelikte die öffentliche Klageerhebung zumeist nach erfolgter Anzeige durch Pfarrer oder Synodschöffen/Presbyter den Regelfall darstellte. Eine Klageschrift war nicht erforderlich, so dass eine Klage gegebenenfalls sogar mündlich erhoben werden konnte, worüber jedoch eine Niederschrift angefertigt wurde. Vorladungen blieben indes dem Grundsatz der Schriftlichkeit unterworfen, eine Ausnahme war lediglich statthaft, wenn eine Partei sich an dem Ort aufhielt, an welchem das Konsistorium tagte630. Die Terminierung einer Sitzung erfolgte entweder auf acht oder vierzehn Tage, wobei sich das wiedische Konsistorium immer dienstags traf.
e. Appellation/Supplikation Während in größeren Territorialstaaten mehreren Konsistorien ein Oberkonsistorium als Appellationsinstanz übergeordnet war631, existierte in der Grafschaft Wied-Neuwied eine solche Instanz nicht. Eine Appellation an das Reichskammergericht beziehungsweise an den Reichshofrat war in Religionssachen ebenfalls nicht möglich632. Dies war der Tatsache geschuldet, dass jeder Landesherr das Oberhaupt seiner eigenen Landeskirche war633. Für die Grafschaft Wied blieb somit lediglich die Möglichkeit sich an den Landesherrn persönlich zu wenden. Dabei handelte es sich jedoch nicht um ein formalisiertes Verfahren im Sinne einer prozessualen Appellation: Stattdessen waren die Delinquenten darauf verwiesen, mittels Supplikation eine Milderung ihres Urteils oder während des laufenden Verfahrens eine Berücksichtigung ihrer Interessen zu erreichen. Diese Bittschriften enthielten stets ein
629 630 631 632 633
Dazu: SCHMOECKEL Sächsischer Prozess (Fn. 628), S. 1-37. Zum Verfahren ausführlich: LUDOVICI Consistorial-Proceß (Fn. 612), S. 120 ff. SCHMOECKEL Pastor als Richter (Fn.387), S. 8; WIESE Handbuch des Kirchenrechts III (Fn. 453), S. 234. LUDOVICI Consistorial-Proceß (Fn. 612), S. 176. LINK Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 8), S. 83.
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juristisch konkret fassbares Rechtsschutzverlangen und zielten auf außerordentlichen Rechtsschutz gegen ein mitunter schon ergangenes Urteil634. In der Grafschaft Wied-Neuwied war die Supplikation an den Landesherrn das einzige Mittel, einer verhängten Strafe noch zu entgehen beziehungsweise diese zu mildern. Die Supplikation stellte dennoch nicht nur in kleinen Territorien ein wesentliches Element in der frühneuzeitlichen Justizverwaltung dar635, weil sie in allen Fällen möglich war. Auch in den aufgeführten Verfahren bedienten sich die Verurteilten zumeist der Supplikation, um Strafmilderung oder Strafverschonung zu erreichen. Ein besonderes Merkmal der Supplikation ist, dass der Supplizierende versuchte, sich als pflichtbewusster und sein gutes Recht suchender Untertan zu präsentieren636. Häufig wurden ökonomische und persönliche Beweggründe angeführt, um das eigene Tun verständlich zu machen637. Dass in Supplikationen oft die Unwahrheit vorgetragen wurde638, kann in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden, gleichwohl ist eine Tendenz erkennbar, wonach negative Aspekte heruntergespielt oder gar verfälscht wurden. Da der größte Teil der frühneuzeitlichen Supplikationen aus nichtalphabetisierten Bevölkerungsgruppen herrührt, bedienten sich die Supplikanten – nicht zuletzt, um äußere Form und Devotionalformeln zu berücksichtigen – verschiedener Schreiber. Am wiedischen Konsistorium wurden Supplikationen in der Regel unmittelbar von den dortigen Räten entgegengenommen. Teilweise wurden auch – gerade bei fern von Neuwied gelegenen Kirchspielen – Pfarrer tätig und verfassten für ein Gemeindemitglied eine solche Supplikation, die an das Konsistorium gerichtet war. Die Abgrenzung danach, welchen Anteil der Supplikant selbst an „seiner“ Bittschrift hatte, ist dementsprechend schwierig. Aufgrund der zum Teil jedoch sehr detaillierten Schilderung der persönlichen Lebensumstände des jeweiligen Supplikanten wird jedoch der begrenzte Einfluss der Schreiber deutlich639. Zu bedenken ist aber auch, dass mitunter Delinquenten von den entscheidenden Räten selbst zur Supplik aufgefordert wurden, um ein entsprechend mildes Urteil fällen zu können640. Gerade wegen des angedeuteten Gegensatzes zwischen Pfarrer634
635 636 637 638 639 640
Otto ULBRICHT, Supplikation als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Winfried SCHULZE, EgoDokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 151. HÄRTER Policey (Fn. 32), S. 497. RUDOLPH Regierungsart (Fn. 24), S. 276 ff.; ULBRICHT Supplikation (Fn. 634), S. 151. HÄRTER ZHF 26 (Fn. 32), S. 376 f. ULBRICHT Supplikation (Fn. 634), S. 154. ULBRICHT Supplikation (Fn. 634), S. 157 f. FWA 50-5-15, pag. 14; vgl. RUDOLPH Regierungsart (Fn. 24), S. 260.
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schaft und landesherrlicher Kirchenverwaltung in Fragen der Sittenzucht barg eine solche Aufforderung viel Konfliktpotential. Ein schleichender Autoritätsverlust der Pfarrer konnte somit kaum vermieden werden. Anders als bei Justizsupplikationen weltlicher Art641 spielte der christliche Glaube mitunter eine zentrale Rolle in den Konsistorialprozessen, zum einen als Appell an die christliche Gesinnung des Landesherrn, den es von dem Anliegen des Supplikanten zu überzeugen galt, zum anderen als Mittel der Rechtfertigung und Bußbereitschaft. Der Fortgang der Untersuchung wird insbesondere bei der Betrachtung der konkreten Prozesse zeigen, welche zentrale Bedeutung der Supplikation in der Konsistorialpraxis zukam.
f. Juristisch-theologischer Diskurs Da die Konsistorialräte zumeist dem gebildeten Bürgertum entstammten und – wenn nicht sogar studiert – zumindest rechtskundig waren, war die wissenschaftliche Fundiertheit einer Entscheidung des Konsistoriums in theologischer und juristischer Hinsicht von zentraler Bedeutung für die Legitimation und das Selbstverständnis als oberste Kirchenbehörde. Ein theologischer oder juristischer Diskurs, der regelmäßig seitens der Konsistorialbehörde angestrengt wurde, wenn sich ein schwieriges Problem in einem dieser beiden Bereiche stellte, lässt sich problemlos anhand verschiedener Gutachten, auf deren Inhalt noch einzugehen ist, aufzeigen. Auch wenn es sich bei der Grafschaft Wied-Neuwied um ein eher unbedeutendes Duodezfürstentum handelte, kann keine Rede davon sein, dass die Landesherrschaft von der wissenschaftlichen Entwicklung auf dem Gebiet der Theologie und der Rechtswissenschaften abgekoppelt war. Das Problem, dass keine eigene Universität oder vergleichbare Hohe Schule wie beispielsweise in der Grafschaft Nassau-Dillenburg vorhanden war, versuchte man insbesondere durch Aktenversendung642 und Einholen von Gutachten zu meistern. Dabei richtete man sich regelmäßig an theologische und juristische Fakultäten, wie es bereits in dem Scheidungsverfahren „Behmler643“ angeklungen ist. Abgesehen davon haben jedoch auch die „einheimischen“ Gutachten wissenschaftlichen Wert: Sowohl Pfarrer als auch Konsistorialbeamte waren mit der theologischen und juristischen Literatur der Zeit vertraut und griffen diese in ihrer Argumentation auf. 641 642 643
Dazu: ULBRICHT Supplikation (Fn. 634), S. 165. Zu Rechtsgutachten ausführlich: FALK Consilia (Fn. 576).. Siehe 2. Teil, Gliederungspunkt B VI 3 b.bb, Seite 28.
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3. Fazit Das wiedische Konsistorium vereinigte in sich sowohl gerichtliche als auch administrative Aufgaben und nahm dadurch eine Zwitterstellung zwischen Ehegericht und Kirchenbehörde ein. Es entsprach damit einem Modell, wie sie auch in der Kurpfalz als Kompromiss zwischen lutherischer Landeskirche und dem reformierten Presbyterialmodell entwickelt worden war644. Die spezifisch wiedischen Besonderheiten lassen sich im Wesentlichen auf die beschränkten Material- und Personalressourcen zurückführen, die in dem kleinen Territorium im Untersuchungszeitraum durchgängig herrschten. Anders als etwa in der Grafschaft Nassau-Dillenburg fehlte die wichtige Unterstützung durch die niederrheinischen und niederländischen Protestanten. Der Idealtypus des Calvinschen „Consistoire“ wurde also schnell von den Erfordernissen politischer Herrschaft eingeholt645.
III. Inspektorat Der in der Grafschaft Wied-Neuwied als Inspektor bezeichnete Superintendent hatte, obschon er formell betrachtet der ranghöchste Pfarrer des Territoriums war, gegenüber dem Konsistorium keine besonders herausgehobene Stellung. Ob die anderweitige Bezeichnung damit zusammenhing, dass die Terminologie Superintendent teilweise betont lutherisch verwendet wurde646, kann nur vermutet werden. Anders als in den „Vorbild-Territorien" Kurpfalz, Hessen-Kassel und Nassau-Dillenburg647 war jedoch in der Grafschaft Wied im Zuge der „ersten“ Reformation kein Inspektor berufen worden, auch wenn Johannes Alsdorff eine wichtige Rolle im Rahmen der Reformation übernommen hatte648. Es kann also davon ausgegangen werden, dass sich das Inspektorenamt erst im Laufe des 17. Jahrhunderts entwickelte, als in den besagten Landesherrschaften die Bedeutung dieses Amtes bereits zurückging. Dies lässt sich wohl auf die allgemeine Tendenz zurückführen, dass die Bedeutung des Superintendenten/Inspektors nur erhalten blieb, solange eine 644 645 646 647 648
LANDAU TRE XIX (Fn. 584), S. 150; SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 172. Vgl. SCHMIDT Zweite Reformation (Fn. 50), S. 201. Vgl. SCHOß Konsistorien (Fn. 77), S. 374. MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 137. Vgl. Kapitel B.II.
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besondere Konsistorialbehörde fehlte649. Schließlich war Vorbild für diesen Posten weniger der vorreformatorische Bischof als der richterliche Beamte einer Diözese650. Wenn also die Jurisdiktionsbefugnisse von der kollegialen Kirchenbehörde wahrgenommen wurden, blieb für den Superintendenten/Inspektor kein separates Betätigungsfeld. Das Amt des Inspektors war in der Grafschaft Wied nicht – wie insbesondere in größeren Herrschaften – an eine bestimmte Pfarrstelle geknüpft. So war nicht etwa stets der Neuwieder Pfarrer zugleich Inspektor für die Landgemeinden651, sondern auch anderen stand die Möglichkeit offen, diesen Posten zu bekleiden652. Zu den Aufgaben des Inspektors gehörte neben der Mitgliedschaft im Konsistorium insbesondere der Vorsitz bei den Predigerkonventen, die vor 1767 unregelmäßig, danach jährlich stattfanden653. Hinzu kam als zentrale Funktion die Durchführung der Kirchenvisitationen, die ein wesentliches Element im System des landesherrlichen Kirchenregiments darstellten. Eine Mitwirkung bei der Auswahl der Pfarrer und deren Bestellung war nicht vorgesehen. Die Inspektoren konnten insgesamt nie besonderen Einfluss auf die Kirchenpolitik in der Grafschaft Wied nehmen. Die Landesherrschaft verstand sie eher als Organ der Kommunikation mit den einzelnen Ortspfarrern, was sich aus den zahlreichen Protokollen der Predigerkonvente ergibt654. Demnach gelang es dem Konsistorium, dieses Gremium nur über diejenigen Gegenstände beraten zu lassen, die aus Sicht der Landesregierung von untergeordneter Bedeutung waren. Die Tagesordnung musste vom Inspektor eng mit dem Konsistorium abgestimmt werden. So verwundert es nicht, dass im 18. Jahrhundert eher die Armutsbekämpfung durch die Kirchspiele im Vordergrund stand als die Kirchenzucht, die sich, wie die Pfarrer übereinstimmend
649 650 651 652
653 654
Vgl. die Entwicklungen in der Grafschaft Nassau und in der Landgrafschaft HessenKassel; STREITER Superintendentenamt (Fn. 618), S. 59. HEUN TRE XIX (Fn. 585), S. 484. So aber ROSENKRANZ Rheinland I (Fn. 102), S. 701. So war beispielsweise Johann Friedrich Muzelius, Pfarrer in Grenzhausen, in den Jahren 1767-1779 Inspektor der Niedergrafschaft, vgl. EKiR Archiv Wied Nr. 98; GENSICKE NA 68 (Fn. 107), S. 260. EKiR Archiv Wied Nr. 98. EKiR Archiv Wied Nr. 98.
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berichteten, in einem mehr als beklagenswerten Zustand befand655. Auch innerhalb des Konsistoriums kam dem Inspektor keine besondere Rolle zu, weil seine Mitwirkung nur bei wenigen Entscheidungen von Nöten war und die Rechtsprechung maßgeblich durch die jeweiligen weltlichen Räte geprägt war. Die Aufgabe einer Zwischeninstanz zwischen Pfarrern und landesherrlichem Kirchenregiment656 konnte der wiedische Inspektor daher insgesamt nur eingeschränkt ausüben. Ein qualitativer Unterschied zu den übrigen Predigern ist kaum festzustellen. Die Errichtung der Konsistorien führte im Ergebnis zum schleichenden Machtverlust der Superintendenten/Inspektoren, weil diese in den behördlichen Entscheidungsprozess eingebunden wurden657.
IV. Pastorat 1. Aufgabe Der Pfarrer oder „Prediger“, wie er in den reformierten Kirchenordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts auch genannt wurde, nahm in der Kirchenorganisation eine zentrale Funktion ein. Bei der Durchsetzung des landesherrlichen Kirchenregiments spielte er eine bedeutende Rolle658. Auch wenn das Bild, das den Pfarrer stets in äußerster Staatsnähe geglaubt hat, mittlerweile differenziert betrachtet wird659, lässt sich eben dieses Näheverhältnis doch besonders gut anhand der Grafschaft Wied nachweisen, in welcher die Vermutung nahe liegt, dass der Staat aufgrund eines überschaubaren Gebietes besonders leicht in die jeweilige Gemeinde eingreifen konnte. Dass staatliche Stellen sich dabei der Pfarrer bedienten, ist zu vermuten, weil diese schließlich lange Zeit die einzigen Amtsträger waren, die jeden Untertan auf dem 655
656 657 658 659
Vgl. EKiR Archiv Wied Nr. 98: „[…] so würde dem Hochgräfl Consistorio leider Gottes schon genugsam bekannt seyn, wasgestalten Uneinigkeiten, Ueppigkeiten und Geilheiten, Huren und Ruben allzu viel überhand nehmen.“; Protokoll des Predigerkonventes vom 4. Juni 1776 in Alsbach. LANDAU TRE XIX (Fn. 584), S. 150. STREITER Superintendentenamt (Fn. 618), S. 59. NIJENHUIS TRE VII (Fn. 10), S. 573; SICHELSCHMIDT Gesetzesbefehl (Fn. 27), S. 137; Werner TROßBACH, Bauern 1648-1806, München 1993, S. 29. SCHMOECKEL Pastor als Richter (Fn.387), S. 11; Luise SCHORN-SCHÜTTE/ Walter SPARN, Evangelische Pfarrer, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. XIII.
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Land unmittelbar erreichen konnten660. Tritt seine herausragende Rolle schon in den Fallstudien zu Kurhessen und Kurpfalz hervor661, unterstreicht ein Vergleich mit der Grafschaft Wied-Neuwied die funktionelle Einbindung des Pfarrers im kirchlichen und besonders auch in den weltlichen Verwaltungsaufbau, wenngleich sich auch Konflikte zwischen Landesherrschaft und Pfarrerstand nachweisen lassen.
2. Regionale Gegebenheiten Mit den Kirchspielen Heddesdorf, Feldkirchen, Bieber, Altenwied, Rengsdorf, Honnefeld, Anhausen, Rückeroth, Nordhofen, Grenzhausen und Alsbach662 verfügte die Grafschaft Wied-Neuwied zur Mitte des 17. Jahrhunderts über elf reguläre Pfarrstellen. Seit der endgültigen Trennung der Gemeinden Neuwied und Heddesdorf mit der Einweihung der reformierten Kirche in Neuwied 1687 kam 1707 eine zwölfte Pfarrstelle hinzu663, nachdem die Seelsorge für die Einwohner der Residenzstadt in den Jahren zuvor durch den Pfarrer des Kirchspiels Heddesdorf übernommen worden war. Ergänzt wurde dieses Personaltableau durch die 1751 auf Drängen des Neuwieder Presbyteriums geschaffene Zweitprediger-Stelle in der evangelischreformierten Gemeinde Neuwied664. Diese dreizehnte Stelle war notwendig geworden, weil der dortige Prediger Friedrich Desevre665 aufgrund von Altersschwäche seine Aufgaben nicht mehr erfüllen konnte. Aus der Supplikation666 der Gemeinde vom 8. Mai 1750 wird die prekäre Lage deutlich: „Ew Hochgräfl Gnaden ist gnädigst wohl bekannt in waß vor beschwerlichen Umständen die hiesig Evangelisch-Reformirte Gemeinde nun eine geraume Zeit geschwebet, indenen der H. pastor Desevre durch zu gestoßenen Leibesschwachheit sein Amt nicht selbsten verrichten und allen denen nach kommen können, was doch zu erhalt und verbeßerung der Gemeinde erfordert ist; Es 660 661 662 663 664 665
666
REINHARD Staatsgewalt (Fn. 212), S. 269. MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 123 ff. Übersicht in Verzeichnis zur Predigerbesoldung: FWA 64-4-8. In den Jahren 1687-1707 versah Pfarrer Johann Michael Breusing die Gemeinden Heddesdorf und Neuwied zeitgleich. Dazu: FWA 64-10-12. Familie Desevre wird wohl zu den Familien zu zählen sein, aus der sich ein Teil der bürgerlichen Führungsschicht der Grafschaft Wied-Neuwied rekrutierte; als Bürgermeister der Stadt Neuwied wird bereits 1683 Jean de Sevre genannt. Hier nicht als Rechtsmittel, sondern ausschließlich als Bittschrift zu verstehen.
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werden keine Kinder mehr getauffet, beý den Heiligen Abendmahl giebet es uffenthalt, das Kirchen gehen nimt augenscheinlich ab, die Schule lieget one tägl. aufsicht im völligen verderben, Hauß und Kinderzucht wird nicht gebührlich aufgemuntert, die Kranken bleiben ohne trost, und es wächst darunter eine solche Lauigkeit, welche in dem Verfolg fast nicht mehr dörffte zu remedirnen seýn […]667.“
Nahezu alle wesentlichen Aufgaben, die ein Pfarrer seelsorgerisch zu erbringen hatte, Taufen, Abendmahlsfeiern, Schule und Kirchenzucht, lagen also in der Stadt Neuwied Mitte des 18. Jahrhunderts brach. Hieran zeigt sich, dass der Prediger die zentrale Gestalt im Gemeindeleben einer reformierten Gemeinde war. Die bei Ableben eines Predigers übliche Übernahme der kirchlichen Aufgaben durch Pfarrer anderer Gemeinden war in diesem Fall aus ungenannten Gründen nicht möglich. Die Gemeinde bat jedenfalls – ob die Zustandsbeschreibung der tatsächlichen Lage entsprach oder die Verfasser die Situation dramatisierten, lässt sich nicht mehr nachvollziehen – um Einstellung eines Zweitpredigers, der jedoch offiziell als Hofprediger angestellt wurde, „damit der alte H. pastor ihn nicht alß seinen adjunctum zu kurtz ansehen undt halten, [...] auch mehr Gewicht im ambte haben möge668“. Die Finanzierung wurde zwischen Landesherr und Gemeinde aufgeteilt. 1751 war schließlich Philipp Heinrich Muzelius auf besonderen Wunsch des Presbyteriums zum Zweitprediger berufen worden. Diese Stelle hatte er allerdings nur bis zum kurz darauf folgenden Ableben des Predigers Friedrich Desevre am 3. Juli 1751 inne669. Anhand dieser Episode aus der Kirchenhistorie der Grafschaft lässt sich bereits die herausgehobene Stellung der Neuwieder Stadtpfarre belegen. Mit der endgültigen Einstellung des Zweitpredigers an der reformierten Kirche Neuwied und der Abtrennung der Kirchengemeinde Dreifelden 1756670 verfügte die Landeskirche Wied-Neuwied somit über 14 ordentliche Pfarrstellen, an die unterschiedliche Anforderungen gestellt wurden: Während der Stadtprediger in einer Gemeinde tätig war, die hauptsächlich aus bürgerlichen Exulanten – zumal gemischt konfessionell – zusammengesetzt war, lebten in den Waldkirchspielen Bauern, die fast ausschließlich der evangelisch-reformierten Konfession zugehörig waren. Einer durch Zuzug von Lutheranern, Katholiken sowie anderen Glaubensflüchtlin667 668 669 670
FWA 64-10-12, pag. 1. FWA 64-10-12, pag. 5. LÖHR Neuwied (Fn. 72), S. 24. Hellmuth GENSICKE, Die Kirchspiele Rückeroth und Dreifelden, in: Nassauische Annalen 66 (1955), S. 263.
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gen heterogenen Gesellschaft in Neuwied671 stand eine vergleichsweise homogene Landbevölkerung gegenüber. Die Bestellung des Neuwieder Stadtpredigers war insoweit ein weitaus größeres Politikum als die einer Landpredigerstelle.
3. Berufungsverfahren Hinsichtlich der Berufung eines Pfarrers sind mehrere Schritte zu unterscheiden672: Auf die Auswahl eines Kandidaten (Vocatio) folgte zunächst die Prüfung auf Eignung hinsichtlich Lebenswandels und Lehre (Examinatio). Diese beiden ersten Schritte wurden in der evangelisch-reformierten Kirche prinzipiell von den Presbyterien durchgeführt. Dem Konsistorium blieb im Zweifel die endgültige Entscheidung vorbehalten. Aufgrund des landesherrlichen Kirchenregiments war jedoch dieses Verfahren nicht unabhängig von der Landesobrigkeit realisierbar. Bevor ein Pfarrer in sein neues Amt eingeführt werden konnte (Introductio), bedurfte es der Bestätigung der Wahl durch den Landesherrn (Confirmatio). Eine freie Priesterwahl, wie sie bereits in den Bauernkriegen gefordert worden war, war im Rahmen des landesherrlichen Kirchenregiments nicht möglich. Dieser Zwang zum Zusammenwirken barg bereits Konfliktpotential in sich. Ausgehend von den regionalen Gegebenheiten ergaben sich auch Unterschiede in der Berufungspraxis: Der jeweilige Neuwieder Stadtpfarrer sah sich von Anbeginn einem selbstbewusstem Stadtbürgertum gegenüber, das in weiten Teilen noch nicht einmal der dominierenden Konfession angehörte. Bei der Auswahl des Neuwieder Stadtpfarrers war daher stets besondere Sorgfalt anzuwenden, weil hierbei die berechtigten Interessen der reformierten Gemeinde Neuwied sowie die der übrigen Konfessionen zu berücksichtigen waren. In den Landgemeinden kann kaum von einem dauerhaft funktionierenden Presbyterium gesprochen werden, das in Konkurrenz zur Besetzungspolitik des Neuwieder Konsistoriums treten konnte. Es sind zudem keine Hinwiese ersichtlich, die auf eine Konfliktsituation schließen lassen. Die Besetzung der Pfarrstellen erfolgte daher für die Landgemeinden in der Regel zentral aus Neuwied.
671 672
Vgl. FWA 68-8-9; Einwohnerverzeichnis der Stadt Neuwied anlässlich einer Stadtvisitation 1771. Zum Berufungsverfahren allgemein: Jörn SIEGLERSCHMIDT, Territorialstaat und Kirchenregiment, Köln/Wien 1987, S. 238.
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Grundsätzlich war das Berufungsverfahren in der Stadt Neuwied nicht anders aufgebaut als das der Waldkirchspiele: So erfolgte die Besetzung der ersten Predigerstelle in Neuwied im Zusammenwirken von Presbyterium und Landesherr. Hinsichtlich des Predigers und eines reformierten deutschen Stadtpraezeptors hatte das Presbyterium zwei Personen zur landesherrlichen Confirmation vorzuschlagen, die Besetzung der zweiten Predigerstelle sowie des Rektors der Lateinschule geschah indes ohne Mitwirkung der Kirchengemeinde673. Anders als in den Landgemeinden waren die Mitglieder des Presbyteriums in der Stadt Neuwied jedoch einflussreiche und tendenziell auch wohlhabende Bürger, die mitunter ihre eigenen politischen Interessen verfolgten. Das städtische Presbyterium hatte folglich wesentlich mehr Gewicht gegenüber der Berufungspraxis der landesherrlichen Regierung. Bereits 1723 war es zu einem Konflikt zwischen Graf Friedrich Wilhelm und dem Presbyterium gekommen: Der Landesherr wollte den bisherigen Pfarrer Johann Gerhard Melsbach nach Rengsdorf versetzen und hatte für die Stelle in Neuwied Johann Anton Gudenus vorgesehen674. Die Kirchenältesten widersetzten sich jedoch der Entscheidung des Grafen und die Gemeinde boykottierte den Einführungsgottesdienst des neuen Pfarrers. Erst durch die Entscheidung „für den Unterhalt des gegenwärtigen und künftigen Hof= und Stadtpredigers zu sorgen – ohne Zuthun der gemeinen Bürger und Unterthanen675“ wurde das Presbyterium umgestimmt. Der Landesherr hatte sich zwar personell durchgesetzt, musste aber akzeptieren, dass die Kirchengemeinde sich weigerte, den unerwünschten Pfarrer zu entlohnen. Besonders deutlich wird die herausgehobene Stellung der Stadtpfarre auch anhand eines Streits zwischen dem Presbyterium der evangelisch-reformierten Gemeinde und dem Grafen, der in den Jahren 1754 und 1755 um die Neubesetzung des Amtes entbrannte676. Nach dem Abgang des Pfarrers Philipp Heinrich Muzelius677, der nach Vorwürfen, er habe eine Dienstmagd vergewaltigt, Neuwied in Richtung Surinam verließ, wollte der Graf den bereits zum Inspektor ernannten Georg Wilhelm Hoecker, der zuvor die Predigerstelle im Kirchspiel Feldkirchen 673 674 675 676 677
FWA 65-10-16; Deduction des Kanzleidirektors v. Fischer, § 11. CURTIUS geschichtliche Entwicklung (Fn. 474) , S. 8. Zitiert nach: CURTIUS geschichtliche Entwicklung (Fn. 474), S. 8. FWA 64-10-13. Ausführlich zur Person des Johann Philipp Henrich Muzelius und die RufmordKampagne, die zu seinem Weggang aus Neuwied führte: Hans-Joachim FEIX, Johann Philipp Henrich Muzelius Pfarrer in Neuwied 1751-1754; in: Heimatjahrbuch des Kreises Neuwied 1992, S. 68-70; außerdem später unter J III 1.
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innehatte, mit der herausgehobenen Position des Neuwieder Stadtpredigers ausstatten. Ein Wechsel von der Landgemeinde auf die Neuwieder Pfarrstelle hätte für Inspektor Hoecker – formal betrachtet als Inspektor schon in gehobener Position – allein eine Verbesserung in finanzieller Hinsicht bedeutet. Das Neuwieder Presbyterium, bestehend aus den Mitgliedern Bürgermeister Hermann Caesar, Georg Heinrich Enspeler, Ruben Attendorn und Johann Bernhard Ackermann, widersetzte sich jedoch zur Überraschung der zuständigen Behörden dem Willen des Landesherrn. Verantwortlicher Kanzleirat in diesem Fall war Oberst Bröske, der das entscheidende Gutachten zu dieser Frage verfasste: Darin schlägt er dem Grafen vor, „dem presbyterio auffzugeben zwey subjecto sondersambst zur praesentation außzumachen undt allenfallß stillschweigend gehen zu lassen an Sie nur H. Inspectorem nebst jenem zu ernennen678“. Die Ernennung des Inspektors Hoecker stand also bereits vor der offiziellen Präsentation möglicher Kandidaten im Presbyterium fest. Das Verfahren wurde nur zum Schein gewahrt, um den formalen Bedingungen zu genügen. Eine Auswahl durch das Presbyterium sollte nicht wirklich erfolgen. Dem eigenen Unrechtsbewusstsein trug angesichts dieses Verfahrens Oberst Bröske dadurch Rechnung, dass er in dem Gutachten vermerkte, dass das Presbyterium nur mündlich vom Anliegen der Landesherrschaft in Kenntnis gesetzt würde. Diese Mission übernahm Konsistorialrat Melsbach im Vorfeld der nächsten Sitzung dieses Gremiums am 2. Dezember 1754. Das Presbyterium ließ sich davon jedoch zunächst wenig beeindrucken und schlug in der entscheidenden Sitzung den Stadtprediger von Hachenburg, Bert von Höchstenbach, und den Pfarrer von Heddesdorf, Friedrich Wilhelm Caesar, einen Sohn des Neuwieder Bürgermeisters, vor und wollte die anschließende Wahl „uff diese restingiren“. Dieses eigenmächtige Vorgehen des Neuwieder Presbyteriums musste zwangsläufig die landesherrliche Gewalt herausfordern: Auf Anraten des Oberst Bröske erging daraufhin ein Dekret, wodurch dem Presbyterium aufgegeben wurde, eine „gantz unbeschränkte wahl679“ durchzuführen. Gleichzeitig wurde das Presbyterium verwarnt und dem Bürgermeister der Stadt Neuwied, Hermann Caesar, mit dem Hinweis, dass auch die landesherrliche „Confirmatio“ verweigert werden könnte, ein Einvernehmen mit dem Grafen nahe gelegt680. Diesem Druck
678 679 680
FWA 64-10-13; Gutachten des Ob. Broeske vom 30. November 1754. FWA 64-10-13; Vorschlag des Ob. Broeske vom 27. Dezember 1754. FWA 64-10-13; Bericht des Ob. Broeske vom 17. Dezember 1754.
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beugten sich offenbar die Presbyter, weil Georg Wilhelm Hoecker als Pfarrer der Stadt Neuwied nachweislich in den Jahren 1755 bis 1766 wirkte681. Hierdurch wird deutlich, dass das Presbyterium, das den offenen Konflikt in Fragen der Pfarrerwahl mit der Landesherrschaft wagte, letztlich nicht obsiegen konnte. Die landesherrliche „Confirmatio“ der Wahl des Presbyteriums durch das Konsistorium konnte sehr leicht als Druckmittel eingesetzt werden, um politisch missliebige Bewerber zu verhindern. Diese Fälle lassen sich für die Grafschaft jedoch nur zwei Mal nachweisen. Die Regel war wohl eher die einvernehmliche Neubesetzung einer vakanten Pfarrstelle. Die erzwungene Bestellung des Pfarrers Hoecker gelang schließlich. Überzeugt vom Erfolg der Warnung war bereits am 23. Dezember eine Resolution ex consistorio angefertigt worden, womit dem Inspektor Hoecker die landesherrliche Bestätigung seiner Wahl erteilt wurde. Zurückgehalten wurde diese allerdings bis das evangelisch-reformierte Presbyterium förmlich um die Bestätigung seiner „Wahl“ gebeten hatte682. Unterzeichnet wurde dieses Schreiben von den Mitgliedern des Neuwieder Presbyteriums. Diese auch wirtschaftlich nicht unbedeutenden Herren ordneten sich somit letztlich – erwartungsgemäß – dem landesherrlichen Kirchenregiment unter. Es existierte in der Grafschaft Wied-Neuwied insoweit ein selbstbewusstes Bürgertum, das bereit war, einen Konflikt mit der Landesherrschaft zu wagen, allerdings lässt sich an diesem Beispiel feststellen, dass sich die presbyterial-synodale Struktur des Calvinismus gänzlich dem landesherrlichen Kirchenregiment unterordnen musste. Das rigorose Vorgehen gegen den Willen der Presbyter ist angesichts des calvinistischen Kirchenverständnisses bemerkenswert, aber auch hier wird deutlich, dass sich das presbyterial-synodale Kirchenverständnis, das in einem Stadtstaat wie Genf oder in den kirchenpolitisch weitgehend autonomen Gemeinden am Niederrhein das Wesen der Kirche prägte, nicht auf den obrigkeitsstaatlichen Ansatz übertragen ließ. Die Priesterwahl erfolgte trotzdem formal durch die Synodschöffen/Presbyter und entsprach damit durchaus calvinistischen Vorstellungen. Das Mittel der landesherrlichen Confirmation wurde jedoch offensiv durch die wiedische Landesregierung genutzt, um auch in der Besetzungspolitik das Kirchenregiment auszuüben.
681 682
RÜFFLER evangelische Gemeinde (Fn. 178), S. 371. FWA 64-10-13; Anschreiben des Presbyteriums (undatiert).
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4. Ausbildung Da es in der näheren Umgebung der Grafschaft Wied-Neuwied keine reformierte Hochschule gab, mussten Landeskinder, die sich für theologisches Studium interessierten, auswärts studieren. Ein Teil der wiedischen Prediger wurde zunächst an der Universität Marburg ausgebildet683. Diese traditionsreiche Universität war von Landgraf Philipp I. von Hessen gezielt als reformatorische Universität gegründet worden und hatte sich im Laufe der Zeit zu einer der führenden evangelischreformierten Hochschule im deutschen Sprachraum entwickelt684. Auch noch im 18. Jahrhundert gab die Theologische Fakultät dem geistigen Leben der Universität Marburg die entscheidende Prägung, obwohl gerade diese starre Orientierung zu einer Krise führte, die sich in Abwanderungsbewegungen und Verlegungsplänen äußerte685. Die politischen Beziehungen zwischen der Grafschaft Wied und der Landgrafschaft Hessen waren hingegen niemals besonders eng, so dass die Gründung der Hohen Schule Herborn686 in der benachbarten Grafschaft Nassau viel stärker auf die Grafschaft Wied-Neuwied ausstrahlte als dies bei der Universität Marburg der Fall gewesen war. Die Hohe Schule Herborn, die Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg 1584 gezielt zur Ausbildung evangelisch-reformierter Prediger gegründet hatte, wurde schnell zur geistigen Zentrale der wiedischen Grafschaften687: Dies verdeutlicht auch die große Zahl immatrikulierter Studenten aus der Grafschaft Wied688: Theologen wie Caspar Olevian oder der in Fragen der Kirchenzucht besonders bedeutende Wilhelm Zepper trugen gerade in den ersten Jahren zum Erfolg der neu gegründeten Hochschule bei. Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle, die der Jurist Johannes Althusius bei der Etablierung der Hohen Schule im internationalen Rahmen gespielt hat. In seiner Person lässt sich exemplarisch die herausragende Bedeutung reformierter Juristen für die Entwicklung der Univer-
683 684
685 686 687 688
Angaben dazu bei: ROSENKRANZ Rheinland II (Fn. 497), S. 59 ff. Zur Entwicklung gerade in den Anfangsjahren ausführlich: Heinrich HERMELINK/Siegfried August KAEHLER, Die Philipps-Universität zu Marburg 1527-1927, Marburg 1927, S. 1 ff. HERMELINK/KAEHLER Universität Marburg (Fn. 684), S. 388 ff. Dazu: MENK Hohe Schule (Fn. 43); STROHM Calvinismus und Recht (Fn. 22), S. 183 ff. GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 1. Immerhin 91 immatrikulierte Studenten aus den beiden wiedischen Grafschaften lassen sich bis 1742 nachweisen; vgl. ZEDLER/SOMMER Hohe Schule (Fn.496).
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sitätslandschaft im 18. Jahrhundert veranschaulichen689. Dabei stach die nassauische Hochschule gegenüber anderen calvinistischen Universitäten dadurch hervor, dass hier die Lehrtätigkeit auch durch den Dreißigjährigen Krieg nicht unterbrochen wurde und anders als in Hessen-Kassel oder der Kurpfalz kein erneuter Konfessionswechsel des Landesherrn Einfluss auf die Lehrtätigkeit nahm690. Kontinuität bestimmte auch die Lehrinhalte: Während der nächsten Jahrzehnte blieb die Hohe Schule Herborn als Prototyp einer konfessionell ausgerichteten Bildungseinrichtung die dominierende Anstalt in der Region691. Trotz der Versuche, eine konfessionsübergreifende Bildungseinrichtung in Neuwied zu errichten692, konnte selbst im Zeitalter der Aufklärung das Streben der eigenen Landeskinder an die „fremde“, dezidiert calvinistische Hochschule nicht unterbunden werden. Sowohl an der Universität Marburg als auch an der Hohen Schule Herborn verhinderte die Dominanz einer konservativen Theologie ein Eindringen aufklärerischer Tendenzen weitgehend693. Die prominentesten evangelisch-reformierten Hochschulen befanden sich deshalb im 18. Jahrhundert nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Es darf daher nicht verwundern, wenn die Pfarrerschaft der Grafschaft Wied noch in stark konfessionellen Denkmustern, während die Landesherrschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Ideen der Aufklärung offen gegenüber stand. Dadurch lässt sich zumindest teilweise das aufklärungsfeindliche, konservative Weltbild der wiedischen Geistlichkeit erklären, das sich insbesondere in der Kirchenzucht-Praxis auf lokaler Ebene manifestierte. Auch Einflüsse des Pietismus sind zu vermuten. Dem wirkte auch nicht die Stipendienvergabe durch die Landesherrschaft entgegen, zumal es kein umfangreiches Stipendienprogramm gegeben hat: Aufgrund der beschränkten Mittel der Landesregierung wurden Stipendien nur vereinzelt Landeskindern gewährt. Zudem wählten auch die geförderten Theologie-Studenten in der Regel eine dezidiert reformierte Universität aus. Auch wenn die führenden hohen Schulen der Reformation im Zeitalter der
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Dazu: Dieter WYDUCKEL, Recht und Jurisprudenz im Bereich des Reformierten Protestantismus, in: STROHM Martin Bucer (Fn. 2), S. 2. MENK Hohe Schule (Fn. 43), S. 13 f. GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 2; MENK Hohe Schule (Fn. 43), S. 15. Alle Versuche scheiterten an dem Gegensatz der lokalen Konfessionen, vgl. TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 66. Vgl. zur Vertreibung zweier Cartesianer: MENK Hohe Schule (Fn. 43), S. 90 f.
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Aufklärung zunehmend in den Schatten neuer Hochschulen gerieten694, blieb der Zustrom wiedischer Studenten beständig.
5. Persönliche Lebenssituation Die Rekrutierung der evangelisch-reformierten Pfarrerschaft erfolgte primär aus dem „städtischen“ Bürgertum695, wobei dies in einer kleinen Reichsgrafschaft, in der in erster Linie ländliche Kirchspiele zu besetzen waren, nur bedingt zutreffen dürfte. Ein Großteil der wiedischen Pfarrer entstammte einheimischen (klein-)bürgerlichen Familien und nur vereinzelt dem Bauernstand. Es gab zwar mit der Familie Caesar, die zeitweilig vier Pfarrer gleichzeitig stellte, und den Familien Breusing, Hoecker, Melsbach und Muzelius mehrere Sippen aus der Grafschaft Wied und der Westerwaldregion, aus denen sich große Teile des Pfarrstandes der Grafschaft rekrutierten696, gleichwohl reichte dies nicht aus, um ohne „auswärtige“ Unterstützung auszukommen. In der vergleichsweise kleinteiligen Struktur der Grafschaft Wied und der umliegenden evangelisch-reformierten Grafschaften zeigte sich so schon früh die große Mobilität, die im Milieu protestantischer Pfarrer herrschte. Häufig kam es zum personellen Austausch mit Sayn-Altenkirchen, Sayn-Hachenburg oder den Solm´schen Grafschaften. Für den Lebensunterhalt der Pfarrer waren die einzelnen Gemeinden selbst zuständig697. Aufgrund der mangelhaften finanziellen Ausstattung war eine Anstellung in der Grafschaft Wied-Neuwied – mit Ausnahme der Stadtpfarre – daher wohl eher unattraktiv. Dies galt im Besonderen für die Kirchspiele Altenwied, Feldkirchen und Heddesdorf698. Nachweise für die Waldkirchspiele fehlen, wobei auch hier von einer unzureichenden wirtschaftlichen Situation ausgegangen werden kann699. Klagen über die Ausstattung der 694 695 696 697
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HERMELINK/KAEHLER Universität Marburg (Fn. 684), S. 390. Albrecht ECKART, Beamtentum und Pfarrerstand in Hessen, in: Günther FRANZ, Beamtentum und Pfarrerstand 1400-1800, Limburg an der Lahn 1972, S. 103. Angaben dazu bei: ROSENKRANZ Rheinland II (Fn. 497), S. 59 ff. Aus einer Aufstellung für die Stelle des Stadtpredigers ergibt sich, dass von etwa 300 fl. Grundgehalt die Gemeinde selbst 200 fl. übernahm; FWA 64-10-12, pag. 13; in den Landgemeinden erhielt der Pfarrer den Großteil seines Gehalts in Naturalien, nur ein geringer Betrag wurde bar ausgezahlt; vgl. FWA 65-7-5, Pfarrey-Renthen 1763; FWA 65-7-10, Kirchen-Pastorey Revenuen. ROSENKRANZ Rheinland I (Fn. 102), S. 694 ff. Vgl. FWA 64-11-4, pag. 9; Armutsbericht für das Kirchspiel Anhausen vom 7. Oktober 1699; FWA 64-6-29, Bericht des Herrn Pfarrers von Trauwen zu Nordhofen, vom
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Pfarreien finden sich jedenfalls häufig. Dies setzt sich auch beispielsweise bei Fragen des Witwenunterhalts fort. Die Frau des Pfarrers nahm innerhalb einer Gemeinde regelmäßig eine wichtige Rolle wahr. Hier bot sich Raum für viele Streitfälle zwischen einem neuen Pfarrer und einer hinterbliebenen Witwe, wie er sich beispielsweise 1751 zwischen der Witwe des Pfarrers Desevre und Philipp Heinrich Muzelius entwickelte700. Die persönliche Lebenssituation der wiedischen Geistlichkeit verschärfte sich dadurch, dass sich die Aufstiegschancen innerhalb der gräflichen Landeskirche in Grenzen gehalten haben dürften, weil sowohl die finanziellen Möglichkeiten der Landesherrschaft als auch die Struktur der Grafschaft mit nur einer Stadtpfarrei begrenzt waren. Eine Karriere war somit – wollte man nicht den Wechsel in ein größeres Territorium wagen – nahezu ausgeschlossen. Ein einfacher Landpfarrer begnügte sich mitunter mit einer Stelle, die ihm ein Leben lang ein minimales Auskommen701 und Ansehen sicherte. Es kann daher gerade für diese kleinen Territorien nicht von einem „Plattformberuf“ gesprochen werden702. Dennoch darf man von der mangelhaften Finanzlage keinen Rückschluss etwa auf eine mangelnde Aus- und Fortbildung der Pfarrer ziehen: Anforderungen und Ausbildungsstand stiegen während des 18. Jahrhunderts eher, als dass die Qualität aufgrund steigender Studentenzahlen sank703. Aufgrund der wichtigen Rolle, welche die Pfarrer im Kontrollsystem der Kirchenzucht spielten, war ihre Stellung innerhalb der Gemeinde nicht unangefochten. Zunächst war die „Zweite Reformation“ wesentlich stärker als die frühere Reformation von den Landesherren den Untertanen aufoktroyiert worden. Oftmals wurden wiedische Untertanen gegen ihren Willen calvinistisch. Die Pfarrer konnten sich daher kaum auf Rückhalt aus der Bevölkerung verlassen, zumal sie als Garanten für die Durchsetzung des strengen Sittenregimes galten und somit zumindest als halbstaatliche Beamte die politische Herrschaft verkörperten704. Sie waren „vom Wollen der Herrschaft völlig abhängig705“. Herrschaft und Pfarrer waren deshalb fast wechselseitig auf-
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Zustand der Kirchen und Schulen seines anvertrauten Kirchspiels, vom 11. October 1699. FWA 64-4-8. Vgl. FWA 64-6-29, Bericht des Herrn Pfarrers von Trauwen zu Nordhofen, vom Zustand der Kirchen und Schulen seines anvertrauten Kirchspiels, vom 11. October 1699. Zur Begrifflichkeit: SCHORN-SCHÜTTE/SPARN Pfarrer (Fn. 659), S. 6 ff. SCHORN-SCHÜTTE/SPARN Pfarrer (Fn. 659), S. 22. WEHLER Gesellschaftsgeschichte I (Fn. 30), S. 255. SCHMIDT Grafenverein (Fn. 6), S. 472.
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einander angewiesen: Der jeweilige Graf beziehungsweise sein Konsistorium wurde umfassend über Vorgänge in den Gemeinden informiert und konnte so seine Machtposition auch durch Vertiefung des calvinistischen Bekenntnisses festigen, während die Pfarrer ihre starke Stellung nur in der Repräsentanz der weltlichen Macht sichern konnten. Gleichwohl muss berücksichtigt werden, dass Pfarrer sich mitunter auch gegen die Regierung positionierten. Im Rahmen der wiedischen Bauernkriege war z. B. kaum vorstellbar, dass Pfarrer sich langfristig in Opposition zu ihrer eigenen Kirchengemeinde setzten, zumal ihre finanzielle Situation entscheidend von den finanziellen Bedingungen innerhalb eines Kirchspiels abhing706. Auch die unterschiedlichen Auffassungen zur Sittenzucht zwischen Landesherrschaft und Pfarrerstand boten ein weites Konfliktfeld. Insgesamt war die Lebenssituation der Pfarrer in der Grafschaft WiedNeuwied dadurch geprägt, dass sie – bedingt durch die Kollision der calvinistischen Bußzucht mit dem landesherrlichen Kirchenregiment – zwischen Gemeinde und Landesherr standen und sich nicht ausschließlich auf eine Seite stellen konnten. Gleichwohl konnten sie sich nicht als unabhängiger Mittler zwischen beiden Ebenen etablieren, weil eine Abhängigkeit zu beiden Seiten hin bestand. Eine starke Stellung nahmen sie insofern nicht ein.
6. Aufsichtsverfahren Diese Situation lässt sich auch anhand von Konsistorialverfahren nachweisen, die in der Grafschaft Wied-Neuwied gegen widerspenstige Pfarrer angestrengt wurden. Solche Verfahren tauchen insbesondere gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Tätigkeit des wiedischen Konsistoriums auf. Dabei ging es hauptsächlich um kritische Äußerungen einiger Priester, die dem revolutionären Umfeld geschuldet waren. Ein solches Verfahren wurde beispielsweise gegen den Pfarrer der evangelisch-reformierten Stadtpfarrei, Philipp Jacob Winz, im Jahre 1794 angestrengt, als er öffentlich das Dispensationsrecht des Landesherrn in Fragen des Eherechts bestritt707. Pfarrer Winz war ohnehin ein unbequemer Stadtpfarrer. Bereits 1787 geriet er mit dem Landesherrn, Fürst Johann Friedrich 706
707
Vgl. FWA 64-6-29, Bericht des Herrn Pfarrers von Trauwen zu Nordhofen, vom Zustand der Kirchen und Schulen seines anvertrauten Kirchspiels, vom 11. October 1699; FWA 64-10-12, pag. 13, Gehalt des zeitigen Stadt-Predigers zu Neuwied 1751. FWA 67-12-8, pag. 5 ff.; Schreiben des Pfarrers Winz an das Konsistorium vom 27. März 1794.
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Alexander, in Konflikt, weil er offenbar die bisher vorherrschenden dogmatischen Thesen zu Dreieinigkeit, Erbsünde und Jenseits nicht mehr vertrat708. Ob darin eine Abkehr gegenüber dem Pietismus, der auch im Fürstentum Wied-Neuwied um sich gegriffen hatte, gesehen werden kann709, kann in Anbetracht der Quellenlage nicht beantwortet werden, allerdings deutet insbesondere der Kontakt, den Pfarrer Winz mit berüchtigten Freigeistern seiner Zeit pflegte, auf ein eher progressives Glaubensverständnis. 1794 stand Pfarrer Winz jedoch auf der anderen Seite. Hier entlud sich der Konflikt zwischen Konsistorium und Pfarrerstand, der sich in vielen bereits untersuchten Fällen angedeutet hatte, in einem quälenden Prozess, der durch wechselseitige Vorwürfe und einen harten Umgangston710 geprägt war. Die allzu leichtfertige Handhabung der Ehehindernisse durch das Konsistorium in einigen Fällen veranlasste Pfarrer Winz, der in diesem Fall eher den konservativen Kräften zuzuordnen ist, sogar zu dem Ausspruch: „ubi est Consistorium Neowedanum?711“ Er griff damit die Stimmungslage auf, die bereits in den 1770er Jahren festzustellen war712. Nach dem Tod des frommen Fürsten Johann Friedrich Alexander scheint es unter der Regierung seines antiklerikalen Sohnes Friedrich Karl zu einem Ausufern der Dispensationspraxis gekommen zu sein, die sogar einem eher progressiv eingestellten Geistlichen zu weit ging. Doch auch diesen Konflikt überstand Winz unbeschadet, disziplinarische Mittel gegen den Pfarrer ergriff das Konsistorium nicht. Philipp Winz blieb noch bis zu seinem Tod am 19. Juni 1813 im Amt713. Ob dem Konsistorium der nötige Rückhalt auf Seiten des Landesherrn fehlte714 oder ob man den Konflikt mit dem Presbyterium in Neuwied scheute, kann nicht abschließend geklärt werden. Einen ähnlichen Anlass hatte auch das Verfahren gegen Pfarrer Johann Jakob Philipp Heck aus Heddesdorf715: Dieser hatte seine Gemeinde zu Ungehor708 709 710
711 712 713 714
715
Hans-Joachim FEIX, Der Neuwieder Pfarrer Johann (sic!) Jacob Winz (1759-1813), in: Heimatjahrbuch des Kreises Neuwied 2008, S. 197; LÖHR Neuwied (Fn. 72), S. 26. So jedenfalls: FEIX Winz (Fn. 713), S. 197. Gerade das Konsistorium Neuwied mahnt den Pfarrer Winz „sich in seinen cünftigen Vorträgen sowohl einer gemäßigtern […] dem Consistorio und dem bestehenden Verhältnißen angemeßeneren Schreibart zu bedienen […].“; FWA 67-12-8, pag. 7. FWA 67-12-8, pag. 64; Stellungnahme des Pfarrers Winz vom 12. September 1794. EKiR-Archiv Wied Nr. 98; Konventsprotokoll vom 16. Juni 1772. FEIX Winz (Fn. 713), S. 199. Schließlich wurde Fürst Friedrich Karl 1793 seines Amtes enthoben und regierte faktisch nur in den Jahren 1797 bis zu seiner Abdankung 1802; vgl. TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 78 f. FWA 67-12-4 (unpaginiert).
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sam gegenüber dem Fürsten aufgerufen und sich gegen dessen Kirchenregiment aufgelehnt. Da es Heck primär um die Linderung der finanziellen Belastung seiner Gemeinde in Folge französischer Kontributionszahlungen ging, unternahm er den Versuch, sich – ohne Einbeziehung des Konsistoriums – unmittelbar an den Grafen zu wenden. Eine Zusammenarbeit mit den Konsistorialräten erschien Heck aussichtslos, auch wenn ihm die angesetzte Strafe von 50 Reichstalern letztlich erlassen wurde. Auch dieser Fall deutet also auf einen Konflikt zwischen Pfarrern und Kirchenbehörde gegen Ende des 18. Jahrhunderts hin. Die Aufsichtsverfahren spielten im Rahmen der Kirchenzucht insgesamt nur eine untergeordnete Rolle, weil sie in erster Linie dienstrechtliche Verfahren darstellen. Diese richteten sich gegen widerspenstige Pfarrer, die sich nicht der offiziellen politischen Linie der Landesherrschaft unterordnen wollten. Ein sittlicher Zuchtgedanke lässt sich insofern nicht mehr nachweisen. Deshalb wird an dieser Stelle auch nicht weiter darauf eingegangen. Der Fall „Winz“ unterstreicht jedoch den Konflikt zwischen Landesherrn und Pfarrerstand, der hier seinen Höhepunkt fand.
7. Fazit Die Position der Pfarrer wurde im Dienste der Konfessionalisierung funktionalisiert716, wobei den wiedischen Geistlichen regelmäßig eine starke Stellung fehlte, um sich gegen die Landesherrschaft aufzulehnen. Häufig stammten die Pfarrer selbst aus der kleinen Grafschaft, so dass ihre Position tendenziell ohne Alternative bleib. Dennoch führte auch dieser Umstand nicht dazu, dass die dörflichen Strukturen vollends zerstört wurden717. Vielmehr ist auch hinsichtlich der Rolle eines Pfarrers in einem evangelisch-reformierten Territorium zu unterscheiden: Auch er war auf die Kooperation der Dorfbevölkerung, insbesondere die der Synodschöffen angewiesen. Für Neuwied kommt als Besonderheit hinzu, dass der Pfarrer der reformierten Stadtpfarrei als Interessenvertreter seiner Konfession gegenüber den religiösen Minderheiten auftrat.
716 717
SCHMOECKEL Pastor als Richter (Fn. 387), S. 2; SCHORN-SCHÜTTE/SPARN Pfarrer (Fn. 659), S. 25. So aber: SCHILLING Konfessionskonflikt (Fn. 5), S. 218.
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V. Presbyterium Im Gegensatz zu den meisten anderen reformierten Territorien wurde in der Grafschaft Wied der Begriff des Ältesten oder des Presbyters als Bezeichnung für das wichtigste Laienamt der in der calvinistischen Tradition stehenden Kirche kaum verwandt. Es findet sich vielmehr sowohl in den wiedischen Kirchenordnungen als auch in den Akten des wiedischen Konsistoriums der Begriff des Send- oder Synodschöffen718. Das Konzept des Presbyteriums hat seinen Ursprung in der christlichen Urkirche, in der es nach Calvin zwei Gruppen gegeben hat: die einen, die zum Lehren bestimmt seien und die anderen, die bloß als Aufseher über die Sitten zu fungieren hätten719. Bereits in der Frühkirche waren den Laien Mitwirkungsrechte gegenüber dem Bischof zur Sicherung einer kollegialen Struktur zugewiesen worden720. Aus diesem Verständnis heraus entwickelte sich in der evangelisch-reformierten Kirche das Amt der Synodschöffen. Dieser Begriff lässt sich zurückführen auf die bereits vor der Reformation bestehenden mittelalterlichen Send- oder Rügegerichte721: Hier wurden Vergehen der Gemeindemitglieder angezeigt und geahndet, wobei nicht nur geistliche Strafe, sondern auch körperliche Züchtigungen angeordnet werden konnten722. Die Übernahme der Amtsbezeichnung für eine kirchliche Funktion veranschaulicht insofern die bis in die Neuzeit vorherrschende Identität zwischen kirchlicher und staatlicher Verwaltungsstruktur in den protestantischen Territorien. Außerdem wird dadurch deutlich, dass die Verhängung weltlicher Strafen durch Kirchengerichte keineswegs eine Erfindung der Reformation ist: Vielmehr erfolgte auch hier ein Rückgriff auf frühkirchliche Kirchenzuchtmaßnahmen. Dennoch spricht die Fortführung des Begrifflichkeit eher für einen obrigkeitsstaatlichen Ansatz der wiedischen Kirchenverfassung gegenüber dem Idealmodell des Consistoire, das Calvin vorschwebte. Schließlich unterscheiden sich die frühen christlichen Gemeinden von denen des Reformationszeitalters dadurch, dass das Christentum nicht verfolgt, sondern zielgerichtet vom Staat als Herrschaftsinstrument genutzt wur718 719 720 721 722
Vgl. Kirchenzuchtordnung vom 7. Oktober 1590, in: SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 469; LÖHR Feldkirchen (Fn. 72), S. 68. CALVIN Institutio (Fn. 192), IV, 11, 6, pag. 896 f.; CALVIN Unterricht (Fn. 192), S. 833. LANDAU TRE XIX (Fn. 584), S. 118. MÜLLER Kleinstaaten (Fn. 56), S. 37. BECKER Konfessionalisierung (Fn. 73), S. 1.
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de. Der in Heidelberg im Vorfeld der Kirchenordnung von 1563 ausgefochtene Konflikt zwischen Thomas Erastus als Vertreter des landesherrlichen Staatskirchentums deutschrechtlicher Prägung und Caspar Olevianus als Vertreter eines synodal-presbyterialen Ansatzes723 wurde in der Grafschaft Wied von Anfang an zu Gunsten des landesherrschaftlichen Kirchenregiments entschieden. Die Ausgestaltung des Amtes ist insoweit parallel zu der des „verordneten Aufsehers“ in der Kurpfalz724. Die Tätigkeit eines Synodschöffen lässt sich eindeutig dem kirchlichen Bereich zuordnen und unterschied sich fundamental von den mit Schöffen besetzten Kirchspielsgerichten, obgleich auch hier personelle Überscheidungen eintreten konnten725, wobei diese Ämterhäufung durchaus gewollt war. Schließlich sollten die Kirchenältesten „beneben den vornemsten auß den gerichtspersonen/ oder vorstehern eines jeden orts/ die man für from und gotsfürchtig helt726“ ausgewählt werden. Die Bestimmung zum Kirchenältesten bedeutete für die lokalen Honoratioren also einen zusätzlichen Machtzuwachs. Die Synodschöffen waren formell gegenüber dem Pfarrer gleichgestellt und nicht etwa subordiniert727. Dass diese Einordnung nicht zwingend war, beweist ein Blick auf das benachbarte Territorium Sayn-Hachenburg, wo die Sendschöffen als Gemeindevorsteher – ernannt auf Vorschlag des Schultheißen – eher der exekutiven Staatsgewalt angehörten728. Gleichzeitig war die Beibehaltung der Terminologie auch Anlass für viele Reformierte, zwischen katholischer Sendgerichtsbarkeit und reformierter Kirchenzucht keinen gravierenden Unterschied zu sehen729, was mitunter auch zu mangelndem Amtseifer und Pflichtbewusstsein führte, weil bereits die vorreformatorischen Sendgerichte nur unzureichend funktioniert hatten730. Eine separate Regelung für die Synodschöffen existierte in der Kirchenordnung für die Grafschaft Wied-Neuwied nicht. Da es jedoch im Zuge der 723
724 725 726 727 728 729 730
Dazu: WALTON Kirchenzucht (Fn. 351), S. 205-246; MUSTER Ende der Kirchenbuße (Fn. 26) S. 71; PRESS Calvinismus (Fn. 40), S. 122, 247 f.; SCHILLING Konfessionskonflikt (Fn. 5), S. 188. Vgl. SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 469 ff. TROßBACH Bauern (Fn. 658), S. 30. ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), S. 42. Vgl. Cap. VI § 1 Wied-Runkel´sche Presbyterialordnung vom 26. März 1763; in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Runkel, S. 379 ff. MÜLLER Kleinstaaten (Fn. 56), S. 158. Paul MÜNCH, Kirchenzucht und Nachbarschaft, in: Ernst Walter ZEEDEN/Peter Thaddäus LANG, Kirche und Visitation, Stuttgart 1984, S. 239. Vgl. zur Situation in Kurköln: BECKER Konfessionalisierung (Fn. 73), S. 252 ff.
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Herborner Synode von 1586 zu einer Angleichung des Kirchenrechts in den beteiligten Grafschaften gekommen war, sind Analogien zu anderen Kirchenordnungen zulässig. Umfangreiche Regelungen ergeben sich aus Art. 34 ff. der Solms-Braunfels´schen Kirchenordnung von 1582731, in der ebenfalls die Bezeichnung „Synodschöffe“ verwendet wird. Die Wahl erfolgte durch die kirchspielsangehörigen Gemeindemitglieder. Gewisse Anhaltspunkte für das wied-neuwiedische Kirchenrecht ergeben sich zudem auch aus der Gesetzgebung der Obergrafschaft Wied-Runkel, weil in kirchlichen Fragen eine enge Abstimmung zwischen den beiden wiedischen Grafschaften stattfand. Insofern lassen sich aus der Presbyterial-Ordnung vom 26. März 1763732 auch Rückschlüsse auf die Situation in der Niedergrafschaft ziehen: Da in einem Kirchspiel mehrere Synodschöffen zu wählen waren, ordnet Cap. 1 § 1 an, dass „an jedem größeren Orte zween Synod=Schöffen oder Kirchen=Aelteste (Presbyterii) sein mögen733“. Somit war sichergestellt, dass ein gewisser Proporz innerhalb des Kirchspiels gewahrt wurde. Auch der Wahlmodus wird in der Wied-Runkel´schen Presbyterial-Ordnung beschrieben: Demnach trat im Falle einer Vakanz der örtliche Pfarrer an das Presbyterium heran und beide sollten gemeinsam einen Kandidaten bestimmen. Im Streitfall sollte der Inspektor als landesherrschaftlicher Beamter einschreiten und auf eine Einigung hinwirken oder einen Kandidaten bestimmen. Der Kandidat wurde dann dem Ort vorgestellt und erhielt seine kirchenrechtliche Approbation aus den Händen des Gemeindevorstehers. Das gesamte neu besetzte Presbyterium wurde daraufhin vor das Konsistorium geladen, damit ihm seine Amtspflichten und Aufgaben vorgehalten werden konnten. Darüber hinaus hatten die Presbyter/Synodschöffen „darauf zu achten, dass die Diener (Prediger) fleißig ihr Werk tun und der Herde mit gutem Beispiel vorangehen.“ Die zentrale Aufgabe der Presbyter/Synodschöffen bestand folglich darin, gemeinsam mit dem lokalen Pfarrer für die Aufrechterhaltung des calvinistischen Lebenswandels zu sorgen734. Dazu wurde ihnen aufgegeben „die ohnthaten und unchristlichen wandel in notam zu nehmen, (und) dem kirchendiener des orts anzuzeigen“, damit die Übertreter gerügt und gestraft würden735. Dadurch bildete das Presbyterium neben dem Pfarrer die zentrale Überwachungs- und Strafinstanz auf Ebene der Kirchengemein731 732 733 734 735
RICHTER Kirchenordnungen II (Fn. 344), S. 460. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Runkel, S. 379 ff. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Runkel, S. 379 f. LÜDICKE Kirchenzucht (Fn. 31), S. 90. Kirchenzuchtordnung vom 7. Oktober 1590, in: SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 469.
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de. Im Aufgabenbereich von Pfarrer und Presbyterium kam es daher zu Kompetenzüberschneidungen, die aber im Sinne eines Kooperationsverhältnisses aufgelöst werden sollten. Dass dies in der Praxis nicht ohne weiteres möglich gewesen ist, verdeutlicht die Tatsache, dass das Presbyterium zugleich den Pfarrer in dessen Amtsführung kontrollieren musste und somit eine institutionelle Grenze für die Macht des Pfarrers in der Gemeinde darstellte. Dies gilt im Rahmen der reformierten Kirchenverfassung für viele Laienämter736. Dass es mitunter in diesem Kooperationsverhältnis zu Spannungen kommen konnte, lässt sich beispielsweise anhand der Anschuldigungen nachvollziehen, denen sich 1711 der Pfarrer von Anhausen, Johann Friedrich Breusing, von Seiten des Presbyteriums ausgesetzt sah: Zwei Synodschöffen hatten den Inspektor der Grafschaft aufgesucht und den Pfarrer angezeigt, er sei „beý der schulmeisters frauen in unzüchtigem leichtfertig werck begriffen gewesen737“ und so in schimpflichen Verdacht geraten. Die Synodschöffen verwiesen auf einige Indizien, konnten aber keinen Beweis für die Anschuldigungen erbringen. Durch ein salomonisches Urteil – nämlich die Versetzung des Schullehrers – wurde der Konflikt zwischen Presbyterium und Pfarrer entschärft. Diese kurze Episode verdeutlicht, welche Gefahr für einen Pfarrer bestand, sich „sein“ Presbyterium zum Feind zu machen. Im Innenverhältnis eines Kirchspiels kam den Kirchenältesten somit eine Machtstellung zu, allerdings gilt dies keinesfalls im Verhältnis zur Landesherrschaft. Bereits in der Wied-Runkel´schen Kirchenordnung von 1600738 werden die Synodschöffen zudem angehalten, dass „jeder an seinem ortt die zall deren, so zum kirchgang […] schrifftlichen mit nahmen verzeichnenn, solche verzeichnuß, wa nit monatlichen, doch zum lengsten alle quartall ernewern, bey allen predigten uf die absentes achtung gebenn“ solle. Eine ähnliche Praxis herrschte wohl auch in der Untergrafschaft. Neben der umfassenden Aufgabe, über die Einhaltung der Zehn Gebote zu wachen, sollen „offenbare Laster und Aergernisse, insonderheit des Fluchens, Schwörens, Balgens und der Uneinigkeit, auch einer überjährigen Versäumniß des Gottesdienstes, oder des heiligen Abendmahls öffentlich citiret werden“, Cap. 5 § 14 Presbyterial=Ordnung von 1763739. Darüber hinaus wird sowohl Predigern als auch Synodschöffen ihre Hauptaufgabe, die brüderliche „Ermahnung unter vier 736 737 738 739
TROßBACH Bauern (Fn. 658), S. 30. FWA 64-11-4, pag. 22; Schreiben des Johann Friedrich Breusing an das Konsistorium von November 1711. SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 477 ff. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Runkel, S. 379 ff.
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Augen“ zugewiesen, die im Wesentlichen Mt. 18, 15 ff. folgt. In der WiedNeuwiedischen Kirchenordnung von 1683 werden die Synodschöffen und ihre Funktion lediglich in Teil II § 46 KO 1683740 ausführlich erwähnt. Insgesamt bestehen somit für das 17. Jahrhundert kaum detaillierte Vorschriften, nach denen ein Synodschöffe sein Amt versehen konnte. Dies legt den Schluss nahe, dass die Amtsausübung Ende des 17. Jahrhunderts bereits stark von Gewohnheitsrecht und praktischen Erfahrungen geprägt war, die sich seit der „Zweiten Reformation“ im Jahre 1564 in der Grafschaft kaum verändert hatten. Von Seiten der Gemeindemitglieder war regelmäßig die dörfliche Oberschicht vertreten741. Auch in der Stadt Neuwied prägten wohl tendenziell oligarchische Strukturen das Laiengremium. Den Vorsitz führte immer der jeweilige Stadt- beziehungsweise Kirchspielspfarrer742. In der Kirchenordnung von 1707 findet sich als Bezeichnung für die Synodschöffen der Terminologie der „Ältesten“. Ihre Bestellung erfolgte nach Benennung eines Kandidaten durch den zeitlichen Pastor im Wege landesherrlicher Confirmation743, die sich auch daran orientierte, ob der Kandidat tauglich für diesen Posten war, Art. 7 KO 1707. Die herausragende Bedeutung, aber auch die Schwierigkeit, es auszuüben, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass nach Art. 8 KO 1707 „niemand […] die Annahme eines durch rechtmäßige Wahl übertragenen kirchlichen Aufseher=Amtes, außer bei erheblichen und hochwichtigen Gründen, verweigern“ konnte. Die Pflicht zur Annahme dieses Ehrenamtes mag verdeutlichen, dass es sich um ein unbeliebtes Amt handelte. Auch dieser Umstand gründet auf einem fundamentalen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis.
740
741 742 743
Teill II § 46 „Die Sundscheffen sollen vermög ihres Ayds mit allem Fleiß auf die Sundrügen Achtung geben und, nach gehaltener monatlicher Bettags=Predigt, allemahl verpflichtet sein ihrem Pastore alles was den Monat über straffwürdig vorgegangen, haarklein anzumelden, da dann derselbige solches in ein eigenes Protokollum richtig annotiren soll; dafern ein Sundscheff etwas verschweigen würde, soll nach Gelegenheit mit dem Delinquenten gestrafft werden. Würde auch ein Sundscheff die Sonn=, Bettags= oder Wochenpredigt ohne Ursach (so er doch dem Pastore zuvor andeuten soll) nicht besuchen, soll jedesmahl 1 Gld. in den Allmosenstock erlegen, und, da er am Bettag nicht erschiene und die Sundrügen nicht anbrächte, soll er allemahl vom Pastore angezeichnet werden“; in: SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), WiedNeuwied, S. 33. TROßBACH Bauern (Fn. 658), S. 31. MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 141. Dazu Confirmationsakten: FWA 64-7-1 (1738-1775) sowie FWA 64-7-2 (17761788).
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In der Theorie machten es sich die evangelischen Theologen denkbar einfach, indem sie von der Einsichtsfähigkeit des Kirchenvolkes ausgingen. Schließlich erhielten die Presbyterien ihre Autorität durch das biblische und apostolische Vorbild744. So formuliert denn auch beispielsweise Wilhelm Zepper, ein ausgewiesener Vorkämpfer der Kirchenzucht: „Dann wer wollte so unverstendig/ und seiner eignen wolfart dermaßen feind sein/ daß er den jenigen/ welche ihne freundlich/ in geheim und gutem für seinem zeitlichen und ewigen schaden/ für Gott und der Welt warnen/ und ihme guten raht/ wegweisung und befürderung zu seinem besten und wolfart/ an leib und seele/ mittheilen/gram und feind seyn wollte?745“
Er ging also davon aus, dass Sünder aus eigener Einsicht Ermahnungen durch die Synodschöffen/Presbyter akzeptieren und dankbar annehmen. Gleichwohl waren sich die protestantischen Theologen bewusst, dass die effektive Ausübung dieses Amtes die Integration des jeweiligen Synodschöffen/Presbyters in die Sozialstruktur der Kirchengemeinde voraussetzte746. Praktisch stellte sich allerdings das Problem, dass sich sowohl das Kirchenvolk als auch die für die brüderliche Aufsicht zuständigen Synodschöffen der Kirchenzucht in weiten Teilen verweigerten. In erster Linie sahen sich die Synodschöffen/Presbyter dem Vorwurf des Verrats ausgesetzt. Die Überwachung des Alltagslebens stellte einen massiven Eingriff in das damalige Sozialgefüge dar, der nicht durch ein theoretisches Konzept überwunden werden konnte. Gerade der Verlust der Nachbarschaftshilfe infolge der Exklusion aus dem Sozialverband eines Dorfes wird manchen Kirchenältesten und seine Familie vor schwerwiegende Probleme gestellt haben747. Es erscheint daher nachvollziehbar, dass die Synodschöffen/Presbyter ihr Amt eher unwillig und wenig engagiert betrieben – auch in der vorreformatorischen Kirche war die Position des Sendschöffen nicht beliebt gewesen748. Eine Änderung hat sich insoweit durch die Reformation nicht ergeben, was sich bereits in den ersten Jahren nach Einführung des presbyterialen Systems nachweisen lässt749. Von einer mangelhaften Amtsführung zeugen auch die Protokolle der Predigerkonvente in der Grafschaft Wied-Neuwied, worin die 744 745 746 747 748 749
MÜNCH Zucht und Ordnung (Fn. 41), S. 141. ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), S. 157 f. MÜNCH Nachbarschaft (Fn. 729), S. 241. MÜNCH Nachbarschaft (Fn. 729), S. 242 ff. BECKER Konfessionalisierung (Fn. 73), S. 257. MÜNCH Nachbarschaft (Fn. 729), S. 239.
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Nachlässigkeit der Presbyter/Synodschöffen angemahnt wird und die Prediger sich über mangelnde Unterstützung bei der Überwachung der Kirchenzucht beklagen750. Auch die Wied-Runkel´sche Kirchen- und Polizeiordnung von 1616, die hier ebenfalls aufgrund einer fehlenden vergleichbaren Regelung in der Untergrafschaft herangezogen werden muss, greift beispielsweise dieses Problem in Tit. I, Art. 8 auf, indem es heißt, „daß die sentscheffen jedes orts in ihren ahnbefohlenem undt ahngenommen ampt zimlich fahrleßig undt entwede durch unfleiß oder aber unzimliche gunst mit denen, so sich wider die gemein Gottes undt die erbarkeitt vergreiffen, durch die finger sehen751“. Drohende Strafe scheint die Synodschöffen nicht abgeschreckt zu haben. Die Unbeliebtheit dieses Amtes wird besonders in den Strafvorschriften deutlich, die bei Verstößen gegen die sonntägliche Anwesenheitspflicht drohten: Um die Vorbildfunktion gegenüber den anderen Gemeindegliedern erfüllen zu können, war das Versäumen des sonntäglichen Gottesdienstes mit doppelter Strafe bedroht, wobei dies keine Seltenheit gewesen sein dürfte752. Um die Rechtsstellung der Ältesten innerhalb eines Kirchspiels zu verbessern, ging man in der Mitte des 18. Jahrhunderts dazu über, das Amt der Synodschöffen nur noch auf Lebenszeit zu vergeben, wobei es dem Konsistorium möglich war, einen Synodschöffen von seinen Pflichten zu entbinden, wenn dieser aufgrund seines Alters, Schwachheit oder Gebrechlichkeit nicht mehr in der Lage war, sein Amt auszuüben. Dadurch hatte man sich eine höhere Unabhängigkeit erhofft, wobei es in der Praxis zu keinen merklichen Verbesserungen kam. Die Tätigkeit der Presbyterien in der Grafschaft Wied-Neuwied während des Untersuchungszeitraums lässt sich nicht näher untersuchen, weil nur vereinzelt und lückenhaft Presbyterialakten der Evangelischen Kirchengemeinde Neuwied erhalten sind753. Für die anderen Kirchspiele fehlen diese Unterlagen völlig. Es lässt sich aber allein anhand der wenigen Akten nachweisen, dass die Presbyterien in der Stadt Neuwied unregelmäßig tagten, obwohl prinzipiell wöchentlich Sitzungen abgehalten werden sollten754: 750 751 752 753 754
EKiR-Archiv Wied Nr. 98; Konventsprotokoll vom 16. Juni 1772. SEHLING Kirchenordnungen XIX/1 (Fn. 174), S. 494. FWA 64-3-14, pag. 27; Kirchenvisitation in Feldkirchen, Protokoll vom 8. November 1679. LHA 630/100 Nr. 90, Presbyterialakte 1731; LHA 630/100 Nr. 207, Presbyterial=Verhandlungen 1752 ff. CURTIUS geschichtliche Entwicklung (Fn. 474), S. 8; ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), S. 134.
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Während 1752 nur fünf Sitzungen stattfanden, erhöhte sich ihre Zahl auf 19 im Jahr 1753, sank aber ein Jahr später wieder auf vier. In den Jahren 1767 bis 1769 schwankte ihre Zahl zwischen elf und 13755. Dass die Presbyterialkollegien nicht ununterbrochen Bestand hatten, lässt sich zwar nur vermuten, ist aber bereits für andere reformierte Territorien nachgewiesen worden756. Die wesentlichen Fälle der Kirchenbuße, die in den Sitzungen behandelt wurden, erledigten sich dadurch, dass der jeweilige Delinquent seine Kirchenbuße coram presbyterio ableistete und anschließend wieder in die Abendmahlsgemeinde aufgenommen wurde. Die wichtigsten Delikte sind hier Beischlaf unter Verlobten und „Hurerei“ als außerehelicher Beischlaf. Es erscheint daher auch nicht abwegig, anzunehmen, dass die meisten Fälle überhaupt nicht schriftlich festgehalten wurden. In den Presbyterialbüchern der Kirchengemeinde Neuwied finden sich nach 1770 schließlich nur noch Konfirmandenlisten. Auch wenn sich belastbare Aussagen hinsichtlich der Rolle der Presbyterien in der Grafschaft Wied-Neuwied nicht treffen lassen, spielen sie im Rahmen der Kirchenzucht eine untergeordnete Rolle, weil nur wenige Delikte in ihren Zuständigkeitsbereich fielen. Das landesherrliche Kirchenregiment hat in Gestalt des Konsistoriums die wichtigsten Aufgaben übernommen, so dass wohl nicht von einer ausgeprägten Presbyterialstruktur gesprochen werden kann. Das Konsistorium des 17. und 18. Jahrhunderts hatte die weitaus gewichtigere Position.
VI. Diakonat Die calvinistische Kirchenverfassung sieht neben dem Amt der Ältesten ein weiteres Amt vor, das aus der Mitte der Gemeinde heraus besetzt werden soll, nämlich das des Diakons757. Es hatte im Bereich der Armenfürsorge bereits in der vorkonstantinischen Frühkirche existiert, wobei der Diakon als Gehilfe des Bischofs tätig war758. Dieses Amtsverständnis wurde von den Reformatoren wieder aufgegriffen und für die kirchliche Almosenverwaltung nutzbar gemacht. 755 756 757 758
LHA 630/100 Nr. 207, Presbyterial=Verhandlungen 1752 ff. SCHILLING Konfessionskonflikt (Fn. 5), S. 189. CALVIN Institutio (Fn. 192), IV, 4, 3, pag. 783; CALVIN Unterricht (Fn. 192), S. 833. LANDAU TRE XIX (Fn. 584), S. 113.
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Ob es ein solches eigenständiges Amt in der wiedischen Kirche jemals gegeben hat, lässt sich nicht nachweisen. Wenn dies der Fall war, dann konnte es sich jedenfalls außer in der Frühzeit nicht durchsetzen. Die Almosen wurden im Untersuchungszeitraum mehrheitlich von den Presbyterien verwaltet, wobei die Unterrichtung des Konsistoriums jährlich zu erfolgen hatte. Dies unterstützt die These, dass Strafzahlungen der Synodschöffen/Presbyter unzureichend beigebracht und eingetrieben wurden. Nur ausnahmsweise finden sich Beispiele, in denen einzelnen Personen wie den Schulmeistern dieses Amt ausdrücklich zugewiesen wurde. Die Strafgelder, die im Rahmen der christlichen Bußzucht eingenommen wurden, bildeten die Haupteinnahmequelle759. Hinzu kamen die sonntägliche Kollekte sowie anderweitige Sammlungen. Die Armut stellte gerade in den Waldkirchspielen ein zentrales Problem dar. Bis Ende des 18. Jahrhunderts trieben Räuberbanden ihr Unwesen auf den Höhen des Westerwaldes760. Erst im Zuge der Reformbewegung des 18. Jahrhunderts konnte dieses Problem nachhaltig bekämpft werden, wobei das Diakonat jedoch dabei kaum eine Rolle spielte.
VII. Schulwesen An dieser Stelle soll auch kurz auf das wiedische Schulwesen eingegangen werden, weil diese Institution im Rahmen der landesherrlichen Kirchenzucht ebenfalls bedeutend war. Außerdem hatte auch hier das Konsistorium die Oberaufsicht. Die Reformentwicklung unter Graf Johann Friedrich Alexander bleibt dabei jedoch weitgehend außer Acht, weil diese bereits Gegenstand einer umfangreichen Untersuchung gewesen ist761. Bevor man wirklich von einer Institution „Schule“ sprechen konnte, waren auch in der Grafschaft 759 760
761
LÖHR Feldkirchen (Fn. 72), S. 71. Zu den so genannten „Rheinischen Banden“, wobei Neuwied haufig als bevorzugter Räuberstützpunkt erwähnt wird: Carsten KÜTHER, Räuber und Gauner in Deutschland, Göttingen 1976, S. 44; Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang der am 19.02.1803 in Köln hingerichtete Räuberhauptmann Mathias Weber, genannt „der Fetzer“, der sich mehrere Jahre in Neuwied aufhielt und sogar plante, die fürstliche Schatzkammer auszurauben; vgl. Johannes Nikolaus BECKER, Actenmäßige Geschichte der Räuberbanden an den beyden Ufern des Rheins, Zweyter Theil, III. Große Niederländische Bande, Cöln 1804, Reprint Leipzig 1972, S. 372 f. GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 6 ff.
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Wied-Neuwied die regelmäßigen Katechismusstunden die einzige wirkungsvolle Sozialisationsmethode gewesen762. Im Zuge der Einführung der Kirchenordnung von 1683 wurde die Rolle der Schule zumindest formal gestärkt. Das Hauptfach Religion wurde durch die beiden Fächer Lesen und Schreiben ergänzt763. Schulpflichtig waren alle Kinder ab dem achten Lebensjahr, vgl. Teil II § 38 KO 1683. Dabei mussten auch die Katholiken wie auch die evangelisch-lutherischen Christen ihre Kinder auf die reformierte Stadtschule schicken und zur Besoldung des evangelisch-reformierten Predigers beitragen764. Dass die Schulpflicht zumindest in der Theorie durchgesetzt wurde, lässt sich an der Anordnung von Strafzahlungen für das Ausbleiben der Kinder aus der Schule nachweisen765. In der Praxis erwiesen sich die Mittel zur Durchsetzung jedoch als begrenzt, weil bis Ende des 18. Jahrhunderts Neben- und Privatschulen, die keine Schulen im Sinne der staatlichen Schulpflicht waren, sowohl auf dem Land als auch in der Stadt Neuwied weit verbreitet waren766. Diese Entwicklung wurde auch unter der Sequestrationskommission767 der Kurpfalz768 nicht fundamental geändert: In dieser Zeit erging unter anderem die Anordnung, dass Pfarrer und Rektor der Stadtschule in der Kirche jeden Sonntag den Katechismus lehren sollten. Hinzu kamen Nachmittags-Predigten und „alle Tage in der Woche morgens und abends gebett nach vorher verleßenen Biblischen Capitel undt derrer angefügter kurzten summarischen Erklär- und Auslegung769“. Auch unter Graf Friedrich Wilhelm (1706-1737) lassen sich neue Ansätze nicht nachvollziehen. Eine Wende ergab sich erst nach Regierungsantritt des Grafen Johann Friedrich Alexander (1737-1791), der auch in diesem Bereich einen Wandel 762 763 764 765 766 767
768
769
Vgl. MÜNCH Daphnis 11 (Fn. 575), S. 24. GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 5. VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 13. FWA 68-2-6. GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 62. Es handelt sich dabei um eine kaiserliche Kommission, die durch den Reichshofrat eingesetzt wurde, um eines seiner Urteile notfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen; vgl. Thomas LAKENBERG, Reichskammergericht und Reichshofrat, in: SCHMOECKEL/STOLTE Examinatorium (Fn. 391), S. 321. Die kurpfälzische Sequestrationskommission wurde eingesetzt, um bei Ableben des Grafen Friedrich III. im Jahr 1690 die Aufteilung der Grafschaft zwischen seinem Sohn Friedrich Wilhelm und seinem Neffen Friedrich Ludwig zu überwachen; vgl. RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 236 ff. FWA 68-2-1 (unpaginiert); Schreiben des zur kaiserlichen Sequestration der NiederGraffschaft Wiedt von Chur-Pfaltz verordneten Sequestor und Administrationsrat Friedrich Freiherr von Struhoff zu Ley vom 23. Oktober 1688.
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zugunsten eines aufgeklärten Schulmodells bewirkte. Zwar lag auch hier der Schwerpunkt der Erziehung auf der Religion, insbesondere weil der Heidelberger Katechismus als grundlegendes Lehrwerk beibehalten wurde770, allerdings entwickelten sich gerade unter der Ägide des Schulmeisters Lukas Ecker, der ab 1785 in Heddesdorf amtierte, neue Denkansätze, die Eingang in das wiedische Schulsystem fanden771. Interessanterweise schlägt sich in dessen Hauptwerk „Gutgemeinter Rath und Anschläge für die jungen und künftigen Schulmeister in den Wied-Neuwiedischen Landen“ von 1779 hinsichtlich der Frage der Schulzucht ebenfalls das Prinzip, dass Strafen erst zur Anwendung kommen, wenn andere Mittel wie Ermahnen, Warnen oder Drohen versagt haben, nieder772. Dass hier die Theorie und Praxis der Kirchenzucht zumindest Vorbild gewesen ist, ist zu vermuten, zumal der Autor selbst bemerkt, dass diese Art zu strafen dem „göttlichen Verfahren gemäß“ sei. Jedenfalls wird auch bei der Schule deutlich, dass man in der Grafschaft Wied-Neuwied bemüht gewesen ist, die Gedanken der Aufklärung mit der calvinistischen Tradition zu verbinden.
VIII. Weltliche Behörden Da die Kirche im Rahmen der Landesverwaltung gegen Ende des Untersuchungszeitraumes eine eigenständige Abteilung darstellte, erscheint es folgerichtig, dass sich das Konsistorium zur Durchsetzung seiner Anordnungen auch weltlicher Amtleute bedienen konnte. Das Amt des Schultheißen773 bildete insoweit den weltlichen Arm des landesherrlichen Kirchenregiments. Hierin könnte zwar ein Verstoß gegen das Prinzip der Zwei-Schwerter-Lehre gesehen werden, zu bedenken ist aber, dass nach diesem Denkmodell gerade auch die Kooperation der Gewalten gewollt ist. Faktisch trat zwar in beiden Fällen der Staat als handelnde Person auf, allerdings ist dieser Umstand nur insoweit relevant, als wiederum personelle Überschneidungen entstanden. 770 771 772 773
GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 30. GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 26 ff. Vgl. GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 34; die Originalausgabe dieses für das wiedische Schulwesen bedeutsamen Buches ist wohl leider verschollen. Der Begriff des „Amtmannes“ taucht in der Grafschaft Wied nur in der Zeit vor 1648 auf. Im Untersuchungszeitraum wird nahezu einheitlich die Bezeichnung „Schultheiß“ für die gräflichen Amtleute verwendet.
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Diese waren der Tatsache geschuldet, dass weltliche Amtsträger zugleich kirchliche Ämter innehatten. Hinsichtlich der Sozialstruktur dieser Berufsgruppe kann insofern auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Das Amt des Schultheißen als Mittler zwischen Obrigkeit und den einzelnen Untertanen eines Kirchspiels ist für die Normdurchsetzung im frühneuzeitlichen Territorialstaat neben den Gerichtsschöffen von herausragender Bedeutung774. Ihre Stellung auf dem Land wurde teilweise sogar durch eine besondere Berufskleidung zur Unterscheidung von anderen Einwohnern unterstrichen775. Dem einfachen Untertan wurde so vor Augen geführt, dass es sich nicht nur um seinen Dorfvorsteher handelte, sondern gleichzeitig um einen Beamten der Landesherrschaft. Die Bewerbung auf eine freie Schultheißen-Stelle erfolgte in der Grafschaft Wied-Neuwied aus eigenem Antrieb und anders als das Amt der Presbyter war es eine beliebte Stelle776. Der Stadtschultheiß in der Stadt Neuwied war besonders wichtig für die Kommunikation zwischen Landesherr und Magistrat. Hinzu kamen die allgemeinen polizeilichen Aufgaben, wie sie sich einer Instruktion für den Stadtschultheißen vom 30. Oktober 1680 entnehmen lassen. Darin heißt es in Punkt 6: „Im Fall (, dass es) sich […] zu tragen sollte, daß jemant allhier nicht in die Statt gehörig angetroffen und arrestable befunden werden sollte, so soll unser Stattschultheßschaft gebührlich anhalten, den arrest in unseren Nahmen ahnzulegen, die partheye aber vor unser Cantzley vorgenohmen und daselbst rechtlich entschieden werden sollte777.“
Im ausschließlich weltlichen Bereich ergaben sich für die Schultheißen somit umfassende Kompetenzen. Für die konsistoriale Kirchengerichtsbarkeit erschöpfte sich die Relevanz der weltlichen Behörden jedoch in Hilfstätigkeiten, die im Einzelnen unterschiedlich ausgestaltet sein konnten, sofern es zu den der Doppelstruktur geschuldeten Überschneidungen kam. 774 775
776 777
Carl-August AGENA, Der Amtmann im 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 38; FLÜCHTER Zölibat (Fn. 68), S. 33; TROßBACH Bauern (Fn. 658), S. 27 f. Beispielsweise in der Reichsgrafschaft Solms-Braunfels, wo das Auftreten der Schultheißen wie folgt reglementiert wurde: „förmlichen Hirschfänger mit neuem schwarzen Lederriemen, mit einem beknopften feinen Handstock, und mit Handschuhen [...] als durch einen guten Rock, niedlichen Hut und Halsbinde“; vgl. SCOTTI Gesetzessammlung III (Fn. 289), Solms-Bruanfels, S. 1109. FWA 28-1-16. FWA 26-12-16.
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IX. Fazit Im Rahmen der Untersuchung der wiedischen Behördenstrukturen im Bereich der Kirchengerichtsbarkeit ergibt sich ein eindeutiges Machtungleichgewicht zugunsten des Konsistoriums: Von der calvinistischen Idealvorstellung, vier kirchliche Ämter zu etablieren, blieb wenig übrig, weil die Kompetenz des Konsistoriums zu weitreichend war. Der Rückgriff der Reformation auf das frühchristliche Ämterverständnis kollidierte offensichtlich mit dem Konzept des landesherrlichen Kirchenregiments, wie es auch in den kleinen Territorialstaaten verfolgt wurde. Auch wenn nach evangelisch-reformierter Anschauung in der Kirchenverfassung strikt zwischen weltlichem und geistlichem Regiment zu trennen ist, konnte dies gerade in einem kleinen, finanziell überforderten Territorialstaat noch nicht einmal ansatzweise verwirklicht werden. Der dogmatische Ansatz, dass das geistliche Amt lediglich argumentiert, belehrt und denunziert, während das weltliche Amt Gehorsam erzwingt, wo Argumente bereits versagt haben778, musste in dem Fall versagen, in welchem zwischen geistlichen und weltlichen Beamten Personenidentität bestand. In der Grafschaft Wied-Neuwied waren aber häufig die Mitglieder des Konsistoriums Regierungs- und Kanzleiräte. In gleicher Weise waren die Kirchenältesten doppelt in hierarchische Strukturen eingebunden. Die geistlichen Mitglieder des Konsistoriums konnten ihre herausragende Position, die sie oftmals in größeren Territorien als Superintendenten/Inspektoren innehatten, nicht gegenüber der Kirchenbehörde und dem Landesherrn herausstellen, weil es sich vielfach nur um einen „normalen“ Pfarrer einer Gemeinde handelte. Die Situation der Prediger – einerseits als landesherrliche Amtsperson von der Gunst des Landesherrn abhängig und andererseits mit einem mitunter kritischen Presbyterium konfrontiert – darf wohl als ambivalent beschrieben werden. Die lukrativste Position war die des Hofpredigers, der in der Regel jedoch mit dem Pfarrer der evangelischreformierten Gemeinde Neuwied identisch war. Die Landpfarrer dürften sich in den meisten Fällen pragmatisch mit ihrer Situation arrangiert haben. Gleichwohl lässt sich auch für die Grafschaft Wied die von Schilling aufgestellte These bestätigen, wonach es in erster Linie der Pfarrer und nicht der
778
SIEGLERSCHMIDT Territorialstaat (Fn. 672), S. 236.
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Amtmann war, der im Dorf als „Mann der Zentrale“ auftrat779. Dies gilt insbesondere für die hier thematisierten Sittendelikte. Die zentralen Laienämter wurden vielfach von Personen wahrgenommen, die ohnehin eine weitere Funktion innerhalb der landesherrlichen Verwaltung – sei es als Schultheiß oder als Gerichtsschöffe – einnahmen. Auch auf dieser untergeordneten Ebene existierten Verschränkungen zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt, die mitursächlich für das Scheitern der Kirchenzucht gewesen sein dürften. Es zeigt sich also anhand der Untersuchung der kirchlichen Behördenstrukturen in einer kleinen Reichsgrafschaft, dass die Kirche tatsächlich zu einem bloßen zusätzlichen Zweig der Staatsgewalt geworden war780. Eine eigenständige Struktur konnte sich nur in den Bekenntnisgemeinschaften entwickeln, in deren innere Verwaltung sich die Landesregierung von sich aus nicht einmischte.
779 780
REINHARD Staatgewalt (Fn. 212), S. 269; SCHILLING Konfessionskonflikt (Fn. 5), S. 218. Vgl. REINHARD Staatsgewalt (Fn. 212), S. 267.
D. Visitationen als Herrschaftsinstrument
Die Kirchenvisitation durch den jeweiligen Diözesanbischof wurde in der katholischen Kirche bereits seit dem 4. Jahrhundert zur Überprüfung der Gemeinden durchgeführt781. Vor der Reformation war diese Tätigkeit in weiten Teilen des Alten Reiches jedoch zum Erliegen gekommen. Dienten die Visitationen zu Anfang der Reformation noch dem Zweck, das Kirchengut zu erhalten782, so ging man sukzessive – insbesondere im Rahmen der „Zweiten Reformation“ – dazu über, die Visitation als Mittel zur Überwachung und zum Bestand der Kirchenzucht und zur Durchsetzung des landesherrlichen Kirchenregiments einzusetzen. Die Visitation erwies sich damit als ein zentrales Mittel der Disziplinierung783. Dies gilt zwar in allen Konfessionen, wobei allerdings innerhalb des evangelisch-reformierten Bekenntnisses hinsichtlich der „reformatio vitae“ die Kirchenvisitation von herausragender Bedeutung war784. Ihren gedanklichen Ursprung hatte dieses landesherrliche Instrumentarium in Kursachsen, wo 1527 die erste Visitation durch eine Kommission stattfand785. Die erste nachweisliche Visitation durch die Grafen von Wied fand am 28. Januar 1556 in Niederbieber statt786, so dass mit diesem Datum die Reformation ihren sicheren Anfang nahm. Hier wurde zunächst festgestellt, „dass der klöckner morgens, mittags, abends und nach der predigt trinken soll“. In Feldkirchen, wo die Visitation am folgenden Tag fortgesetzt wurde, beklagte sich die Gemeinde über die Abgabenbelastung durch Gebühren bei Kindtaufen, Eheschließungen und dem Kindbett für Ammen. Es sei daher schon oftmals vorgekommen, dass sich Personen außerhalb des Landes trauen ließen. Die Pfarrstelle Raubach in der Obergrafschaft war unbesetzt und wurde von Urbach (mit)bedient. In allen Gemeinden wurden zudem die unzureichende finanzielle Ausstattung der Prediger sowie der Bauzustand der 781 782 783
784 785 786
Zur Frühzeit der Kirchenvisitation in der katholischen Kirche: BECKER Konfessionalisierung (Fn. 73), S. 1 ff. SIEGLERSCHMIDT Territorialstaat (Fn. 672), S. 227. CONRAD Deutsche Rechtsgeschichte (Fn. 24), S. 296; REINHARD Staatsgewalt (Fn. 212), S. 269; Ernst Walter ZEEDEN/Peter Thaddäus LANG, Kirche und Visitation, Stuttgart 1984, S. 10 ff. MÜNCH Nachbarschaft (Fn. 729), S. 231. FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 30 f. FWA 64-3-14, pag. 1; Visitationsprotokoll aus dem Jahr 1556.
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Kirchen gerügt. Diese erste „Bestandsaufnahme“ durch die wiedische Regierung verdeutlicht zunächst die zentralen Probleme, die dringend der Verbesserung bedurften. Eine disziplinierende Wirkung kann hier noch nicht festgestellt werden. Die Vorgehensweise der Visitationskommission war ebenfalls noch unsystematisch: Sie reiste zunächst nur von Ort zu Ort und nahm Beschwerden auf. Insgesamt handelte es sich um ein wenig institutionalisiertes Verfahren. Von dieser Praxis zeugt auch ein Schreiben von Pfarrer Johannes Schelewald aus Nordhofen an die wiedische Kanzlei787. Darin beklagt er zunächst, dass „in geraumer Zeitt von Jahren kein ordinanrius pastor in loco“ gewesen sei und daraus öffentliche Sünden, insbesondere Unzucht und Hurerei, um sich greifen würden. Die Androhung der öffentlichen Kirchenbuße erweise sich zudem als wirkungslos, weil sich die Sünder in der Praxis widersetzten, obwohl sie durch ihren Pastor „vielfach ermahnet“ worden seien. Die Beschreibung der Missstände ging hier noch von den Pfarrern selbst aus. Die Adressierung an die Kanzlei deutet auf das Fehlen einer eigenständigen Kirchenbehörde hin. Der erste Anhaltspunkt für ein formalisiertes Verfahren findet sich erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Gemäß Art. 5 KO 1707788 sollten alljährlich zur Überwachung der Arbeit der Pfarrer sowie der Beachtung des Heidelberger Katechismus in den Gemeinden Visitationen stattfinden. Die Zuständigkeit lag bei dem Inspektor. Ihm waren zwei Moderatoren beigeordnet, die ihn bei der Untersuchung und insbesondere bei der Prüfung der Kirchen- und Armenrechnungen unterstützten. Eine förmliche Visitationsordnung kann erst für das Jahr 1734 nachgewiesen werden789. Trotzdem muss davon ausgegangen werden, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts die alljährliche Visitation in der Grafschaft Wied-Neuwied nicht mehr stattfand. Darauf schließen lässt eine Anordnung aus dem Jahr 1747, wonach die „in hiesigen landen gewohnlich gewesene Kirchenvisitationes zur auffrechthaltung (des) kirchen und schulwesens und auch anderer löbl Endzwecks wiederum ordentl und alle Jahre gehalten werden müssen; und wir dann hierzu […] unserem nachgesetzten Consistorio allhiro, unserem Regierungsrath Scheffer und Inspectorem Emmelium ermannet haben; […] sich noch dieses Jahr und zwar bald
787 788 789
FWA 64-3-14, pag. 24; Schreiben des Pfarrers Johannes Schelewald vom 10. Februar 1651. SCOTTI Gesetzessammlung I (Fn. 106), Wied-Neuwied, S. 42. FWA 64-3-14, pag. 60; Konzept zu einer solchen Visitationsordnung.
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Visitation als Herrschaftsinstrument
nach Martini Tag in alle Kirchspiele unserer Niedergrafschaft Wied zu begeben, darinnen fleissige und pflichtmäßige Untersuchung anzustellen790.“
Die erste Kirchenvisitation nach Wiederaufgreifen dieses Verfahrens fand schließlich am 20. November 1747 in Grenzhausen unter Leitung des damaligen Inspektors Friedrich Heinrich Muzelius statt. Dabei lief das Verfahren nunmehr in einer strengen Reihenfolge ab, beginnend mit einer Predigt über eine vorher festgelegte Bibelstelle791. Daraufhin wurde der Ortspfarrer von den Visitatoren über den Zustand seiner Gemeinde befragt, wobei sowohl eine Beurteilung der Arbeit der Synodschöffen als auch der Zustand der Kirchendisziplin insgesamt zur Sprache kamen. Im Anschluss daran erfolgte eine Katechimusprobe, um den religiösen Bildungsstand der Kirchspielsangehörigen abzufragen. Am folgenden Tag wurde die Gemeinde ihrerseits hinsichtlich Prediger, Schulmeister und Vorsteher befragt, wobei lediglich die „Amtsträger“ in einem Kirchspiel – Schultheiß, Gerichts- und Synodschöffen – zur Stellungnahme aufgefordert wurden792. Wegen zahlreicher personeller Überschneidungen dürfte sich der Erkenntniswert dieser Befragung indes in Grenzen gehalten haben. Zudem wurden die Kinder im Hinblick auf die regelmäßige Katechismuslehre befragt. Den Rest des zweiten Visitationstages sowie den dritten Tag nahm die Prüfung der verschiedenen Rechnungslegungen ein, wobei zwischen den allgemeinen Kirchenrechnungen, Strafgeldern und Almosen unterschieden wurde. Eine Kirchenvisitation dauerte folglich mindestens drei Tage. Während dieser Zeit musste die Gemeinde sowohl für Unterkunft der Visitatoren als auch für deren Verpflegung aufkommen. Die Visitatoren waren daher regelmäßig ungebetene Gäste793, nicht nur weil sie den Vergehen der Gemeindemitglieder nachgingen, sondern weil sie dazu noch Kosten verursachten. Die zusätzliche Belastung der einzelnen Kirchspiele sorgte für vielfachen Unmut. Es kam daher in der Grafschaft Wied-Neuwied in den 1770er Jahren zu einer Diskussion darüber, ob die Visitatoren nicht selbst für ihre Unterkunft und Verpflegung aufkommen sollten. Auch in diesem Fall ging die Initiative
790 791 792 793
EKiR Archiv Wied Nr. 6; Anordnung des Grafen Johann Friedrich Alexander zu Wied vom 19. Oktober 1747. Abfolge vgl. EKiR Archiv Wied Nr. 6; Kirchenvisitation am 20. November 1747 in Grenzhausen. Diese Personenauswahl tritt sowohl bei der Visitation 1747 als auch 1754 auf, so dass auf eine allgemeine Praxis geschlossen werden kann. BECKER Konfessionalisierung (Fn. 73), S. 24.
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wiederum von der herrschenden Familie aus, wobei Erbgraf Friedrich Carl794 – bekannt für seine „pfaffenfeindliche“ Gesinnung – maßgeblich in Erscheinung trat. Der Rückhalt des Inspektors beim Landesherrn war indes groß genug, um eine Diskussion im Konsistorium weitgehend zu unterbinden. Erwartungsgemäß opponierten die betroffenen Visitatoren gegen diese Neuregelung und verwiesen auf den Visitationsmodus, der „in allen benachbarten Landschaften, im Jülich-Clev, Berg und Märkischen, in sämtl. Nassauischen, Braunfelsischen, Hachenburgischen, Wied-Runkel´schen“ entsprach795. Der Vorschlag verlief im Sande und wurde nicht weiter von der landesherrlichen Regierung verfolgt. Anhand dieser Episode wird deutlich, inwieweit die Homogenität verschiedener Landeskirchen den Fortschritt hemmen konnte. Konservative Kräfte zogen sich häufig auf diese Argumentation zurück, auch wenn sich in den betroffenen Ländern ebenso wie in der Grafschaft Wied-Neuwied Theorie und Praxis häufig unterschieden. Unabhängig von der Verpflegung vor Ort wurde den Visitatoren ein geringer Geldbetrag zur Verfügung gestellt. Diese Diäten deckten jedoch allenfalls einen Bruchteil der Kosten ab und können wohl eher als eine Art Aufwandsentschädigung betrachtet werden. Für die in dieser Arbeit im Mittelpunkt des Interesses stehenden Sittlichkeitsdelikte ergibt sich eine Besonderheit insofern, als dass auch während der Kirchenvisitation in den weniger schwerwiegenden Fällen Recht gesprochen wurde. Dieses Vorgehen entwickelte sich wohl in Anlehnung an die vorreformatorischen Sendgerichte, bei denen der Bischof während der Visitation sein Sittengericht abhielt796. Dies geschah im Rahmen der Befragung des Predigers und der Kirchenältesten, den beiden zentralen Organen bei der Aufdeckung solcher Fälle. Sie meldeten die im Laufe eines Jahres begangenen (Straf-)Taten der Kirchspielsangehörigen an das Konsistorium. Der Inspektor übte dann als Repräsentant dieser Kirchenbehörde die Gerichtsbarkeit aus. So finden sich beispielsweise in einem Protokoll der Kirchenvisitation von Feldkirchen aus dem Jahr 1679 vier Fälle des säumigen Kirchgangs, fünf Fälle des üblen Fluchens, wobei der Umstand der Trunkenheit hierbei mildernde Wirkung entfaltete, zwei Fälle, in denen am Sonntag verbotenerweise gearbeitet wurde, drei Fälle der Abstinenz beziehungsweise des Schlafens während der Visitationspredigt, drei Fälle, in denen sich Personen der 794 795
796
Zu seiner Person: TULLIUS Haus Wied (Fn. 64), S. 75 ff. EKiR Archiv Wied Nr. 7; Declaration über des Herrn Erbgrafen Hochgräfl. Gnaden pcto der Kirchen-Visitation gdgst aufgestellte Anmerckungen vom 26. September 1772 (sic!). LANDAU TRE XIX (Fn. 584), S. 122.
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Katechisation verweigert hatten sowie generell die Feststellung. dass „die Wochenpredigt vielfaltig von jedermann versäumet worden (sei und daher) soll ein jedes hauß im gantzen kirchspiel zwei alb geben797“. Gerade die Kollektivstrafe verdeutlicht, dass die Kirchenzucht auf Kirchspielsebene nur äußerst schwer durchzusetzen war. Auch die eigentlich für die Aufsicht zuständigen Kirchenältesten machten sich wegen der letztgenannten Verfehlung schuldig und mussten selbst gestehen, dass „sie der Schlaff bißweilen in der predigt überfalle“. Dies unterstreicht die Beobachtung, dass die Synodschöffen/Presbyter wohl kaum als Vorbilder angesehen werden konnten. Ähnliche Hinweise finden sich auch in anderen Visitationsakten und Predigerkonventsprotokollen798. Alle Delikte, die offen zu Tage getreten waren, wurden von dem jeweiligen Inspektor noch während der Visitation verhandelt: So findet sich in einem Protokoll der Visitation in Grenzhausen aus dem Jahr 1754 der Fall des Johannes Blum, der wegen unehelichen Beischlafes mit öffentlicher Kirchenbuße belegt worden war799. Diese verweigerte er jedoch und wurde daher für den nächsten Tag vorgeladen. Der Inspektor erlegte ihm auf, er möge bei dem Grafen um Gnade bitten und die Ehe einer Bestrafung vorziehen. Johannes Blum versprach dies zu tun und wurde daraufhin mit der Umwandlung der öffentlichen Kirchenbuße in eine Buße coram presbyterio entlassen. Der Vorgang der Visitation wurde auch dazu genutzt, Konflikte im Vorfeld eines Konsistorialprozesses aufzulösen. Viele Fälle ließen sich aus verschiedenen Gründen auf lokaler Ebene lösen. Eine Rolle mag dabei auch der Umstand gespielt haben, dass der zuständige Inspektor selbst dem betreffenden Ort stammte und daher besondere Nachsicht gegenüber seinen Gemeindeangehörigen übte. Zudem hatte er im Rahmen einer Kirchenvisitation weit größeren Einfluss auf das Verfahren und die Verurteilung, während es bei Konsistorial-Entscheidungen regelmäßig aufgrund des Übergewichts weltlicher Räte nicht dazu kam. Dass diese Praxis häufig angewandt wurde, lässt 797 798
799
FWA 64-3-14, pag. 27; Visitationsprotokoll Feldkirchen vom 8. November 1679. FWA 64-3-14, pag. 28; Kirchenvisitation in Neuwied vom 27. November 1679; FWA 64-3-14, pag. 33; Kirchenvisitation in Grenzhausen vom 13. Juni 1681; FWA 64-314, pag. 38; Kirchenvisitation in Feldkirchen vom 3. Juli 1691; FWA 64-3-14, pag. 41; Kirchenvisitation in Altenwied vom 9. März 1692; FWA 64-3-14, pag. 42; Kirchenvisitation in Alsbach vom 16. April 1695; FWA 64-3-14, pag. 43 a; Kirchenvisitation in Rückeroth vom 19. September 1696; FWA 64-3-14, pag. 45; Kirchenvisitation in Oberbieber vom 7. Januar 1698; LHA 35/1628, pag. 104; LHA 35/1628, pag. 150. EKiR-Archiv Wied Nr. 6; Visitationsprotokoll Grenzhausen vom 16. September 1754.
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sich indes nicht nachweisen. Der Regelfall ist wohl darin zu sehen, dass schwere öffentliche Delikte von den Predigern oder Kirchenältesten an das Konsistorium gemeldet wurden und das Verfahren vor letzterem stattfand. Die Rolle der Visitation ist gerade auch im Hinblick auf die in Sittlichkeitsfragen vielfach nicht funktionierenden Presbyterien zu beurteilen. Je mehr sich die Defizite der presbyterial-synodalen Strukturen offenbarten, desto eher war man gewillt, der Visitation eine gewichtige Rolle im Rahmen der Kirchenzucht zuzubilligen. Auch konfessionspolitisch wurden die Kirchenvisitationen nutzbar gemacht. Im Jahr 1700 wurden die regelmäßigen Visitationen formal auf die evangelisch-lutherische Gemeinde erweitert800. Gleiches versuchte man in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts auch bei der größer werdenden römisch-katholischen Gemeinde, allerdings war hier der Widerstand erwartungsgemäß sehr viel größer als bei den Lutheranern: Mit den Erzbischöfen von Köln und Trier standen der römisch-katholischen Gemeinde starke Verbündete zur Seite, die ihren Einfluss geltend machten, um über das Schicksal der Glaubensbrüder in der reformierten Grafschaft mitzubestimmen. Letztendlich scheiterten deshalb die Versuche der wiedischen Landesherrschaft, sich in die internen Angelegenheiten der Katholiken einzumischen weitgehend801.
800 801
RECK Isenburg/ Runkel/ Wied (Fn. 69), S. 242. Vgl. VOLK katholische Pfarrei (Fn. 72), S. 23.
E. Kirchenzuchtprozesse
I. Vorbemerkung Obwohl nur die Sittendelikte, die nicht im Rahmen einer Kirchenvisitation durch den Inspektor abgeurteilt wurden, zur Verhandlung vor das Konsistorium gelangten, bildeten diese Fälle neben den Eheprozessen einen zweiten Tätigkeitsschwerpunkt des Wiedischen Konsistoriums. Im Rahmen einer Analyse der Rechtsprechung kann daher verdeutlichtlicht werden, wie die Sittenzucht der reformierten Kirchenordnungen im 18. Jahrhundert in der Grafschaft Wied-Neuwied durch das Konsistorium gehandhabt wurde: Das Funktionieren dieser Kirchenbehörde, die Rolle des Landesherrn und die der beteiligten Amtspersonen insgesamt lassen sich dabei nur anhand konkreter Fälle bestimmen. Auch ein mögliches Eingreifen des jeweiligen Landesherrn erfolgte von Fall zu Fall verschieden, kann unterschiedlich motiviert gewesen sein und dementsprechend begründet werden. Daran soll die bereits thematisierte Tendenz zu Milde und Nachsicht im Rahmen der Kirchengerichtsbarkeit näher betrachtet werden. Zu den Verstößen gegen das kirchliche Ideal der Ehe zählen dabei insbesondere der voreheliche Geschlechtsverkehr und der Ehebruch802. Hinsichtlich der Unzucht unterschieden die evangelisch-reformierten Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts zwischen vier verschiedenen Stufen: Demnach wurde der Grundfall der Unzucht, die so genannte Hurerei, als „fleýschliche Vermischung beyderley Geschlechts mit verschiedenen ohne gesetzliche Verbindung803“ definiert. Hierbei handelte es sich um den einfachsten Fall der Unzucht. Dabei waren voreheliche Kontakte zwar mit Strafe und kirchendisziplinarischen Maßnahmen bedroht, aber dennoch weitgehend gesellschaftlich akzeptiert. Dies war insbesondere dadurch bedingt, dass es gerade unter unverheirateten jungen Leuten zu einer Art Tauschgeschäft – Geschlechtsverkehr gegen Eheversprechen – kam804. Eine wichtige Rolle spiel
802 803 804
LÜDICKE Kirchenzucht (Fn. 31), S. 200 f. Definitionen aus Gutachten des wiedischen Hofprediger Wesemann, FWA 50-5-6, pag. 117 f.; vgl. zudem SCHNABEL-SCHÜLE Landesverweis (Fn. 518), S. 286 ff. BECK Voreheliche Sexualität (Fn. 405), S. 135 f.; GÖTTSCH traditionelle Ordnung (Fn. 405), S. 207 f.; SCHMIDT Kirchenbuße (Fn. 271), S. 130 f.
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ten in diesem Zusammenhang auch die Brautkrone805 als Zeichen der Jungfräulichkeit sowie der Strohkranz als Gegenstück, um eine voreheliche Beziehung sichtbar zu machen806. Mit diesen äußerlichen Symbolen sollten insbesondere die Moralvorstellungen der Kirche vergegenwärtigt werden, so dass die Bestrafung mit dem Strohkranz zu den Standardsanktionen des Konsistoriums in Fällen des vorehelichen sexuellen Kontaktes gehörte. Die nächste Stufe betraf denselben Tatbestand nur „unter gesetzlichen Bedingungen“. Hiermit wurde also das Delikt der Vielweiberei umschrieben. Der Ehebruch als dritte Stufe wurde davon als „fleúschliche Vermischung in der Ehe mit anderen außer derselben“ abgegrenzt. Übertroffen werden alle vorgenannten nur durch die so genannte „Blutschande“ auf der vierten Deliktsebene, bei der es sich um fleischliche Vermischung „in der nächsten Familie“ handelte. Die Delikte bildeten die zentrale Schnittstelle zwischen kirchlicher Sittenzucht und weltlicher Strafgerichtsbarkeit. Insbesondere in den Art. 116 ff. der Carolina werden zahlreiche Sittlichkeitsdelikte erfasst und zum Gegenstand teils recht hoher Strafen gemacht. Da jedoch in der Grafschaft WiedNeuwied alle Delikte dieser Art im Untersuchungszeitraum ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich des Konsistoriums fielen, können diese geschlossen und ohne weitere Bezugnahme auf das Strafrecht dargestellt werden. Drakonische Strafen, wie sie in der Carolina vorgesehen waren, wurden infolgedessen nicht verhängt. Gleichwohl blieb es bei der Doppelstellung des Konsistoriums als Kirchenbehörde, die auch weltliche Strafen verhängen konnte. Letztlich dienen die nachfolgenden Ausführungen also der übergeordneten Fragestellung nach dem Funktionieren der „guten Regierung“ in einem evangelisch-reformierten Kleinstaat im 17. und 18. Jahrhundert unter Einfluss einer traditionellen religiösen Toleranzpolitik. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass sich regelmäßig der Staat in Gestalt des Konsistoriums und seiner Hilfsorgane auf der einen Seite und ein Untertan auf der anderen gegenüber standen. Die Auswahl der einzelnen Prozessakten erfolgte insbesondere im Hinblick auf ihren Umfang und Informationsgehalt. Ein Schwerpunkt der Über805
806
Bei der Brautkrone handelt es sich um eine Fortentwicklung des Kopfputzes, der von der Braut während des Kirchganges getragen wurde; vgl. SCHMIDT-WIEGAND Hochzeitsbräuche (Fn. 465), S. 193. GÖTTSCH traditionelle Ordnung (Fn. 405), S. 209 ff.; Hans MOSER, Jungfernkranz und Strohkranz, in: Konrad KÖSTLIN/Kai Detlev SIEVERS, Das Recht der kleinen Leute, Berlin 1976, S. 140-163.
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lieferung liegt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Da vielfach unproblematische Delikte nur oberflächlich oder unvollständig angesprochen und dokumentiert wurden, liegt das Hauptaugenmerk der folgenden Darstellung auf den rechtlich interessanteren und problematischen Fällen. Diese sind zwar nicht repräsentativ für die Mehrzahl der Sittendelikte, da diese nur im Rahmen der Kirchenvisitationen abgeurteilt wurde, allerdings stehen sie stellvertretend für die Prozesse, die überhaupt vor das Konsistorium gelangten und sind insoweit repräsentativ. Unterschieden wird dabei zwischen drei Fallgruppen: Zum einen Fälle, bei denen sich die isolierte Lage der reformierten Grafschaft Wied-Neuwied inmitten katholischer Territorien auf eine Entscheidung ausgewirkt hat, insbesondere wegen grenzüberschreitender Mobilität der Untertanen, zum anderen Fälle, bei denen utilitaristische und ökonomische Erwägungen eine Rolle gespielt haben. Eine letzte Fallgruppe bilden die Fälle, in denen die Öffentlichkeit eine maßgebliche Rolle für den Ausgang des Konsistorialverfahrens gespielt hat.
II. Insellage und grenzüberschreitende Mobilität 1. Paul Drieschen – heimliche Kopulation in Irlich Die konfessionell angespannte Situation innerhalb der Grafschaft ist Gegenstand in dem Verfahren gegen Paul Drieschen aus Irlich807. Dieser wurde am 16. August 1715 vor das Konsistorium bestellt und über die heimliche Kopulation seiner Tochter mit einem in Neuwied ansässigen Italiener befragt. Allein der Vorgang der Vorladung ist bemerkenswert, weil Irlich seit 1623 von Kurtrier besetzt und damit dem Zugriff der wiedischen Kirchenverwaltung weitgehend entzogen war. Trotzdem war es dem Konsistorium möglich, einen de facto kurtrierischen Untertanen vor die wiedische Kirchengerichtsbarkeit zu zitieren. Ob es für diese Fälle eine Abmachung zwischen dem Kurfürsten und den Grafen zu Wied gegeben hat, erscheint äußerst fragwürdig, weil beide gerade wegen der Causa „Irlich“ in ständigem Streit lagen. Es ist daher wohl auch möglich, dass Paul Drieschen, dessen reformiertes Bekenntnis zu vermuten ist, freiwillig nach Neuwied gekommen war, um seine
807
FWA 50-5-14.
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Aussage zu tätigen und Rechtsschutz zu suchen808. Es stellte sich heraus, dass seine Tochter, nachdem sich ihr Vater hinsichtlich einer Eheschließung indifferent geäußert hatte und es daraufhin zu einem heftigen Streit gekommen war, nach Andernach von besagtem Italiener entführt worden war. Eine versuchte heimliche Eheschließung auf wiedischem Territorium war zunächst gescheitert, weil der evangelisch-reformierte Pfarrer der Stadt Neuwied, Johann Gerhard Melsbach, wegen des fehlenden elterlichen Konsenses eingeschritten war, die Verheiratung erfolgte aber schließlich im kurtrierischen Heimbach nach römisch-katholischem Ritus. Das Verhör des Italieners Johannes Job, warum er sich „ohne Vorschriften und Einwilligung der Anna Maria Eltern, ohne vorhergegangener proclamation undt herrschaftl Erlaubniß, sie außer Landts entführet undt sich mit ihr copulieren (habe) lassen“ , führte zu dem Ergebnis, dass es zwischen Paul Drieschen und Johannes Job zu Unstimmigkeiten hinsichtlich der Heirat gekommen war: „der vatter seye vorhero willig gewesen, und (habe) in die Eheverlöbniß consentieret; hierdurch wäre er (aber) darüber ohnwillig worden“. Daraufhin hatte der Italiener den Plan gefasst, Anna Maria Drieschen in die Prämonstratenserabtei Rommersdorf im Erzstift Trier unweit von Neuwied zu bringen, um sie dort zu heiraten. Da das wiedische Konsistorium eine katholische Eheschließung, die ohne elterlichen Konsens möglich war, akzeptieren musste809, konnte das Konsistorium letztlich nicht einschreiten. Die Ehe der Anna Maria Drieschen mit dem Italiener musste als gültig anerkannt werden. Anhand dieses Falles lässt sich die Mobilität der wiedischen Untertanen besonders deutlich belegen. Sie hatten in nächster Umgebung die Möglichkeit, das elterliche Konsenserfordernis und damit ein zentrales Prinzip der protestantischen Ehedoktrin zu umgehen. Zwar setzte dies voraus, dass zumindest ein Ehegatte katholisch war810, allerdings kann dieser Fall als Beleg 808 809
810
Womöglich fühlte sich Paul Drieschen als Protestant unter Katholiken der Wiedischen Landeskirche zugehörig. Die Protestanten sprachen der Ehe den sakramentalen Charakter ab. Da aber auch eine römisch-katholische Ehe kirchlichen Charakter im Sinne der protestantischen Ehedoktrin besaß, wurde sie als solche anerkannt. Zudem waren die Protestanten reichsrechtlich seit 1648 den Katholiken gleichgestellt, so dass zumindest in Deutschland auch aus diesem Grunde die Gültigkeit einer Ehe wechselseitig anerkannt war; vgl. FRIEDBERG Recht der Eheschliessung (Fn. 399), S. 177; Georg Wiese, Handbuch des gemeinen in Teutschland üblichen Kirchenrechts, Vierter Teil, Leipzig 1803, S. 174. Formell wurden Mischehen zwar erst unter Papst Benedikt XIV. durch die Declaration Matrimonia vom 4. November 1741 als gültig anerkannt, gleichwohl konnte schon vorher das seit dem Konzil von Trient geltende Mischehenverbot nur unzureichend durchgesetzt werden; vgl. LELL, Joachim, Mischehe II, in: Theologische Realenzyklopädie, Band XXIII, S. 9.
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dafür herangezogen werden, dass solche Mischehen zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht unüblich waren. Die reformierte Kirchenzucht und das protestantische Eherecht konnten auf diesem Wege faktisch ausgeschaltet werden. Diese freie „Rechtswahl“ wurde zudem durch die angrenzenden katholischen Landesherrn geduldet, wenn nicht sogar gefördert. Die begrenzten Einflussmöglichkeiten der wiedischen Kirchenbehörden waren nicht geeignet, dies zu unterbinden. Eine Strafe wurde dem Italiener Johannes Job und der Anna Maria Drieschen nicht auferlegt, womöglich, weil sie auch nach wiedischem Recht rechtsgültig verheiratet waren.
2. Anna Veronica Schmied – unehelich schwanger Das Denunziationsverfahren gegen Anna Veronica Schmied begann mit einer Anzeige des Predigers von Niederbieber, Johann Konrad Emmelius811. Darin beschreibt er, wie Anna Veronica Schmied aus Oberbieber „vor etlichen Jahren zu Altenwied gedienet und beschwängert worden“ sei. Daraufhin habe sie Zuflucht bei ihrem Vater gesucht und dort das Kind zur Welt gebracht. Als Vater des unehelichen Kindes habe sie damals Peter Schellmann, einen Knecht von der Oberbieberer Mühle angegeben, um so die wahren Umstände zu vertuschen. Seinerzeit sei ihr nur eine Geldstrafe und Kirchenbuße aufgegeben worden, beides sei jedoch bisher nicht vollstreckt worden. Mittlerweile sei „abermahl berüchtigt worden, dass sie schwanger wäre, in Zeit das sie vergangen Jahr beý einem Töpfferbecker einem Wittmann zu Oberbieber gedienet“. Nach erfolgter Anzeige an ihn, den Ortspfarrer, habe sich die Delinquentin „entwunnen, und niemand, selbst der Vater nicht, wollte wissen, wohin sie sich retiriret habe.“ Pfarrer Emmelius verfolgte die Sache daraufhin nicht weiter, sondern erst der Umstand, dass im kurtrierischen Gladbach ein Kind zu „nächtlicher Zeit einem Hausman vor die thür geleget worden (wäre)“, habe bei ihm zu dem Eindruck geführt, dass es sich um das Kind der Schmiedin handeln müsste. Dies würde dadurch bestärkt, dass „da nun das kind kurtzhin auch gestorben, […] sich nun selbige wieder eingefunden (hätte)812“. Bei der Vernehmung durch Pfarrer Emmelius habe Veronica Schmied dann angeboten, die ausstehende Strafe zu bezahlen und 811 812
FWA 50-5-15. FWA 50-5-15, pag. 1; Anzeige des Pfarrers Emmelius vom April 1748.
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Kirchenbuße ablegen zu wollen. Auf die Frage, woher sie das Geld habe und wo sie sich aufgehalten habe, erläuterte sie: „sie könnte die orthe nicht benehnen es wären derselben viel etc im Bergischen Land habe sie die butter gekaufft und nach Bonn und anders wohin verkaufft“. Die Schwangerschaft leugnete sie. Der Pfarrer konfrontierte sie jedoch mit einem Mann aus dem Kirchspiel Honnefeld, der bezeugte, dass „sie das kind erst einem mann im dorf in Zeit des Mittagessens heimlich ans haus gebracht, hingeleget und davongegangen, als aber das kind sich hören lassen […], habe er dem menschen nachgelaufen, ergriffen und geschlagen, darauf gezwungen, das kind wieder mitzunehmen“. Der erste Versuch der Frau, das Kind in Honnefeld loszuwerden, war also beobachtet worden. Pfarrer Emmelius glaubte damit einen Beweis in der Hand zu haben und bat das Konsistorium darum, sowohl die Schmiedin als auch den Zeugen für eine Gegenüberstellung nach Neuwied zu zitieren. Am 20. April 1748 erging daher der landesherrliche Befehl an den Wachleutnant Gronau, die Schmiedin an die Schlosswache zum Verhör zu bringen813. Offenbar wollte man sich nicht drauf verlassen, dass sie einer Citation Folge leisten würde und entschied sich für eine Vorführung, um der Fluchtgefahr Rechnung zu tragen. Vor das Konsistorium geführt, bestritt Veronica Schmied, schwanger gewesen zu sein und gab an, dass ihr „dicker Leib“ von einer Krankheit herrührte, die sie sich im letzten Kindbett eingefangen hätte. Im Bergischen Land sei sie gewesen, um Geld zu verdienen. Im Übrigen bestritt sie auch, dem Zeugen jemals begegnet zu sein814. Das Konsistorium zeigte sich jedoch mit der Aussage der Anna Veronica Schmied wenig zufrieden und ordnete ihre Arrestierung an. Am folgenden Dienstag, den 30. April 1748, erschienen die Zeugen Hermann Hachenburg und Johann Wilhelm Müller aus Ellingen und wiederholten ihre Aussagen, die sie bereits gegenüber dem Pfarrer Emmelius getätigt hatten, allerdings hätte „das mensch sein gesicht beýnahe gäntzlich verhüllet“ und auf die Frage, wo sie herkomme, mit dem kurtrierischen Vallendar geantwortet815. Die Gegenüberstellung blieb daher ohne Ergebnis. Eine Woche später wurde Anna Veronica Schmied jedoch mürbe:
813 814 815
FWA 50-5-15, pag. 2; Befehl des Grafen Johann Friedrich Alexander von Wied vom 20. April 1748. FWA 50-5-15, pag. 3; Vernehmungsprotokoll der Anna Veronica Schmied vom 23. April 1748. FWA 50-5-15, pag. 5; Vernehmungsprotokoll des Hermann Hachenburg und des Johann Wilhelm Müller vom 30. April 1748.
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„auf erhaltenes Zureden […] gestunde endlich, dass […] (sie) zugebe im Reichsflecken Flammersfeld mit dem 2ten unehelichen Kind […] am 12ten März niedergekommen und daselbst bey einem Bauern 8 Tage Kindbett gehalten, das Kind seye aber […] zu Gladbach, wo sie es […] heimlich niedergelegt und davon gegangen, […] gestorben, wie sie zu Oberbieber bei ihrer Wiederankunft von ihrem Vater gehört.“
Sie gestand damit ihre Schwangerschaft. Auf die Frage nach dem Vater des Kindes, entschied sich Anna Veronica Schmied, alles zu erzählen und räumte ein, dass sie fern ihres Dorfes in einer Hecke, Jungholz genannt, mit „Gewalt, wozugleich ihr der Mund zugehalten, […] gegen ihren Willen genöthiget (worden sei)816“. Die uneheliche Schwangerschaft stellte sich somit offenbar als Vergewaltigung heraus, deren Anzeige die junge Frau offenbar aus Furcht unterlassen hatte. Daraufhin erging der Befehl des Grafen, die „Schmieidin v. Oberbieber […] gegen versprechen, sich jederzeit wieder zu stellen, Nachmittag des arrestes (zu) entlassen817“. Anna Veronica Schmied wurde im anschließenden Strafverfahren vor dem Konsistorium „pto. unehelicher Schwängerung und strafbarer Ausstellung ihres Kindes […] auf zehn jahre wegen nach vorgehender gewöhnlicher Unzucht aus der gesamten Grafschaft und gantzen Landes verwiesen818“. Doch auch den wiedischen Räten muss bewusst gewesen sein, dass eine Landesverweisung bei einer Person, die sich ohnehin zwischen Bergischem Land und Mittelrhein hinund herbewegte, keine effektive Strafe sein würde, denn in dem abschließenden Urteil findet sich der ausdrückliche Hinweis auf die Möglichkeit einer Supplikation. Die Verurteilte wurde damit fast aufgefordert, gegen das ergangene Urteil vorzugehen. Tatsächlich bat Anna Veronica Schmied um Milderung. In dem Supplikationsverfahren zeigt sich wieder erneut die besondere Milde der wiedischen Konsistorialrechtsprechung: Nach der in der Sache begründeten Landesverweisung wurde der Supplik ohne weitere Begründung entsprochen und die Strafe zunächst auf 36 Albus zu vier Raten, dann sogar auf 18 Albus heruntergesetzt. Die Möglichkeit, Anna Veronica Schmied härter zu bestrafen, wäre zweifellos vorhanden gewesen. Mangelnde Durchsetzungskraft kann dem wiedischen Konsistorium in diesem Fall wohl nicht vorgeworfen werden, weil 816 817 818
FWA 50-5-15, pag. 8; Canzley-Protokoll vom 8. Mai 1748. FWA 50-5-15, pag. 11; Befehl vom 11. Mai 1748. FWA 50-5-15, pag. 14; Urteil vom 19. Juli 1748.
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bereits eine Arrestierung erfolgt war. Es offenbart sich jedoch, dass Sittendelikte, die ausschließlich vor kirchlichen Gerichten behandelt wurden, milder bestraft wurden. Der mahnende Charakter der Kirchenbuße tritt gegenüber der Strafe deutlich hervor. Dass möglicherweise eine Vergewaltigung vorlag, spielte indessen bei der Urteilsfindung keine Rolle.
3. Johann Paul Anhäuser - Taufzwang Ein in der Sache alltägliches, aber konfessionspolitisch heikles Vergehen zeigte Pfarrer Philipp Ludwig Müller von Feldkirchen 1759 beim Konsistorium an819. Er schildert: „ Eine fremde junge un wohl gekleidete Weibsperson (sei) in des Joh. Anhäußers Behausung zu Wollendorf, wo sie […] um ein Nachtlager angehalten (hatte), mit einer jungen tochter nieder gekommen820“ und habe eine Taufe des Kindes in Irlich und somit eine katholische Taufe gewünscht. Der Vater sei ein französischer Bäcker aus Hanau. In dem auf Befehl des Landesherrn kurzfristig angefertigten Regierungsgutachten empfahl Konsistorialrat Winter, „der Niedergekommenen nicht zu gestatten, das Kind zu Irlich taufen zu lassen; sondern daß Herrn Pastor Müller solches mit der Heil. Taufe versehen hätte821“. Der ausdrückliche Wunsch der Mutter sollte also missachtet werden, um die Seele des Kindes für den Protestantismus zu gewinnen. Es erscheint verständlich, dass sich die unbekannte Mutter dem Zugriff durch die wiedische Obrigkeit schnell entzog und sich mit dem Kind am 16. März 1759 ins kurkölnische Andernach begab. Auch sie machte sich die katholische Umgebung zu nutze und entfloh der evangelisch-reformierten Obrigkeit. Das eigentliche „Strafverfahren" erwartete nun aber den Schultheißen Johann Paul Anhäuser, der die junge Frau in der Zeit der Niederkunft bei sich beherbergt hatte. Er sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die fremde Person nicht aufgehalten zu haben. Zu seiner Verteidigung brachte er vor, dass der Befehl, die Unbekannte festzuhalten, zu spät eingetroffen wäre. Wenn man berücksichtigt, dass von Fahr unweit von Wollendorf eine Fährverbindung nach Andernach bestand, erscheint dies als plausible Erklärung. Trotzdem wurde ihm eine Strafe in Höhe von zehn Reichstalern auferlegt. Im anschließenden Supplikationsverfahren bat der Verurteilte um Straferlass, wobei es 819 820 821
FWA 50-5-22. FWA 50-5-22, pag. 1; Anzeige des Pfarrers Müller vom 13. März 1759. FWA 50-5-22, pag. 1; Regierungsgutachten vom 14. März 1759.
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laut eines Regierungsgutachtens des Konsistorialrates Winter „von gnaden abhangen (würde), ob dem selben die angesetzten 10 rthlr Strafe gantz oder zum theil gndst. erlassen werden822“. Der Graf selbst entschied schließlich, acht Reichstaler Strafe zu erlassen und verfügte, dass dem Johann Paul Anhäuser sogar die Kosten für die Hebamme und die Verpflegung des Kavallerie-Leutnants, der den Arrestierungsbefehl nach Feldkirchen gebracht hatte, auf die verbliebene Strafe in Höhe von zwei Reichstalern angerechnet würden. Ob dieser Fall als ein Beispiel toleranter Religionspolitik dienen kann, erscheint eher fraglich. Schließlich entsprach es auch dem Willen des Grafen, dass das Kind die Taufe in der reformierten Kirche empfängt – notfalls sogar bei Arrestierung der Mutter. Es wird jedoch vielleicht die unterschiedliche Handhabung der Toleranz auf dem Land gegenüber der Stadt Neuwied deutlich. Sicherlich ist es nur spekulativ, zu vermuten, dass ein ähnlicher Fall in der Stadt Neuwied selbst anders verlaufen wäre. Die Androhung einer Strafe wegen „Kollaboration“ mit einer nicht landansässigen Katholikin führte der Landbevölkerung vor Augen, dass der Katholizismus als Konfession im Land prinzipiell nicht gewünscht war – lediglich in der Stadt Neuwied wurden sie geduldet. Ein Gegensatz existiert auch in Ansehung der Verordnung vom 27. Januar 1739, wonach zwar jeder sein Kind in der religio dominans erziehen sollte, jedoch galt diese Anordnung nur für Landesuntertanen und konnte daher für eine Durchreisende aus Hanau keine Geltung beanspruchen. Hier wirkte sich womöglich ein weiteres Mal das Misstrauen der Landesobrigkeit gegenüber der katholischen Konfession aus. Wegen der Insellage der Grafschaft Wied konnte jede Ausdehnung katholischer Machtansprüche – und sei es auch nur eine Taufe im kurtrierischen Irlich, dessen Annexion das Verhältnis beider Territorien nachhaltig belastete – zur politischen Machtfrage werden.
4. Johannes Kaulbach, Heinrich Kohlenburg und Konsorten – Branntwein in der Kirche Dass die in den Kirchenordnungen umfassend geregelten Vorschriften für Hochzeitsfeiern, wie sie sich in Art. 35 ff. KO 1707 finden, noch Anfang des 19. Jahrhunderts nur unzureichend beachtet wurden, lässt sich anhand eines 822
FWA 50-5-22, pag. 4; Regierungsgutachten des Konsistorialrats Winter vom 4. April 1759.
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Falles nachweisen, der im Februar 1803 durch Pfarrer Caesar von Grenzhausen dem Konsistorium angezeigt wurde: Demnach war es „seit einiger Zeit bei Hochzeiten ‹böse gewohnheit›, daß das Brautpaar mit Spielleuthen zur Kirche begleitet wird823“. Konkreter Anlass für die Anzeige war wohl die Tatsache, dass Johann Peter Kaulbach, Heinrich Kohlenburg und weitere männliche Hochzeitsgäste während eines Gottesdienstes vor der Kirche Branntwein getrunken hatten. Pfarrer Caesar nutzte diese Anzeige jedoch darüber hinaus zu einer allgemeinen Zustandsbeschreibung der sittlichen Verhältnisse: Es wäre nicht genug damit, dass bei kirchspielüberschreitenden Eheschließungen „Leuthe beyderley Geschlechts aus anderen Orten“ kämen und daher „häufig Streit und Schlegereyen zu beklagen“ wären, zu allem Überfluss hätten in der Gemeinde Maxsayn die „Spinnstuben824 wieder eröffnet, so dass sich die jungen Leuthe der Tantzerey hingeben“. Die konkret Beschuldigten wurden vor das Konsistorium geladen und gaben zu Protokoll, dass der Pfarrer die Spielleute auf der Hochzeit erlaubt hätte. Getrunken habe von ihnen während des Gottesdienstes niemand „und wann solches geschehen wäre, so hätten dieses Auswärtige […] gethan825“. Spinnstuben würden nicht betrieben. Die zentrale Schutzbehauptung liegt hier darin, die Schuld auf Externe zu schieben. Da der Bann Maxsayn nahezu vollständig von kurtrierischem Territorium umgeben war, erscheint diese Ausrede auch plausibel, weil es nahe lag, dass Jugendliche aus Nachbarorten zu einer solchen Feier kamen. Die Mobilität zwischen katholischen und reformierten Territorien eröffnet also wiederum die Möglichkeit, sich der Verfolgung durch die protestantischen Sittenwächter zu entziehen. Schließlich fielen die Hochzeitsfeiern in katholischen Gegenden deutlich ausschweifender aus. Der mit diesen Ausflüchten konfrontierte Pfarrer stritt gegenüber dem Konsistorium ab, eine solche Genehmigung gegeben zu haben und verwies auf eine Verordnung vom 19. März 1775, wonach Spielleute verboten waren826. Unter dem Druck des Konsistoriums – und womöglich getrieben durch das eigene Gewissen – gestanden jedoch die beiden Beschuldigten Johann Peter Kaulbach und Johannes Dietrich Sanner bei einer erneuten
823 824 825 826
FWA 50-5-26 (unpaginiert). Dazu: MEDICK Spinnstuben (Fn. 406), S. 26. FWA 50-5-26 (unpaginiert); Vernehmungsprotokoll des Johann Peter Schmied vom 9. März 1803. Von dieser Verordnung ist weder in den Akten noch in den Gesetzessammlungen etwas zu finden.
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Vernehmung in Neuwied827, wobei sie jedoch bestritten, den Branntwein mit in die Kirche genommen zu haben. Sie hätten lediglich mit Auswärtigen solchen getrunken. Bei einer Vorladung der übrigen Beschuldigten konnte der Vorwurf gegen sie nicht erhärtet werden. Das Konsistorium war insoweit auf ein Geständnis angewiesen. Das Strafmaß für die beiden Geständigen wurde auf eine Geldstrafe in Höhe von fünf Reichstalern festgesetzt, wobei alternativ eine achttägige Arreststrafe abzusitzen war. Dass ähnliche Fälle noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts häufiger vorkamen, belegt ein Hinweis auf einen Vorfall in Freilingen im Jahr 1805 am Ende der Akte. Die Kirchenbuße kam in diesem Zusammenhang nicht zum Tragen. Ob sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts abgeschafft oder zumindest ihre praktische Ausführung ausgesetzt worden ist, ist nicht belegbar. Anhand der verhängten Strafen wird jedoch der Wandel des Konsistoriums vom Buß- zum Strafgericht ein weiteres Mal deutlich.
5. Ludwig Alsdorfs Ehefrau – nächtliche Ausflüge über den Rhein Der einzige Fall, der einen Ehebruch ohne einhergehende Scheidung zum Gegenstand des Verfahrens hat, ereignete sich bereits im 19. Jahrhundert: Es handelt sich um das im Mai 1805 abgeurteilte Verfahren gegen Ludwig Alsdorfs Ehefrau, die bezeichnenderweise mit ihrem eigenen Namen nicht genannt wird828. Es wurde zudem nur darauf hingewiesen, dass „die Ehefrau des hiesigen Bürgers und Schankwirths Ludwig Alsdorf […] seit einigen Jahren eine […] schändliche ausschweifende lebensart (führte)“, von welchem sie auch durch Ermahnungen und Verwarnungen durch den Stadtschultheiß, den mittlerweile verstorbenen Regierungsrat Gneyß, nicht abzubringen war. Die Ehefrau fuhr regelmäßig von Fahr aus über den Rhein nach Andernach und kehrte abends – nur „in der Absicht […] noch einmahl zu plündern und mit dem Raub wieder davon zu gehen“ – nach Hause zurück. Nähere Angaben zu ihren Vergehen auf der anderen Rheinseite finden sich nicht, wobei zu bedenken ist, dass zu dieser Zeit die linke Rheinseite bereits von französischen Truppen besetzt war. Es lässt sich zwar nur spekulieren, inwieweit das Leben der Ehefrau ausschweifend und schändlich verlief, es liegt allerdings die Vermutung nahe, dass umherschweifende oder in Ander827 828
FWA 50-5-26 (unpaginiert); Vernehmungsprotokoll des Johann Peter Kaulbach und des Johann Dietrich Sanner vom 28. März 1803. FWA 50-5-29.
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nach stationierte Soldaten daran einen gewissen Anteil hatten. Andernfalls wäre es wohl kaum zu einer Anklage wegen Ehebruchs vor dem Konsistorium gekommen. Am 7. Mai 1805 wurde die Ehefrau des Ludwig Alsdorf des Landes verwiesen und „bey Fahr nächst Leudesdorf über die Grentze gebracht“. Dieser Fall belegt die Zuständigkeit des Konsistoriums für Ehebruch, verdeutlicht aber gleichzeitig, wie stark sich das Konsistorium im Laufe des 18. Jahrhunderts gewandelt hat. Da die Anklage durch den Stadtschultheiß erfolgte, handelte es sich wohl eher um ein strafgerichtliches Verfahren, bei dem Fragen der Kirchenzucht keine Rolle gespielt haben dürften. Es zeigt sich jedoch auch gleichzeitig die Ohnmacht der frühneuzeitlichen Straf- und Bußpraxis. Die Verwiesene kehrte kurze Zeit später zurück und begab sich nach Niederbieber. Die Landesverweisung erweist sich also ein weiteres Mal als wirkungslos829. Gleichwohl wurde sie erneut angeordnet, obwohl Konsistorialrat Hachenberg den Vorschlag unterbreitete, die Frau in der staatlichen Spinnanstalt aufzunehmen, um einen letzten Versuch der Besserung zu unternehmen.
III. Merkantilistische Wirtschaftsordnung 1. Lucas Kayser – Schwangerschaft der Stieftochter Am 30. März 1772 erstattete der reformierte Pfarrer von Feldkirchen Philipp Ludwig Müller dem gräflichen Konsistorium zu Neuwied Anzeige, dass der Müller Lucas Kayser aus Fahr seine Stieftochter geschwängert hätte. Dem waren jedoch schon seinerseits umfangreiche „Ermittlungsarbeiten“ vorausgegangen. So sei vor wenigen Wochen Paulus Sierdorff, ein „grad unartiger Jüngling“ zu ihm gekommen und habe sich selbst bezichtigt, dass er die Stieftochter des gräflichen Müllers am Fahr geschwängert hätte. Dem Pastor Müller bedeutete er, „daß er sich mit ihr wollte copulieren lassen830“. Diesem kam dieses Verhalten jedoch verdächtig vor, weil „der impragnierten Stiefs-Vatter Lucas Kaýser sich, dem sicheren Vernehmen nach hin und wieder zu Neuwiedt erkundig (hatte), ob ihme wohl würde zugestanden, noch seine Stiefstochter zu heyrathen831“. Außerdem habe der Müller von Mu829 830 831
Vgl. RUDOLPH Regierungsart (Fn. 24), S. 167 f. FWA 50-5-18, pag. 28. FWA 50-5-18, pag. 28.
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scheid sich in ähnlicher Weise bei ihm erkundigt, woraufhin er diesen auf Lev. 18, 17 hingewiesen und diese Möglichkeit verneint habe. Ihm sei aber klar gewesen, „daß obiger Paulus Sierdorff zum Deken dieser Schändung That warn erkaufet worden832“. Noch am gleichen Tag bestellte Pastor Müller die Mutter des offensichtlich als geistesschwach zu charakterisierenden Paul Sierdorff und Lucas Kayser selbst zu sich. Während die Mutter nun gestand, dass ihr Sohn „um schändlichen Gewinns willen“ erkauft worden war, stritt Lucas Kayser den Sachverhalt ab, räumte aber ein, dass er „keinen Wohlgefallen an einer solchen heúrath (hätte), außerdem dabeý kein großes Verlangen, sie selbst zu heüraten833“. Am folgenden Tag wurde Anna Margarethe Kayser in das Haus des Schultheißen zitiert. Dieser Ortswechsel erscheint bemerkenswert, weil sich das Geschehen wohl bisher ausschließlich im Pfarrhaus abgespielt hatte. Die Hinzuziehung des Schultheißen als weltlicher Behörde verdeutlicht also wiederum den faktischen Doppelcharakter der Kirchenzucht. Im Gespräch mit der Frau des Schultheißen bekannte Anna Margarethe Kayser, dass sie im siebten Monat schwanger sei und Paulus Sierdorff nur auf Veranlassung des Muscheider Müllers sich als Kindsvater ausgegeben habe834. Auf weiteres Nachfragen hin gab sie schließlich ihren Stiefvater Lucas Kayser als Vater an. Die Hinzuziehung der Frau des Schultheißen mag hier die entscheidende Wendung im Verfahren gewesen sein. Womöglich rechneten Pastor und Schultheiß damit, dass Anna Margarethe gegenüber einer Frau offener reagieren und gestehen werde. Die Anzeige an das Konsistorium erfolgte also erst nach umfangreicher Sachverhaltsermittlung durch lokale Behörden. Trotzdem bestanden die drei zuständigen Konsistorialräte Winter, Melsbach und Inspektor Muzelius auf einer erneuten Vernehmung der geschwängerten Stieftochter und zitierten diese am 28. April nach Neuwied835. Eben an jenem Tag erschien jedoch lediglich Lucas Kayser, der „dass Ausgebleiben seiner Stieftochter Anna Margaretha, Heuserin, wegen Unpässlichkeit“ entschuldigte und die Schwängerung offen zugab. Zugleich erbat er seine gnädige Strafe836. Die nächsten Wochen vergingen jedoch, ohne dass ein Fortgang für das Verfahren festgestellt werden kann. Pastor Müller musste erst mit einer erneuten Anzeige an das Konsistorium das Verfahren wieder in Gang bringen. Unmittelbar nach der Geburt des Sohnes erfuhr Müller von 832 833 834 835 836
FWA 50-5-18, pag. 28. FWA 50-5-18, pag. 29. Vgl. FWA 50-5-18, pag. 29. Vgl. FWA 50-5-18, pag. 31; Consistorial- Gutachten vom 1. April 1772. FWA 50-5-18, pag. 32.
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der Hebamme des Kirchspiels, „dass die Niederkunft würdlich erfolget und (das Kind) künftigen Sonntag die hl. Taufe empfangen soll837“. Bis es endlich am 18. September zur Vernehmung der Anna Margarethe Kayser kam, musste Pastor Müller noch zwei weitere Male insistieren. Er wies dabei insbesondere darauf hin, „dass Vatter und Tochter (mittlerweile) wie Mann und Frau miteinander umgehen“ und mutmaßte, „dass sie die Schandthat noch weiter treiben838“. Aufgrund der Untätigkeit des Konsistoriums entschloss sich Pastor Müller sogar zu einem Alleingang und ließ dem Paar durch den Synodschöffen bestellen, „daß es genug seye, […] daß selbst die benachbarten Katholiken sich darüber aushielten und Anlaß nehmen unsere hochgeheiligte Religion zu schmähen839“. Die beiden Delinquenten – offenbar noch immer uneinsichtig – zogen sich derweil auf den Standpunkt zurück, dass sie Eheleute wären und dass sie, wenn der Pastor Müller sie nicht trauen wolle, in einen katholischen Ort gingen und sich dort trauen ließen840. An dieser Stelle wird das geographische Dilemma der Kirchenzucht in der Grafschaft Wied-Neuwied erneut deutlich: In Anbetracht der Nähe zu weniger strengen Territorialherren widersetzten sich Untertanen den Anordnungen der lokalen Sittenzucht und versuchten auf das katholische Eherecht auszuweichen, um eine rechtsgültige Eheschließung zu erreichen. Lucas Kayser blieb zwar mit seiner Tochter, womöglich weil er festgestellt hatte, dass auch das katholische Eherecht eine Heirat zwischen Stiefvater und Stieftochter verbot, in wiedischen Landen, trotzdem darf seine Ankündigung nicht als hohle Drohung verstanden werden. Da im Rheinland die Leibeigenschaft weniger stark ausgeprägt war als beispielsweise in ostelbischen Ländern, konnte der Landesherr seine Untertanen nicht effektiv daran hindern, das Land zu verlassen. Insofern bestand prinzipiell die Möglichkeit, fortzugehen und nötigenfalls anderswo in „wilder Ehe“ zu leben. Pastor Müller muss am Rande der Verzweiflung gestanden haben, weil das Konsistorium trotz dieser offensichtlichen Schandtat untätig blieb. Mittlerweile hatte er alle Personen bemüht, auf die er innerhalb der dörflichen Strukturen unmittelbar persönlichen Zugriff hatte. Ob es tatsächlich zu Schmähungen durch die benachbarten Katholiken etwa in Leutesdorf oder in Andernach gekommen war, kann aufgrund der fehlenden Überlieferung nicht nachgeprüft werden. Es erscheint aber nicht ausgeschlossen, dass die Vorkommnisse durch die katholische Gemeinde in Neuwied selbst verbreitet 837 838 839 840
FWA 50-5-18, pag. 33; Schreiben des Pastors Müller vom 9. Juli 1772. FWA 50-5-18, pag. 35; Schreiben des Pastors Müller vom 31. August 1772. FWA 50-5-18, pag. 37; Schreiben des Pastors Müller vom 9. September 1772. FWA 50-5-18, pag. 37; Schreiben des Pastors Müller vom 9. September 1772.
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wurden, um gezielt gegen die evangelisch-reformierten Christen Propaganda zu betreiben. Auch hier wird die kleinteilige Struktur am Mittelrhein deutlich. Ob die Furcht vor der öffentlichen Meinung letztlich den Ausschlag gegeben hat, mag dahinstehen: Das Konsistorium griff schließlich das Verfahren wieder auf und lud Anna Margarethe Kayser für den 18. September 1772 erneut vor. In der nun folgenden Vernehmung gestand sie im Angesicht der Staatsmacht den genauen Tathergang: Lucas Kayser habe, „da er einstmals betrunken nach Haus gekommen, sich mit ihr fleißlich vereiniget, von welchem Beýschlaf sie dann dieses kind gebar841.“ Zudem gestand sie, dass sie nach wie vor bei ihrem Stiefvater im Hause wohne, worauf ihr „richterlich aufgegeben wurde, sich sogleich von demselben in eine andere Wohnung zu begeben842“. Lucas Kayser und seine Stieftochter kamen dieser Aufforderung jedoch offenbar nicht nach, so dass am 1. Dezember 1772 folgende Sentenz erging: „Da der Müller Lucas Kaýser sowohl als deßsen Stieftochter am Fahr den unerlaubten Beýschlaf resolyter Schwängerung eingestehen, auf solchen Incestum aber des Vatters mit seiner Stieftochter die Strafe die Landesverweisung und einige Straflehren, welche nach der Schärfe gehen, dasselbe cum heftig actione verordnen; so sollten nicht dafür halten, daß der Lucas Kayser mit seiner Stieftochter wenigstens die Verweisung aus hiesigem Lande zuzuerkennen seýn843.“
Lucas Kayser musste nach dieser Entscheidung also die Grafschaft verlassen. Eine Verschärfung erfuhr dieses Urteil noch im Februar 1773, indem „als Andenken Abgehen mittels Stangenschlages“ angeordnet wurde844. Die Landesverweisung stellte im Rahmen der Kirchenzucht – auch wenn es sich eigentlich um eine weltliche Ehrenstrafe handelte – die härteste Strafe dar, weil die Verhängung von Todes- oder Leibesstrafen im 17. und 18. Jahrhundert für die Grafschaft Wied nicht nachgewiesen werden kann. Sonderbar erscheint, warum das Konsistorium so lange mit der Verhängung der Strafe gezögert hat, schließlich war der Sachverhalt spätestens seit dem Geständnis des Lucas Kayser deutlich zu Tage getreten. In einem normalen Konsistorialverfahren hätte dies ausreichen müssen845. Welche Umstände das Konsisto841 842 843 844 845
FWA 50-5-18, pag. 39; Vernehmungsprotokoll vom 18. September 1772. Ebda. FWA 50-5-18, pag. 40. FWA 50-5-18, pag. 42 f.; Urteil vom 23. Februar 1773. Vgl. MOSER CIE (Fn. 217), S. 230 f.
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rium an einem strafferen Vorgehen hinderten, kann nicht abschließend geklärt werden. Der Gesamteindruck zeugt jedoch davon, dass der öffentliche Druck und das Betreiben des Pfarrers Müller eine entscheidende Rolle gespielt haben. In dem sich nun anschließenden Supplikationsverfahren versuchten die beiden Verurteilten eine Strafmilderung zu erreichen. Zunächst erbaten sie eine Umwandlung der Landesverweisung in eine „beydertheilige Geldstrafe846“. Zur Festsetzung der Geldstrafe wurde Schultheiß Eckers damit beauftragt, ein Verzeichnis über das Vermögen der beiden Verurteilten zu erstellen. Dieses umfasste insgesamt nach Abzug der Schulden 46 Reichstaler847. Die zuerkannte Strafe der Landesverweisung wurde daraufhin ohne weitere Begründung in eine Geldstrafe in Höhe von 24 Reichstalern gemildert. Doch auch damit war dem Lucas Kayser nicht geholfen. Schließlich überstieg die Strafe die Hälfte seines Vermögens und so wandte er sich in einer erneuten Supplikation an das Konsistorium und bat um abermalige Milderung in eine Strafe von nur zwölf Reichstalern. Diese Milderung wurde jedoch „mit der Vorsicht, daß (sie) nicht beysammen wohnen848“, verweigert. Tatsächlich hatten sich die beiden Beschuldigten voneinander separiert849, so dass einer Milderung prinzipiell nichts entgegengestanden hätte. Lucas Kayser sah sich aber mit der neuen Situation überfordert. Am 8. November 1773 – nunmehr anderthalb Jahre nach Beginn des Verfahrens – erreichte das Konsistorium eine erneute Supplik des Lucas Kayser, in der er erneut darum bat, seine Stieftochter heiraten zu dürfen850. Hieran schloss sich nun ein neues Verfahren an, bei dem nicht mehr die Frage der Unzucht, sondern die der Eheverbote nach Lev. 18 im Mittelpunkt des Interesses standen. Nachdem hinsichtlich der Verfolgung der Unzucht nahezu ausschließlich die beiden weltlichen Räte Winter und Melsbach tätig geworden waren, wurden nun auch geistliche Gutachten eingeholt. Darin wird insbesondere darauf hingewiesen, dass der vorliegende Fall nicht nur nach Lev. 18, 17 ausdrücklich verboten sei, sondern zusätzlich in Lev. 20, 14 und Dtn. 27, 23, so dass ein Eheverbot der „ersten Klasse“ vorliege, das keinesfalls dispensiert wer846 847 848 849
850
FWA 50-5-18, pag. 44 f.; Supplikation vom 1. März 1773. FWA 50-5-18, pag. 48; Vermögensverzeichnis vom 10. März 1772 (richtigerweise müsste es 1773 heißen). FWA 50-5-18, pag. 49 f.; Supplikation vom 30. April 1773. Vgl. FWA 50-5-18, pag. 50; Vermerk vom 14. Mai 1773 „Der Müller Kaýser und seine Stieftochter wohnen nicht mehr beýsamen, denn ersterer wonet am Fahr, letztere aber zu Gönnersdorf“. FWA 50-5-18, pag. 51 f.; Supplikation vom 8. November 1773.
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den könne851. Ungeachtet dessen war die Stieftochter wieder bei Lucas Kayser eingezogen. Sodann war es wiederum Pastor Müller aus Feldkirchen, der für einen Fortgang des Verfahrens sorgte. Er prangerte an, dass „Lucas Kayser […] seine Tochter wieder bey sich zu Hause (habe). Er habe nun schon etlich mal durch den Synodschöffen an den Consistorialhof oft hinrennen lassen, es vil aber nicht gehoern852“. Dem Lucas Kayser wurde sodann aufgegeben, seine Stieftochter bei Strafe von sich zu schicken und das Kind zu alimentieren. Zudem müsse der Pastor von Feldkirchen versuchen, „vor dem Mann eine andere Frau und vor der Stieftochter einen anderen Mann ausfindig zu machen853“. Das Konsistorium selbst war also in höchstem Maße bestrebt, die Situation zu beschwichtigen. Nach langer Untätigkeit hatte man nun jedoch den Pastor Müller gegen sich. Dieser wollte – wohl wissend, dass er das Recht auf seiner Seite hatte – den Fall zu einem für ihn erfolgreichen Abschluss bringen. Der nächste Aktenvermerk ist auf den 4. Mai 1774 datiert und erneut war Pastor Müller von Feldkirchen derjenige, der die Versäumnisse des Konsistoriums anprangerte, weil die Stieftochter immer noch bei ihrem Stiefvater im Haus wohnte854. Der Einfluss, den Pastor Müller im Rahmen dieses Verfahrens ausübte, kann nicht unterschätzt werden. Er war in der wiedischen Gesellschaft durch seine Ehe mit der Tochter des Neuwieder Bürgermeisters und Kirchenältesten Johann Melsbach855 wohl bestens vernetzt und damit durchaus in der Lage, die öffentliche Meinung in der Stadt Neuwied und damit über sein Kirchspiel hinaus zu beeinflussen. Auf die Eingabe des Pfarrers hin wurde Lucas Kayser erneut für den 17. Mai 1774 vorgeladen. Reuig gestand er erneut den „begangenen Beyschlaf“ und bekannte, „gegen die göttlichen und menschlichen Gesetze“ gesündigt zu haben. Gleichzeitig brachte er aber insbesondere wirtschaftliche Gründe vor, warum er seine Stieftochter bei sich behalten wollte. So wäre er selbst nicht in der Lage, jemanden ausfindig zu machen, der das Hauswesen „so getreu und sorgfältig“ versehe. Zudem wäre seine Stieftochter nicht im Stande, den gemeinsamen Sohn allein zu unterhalten. Für die Anstellung einer Pflegeperson reiche sein Vermögen nicht aus, so dass seine Stieftochter gezwungen wäre, das 851 852 853 854 855
FWA 50-5-18, pag. 53; Gutachten vom 29. November 1773. FWA 50-5-18, pag. 54; Schreiben vom 14. Dezember 1773. FWA 50-5-18, pag. 54; Konsistorialgutachten vom 14. Dezember 1773. Vgl. FWA 50-5-18, pag. 56; Copia Feldkircher Presbytal Protocollie vom 4. Mai 1774. Nachweis über die Eheschließung am 22. Januar 1756 in: Wöchentliche Neuwiedische Frag= und Anzeigs=Nachrichten, 7. Ausgabe, 14. Februar 1756.
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Kind zu sich zu nehmen. Aufgrund dieser Tatsache finde sie jedoch keine Anstellung. Überdies hätten beide bereits öffentlich Kirchenbuße vor der Gemeinde abgelegt und seien mit den ausgestandenen Beschimpfungen und der herrschaftlichen Strafe in Höhe von 24 Reichstalern schon ausreichend gestraft856. Das Konsistorium ließ sich jedoch zunächst nicht beirren und wiederholte die Verfügung, dass dem Müller Kayser fünf Reichstaler Strafe angesetzt werden und ihm bei zehn Reichstalern Strafe aufgegeben wird, seine Stieftochter binnen acht Tagen von sich zu schaffen857. Das nun folgende Verfahren erstreckte sich bis zum letzten Akteneintrag am 21. November 1775 und damit über weitere anderthalb Jahre. In verschiedenen Suppliken trug Lucas Kayser seine Bedenken gerade auch bezüglich seiner bedrohten wirtschaftlichen Existenz erneut vor, während das Konsistorium auf seiner Position zu beharren schien858. Schlussendlich trug er vor, dass er bei Weigerung des Konsistoriums, ihm seine Stieftochter als Haushaltshilfe zu überlassen, nicht mehr in der Lage wäre, den Pachtzins zu bezahlen, den er seit über 26 Jahren treu entrichtet hätte859. Ob dieses wirtschaftliche Argument letztlich von Erfolg gekrönt war, lässt sich nicht belegen, weil die Akte mit dem Vermerk des Grafen „Ein hierauf decreti nach Erwägung des Inhalts“ schließt. Es kann jedoch wohl davon ausgegangen werden, dass alle Beteiligten, nachdem sich das Verfahren über fast vier Jahre gezogen hatte, an einer „lautlosen“ Beilegung des Problems interessiert waren. Die ersten öffentlichen Erregungen, die noch 1772 zu Schmähungen seitens der katholischen Einwohner der Grafschaft Wied und des Umlandes geführt hatten, dürften verebbt gewesen sein. Ein Indiz dafür ist auch, dass Pastor Müller, der von Beginn an vehement gegen die Lebensverhältnisse des Lucas Kayser gekämpft hatte, seit 1773 nicht mehr an dem Verfahren beteiligt war. 1775 starb er, so dass vor Ort in Feldkirchen nun niemand mehr auf eine Fortsetzung des Verfahrens in dem Maße beharrte, wie es Pastor Müller über Jahre hinweg – das gemeinsame Kind des Müllers mit dessen Stieftochter war immerhin bereits 3 ½ Jahre alt – getan hatte. Nachdem das Konsistorium die Zustände geduldet hatte, schienen sich die Konfliktparteien mit ihnen arrangiert zu haben. Dieser Fall kann insbesondere unter Beachtung des Ergebnisses als Beispiel für die pragmatische Vorgehensweise des Konsistoriums gewertet werden. Zudem zeigt sich, dass ein Pfarrer eine wichtige Rolle für den Fortgang 856 857 858 859
Vgl. FWA 50-5-18, pag. 58 ff.; Begründung in der Supplik vom 14. Juni 1774. FWA 50-5-18, pag. 64; Konsistorialverfügung vom 14. Juni 1774. FWA 50-5-18, pag. 65 ff. FWA 50-5-18, pag. 72 ff.; Supplikation vom 21. November 1775.
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eines Verfahrens spielen konnte, wenn das Konsistorium nicht von Amts wegen tätig wurde beziehungsweise seine Amtspflichten vernachlässigte. Die öffentliche Meinung, die in der frühen Neuzeit erst sukzessive entstand, konnte den Verfahrensgang maßgeblich beeinflussen, wobei sich auch wiederholt exogene Einflüsse nachweisen lassen.
2. Johann Wilhelm Kieper – Vergewaltigung? Einen Sonderfall, der aufgrund der Gewalteinwirkung nicht unter die Tatbestände der Unzucht subsumierbar ist, stellt die Vergewaltigung dar. Der Fall des erst 17-jährigen Johann Wilhelm Kieper, der 1766 wegen „stuprum violentum“ angezeigt wurde, ist das einzige zu diesem Tatbestand erhaltene Verfahren860. Auf Anzeige des Georg Beckers vom Hahnhof wurde er am 19. Januar 1766 durch ein Husarenkommando zur Schlosswache gebracht und dort in Gewahrsam genommen. Ihm wurde vorgeworfen, die „Spinnerin861“ des Jägers Hehner vergewaltigt zu haben. Bei einer ersten Vernehmung des Georg Becker erhob dieser gegen Johann Wilhelm Kieper zudem die Anschuldigung, letzterer habe „dergl: an des Peter Anhaeusers Tochter und Schäfers Kinder ebenfalls begangen“. Auf eine Vernehmung des mutmaßlichen Täters wurde zunächst verzichtet. Das zuständige Konsistorium bemühte sich vielmehr, das Opfer selbst zu vernehmen und sandte unter Einschaltung des Obristen von Trützschler den Regimentschirurgen Caesar zu der „Spinnerin“. Durch diesen erfolgte eine umfangreiche Zustandbeschreibung: „Die Persohn ist etwa 30 Jahr alt an beiden Händen ist sie durch erlittene flüßigte Geschwühr in der Jugend sehr gebrechl und beý nahe lahm, dabeý sehr hardhörig (schwerhörig, Verf.) und mit wenigem Verstande begabet, sie hat wie von denen Umstende vernohmen ihren flureum menstruum ordinarium einige Tage for gehabt. Ob ich nun schon keine äußerl gefährl Verletzungen, so weit es ihre Schamhaftigkeit zu lassen wollen, wahrnehmen können; so hat sie doch etwas Bluth geseien und an ihrem Körper waren hin und wieder schwartz und braune flecken zu bemerken, als Zeichen stark erlittener quetsch und drückungen od auch schläge, da bey klagte sie stark über mattigkeit und beklemmung ums hertz, der Pulß war schwach und langsam, und wie selbe stark, könnte kaum auf
860 861
FWA 50-5-23. Gemeint ist wohl eine geistig behinderte Frau, die in Diensten des herrschaftlichen Jägers Hehner stand.
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den füßen gehen und stehen, Ihre Hardhörigkeit und Mangel des Verstandes verhinderte gantz genaue erkundigung einzuziehen […]862.“
Der Arzt stellt also nur einige unwesentliche Verletzungen fest und schloss auf einen eher allgemein schlechten Gesundheitszustand. Ein weiteres Gutachten durch den Arzt Kamper bestätigte den Eindruck, dass keine Gewalteinwirkung im Hinblick auf eine Vergewaltigung vorlag, dieser ging vielmehr davon aus, dass “der Thäter ihr seine Faust in den Mund gezwängt hat863“. Das Konsistorium bediente sich also auch relativ moderner Instrumente wie der Hinzuziehung von Sachverständigen bei Beweisaufnahmen, um ohne langwierige Vernehmungen das Verfahren zu beschleunigen. Dogmatischer Anknüpfungspunkt für die Bestrafung einer Vergewaltigung war bis in die Frühe Neuzeit das mosaische Recht864. Gerade in diesem Zusammenhang wird somit die Doppelstellung des wiedischen Konsistoriums deutlich, das zugleich Kirchen- und Strafgericht war. Auch wenn es sich um ein Sittendelikt handelt, hat ein solches Verfahren nur noch wenig mit Kirchenzucht zu tun. In dem nun folgenden Verhör des vermeintlichen Täters führt dieser seine Arrestierung darauf zurück, „dass er vor einiger Zeit etwas länger als 14 Tage von Segendorf (ge)kommen (sei), wo er sich Nüsse gekauft gehabt, unterwegs wäre des Jäger Hehns Magd bey ihn kommen und mit auf den Hof gegangen, […] sie hätte ihm Nüsse abgefordert, davon er ihr auch 4 gegeben, weil sie aber damit nicht zufrieden […], hätte sie ihn angefaßt und ihm noch mehrere abnehmen wollen […]865“.
Daraufhin sei es zu einem Handgemenge gekommen, an dessen Ende die Magd zu Boden fiel und Kieper ihr noch einige Tritte verabreichte. Der Vorwurf der Vergewaltigung erschien wohl zunächst deshalb nicht abwegig, da der Schutz von Frauen seinerzeit noch an der Dorfgrenze endete866. Dass das Konsistorium hier aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes der Magd und der allgemeinen Umstände von diesem schweren Delikt ausging, darf daher nicht verwundern. Die Vergewaltigungsvorwürfe stritt Lucas Kieper hingegen vehement ab. Auch die Tochter des Peter Anhaeuser habe er nicht 862 863 864 865 866
FWA 50-5-23, pag. 4; Beschreibung der Patientin. FWA 50-5-23, pag. 5; Bericht des Doktor Kamper. Vgl. SCHNABEL-SCHÜLE Landesverweis (Fn. 518), S. 289. FWA 50-5-23, pag. 6; Vernehmungsprotokoll vom 13. Februar 1766. GÖTTSCH traditionelle Ordnung (Fn. 405), S. 203.
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vergewaltigen wollen, obgleich er gestand, diese „desmahl angegriffen und zur Erde geworfen867“ zu haben. In den nun sich anschließenden Verhören, in denen nahezu alle denkbaren Beteiligten vorgeladen wurden, fanden die Vorwürfe gegen Kieper keine Bestätigung. Dennoch ergab es sich, dass „das gantze Verfahren desselben auf einen muthwillen und ungeziemenden jugendstarrischen sinn außlaufe868“. Es verblieb letztendlich nur der Vorwurf, dass Kieper den Georg Becker mit Steinen beworfen hatte, wobei die Räte in dieser Sache für eine mäßige Züchtigung im Sinne der kirchlichen Bußzucht plädierten. In diesem Stadium schaltete sich jedoch der Graf selbst ein und trat massiv für das Erteilen einer Lektion ein. Da Johann Wilhelm Kieper eine „austracht verdorebener Sitten“ sei, solle man ihn zu seiner Besserung „noch eine ziemliche Zeit im arrest arbeiten (lassen), ohne Ketten, oder man schicke ihn nach Russland869“. Obwohl Vater Lucas Kieper für den Sohn eine ehrbare Beschäftigung bei dem Gürtler Bernhard gefunden hatte, bestand der regierende Graf auf der vorläufigen Arrestierung. Selbst eine Supplik des Lucas Kieper an die Gräfin blieb erfolglos870. Schlussendlich wurde Johann Wilhelm Kieper am 26. September 1766 aus dem Arrest entlassen und nach Wesel abtransportiert, um dort einem preußischen Unteroffizier übergeben zu werden871. Der „Lausbubenstreich“ endete für den der Vergewaltigung unschuldigen Johann Wilhelm Kieper also in einer preußischen Kaserne. Es stellt sich daher die Frage, warum ausgerechnet in einem vergleichsweise harmlosen Fall eine solch harte Strafe verhängt wurde, während in anderen – sehr viel bedenklicheren – Fällen Milde geübt wurde. Die Wertigkeit eines Menschen innerhalb der christlichen Gemeinschaft ergab hier den entscheidenden Ausschlag: Während der herrschaftliche Müller Kayser wegen Blutschande nicht belangt wurde, überließ man den „Taugenichts“ Johann Wilhelm Kieper zur Erziehung dem preußischen Militär. Wirtschaftlichen Wert hatte er für die Grafschaft kaum, wenngleich er bereit war, eine Lehre zu beginnen. Erschwerend hinzu kommt, dass Johann Wilhelm Kieper unverheiratet war. In einem solchen Fall war eine Ausnahme durchaus möglich872, jedoch wurde wohl davon ausgegangen, dass der 17-jährige sittliche Reife erst durch militärischen Drill erreichen würde. 867 868 869 870 871 872
FWA 50-5-23, pag. 6; Vernehmungsprotokoll vom 13. Februar 1766. FWA 50-5-23, pag. 20 ff.; Abschlussrelation. FWA 50-5-23, pag. 34; Vermerk vom 3. Mai 1766. FWA 50-5-23, pag. 36. FWA 50-5-23, pag. 37; Vermerk vom 26. September 1766. Siehe 2. Teil, Gliederungspunkt B III 1, Seite 28.
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Hier treten also eindeutig ökonomische873 Gesichtspunkte hervor, die für die Entscheidung des Konsistoriums von entscheidender Bedeutung waren.
IV. Öffentlicher Druck 1. Johann Philipp Muzelius - Rufmordkampagne Der Fall, der die zeitgenössische öffentliche Meinung am stärksten beeinflusst haben dürfte, betrifft die Person des Hof- und Stadtpredigers Johann Philipp Muzelius874. Er entstammte einer Pfarrersfamilie aus dem Westerwald und war nach dem Studium und einem kurzen Lehraufenthalt an einem hochadeligen Fräuleinstift nach Neuwied berufen worden875. Er wurde angeklagt, seine Magd Catharina Agnes Bertz geschwängert und anschließend zur Vertuschung nach Holland geschickt zu haben. Im Wesentlichen stützten sich die Vorwürfe auf die Aussage der vermeintlich Geschädigten. Sie berichtete, dass Muzelius sie „durch süße Worte dahin verleitet (habe), daß (sie) Ihm seinen Willen mit Ihr zu erfüllen zugelassen (habe), wodurch es dann hernechst gekommen (wäre), daß (sie) über jahr und tag als Eheleuthe miteinander gelebt (hätten)876“. Er habe sie dann nach Amsterdam zu einem angeblichen Freund geschickt, sie sei dann aber zu ihren Eltern nach Oberwinter im Herzogtum Jülich zurückgekehrt. Auch dieser Fall ist somit in den Bereich der so genannten Hurerei einzuordnen, gewinnt aber an Bedeutung dadurch, dass ein Pfarrer und Angehöriger des Hofes betroffen war. Von Oberwinter erging am 8. Juni 1754 ein Ersuchen des Gerichtsvorstehers um Alimentation des Kindes durch die wiedische Regierung, woraufhin durch das Konsistorium die Anordnung getroffen wurde, das Vermögen des Pfarrers Muzelius zu arrestieren. Zu dessen Gunsten liegen Aussagen seiner Schwester sowie der Kirchengemeinde Neuwied vor, worin beschworen wird, die Magd habe „mit einem Haufen einen solchen verdächtigen Umgang gehabt“ und sie führe ein „schändliches Huren-Leben877“. Die Gemeinde in Neuwied bat, den Pfarrer behalten zu dürfen. Da es sich bei der 873 874 875 876 877
Vgl. auch: HÄRTER ZHF 26 (Fn. 32), S. 377 f. FWA 50-5-10; LHA 35/3237 (unpaginiert); ausführlich zu seiner Person: FEIX Muzelius (Fn. 677). FEIX (Fn. 677), S. 68. FWA 50-5-10, pag. 6; Vernehmung der Catharina Agnes Bertz durch die Gerichtsvorsteher der Herrschaft Oberwinter vom 8. Juni 1754. FWA 50-5-10, pag. 10 f.; undatierte Stellungnahme der Kirchengemeinde Neuwied.
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Familie Muzelius offenbar um eine im Westerwald gut vernetzte Beamtenund Pfarrersfamilie handelte, äußerten sich zudem weitere Personen zu Gunsten des Beschuldigten878. Dieser trat unmittelbar nach den Anschuldigungen die Flucht an und begab sich nach Deutz, das seinerzeit zum Erzstift Köln gehörte, von wo aus er sich zu den Vorwürfen äußerte. Dabei bestätigte er das „abscheuliche Luderleben“ seiner Magd und schilderte, dass Catharina Agnes Bertz ihn habe verführen wollen und dass sie „jungke Purschen im […] Haus mit Wein tractiert (habe)879“. Obwohl er die Tat als solche nicht gestand, bot er seinen Rücktritt an und legte seine Auswanderungspläne nach Surinam dar. Seine Widersacher – die Gründe dafür lassen sich anhand des Akteninhalts nicht nachvollziehen – in Konsistorium und im Neuwieder Presbyterium sahen nun ihre Chance gekommen, den missliebigen Prediger loszuwerden: Bürgermeister Hermann Caesar und Senator Ackermann wandten sich als Vorsteher der reformierten Gemeinde an das Konsistorium und klagten über ausstehende Rechnungen des Pfarrers880. Am 9. Juli 1754 verlangte das Presbyterium plötzlich die Neuwahl des Predigers. Der abwesende Pfarrer Muzelius hatte nun keine Möglichkeit mehr zu reagieren und begab sich resigniert nach Amsterdam, wo er einen Brief an den Grafen verfasste, in dem er die Schuld für die Rufmordkampagne indirekt bei Bürgermeister Hermann Caesar suchte881. Auf die Unabhängigkeit der wiedischen Justiz vertraute er offensichtlich nicht mehr, weil er bemerkte: „Ich sehe aber wohl, wie es mit der Justiz in Neuwied in dieser Sache gehet882.“
Die öffentliche Meinung, die zunächst noch auf seiner Seite gewesen war, schlug langsam um, so dass sich Muzelius veranlasst sah, in einem weiteren Schreiben aus Amsterdam dem Grafen einen Vertrauensbruch und dem Konsistorium Parteilichkeit vorzuwerfen. Den Kampf um seine Reputation hatte 878
879 880 881 882
In den Akten finden sich insbesondere: Schreiben des Bruders Gerhard Georg Muzelius, hochfürstlich oranien-nassauischer Amtmann zu Hadamar; Schreiben des Vetters Friedrich Heinrich Muzelius, Inspektor und Pfarrer von Grenzhausen; Schreiben des Johann Wilhelm Caesar, Pfarrer in Rengsdorf; Petition der Neuwieder Bürger Philipp Packert, Heinrich Nabel, Wilhelm Hoff, Heinrich Breugelt, Markward Welcker, Carl Fieler und Friedrich Hoff; LHA 35/3237 (unpaginiert). FWA 50-5-10, pag. 18; Schreiben des Johann Philipp Muzelius vom 17. Juni 1754. FWA 50-5-10, pag. 24 ff.; Verhör des Bürgermeisters Caesar und des Senators Ackermann vom 25. Juni 1754. FEIX (Fn. 677), S. 70. LHA 35/3237.
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er schon aufgegeben. Der Landesherr spielte in diesem Fall eine eher passive Rolle und griff nicht zugunsten des Pfarrers ein, den er selbst zum Hofprediger und Vertreter für den schwer kranken Stadtprediger Desevre nach Neuwied berufen hatte. Zu groß wurde der Druck der öffentlichen Meinung. Ein Bewusstsein für diese „Mitschuld“ lässt sich aus einem Schreiben des Grafen an Pfarrer Muzelius in Surinam ableiten. Darin verleiht Johann Friedrich Alexander zu Wied-Neuwied seiner Hoffnung Ausdruck, dass Muzelius „mit dem Kaufmann Felix nach einigen Jahren und genehmen sich hier (gemeint ist wohl: Surinam) zur Etablierung einer Handlung wird niedrzulegen werden“ und verspricht ihm „thunliche gn(ädige) Protection und Beystand883“. In diesem Fall spielte die Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle und beeinflusste so das laufende Konsistorialverfahren. Obwohl der Vorwurf der so genannten Hurerei nicht erwiesen war, erfolgte eine Vorverurteilung des Johann Friedrich Muzelius. Der Behördenapparat setzt sich sogar gegen den Grafen selbst durch, der im Angesicht der öffentlichen Meinung, wobei hier wohl insbesondere der Bürgermeister von Neuwied, Hermann Caesar, als treibende Kraft anzusehen ist, untätig bleibt, obwohl er offensichtlich selbst nicht von der Schuld des Pfarrers Muzelius überzeugt ist. Womöglich hätte Johann Philipp Muzelius, wenn er den Kampf um seine Reputationen aufgenommen hätte, auch seine Unschuld beweisen können. Das Konsistorium jedenfalls erscheint in diesem Zusammenhang nicht mehr als Kirchengericht, sondern als politisches Instrument, das sich in den Dienst der Staatsraison stellen musste.
2. Obrist-Lieutnant von Trützschler - Konkubinat Ein konfessionspolitisch interessantes Konsistorialverfahren führte wenige Jahre später der evangelisch-lutherische Kirchenrat Engel gegen den gräflichen Oberstleutnant von Trützschler884, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Ruhestand befand885. Diesem wurde die Zulassung zum Abendmahl ver883 884 885
FWA 29-7-1 (unpaginiert); Concept de Celsisimo Neoweda an Hn Pastor Muzelius zu Paramaribo vom 19. März 1756. FWA 50-5-9. Oberstleutnant Christoph Weichmann von Trützschler war zumindest von 1757 bis 1776 Chef der 3. Kompanie beim wiedischen Miltitär. Seit 1778 ist diese Stelle vankant; vgl. FWA 105-28-15, Verzeichnis aller bey dem Hochgräflichen Militaire Köpfe und Seelen von 1776-1779; FWA 105-30-11, Nationalliste; vgl. auch SCHMOECKEL Unter dem blauen Pfauen (Fn. 152), S. 208 ff., 254 ff.
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weigert, weil er mit seiner Haushälterin Christine Triller in einem Konkubinat lebte. Da das Konsistorium auch für die evangelisch-lutherische Gemeinde zuständig war, kam es zu einer Anklage des fürstlich-wiedischen Offiziers. Kirchenrat Engel gab an, bereits ein mahnendes freundschaftliches Gespräch mit dem Soldaten geführt zu haben, allerdings habe dieser dies nicht zum Anlass genommen, seine Lebensumstände zu ändern. Kirchenrat Engel richtete in diesem Zusammenhang an das Konsistorium die Anfrage, ob er selbst bevollmächtigt sei, den Ausschluss vom Abendmahl anzuordnen oder ob der Oberstleutnant zuzulassen sei. Diese konfessionell sicherlich interessante Frage wurde von den Konsistorialräten unterschiedlich beantwortet: Während die Räte Gneyß und Hachenburg für einen Ausschluss votierten, wollte Konsistorialrat Becmann auf eine Sanktion verzichten. Ob in diesem Zusammenhang persönliche Empfindlichkeiten innerhalb der Regierung gegenüber dem Militär von Trützschler eine Rolle gespielt haben, kann nur vermutet werden. Auf die Gutachten äußerte sich Oberstleutnant von Trützschler am 13. April 1786 zu den Anschuldigungen. Er habe mit Christine Triller bereits drei uneheliche Kinder gezeugt und würde sich seitdem in Enthaltsamkeit üben, so dass er sie bloß als Haushälterin behalten habe. Er erklärte jedoch zugleich seine Bereitschaft, „wann Serenissimus es gnädigst zu befehlen geruhen würden, solche seine Haushälterin mit seinen 3 Kindern aus dem haus zu schaffen“, allerdings erachtete er die Bestrafung der Kinder als problematisch886. Der Fürst selbst gebot schließlich dem Kirchenrat Engel, den Oberstleutnant zum Abendmahl zuzulassen, wobei er sich ausdrücklich auf sein Amt als „Landesherr und Episcopus“ berief. Das weitere Verfahren erinnert an die bereits vorab dargestellten Kirchenzuchtsfälle. Der lutherische Kirchenrat Engel bat den Fürsten, keinen Präzedenzfall zu schaffen und fürchtete um die allgemeine Sittlichkeit. Er entschloss sich schließlich entgegen dem landesherrlichen Befehl im Dezember erneut dazu, den Oberstleutnant von Trützschler nicht zum Abendmahl zuzulassen. Trotz Bereitschaft der Christine Triller, Kirchenbuße abzulegen und der Protektion durch den Fürsten gelang es dem Oberstleutnant nicht, seine Position aufrechtzuerhalten. Am 26. Mai 1787 erging der Bericht an das Konsistorium, dass der Oberstleutnant von Trützschler mit Christine Triller das Fürstentum verlassen habe. Es wird erneut deutlich, dass es den Pfarrern mitunter gelang, öffentlichen Druck aufzubauen, der die Landesobrigkeit dazu zwang, die strenge 886
FWA 50-5-9 (unpaginiert); Entgegnung des Obrist-Lieutnant von Trützschler vom 13. April 1786.
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Kirchenzucht in Einzelfällen auch anzuwenden. Die Nähe zum fürstlichen Hof nutzte in diesem Fall wenig, weil sich bereits Empörung in der Öffentlichkeit breit gemacht hatte. Dem Obristen blieben damit nur zwei Möglichkeiten: entweder sein Leben durch Eheschließung oder Separieren zu ändern oder das Fürstentum ganz zu verlassen.
V. Fazit Zum Ende der Untersuchung wird nun die Frage aufgegriffen, wie die Normdurchsetzung in der Grafschaft Wied-Neuwied zu beurteilen ist. Der oft erhobene Vorwurf der mangelnden Umsetzung der Kirchenzucht887 kann für die Grafschaft Wied-Neuwied insofern bestätigt werden, als der mögliche Rahmen der Kirchenstrafen nie ausgeschöpft wurde. In dieser Hinsicht stellt die wiedische Kirchengerichtsbarkeit keine Ausnahme dar. Eine Besonderheit ist aber darin zu sehen, dass eine Tendenz zur Milde gemäß des Grundsatzes „Gnade vor Recht“ festgestellt werden kann. Hierbei kommen mehrere Gründe zum Tragen: Zunächst spielte die Kirchenvisitation in der Grafschaft Wied nur eine untergeordnete Rolle. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass die Überlieferung der Kirchenvisitationsprotokolle 1698 endet888 und erst wieder nach 1747 beginnt. Anfang des 18. Jahrhunderts fanden also faktisch keine Visitationen statt. Als Herrschaftsinstrument war sie demnach nur bedingt geeignet, weil gerade in den Waldkirchspielen einerseits das presbyterial-synodale System versagte und andererseits die Visitation in der Praxis nur inkonsequent betrieben wurde. Umso wichtiger wäre eine konsequente Handhabung der Kirchenstrafen auf übergeordneter Ebene gewesen. Auch dieses Herrschaftsinstrument versagte jedoch. Darüber hinaus kann im 18. Jahrhundert wohl nicht mehr von „Kirchenstrafen“ im eigentlichen Sinne gesprochen werden. Es kam vielmehr zu einer Kumulierung weltlicher und geistlicher Strafen in den Händen des Konsistoriums. Deren weitgehende Wirkungslosigkeit ist zudem nicht ausschließlich auf Vollzugsdefizite beziehungsweise auf die notorische Staatsschwäche des frühneuzeitlichen Territorialstaates zurückzuführen889. 887 888 889
Gerd SCHWERHOFF, Aktenkundig und gerichtsnotorisch, Tübingen 1999, S. 88. FWA 64-3-14, pag. 46 b; Kirchenvisitation in (Alt-)Wied vom 29. November 1698. . DINGES Armenfürsorge (Fn. 32), S. 7; SCHWERHOFF Aktenkundig (Fn. 887), S. 88; SCHLUMBOHM Gesetze (Fn. 32), S. 662.
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Sie wurde von der jeweiligen Landesherrschaft bewusst in Kauf genommen. Die Handhabung der Kirchenzucht erfolgte unter Berücksichtigung rationaler – für das Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus typischer – Erwägungen890. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage stand für die handelnden Organe stets im Vordergrund. Diese Erkenntnis reiht sich also in die Beobachtung ein, dass in der Grafschaft Wied-Neuwied seit Gründung der Stadt Neuwied – von einigen Jahren kriegsbedingter Stagnation abgesehen – konsequent ein merkantilistischer Politikansatz verfolgt wurde. Man sollte der Kirchenzucht daher nicht lapidar Ineffizienz vorhalten. Bereits der vielfach erwähnte Inspektor Friedrich Heinrich Muzelius beklagte 1767 die Anwendung der Kirchenzucht durch die Landesobrigkeit: „Da die Kirchen-Disciplina […] genugsam angewiesen wird, so wüsste nicht, ob zu deren weiteren Verbesserung etwas mehr, außer zur Erweiterung und mehrerer Anstrengung zur Kirchenordnung; wozu auch zu verschiedenen mahlen von den Landespredigern notamina und beygefügte gdgst gefordert, auch unterthgst angesendet wurden, vorgeschlagen werden könnte. Das ist aber klägl: daß obschon beyde erstere stets gelehrt werden, dennoch letzteren nicht stricte wahrgenommen noch executiert, ehender darüber dispensiert wird; wodurch derowegen der Prediger nur stumm und zum Gelächter gemacht wird, […]891.“
Von einem Vollzugsdefizit wird in dieser Stellungnahme nichts deutlich. Vielmehr wirkten Pfarrer und Konsistorium in verschiedene Richtungen, wobei die Kirchenbehörde die Dispensation als Mittel der Politik „missbrauchte“, während die Theologen diesen absolutistischen Tendenzen entgegentraten und den Landesherrn – zumeist vergeblich – seiner Pflichten als Kirchenoberhaupt ermahnten. Dieser Konflikt, der seinen Kumulationspunkt in dem Disziplinarverfahren gegen Stadtprediger Philipp Winz fand, kann auch in den übergeordneten Zusammenhang eingeordnet werden, in dem die Geistlichkeit, die auf die Heilige Schrift als Basis der Sittlichkeit rekurrierten, und die Juristen, die römisches und kanonisches Recht gelernt hatten, gegenüber gestellt werden892. Dies verdeutlicht den zutiefst juristischen Cha890
891 892
Hier kommt eine rechtstradition zum Tragen, welche die ratio eines Gesetzes in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Ansätze davon lassen sich jedoch bereits bei Martin Bucer nachweisen, der für die Reformation im Rheinland eine besondere Rolle spielt; vgl. ZWIERLEIN Rechtsreform (Fn.24), S. 70. EKiR Archiv Wied Nr. 98; Kommentar des Inspektors Muzelius anlässlich eines Predigerkonvents am 12.Mai 1767 in Grenzhausen. FRIEDBERG Recht der Eheschliessung (Fn. 399), S. 188.
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rakter der reformierten Lehre, wie er auch schon bei Bucer und Calvin sichtbar wird893. Diese Entwicklung wurde dadurch verstärkt, dass führende Juristen der reformierten Kirche den Versuch unternahmen, zwischen mosaischem Recht und Vernunftrecht Einklang herzustellen. Dadurch wurden Bibelbezüge, die für die Theologen nach wie vor die maßgebliche Rechtsquelle darstellten, zur bloßen Illustration894, wodurch sich der Einfluss der Aufklärung noch intensivierte. Deutlich wird diese Entwicklung auch an der Stellung der Hohen Schule Herborn, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und vor allem im 18. Jahrhundert ihre vormals dominierende Stellung einbüßte. Parallel dazu hatte sich auch die Rolle des Landesherrn im Rahmen der Kirchenverfassung faktisch verändert. Auch in diesem Punkt lässt sich das Beispiel der Grafschaft Wied-Neuwied in den übergeordneten Kontext einbinden. Aufgrund der obrigkeitsstaatlichen Struktur des deutschen Protestantismus musste die evangelisch- reformierte Lehre bei der Ausbreitung im Reich auf wesentliche Elemente der Genfer Kirchenverfassung verzichten. Die Figur des absolutistisch-patriarchalisch regierenden Landesherrn passte nicht zum System der presbyterialen Kirchenzucht895, insbesondere dann nicht, wenn sich ein Landesherr in seiner Funktion als summus episcopus über die Maßen im Bereich des Kirchenrechts engagierte896. Die dem Landesherrn im Rahmen seines persönlichen Regiments zugedachte Vaterrolle verstärkte diesen Effekt897: Sie führte einerseits zu einer starken Vermischung des geistlichen Rechts mit dem weltlichen898 und bedingte andererseits im Zuge der reformatio vitae die Intervention der weltlichen Obrigkeit in alle Lebensbereiche, die in der reformierten Kirche besonders stark ausgeprägt war899. Die Zwitterstellung der Kirchenzucht als eine von der weltlichen Landesobrigkeit verhängte geistliche Strafe wurde ihr so zum Verhäng893 894
895 896
897 898 899
STROHM Calvinismus und Recht (Fn. 22), S. 25 ff.; ZWIERLEIN Rechtsreform (Fn. 24), S. 38 ff. Es handelt sich dabei um eine Tendenz, die bereits im Werk des reformierten Herborner Juristen Johannes Althuisus nachgewiesen werden konnte; vgl. STROHM Calvinismus und Recht (Fn. 22), S. 205 ff. PRESS Calvinismus (Fn. 40), S. 246. Ein Vergleich der Kirchenpolitik unter den beiden Grafen Friedrich Wilhelm (16981737) und Johann Friedrich Alexander (1737-1791) macht diesen Rückschluss klar. Während sich Anfang des 18. Jahrhunderts nur wenige Fälle nachweisen lassen, in denen der Landesherr unmittelbar in ein Konsistorialverfahren eingriff, finden sich nach 1750 zahlreiche Anordnungen und Stellungnahmen des Landesherrn. MÜNCH Daphnis 11 (Fn. 762), S. 30. ZEEDEN Konfessionen (Fn. 7), S. 21. STOLLEIS öffentliches Recht I (Fn. 616), S. 368.
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nis. Sie büßte nach und nach ihren geistlichen Sinn ein900, die weltliche Obrigkeit nutzte die Gelegenheit, die Kirchenzucht zu einem eigenen Disziplinierungsmittel auszugestalten901 und erhielt die Chance der doppelten Herrschaftssicherung902. Das Dilemma verstärkte sich dadurch, dass die kirchlichen Organe zugleich in den weltlichen Herrschaftsapparat eingebunden waren und somit eine enge soziale Verflechtung der Juristen bestand903. Dies begann bereits auf unterster Ebene, wo zumeist Vertreter der Obrigkeit das Amt der Presbyter innehatten, und setzte sich in der Kirchenbehörde fort, in welcher die weltlichen Räte dominierten. Die Verwirklichung calvinistischer Ekklesiologie unter Trennung von Staat und Kirche blieb daher unzureichend904. Nach der Konsolidierung des Territorialstaates gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Kirchenzucht nicht mehr benötigt und entweder – wie in Preußen oder anderen Territorien – abgeschafft oder – wie in der Grafschaft WiedNeuwied – im Sinne eines bloßen Zusatzes zum Annex weltlicher Strafen herabgewürdigt. Ein Indiz dafür war vor allem die ausufernde Verhängung von Geldstrafen durch die Konsistorien. Im Gegensatz zur Anfangszeit der protestantischen Konsistorialrechtsprechung, als Geldstrafen nur eine untergeordnete Rolle spielten905, trat aufgrund des herrschaftlichen Interesses an der Vereinnahmung reichlicher Strafgelder eine gegenläufige Entwicklung ein, die ebenfalls zur Verweltlichung der Kirchenstrafen beitrug906. Gleichwohl wurde auch in der Handhabung der Kirchenzucht durch das Konsistorium das Prinzip der Dreistufigkeit entsprechend Mt. 18, 15 ff. beibehalten. Vor die oberste Kirchenbehörde gelangten nur die kapitalen Sittlichkeitsdelikte. „Kleinigkeiten“ wurden durch den Inspektor im Rahmen der Visitation abgeurteilt, wobei nicht erwiesen ist, ob diese Strafen tatsächlich auch vollstreckt wurden. Je mehr aber die Kirchenzucht ihren geistlichen Charakter verlor, umso stärker wurden die Verfahren kriminalisiert. Während der Theologe Zepper noch formulierte: „Darnach sollen anderer wort und reden nicht gefehrlicher und gesuchter weise zum unbesten oder argsten außgelegt: sondern auch in zweifelhaftigen reden 900 901 902 903 904 905 906
LEITH/GOERTZ TRE XIX (Fn. 242), S. 181. LEITH/GOERTZ TRE XIX (Fn. 242), S. 177. SCHMIDT Kirchenbuße (Fn. 271), S. 132. REINHARD Staatsgewalt (Fn. 212), S. 267. NIJENHUIS TRE VII (Fn. 10), S. 588. FRASSEK Eherecht (Fn. 177), S. 208. MOSER Jungfernkranz (Fn. 806), S. 141.
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oder wercken die mildeste und tüglichste außlegung und deutung gesucht/ und hierin die brüderliche Christliche liebe zur richtschnur gebraucht werden907,“
ähnelten die Verhandlungen vor dem Konsistorium im 18. Jahrhundert eher einem Verhör im Rahmen eines Strafverfahrens. Auch im Verfahren zeigt sich also die Säkularisierung. Dies eröffnete jedoch gleichzeitig die Möglichkeit, nicht ausschließlich auf die Bibel als Rechtsquelle zurückzugreifen, sondern die Kirchenzucht im Sinne einer aufgeklärten Politik fortzuführen. Es darf jedoch nicht von einer einseitigen Entwicklung ausgegangen werden, weil auch der christliche Liebesgedanke seinerseits in die weltliche Ordnung hineinwirkte908. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Toleranzpolitik und dem Scheitern der Kirchenzucht kann zunächst nicht hergestellt werden. Hier ist der fundamentale Unterschied zwischen der Stadt Neuwied und den umliegenden Waldkirchspielen zu nennen, weil die Toleranz gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften nur innerhalb der Residenzstadt geübt wurde. Dennoch herrschte der konservative „Geist von Herborn“ nicht nur auf dem Land909, sondern prinzipiell auch in Neuwied. Schließlich lassen sich keine Unterschiede hinsichtlich der Zuchtmaßnahmen im Eherecht oder im Rahmen der Sittlichkeit zwischen Stadt und Land feststellen. Eine Besserstellung der Stadtbevölkerung fand insoweit nicht statt. Die Aufklärung wirkte sich vielmehr mittelbar dadurch aus, dass bei Entscheidungen der Konsistorialbehörde utilitaristische und rationalistische Erwägungen mitberücksichtigt wurden, die dazu führten, dass Strafen gemildert beziehungsweise nicht verhängt wurden. Nach den Supplikationen und Entscheidungen zu urteilen, lieferten insbesondere wirtschaftliche Motive dafür einen zentralen Beweggrund910. Die finanzielle Situation einer mit Strafe bedrohten Familie wurde ebenso berücksichtigt wie das gesamtwirtschaftliche Interesse, leistungsstarke Untertanen der Grafschaft zu erhalten. Dahinter steckte die permanent drohende Gefahr der Auswanderung in die nahen katholischen Territorien. In der Grafschaft Wied-Neuwied entwickelte sich deshalb ein nach innen und nach außen abzielender permanenter Interessenausgleich, der den protestantischen Vorposten am Mittelrhein zu einem prominenten Ort religiöser Toleranz machte. Zugleich konnte durch die Berücksichtigung ökonomischer 907 908 909 910
ZEPPER christliche Disziplin (Fn. 15), S. 144. KOLFHAUS christliches Leben (Fn. 240), S. 378. So aber: GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 4. Vgl. ULBRICHT Supplikation (Fn. 634), S. 166.
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Gesichtspunkte die frühindustrielle Entwicklung der Grafschaft WiedNeuwied forciert werden. Auch der Druck der entstehenden öffentlichen Meinung beeinflusste die Entscheidungen911: Gerade gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehrten sich Anzeichen für öffentlichkeitswirksames Vorgehen der Pfarrer, die sich auf verlorenem Posten sahen und daher versuchten, die Öffentlichkeit gegen die liberale Kirchenpolitik des Landesherrn zu mobilisieren912. In den beiden in Neuwied verlegten Zeitungen „Wöchentliche Neuwiedische Frag= und Anzeigs=Nachrichten“ und „Neuwiedische Reichspost=Zeitung“ lassen sich jedoch keine Nachweise für Berichte über Kirchenzuchtmaßnahmen finden. Erstere Zeitung beschränkte sich im Wesentlichen auf öffentliche Bekanntmachungen, während letztere hauptsächlich überregionale Ereignisse thematisierte. Gleichwohl muss aufgrund der vielen Anmerkungen davon ausgegangen werden, dass sich Nachrichten über Verfehlungen in Sittlichkeitsfragen schnell verbreiteten und auch über die Grenzen der Grafschaft WiedNeuwied hinaus zur Kenntnis genommen wurden. Wegen der milden Anwendungspraxis der Kirchenzucht blieben die evangelisch-reformierten Sittlichkeitsgesetze weitgehend wirkungslos913. Dem Anspruch der Sittenstrenge des Johannes Calvin konnte die Grafschaft Wied-Neuwied letztlich nicht genügen. Diese war vor allem außerhalb Deutschlands in Genf und bei den Puritanern wirksam914.
911
912 913 914
FWA 50-5-7 (Pastor Johann Philipp Caesar); FWA 50-5-9 (Obrist-Lieutnant von Trützschler); FWA 50-5-10 (Johann Philipp Muzelius); FWA 50-5-18 (Lucas Kayser); FWA 50-5-28 (Johannes Hermann Decker). FWA 50-5-10 (Johann Philipp Muzelius); FWA 67-12-8 (Philipp Wirz). GREISER Neuwieder Schulwesen (Fn. 373), S. 3. SCHORN-SCHÜTTE/SPARN Pfarrer (Fn. 659), Einl. XV.
F. Zusammenfassung
I. Wiedische Besonderheiten Wenn man die kirchliche Entwicklung der Grafschaft Wied-Neuwied in den Gesamtkontext der Konfessionalisierung der Rheinlande stellt, lassen sich einige Besonderheiten nachweisen: Im Gegensatz zu der reformierten Kirche in Kleve und Jülich-Berg entwickelte sich die wiedische Landeskirche in permanenter Abhängigkeit von der Landesobrigkeit. Dies zeigt sich bei der Untersuchung der Ämter- und Behördenstruktur, wobei insbesondere das Konsistorium als Kirchenbehörde das zentrale kirchenpolitische Instrument darstellte. Im Rahmen der Konsistorialrechtsprechung griff der jeweilige Landesherr gezielt ein und nutzte seine Befugnisse als Kirchenoberhaupt, um Ziele zu erreichen, die über die Kirchenzucht hinaus gingen. Der wiedische Klerus konnte sich dagegen kaum behaupten, zumal auch die Pfarrer von der Landesobrigkeit abhängig waren915. Auch die Presbyterien konnten – sofern funktionierende Gremien überhaupt vorhanden waren – dieser Entwicklung nicht entgegenwirken. Eine für die reformierte Kirche typische presbyterial-synodale Kirchenverfassung entwickelte sich insofern nur ansatzweise. Die heutigen presbyterial-synodalen Strukturen der Evangelischen Landeskirche im Rheinland lassen sich folglich in erster Linie auf die historische Entwicklung in den evangelisch-reformierten Gemeinden am Niederrhein zurückführen916. Die Kirchenverfassung in der Grafschaft Wied-Neuwied hat insofern eine andere Tradition und ist daher rechthistorisch für das Rheinland eher untypisch. Das strukturelle Übergewicht der Landesobrigkeit wirkte sich auch auf die Kirchenzucht aus. Diese wurde nicht von der Gemeinde durchgesetzt, sondern in letzter Konsequenz durch die Obrigkeit. Die zahlreichen Eingaben der Pfarrer917 und die Konflikte um die Dispensation von Ehehindernissen918 belegen, dass grundsätzlich die Bereitschaft des wiedischen Klerus vorhan 915 916 917 918
Siehe Teil II, Gliederungspunkt C IX, S. 28. Vgl. BREDT Cleve=Jülich=Berg=Mark (Fn. 78); HASHAGEN rheinischer Protestantismus (Fn. 78), S. 3 f. Siehe Teil II, Gliederungspunkte B V, S. 28; C III, S. 28; C V, S. 28; E V, S. 28. Siehe Teil II, Gliederungspunkt B VI 1, S. 28.
212
Zusammenfassung
den war, das strenge Sittenregime des Calvinismus durchzusetzen und die Kirchenzucht zu überwachen. Von prinzipiell mangelnder Durchsetzungskraft kann daher nicht ausgegangen werden. Dass sie dennoch nicht intensiver angewandt wurde, liegt demnach nicht ausschließlich in der dogmatischen Konzeption der Kirchenzucht begründet, wonach eine bloße Ermahnung immer nur an erster Stelle erfolgte. Der Klerus jedenfalls war in Einzelfällen zu wesentlich härteren Maßnahmen bereit. Es kommen vielmehr spezifisch wiedische Aspekte zum Tragen: Zunächst bedrohte die Mobilität der wiedischen Untertanen die Kirchenzucht. Wurde eine Kirchenstrafe angedroht, konnte sich ein Untertan durch (vorübergehende) Flucht über die nahe Konfessionsgrenze dem Zugriff der wiedischen Landesobrigkeit entziehen oder zumindest damit drohen. Erfolgte Konfessionswechsel919, landesfremde Eheschließungen920, nächtliche „Ausflüge“ über den Rhein921 oder Drohung mit Auswanderung922 deuten insofern auf exogene Einflüsse hin ebenso wie die Schmähungen, die von katholischer Seite zu befürchten waren923. Diese Problematik lässt sich zumindest für Regionen verallgemeinern, in denen die konfessionellen Grenzen ähnlich verflochten waren wie im Rheinland, wobei nicht unterschlagen werden sollte, dass die nahe Konfessionsgrenze in umgekehrter Richtung die vereinfachte Einwanderung ermöglichte. Die Möglichkeit einer „freien Rechtswahl“ veranlasste die Landesobrigkeit jedenfalls zu einer zurückhaltenden Handhabung der Kirchenzucht. Auch wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen religiöser Toleranzpolitik und der Unvollkommenheit der Kirchenzucht nicht hergestellt werden kann, beeinflusste das Prinzip der religiösen Toleranz zumindest aber unter der Herrschaft des Grafen Johann Friedrich Alexander zu WiedNeuwied indirekt die Kirchenpolitik und macht daher die Grafschaft WiedNeuwied zu einem Sonderfall: Während unter seinem Vorgänger, Graf Friedrich Wilhelm, noch der Versuch unternommen worden war, das evangelischreformierte Bekenntnis für alle Untertanen verbindlich durchzusetzen924, unterließ die Landesobrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Beachtung des Westfälischen Frieden prinzipiell Eingriffe in den Be919 920 921 922 923 924
Vgl. FWA 64-3-14; pag. 28; Kirchenvisitation in Neuwied vom 27. November 1679. FWA 50-5-14 (Paulus Drieschen). FWA 50-5-14 (Paulus Drieschen); FWA 50-5-20, pag. 12 f. (Welcker gegen Welcker II); FWA 50-5-22 (Johann Paul Anhäuser); FWA 50-5-29 (Ludwig Alsdorfs Ehefrau). FWA 50-5-18, pag. 37 (Lucas Kayser). FWA 50-5-22 (Johann Paul Anhäuser); FWA 50-5-18, pag. 37 (Lucas Kayser). Siehe Teil II, Gliederungspunkt A IV 3 h, S. 28.
Zusammenfassung
213
reich der Gewissensfreiheit925. Dies fand seinen Niederschlag in einer liberalen Kirchenpolitik. Bei dem vorrangigen Bestreben der Grafen zu Wied, Einwanderer für die unterentwickelte Grafschaft zu gewinnen, führte dies auch zu einem schleichenden Verfall der Kirchenzucht. Gleichzeitig entwickelte sich im Zeitalter der Aufklärung ein friedliches Nebeneinander der Konfessionen. Dies ist für reformierte Länder zwar nicht untypisch926, gegenüber anderen rheinischen Territorien besteht jedoch ein wichtiger Unterschied: Während die Reformierten in Kleve nach dem Konfessionswechsel des brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund seit 1614 von einer calvinistischen Landesobrigkeit regiert wurden und daher keine Repressionen mehr zu fürchten hatten, sahen sich diejenigen im Herzogtum Jülich-Berg zeitweise massiven Rekatholisierungsmaßnahmen ausgesetzt927. Die Toleranz von Staats wegen, wie sie in der Grafschaft Wied-Neuwied seit 1653 praktiziert wurde, ist insofern – auch wenn sie auf die Stadt Neuwied beschränkt blieb – im Rheinland einmalig. Dies gilt gerade im Vergleich zu den unmittelbar angrenzenden Kurstaaten928. Eine Besonderheit ergibt sich auch aus dem Umstand, dass die Sittlichkeitsdelikte ausschließlich durch die Kirchengerichtsbarkeit verfolgt wurden. Anders als in den katholischen Staaten Kurpfalz, Kurköln und Kurtrier929 galt der Vorrang der Bußzucht, auch wenn diese im Laufe der Zeit ihren ausschließlich geistlichen Charakter verlor und insofern eine Angleichung an die peinliche Gerichtsbarkeit stattfand. Das frühneuzeitliche Konsistorium der Grafschaft Wied-Neuwied kann daher nicht allein als Kirchenbehörde qualifiziert werden, weil es auch weltliche Strafen verhängen konnte, die ein Strafgericht hätte aussprechen können. Die Kirchengerichtsbarkeit in Kleinstaaten nahm also schon von der Konzeption her eine Zwitterstellung ein, wobei dies in erster Linie auf mangelnde personelle und finanzielle Ressourcen zurückzuführen ist. Der Territorialismus entwickelte sich insoweit nur auf einem niedrigen Niveau.
925 926 927 928 929
Zur Gewissensfreiheit: LANDAU TRE XIX (Fn. 584), S. 149. STEVENS Toleranzbestrebungen (Fn. 76), S. 22 ff. BREDT Cleve=Jülich=Berg=Mark (Fn. 78), S. 19. STEVENS Toleranzbestrebungen (Fn. 76). Dazu: BRACHTENDORF Strafpraxis (Fn. 32), S. 23.; HÄRTER Policey (Fn. 32); SCHNABEL-SCHÜLE Überwachen (Fn. 32), S. 51.
214
Zusammenfassung
II. Kirchenpolitik im frühneuzeitlichen Kleinstaat Die Kirchenpolitik in einem frühneuzeitlichen Kleinstaat war von dessen begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen geprägt. Daraus folgte zudem eine relative Machtlosigkeit der herrschaftlichen Strukturen930, wobei insbesondere die Kirchenverfassung wenig ausgeprägt war. Da die presbyterial-synodale Kirchenverfassung tendenziell unterentwickelt war, nahmen die Landesherrn – auch wenn ihre Machtausübung nur auf ein kleines Territorium beschränkt blieb – innerhalb eines Kleinstaates eine wesentlich stärkere Position als Kirchenoberhäupter ein, als dies in größeren Territorien der Fall gewesen sein dürfte. Die Kirchenpolitik der Grafen zu Wied war insgesamt darauf gerichtet, die nachteiligen Wirkungen der Kleinstaatlichkeit insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet durch eine maßvolle Kirchenzucht auszugleichen. Zentrales Anliegen war es, die Bevölkerung zu vergrößern, um so die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu verbessern. Dies erreichten die Grafen zu Wied durch eine gezielte Anwendung der Kirchenzucht, die dann nicht zum Einsatz kam, wenn wirtschaftliche oder sonst rationale Gesichtspunkte entgegen standen. Dies war insbesondere der Fall, wenn wie in den Fällen der Ehehindernisse die Möglichkeit bestand, Hinterbliebenen durch eine neue Ehe den bisherigen Lebensstandard zu erhalten931, oder wenn Sanktionen gegen wirtschaftlich „wertvolle“ Untertanen vermieden wurden932. Die unzureichende Durchsetzung der Kirchenzucht ist insofern in der Grafschaft Wied-Neuwied nicht ausschließlich auf Schwäche der kirchlichen Strukturen im frühneuzeitlichen Kleinstaat zurückzuführen933, sondern wird in Einzelfällen bewusst in Kauf genommen, um vorrangige Ziele zu erreichen. Die Möglichkeit der Dispensation diente in diesen Fällen als probates Mittel, um die erwünschten Rechtsfolgen zu ermöglichen934. Insgesamt lässt sich am Beispiel der Kirchenzucht in der Grafschaft Wied-Neuwied nachweisen, dass utilitaristische Motive auch in der Kirchengerichtsbarkeit zunehmend eine Rolle spielten. Die Rechtsprechung wurde den Erfordernissen der Zeit angepasst, wodurch die strenge calvinistische 930 931 932 933 934
SCHNETTGER Kleinstaaten (Fn. 37), S. 611. Siehe Teil II, Gliederungspunkt B VI 1 d, S. 28; B VI 1 e, S. 28; B VI 3 b bb, S. 28; B VI 3 b cc, S. 28. Siehe Teil II, Gliederungspunkt E IV 1, S. 28; E IV 2, S. 28. Siehe Teil II, Gliederungspunkt E II 2, S. 28. Siehe Teil II, Gliederungspunkt B IV, S. 28; VI, S. 28.
Zusammenfassung
215
Kirchenzucht insbesondere gegenüber wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Aspekten abgewogen wurde. Die Aufklärung setzte hier deutliche Impulse, denen sich auch das calvinistische Sittenverständnis nicht entziehen konnte. Die reformierte Kirchenzucht wurde dabei dem zentralen Anliegen, die Attraktivität Neuwieds für potentielle Einwanderer zu erhalten beziehungsweise zu steigern, untergeordnet. Die Rationalität ist somit maßgebliches Kriterium wiedischer Kirchenpolitik. Damit prägten Calvinismus, religiöse Toleranz und Rationalität im Sinne der Aufklärung die Kirchengerichtsbarkeit in Wied-Neuwied im 17. und 18. Jahrhundert. Zu Recht stellt Guntram Philipp daher fest, dass sich in der Entwicklung der Grafschaft die Geistesströmungen der Zeit „wie in einem Brennglas bündeln935“.
935
Guntram PHILIPP, Rezension zu: Werner TROßBACH, Der Schatten der Aufklärung, in: VSWG 80 (1993), S. 232.
Anhang
Abbildung 1: Herrschaftsgrenzen mit Konfessionsgrenzen 1789 Katholiken (überwiegend)
Protestanten (überwiegend)
Katholiken
Katholiken
Protestanten
(überwiegend)
(überwiegend)
(Quelle: Kartenausschnitt; Gesellschaft Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, V.1)
für
Rheinische
Geschichtskunde,
Anhang
217
Abbildung 2: Fürstlich Wiedische Rentkammer
(Quelle: Eigene Bilder) Im rechten Seitenflügel des Fürstlich-Wiedischen Residenzschlosses befinden sich in der linken Hälfte des Erdgeschosses die Räumlichkeiten des FürstlichWiedischen Archivs. Die Aktenbestände lagern in über 1578 Gefachen in 112 Schränken und Reposituren, wobei sich die konkreten Angaben auf das Jahr 1911 beziehen, in dem die letzte Bestandsaufnahme durchgeführt wurde.
218
Anhang
Abbildung 3: Historische Ansicht der Stadt Neuwied
(Quelle: „Prospect der Stadt Neuwied am Rhein“ – Kupferstich von C.F. Tröger/ F. Leitzelt, Augsburg 1784) In der Mitte befindet sich die reformierte Stadtkirche. Im Vordergrund links ist das Stadtviertel der Herrnhuter Brüdergemeine mit dem Versammlungsgebäude in der Mitte zu sehen. In Richtung Rhein erscheint dann die doppeltürmige Kirche der lutherischen Gemeinde. Im Hintergrund rechts dominiert das Fürstliche Schloß die Rheinpromenade. Nicht auf dem Bild zu sehen ist die katholische Kirche.
Register
Almosen 46, 53, 71 f., 78 f., 167 f., 176 Alsdorff, Johannes, Kaplan der Grafschaft Wied 22 ff., 59, 144 Althusius, Johannes 58, 64, 153 Appellation 141 ff. Armenwesen 53, 74, 78 f., 137, 167 Aufklärung 5, 10, 12, 15 f., 31 ff., 52, 59, 109, 113, 154 f., 170, 207, 209, 213, 215 Becmann, Friedrich, Pfarrer Heddesdorf 110, 113 f., 204 Beischlaf 55, 167, 178, 194, 196 Blutschande 102 f., 181, 200 Breusing, Georg Christian, Pfarrer Niederbieber 105 Breusing, Johann Friedrich, Pfarrer Anhausen 163 Bucer, Martin 21, 23, 207 Caesar, Friedrich Wilhelm , Pfarrer Heddesdorf 107 f., 112, 151, 189 Caesar, Hermann, Bürgermeister Neuwied 140, 151, 202 f. Caesar, Johann Anton, Pfarrer Altwied/Anhausen 114 Caesar, Johann Philipp, Pfarrer Rengsdorf 100 ff. Calvin, Johannes 4, 12, 42, 44 ff., 55 f., 131 ff., 135, 160, 207, 210 Calvinismus 2 ff., 24, 131, 135, 152, 212, Carpzov, Benedict 140 Copulation 84, 85 ff., 94, 96 ff., 109, 111, 125, 129, 137 Copulationsbücher 39, 94, 100 Copulationsschein 86 ff., 93, 96, 101 f., 114 Desertion 121 ff., 130 Desèvre, Friedrich, Pfarrer Neuwied147 f., 156, 203 Devianz 7, 9, 15 Diakon 133, 167 f. Dispensation 95 ff., 53, 79, 94, 95 ff., 99, 103, 106 ff., 123, 157 f., 206, 212, 214 Disziplinierung 4, 6 ff., 15, 54, 58, 174, 208 Ediktalcitation 119, 122 ff.,
Ehehindernisse 86 f., 99ff., 158, 211, 214 Eherecht 35f., 72, 80, 82 ff., 97, 99 ff., 158, 184, 193, 209 Ehescheidung 84, 117 ff., 137, 190 Eheschließung 31, 36, 76, 84 ff., 96, 100 f., 105 ff., 125, 174, 183, 189, 196, 205, 212 Emmelius, Heinrich Wilhelm, Pfarrer Anhausen 111 Emmelius, Johann Konrad, Pfarrer Altwied/Niederbieber 122, 184 f. Emmelius, Ludwig Wilhelm, Pfarrer Anhausen 112 Erastus, Thomas 66, 161 Ermahnung 46, 50 f., 104, 112, 128 f., 163, 165, 190 Erzstift Köln 1 f., 8, 14 ff., 24 f., 30, 73 ff., 202, 213 Erzstift Trier 2, 8, 14 ff., 24 f., 30, 73 ff., 183, 213 Friedrich II., König von Preußen 39, 94 Friedrich III., Graf 27 ff., 31, 60 ff., 69 f. Friedrich III., Kurfürst von der Pfalz 24, 58 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 26 Friedrich Carl, Fürst 40, 177 Friedrich Wilhelm, Graf 31, 150, 169, 212 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 12 Gewissensfreiheit 29, 31, 61 f., 213 Gneyß, Christian Carl, Regierungsrat 92, 128, 140, 190, 204, Gudenus, Johann Anton, Pfarrer Neuwied 150 Gutachten 43, 101 ff., 105 ff., 111 ff., 123 f., 129, 143 f., 151, 187 f., 195, 199, 204 Habicht, Georg Philipp von, Kanzleidirektor 139, Hachenberg, Oberst Wilhelm Christian von, Regierungsrat 91 f., 116, 191, 204 Heck, Johann Jacob Philipp. Pfarrer Heddesdorf 159
220 Heidelberger Katechismus 24, 58, 71, 74, 170, 175 Hermann V., Kurfürst und Erzbischof von Köln 20 ff., 65 Herrnhuter Brüdergemeine 31 f., 45 f., 64 Hessen-Kassel, Landgrafschaft 9, 24, 105, 132, 136, 138, 144, 147, 153 f., Hoecker, Georg Wilhelm, Pfarrer Feldkirchen/Neuwied 103, 150 ff. Hohe Schule Herborn 25, 57, 74, 106, 108, 113, 153 f., 207 Hurerei 115, 167, 175, 180, 201, 203 Inspektor 25, 74, 138 f., 144 ff., 162 f., 172, 177 f., 180, 208 Inspirierte 31 f., 64, 78 ius reformandi 43, 45, 86 Johann IV., Graf 21 f. Johann Friedrich Alexander, Graf/Fürst 13 f., 20, 31 ff., 36, 40, 77 f., 80, 91 f., 94, 104, 158, 168 f., 203, 212 Kanonisches Recht 6, 49 f., 80 ff., 82, 93, 99 f., 115, 117, 206 Katholiken 3, 32 f., 62 f., 70, 73, 75 ff., 93 f., 138, 148, 169, 179, 193, Kirchenälteste, s. Sendschöffen Kirchenbuße 12, 46, 51 ff., 68, 114, 167, 175, 178, 184 ff., 190, 197, 204 Kirchengericht, s. Konsistorium Kirchenordnung 3, 6 f., 21 ff., 35, 38, 45 f., 51, 55, 58 ff., 64, 65 ff., 79 f. 82 ff., 97, 105 f., 109, 117, 136, 146, 160 ff., 180, 188, 206 von 1590 67 ff. von 1600 69 von 1616 69 von 1683 69 ff., 97, 169 von 1707 73 ff., 98, 164, 188 Kirchenregiment 4, 7, 9, 36, 42, 43 ff., 54 f. 76, 80 f., 135 ff., 145 f., 149, 152, 157, 159, 161, 167, 170 ff., 174 Kirchenstrafen 5, 46 f., 53, 57 f., 205, 208, 212 Kirchenverfassung 17, 35, 43 ff., 49, 59 f., 66, 75, 78, 133, 135, 160, 163, 167, 172, 207, 211, 214 Kirchenzucht 2 ff., 8 ff., 12, 15, 17, 20, 35 f., 37, 41, 43, 46 ff., 60, 68, 70, 76, 78 f., 95, 110, 127, 129, 131 ff., 145, 148, 153
Register ff., 160 f., 165 ff., 168 ff., 174, 178 f., 180 ff., 211 ff. Kleinstaat 8 ff., 12 ff., 24, 30, 55, 80, 120, 126, 129, 136, 181, 213, 214 f. Konfessionalisierung 3, 6, 8 f., 15 f., 23, 57, 117, 159, 211 Konsens, elterlicher 73, 84 f., 90 f., 111, 183 Konsistorium 3, 13, 16, 32, 35 f., 38 ff., 74, 76, 78, 86 f., 91 ff., 95 ff., 100 ff.,117 f., 121 ff., 131, 133 ff., 144 ff., 149, 152, 157 ff., 160, 162, 166 f., 168, 170, 172, 177 f., 180 ff., 203, 211, 213 Kurpfalz 9, 24, 26, 29 f., 32, 58, 65 ff., 79, 105, 132, 135 ff., 144, 147, 154, 161, 169, 213 Landeskirche 17, 22, 38 f., 42, 44, 47, 55, 64 f., 76, 95, 117, 131, 136, 141, 144, 148, 156, 177, 211, Landesverweisung 54 f., 71, 112, 114, 186, 191, 194 f., Luther, Martin 24, 42, 82, 137 Lutheraner 2 f., 5, 31 f., 62, 73, 76, 93, 138, 148, 179, Lützow, Baron Bernhard Ulrich von 88,105, Melanchthon, Philipp 21, 43 Melsbach, Johann Gerhard, Pfarrer Neuwied/Rengsdorf74, 150, 183 Melsbach, Johann Wilhelm, Regierungsrat 105, 111, 113 f., 140, 151, 192, 195 Mennoniten 32, 62, 64 Merkantilismus 13, 28 f., 79, 94, 97, 191 ff., 206 Mischehe 36, 94, 184 Mosaische Gesetze 6, 48, 97, 100, 102 f., 106 f., 199, 207 Müller, Philipp Ludwig, Pfarrer Feldkirchen 105, 108, 112, 121 f., 187, 191 ff. Muzelius, Friedrich Heinrich, Pfarrer Grenzhausen 100 f., 105 ff., 114, 176, 192, 206 Muzelius, Johann Philipp Heinrich, Pfarrer Neuwied 148, 150, 156, 201 ff. Nassau, Grafschaft/Herzogtum 11, 17, 22 ff., 34, 39, 66 f., 70, 80, 105 f., 136, 143 f., 153 f., 177 Niederrheinisch-Westfälisches Grafenkollegium 20, 33 Nyess, Gerhard Clemens, Regierungsrat 74
Register Obrigkeit 1, 6 f., 21, 30, 42 ff., 56, 60, 66, 70, 72 f., 80, 82 f., 90, 99 f., 102, 107, 120 f., 125 f., 130, 133 ff., 149, 171, 187 f., 204, 206 ff., 211 ff. Olevian, Caspar 4, 24 f., 66, 153, 161 Pastor, s. Pfarrer Peuplierung 13, 28 f. Pfarrer 22, 39, 45, 49 f., 60, 66 f., 69 f., 74, 77 f., 85 ff., 90, 93, 96, 100 f., 105 ff., 116, 133, 137 ff., 144 ff., 146 ff., 161 ff., 169, 172 ff., 204, 206, 210 f. Pietismus 11, 154, 158 Prediger, s. Pfarrer Predigerkonvent 39, 67, 99, 145, 165, 178 Presbyterialordnung 51, 162 Presbyterium 51, 66, 80, 147 ff., 158, 160 ff., 172, 202 Preußen, Königreich 12, 33, 39, 75, 109, 208 Privileg 13, 28 f., 31, 45, 61, 63 f., 95 Proklamation 39, 76, 85 ff., 101 f., 109, 114, 183 Reformierte 2, 4 f., 26, 28, 31 ff., 43, 45, 62 f., 73, 77, 94, 132, 213 Sayn-Altenkirchen, Grafschaft 122 f., 126, 155 Sayn-Hachenburg, Grafschaft 14, 31, 119 f., 155, 161, 177 Sayn-Wittgenstein, Grafschaft 14, 23 f., 78 Schultheiß 78, 92, 113, 128, 137, 140, 161, 170 ff., 176, 190 f., 192 Schwagerehe 99 ff., 130 Sendschöffen 39, 49 f., 60, 67 ff., 72, 75, 137 f., 141, 150, 159, 160 ff., 165, 172 176 ff., 193, 196 Solms, Grafschaft 14, 24 f., 54, 66, 71, 96, 162 Spinnstuben 83, 189 Strafrecht, weltliches 47, 54 ff., 128 f., 137, 181 Sünde 50 ff., 138, 158, 175 summus episcopus 44, 47, 91, 95, 138, 140, 207 Superintendent, s. Inspektor Supplikation 93, 112 f., 125, 141 ff., 186 f., 195, 209 Synode 22f., 25, 51, 60, 66 f., 80, 161 Synodschöffen, s. Sendschöffen
221 Thalmann, Johann Christian, Kanzleidirektor 103 Toleranz 10, 12 ff., 15 f., 27, 31 ff., 45 f., 57 f., 60 ff., 69, 73, 76, 181, 188, 209, 212 f. Touby, Johann Jacob, Pfarrer Neuwied 110, 115 f., 127 Universität 24, 65, 104 ff., 113, 123, 129, 143 f., 153 ff. Unzucht 115, 175, 180, 186, 195, 198 Ursinus, Zacharias 4 Verlöbnis 84 ff., 90, 115, 126 Visitation 15, 21 f., 38 f., 43, 59, 69, 74, 76, 132 f., 138, 145, 174 ff., 181 f., 205, 208 Waldkirchspiel 19,60, 78, 86, 148, 150, 155, 168, 205, 209 Wesemann, Hofprediger 108 ff., 111 Westfälischer Frieden 11, 26, 33, 43, 46, 61 ff., 212 Wetterauer Grafenverein 10 f., 20, 23 ff., 58, 66, 132 Wied-Runkel, Grafschaft/Fürstentum 37 f., 51, 55, 64 f., 69, 119 ff., 162 f., 166, 177 Winter, Friedrich, Regierungsrat 103, 105, 111, 113 f., 187 f., 192, 195 Winz, Philipp, Pfarrer Neuwied 157 ff., 206 Zepper, Wilhelm 4, 57, 106, 133, 153, 165, 208 Zwei-Schwerter-Lehre 41 ff., 56, 131, 170